Rechtslast: Lastregeln als Mittel der Überwindung von Zweifeln in der Rechtsanwendung 9783110539332, 9783110534016

Dominik Richers’s book presents a revolutionary yet logical and convincingly argued proposition. The burden of law allow

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German Pages 301 [302] Year 2017

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
A. Einführung
B. Grundlegung
C. Rechtslast als Zweifelsregel
Zusammenfassung in Thesen
Literaturverzeichnis
Sachregister
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Rechtslast: Lastregeln als Mittel der Überwindung von Zweifeln in der Rechtsanwendung
 9783110539332, 9783110534016

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Dominik Richers Rechtslast

Dominik Richers

Rechtslast

||

Lastregeln als Mittel der Überwindung von Zweifeln in der Rechtsanwendung

Dr. iur. Dominik Richers, München

ISBN 978-3-11-053401-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053933-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053805-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Datenkonvertierung/Satz: jürgen ullrich typosatz, 86720 Nördlingen Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort | V

Vorwort Vorwort Vorwort

Die Idee zu diesem Buch beruht auf einem Missverständnis. Es war wohl im zweiten oder dritten Semester meines Grundstudiums, als ich in einem der Standardlehrbücher zum Zivilrecht erstmals auf eine kurze Darstellung zur Beweislast stieß. Ich lernte, dass rational nicht anders entscheidbare Streitfälle vor Gericht dadurch einer Lösung zugeführt werden können, indem das Gericht anhand des Instruments der Beweislast in vorhersehbarer Weise einer der beteiligten Parteien das Risiko der Unentscheidbarkeit zuweist. Intuitiv ging ich davon aus, dass diese Vorgehensweise unabhängig davon in Betracht komme, ob die Unentscheidbarkeit eine Tatsachen- oder eine Rechtsfrage betrifft. Ich fand das unmittelbar überzeugend. Sehr viel überzeugender jedenfalls als die formelhaften Wendungen vom „Rechtsgefühl“ oder von der „Sachgerechtigkeit im Einzelfall“, die mir zuvor in verschiedenen Anleitungen zur Lösung von Rechtsfällen als Ergänzungen des von Friedrich Carl von Savigny entwickelten Auslegungsgerüsts begegnet waren. „Beweislast“ wurde in meiner Vorstellung zu einem Äquivalent der Auswärtstorregel* beim Fußballspiel: nicht schön, aber unter vielen möglichen schlechten Regeln vermutlich die denkbar beste. Einige Zeit später klärte sich das Missverständnis. Ich lernte, dass nach allgemeiner Auffassung das Instrument der Beweislast nur bei Tatsachenfragen Anwendung findet. Die Gründe für diese Beschränkung der Auswärtstorregel des Rechts fand ich allerdings nicht sonderlich überzeugend. Im Kern hat sich an dieser Überzeugung bis heute nichts geändert. Als im Jahr 2009 mein akademischer Lehrer – Professor Joachim Lege – fragte, ob ich Interesse hätte, eine Dissertation zu verfassen und ob mir womöglich bereits eine Idee für eine interessante These vorschwebe, musste ich daher nicht lange überlegen. Schon allein dafür, die gewagte Idee nicht von vornherein rundheraus abzulehnen, bin ich Herrn Professor Lege zu Dank verpflichtet. Vor allem aber möchte ich ihm danken für seine freundschaftliche Unterstützung, für seinen kritischen Blick auf meine Arbeit, seine gedanklichen Anregungen – und seine Geduld. Bis zur Fertigstellung dieses Buchs vergingen schließlich etliche Jahre, so dass mein Doktorvater zwischenzeitlich befürchten musste, die Arbeit werde niemals ein gutes Ende finden. In allen Jahren des Schreibens an diesem Buch hatte ich an verschiedenen Orten das Privileg, mit großartigen Kollegen zusammenzuarbeiten, die meine Gedanken durch Zustimmung und Widerspruch wiederholt in eine neue, loh-

_____

* Nach der Auswärtstorregel gewinnt bei Punkte- und Torgleichstand nach Hin- und Rückspiel diejenige Mannschaft, die mehr Auswärtstore erzielt hat. Die Regel findet bei den meisten Fußball-, aber auch bei manchen Handballpokalwettbewerben Anwendung.

VI | Vorwort

nende Richtung gelenkt haben. Auch Ihnen möchte ich daher an dieser Stelle danken. Für frühe Förderung bereits in den ersten Semestern meines Grundstudiums möchte ich daneben Professor Uwe Kischel besonderen Dank aussprechen. Für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und auch für viele anregende Gespräche danke ich außerdem Professor Stefan Habermeier. Dem Land Mecklenburg-Vorpommern bin ich für die großzügige Förderung im Rahmen eines Landesgraduiertenstipendiums zu Dank verpflichtet. Zu guter Letzt – und zugleich vor allen anderen – danke ich Familie und Freunden: Ohne Euch, ohne Eure Unterstützung und Ermutigung, wäre dieses Buch noch heute nicht mehr als eine Idee. Berlin, im Dezember 2016

Inhaltsverzeichnis | VII

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Vorwort | V

A. Einführung B. Grundlegung Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts | 3 1. Der Begriff des Rechts | 3 2. Das Recht, wie es sein soll | 6 a) Gerechtigkeit im weiteren Sinne | 7 aa) Gleichheit | 8 bb) Freiheit | 8 cc) Gesetzmäßigkeit | 9 dd) Moralität | 10 ee) Legitimität | 11 ff) Zweckmäßigkeit | 12 gg) Rechtssicherheit | 13 b) Gerechtigkeit im Widerstreit | 16 aa) Gleichheit versus Freiheit | 16 bb) Moralität versus Rechtssicherheit | 16 (1) Keine allgemeine strikte Vorrangrelation | 17 (2) Keine allgemeine Vorrangrelation je nach Regelungsbereich oder Schwere | 19 (3) Erste Entscheidungsmaxime: Das Ausschlussprinzip | 21 (4) Zweite Entscheidungsmaxime: Das Demokratieprinzip | 22 (5) Dritte Entscheidungsmaxime: Das Prinzip Ehrlichkeit | 22 II. Die Akteure: Richter und Partei (-vertreter) | 26 1. Richter | 27 2. Parteien – und Parteivertreter | 28 3. Kongruenz von Rollen- und Aufgabenzuschreibung | 29 III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion | 31 1. Rahmen: Der Justizsyllogismus | 31 2. Auslegung | 33

I.

VIII | Inhaltsverzeichnis

a) Auslegungshorizont | 33 aa) Freischwebende Gesetzesauslegung? Die „objektive Theorie“ | 34 bb) Personeller Auslegungshorizont | 35 cc) Zeitlicher Auslegungshorizont | 36 dd) Zwischenergebnis | 38 b) Die klassischen Ebenen der Auslegung | 38 aa) Wortlaut | 39 bb) Systematik | 41 cc) Historie | 42 dd) Teleologie | 44 (1) Teleologische Auslegung als Willenserforschung | 44 (2) Teleologische Einlegung als Auslegungsersatz | 46 (3) Ein Sonderfall: Telos Rechtmäßigkeit | 47 ee) Synthese der Auslegungsebenen | 49 c) Das Produkt der Auslegung | 50 aa) Begriffe | 51 bb) Bedingungen | 51 3. Subsumtion | 52 a) Erkenntnis durch Deduktion und Induktion | 52 aa) Begriffe im Allgemeinen | 53 bb) Begriffe des Rechts | 54 b) Erkenntnis durch Abduktion | 59 c) Erkenntnis durch Assoziation | 61 4. Bleibende Zweifel: Wenn die Methode versagt | 62 a) Grenzen der Problematik | 63 aa) Verfassungsrechtliches Bestimmtheitsgebot | 63 (1) Inhaltliche Reichweite | 64 (2) Funktionelle Reichweite | 65 bb) Richterliche Rechtsfortbildung | 66 (1) Fall 1: Lückenfüllung | 66 (2) Fall 2: Überwindung der Wortlautgrenze | 67 (3) Fall 3: Unklarer Normbefehl | 68 (4) Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung | 68 b) Bisherige Lösungsansätze | 70 aa) Subjektives Empfinden als Maßstab: Recht gläubig? | 70 (1) Wertungsjurisprudenz | 70 (2) Judiz | 72 (3) Sachgerechtigkeit im Einzelfall | 73 (4) Abstrakte Interessengewichtung | 74

Inhaltsverzeichnis | IX

(5) Schleier des Nichtwissens und Rollentauschprobe | 75 (6) Recht als Kunst: Ästhetik | 77 (7) Recht als Politik: Dezision | 79 bb) Mehrheit als Maßstab: Recht demokratisch? | 81 (1) Autorität: Die herrschende Meinung | 82 (2) Diskurs: Die herrschaftsfreie Meinung | 83 (3) Rechtsvergleichung: Die Meinung der Anderen | 86 c) Zwischenergebnis: Zweifel bleiben | 88 5. Zusammenfassung | 89 IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast | 90 1. Der Begriff der Tatsache | 90 2. Beweiserhebung und -würdigung | 91 a) Amtsermittlung versus Parteibeibringung | 92 aa) Amtsermittlung statt Parteibeibringung | 92 bb) Amtsermittlung trotz Parteibeibringung | 93 b) Beweiswürdigung: Maßstab und Maß | 94 aa) Beweismaßstab | 94 bb) Beweismaß | 95 c) Verfahren der Beweiserhebung | 96 aa) Strengbeweis | 96 bb) Freibeweis | 96 3. Beweislast als ultima ratio | 96 a) Der Begriff der Beweislast | 97 b) Das Regelsystem im Einzelnen | 99 aa) Die Grundregel im Zivilprozessrecht | 99 (1) Das Rosenberg-Modell | 100 (2) Alternative Grundregeln | 101 (3) Regeln und Gründe für Regeln | 103 bb) Übertragung auf das Öffentliche Recht und Strafrecht | 104 (1) Anspruchsstruktur auch im Öffentlichen Recht | 105 (2) Herrschaft der Untersuchungsmaxime | 107 (3) Besondere Natur des Öffentlichen Rechts | 108 (4) Ungenügende Sprachform öffentlich-rechtlicher Normen | 111 cc) Ausnahmen und Sonderfälle | 113 (1) Gesetzliche Beweislastanordnung | 114 (2) Impossibilium nulla est obligatio | 115

X | Inhaltsverzeichnis

(3) Behördliche und betriebliche Dokumentationspflichten | 116 (4) Rechts(entstehungs)hindernde Normen als Problem? | 118 (5) Weitere Ausnahmen und Problemfälle? | 119 c) Verhältnis zu Beweismaß und -maßstab | 120 d) Schwächen des Beweislastinstruments | 121 e) Alternativen zur Entscheidung per Beweislast | 123 aa) Gebot der Entscheidung | 123 bb) Vier Alternativen zur Beweislastentscheidung | 124 (1) Senkung des Beweismaßes, flexibler Beweismaßstab | 124 (2) Quotelung | 125 (3) Prozessvergleich | 127 (4) Losverfahren | 129 cc) Überlegenheit der Beweislast | 131 f) Rechtliches Fundament des Beweislastinstruments | 132 aa) Non liquet als „Fundament“ | 132 bb) Einfachrechtliches Fundament | 133 cc) Verfassungsrechtliches Fundament | 135 (1) Verfassungsrechtliche Grenzen | 135 (2) Verfassungsrechtliche Ermächtigung | 137 dd) Synthese | 140 (1) Beweislastentscheidung als solche | 140 (2) Konkret-inhaltliche Verteilung der Beweislast | 141 (3) Rechtsnatur der Beweislastnormen | 143 g) Zwischenergebnis: Klarheit im Zweifelsfall | 145 4. Zusammenfassung | 147 V. Ergebnisse | 147

C. Rechtslast als Zweifelsregel I.

Hinführung | 151 1. Grundgedanke | 153 2. Begriffswahl | 153 3. Rechtshistorische und -vergleichende Skizze | 155 a) Geschichtliche Entwicklung | 155 b) Aktueller Befund im Systemvergleich | 157 4. Relevanz von Überzeugungslastregeln | 159

Inhaltsverzeichnis | XI

a) Erste Voraussetzung: Unentschiedenheit | 160 b) Zweite Voraussetzung: Kein absoluter Dezisionismus | 160 5. Zusammenfassung | 161 II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel | 162 1. Ansätze in der bestehenden Dogmatik | 162 a) Zulassung von Rechtsmitteln | 163 b) Prozessuale Abstimmungsregeln | 165 aa) § 196 GVG | 165 bb) § 15 IV BVerfGG | 166 c) Regeln zur Auslegung im Zweifelsfall | 167 aa) Das Recht der AGB | 167 bb) Fiktions- und Vermutungsregeln | 168 cc) Zielvorgaben des Gesetzgebers | 171 dd) Auslegung „fremden“ Rechts: § 293 ZPO | 172 ee) Völkerstrafrecht: Art. 22 des Römischen Statuts | 173 d) Präjudizien I | 174 e) Zweifels- und Lastregeln in der Rechtspraxis | 176 aa) Präjudizien II | 176 bb) Ermessensfehlerlehre | 177 cc) Völkerrechtliche Verträge | 178 dd) Lex-superior-konforme Rechtsanwendung | 180 (1) Auslegung | 180 (2) Rechtsfortbildung | 180 ee) Konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 I GG | 182 ff) In dubio pro reo als Auslegungsregel? | 182 gg) In dubio pro libertate als Auslegungsregel? | 184 hh) In dubio pro europa als Entscheidungsregel? | 186 f) Zweifels- und Lastregeln in der Literatur | 189 g) Zwischenergebnisse | 193 2. Einheitliche Rechtslast: Materiell oder prozessual? | 194 a) Materielle Rechtslast – in dubio … | 194 aa) … pro libertate? | 194 (1) Keine allgemeine Vorrangrelation in Zweifelsfällen | 194 (2) Teilweise Vorrangrelation im Öffentlichen Recht | 197 (3) Zwischenergebnis | 199 bb) … pro securitate? | 199 cc) … pro egalitate? | 200 dd) … pro dignitate? | 201 ee) … pro oeconomia? | 202

XII | Inhaltsverzeichnis

ff)

… ex contradictione sequitur quodlibet – ein Zwischenergebnis | 204 b) Prozessuale Rechtslast | 206 aa) Ausgangsüberlegungen | 206 bb) Übersicht zur Grundstruktur | 207 (1) Zivilrecht | 207 (2) Öffentliches Recht | 209 (3) Strafrecht | 211 cc) Drei Fälle aus dem Alltag | 212 (1) Fall 1 – Fahrradunfall | 212 (2) Fall 2 – Schuhe aus dem Internet | 213 (3) Fall 3 – Gaststättenlärm | 215 dd) Problematische Einzelkonstellationen | 216 (1) Anwendung von Finalnormen | 216 (2) Anwendung von Hilfsnormen | 217 (3) Negative Tatbestandsmerkmale und Gegennormen | 219 (4) Lastverteilung bei Behauptungskonfusion | 220 (5) Lastverteilung bei Beteiligten- und Behauptungsinflation | 221 c) Zwischenergebnis | 222 3. Mögliche Einwände | 223 a) Rechtsdogmatische Einwände | 223 aa) Rechtsverweigerung | 224 bb) Nochmals: § 293 ZPO | 225 (1) Erst-recht-Schluss aus § 293 ZPO | 225 (2) Umkehrschluss aus § 293 ZPO | 226 cc) Struktureller Unterschied zwischen Sachverhaltsfeststellung und Rechtsanwendung? | 227 b) Rechtspolitische Einwände | 229 aa) Präjudizwirkung rechtslastgeregelter Verfahren? | 229 bb) Stillstand bei schwierigen Fragen? | 231 cc) Ergebnisdivergenzen | 232 (1) Fallweise Ergebnisdivergenzen | 232 (2) Fallinterne Ergebnisdivergenzen | 234 dd) Bewahrung des status quo? | 234 ee) Zufälligkeit im Recht? | 234 ff) Genereller faktischer Anwaltszwang? | 235 (1) Rechtslast ohne Anwälte | 235 (2) Rechtslast ohne Anwälte? | 236

Inhaltsverzeichnis | XIII

gg) „Verführung“ des Richters zur Untätigkeit? | 238 c) Zwischenergebnis | 239 4. Ertrag | 240 a) Gewinn an Rechtssicherheit | 240 b) Stärkung der Dogmatik | 242 c) Vereinfachung, Entlastung der Gerichte | 242 aa) Entlastung im Einzelfall? | 242 bb) Entlastung auf Systemebene | 243 d) Anpassung an eine sich wandelnde soziale Realität | 244 aa) Wachsender Rechtsstoff | 245 bb) Anwaltliche Vertretung als Regelfall | 245 cc) „In-Pflichtnahme“ der Anwaltschaft | 246 dd) Anwaltspflichten und Anwaltshaftung: iura novit advocatus | 247 ee) Privatisierung des Rechts | 249 e) Einfluss auf die Normgebung | 250 f) Zwischenergebnis | 251 5. Zusammenfassung | 252 III. Rechtliches Fundament der Rechtslast | 252 1. Verfassungsrechtliche Grenzen | 253 a) Grundgesetzliche Vorgaben | 253 b) Folgerungen | 254 aa) Folgerungen für das Instrument der Rechtslast | 255 bb) Folgerungen für alternative Entscheidungsinstrumente | 257 2. Verfassungsrechtliche Ermächtigung | 257 a) Ermächtigung zur Zweifelsentscheidung als solcher | 258 b) Zulässige Mittel der Zweifelsentscheidung | 258 aa) Das Mittel der Rechtslast als solches | 259 bb) Konkret-inhaltliche Verteilung der Rechtslast | 260 3. Zusammenfassung | 260 IV. Rechtslast als Zweifelsregel de lege ferenda | 261 V. Ergebnisse | 263 Zusammenfassung in Thesen | 265 Literaturverzeichnis | 271 Sachregister | 285

XIV | Inhaltsverzeichnis

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A. Einführung

1

A. Einführung A. Einführung A. Einführung

Kurze Titel provozieren weitgespannte Erwartungen. Ein Buch, das sich hier – in Verschränkung der Begriffe „Rechtsanwendung“ und „Beweislast“ – mit dem Kunstwort der „Rechtslast“1 begnügt, droht zwangsläufig den Leser zu enttäuschen. Daher gilt es zunächst zu sagen, was diese Arbeit nicht ist: Erstens und insbesondere ist das vorliegende Werk keine umfassende Untersuchung über die Methodik der Auslegung in der Jurisprudenz. Ebenso wenig handelt es sich zweitens um eine vertiefte Darstellung zur Beweislast; Fragen der Beweislast werden hier nur insoweit eine Rolle spielen, als sie über die Problematik der Zweifelsentscheidung in Tatsachenfragen hinausweisen. Und die hergebrachte Methodik der Auslegung wird nur insofern in Frage gestellt, als zu zeigen ist, dass sie für äußerste Zweifelsfälle keine Handhabe bietet – und auch nicht bieten kann. Weil solche Fälle aber zuweilen entschieden werden müssen und weil auch Entscheidungen dieser Art nicht willkürlich sein dürfen, werden in diesem Buch verschiedene in Betracht kommende „In-dubio-Regeln“ erörtert. Am Ende steht die These, dass eine Zweifelsregel der Rechtsanwendung aus der Parallele zur Beweislastverteilung entwickelt werden kann. Die Untersuchung nimmt dabei folgenden Gang: In der Grundlegung (B) wird zunächst skizziert, wie das im Gerichtsprozess zur Anwendung gelangende Regelgeflecht – der Rechtstext2 – mit den Begriffen der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit verwoben ist (B I); es folgt ein kurzer Blick auf die im Gerichtsverfahren handelnden Akteure (B II), bevor ausführlicher auf die hergebrachte Methode der Auslegung und Subsumtion eingegangen wird – einschließlich eines Blicks auf jüngere Ergänzungen zu dieser Methode (B III); besonderes Augenmerk verdient – mit Blick auf die Kernthese dieses Werks – sodann das Instrument der Beweislast in der Tatsachenfeststellung (B IV). Auf diesen Fundamenten wird im zweiten Teil (C) nach kurzer Hinführung (C I) die oben angedeutete Kernthese näher expliziert (C II) und verfassungsrechtlich beleuchtet (C III); das Werk schließt mit einem Vorschlag de lege ferenda (C IV). DOI 10.1515/9783110539332-001

_____ 1 Erstmals ungefähr im hier gemeinten Sinne verwendet wurde der Begriff, soweit ersichtlich, von Nordmann, Konkurrentenklage im EG-Beihilferecht, 2002, S. 68 f. 2 Instruktiv Lege, ARSP 2007, S. 21, 24; vgl. auch Vogel/Christensen, Rechtstheorie 2013, S. 29, 51. DOI 10.1515/9783110539332-001

2

A. Einführung

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I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

3

B. Grundlegung B. Grundlegung

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

Ganz unbefangen betrachtet hat der „Jurist als solcher“3 es in seiner Arbeit immer mit zwei Gegenständen zu tun: mit einem konkreten Lebenssachverhalt einerseits und dem darauf jeweils anzuwendenden Geflecht aus Regeln des Rechts andererseits. Auf das Verhältnis zwischen den Begriffen von „Norm“ und „Tatsache“ wird im vorliegenden Werk später am Rande noch einzugehen sein. Zunächst – das heißt mit Blick auf die herkömmliche Methodik der Rechtsanwendung – bedarf der hier verwendete Begriff des Rechts (1.) einer näheren Bestimmung vor allem in Hinsicht auf die verschiedenen Facetten formeller und materieller Gerechtigkeit (2.). DOI 10.1515/9783110539332-002

1. Der Begriff des Rechts Recht, Nicht-Recht, Unrecht – die definitorische Abgrenzung ist im Einzelnen schwierig, mit letzter Präzision vielleicht sogar unmöglich.4 Dabei wird im uferlosen Streit5 um den Begriff des Rechts allerdings meist vergessen, dass ein Gutteil der Kontroversen sich auflöst, sobald die Perspektive der verschiedenen auf das Recht schauenden idealtypischen Akteure mit berücksichtigt wird. Diese Akteure (Richter, Anwälte, Verwaltungsbeamte, Ökonomen, Soziologen, Politiker u.a.) stellen zumeist ganz unterschiedliche Fragen an den Gegenstand „Recht“. Entsprechend unterscheiden sich auch die Antworten. So entscheidet der Verwaltungsbeamte grundsätzlich allein danach, ob eine für besonders zweckmäßig erachtete Maßnahme sich im Rahmen von „Gesetz und Recht“6 hält; hingegen wird der die Risiken eines Rechtsstreits kalkulierende Betriebs-

_____ 3 Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, in: Oertmann, Windscheid – Gesammelte Abhandlungen, 1904, S. 100, 111 f.; zu Windscheids Leben und Werk vgl. jüngst Falk, in: Lege, Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft, 2009, S. 131 (zum obigen Zitat im Zusammenhang: S. 149 f.). 4 Siehe ausführlich Lege, ARSP 2007, S. 21, 22 ff.; vgl. zur Frühgeschichte Wesel, Frühformen des Rechts, 1985, S. 334 ff.; sowie zu jüngeren Debatten Richers, ZaöRV 2007, S. 509, 521 ff. 5 Für einen ersten Überblick siehe etwa Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. 19 ff.; Radbruch, in: Dreier/Paulson, Gustav Radbruch – Rechtsphilosophie, 1999, S. 211 ff.; Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 5. Aufl. 2011, passim; Hoerster, Was ist Recht?, 2. Aufl. 2013, passim; sowie Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 27 ff. 6 Art. 20 III GG. DOI 10.1515/9783110539332-002

4

B. Grundlegung

wirt in einem Unternehmen fragen nach den prophecies of what the courts will do in fact;7 der Soziologe wird untersuchen ob, wie und warum eine bestimmte Norm das Zusammenleben einer bestimmten Gruppe von Menschen in einem bestimmten Gebiet tatsächlich regelt; und der Politiker unter anderem wird wissen wollen, welche Regelung am ehesten seine Vorstellung von Gerechtigkeit zu verwirklichen geeignet ist. Dies, wie gesagt, sind Idealtypen. Aber diese Idealtypen geben Auskunft über die Rolle und damit über den Rechtsbegriff des „Juristen als solchen“: Zumeist wird in der Praxis8 ein Gericht (und dem folgend: Anwälte, Rechtslehrer etc.) alle oben genannten Gesichtspunkte (Gesetzmäßigkeit, Präjudiz, soziale Geltung, Gerechtigkeit)9 berücksichtigen – im Rechtsstaat gewiss mit Schwerpunkt auf Gesetzmäßigkeit und Präjudiz; die Gewichtung im Übrigen hängt unter anderem ab vom jeweiligen Rechtsgebiet, der Stellung des Gerichts im Instanzenzug sowie nicht zuletzt der individuellen Präferenz der zur Entscheidung berufenen Personen. Wenn nun im Folgenden von „Recht“ die Rede ist, so meint der Begriff schlicht: sämtliche Sollens-Regeln, nach denen vor einem Gericht über einen Fall entschieden wird.10 Diese Begriffsbestimmung ist nicht die einzig mögliche. Anderen Forschungsinteressen, wie gesagt, mag ein abweichender Sprachgebrauch besser dienlich sein. Und selbst wer ähnlichen Erkenntnisinteressen folgt wie der Autor dieses Werks, mag vom Recht ein abweichendes Bild haben. So soll insbesondere „anerkanntermaßen“11 die Zwangsbewehrtheit ein wesentliches Merkmal des Rechts sein. Diese Auffassung überzeugt gewiss, inso-

_____ 7 Vgl. Holmes, Harvard Law Review 1897, S. 457, 458. 8 Die Frage, ob dem auch so sein soll, kann hier zunächst zurückstehen. 9 Zum Begriff der (juristischen) Gerechtigkeit im Einzelnen siehe das Folgekapitel. 10 Die Beschränkung auf Sollens-Regeln erstens schließt Naturgesetze aus. Der Begriff der Regel zweitens impliziert die wenigstens potentielle Anwendbarkeit des Sollensbefehls auf mehr als nur einen konkreten Fall. Gericht drittens meint hier jede Instanz, die durch den Staat oder eine gesellschaftliche Gruppe zu neutraler Streitschlichtung berufen ist. Fall viertens meint einen Lebenssachverhalt aufgrund dessen zwischen mindestens zwei Parteien Streit besteht. Nach denen entschieden wird fünftens stellt klar, dass es nur um unmittelbar auf den Fall bezogene Regeln geht – also nicht etwa auch um bloße Höflichkeitsnormen, die das Verfahren ebenfalls zu beeinflussen vermögen. Den dritten Punkt will Lege, ARSP 2007, S. 21, 24 ff., offenbar – unter Berufung auf Locke – ausklammern; nach meinem Verständnis hingegen handelt es sich hierbei um das zentrale Definitionsmerkmal (das „Recht“ im Naturzustand bei Locke ist dann natürlich gerade kein Recht – sondern nur regelgeleitete voluntas). 11 Kirste, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 134, 141; ähnlich Alexy, a.a.O., S. 11, 21 f.

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

5

fern es um die Abgrenzung von Straf- und Deliktsrecht zu bloßen Moralvorschriften geht. Mit Blick auf den gesamten Korpus dessen, was heute unstreitig als „Recht“ bezeichnet wird,12 hat sie aber an Trennschärfe eingebüßt. Außerdem klammert der hier gewählte, beschreibende Begriff des Rechts bewusst die Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts aus. Recht bleibt danach Recht, auch wenn es höchst ungerecht ist – es ist dann eben schlechtes Recht, und womöglich sollte es vor einem Gericht nicht zur Entscheidung über einen Fall angewandt werden13.14 Gegen diese Sichtweise wird unter anderem vorgebracht, die Behauptung ungerechten Rechts führe zu einem „performativen Widerspruch“15, weil mit dem Recht (insbesondere einer Verfassung) zumindest der Anspruch der Gerechtigkeit verbunden sei. Richtig hieran ist, dass wir vom Recht in der Tat erwarten, dass es gerecht sei.16 Leider ist es aber so, dass Menschen unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie Gerechtigkeit aussieht; und, unabhängig davon, hat Gerechtigkeit jedenfalls mehr als nur eine Ausprägung (vgl. jeweils noch unter 2.). Eine Rechtsnorm kann daher in einer Hinsicht und nach einer Auffassung höchst gerecht, in anderer Hinsicht und nach einer anderen Auffassung hingegen höchst ungerecht sein. Dann aber scheint es wenig überzeugend, den Begriff des Rechts davon abhängig zu machen, ob der Autor eines Rechtssatzes (oder ein Dritter) den Satz als insgesamt gerecht ansieht.17 Und schließlich – wer ungerechtes „Recht“ nicht als solches bezeichnen

_____

12 Man mag hier an die „nicht vertretbaren Handlungen“ gemäß § 888 III ZPO denken, oder an das klassische Völkerrecht – vgl. insofern bereits Lege, ARSP 2007, S. 21, 24. Aber selbst das moderne Verfassungsrecht kann in weiten Teilen ebenfalls nicht mit vis absoluta durchgesetzt werden. Und in individualvertraglichen Vereinbarungen ist sogar eine Vielzahl von Regeln denkbar, an die keinerlei (rechtliche) Sanktion geknüpft sind, die aber dennoch von allen Beteiligten als Verpflichtungen des Rechts betrachtet und auch faktisch beachtet werden (etwa um künftige weitere Vereinbarungen nicht zu gefährden). 13 Begriff und legitime Geltung des Rechts müssen nach hier vertretener Auffassung nicht zusammenfallen. Im selben Sinne wohl bereits Lege, ARSP 2007, S. 21, 29; unter Verweis auf BVerfGE 23, 98, LS 1; sowie Schulte, Rechtstheorie 2004, S. 669, 672. 14 Um es mit einem Bild zu verdeutlichen: Ein Automobil sollte mobil sein, sollte mit eigenem Antrieb fahren (also u.a. über einen funktionierenden Motor verfügen). Tut es dies nicht – obgleich es äußerlich allen Anforderungen an ein Kraftfahrzeug entspricht – so ist es nach hier vertretener Auffassung noch immer ein Automobil, wenngleich ein (etwa wegen eines Motorschadens) weitgehend unbrauchbares. 15 Alexy, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 11, 22 mit dem als „irgendwie absurd“ gekennzeichneten Bsp.: „X ist eine souveräne, föderale und ungerechte Republik“. 16 Und insofern gehört zum „Recht als Kulturgut“ selbstverständlich der Anspruch auf Gerechtigkeit – siehe diesbzgl. Lege, ARSP 2007, S. 21, 33 f. 17 Wiederum das in Fn. 14 genannte Parallelbild: Wir erwarten von einem Automobil, dass es mit eigenem Antrieb fährt. Macht man allerdings die Bezeichnung „Automobil“ davon

6

B. Grundlegung

möchte, der bleibt regelmäßig eine Antwort nach einer zutreffenderen Bezeichnung schuldig: Der Begriff „Unrecht“ ist zumindest deshalb unglücklich, weil es neben, nun ja: rechtsförmigem Unrecht (z.B. einem Gesetz, einem Urteil) auch noch rein tatsächliches Unrecht (z.B. einen Mord, einen Raub) gibt; und die Bezeichnung ungerechten Rechts als Nicht-Recht ist schlicht zu unspezifisch,18 um dem eigentlichen Ziel einer jeden Begriffsarbeit – der Grenzziehung – dienlich zu sein.

2. Das Recht, wie es sein soll Die Frage nach dem Recht, wie es sein soll, lässt sich also aus dem Begriff des Rechts ausklammern. Und die Frage nach Gerechtigkeit im Recht ist zudem nicht nur und als solche eine juristische19 – aber sie ist es eben doch auch.20 Denn spätestens dann, wenn der Jurist bei der Auslegung von Rechtsnormen an die Grenzen seines Erkenntnishorizonts gerät oder wenn er gar zur Rechtsfortbildung berufen ist, dann wird er um eine Antwort nicht gänzlich herumkommen. Die Gegenauffassung 21 ist zumindest schlicht wirklichkeitsfremd: Richter sind keine „Subsumtionsautomaten“;22 Gesetzgeber können nicht je-

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abhängig, ob der Konstrukteur, ein Kfz-Mechaniker oder sonstige Dritte ihm die Eigenschaft „fährt“ zusprechen, so folgte daraus: Entweder es kommt nur auf die Sicht eines bestimmten Akteurs (z.B. des Konstrukteurs) an; dann wäre ein nach Auffassung des Konstrukteurs untaugliches, aus Sicht aller Dritten aber fahrtüchtiges Gerät nicht als Automobil zu bezeichnen – ein zumindest merkwürdiges Ergebnis. Oder es sind die Sichtweisen aller Akteure maßgeblich; dann käme es bei Uneinigkeit zu einer Begriffspaltung; man redete über den selben Gegenstand, aber mittels unterschiedlicher Begriffe – ebenfalls eine unbefriedigende Lösung. 18 Im Parallelbild, ein letztes Mal: die Bezeichnung eines nicht fahrtüchtigen Automobils als „Nicht-Auto“. Die Frage nach der positiven Bezeichnung des Gegenstandes (Tatsache, Sitte… / …Attrappe/Metallgebilde?) bleibt in beiden Fällen offen. 19 Sondern zunächst vor allem eine moralische, ökonomische, naturwissenschaftliche – politische. Siehe in diesem Sinne bereits Windscheid, in: Oertmann, Windscheid – Gesammelte Abhandlungen, 1904, S. 111 f. 20 Siehe jüngst umfassend Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, 2004, passim. 21 Als deren „Urvater“ sei hier nur angeführt: Montesquieu, De l’esprit des Loix, 1748, Livre XI, Chapitre VI. Danach gilt: „Mais les juges de la nation ne sont, comme nous avons dit, que la bouche qui prononce les paroles de la loi; des êtres inanimés qui n'en peuvent modérer ni la force ni la rigueur.“ – Doch die Richter der Nation sind, wie gesagt, lediglich der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes ausspricht; gleichsam unbeseelte Wesen, die weder die Kraft noch die Strenge des Gesetzes mäßigen dürfen. [Übers. d. Verf.] 22 Zur entsprechenden Debatte im 19. Jahrhundert vgl. die instruktive Darstellung bei Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat, 2. Aufl. 2008, passim.

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

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den irgendwie denkbaren Einzelfall berücksichtigen;23 Gesetze enthalten notwendig seit jeher24 Ungenauigkeiten, Generalklauseln, und Lücken.25 Im Übrigen werden selbst äußerste Positivisten zuweilen außerrechtliche Überlegungen anstellen müssen: Rechtsnormen lassen sich regelmäßig nur vor dem Hintergrund der bei ihrem Erlass herrschenden Vorstellungen überhaupt in Gänze verstehen. Insoweit gilt hermeneutisch nichts anderes als für jeden anderen Text: „Einen Text zu verstehen, das setzt voraus, die Frage oder die Lage zu verstehen, auf die der Text eine Antwort war.“26

Die im zweiten Hauptteil (Teil C.) aufgestellten Thesen betreffen sämtlich die soeben skizzierten Grenzen der Rechtserkenntnis. Und damit stellt sich auch zwangsläufig mit besonderer Schärfe die Frage nach dem „gesollten Recht“, nach Gerechtigkeit im weiteren Sinne (a). Besonderes Gewicht hat hierbei das Problem der gegenseitigen Bedingtheit und des Widerstreits zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit (b).

a) Gerechtigkeit im weiteren Sinne Zur Gerechtigkeit im weiteren Sinne, zum gesamten „Gesolltsein“27 des Rechts als solchen, zählen insgesamt sieben Funktionen, die sich teilweise bedingen und/oder überschneiden: neben Gleichheit (aa), Freiheit (bb) und Gesetzmäßigkeit (cc) auch die Verwirklichung individueller bzw. gesellschaftlicher Moralvorstellungen (dd), die Legitimität der Normsetzung (ee), Zweckmäßigkeit (ff) und Rechtssicherheit (gg).

_____ 23 Versuchen sie es dennoch, geraten die Gesetze regelmäßig unverständlich, das Steuerrecht zeigt dies; und/oder die Zahl der Vorschriften ufert aus, wird unüberschaubar, siehe das historische Beispiel des Preußischen Allgemeinen Landrechts – hierzu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 333, m.w.N.). 24 Besonders anschaulich Lerch, Recht verstehen, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 1, 2004, XV ff.; ausführlicher ibid., S. 225 ff. 25 Siehe anschaulich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 485 ff. 26 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 468; unter Berufung u.a. auf Gadamer, Wahrheit und Methode, 6. Aufl. 1990, S. 368 ff. 27 Das „Worumwillen“, griechisch hou héneka – siehe Lege, ARSP 2007, S. 21, 33.

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B. Grundlegung

aa) Gleichheit Gerechtigkeit meint – nicht erst seit Aristoteles28 – immer und zuvörderst „Gleichheit“, also Egalität und Reziprozität.29 Nicht zufällig ist eine der ältesten und meistzitierten, verschriftlichten Gerechtigkeitsmaßgaben, die Talion, zugleich eine der plastischsten Gleichheitsvorstellungen: … Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand ….30 Allerdings, nicht immer liegen die Dinge so einfach wie diese Stelle aus der Thora – außer Zusammenhang gelesen – glauben machen könnte: Schon aus rein tatsächlichen Gründen lässt sich nicht jedes Tun „spiegeln“; und erst recht führt die (Blut-) Rache nur selten zum Frieden zwischen den verfehdeten Parteien. In Wirklichkeit sieht daher auch die Thora bereits ein ausdifferenziertes Regelsystem für Strafe und Schadensersatz vor;31 ähnliches gilt für andere frühe, auch nichtstaatliche, Gesellschaftsformen.32 Danach soll zumeist nicht etwa Gleiches mit Gleichem, sondern nur Gleichwertiges mit Gleichwertigem vergolten werden. Was aber generell wie im einzelnen Fall33 gleichwertig sei, dies ist eben immer34 genau dies: Eine Frage der Wertung.

bb) Freiheit Zur Gerechtigkeit zählt daher – jedenfalls seit der Moderne – immer auch „Freiheit“. Zum Grundverständnis der Moderne gehört, dass Mehrheitsmeinungen – seien sie religiös oder säkular-weltanschaulich begründet – keine Wahrheit

_____ 28 Aristoteles unterscheidet austauschende Gerechtigkeit (iustitia commutativa), wiederherstellende Gerechtigkeit (iustitia regulativa sive correctiva), verteilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) und die Gerechtigkeit gemäß Gesetzen (iustitia legalis) – vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 2003, Buch V. Der Gedanke der Gleichheit ist allen diesen Gerechtigkeitsformen gemein. Instruktiv hierzu auch Lege, VVDStRL 70 (2011), S. 112, 138. 29 Zur Frühgeschichte siehe etwa Wesel, Frühformen des Rechts, 1985, S. 81 ff. 30 AT, 2. Mose, Ex 21, 23–25. 31 Zur Rechtsgeschichte der Thora vgl. etwa Otto, in: Manthe, Die Rechtskulturen der Antike, 2003, S. 151, 160 ff. 32 Siehe exemplarisch Wesel, Frühformen des Rechts, 1985, S. 255 ff., 301 ff. 33 Siehe etwa Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 209 ff. mit einem besonders hübschen Beispiel. 34 Streiten kann man nämlich selbst in den scheinbar eindeutigen Fällen: Ist ein Leben (das eines Greises) ebenso viel wert wie ein anderes (das eines Neugeborenen)? Ist ein Geldbetrag (der heute zurückgewährte) ebenso viel wert wie ein anderer gleicher Höhe (der vor einem Jahr gestohlene)? Auch in diesen Fällen ist letztlich eine Wertung nötig. Die kann dann beispielsweise lauten: Ja, jedes Leben hat den gleichen Wert – aber 1000 Leben sind nicht mehr wert als eines (vgl. BVerfGE 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz); und nein, Geld heute ist weniger wert als Geld gestern, gestohlene Geldbeträge sind daher immer zu verzinsen (vgl. § 849 BGB).

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

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mehr für sich beanspruchen können, deren Gültigkeit über die Angehörigen der jeweiligen Weltanschauung hinausreicht.35 Dies bedeutet zwar nicht, dass die Angehörigen der jeweiligen Mehrheitsmeinung jede abweichende Wahrheit unwidersprochen hinnehmen müssten.36 Wenn sie am Verständnis von Gerechtigkeit als Gleichheit festhalten wollen und soweit sie Angehörige anderer Weltanschauungen als grundsätzlich „gleich“ ansehen, müssen sie aber den Andersdenkenden mindestens die Freiheit einräumen, ihre jeweils eigene Wahrheit selbst zu definieren.

cc) Gesetzmäßigkeit Freiheit bedarf allerdings spätestens dann der Begrenzung, wenn die Freiheit des einen mit der Freiheit anderer in Konflikt tritt. Denn „… entre le fort et le faible, entre le riche et le pauvre, entre le maître et le serviteur, c'est la liberté qui opprime et la loi qui affranchit.“37

Mit der Gleichheitsfunktion der Gerechtigkeit wäre es dabei unvereinbar, wenn diese Grenzen in jedem Einzelfall neu ausgehandelt werden müssten.38 Gerechtigkeit verwirklicht sich daher in erster Linie durch die verbindliche Festlegung von Regeln (im Staat: Vorbehalt des Gesetzes) und Einhaltung dieser Regeln durch die zu konkreten Entscheidungen berufenen Instanzen (Gesetzesbindung). Diese iustitia legalis39 ist – jedenfalls in der Normallage einer Gesellschaft und eines Sachverhalts – geradezu der Inbegriff materieller (inhaltlicher) wie formeller Gerechtigkeit. Zur iustitia legalis zählt im Verfassungsstaat übrigens auch die Bindung des Gesetzgebers an die Vorgaben des Verfassungsgesetzgebers. In stärker kasuistisch geprägten Rechtsordnungen mag stattdessen die

_____ 35 Siehe Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 12 ff. 36 In diesem Sinne jedoch wird das sogenannte postmoderne Denken häufig (miss-) verstanden – vgl. hierzu bereits Richers, ZaöRV 2007, S. 509, insbes. 528 ff. 37 Zwischen dem Starken und dem Schwachen, zwischen dem Reichen und dem Armen, zwischen dem Herrn und dem Diener, ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. [Übers. d. Verf.] Der Ausspruch entstammt ursprünglich den Predigten von Lacordaire, Conférences III, 1849, S. 174 – und findet sich dort im Kontext einer Tirade gegen die Glaubensund Gewissensfreiheit. „Loi“ meint denn bei Lacordaire auch nicht das weltliche, sondern vielmehr das göttliche Gesetz. 38 Zu dieser Problematik in der Praxis vgl. noch unter IV 3 e bb (3). 39 Siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik, 2003, Buch V, Abschnitte 2 u. 3; ähnlich wie hier zuletzt Lege, VVDStRL 70 (2011), S. 112, 138.

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B. Grundlegung

Bindung an Fallreihen als weitgehendes funktionales Äquivalent zur Gesetzmäßigkeit rechtlicher Entscheidungen dienen.40

dd) Moralität In der Normallage einer Gesellschaft und eines Sachverhalts, wie gesagt, verwirklicht sich Gerechtigkeit vor allem durch Festlegung und Einhaltung von Rechtsregeln (iustitia legalis). Allerdings: Erstens sind diese Normallagen so „normal“ leider nicht. Denn Staaten mit allgemein verbindlichen Regelsystemen sind – historisch gesehen – keine Selbstverständlichkeit; zudem können Rechtsregeln (ebenso wie Fallreihen) nur Norm-Sachverhalte, nicht aber jeden irgendwie denkbaren Sonderfall erfassen. Zweitens wird auch in der Normallage das Recht von seinen Adressaten zuweilen als inhaltlich höchst „ungerecht“ bewertet. Der Rekurs auf Gleichheit und Freiheit hilft dann nur wenig weiter: Gleichheit als Entscheidungsmaxime setzt voraus, dass Einigkeit über die Gleichwertigkeit von Interessen, von Sachverhalten besteht (s.o. aa); und Freiheit wird von der Lösung zum Problem, wenn sie mit der Freiheit anderer konfligiert (s.o. bb, cc). Neben Gleichheit, Freiheit und Gesetzmäßigkeit bedarf die Gerechtigkeit daher noch eines (weiteren) inhaltlichen Maßstabs. Zur Begründung eines solchen Maßstabs kommen letztlich nur näher bestimmte Moralvorstellungen in Betracht – solche der (Mehrheits-) Gesellschaft, des Gesetzgebers, der Parteien eines Rechtsstreits, des Richters. Solche Moralvorstellungen können eher allgemein sein (neben Gleichheit und Freiheit etwa: Glückseligkeit, Wert der Familie und des Privateigentums, pacta sunt servanda) oder konkretisiert (Abtreibung ist verwerflich, „Mundraub“/„Fringsen“ ist akzeptabel). Gegen die Relevanz von Moralvorstellungen für die Gerechtigkeit im Recht mag man nun einwenden, in Staaten mit (geschriebener) Verfassung stelle sich das Problem gar nicht, weil dort doch die Moralvorstellungen der Gesellschaft als „objektive Wertordnung“41 rechtsverbindlich festgelegt seien. Richtig daran ist, dass in der Tat eine Verfassung die allgemeinen gesellschaftlichen Moralvorstellungen positivieren kann. Zweifel sind aber dann angebracht, wenn es darum geht, sehr konkrete Wertvorgaben unmittelbar aus der Verfassung (oder

_____ 40 Nicht zufällig wird in solchen Rechtsordnungen auch darum gestritten, ob und inwieweit der Gesetzgeber dazu berechtigt ist, bestehendes case law abzuändern. 41 BVerfGE 7, 198, Ls. 1; zur gedanklichen Genese und Rezeption dieses Ausdrucks vgl. etwa Henne, in: Stolleis, Das Bonner Grundgesetz, 2006, S. 13 ff.; sowie ferner Richers, in: Lege, Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft, 2009, S. 271 ff.

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

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aus anderen Gesetzen)42 zu folgern: Man denke hier etwa an die zuweilen sehr exakten – aber eben nicht immer stringenten – „Ableitungen“ in der Rechtsprechung des BVerfG zu Abtreibung43 und Präimplantationsdiagnostik.44 Individuelle und kollektive außerrechtliche Wertvorstellungen werden auch im Verfassungsstaat immer das Recht beeinflussen. Dies gilt unstreitig, soweit es um Entscheidungen des Gesetzgebers, um die Verwirklichung politischer Gerechtigkeit geht – die Vorstellung, alle diese Entscheidungen seien durch die Verfassung determiniert, machte die Demokratie weitgehend obsolet.45 Aber auch auf Ebene der Gerichte, also bei Verwirklichung juristischer Gerechtigkeit werden sich in wirklich schwierigen Fällen moralische Erwägungen am Ende46 oft nicht völlig47 ausschließen lassen. Die Problematiken, die aus dieser teilweisen Vermengung von Recht und Moral auf gerichtlicher Ebene folgen, sind freilich evident: Nicht nur sind die moralischen Maßstäbe von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen höchst unterschiedlich. Sie sind vor allem auch für den Einzelnen oftmals schwer vorhersehbar.48

ee) Legitimität Im Grunde ein Sonderfall der Moralität von Normsetzung ist deren Legitimität – Legitimität hier verstanden (nur) im Sinne von: anerkannte Autorität des Normsetzers. Entscheidungen, die einem Einzelnen inhaltlich „ungerecht“ erscheinen, sind dann leichter erträglich, wenn sie zumindest von einer Instanz gefällt werden, die er selbst anerkennt. Die Gründe für diese Anerkennung können dabei ganz unterschiedlich sein: Religion, säkulare Werthaltungen, Selbstverpflichtung (Vertrag), persönliche Wertschätzung, prozedurale Vorgaben (etwa über

_____ 42 Vgl. die Bemühungen des Gesetzgebers, bestimmte Ziele in den ersten Paragraphen von Gesetzen zu verankern – so etwa in § 1 UWG oder, besonders ausführlich, in § 1 BauGB. 43 Einerseits BVerfGE 39, 1; andererseits BVerfGE 88, 203. 44 BVerfGE 117, 316; siehe in diesem Zusammenhang auch BGH, NJW 2010, 2672; sowie zum Gesamtkomplex die kritische Analyse von Dähne, Wissenschaftsfreiheit und Wirtschaftsfreiheit, 2007, passim. 45 Hierzu pointiert etwa Brohm, NJW 2001, S. 1 ff. 46 Ebenso, wenngleich widerstrebend, auch Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 231, Fn. 78. 47 Inwieweit ein Gericht auf Moralvorstellungen rekurrieren darf, und ob – wenn es dies tut – seine Entscheidung überhaupt noch eine rechtliche ist (oder nicht doch eher eine solche der Politik, der Verwaltung), ist eine zusätzliche Frage (siehe hierzu insbes. noch unter III 4). 48 Besonders prägnant Fish, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 1, 2004, S. 85 f.

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B. Grundlegung

die Unparteilichkeit der entscheidenden Instanz). Unter dem Grundgesetz dienen ganz unterschiedliche Vorschriften wenigstens auch diesem Streben nach Legitimität – darunter das demokratische Prinzip, das Rechtsstaatsprinzip, das Erfordernis einer parlamentarischen Zweidrittel-Mehrheit im Falle einer Abänderung von Verfassungsnormen, die „Ewigkeitsgarantie“ für den Kernbestand der Verfassungsnormen (Art. 79 III GG), die Verweisung möglichst vieler Entscheidungen an die jeweils sachnächste Ebene (vgl. insbesondere Art. 28 II, 70 I GG) sowie die Einrichtung eines über-parteilichen Verfassungsgerichts zur rechtsförmigen Letztentscheidung von Streitfragen.49

ff) Zweckmäßigkeit Regelmäßig ist Skepsis geboten, wenn versucht wird, Entscheidungen allgemein mit Verweis auf „Zweckmäßigkeitserwägungen“ zu rechtfertigen. Nicht selten handelt es sich hier um eine Nebelkerze, die ein nur scheinbar rationales Licht auf die Argumentation wirft. In Wirklichkeit verbergen sich hinter den „Zweckmäßigkeitserwägungen“ oft außerrechtliche (moralische) Wertungen, die nicht explizit gemacht werden sollen. Zweckmäßigkeit in diesem Sinne ist mithin keine eigenständige Funktion der Gerechtigkeit. Zweckmäßigkeit im Sinne von Effektivität und Effizienz in der Rechtsanwendung und Rechtsdurchsetzung hingegen hat durchaus eigenen Gerechtigkeitswert.50 Denn was nutzen Vorschriften über Strafe und Resozialisierung, wenn Delinquenten aufgrund (zu) langer Verfahrensdauer erst zu einem Zeitpunkt tatsächlich bestraft werden, zu dem die Tat längst ins Vergessen gerückt ist?51 Was ist der materielle Anspruch auf eine Baugenehmigung wert, wenn die Behörde die Genehmigung erst erteilt, nachdem sich die Pläne des Bauherrn längst erledigt haben?52 Wie soll Rechtsfriede entstehen zwischen Parteien, die über ein Jahrzehnt hinweg durch mehrere Instanzen miteinander streiten (müssen)?53 Und was nutzt ein Anspruch, der sich nicht nötigenfalls mit Mitteln des Zwangs durchsetzen lässt?54 Offenkundig: Gerechtigkeit, die nur auf dem Papier

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49 Siehe zum Ganzen etwa Dreier, in: Marko/Stolz, Demokratie und Wirtschaft, 1987, S. 139 ff. 50 Siehe hierzu etwa die Analyse bei Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 438 ff. 51 Vgl. Art. 5 III, 6 I EMRK; sowie hierzu etwa EGMR, Urt. v. 13.11.2008, Individualbeschwerde Nr. 26073/03. 52 Vor diesem Hintergrund haben die Länder zuletzt etliche „Beschleunigungsgesetze“ erlassen, die u.a. mittels Genehmigungsfiktionen dem Bauherrn schneller zu seinem (Bau-) Recht verhelfen sollen – siehe hierzu etwa Biermann, NordÖR 2009, S. 377 ff. 53 Vgl. erneut Art. 6 I EMRK; sowie die Rüge des EGMR, Urt. v. 2.9.2010, Individualbeschwerde Nr. 46344/06. 54 Vgl. hierzu etwa die §§ 704 ff. ZPO.

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

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besteht, ist wenig wert. Erst recht wertlos sind hehre Ziele, gute Absichten von Gesetzgeber, Verwaltung, Gerichten, die im Recht keine geeignete, in sich widerspruchsfreie Verwirklichung gefunden haben. Materiell für gerecht befundene Zwecke müssen im Gesetz, in einem Bescheid, in einem Urteil auch in einer Weise konkretisiert werden, die den Zwecken „gemäß“ ist – die sie idealiter also in genau dem Maße befördert, das ihrem Verhältnis zu anderen (entgegenstehenden) Zwecken entspricht.55 Zur Gerechtigkeit gehört also, dass „gerechte“ Zwecke in Rechtssätzen angemessen verwirklicht und in der Rechtspraxis wirksam durchgesetzt werden. Vorsicht ist allerdings auch mit Blick auf die Zweckmäßigkeit in diesem Sinne geboten.56 Nicht selten nämlich verbirgt sich hinter den Schlagworten von „Effektivität“ und „Effizienz“ des Rechts in Wirklichkeit das Gegenteil – denn wahrhafte Effektivität und Effizienz im Recht ist zunächst einmal: langsam.57 Und werden vorschnell bestimmte Einzelinteressen effektuiert – so werden eigentlich gewichtigere andere Belange meist unbedacht zurückgedrängt; die erhöhte Effektivität der Gefahrenabwehr etwa wird dann leichthin mit geringerer Effektivität des Grundrechtsschutzes erkauft.58 Oder der kurzfristig erhöhten Effizienz eines Verfahrens wird die langfristige Effizienz der Friedensordnung Recht geopfert; so führen beispielsweise die oben zitierten Gesetze zur Verfahrensbeschleunigung im Baurecht zwar womöglich dazu, dass rascher gebaut werden kann – dafür aber steigt der Folgeaufwand für die repressive Bauaufsicht, und es steigt die Zahl späterer Rechtsstreitigkeiten.59

gg) Rechtssicherheit Dies leitet über zur siebten, letzten – und vielleicht zweitwichtigsten – Funktion der Gerechtigkeit: der Rechtssicherheit. Ähnlich universal wie die Gleichheit scheint der Gerechtigkeit nämlich die Abkehr von der Ungewissheit inhärent zu

_____ 55 Diese Form der Zweckmäßigkeit übrigens findet ihren Niederschlag u.a. in den Verwaltungsverfahrensgesetzen von Bund und Ländern – vgl. dort jeweils § 10 S. 2 sowie § 40. 56 Instruktiv die kritische Begriffsanalyse bei Neupert, Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit, 2011, S. 14 ff., m.w.N. 57 Siehe Lege, ARSP 2007, S. 21, 32 f.; ähnlich erneut Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 231 f. 58 Siehe hierzu jüngst eindrücklich das Urteil des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung – BVerfGE 125, 260. 59 Siehe hierzu erneut die Analyse von Biermann, NordÖR 2009, S. 377 ff.; sowie Lege, in: Schütz/Classen, Landesrecht Mecklenburg-Vorpommern, 3. Aufl. 2014, S. 196, 234 ff.

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B. Grundlegung

sein.60 Ungewissheit ist der natürliche Feind der Wertung, die jeder Gleichbehandlung notwendig (s.o.) zugrunde liegt. Oder, prägnanter: Ohne Klarheit keine Wahrheit. Zur Rechtssicherheit zählen im Einzelnen: die Klarheit, die Beständigkeit und die Erwartbarkeit des Rechts.61 In Teilen gehen diese Funktionen der Gerechtigkeit in der Gesetzmäßigkeit auf. Dies gilt aber u.a. insoweit nicht, als die konkrete Sprachfassung sowie die Auslegung von Rechtsnormen betroffen ist. Klarheit des Rechts meint hier sprachliche Verständlichkeit, innere Widerspruchsfreiheit und sachliche Richtigkeit von Rechtstexten. „Sprachlich verständlich“ sind Rechtstexte dabei nicht immer erst dann, wenn jeder Laie sich ihren Wortsinn sofort erschließen kann; jedoch darf man zumindest erwarten, dass die üblichen Regeln der Grammatik und der Orthographie Beachtung finden und dass der kundige Jurist eine Regel auf Normal-Sachverhalte ohne gravierende, sprachlich begründete Zweifel anzuwenden beziehungsweise ein Urteil dem Wortlaut nach unmittelbar nachzuvollziehen vermag;62 insofern gehört zur Normenklarheit auch die Normenwahrheit.63 Mit „innerer Widerspruchsfreiheit“ soll hier nicht die inhaltliche Übereinstimmung aller Wertungen in der Gesamtrechtsordnung postuliert werden – sondern (nur) die einheitliche und möglichst präzise Bestimmung der Rechtsfolgen für einen bestimmten Fall hinsichtlich eines bestimmten Parteibegehrens. „Sachliche Richtigkeit“ bezieht sich gleichfalls nicht auf moralische Wertungen des Gesetzgebers bzw. des Richters – sondern auf tatsächliche Elemente einer Rechtsnorm oder eines Urteils, also auf Elemente, die dem Beweis zugänglich sind.64 Welche Anforde-

_____ 60 Bereits bei von Savigny dringt dies als Grundanliegen durch – siehe die Rekonstruktion von Rückert, in: Rückert, Methodik des Zivilrechts seit Savigny, 1997, S. 25 ff., zusammenfassend S. 55. Zu jüngsten Relativierungstendenzen siehe umfassend Boehme-Neßler, Unscharfes Recht, 2008, S. 655 ff. insbes. 61 Der Begriff der Rechtssicherheit kann freilich verschiedenes meinen: wie hier, Orientierungsgewissheit (certitudo) im Hinblick auf das gesamte objektive Recht; oder, nur, die Vorhersehbarkeit staatlicher Entscheidungen hinsichtlich einer bestimmten einzelnen (Fall-) Frage (Rechtssicherheit im engsten Sinne – hierfür wird im Folgenden der Begriff der Erwartungssicherheit gebraucht); oder, umgekehrt, als Rechtssicherheit im weitesten Sinne, zusätzlich noch die tatsächliche Durchsetzbarkeit des bestehenden Rechts (Realisierungsgewissheit – securitas) – siehe hierzu die Kant-Exegese bei Lege, Abscheu Schaudern und Empörung, in: Byrd/ Hruschka/Joerden, Jahrbuch für Recht und Ethik, 2006, S. 447, 464 f. 62 Siehe Christensen, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 1, 2004, S. 22 f., m.w.N.; ferner BVerfGE 65, 1, 44. 63 BVerfGE 108, 1, 20. 64 (Negativ-) Beispiele: Verweise auf eine offenkundig unzutreffende oder nichtexistente weitere Rechtsnorm, Zugrundelegung empirischer Daten, die (so) nicht existieren.

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

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rungen im Einzelnen an die Klarheit des Rechts zu stellen sind, hängt auch vom jeweils betroffenen Rechtsgebiet ab: Während etwa im Unternehmenssteuerrecht eine erschwerte Zugänglichkeit eher vertretbar sein mag (die Adressaten sind zumeist kompetent anwaltlich beraten), sind handwerkliche Fehler im Sozialrecht häufig gleichbedeutend mit fehlender (materieller) Gerechtigkeit.65 Beständigkeit des Rechts verlangt zuvörderst, dass Fälle in der Zukunft grundsätzlich gleich behandelt werden wie wesentlich gleiche Fälle in der Vergangenheit.66 Erst recht sollen für einen Sachverhalt aus der Vergangenheit nicht Rechtsfolgen rückbewirkt werden (sogenannte echte Rückwirkung); auch die tatbestandliche Rückanknüpfung (sogenannte unechte Rückwirkung) neu geschaffener Vorschriften ist danach nicht schrankenlos zulässig.67 Und schließlich gehört zur Beständigkeit des Rechts noch der Gedanke einer zukunftsgerichteten zeitlichen Begrenzung der Rechtsfolgen bestehender Normen; dies führt insbesondere zu den Forderungen einer Verjährung von Tatbeständen sowie der Endlichkeit von (Dauer-) Schuldverhältnissen. Das Verlangen nach Beständigkeit des Rechts steht ganz offenkundig sehr häufig in Widerstreit zu dem Wunsch nach materiell gerechter(er) Entscheidung (dazu sogleich unter b). Die Erwartbarkeit des Rechts erfüllt sich weitgehend durch seine Klarheit und Beständigkeit. Die Forderung nach Erwartbarkeit, nach Vorhersehbarkeit rechtlicher Entscheidungen geht über diese Gesichtspunkte aber dann hinaus, wenn Entscheidungen neu zu treffen bzw. abzuändern sind. Konkret: Soll etwa ein Gesetz die bestehende Rechtslage einschneidend ändern, so wird die Gerechtigkeitsfunktion der Rechtssicherheit häufig Übergangsfristen oder die zeitige Ankündigung des Vorhabens fordern.68 Will ein Gericht von seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung abweichen oder die Präjudizien anderer Gerichte verwerfen, so hilft es (potentiellen) Streitgegnern, wenn sie sich rechtzeitig auf diesen „Schwenk“ einstellen können.69

_____ 65 Richers/Köpp, DÖV 2010, S. 997, 998 f. 66 Siehe etwa Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 95 Rn. 18, m.w.N. 67 Siehe grundlegend BVerfGE 31, 275; 72, 200. 68 Siehe Klappstein, Rechtsprechungsänderung, 2009, S. 326 ff.; sowie von Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 472 ff., jeweils m.w.N. 69 In der Praxis verfahren die Gerichte dabei höchst unterschiedlich: Manchen Umwälzungen gehen Vorbereitungen voraus, andere erfolgen abrupt, wieder andere „heimlich“. Vgl. zu den verfassungsrechtlichen Grenzen jüngst BVerfG, NJW 2013, 523 f., m.w.N.; sowie die Darstellung bei Brocker, NJW 2012, S. 2996 ff.; instruktiv auch die kritischen Anmerkungen bei Noftz, NZS

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B. Grundlegung

b) Gerechtigkeit im Widerstreit Gleichheit, Freiheit, Gesetzmäßigkeit, Moralität, Legitimität, Zweckmäßigkeit, Rechtssicherheit – im Staat der Moderne, wie gesehen, bedingen und überschneiden sich diese sieben Funktionen der Gerechtigkeit. Die gegenseitige Bedingtheit schließt aber nicht aus, dass einzelne Funktionen oftmals in Widerstreit zueinander treten – und zwar wegen der notwendigen Lückenhaftigkeit der Gesetze und angesichts sozialer Wandlungen nicht nur im Gesetzgebungsprozess, sondern auch und besonders vor den Gerichten. Dies betrifft besonders offenkundig das Verhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit (aa) sowie zwischen Moralität und Rechtssicherheit (bb).

aa) Gleichheit versus Freiheit Die Gleichheitserwartung der Mehrheit wird spätestens dann enttäuscht, wenn die Freiheit der Andersdenkenden auch Folgen für Angehörige der Mehrheit hat. Immer wieder neu auszuhandeln ist damit – zuvörderst im politischen Prozess, aber auch vor Gericht – die Frage: Wie viel Freiheit den Feinden meiner Freiheit?70 Die Problematik von Freiheit oder Gleichheit wird im vorliegenden Werk später noch einmal im Fokus stehen (insbesondere unter C II 2 a). Im Rahmen der Grundlegung (Teil B) spielt dieser Widerstreit jedoch keine wesentliche Rolle und soll daher zunächst hintanstehen.

bb) Moralität versus Rechtssicherheit Von größerer Bedeutung für die Darstellung im Folgenden – insbesondere für die Analyse der herkömmlichen Methodik der Rechtsanwendung – ist hingegen ein Widerstreit, der mit dem Gegensatzpaar Moralität/Rechtssicherheit nur ungenau beschrieben ist. Der Widerpart der Rechtssicherheit in vielen Fällen ist nicht lediglich die Moralität des Rechts im oben beschriebenen Sinne, sondern allgemeiner die materielle (Einzelfall-) Gerechtigkeit; letztere schließt auch Elemente der Gleichheit (Ungleiches ist ungleich zu behandeln!), der (insbesondere: Form-) Freiheit und der Zweckmäßigkeit (Zweck-Optimierungsgebot) ein. Der Schwerpunkt der Problematik liegt dabei nicht dort, wo eine bestimmte Regel des positiven Rechts für allgemein – das heißt: in den meisten oder gar in

_____ 1999, insbes. S. 57, 66; ferner Bydlinski, JZ 1985, S. 149, 153; sowie umfassend erneut Klappstein, Rechtsprechungsänderung, 2009, insbes. S. 217 ff. 70 In Anlehnung an das meist Louis Antoine de Saint-Just zugeschriebene Diktum: „Pas de liberté pour les ennemis de la liberté!“; vgl. hierzu etwa Thiel, in: Thiel, Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 1, 24.

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

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allen betroffenen Fällen – für materiell ungerecht gehalten wird.71 In diesen Konstellationen mag der Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und Moralität zuweilen besonders brisant erscheinen. Solche Fälle treten aber zumeist nur dort auf, wo eine gesellschaftliche Ordnung durch eine andere abgelöst wird – also eher selten.72 Sehr viel häufiger sind Fälle, in denen die Anwendung einer im Allgemeinen vertretbaren Regelung in (nur) wenigen Einzelfällen zu einem materiell ungerechten Ergebnis führt. Materielle Gerechtigkeit verlangt, alle Besonderheiten des Einzelfalls bei einer Entscheidung mit zu berücksichtigen – Rechtssicherheit hingegen setzt Übersichtlichkeit und determinierende Wirkung abstrakt-genereller Regelungen voraus.73 Zugespitzt: Der Idealfall materieller Einzelfallgerechtigkeit ist das Zusammenspiel von Generalklausel und weiser Richterschaft; der Idealfall der Erwartungssicherheit (und jedenfalls prima facie auch der demokratischen Herrschaft) ist die Anwendung eines unmissverständlichen Gesetzesbefehls durch den richterlichen „Subsumtionsautomaten“. In institutioneller Hinsicht hat man für diesen ewigen74 Widerstreit in den meisten Rechtsordnungen der Welt längst zu einem Kompromiss gefunden: Verfassungsrang haben materielle Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.75 Auf Gesetzesebene existieren klare Regeln und Generalklauseln. Richter sind an das Gesetz gebunden und betreiben Rechtsfortbildung. Ein solcher Kompromiss ist im Grunde unvermeidbar – denn eine strikte allgemein-abstrakte Vorrangrelation zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit lässt sich nicht begründen (1). Auch hängt ein möglicher Vorrang nicht allgemein vom jeweils betroffenen Rechtsgebiet oder von der Schwere der materiellen Ungerechtigkeit ab (2). Es lassen sich aber immerhin drei Entscheidungsmaximen postulieren, die wenigstens partiell die Problematik entschärfen (3–5).

(1) Keine allgemeine strikte Vorrangrelation Im Einzelfall neigen wir – verständlicherweise – meist dazu, der materiellen Gerechtigkeit den Vorzug gegenüber der Rechtssicherheit zu geben. Verständlich ist dies nicht zuletzt im Lichte der zu erwartenden Reaktionen der Parteien

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71 Vgl. Radbruch, in: Dreier/Paulson, Gustav Radbruch – Rechtsphilosophie, 1999, S. 211 ff. 72 Vgl. hierzu die Fälle der „Mauerschützen“ – BGHSt 39, 1; 40, 241; 41, 101; 45, 270; dazu instruktiv Dreier, JZ 1997, S. 421 ff. 73 Ähnlich Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 8. 74 Vielleicht noch immer die eindrücklichste Darstellung dieses Konflikt ist die „Antigone“ des Sophokles (uraufgeführt um 442 v. Chr.). 75 Beide sind Wesensmerkmale der Rechtsstaatlichkeit – siehe BVerfGE 7, 89, 92; sowie BGHSt 18, 274, 277.

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B. Grundlegung

eines Streits: Eine materiell gerechte Einzelfallentscheidung werden die Parteien (wenn sie „fair“ sind: auch die Verlierer) zumeist selbst dann akzeptieren, wenn sie aufgrund der Lektüre von Gesetz, Fachliteratur und/oder Präjudizien ein ganz anderes Urteil erwartet haben. Und die Medien, jedenfalls in Deutschland,76 sprechen dann oftmals von einem „bahnbrechenden Urteil“, einer „mutigen Entscheidung“, vielleicht auch anerkennend von einer „Wegweisung, die den Gesetzgeber zum Handeln zwingt“. Einem Richter hingegen, der sich streng an den Buchstaben des Gesetzes hält und der dabei, wenigstens scheinbar, schreiende Ungerechtigkeit produziert, dem wird man in der (auch: Fach-) Öffentlichkeit nur selten viel Freundlichkeit entgegenbringen77.78 Blickt man allerdings auf das „große Ganze“, ist der erste Eindruck ein anderer: Wer im Ausland Geschäfte macht (oder Urlaub), begreift die scheinbaren Ungerechtigkeiten im anderen Staat zuweilen zwar als unvereinbar mit eigenen Werthaltungen (zuweilen auch nur als schlichte Kuriositäten)79 – Geschäfte (und Urlaub) werden dennoch gemacht. Anders ist dies hingegen dann, wenn der Eindruck entsteht, auf das „Erwartungssystem Recht“ als solches sei kein Verlass mehr: Erweckt eine Summe von unerwarteten Einzelfallentscheidungen den Eindruck, für Investitionen (ganz genauso wie für persönliche Lebensentscheidungen) sei keine Planungssicherheit mehr gegeben, so steigen die Transaktionskosten, steigt die Zahl möglicher Streitigkeiten – Geschäfte (oder auch: Urlaub, Nachwuchsplanung, Ersparnisse etc.) lohnen sich nicht mehr.80 Ohne Sicherheit des Rechts ist ein modernes, durch fortgeschrittene Arbeitsteilung komplex gewordenes Staatswesen kaum vorstellbar.81 Bildlich gesprochen – je unübersichtlicher die Verhältnisse, desto mehr gilt: „Good fences make good neighbours.“82 Bereits diese Skizzen zeigen: Fehlende Rücksichtnahme auf materielle Gerechtigkeit führt dazu, dass juristische Entscheidungen als illegitim angese-

_____ 76 In den USA etwa – wo der Widerstreit unter dem Gegensatzpaar „judicial activism/judicial restraint“ firmiert – mag die Lage eine etwas andere sein. 77 Von der Rechtssicherheit als bloßem „Sekundärzweck“ spricht bspw. Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1068. 78 Ähnlich Rennert, NJW 1991, S. 12, 17. 79 Man denke nur an die seit Jahrzehnten immer wieder in der Presse kolportierten „unglaublichsten Rechtsfälle aus den USA“ – manche davon wahr, manche frei erfunden, die meisten schlicht aus dem Kontext gerissen. 80 Siehe Boehme-Neßler, Unscharfes Recht, 2008, S. 428 ff. 81 Instruktiv die kritische Stellungnahme zur Rechtsprechung der Revisionsgerichte im Sozialrecht bei Noftz, NZS 1999, S. 57, 60 insbes. 82 Andriychuk, Rechtstheorie 2013, S. 1, 26. Zum Gedanken des Rechts als Grenzziehung siehe erneut auch Boehme-Neßler, Unscharfes Recht, 2008, S. 126 ff.

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

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hen werden und verhindert damit die Befriedung bestehender Konflikte. Fehlende Rechtssicherheit umgekehrt entzieht wirtschaftlicher, politischer und persönlicher Planung die Grundlage und führt damit zur Entstehung neuer Konflikte.83 Eine strikte, „schablonenhafte“84 Vorrangrelation zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit kann es insofern nicht geben. Die Geschichte des Rechts bestätigt diese Sichtweise. Kein Staat und kein Gericht kann es sich auf Dauer leisten, eine der beiden Kernfunktionen der Gerechtigkeit im weiteren Sinne außer Acht zu lassen. Nur in Nuancen haben verschiedene Rechtssysteme daher zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt – mal eher zugunsten der Sicherheit, mal eher zugunsten der materiellen Einzelfallgerechtigkeit des Rechts.85

(2) Keine allgemeine Vorrangrelation je nach Regelungsbereich oder Schwere Wenn also schon keine allgemeine Vorrangrelation herstellbar ist – lässt sich dann nicht wenigstens je nach Regelungsbereich oder Schwere der materiellen Ungerechtigkeit ein allgemeines Vorrangverhältnis begründen? Lassen sich allgemeine Regeln aufstellen, nach denen in bestimmten Fällen allgemein entweder die materielle Gerechtigkeit oder die Rechtssicherheit obsiegen soll? Zunächst naheliegend erscheint etwa, bei „rein technischen“ Regeln (beispielweise: Straßenverkehrsregeln, Schriftformerfordernisse, DIN-Normen, Urheberrecht) dem Gebot der Rechtssicherheit, bei eher „politischen“ Normen (insbesondere: Grundrechte, Arbeitsrecht, Familienrecht) hingegen der materiellen Einzelfallgerechtigkeit den Vorzug zu geben.86 Eine solche Aufteilung des Rechts in „Verkehrsregeln“ und „Verteilungsregeln“ würde jedoch verkennen, dass nahezu jede noch so technische Vorschrift wenigstens einzelne Personen gegenüber anderen benachteiligt87 – und damit Gerechtigkeitsfragen in

_____ 83 Dies gilt übrigens nicht nur für innerstaatliches Recht, sondern natürlich auch im Bereich des Völkerrechts – siehe in diesem Sinne (zur Reichweite der Staatenimmunität) zuletzt die Distomo-Entscheidung des IGH v. 03.02.2012, Deutschland – Italien. 84 BGHSt 18, 274, 277. 85 Vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 7 ff. 86 Vgl. in diesem Sinne Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 38 f., 46. 87 Um die oben angeführten Beispiele noch einmal aufzugreifen: Ampelregelungen an Straßenkreuzungen können Menschen mit Rot-Grün-Schwäche benachteiligen; Schriftformerfordernisse stellen für Analphabeten Hürden auf (und bevorteilen schriftsprachlich besonders gewandte Personen); DIN-Normen führen bei ihrer Einführung zu höheren Kosten u.a. für solche Hersteller, die bislang nach einem anderen Standard produziert haben, etc.

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B. Grundlegung

sich trägt, die im Einzelfall berücksichtigt werden wollen.88 Freilich darf man davon ausgehen, dass manche Regeln und Regelungsbereiche mehr und schwerwiegendere Gerechtigkeitsfragen aufwerfen als andere.89 Jedoch kann gerade in Fällen mit starkem Gerechtigkeitsbezug auch dem Gebot der Rechtssicherheit besondere Bedeutung zukommen: Bei schwerwiegenden moralischen Implikationen ist es für die Normadressaten oftmals elementar, rechtzeitig Klarheit über die tatsächlich geltenden Regelungen zu erhalten – äußerstenfalls, um sich diesen ganz oder teilweise zu entziehen. Ein Beispiel: Wer als Arzt die Selbstbestimmung der Mutter über alles stellt, der wird dringend wissen wollen, unter welchen genauen Umständen er in Deutschland dazu berechtigt ist, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen.90 Umgekehrt verliert bei Rechtsregeln mit geringem Gerechtigkeitsbezug (etwa: Robenzwang für Anwälte)91 nicht selten auch das Gebot der Rechtssicherheit an Bedeutung. Bei der Entscheidung über das Rangverhältnis zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit kann die „Wertbezogenheit“ des jeweiligen Regelungsbereichs also nicht von allgemeiner Bedeutung sein. Ebensowenig und aus im Wesentlichen denselben Gründen lässt sich allgemein ein Vorrangverhältnis dahingehend begründen, dass ab einer bestimmten Schwere der materiellen Ungerechtigkeit immer die Rechtssicherheit zurücktreten müsse. Zwar erscheint es intuitiv einleuchtend, dass das positive Recht seinen Vorrang verlieren müsse, wenn „… der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“92

Eine solche „Dicker-Hund-Theorie“93 der Gerechtigkeit leidet aber nicht nur an notwendiger94 Unschärfe und an einer gewissen Zirkelhaftigkeit. Vielmehr wird dabei wiederum auch vergessen, dass in den betreffenden Fällen schwerer ma-

_____ 88 Zurückhaltender noch Richers, ZaöRV 2007, S. 509, 529. 89 Allerdings: Gerade „Petitessen“ können die Gemüter bisweilen heftig erregen. Über kaum etwas wird in Deutschland so erbittert gestritten wie über Abstandsflächen im Nachbarrecht, Rundfunkgebühren und die (im internationalen Vergleich bislang eher moderaten) Bußgelder im Straßenverkehr. 90 Vgl. §§ 218 ff. StGB. 91 Siehe § 20 BORA; vgl. dazu jüngst noch OLG München, NJW 2006, 3079. 92 So der zweite Teil der Radbruch’schen Formel – siehe Radbruch, in: Dreier/Paulson, Gustav Radbruch – Rechtsphilosophie, 1999, S. 216. 93 Lege, DÖV 2015, S. 361, 364. 94 So Radbruch selbst, siehe erneut ders., in: Dreier/Paulson, Gustav Radbruch – Rechtsphilosophie, 1999, S. 216.

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

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terieller Ungerechtigkeit häufig zugleich der Rechtssicherheit besonderes Gewicht zukommt.95 Die Rechtssicherheit bedarf daher stets der sorgfältigen Abwägung gegenüber den Gesichtspunkten materieller Gerechtigkeit.96

(3) Erste Entscheidungsmaxime: Das Ausschlussprinzip Um den Prinzipien der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit zu „praktischer Konkordanz“97 zu verhelfen, können freilich einige Maximen allgemein entscheidungsleitend sein. Geradezu banal – für die Kernthese dieses Buches aber dennoch von grundlegender Bedeutung – erscheint das erste dieser Leitprinzipien: das Ausschlussprinzip. Wenn aus Sicht des zur Entscheidung berufenen Richters im konkreten Fall bei der Wahl zwischen zwei Entscheidungsalternativen entweder die Gesichtspunkte materieller Gerechtigkeit sich insgesamt „die Waage halten“98 – oder wenn umgekehrt keine Rechtserwartungen bestehen, die gesichert werden könnten,99 dann entfällt in diesem Fall schlicht der Widerstreit zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Die jeweils übrig bleibende Gerechtigkeitsfunktion ist dann optimal zur Geltung zu bringen. Daher müssen, wenn Gesichtspunkte materieller Gerechtigkeit nicht entgegenstehen, juristische Entscheidungen un-bedingt so vorhersehbar sein, wie es die notwendige Ungenauigkeit sprachlicher Bezeichnungen und die Verschiedenheit der Verständnis- und Erkenntnishorizonte100 eben zulässt.

_____ 95 Man kann dies bereits an den Fällen festmachen, in denen die Radbruch’sche Formel Anwendung fand: In den Prozessen um die Mauerschützen (vgl. oben Fn. 72) standen zwar einerseits schwere Verstöße gegen die materielle Gerechtigkeit im Raum; andererseits hatte auch der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit besonderes Gewicht – für die individuell Betroffenen (langjährige Freiheitsstrafen) ebenso wie für die Funktionsfähigkeit des Staatswesens (Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit von Anordnungen der Regierung gerade in Krisenfällen). Ein entsprechender Widerstreit zeigt sich aber auch in Fällen, in denen kein Systemwechsel stattgefunden hat – vgl. etwa die Beispiele unter (5). 96 Siehe Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 560. 97 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, S. 28; siehe auch BVerfGE 83, 130, 143. 98 Bei widerstreitenden Grundrechtspositionen liegt dies zuweilen nahe. Man denke etwa an den Widerstreit zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit verschiedener Schüler und Erziehungsberechtigter im Schulunterricht. Vgl. grundlegend zur Problematik (allerdings in einem Fall, in dem die Schule selbst sich religiöse Symbolik zu eigen machte) – BVerfGE 93, 1. 99 Dies kann etwa dort der Fall sein, wo der Gesetzgeber ein Rechtsgebiet für die Zukunft völlig neu geregelt hat und die Gerichte erstmals zur Anwendung des neuen Rechts angerufen werden. 100 Vgl. hierzu bereits Richers, ZaöRV 2007, S. 509, 525 ff.

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B. Grundlegung

(4) Zweite Entscheidungsmaxime: Das Demokratieprinzip Während das soeben skizzierte erste Leitprinzip in Fällen konkreten Widerstreits keine Handlungsempfehlung liefert, begründet die zweite Entscheidungsmaxime – das Demokratieprinzip – immerhin einen schwachen Vorrang zugunsten einer der beiden Gerechtigkeitsfunktionen. Die Frage nach materieller Gerechtigkeit ist im demokratischen Staat nämlich zuvörderst eine Frage, die im Parlament zu beantworten ist;101 dem Gedanken demokratischer Herrschaft widerspricht es, wenn ein einzelner Rechtsanwender die Festlegungen des demokratisch unmittelbar legitimierten Gesetzgebers durch seine eigenen Gerechtigkeitsmaßstäbe ersetzt. Vor diesem Hintergrund versteht sich der erste Teil der Radbruch’schen Formel: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist …“102

Diese Formel droht allerdings zumindest immer dort über das Ziel hinauszuschießen, wo es (im Einzelfall) keinen eindeutigen positivrechtlichen Normbefehl gibt – sei es weil die betreffende Regelung selbst allgemein oder für den Einzelfall uneindeutig ist, sei es weil der Regelung Prinzipien höherrangigen Rechts entgegenstehen.

(5) Dritte Entscheidungsmaxime: Das Prinzip Ehrlichkeit Die vielleicht wichtigste Entscheidungsmaxime im Spannungsfeld von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit ist daher das „Prinzip Ehrlichkeit“. Zu Unsicherheit in der Rechtsordnung führt nämlich oftmals weniger die Tatsache, dass Fälle im Ergebnis anders entschieden werden, als der Blick auf Gesetz und/oder Präjudiz vermuten ließ, – sondern vielmehr die Verschleierung der wirklichen Entscheidungsgründe. Insbesondere bewirkt die (im Grundsatz berechtigte) Aversion gegen jede Form der Rechtsfortbildung häufig, dass Rechtsprechung und Lehre in hard cases103 auf dem Weg des geringsten Widerstands

_____ 101 Siehe hierzu eindrücklich Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, 3. Aufl. 2012, § 214 Rn. 98 ff.; ferner etwa Bleckmann, Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips, 1998, S. 124 ff. insbes.; sowie Rennert, NJW 1991, S. 12, 17 f. 102 Radbruch, in: Dreier/Paulson, Gustav Radbruch – Rechtsphilosophie, 1999, S. 216. 103 „Hard cases“ sind nach Dworkin, Harvard Law Review 88 (1975), S. 1057, „those cases in which the result is not clearly dictated by statute or precedent“ [Übers. des Verf.: „diejenigen Fälle, in denen das Ergebnis nicht klar durch Gesetz oder Präjudiz vorgegeben ist“].

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

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einzelne Begriffe schlicht „umdeuten“104 und damit deren (Wortlaut-) Grenzen sprengen.105 Diese Entgrenzung von Begriffen hat dann allerdings zur Folge, dass die entsprechenden Rechtssätze ihre Steuerungsfunktion auch für Fälle verlieren, die mit dem jeweils entschiedenen hard case wenig gemein haben. Zur Verdeutlichung drei Fallbeispiele: Fall A: M ist Mutter einer zehn Jahre alten Tochter. Der Vater, O, hat die körperlich deutlich unterlegene M und die gemeinsame Tochter in den vergangenen Jahren wiederholt geschlagen und ihnen dabei immer wieder erhebliche Verletzungen zugefügt. Für den Fall, dass M den O verlassen sollte, hat er ihr mehrfach mit „Rache“ gedroht. Die verzweifelte M beschließt daher, O zu töten. Eines Nachts entwendet M den Revolver des O aus seinem Schrank und schießt ihm damit in den Hinterkopf. O stirbt.106 Fall B: K erwirbt von V ein weitläufiges Grundstück. Kaufvertrag und Übereignung sind unwirksam, was K aber nicht weiß. K errichtet auf dem Grundstück zehn Wohnhäuser im Gesamtwert von 10 Mio. Euro und vermietet die Häuser an Dritte. Als sich die Unwirksamkeit der Übereignung herausstellt, verlangt V von K die Herausgabe des gesamten Grundstücks.107 Fall C: Die S-Fraktion verfügt gemeinsam mit der G-Fraktion im Bundestag über eine stabile Mehrheit. Allerdings hat die S-Partei zuletzt mehrere Landtagswahlen verloren und sieht sich im Bundesrat einer Blockade durch die Parteien C und F ausgesetzt. Bundeskanzler GS hofft, das Blatt im Wege von Neuwahlen wenden zu können. Er stellt im Bundestag die Vertrauensfrage. Die Fraktionen C und F stimmen gegen GS, die Angehörigen von S und G enthalten sich mehrheitlich – GS wird also nicht das Vertrauen ausgesprochen. Der Bundespräsident löst den Bundestag auf, es kommt zu Neuwahlen.108

Unterstellt man die Verfassungsmäßigkeit der Normen und Präjudizien, die zur Lösung dieser hard cases heranzuziehen sind, so kommen im Kern drei Herangehensweisen in Betracht: Erstens mag man alle „Bauchschmerzen“ ignorieren und strikt dem anhand der klassischen canones ermittelten (siehe III 2) Befehl des Gesetzes beziehungsweise den Präjudizien folgen. Der Rechtssicherheit dient dies gewiss. Und für zukünftige Fälle wäre zudem der Gesetzgeber nachdrücklich aufgefordert, das womöglich „ungerechte Recht“ zu novellieren. Al-

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104 Pointiert – aus psycholinguistischer Sicht – Klein, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 1, 2004, S. 197, 203. 105 Umfassend hierzu Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, 2007, passim.; ferner etwa Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, 2010, S. 100 ff. 106 Nach BGHSt 48, 255; näher zur Problematik der sogenannten „Haustyrannen“-Fälle siehe etwa Lembke, GreifRecht 2006, S. 44 ff. 107 Angelehnt an BGHZ 41, 157. 108 Nach BVerfGE 114, 121.

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B. Grundlegung

lerdings: Dem Gebot der Rechtssicherheit kommt kein absoluter Vorrang gegenüber der materiellen Gerechtigkeit zu; und der Gesetzgeber kann auch unmöglich für jeden in der Lebenswirklichkeit vorkommenden Einzelfall eigene Bestimmungen treffen. Im Fall A hätte sich M grundsätzlich wegen heimtückischer Tötung nach §§ 211, 212 StGB strafbar gemacht – Mord, lebenslänglich. Im Fall B wäre K grundsätzlich nach § 985 BGB zur Herausgabe des Grundstücks samt der darauf befindlichen Bauten (§§ 946, 93 f. BGB) verpflichtet – 10 Mio. Euro Verlust; Verwendungsersatz nach § 996 BGB für sogenannte nützliche Verwendungen scheidet dabei aus, weil es sich bei der tiefgreifenden Umgestaltung eines Grundstücks durch Bebauung nicht um eine Verwendung i.S.d. § 994 BGB handelt.109 Im Fall C wäre die Bundestagsauflösung nach den Grundsätzen eines Präjudizes des BVerfG aus dem 1983110 wohl als verfassungswidrig einzustufen111 – mit unklaren weiteren rechtlichen Folgen für die Zusammensetzung des Parlaments.112

Zweitens kann der Jurist versuchen, das Recht wenn nicht zu beugen so doch zu biegen. Er wird dann zum Beispiel versuchen, bestimmte Tatbestandsmerkmale entgegen dem bisherigen (und meist deutlich näherliegenden) Verständnis teleologisch zu reduzieren, den Wortlaut so lange drehen,113 bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist. Scheinbar bleibt der Jurist damit im Rahmen des Gesetzes beziehungsweise des Präjudizes, vermeidet Widersprüche und stärkt somit kurzfristig die integrative Funktion des Rechts.114 Die Folge aber ist, dass bislang einigermaßen klar umgrenzte Tatbestände sich aufzulösen beginnen. Entsprechend dieser zweiten Herangehensweise mag man versuchen, in Fällen der Ehegattentötung (Fall A) das Mordmerkmal der Heimtücke „wegzudiskutieren“. Auch in dem im Fall B zugrundeliegenden Sachverhalt lässt sich eine scheinbar gesetzesimmanente Lösung dahingehend „konstruieren“, dass dem unglücklichen Bauherrn Verwendungsersatz nach § 996 BGB zugesprochen wird. Im Fall C schließlich beharrte das BVerfG zwar auf seinem Präjudiz, legte dessen Grundsätze aber derart weit aus, dass wohl keine „kanzlergesteuerte“ Bundestagsauflösung je daran scheitern dürfte.115

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109 Siehe grundlegend BGHZ 41, 157. 110 BVerfGE 62, 1. 111 Vgl. die Minderheitsvoten des Richters Jentsch sowie der Richterin Lübbe-Wolff zu der o.g. Entscheidung (Fn. 108); sowie Lege, ARSP 2007, S. 21, 36 f. 112 Ibid. 113 Das Bild des „Rechtsverdrehers“ rührt von dieser Denkart her. 114 Zur Integration durch (Verfassungs-) Recht siehe Richers, in: Lege, Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft, 2009, S. 271 ff. 115 Vgl. erneut Lege, ARSP 2007, S. 21, 35 ff.

I. Der Rechtstext: Begriff und Richtigkeit des Rechts

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Drittens kann der Jurist konstatieren, dass die gesetzlichen bzw. präjudiziellen Bestimmungen diesem Einzelfall nicht gerecht werden, dass die bestehende Rechtsordnung insofern lückenhaft ist; im angelsächsischen Rechtsraum ist dieses distinguishing vermutlich stärker in der Rechtskultur verankert als im kontinentaleuropäischen Rechtsdenken.116 Der Jurist wird dann für genau diesen Fall (und grundsätzlich nur für diesen) selbst Recht schaffen. Im deutschen Zivilrecht mag ihm dabei zuweilen der Grundsatz von „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB) als Einstieg dienen. Nach dieser Herangehensweise ist zunächst zu erkunden, worauf eigentlich sich jeweils das Unbehagen bezüglich der gesetzeskonformen Lösung stützt: Beim Mord-Verdikt in Fall A weckt in Wirklichkeit wohl kaum die fehlende „Heimtücke“ Bedenken – sondern der Gesichtspunkt, dass hier ein Mensch in notstandsnaher Lage wie ein „gewöhnlicher“ Mörder abgeurteilt werden soll. In Fall B ist es schlicht die völlige wirtschaftliche Unverhältnismäßigkeit, die zweifeln lässt. Und in Fall C wäre jedenfalls die äußerste Konsequenz (die Annullierung demokratischer Wahlen, verbunden mit der „Absetzung“ der dabei gewählten Regierung) nicht nur politisch kaum vermittelbar, sondern auch für die Funktionsfähigkeit des Staatsapparats gefährlich.

Ist der eigentliche Grund des Unbehagens identifiziert und bleibt nach sorgfältiger Prüfung die Überzeugung vom materiellen Unrecht bestehen, so mag eine als solche benannte außergesetzliche Einzelfallentscheidung getroffen werden. Diese dritte Herangehensweise ist prima facie oftmals die „unsauberste“,117 jedenfalls die der Rechtssicherheit am wenigsten zuträgliche. In Wirklichkeit jedoch vermag sie nicht nur materielle Ungerechtigkeit im Einzelfall, sondern auch Rechtsunsicherheit zu verhindern: Als klar benannte Einzelfallentscheidung weckt sie für künftige Fälle im Anwendungsbereich der jeweiligen Normen wenig Unklarheit – diese Normen und ihre Auslegung bleiben unverändert; und sie nimmt es dem Gesetzgeber ab, ein ausufernd detailliertes Regelwerk zu schaffen. Gewiss gilt all dies nur, solange außergesetzliche Lösungen nicht von der absoluten Ausnahme zum Regelfall werden. Denn natürlich führen fortgesetzte richterliche Einzelfallausnahmen dazu, dass die Tatbestände der jeweiligen Rechtsnormen als law in action118 ebenso komplex geraten

_____ 116 Siehe Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, 2010, S. 101 f.; vgl. auch Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 253 ff. 117 Das allgemeine Misstrauen gegenüber Generalklauseln und außergesetzlicher Rechtsfindung ist aufgrund der historischen Erfahrungen in Deutschland durchaus verständlich. Zur Bewahrung von zugleich Anpassungsfähigkeit und Ehrlichkeit des Rechtswesens ist diese Freiheit des Richters aber unverzichtbar. 118 Pound, American Law Review 1910, S. 12.

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B. Grundlegung

wie entsprechende gesetzliche Detailregelungen. Ausdrückliche richterliche Rechtsfortbildung ist daher keinesfalls ein Königsweg, der in jedem Fall aus dem Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit hinausführt. Gegenüber der verdeckten Umdeutung von Tatbeständen, die den Rahmen der Dogmatik119 sprengt, ist die Einzelfallentscheidung extra legem aber klar vorzugswürdig.120 Auf diese Einschätzungen wird in der vorliegenden Grundlegung noch zurückzukommen sein (insbes. unter B III 4). Regeln des Argumentierens und Entscheidens, die ohne Berücksichtigung der jeweiligen sozialen Gegebenheiten entwickelt werden, blieben allerdings auf der Ebene eines rechtstheoretischen Glasperlenspiels stehen.121 Daher sei zuvor wenigstens ein kurzer Blick auf einige „Juristen als solche“ geworfen – und auf den sozialen Erwartungshorizont, vor dem diese jeweils auf dem Forum des Gerichts handeln.

II. Die Akteure: Richter und Partei (-vertreter) B. Grundlegung II. Die Akteure: Richter und Partei (-vertreter)

Ist das Zentrum und die Realität des Rechts der Fall,122 und ist das Forum des Falls das Gericht, so sind die maßgeblichen Akteure auf diesem Forum einerseits Richter (1.) und andererseits Partei beziehungsweise Parteivertreter (2.).123 Die Rollen dieser Akteure sind weitgehend sozial bereits vorgeprägt und durch die Regeln des Berufsrechts festgeschrieben. Soll das Prozessrecht zweckmäßig (im oben beschriebenen Sinne, I 2 a ff) sein, so hat es dies zu berücksichtigen: Die Verwirklichung des materiellen Rechts ist auf möglichst weitgehende Kongruenz von beruflicher Rolle und (prozess-) rechtlicher Aufgabenzuschreibung angewiesen (3.).

_____ 119 Mit Brugger könnte man auch von einem „Kreuz“ sprechen (siehe Brugger, Kreuz der Entscheidung, 2. Aufl. 2008, passim) – allerdings suggeriert das Wort eine Offenheit an den Grenzen, die der Idee des Rechts zuwiderläuft. 120 Insoweit ähnlich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 482 f., 572. 121 In diesem Sinne Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 516. 122 Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 208; instruktiv aus empirischer Sicht auch Drosdeck, in: Schmidt/Drosdeck/Koch, Rechtsfall, 1997, S. 5 ff. 123 Die Rollen der Zuschauer und der außerhalb des Forums (mittelbar) Betroffenen (v.a., jeweils im institutionellen Sinne: Politik, Wissenschaft, Ökonomie) interessieren im hiesigen Kontext allenfalls am Rande.

II. Die Akteure: Richter und Partei (-vertreter)

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1. Richter „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.“124

Frieden stiften durch verbindliche Entscheidung. Dies ist in ihrem Kern die Rolle des Richters. Diese Rolle ist – ungeachtet aller Unterschiede im persönlichen Rollenverständnis125 – durch Kulturen und Zeitläufe hindurch sehr stabil. Die Akzeptanz verbindlicher Entscheidungen steigt mit der Legitimation und der Durchsetzungsmacht der entscheidenden Stelle. Unter Herrschaft des Demokratieprinzips und eines staatlichen Gewaltmonopols ist es daher konsequent, wenn über Rechtsstreitigkeiten grundsätzlich allein eine staatliche Stelle entscheidet.126 Gerechter Interessenausgleich gelingt zudem am ehesten, wenn eigene Interessen nicht betroffen sind, wenn also die Entscheidungsinstanz unparteilich ist.127 Die staatliche Stelle bedarf daher hinreichender Unabhängigkeit vom Rest des Staatsapparats.128 Zugleich muss auch ihre Unabhängigkeit von Partikularinteressen gesichert werden – das Rollenbild des Richters verlangt dabei, dass selbst der Anschein wirtschaftlicher Eigeninteressen (etwa durch entsprechende Nebeneinkünfte) jederzeit vermieden wird.129 Dieses Verlangen nach Unabhängigkeit zeigt sich etwa in den gesetzlichen Regelungen über unvereinbare Aufgaben,130 in organisatorischen Vorkehrungen bei der Richterauswahl im Allgemeinen131 und im Einzelfall132 – oder auch in Vorschriften zur ausgeglichenpluralistischen Besetzung der Richtergremien133.

_____ 124 Neues Testament, Matthäus 5, 14. 125 Siehe hierzu etwa Schmid, in: Schmid/Drosdeck/Koch, Rechtsfall, 1997, S. 159 ff.; vgl. im Einzelnen auch die weiteren instruktiven Beiträge des Gemeinschaftswerks. 126 Entsprechend verfügt Art. 92 GG: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut […]“; ähnlich § 1 DRiG. 127 Siehe Maiwald, Herstellung von Recht, 1997, S. 78; instruktiv auch Hager, in: von Arnauld, Recht und Spielregeln, 2003, S. 325 ff. 128 Entsprechend bestimmt Art. 97 I GG: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“; vgl. auch §§ 4, 25 ff. DRiG. 129 Instruktiv die Darstellung bei Struck, Rechtssoziologie, 2011, S. 121. 130 Vgl. § 4 DRiG. 131 Vgl. etwa die Befähigungsvoraussetzungen der §§ 5 ff. DRiG. 132 Vgl. die Regelungen zur Aufstellung von Geschäftsverteilungsplänen in § 21e GVG. 133 Besonders augenfällig im Arbeitsgerichtsprozess mit ehrenamtlichen Richtern aus dem Lager der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer (vgl. § 6 ArbGG) sowie bei der Juryauswahl im angelsächsischen Rechtskreis, wo dieser Gedanke unabdingbar zum Grundmythos gehört (vgl. hierzu jüngst Kischel, Der menschliche Faktor – Der Mythos der Jury im common law, in:

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B. Grundlegung

2. Parteien – und Parteivertreter „Frieden ist das Ziel des Rechts – das Mittel auf dem Weg dorthin aber ist der Kampf.“134

Das Recht dient dem Frieden. Paradoxerweise allerdings ist die Produktion von Recht notwendig darauf angewiesen, dass zunächst die bestehenden Konflikte wenigstens in einem Fall tatsächlich gelebt werden. Erst die Äußerung widerstreitender Interessen erlaubt deren rechtsförmigen Ausgleich. Und die Artikulation solcher Interessen gelingt typischerweise denjenigen am ehesten, die selbst (mit-) betroffen sind. Dies also ist die Rolle der Partei – und ihres Vertreters. Inwieweit zwischen der Rolle der Partei und der ihres Rechtsanwalts Identität besteht, hängt vom persönlichen Rollenverständnis der Beteiligten ab – aber auch von der konkreten Ausgestaltung des jeweiligen Prozessrechts. Nach deutschem Verständnis ist der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege135 – und zugleich der für seinen Mandanten berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten. 136 Das Gewicht zwischen diesen beiden Polen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in Richtung der zweiten Aufgabe verschoben – der Anwalt begreift sich insofern zunehmend in einer Rolle als „Dienstleistungsunternehmer“137. Die Dienstleistung besteht dabei in der möglichst fundierten und zugleich pointierten Darstellung nur einer von mindestens zwei – meist: gegensätzlichen – Rechtspositionen. Denn zuvörderst verpflichten die Standesregeln den Rechtsanwalt dazu, seine Mandanten vor Rechtsverlusten zu schützen.138 Widerstreitende Interessen darf der Anwalt nicht vertreten.139 Parteilichkeit und – in gewissem Rahmen – sogar Käuflichkeit sind für seine Rolle mithin geradezu notwendige Voraussetzungen.140 Diese Freiheit und Verpflichtung zur kämpferischen Einseitigkeit findet ihre Grenze erst im Verbot der Unsachlichkeit141 und der bewussten Täuschung im Sinne eines Prozessbetrugs.142 Mit gutem Grund:

_____ Hanschel/Kielmansegg et al., FS Riedel, 2013, S. 631 ff.; ferner allgemein zu den Geschworenengerichten im angelsächsischen Raum Gerding, Trial by Jury, 2007, passim). 134 Jhering, Der Kampf um’s Recht, 1872, S. 7 f. 135 § 1 BRAO. 136 § 3 I BRAO. 137 Raiser, Rechtssoziologie, 6. Aufl. 2013, S. 359; ähnlich Baer, Rechtssoziologie, 2011, S. 169. 138 Vgl. § 1 III BORA. 139 Siehe § 43a IV BRAO. 140 Siehe Struck, Rechtssoziologie, 2011, S. 121. 141 Vgl. § 43a III BRAO. 142 Vgl. etwa Fischer, StGB Kommentar, 59. Aufl. 2012, § 263 Rn. 43 f., m.w.N.

II. Die Akteure: Richter und Partei (-vertreter)

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Denn wo der Weg zum Frieden über den Kampf um’s Recht führt, dort dient die parteiliche Interessenwahrnehmung des Anwalts letztlich der Verwirklichung des Rechtsstaats.143

3. Kongruenz von Rollen- und Aufgabenzuschreibung „Der Anwalt ist Experte für Unsicherheit, der Richter ist Experte für Sicherheit.“144

Wer Anforderungen an einen Akteur stellt, die dessen Rolle145 nicht „hergibt“, der wird den Akteur damit regelmäßig überfordern. Oder umgekehrt: Je besser die Handlungsanweisungen an einen Akteur zu dessen Rolle „passen“, desto eher wird eine Aufführung von Erfolg gekrönt sein. Wenn nun eine Rolle nicht mit den an ihren Akteur gestellten Anforderungen übereinstimmt, so lässt sich dies auf zwei Wegen beheben: Entweder indem die Rolle umgeschrieben wird – oder indem die Anforderungen an die Akteure angepasst werden. Der erste Weg allerdings scheidet im Falle einer sozialen Rolle (anders als bei einem Theaterstück) regelmäßig aus; denn die soziale Rolle lässt sich nur eingeschränkt und erst nach längerer Zeit kulturell „umschreiben“. Jedenfalls soweit die berufsrechtlichen Anforderungen an Richter und Anwälte Auswuchs ihrer sozialen Rollen sind, kann Kongruenz zwischen Rollen- und Aufgabenzuschreibung daher nur durch eine Anpassung der Aufgabenzuschreibung erhöht werden. Insbesondere im Zivilprozess spiegelt die „Choreographie“ des deutschen Prozessrechts in wesentlichen Teilen bereits die in den Vorkapiteln skizzierte Rollenzuschreibung und die damit verbundenen Interessen und Kompetenzen wider. Danach vermag grundsätzlich allein das Gericht, einen fortbestehenden Streit der Parteien durch seine Entscheidung zu beenden und damit einseitig Rechtsfrieden herbeizuführen. Umgekehrt ist es grundsätzlich Sache der Parteien, die ihnen jeweils günstigen Tatsachen vorzutragen, zu beweisen und damit zur Grundlage der richterlichen Entscheidung zu machen (siehe zum Ganzen noch ausführlich unter B IV). Mit anderen Worten: Das Gericht entscheidet – den Stoff der Entscheidung liefern die Parteien. Allerdings haben die Parteien dabei grundsätzlich nur den Tatsachenstoff zu liefern. Sie sind nach Vorstellung des deutschen Prozessrechts regelmäßig nicht dazu verpflichtet, auch rechtliche Ausführungen zu machen. „Versäum-

_____ 143 Vgl. § 1 II BORA; sowie jüngst BVerfG, NJW 2013, 2674, 2680 f. 144 Struck, Rechtssoziologie, 2011, S. 120. 145 Instruktiv zum Konzept der „Rolle“ im juristischen Kontext von Arnauld, in: von Arnauld, Recht und Spielregeln, 2003, S. 91 ff.

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B. Grundlegung

nisse“ in diesem Bereich sollen sich im Allgemeinen nicht auf den Ausgang des Rechtsstreits auswirken. Denn der Richter kennt das Recht – iura novit curia146. Dasselbe wird von den Parteien eines Rechtsstreits nicht erwartet. Mit gutem Grund: Der Ausgang eines Rechtsstreits soll nicht davon abhängen, wie gut sich die Parteien im Recht auskennen und erst recht nicht davon, ob sie sich qualifizierte Anwälte leisten können oder nicht. Was aber geschieht, wenn der Richter das („richtige“) Recht einmal nicht kennt – und trotz äußerster Anstrengung auch nicht zu erkennen vermag? Rechtsverweigerung147 – also das „Vertagen“ einer Entscheidung auf einen unbestimmten Zeitpunkt – ist auch in diesem Falle keine Option (siehe noch unter C III). Erfolgt die notwendige Entscheidung dann also rein emotiv, mit lediglich nachgeschobener (Schein-) Begründung – oder lassen sich in einem solchen Fall die besonderen Rollenzuschreibungen der übrigen Akteure auf dem Forum des Gerichts nutzen? Immerhin werden – gerade in hard cases – den Parteien und vor allem ihren Vertretern schon aus Eigeninteresse regelmäßig auch zusätzliche Argumente für die eine oder die andere Entscheidung einfallen. Eine Obliegenheit zum Rechtsvortrag würde dann das Gericht mit zusätzlichem Rechtsstoff ausstatten, auf dessen Grundlage sich der beigebrachte Tatsachenstoff eher mit überzeugender Begründung entscheiden ließe. Können also, mit anderen Worten, die prozessrechtlichen Anforderungen an Richter und Anwälte stärker an ihre soziale Rolle angepasst werden? Geschehen ist insoweit bereits manches (vgl. etwa unter C II 4 d) – allerdings auch manch Gegenläufiges. Insbesondere lässt sich in Teilen eine „Veranwaltlichung“ des Richterberufs beobachten. So erscheint etwa die zunehmende Verpflichtung des Richters zur eigenständigen Sachaufklärung (vgl. B IV 2 a) sowie

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146 Siehe BGH, NJW 1974, 1865; sowie etwa Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 284 Rn. 7; zur Genese vgl. Kaser/Hackl, Das römische Zivilproessrecht, 2. Aufl. 1996, S. 119, 358, 597. 147 Besonders instruktiv zu Geschichte und Bezügen des Rechtsverweigerungsverbots Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 2. Aufl. 1997, S. 306 ff. Vgl. daneben auch Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 412; Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 32 (Fn. 13); ferner bereits von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 208, der in diesem Zusammenhang übrigens auch die Parallele zur Tatbestandsermittlung betont; und von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit, 1814, S. 130; sowie schließlich Art. 4 des französischen Code Civil: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de dénie de justice.“ – Der Richter, der unter Berufung auf das Schweigen, die Unklarheit oder das Ungenügen des Gesetzes eine Entscheidung verweigert, kann wegen Justizverweigerung verfolgt werden [Übers. des Verf.]. Zum besseren Verständnis des heute zuweilen über Gebühr bemühten Rechtsverweigerungsverbots vgl. allerdings auch Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, 2001, S. 629, m.w.N.; sowie – eingehend zum historischen Hintergrund – Oestmann, ZRG GA 2010, S. 51 ff.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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seine Vereinnahmung für ausgehandelte Schlichtungslösungen (vgl. B IV 3 e bb) als deutliche Abkehr von den klassischen Anforderungen an richterliches Handeln. Gerade die letztgenannte Entwicklung mag man dabei auch als Antwort darauf verstehen, dass das Instrumentarium des Prozessrechts in manchen Fragen des materiellen Rechts keinen hinreichend deutlichen Weg zur Entscheidung weist: Wo eine rationale Begründung für Sieg oder Niederlage der Parteien auf dem Forum des Gerichts nicht gegeben werden kann, da erscheint der Prozessvergleich leicht als geringstes Übel.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion B. Grundlegung III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

Die rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts besteht im Wesentlichen aus drei – ineinander verschränkten – Schritten: der Erhebung des entscheidungserheblichen „Rechtsstoffs“148, also der Ermittlung der jeweils maßgeblichen Rechtsvorschriften und Präjudizien (darauf wird im Folgenden nicht gesondert eingegangen), dessen Auslegung/Interpretation149 (2) sowie der Subsumtion der Tatbestandselemente unter die jeweils einschlägigen Rechtsregeln (3). Die genannten Schritte fügen sich in einen Rahmen, den sogenannten Justizsyllogismus (1). Wie jede Methode ist allerdings auch die Rechtserkenntnis mittels dieses logischen Schlussmechanismus unvollkommen – so dass am Ende immer Zweifel verbleiben können, die mit den herkömmlichen Lösungsansätzen nicht zu beheben sind (4). Im folgenden Kapitel werden einzelne Fragen stärker gewichtet als dies ihre tatsächliche Bedeutung in der heutigen Rechtspraxis verlangt – und obgleich dies zur Stützung der Kernthese dieses Werks prima facie nicht zwingend erforderlich scheint. Dabei soll sich jedoch zeigen, dass selbst bei höchst konservativem (d.h.: eng am mutmaßlichen Willen des historischen Normgebers orientierten) Vorgehen in Auslegung und Subsumtion sich Zweifel im Ergebnis nicht vermeiden lassen.

1. Rahmen: Der Justizsyllogismus Rechtsstaatlichkeit setzt Überprüfbarkeit rechtlicher Entscheidungen voraus. Überprüfbarkeit wiederum verlangt nach Struktur auf dem Weg zur Entscheidungsfindung. Die Rechtsanwendung – im Sinne von: Erkenntnis dessen, wel-

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148 Radbruch, ARWP 1923/24, S. 343. 149 Beide Begriffe werden hier synonym verwendet.

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B. Grundlegung

che konkrete rechtliche Folge für einen bestimmten Sachverhalt gelten soll – folgt daher regelmäßig einem einheitlichen Grundschema, dem sogenannten Justizsyllogismus.150 In das Schema eingebettet sind sowohl die Auslegung der maßgeblichen Rechtsnormen wie auch die Subsumtion der Tatbestandsmerkmale unter diese Normen.151 Ein Beispiel: Sachverhalt Der Bauer D hegt einen Groll gegen seinen Nachbarn E. Aus der Rinderherde des E entwendet D daher ein Rind. Das Rind schenkt er einem umherziehenden Bettler. E verlangt als Ersatz fünf Rinder aus der Herde des D. (1) Rechtssatz Wenn jemand ein Rind stiehlt und es schlachtet oder verkauft, soll er fünf Rinder erstatten.152 (2) Auslegungsergebnisse/Subsumtionsschluss Teil 1 [Auszug] Stehlen meint die dauerhafte Wegnahme gegen den (mutmaßlichen) Willen des Berechtigten. Schlachten ist die Tötung zu dem Zwecke der Eigen- oder Fremdnutzung. Verkaufen ist die dauerhafte Weitergabe an einen Dritten gegen Entgelt. (3) Subsumtionsschluss Teil 2 [Auszug] D hat ein Rind gestohlen, es aber nicht geschlachtet oder verkauft. (4) Subsumtionsschluss Teil 3 [Auszug] D hat nämlich dem Berechtigten E gegen dessen Willen ein Rind dauerhaft weggenommen. Er hat das Rind jedoch weder getötet noch gegen Entgelt an einen Dritten weitergegeben. (5) Rechtsfolge D muss dem E also nicht fünf Rinder erstatten.153

Bereits dieses einfache Beispiel zeigt: Auslegung und Subsumtion sind in der Lösung eines konkreten Falls logisch eng aufeinander bezogen.154 Wenn – wie

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150 Dieser geht, im Kern, zurück auf die Struktur der antiken Gerichtsrede – siehe dazu etwa Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 427 ff.; sowie ders., in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 218 ff. 151 Instruktiv die Darstellung bei Lege, GreifRecht 2006, S. 1 ff. 152 Siehe AT, 2. Mose, Ex 21, 37. 153 Anmerkungen: (1) Dieses Ergebnis mag ungerecht anmuten. Vielleicht ist es in diesem Fall auch nicht das letzte Wort (siehe unten 2 b ee). (2) Schwierigkeiten bei Auslegung und Subsumtion können natürlich auch auf Rechtsfolgenseite auftreten – im Strafrecht eher selten, umso häufiger im übrigen Öffentlichen Recht und in Teilen des Zivilrechts. Die Problemstruktur ist dort aber weitgehend spiegelbildlich zum Justizsyllogismus in der Tatbestandsprüfung. 154 Siehe ergänzend Lege, GreifRecht 2006, S. 1, 3 f.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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hier im Folgenden – beide Prozesse der Übersichtlichkeit halber getrennt betrachtet werden, so gilt es, diese Wechselwirkung dennoch nicht aus dem Blick zu verlieren.

2. Auslegung Dabei ist vorab allerdings noch ein weiterer erkenntnisleitender „Rahmen“ zu sichten: Bevor der Rechtsanwender sich mit dem Regelungsinhalt einer Rechtsnorm im Detail auseinandersetzt (b), sind richtungsweisende Grundentscheidungen zum Auslegungshorizont155 zu treffen (a).

a) Auslegungshorizont Die wohl herrschende Auffassung einer historisch-personell „freischwebenden“ Interpretation von Rechtsnormen („objektive Theorie“) verschleiert nur die eigentliche Problematik (aa). Zu fragen ist daher: Ist Inhalt des Normbefehls das, was ein (objektivierter) Befehlsempfänger darunter versteht – oder das, was der Befehlgeber darunter verstanden haben will (bb)? Und kommt es bei Interpretation des Befehls im Ausgang auf den Zeitpunkt der heute zu treffenden Entscheidung an – oder auf den Zeitpunkt der historischen Befehlsabgabe (cc)? Verstehen ist freilich zunächst kein spezifisch juristisches, sondern ein – letztlich unabwendbares, wenngleich in seiner praktischen Relevanz eingrenzbares und nicht zu überschätzendes156 – allgemein soziales Problem. Ein spezifisch juristisches Problem ist das (Miss-) Verstehen allerdings insofern, als bei einem Missverständnis mit praktischen Folgen regelmäßig die Frage der Verantwortlichkeit geklärt werden muss, mithin die Frage: Zu wessen Lasten soll das Missverständnis gehen? Für Missverständnisse zwischen Privaten hat man sich insofern darauf „geeinigt“, maßgeblich sei grundsätzlich der (semi-) objektive Empfängerhorizont: Eine empfangsbedürftige Willenserklärung ist regelmäßig so zu verstehen, wie ein fiktiver verständiger Dritter in der konkreten Situation des Adressaten sie verstanden hätte.157 Dies heißt grundsätzlich: Maßgeblich ist, was beim Erklärungsempfänger ankommt; dabei darf der Erklärende jedoch grundsätzlich dar-

_____ 155 In Anlehnung an den im Zivilrecht allgemein gebräuchlichen Begriff des „Empfängerhorizonts“ bei der Auslegung von Willenserklärungen. 156 Siehe bereits Richers, ZaöRV 2007, S. 509, 525 ff. 157 Siehe etwa Schiemann, in: Staudinger, BGB – Eckpfeiler des Zivilrechts, 2014, S. 237 ff., insbes. 255, m.w.N.

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B. Grundlegung

auf vertrauen, dass der Empfänger mit sozial adäquaten Verstehensfähigkeiten ausgestattet ist.

aa) Freischwebende Gesetzesauslegung? Die „objektive Theorie“ Überwiegend anders soll nach wohl herrschender Auffassung die Interpretation von staatlichen Normen, insbesondere Gesetzen, vonstattengehen. Auf einen historisch-personellen Horizont sei danach nicht abzustellen. So fasst etwa Badura die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts programmatisch so zusammen, es sei „… für die Frage, was der Inhalt der Verfassung und ihrer einzelnen Bestimmungen heute ist, nicht der „Willen“ des historischen Verfassungsgesetzgebers maßgebend, wie es die „subjektive“ Theorie der Verfassungsauslegung annimmt. Jeder Rechtssatz und auch die Verfassung ist auf dauernde Verwirklichung angelegt und kann dementsprechend nur als eine objektiv zu verstehende Regelung betrachtet werden. Diese Vorstellung, die gewissermaßen auf einen „Willen der Verfassung“ abstellt, ist als „objektive“ Theorie die herrschende Auffassung der Verfassungsinterpretation (siehe BVerfGE 1, 299/312; 57, 250/262).“158

Diese „Theorie“ allerdings arbeitet mit einer Fiktion159 – und zwar mit einer machtpolitisch, nicht aber rechtsdogmatisch nützlichen Fiktion. Denn natürlich haben Sprachzeichen keinen eigenen Willen, keine ihnen innewohnende eigene „Klugheit“,160 auch nicht „gewissermaßen“. Sie verkörpern lediglich eine Willensäußerung: Dies kann die Willensäußerung dessen sein, der die Aufzeichnung veranlasst hat (hier: die Parlamentarier als „der Gesetzgeber“); oder die Willensäußerung eines jeden Dritten, der sich die Zeichen, nicht aber ihre ursprüngliche Bedeutung „zu eigen macht“ (hier v.a.: der jeweilige Rechtsanwender). Wenn gleichwohl den Sprachzeichen des Gesetzes ein „Wille“ unterstellt wird, so kann damit zweierlei gemeint sein: Erstens kann damit die Aufforderung verbunden sein, nicht am fehlerhaften oder in seiner sprachlichen Form veralteten Wortlaut zu haften – falsa demonstratio non nocet – sondern stattdessen den „wirklichen“ (mutmaßlichen) Willen des Äußernden

_____ 158 Badura, Staatsrecht, 5. Aufl. 2012, S. 24. 159 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 489. 160 So aber Canaris, in: Grundmann/Riesenhuber, Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, 2010, S. 263, 298, unter Berufung auf Kant, Critik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, B 370. In seiner Replik (Canaris, JZ 2011, S. 879, 886) auf eine harsche Kritik (Rüthers, JZ 2011, S. 593, 600 f. insbes.) betont Canaris zwar, dass die Rede von „Klugheit“ und „Willen“ eines Textes (selbstverständlich) rein metaphorisch gemeint sei – lässt aber offen, was genau denn diese Metapher in der Praxis besagen soll.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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zu ergründen;161 eben dies ist aber regelmäßig nicht gemeint – siehe das obige Zitat. Stattdessen dient, zweitens, die „objektive“ Auslegung zumeist schlicht der Abweichung vom eigentlichen, aber (vermeintlich) obsolet gewordenen Gesetzesbefehl durch den Rechtsanwender.162 Solche Abweichungen sind nicht schlechthin verboten; sie sollten aber offengelegt werden (siehe bereits I 2 b bb). Eine solche Offenlegung wiederum setzt voraus, dass feststeht, von wessen Normverständnis auszugehen ist. Dabei lassen sich freilich die Grundsätze zur Vertragsauslegung auf die Interpretation staatlicher „Willensäußerungen“ (insbesondere Gesetze) allenfalls im Ansatz übertragen: Etliche Probleme stellen sich nämlich typischerweise anders bzw. deutlich verschärft – sowohl in personeller wie in temporaler Hinsicht.

bb) Personeller Auslegungshorizont Den „Normalvertrag“ im Zivilrecht schließen zwei Personen (z.B. Käufer/Verkäufer, Grundschuldgeber/-nehmer…), häufig mit ähnlichem Verständnishintergrund (z.B. Kaufleute), regelmäßig in freiwilliger Übereinkunft, meist mit geringen unmittelbaren Auswirkungen auf Dritte. Das „Normalgesetz“ hingegen wird ausgearbeitet und beschlossen von einer Vielzahl von Personen (Ministerialbeamte, Parlamentarier), und es trifft eine noch größere Vielzahl von Adressaten (oft mehrere Millionen Bürger) mit sehr unterschiedlichem Verständnishintergrund (den wohlhabenden Rechtsprofessor ebenso wie den mittellosen Analphabeten), unfreiwillig, meist mit erheblichen und oftmals umgekehrten Folgen für Dritte (Eingriffsgesetz für B = Schutzgesetz für A). Hinzu tritt, wenngleich häufig verdrängt: Auslegungsfragen berühren immer auch Verfassungsfragen.163 So hat die Wahl des Auslegungshorizonts Folgen für die Reichweite demokratischer Herrschaft und die Sicherheit des Rechts (vgl. Art. 20 GG). Ferner – der Staat als Erklärender ist an den Allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 I GG) gebunden. Was folgt aus alledem? Erstens zwingt die Vielzahl von Erklärungsbeteiligten und vor allem Adressaten nach Maßgabe von Rechtssicherheit und Gleichbehandlungsgrundsatz zu einheitlicher Auslegung staatlicher Willensäußerungen – ein und dieselbe Gesetzesbestimmung darf also insbesondere nicht je nach Empfängerhorizont unterschiedlich ausgelegt werden. Anders als im Zivil-

_____ 161 In diese Richtung, zur Rspr. des österreichischen VfGH, Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 25 f. 162 Siehe nochmals Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 489 f.; sowie Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 41, m.w.N. 163 Siehe Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 488 u.a.

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B. Grundlegung

recht sind schon aus diesem Grunde regelmäßig keine gruppenspezifischen (Kaufleute, Verbraucher etc.) Sonderauslegungen zulässig. Zweitens fordert darüber hinaus das Prinzip der repräsentativen Demokratie, grundsätzlich den Auslegungshorizont der parlamentarischen Mehrheit der Norminterpretation zugrunde zu legen.164 Drittens verhindert auch die regelmäßig höchst unterschiedliche Interessenlage der diversen unmittelbaren und mittelbaren Adressaten, dass Missverständnisse schlicht (nur) „zu Lasten des Erklärenden“ gehen könnten – was „zu Lasten des Gesetzgebers“ geht, belastet in der Praxis der Gesetzesauslegung meist auch einen Teil der Adressaten. Derselbe Gesichtspunkt führt dazu, dass viertens die Unaufklärbarkeit165 des gesetzgeberischen Willens nicht zur Folge haben kann, dass der Horizont (irgend-) eines Empfängers zugrunde gelegt wird – stattdessen ist regelmäßige Folge hier die Verfassungswidrigkeit wegen fehlender Bestimmtheit.166 Anstelle des (semi-) objektiven Empfängerhorizonts für Rechtsbeziehungen unter Privaten tritt für die Auslegung hoheitlicher Willensäußerungen also grundsätzlich ein strikt (kollektiv-) subjektiver Erklärerhorizont. Dies gilt jedenfalls für die Auslegung von Gesetzen, die nicht Einzelfallgesetze sind, und wohl auch für die Interpretation von Allgemeinverfügungen.167

cc) Zeitlicher Auslegungshorizont In zeitlicher Hinsicht lässt sich dabei entweder auf den Horizont des historisch Erklärenden abstellen – dies wäre der Gesetzgeber, der die entsprechende Norm erlassen hat; oder auf den Horizont des konkludent Bestätigenden – also des Gesetzgebers, der die alte Norm im Rahmen einer Gesetzesänderung im Übrigen

_____

164 Siehe ausführlich Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 42 ff. Nicht überzeugend demgegenüber etwa Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 17 ff., der offenbar eher auf die Vorstellungen der Mehrheit des repräsentierten Volkes abstellen möchte. Weder entspricht dies dem Grundgedanken der repräsentativen Demokratie (zeitweise Delegation der Entscheidungsbefugnisse an nur ihrem Gewissen unterworfene Abgeordnete), noch lässt sich die von Zippelius geforderte Unterscheidung zwischen beständigen Gerechtigkeitsvorstellungen des Volkes einerseits und bloßen Tagesmeinungen andererseits auch nur annähernd trennscharf durchführen. 165 „Unaufklärbarkeit“ ist dabei nicht erst bei völliger Unverständlichkeit gegeben – sondern grds. spätestens dann, wenn ein kundiger Jurist den Willen des Gesetzgebers nicht mehr zu ermitteln vermag; in manchen Rechtsgebieten (etwa dem Sozialrecht) womöglich sogar schon früher – siehe Richers/Köpp, DÖV 2010, S. 997, 998 f. 166 Siehe Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 61, Fn. 155. 167 Bei Einzelfallgesetzen und bei Verwaltungsakten, die nicht Allgemeinverfügungen sind, liegt aufgrund des eng beschränkten Adressatenkreises die Parallele zur Auslegung von empfangsbedürftigen Willenserklärungen im Zivilrecht näher.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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„in seinen Willen aufgenommen“ hat; oder auf den Horizont des aktuellen, zum Zeitpunkt der Fallentscheidung herrschenden Gesetzgebers.168 In der Praxis ist allerdings der Horizont des jeweils aktuellen Gesetzgebers regelmäßig kaum erkennbar: Die Gesetzesbegründung stammt nicht von ihm, ebenso wenig war er in vorangegangene Debatten zum Normtext eingebunden. Hinsichtlich Sprachverständnis und Tatsachenwahrnehmung könnte daher allenfalls auf den aktuellen „Durchschnittsbürger“ abgestellt werden, auch die aktuelle konkrete politische Zielsetzung ließe sich allenfalls erahnen. Zudem besteht – insoweit wie bei Auslegung nach der „objektiven Theorie“ – die erhebliche Gefahr, dass der Jurist dem aktuellen Gesetzgeber bei dieser Vorgehensweise de facto eine Gesetzesänderung „unterschiebt“, die dieser niemals beabsichtigt hatte.169 Zusätzliche Probleme handelt sich ein, wer auf den konkludent bestätigenden Gesetzgeber abstellen möchte: Die Abgrenzung zwischen einerseits dem „gesetzesbestätigenden“ historischen und andererseits dem bloß „gesetzhinnehmenden“ aktuellen Gesetzgeber würde nämlich erhebliche Schwierigkeiten bereiten.170 Demgegenüber hat zwar das strikte Abstellen auf den historischen, normerlassenden Gesetzgeber zum Nachteil, dass hierdurch das Recht eher zu erstarren droht (hierzu erneut unter b cc). Jedoch bietet allein diese Sichtweise hinreichend Gewähr für eine einheitliche, im Voraus einigermaßen berechenbare Auslegung (Rechtssicherheit), die sich am Willen eines demokratisch legitimierten Normgebers orientiert (Demokratieprinzip).171 Und zur Klarstellung: „Historischer Horizont“ ist nicht gleich Verabsolutierung historischer Auslegung. Durchaus können tatsächliche wie ideelle gesellschaftliche Entwicklungen ein richterliches Abweichen vom historisch Gewollten erfordern. Nur ist dies dann regelmäßig nicht mehr Auslegung, sondern Fortbildung des Rechts – und diese bedarf der Offenlegung und der besonderen Begründung (siehe unter 4 a bb).

_____ 168 Wer in personeller Hinsicht oben einen wie auch immer gearteten Empfängerhorizont für maßgeblich hält, muss entsprechend danach fragen, ob es auf einen (fingierten) Empfänger zum Zeitpunkt des Normerlasses ankommt – oder auf einen Empfänger zum Zeitpunkt der Fallentscheidung. 169 Ähnlich etwa Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 62 ff.; Böckenförde, Der Staat 2003, S. 165, 186; Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001, S. 132 ff.; sowie Rennert, NJW 1991, S. 12, 17 f. 170 Die Problematik ist aus dem Verfassungsrecht im Hinblick auf die Beurteilung vorkonstitutioneller Gesetze bekannt – vgl. Art. 123 GG sowie aus der Rspr. des BVerfG die Entscheidungen BVerfGE 24, 20; 25, 25; NJW 1998, 3557. 171 Siehe Starck, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatrechts, Bd. 12, 3. Aufl. 2014, S. 613, 629 f.

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B. Grundlegung

Nur teilweise etwas anderes gilt hinsichtlich der Auslegung von Generalklauseln und „wertausfüllungsbedürftigen“ Begriffen. Auch hier lässt sich zunächst wenigstens die rahmenbildende Sicht des historischen Gesetzgebers erfragen. Die Fortbildung und Konkretisierung der Norm ist hier allerdings im Text bereits (gewollt) angelegt. M.a.W.: In diesen Fällen erteilt der Gesetzgeber selbst dem Richter den Auftrag zur Fortschreibung des Rechts.

dd) Zwischenergebnis Leitbild der Gesetzesauslegung ist entgegen der herrschenden „objektiven Theorie“ ein historischer, strikt (kollektiv-) subjektiver Erklärerhorizont. Dieses Leitbild führt nicht unmittelbar zum Auslegungsergebnis. Es beeinflusst aber das konkrete Vorgehen auf allen Ebenen der Auslegung, hinsichtlich all ihrer Regeln (bzgl. Wortlaut, Systematik, Historie, Teleologie), und scheidet Auslegung einerseits von Rechtsfortbildung andererseits.

b) Die klassischen Ebenen der Auslegung Um eine Entscheidung im Einzelfall zu determinieren, bedürfen abstraktgenerelle Regelungen (z.B. Gesetze) notwendig der Individualisierung und Konkretisierung.172 Dies geschieht im Rahmen von Auslegung und Subsumtion.173 Aber selbst individuell-konkrete Regelungen (also z.B. Verwaltungsakte) müssen regelmäßig ausgelegt, das heißt inhaltlich verstanden und im Streitfall „subsumtionsfähig“ gemacht werden: Die Ungenauigkeit der Sprache, das Nebeneinander unterschiedlicher Normtexte und die Verschiedenheit der Verständnis- und Erkenntnishorizonte bedingen, dass schlechthin jeder Rechtssatz unterschiedlich interpretiert werden kann.174 Grenzen ziehen hier Regeln der Auslegung. Solche Auslegungsregeln gab es in Ansätzen wohl bereits im römischen Recht,175 sie sind notwendiges Kriterium einer wissenschaftlich betriebenen Jurisprudenz. Ausdrücklich einfachrechtlich oder gar verfassungsrechtlich normiert ist die Auslegung im deutschen Recht176

_____ 172 Nach Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, 2000, passim, ist dies der Kern jeder Auslegung. 173 Zum Verhältnis dieser beiden Elemente der Rechtsanwendung zueinander vgl. noch unter 3. 174 Siehe eindrücklich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 99 ff., 433 ff. 175 Siehe Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 413, m.w.N. 176 Vgl. demgegenüber die entsprechenden Ansätze in Art. 1 des schweizerischen Zivilgesetzbuchs; sowie in den §§ 5 ff. des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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gleichwohl nicht. Der heutige Kanon gebräuchlicher Auslegungsregeln wird stattdessen zumeist auf Friedrich Carl von Savigny177 zurückgeführt178 – nicht selten allerdings in unrichtiger Wiedergabe des Originals.179 Am Anfang jeder Auslegungslehre steht danach heute: Der Normbefehl sei aus Wortlaut, Systematik, Historie und Zweckbestimmung (telos) der Norm zu erschließen.180 Die Einzelheiten und Zusammenhänge freilich sind überaus streitig.181

aa) Wortlaut Unbestritten und wenig überraschend ist der Wortlaut der Norm erster Anhaltspunkt für ihr Verständnis.182 Ebenso wenig überraschend wird der Wortlaut allerdings immer mehrdeutig sein und kann daher auch im konkreten Fall verschiedene Normbefehle möglich erscheinen lassen.183 Dies gilt natürlich auch dann noch, wenn man sich bei der Auslegung auf den historischen, subjektiven Erklärer-Wortlaut beschränkt184 – also auf diejenigen möglichen Wortbedeutungen, deren Verwendung der historischer Gesetzgeber gekannt und aller Wahrscheinlichkeit nach gebraucht haben kann.185

_____ 177 Vgl. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 212 ff. 178 Siehe etwa Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 140; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 413 ff.; sowie Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 35 ff. 179 Besonders instruktiv Rückert, in: Rückert, Methodik des Zivilrechts seit Savigny, 1997, S. 25 ff. 180 Siehe etwa sowohl Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 141 ff.; als auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 424 ff. 181 Gestritten wird unter anderem über das Verhältnis der Auslegungsmodi zueinander sowie über die praktische Durchführung der Auslegungsschritte. Vgl. zum Ganzen etwa Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 130 ff.; sowie Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 432 ff. 182 Siehe nur Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 37; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 21; Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 141. 183 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 433 f.; ähnlich Christensen, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 1, 2004, S. 21; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 15 ff., 38 f.; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 23, ausführlich S. 130 ff. 184 Vgl. bereits oben (a cc). Spezifisch zur Maßgeblichkeit des historischen Verständnisses im Bereich der Wortlautauslegung siehe Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 139, m.w.N. 185 Wenn also der Gesetzgeber in den Anfangsjahren der Bundesrepublik von „Presse“ spricht, kann er damit unmöglich auch das Internet gemeint haben. Über etwaige Wortbedeutungen aus Jugendsprache und sonstigem „Slang“ wird man regelmäßig ebenfalls nicht ernsthaft nachdenken müssen.

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B. Grundlegung

Damit soll nicht eine „überskeptische Haltung“186 propagiert werden – nach der es ausgeschlossen erscheint, dass Worte überhaupt menschliches Verhalten zu steuern vermögen.187 Klar ist aber: Text entfaltet seine Bedeutung immer erst im Kon-text.188 Dieser Kontext beginnt beim zeitlich-personell bedingten Wortgebrauch – er endet hier aber nicht. Kontext einer Rechtsnorm sind u.a. auch die diese Norm umgebenden weiteren Textteile (systematische Auslegung – bb), die Gesetzgebungsmaterialien (historische Auslegung – cc) sowie nicht zuletzt der Regelungsgegenstand selbst und die bei der Regelung verfolgten Ziele (teleologische Auslegung – dd). Insofern ist jede Form der Auslegung immer auch Wortlautauslegung, und reine Wortlautauslegung gibt es nicht. Wenn von „der“ Wortlautauslegung die Rede ist, so ist dennoch regelmäßig gemeint: das Verständnis eines Satzes unter (bewusster) Ausklammerung von Gesetzessystematik, Gesetzgebungshistorie (etwa: Parlamentsprotokollen) und -zielen. Hintergrund ist v.a. die fehlende Allgemeinverfügbarkeit dieser spezifischen Kontexte. 189 Die Auslegung nach dem Wortlaut hat mithin neben der offenkundigen Indizwirkung vor allem eine Begrenzungsfunktion: Das juristische Verständnis eines Normbefehls soll grundsätzlich nicht (insbesondere im Strafrecht – vgl. Art. 103 II GG) beziehungsweise nicht allzu weit von dem abweichen, was ein Adressat ohne Kenntnis der spezifischen Kontexte erwarten darf. Die Grenze des möglichen Wortsinns ist mithin grundsätzlich190 auch die Grenze der Auslegung.191 Überschreitet die Jurisprudenz diese Grenze, betreibt sie Rechtsfortbildung.192 Exakt zu ziehen ist diese Grenze allerdings oftmals nicht – ab wie vielen Bäumen etwa ist ein Wald kein „Wald“ mehr?193 Werden bei der Wortlautauslegung Gesetzessystematik, -historie und -teleologie ausgeklammert, so ist Ausgangspunkt notwendig immer der natürliche Sprachgebrauch.194 Mittel der Selbstvergewisserung des Auslegenden ist im

_____ 186 Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 529. 187 Kritisch zu dieser Extremposition bereits Richers, ZaöRV 2007, S. 509, 525 ff. 188 Siehe Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 32 f. 189 A.A. offenbar Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 21 f. 190 Ausnahme: Legaldefinitionen, die über diesen Wortsinn hinausgehen – etwa dann, wenn ein „Krebs“ als „Fisch“ legaldefiniert wird (so bspw. Art. 1 I S. 4 des Bremischen Fischereigesetzes vom 17. September 1991 (Brem. GBl. S. 309), zuletzt geändert am 2. August 2016 (Brem. GBl. S. 434, 474). 191 Siehe BVerfGE 71, 115; 87, 224; krit. hierzu Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988, insbes. S. 17 ff. 192 Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 39. 193 Siehe Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 38. 194 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 146.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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Zweifel der Rückgriff auf (ggf. historische) Wörterbücher195 sowie auf ausdrückliche Legaldefinitionen.196 Unter Umständen sind auch Erkenntnisse der Satzbaulehre heranzuziehen (jedenfalls soweit von einem bewussten Satzbau durch den Gesetzgeber ausgegangen werden kann). Zuweilen wird insofern beklagt, dass in die Jurisprudenz Erkenntnisse aus der Semiotik und Linguistik bis heute kaum Eingang gefunden haben.197 Dies liegt aber nicht (nur) an fehlender Interdisziplinarität der Juristen – vielmehr dürfte der zu erwartende Erkenntnisgewinn gering sein: Gesetze sind keine sorgsam durchkonstruierten „Gedichte“ – sondern zumeist sprachlich nur mäßig reflektierte198 Produkte eines langwierigen Diskussions- und Entscheidungsprozesses. Wer sich also mit den Mitteln der klassischen Hermeneutik an diesen Texten versucht, der wird regelmäßig mehr beziehungsweise andere Bedeutung „hineinlegen“, als die Autoren jemals im Sinne hatten. Mit anderen Worten: Erscheint der Wortlaut eindeutig, ist bei davon abweichenden Interpretationen, gleich auf welchem Wege, Vorsicht geboten;199 ist hingegen der Wortlaut höchst zweifelhaft, verhilft eine „literaturwissenschaftliche“ Wortlautinterpretation regelmäßig nicht zum zutreffenden Auslegungsergebnis.

bb) Systematik Wenn bei Auflistung der Auslegungskriterien nach dem „Wortlaut“ zumeist die „Systematik“ genannt wird, so ist dies wohlbegründet: Diese beiden „textinternen“200 Ebenen der Auslegung gehen unmittelbar ineinander über. Insbesondere erhellt sich der Wortsinn einer bestimmten Norm oftmals aus dem Sprachgebrauch des Gesetzgebers im Gesamttext des jeweiligen Gesetzeswerks bzw. in der Rechtsordnung insgesamt.201 Systematische Auslegung meint zuvörderst also sprachlich-systematische Interpretation: Zumindest innerhalb eines einzelnen Gesetzeswerks wird man

_____ 195 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 140, m.w.N. 196 Implizite bzw. nicht eindeutig als solche heranzuziehende Legaldefinitionen (ein Bsp.: Richers/Köpp, DVBl 2011, S. 404, 405 f.) hingegen zählen bereits zum Bereich der systematischen Auslegung. A.A. offenbar Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 37 f. Die Grenze freilich ist fließend. 197 Vgl. aus der jüngeren Zeit etwa Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002, S. 261 f. 198 Zum Forschungsstand hinsichtlich möglicher Besserungen siehe etwa Schendera, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 1, 2004, S. 321 ff. 199 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 145 ff. 200 Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 23. 201 Siehe Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 150 ff. mit zwei konkreten Bsp.

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B. Grundlegung

grundsätzlich terminologische Einheitlichkeit erwarten können.202 Verwendet nun der Gesetzgeber ein bestimmtes Wort an einer Stelle des Gesetzes wenig zweifelhaft in einem bestimmten Sinne – so liegt es nahe, dass dasselbe Wort an einer „dunkleren“ Stelle des Gesetzes denselben Inhalt bezeichnen soll. Zwingend freilich ist dies nicht – zumal dann nicht, wenn ein Gesetzeswerk mehrfach in Teilen novelliert worden ist. Entsprechendes gilt für die inhaltlich-systematische Interpretation: Nicht nur sprachlich, auch inhaltlich kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass wenigstens innerhalb eines Regelungskomplexes logische Widerspruchsfreiheit herrscht203 – dass mithin beispielsweise nicht zwei verschiedene Normen für denselben Tatbestand gegensätzliche Rechtsfolgen anordnen. Wiederum kann aber genau dies durchaus vorkommen, insbesondere wenn der Gesetzgeber die Auswirkungen einer bestimmten Vorschrift auf weitere Normen nicht hinreichend bedacht hat.

cc) Historie Den tatsächlichen Willen des Gesetzgebers in Fällen sprachlicher bzw. inhaltlicher Widersprüchlichkeit, „Dunkelheit“ oder Unvollständigkeit von Normen zu ergründen – dazu in erster Linie dient die Ebene der historischen Auslegung. Zu dieser zählt die Analyse der Vorläufer einer bestimmten Norm einschließlich der hierzu ergangenen Rechtsprechung, der wissenschaftlichen Abhandlungen im Vorfeld der Gesetzgebung, der Gesetzgebungsmaterialien (Parlamentsprotokolle etc.) sowie der zeitgeschichtlichen Situation zum Zeitpunkt des Normerlasses.204 Die großen Linien, die allgemeinpolitischen Ziele der parlamentarischen Mehrheit festzustellen, bereitet dabei regelmäßig wenig Schwierigkeiten, sei es etwa die „Reaktion auf die NS-Willkürherrschaft“ (zu § 130 IV StGB)205 oder nur der „Verbraucherschutz“ (zur Schuldrechtsreform im BGB)206. Weitaus problematischer ist es dann jedoch, konkrete Aussagen zu Einzelregelungen im Gesamtwerk zu treffen. Denn erstens können die allgemeinpolitischen Ziele zu

_____ 202 Siehe Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, S. 53. 203 Siehe BVerfGE 48, 246, 257; 108, 1, 29; sowie grundlegend Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, passim; ferner Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 149 f., m.w.N. 204 Siehe umfassend etwa Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 153 ff., die allerdings zwischen „historischer“ und „genetischer“ Interpretation nochmals unterscheiden. 205 Siehe BVerfGE 124, 300, 325 f. 206 Vgl. BGH, NJW 2005, 1045.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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sehr unterschiedlichen konkreten Folgerungen führen.207 Zweitens sind hinsichtlich der Einzelregelungen historische Belege oftmals nur sehr unvollständig existent oder widersprüchlich.208 Drittens hat der Gesetzgeber häufig nur Teilaspekte einer Regelung überhaupt bedacht. Und viertens ist natürlich die Vorstellung „eines“ historischen Gesetzgebers in der parlamentarischen Demokratie – und insbesondere in einer solchen mit Verhältniswahlrecht und zweiter Kammer – realiter unzutreffend: Gesetzentwürfe beruhen dort jedenfalls in gesellschaftlich wichtigen Fragen oftmals auf Kompromissen zwischen den beiden Kammern (in Deutschland: Bundestag und Bundesrat), den Parteien der jeweiligen Regierungskoalition, den verschiedenen Strömungen innerhalb einer Partei usf.209 Die ersten drei Einwände gegen die historische Auslegung freilich mindern deren Wert und Möglichkeit nicht generell – sondern lediglich in dem Maße, in dem sie im jeweiligen Einzelfall zutreffen. Der vierte Einwand hingegen ist prinzipieller Art: Wenn dem Gesetzgeber ein natürlicher Wille nicht zugeschrieben werden kann, dann kann von seinem Willen nur aufgrund eines „fingierten Einheitsbewusstseins“210 die Rede sein.211 Fiktionen sind zwar im Rechtsdenken auch sonst in vielen Fällen üblich;212 und gerade der fingierte Einheitswille von Personenmehrheiten ist für die Behandlung sogenannter juristischer Personen schlechthin konstitutiv.213 Nur scheint es auf dieser Grundlage wenig überzeugend, zwischen einem „tatsächlichen“ und einem nur „vermuteten“ Willen des

_____ 207 Aus „Abkehr von der NS-Willkürherrschaft“ kann ebenso gut eine weitgehende Verabsolutierung der Meinungsfreiheit folgen, wie eine kämpferische Verteidigung des nunmehr bestehenden Systems gegen „Andersmeinende“; Maßnahmen, die vordergründig dem Verbraucher nützen könnten, mögen sich für denselben langfristig nachteilig auswirken etc. 208 Im Recht der Europäischen Union fehlt es an „Gesetzgebungsmaterialien“ zumeist gänzlich – dafür allerdings sind den Normtexten oftmals umfangreiche „Erwägungsgründe“ vorangestellt. Aber auch im nationalen Recht umfassen die Gesetzgebungsmaterialien natürlich nie den gesamten Beratungsprozess, wie er tatsächlich stattgefunden hat (d.h. einschließlich aller Erörterungen außerhalb des Plenums). 209 Pointiert Lasserre-Kiesow, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 1, 2004, S. 213, 214; sowie Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, S. 459, die den Willen des Gesetzgebers insgesamt als „Chimäre“ verspotten; aus rechtssoziologischer Sicht siehe etwa Baer, Rechtssoziologie, 2011, S. 172 ff. 210 Radbruch, in: Dreier/Paulson, Gustav Radbruch – Rechtsphilosophie, 1999, S. 107. 211 Insoweit auch Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 46 f., 157. 212 Allzu skeptisch daher Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, S. 459; wie hier dagegen Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 352 ff. 213 Weder eine Aktiengesellschaft noch eine GmbH etwa kann im natürlichen Sinne einen Willen bilden – und selbst die Organe dieser juristischen Personen umfassen regelmäßig mehr als nur eine einzige natürliche Person.

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fingierten Einheitsgesetzgebers zu unterscheiden.214 Vielmehr ist der tatsächliche Wille des historischen Gesetzgebers schon seiner Natur nach immer nur ein mutmaßlicher Wille – wobei die Vermutungsbasis, die Indizienkette, im Einzelfall unterschiedlich „beweiskräftig“ ist.215 Und insofern ist auch der Übergang der historischen zur (historisch-) teleologischen Interpretation immer ein gradueller.

dd) Teleologie Teleologische Auslegung freilich kann durchaus Unterschiedliches meinen: wie hier – vor dem Hintergrund eines historischen, kollektiv-subjektiven Erklärerhorizonts (oben a) – Ermittlung des mutmaßlichen Willens des historischen Gesetzgebers (1); oder – wohl herrschend – Festlegung der „objektiven“ Zweckbestimmung einer Norm (2). Ferner haben sich im Bereich der verfassungs- und europarechtskonformen Auslegung einige Sonderprobleme „angelagert“ (3).

(1) Teleologische Auslegung als Willenserforschung Versucht man eine möglichst klare Trennung zwischen einerseits Auslegung, andererseits Rechtsfortbildung, und soll die Trennlinie dort verlaufen, wo die Rechtsanwendung nicht mehr dem mutmaßlichen Willen des historischen Gesetzgebers folgt – so kann teleologische Auslegung nur meinen: Erforschung des mutmaßlichen Willens des Gesetzgebers anhand der leitenden Prinzipien, die im Gesetz und den historischen Materialien aufscheinen. Wenn zugleich – nach hier vertretener Auffassung – aber auch auf den übrigen Ebenen der Auslegung nur auf das vom Gesetzgeber mutmaßlich (nicht „tatsächlich“) Gewollte abgestellt werden kann, so könnte man versucht sein zu meinen, im Rahmen dieser Definition sei alle Auslegung immer zugleich teleologische Auslegung.216 Dies trifft in dieser Absolutheit – trotz der engen Verschränkung der Auslegungsebenen – nicht notwendig zu. Nicht nur mittels der Gegensatzpaare „tatsächlich/mutmaßlich“ und „subjektiv/objektiv“ lässt sich nämlich die teleologische von den übrigen Auslegungsebenen scheiden; wie in der oben genannten Definition angedeutet, ist es ebenso

_____ 214 So aber Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 153, 160 ff. 215 Erneut: Bei juristischen Personen des Privatrechts ist auch dies nicht prinzipiell anders. 216 Siehe Jescheck, Strafrecht AT, 4. Aufl. 1988, S. 138 f.; Stein, Staatsrecht, 14. Aufl. 1993, S. 37; zusammenfassend und m.w.N. Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 165.

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möglich – und überzeugender –, hier auf die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien217 abzustellen. Die Auslegung nach Wortlaut, Systematik und Historie für sich genommen diente dann zunächst der Ermittlung der vom Gesetzgeber aufgestellten Regeln. Auf der teleologischen Ebene hingegen ist zu fragen nach den Prinzipien, die solche Regeln begründen, modifizieren oder gar vernichten. Bei diesen „Prinzipien“ (das heißt: Gründen für Regeln) handelt es sich – im Rahmen des hier vertretenen Auslegungshorizonts – allein um solche, die den historischen Gesetzgeber mutmaßlich geleitet haben. Sie können explizit im Gesetz angelegt sein (neuerdings oftmals in den einleitenden Paragraphen eines Regelwerks),218 durch das Werk „hindurchscheinen“ (etwa als Substrat aller beziehungsweise eines Teils der Einzelregeln), sich aus der Historie des Gesetzes ergeben (etwa als Leitmotive der parlamentarischen Beratung) oder höherrangigem Recht zu entnehmen sein (zur Vermutung der Verfassungs- und Europarechtskonformität vgl. noch 3). Es ist bereits angeklungen (zur Historie oben cc): Die Prinzipien zu ermitteln, ist selten von großer Schwierigkeit. Aus ihnen operable Regeln herzuleiten, ist hingegen ein unsicheres Geschäft. Denn nicht nur können Gründe für Regeln Gründe für sehr verschiedene Regeln sein (insofern mag in the long run noch Konsens über die beste aller möglichen Regeln erzielt werden). Vielmehr wird immer ein Rest Unklarheit darüber verbleiben, mit welchem Gewicht einzelne – einander widersprechende oder sich wechselseitig verstärkende – Gründe vom Normgeber versehen sind. Mathematische Präzision ist hier nicht erreichbar – sie sollte daher auch nicht suggeriert werden219.220 Zwar ist der Prozess der Abwägung als solcher durchaus mathematisch exakt beschreibbar.221 Für die Ermittlung der für die Variablen einzusetzenden Zahlenwerte gilt dies aber nicht; hier sind lediglich unterschiedlich präzise Näherungen möglich – und eine geringfügige Fehleinschätzung kann zu einem gänzlich verkehrten Ergebnis führen.222

_____ 217 Zur Unterscheidung von rules, principles und policies siehe Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 22 ff. insbes.; und die Rezeption und Weiterentwicklung bei Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 71 ff. insbes.; sowie ferner bereits (Erstauflage 1956) Esser, Grundsatz und Norm, 4. Aufl. 1990, S. 50 f., 267. 218 Vgl. etwa § 1 UWG; Anschauungsmaterial bieten auch die Erwägungsgründe und die einleitenden Artikel von Rechtsvorschriften der EU. 219 Vgl. etwa Alexy, GreifRecht 2010, S. 69 ff. 220 Ähnlich Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 66 ff., insbes. 72 f. 221 Vgl. – insofern durchaus überzeugend – nochmals Alexy, ibid.; allerdings auch die krit. Darstellung bei Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 66 f. 222 Um es an einem Bild zu veranschaulichen: Die Statik eines Gebäudes lässt sich ohne Weiteres in exakten mathematischen Formeln ausdrücken. Kann aber der Bauherr keine genauen

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Insofern können auch nach Abschluss der teleologischen Auslegung einer Norm bzw. eines Normkomplexes immer Zweifel verbleiben.223 Dies ist kein Plädoyer für einen Verzicht auf rechtswissenschaftliche Genauigkeit. Und die hier vertretene Überzeugung zwingt auch nicht zum Verzicht auf die regulative Ideen der Gerechtigkeit und der juristischen Richtigkeit224.225 Sie zwingt aber dazu, der Behauptung exakter Abwägungsergebnisse mit großer Skepsis zu begegnen. Und sie legt eine stärkere Rückbesinnung auf die mit etwas weniger Unwägbarkeiten behafteten Ebenen semantischer, systematischer und historischer Auslegung nahe. Mit anderen Worten: Wem Rechtssicherheit und demokratisches Prinzip am Herzen liegen, der wird mit teleologischen (im Sinne von: prinzipienbasierten) Argumenten in der Auslegung zurückhaltend umgehen und nicht leichthin darauf schließen, das Gesetz (i.e.: derjenige der es auslegt) sei klüger als der Gesetzgeber226 und die eigenen Zwecke seien auch die Zwecke des Gesetzes.227

(2) Teleologische Einlegung als Auslegungsersatz Womöglich jedoch ist das Interesse an Rechtssicherheit und Demokratie derzeit ohnehin nicht sonderlich ausgeprägt – so wenig wie das Interesse am Recht anstelle unbeschränkter Gerechtigkeit.228 Wahrscheinlich ist dies tatsächlich so. Ebenso wahrscheinlich war es allerdings nie wesentlich anders. Die Geschichte des Rechts ist jedenfalls reich an Belegen dafür, dass auch der juristisch vorgebildete Mensch oftmals dazu neigt, im Zweifel dem Ergebnis höheren Wert beizumessen als dem Weg zum Ergebnis.229 Das „Kulturgut

_____ Angaben über Gewicht und Anordnung der einzelnen Bauteile machen, sind dergleichen Berechnungen nur Glasperlenspiel. 223 Ähnlich zum Ganzen Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 109 f. 224 Siehe hierzu bereits eingehend Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 523 ff. u.a.; vgl. auch Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1064 f. 225 Ebensowenig wie das Wissen um die Unendlichkeit der Nachkommastellen bei der Zahl Pi Mathematiker davon abgehalten hat, sich der genauen Bezifferung immer weiter anzunähern. 226 Vgl. Radbruch, in: Dreier/Paulson, Gustav Radbruch – Rechtsphilosophie, 1999, S. 107. 227 Siehe Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 221 (Fn. 52). 228 Siehe Lege, ARSP 2007, S. 21, 38. 229 Hier muss noch nicht einmal an die Jurisprudenz im NS-Staat erinnert werden (hierzu im Überblick etwa Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 339 ff.). Bereits Savignys „Rekonstruktion“ des Römischen Rechts war mindestens ebenso eigen- wie wirkmächtig – und jedenfalls kein Fall bloßer Exegese der historischen Quellen. Hinsichtlich der Rechtsprechung denke man etwa an die Urteile des Reichsgerichts zur Aufwertung (RGZ 107, 78) sowie zur „Umdeutung“ des Täter- und Gehilfenbegriffs (Täter ist, wer die Tat als eigene will, siehe RGSt

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Recht“230 war wohl immer schon gefährdet – und ist es heute nicht weniger als in früheren Zeiten. Die größte Gefahr entspringt dabei regelmäßig der Tendenz, „Einlegung“ an die Stelle von Auslegung zu setzen. Dabei betrifft Einlegung hier nicht die Frage, ob und inwieweit induktive Schlüsse zum Subsumtionsvorgang gehören (dazu noch 3 a) – sondern die Vorstellung, der Auslegende könne und solle dem Gesetzestext andere Ziele entnehmen als diejenigen, die der Normgeber darin zum Ausdruck bringen wollte.231 Eben diese irrige (siehe bereits oben a) Vorstellung liegt dem Begriff der „objektiv-teleologischen“ Auslegung zugrunde.232 Auf Grundlage dieser Vorstellung wiederum ist es möglich, dass selbst noch so eindeutige Willensäußerungen des historischen Gesetzgebers mit Blick auf eine angeblich entgegenstehende Teleologie des Gesetzes beiseitegeschoben werden – statt die vom Rechtsanwender gewünschte Abweichung offen als Rechtsfortbildung zu deklarieren.233 Abschließend sei angemerkt: Die Möglichkeit von Zweifeln in der Auslegung bleibt auch bei „objektiv-teleologischem“ Vorgehen bestehen. Lediglich handelt es sich dann nicht mehr um Zweifel über den im Recht zum Ausdruck kommenden Willen des Normgebers – sondern um Zweifel über die unmittelbare eigene Überzeugung hinsichtlich einer Frage der Gerechtigkeit. Immerhin mag die Frage nach der Gerechtigkeit (statt nach dem Recht) für manchen, weil eher dem Gefühl zugänglich, leichter zu beantworten sein.

(3) Ein Sonderfall: Telos Rechtmäßigkeit Nach Abschluss des gewöhnlichen Auslegungsvorgangs bleiben zuweilen noch immer mehrere (gleich wahrscheinliche) Deutungsmöglichkeiten offen. Ist in einem solchen Fall eine Deutungsvariante nicht mit den Bestimmungen höherrangigen Rechts (insbesondere: nationalem und europäischem Verfassungs-

_____ 74, 84); aus jüngerer Zeit etwa an die Rechtsprechung zum Geldersatz bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen (BGHZ 26, 349). 230 Lege, ARSP 2007, S. 21. 231 Siehe Christensen, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 2, 2005, S. 1, 43 f., m.w.N. 232 Vgl. exemplarisch erneut Canaris, JZ 2011, S. 879, 886 f. Hingegen scheint mir der Vorwurf unbegründet, „objektiv-teleologisch“ insinuiere die „objektive“ Richtigkeit eines Auslegungsergebnisses im allgemeinsprachlichen Sinne (so aber offenbar Rüthers, JZ 2011, S. 593, 600 f.; vgl. dagegen die Replik von Canaris, ibid.). 233 Für ein besonderes eindrückliches Bsp. siehe Gätsch/Schäfer, NZG 2008, S. 846, 848 – wonach die eindeutige Entscheidung einer Streitfrage im Rahmen einer Gesetzesbegründung „allenfalls“ im Rahmen der historischen Auslegung „berücksichtigt“ werden könne.

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recht) zu vereinbaren, so scheidet sie aus. Dies folgt im Grunde weitgehend unproblematisch a fortiori aus der Nichtigkeits-/Unanwendbarkeitsanordnung für Normen, die höherrangigen Normen widersprechen.234 Angreifbar ist dies allenfalls mit der Überlegung, dass bei diesem Vorgehen unter Umständen (insbesondere soweit es um Normwidersprüche zum Grundgesetz geht) die Normverwerfungskompetenz des BVerfG (Art. 100 I GG) angetastet werden mag235 – eine Kritik, die jedoch auf einem Fehlverständnis des Art. 100 I GG bzw. des Gewaltenteilungsprinzips beruht.236 Problematischer gerät die lex-superior-konforme Auslegung dann, wenn höherrangiges Recht zum Anlass genommen wird, eine ansonsten eher unwahrscheinliche Deutungsvariante der niederrangigen Norm zu wählen. Zwar dürften Normen, mit denen der Normgeber bewusst gegen höherrangiges Recht verstoßen will, in der Praxis eher selten vorkommen; schließlich sind die Konsequenzen einer Normverwerfung durch die Justiz regelmäßig zumindest politisch (zuweilen auch wirtschaftlich)237 schädlich. Ergeben sich aus der Historie der entsprechenden Norm insofern keine deutlichen Indizien, darf daher durchaus unterstellt werden, der Normgeber habe sich im Einklang mit höherrangigen Vorschriften verhalten wollen.238 In der Konsequenz heißt dies: Der grundsätzlich zu unterstellende Konformitätswille des Normgebers erhöht erheblich die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen Auslegungsvarianten zutreffen, die (noch) mit höherrangigem Recht zu vereinbaren sind. Ist allerdings die niederrangige Norm als solche (also unter Ausklammerung höherrangigen Rechts) nahezu eindeutig239 und/oder hat der Normgeber zum Ausdruck gebracht, dass er höherrangiges Recht nicht zu beachten gedenkt, entfällt nach dem in dieser Grundlegung vertretenen Verständnis die

_____ 234 Dies gilt im deutschen Recht fast generell: Rechtswidrige Rechtsverordnungen sind nichtig (vgl. etwa § 47 VwGO); verfassungswidrige Gesetze werden grundsätzlich für nichtig erklärt (vgl. § 31 BVerfGG). Zur Unanwendbarkeit europarechtswidrigen nationalen Rechts siehe grundlegend EuGH, NJW 1978, 1741 – Simmenthal II. 235 In diese Richtung etwa Rennert, NJW 1991, S. 12, 18. 236 Vgl. ausführlich Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 246 ff., m.w.N. 237 Man denke beispielhaft an die Rückforderung rechtswidrig gewährter Subventionen. 238 Siehe BVerfGE 48, 40, 45 f.; 69, 1, 55; sowie etwa Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 177 ff., m.w.N. 239 Straßenverkehrszeichen etwa sind bei Verstoß gegen höherrangiges Recht (z.B. die StVO) entweder rechtswidrig oder (im Extremfall) nichtig – kaum jemals hingegen der „Umdeutung“ zugänglich. Für ein komplexeres (sprachlogisches) Bsp. siehe zuletzt auch Richers/Köpp, DÖV 2010, S. 997, 998 ff.

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Möglichkeit andersgerichteter lex-superior-konformer Auslegung.240 In diesem Fall muss notwendig der Weg der Rechtsfortbildung i.w.S. beschritten werden: entweder durch das zur Sachentscheidung berufene Gericht selbst – oder über den „Umweg“ einer Vorlage zum BVerfG.

ee) Synthese der Auslegungsebenen Das Verhältnis der Auslegungsebenen zueinander, ihre Stufenfolge,241 ergibt sich im Wesentlichen bereits aus den vorstehenden Überlegungen. Der Wortlaut einer Norm indiziert ihren Regelungsgehalt. Im Eingangsbeispiel (III 1) lässt der Wortlaut der Vorschrift [Wenn jemand ein Rind stiehlt und es schlachtet oder verkauft, soll er fünf Rinder erstatten.242] den Regelungskern bereits recht deutlich erkennen.

In seiner Gänze allerdings erhellt sich eine Vorschrift zumeist erst aus der systematischen Zusammenschau mit weiteren Vorschriften sowie aus der Entstehungsgeschichte. So lässt hier der Wortlaut u.a. offen, wem gegenüber der Schaden zu erstatten sei: „dem Geschädigten“ oder auch „dem Staat“. Die umgebenden Vorschriften lassen jedoch klar erkennen, dass es um (Privatstraf-) Schadensersatz geht. Aus der historischen Analyse könnte sich zudem präzisierend ergeben, dass die Ersatzleistung nicht an den eigentlichen Bestohlenen, sondern ggf. an dessen Familien- oder Clan-Oberhaupt zu erbringen sei.

In jedem Falle ist das so erzielte Ergebnis zu überprüfen anhand der Prinzipien, die die Gesetzgebung geleitet haben bzw. haben könnten (einschließlich ranghöherer Normen);243 „in jedem Falle“ deshalb, weil die Eindeutigkeit einer Norm häufig nur eine vermeintliche ist – und nicht selten erst der Blick auf dahin-

_____ 240 Ebenso Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 179, m.w.N. Die Rspr. des BVerfG in dieser Frage ist nicht völlig einheitlich – vgl. einerseits etwa BVerfGE 86, 288, 320; andererseits BVerfGE 9, 194, 200; 49, 148, 157. 241 Siehe die graphische Darstellung bei Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 193. 242 Siehe AT, 2. Mose, Ex 21, 37. 243 Im Grundaufbau ähnlich Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 192 ff., die allerdings die Auffassung vertreten, eindeutige Ergebnisse auf einer Stufe verwehrten den Fortgang zur folgenden Stufe; siehe ferner bereits Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 93 ff.

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terstehende Prinzipien zur Erkenntnis weiterer denkbarer Auslegungsvarianten führt. Im Eingangsbeispiel könnte man hier v.a. fragen, warum eigentlich der Normgeber (Straf-) Schadensersatz nur dann vorsieht, wenn das Diebesgut (wirtschaftlich) verwertet wird – und nicht generell bei Diebstahl. Zwei Regelungsprinzipien könnten sich – einzeln oder in Kombination – dahinter verstecken: (1) Diebstahl ist nur dann besonders verwerflich, wenn der Dieb (wirtschaftlichen) Gewinn aus der Tat zieht. (2) Oder – wahrscheinlicher – ein echtes Strafbedürfnis besteht erst dann, wenn die gestohlene Sache nicht an den Bestohlenen zurückgegeben werden kann.244 Entscheidet man sich (allein) für die zweite Variante, so könnte man zu dem interessanten Ergebnis gelangen, dass nach der betreffenden Vorschrift auch bei nicht rückholbarem Wegschenken des Diebesguts (so der Eingangsfall) voller (Straf-) Schadensersatz zu leisten sei.

Abschließend allerdings ist erneut der Wortlaut der Norm zu beachten – dessen „noch mögliches“ Verständnis grundsätzlich die Grenze der Auslegung markiert. So wäre im Eingangsfall der Wortlaut der Norm eindeutig überschritten, wenn man als „Verkaufen/Schlachten“ auch das „Verschenken an einen Fremden“ begreifen wollte.

Ist die Grenze des Wortlauts und damit der Auslegung erreicht, kann eine Fortbildung des Rechts erlaubt, zuweilen sogar geboten sein (hierzu noch unter 4 a bb).

c) Das Produkt der Auslegung Auslegung ist kein Selbstzweck. Eingebunden in den Rahmen des Justizsyllogismus dient sie in der Praxis letztlich immer der Herstellung eines vollständigen Prüfprogramms als Basis des Subsumtionsschlusses (siehe noch unter 3). Dieses Prüfprogramm setzt sich zusammen aus Begriffen (aa) – und zwar aus Begriffen, die in ein operables Konditionalschema (bb) eingebunden sind.

_____ 244 Die bloße Sachentziehung ist auch im heutigen deutschen Strafrecht grds. straflos (vgl. aber den Ausnahmefall des § 248b StGB); das deutsche Zivilrecht kennt grds. keine punitive damages, auszugleichen ist grds. das bloße Äquivalenzinteresse, mit Vorrang der Naturalrestitution – vgl. insbes. §§ 249, 823 BGB.

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aa) Begriffe Texte, auch Rechtstexte, bestehen zunächst einmal aus Wörtern. Zu Begriffen werden diese Wörter erst dann, wenn wir sie mit Sinn füllen. „Sinn“ meint in diesem Zusammenhang: Die Summe der Vorstellungen (etwa: des Gesetzgebers) von den konkreten Gegenständen, die mit dem entsprechenden Wort zu bezeichnen sind. Die Aufgabe der Auslegung ist es mithin zunächst, mit den oben beschriebenen Mitteln aus den Wörtern des Gesetzestextes dreistellige Relationen245 herzustellen – als kleinste logische Einheiten246 eines Rechtssatzes. Im Ergebnis heißt dies: Um Klarheit über einen Begriff zu gewinnen, ist dieser zu definieren – nominal (durch Gegen-, Neben-, Ähnlichkeits-, Unter- und Überbegriffe) und/oder real (durch Bezug auf konkrete Gegenstände).247 Zuweilen ist in der Auslegung von Rechtstexten nicht nur „Veredelung“ von Wörtern zu Begriffen gefordert – sondern zusätzlich die Herstellung eines oder mehrerer Begriffe ohne entsprechende Wort-Basis im Text, man denke etwa an den Begriff der „Vermögensverfügung“ als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 263 StGB. 248 Eine solche originäre Begriffsschöpfung kann natürlich bereits Rechtsfortbildung sein. Dies ist aber nicht notwendig der Fall. Zuweilen setzt nämlich der Text auch einen bestimmten Begriff implizit voraus. „Fehlende“ Begriffe in einer Norm erkennt man regelmäßig erst dann, wenn man die vorhandenen Begriffe in ein Bedingungsschema (dazu sogleich) einbettet: Zeigt sich, dass ein Subsumtionsschluss unvollständig ist – zum Beispiel weil er sich nicht hinreichend von einem Subsumtionsschluss im Rahmen eines anderen Tatbestandes unterscheidet –, dann ist er mit den Mitteln der Auslegung (hier insbesondere Systematik, Historie, Teleologie) anhand weiterer Begriffe zu vervollständigen.

bb) Bedingungen Neben einer Nomenklatur möglichst klar definierter Begriffe setzt ein jeder Subsumtionsschluss also noch ein Weiteres voraus: Die Begriffe müssen operabel gemacht werden, heißt, sie sind in ein Konditionalschema einzukleiden. Ein solches Konditionalschema erlaubt Aussagen nach dem Muster „immer wenn

_____ 245 Lege, GreifRecht 2006, S. 1, 7. 246 Lege, GreifRecht 2006, S. 1, 6. 247 Siehe erneut Lege, GreifRecht 2006, S. 1, 6. 248 Vgl. zum Begriff der Vermögensverfügung BGHSt 14, 170, 171; 50, 174, 178; sowie etwa Fischer, StGB Kommentar, 59. Aufl. 2012, § 263 Rn. 40.

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B. Grundlegung

…, dann …“ bzw. „immer wenn …, dann nicht …“ – mithin Schlüsse von einem Tatbestand auf eine Rechtsfolge. Klassischerweise ist ein entsprechendes Konditionalschema bereits im Gesetzestext angelegt. Besonders augenfällig ist dies im Strafrecht.249 Wenn allerdings der Gesetzgeber zunehmend dazu übergeht, Konditionalsätze durch Finalsätze zu ergänzen oder gar zu ersetzen,250 zwingt er den Rechtsanwender dazu, durch Umformung der Finalsätze selbst die erforderlichen Konditionalprogramme zu entwickeln (vgl. hierzu noch unter C II 3 f).

3. Subsumtion Wer bewusst eine Regel des Rechts aufstellt, der tut dies immer vor dem gedanklichen Hintergrund eines (hypothetischen) Lebenssachverhalts; je nach Art (Gesetz, Verwaltungsakt, Vertrag etc.) und Sachbereich (Straßenverkehr, Handel, Steuern etc.) der Regelung kann dieser Sachverhalt dabei bereits unterschiedlich stark konkretisiert sein. Subsumtion meint dann im Kern die Frage, ob ein tatsächlicher Sachverhalt begrifflich dem Norm-Sachverhalt unterfällt – weshalb eine bestimmte Rechtsfolge einzutreten habe.251 Dies im Rahmen der Rechtsanwendung zu erkennen, ist nach herkömmlicher Vorstellung ein Vorgang (allein) der Deduktion; genau besehen bedürfen Subsumtionsschlüsse jedoch zusätzlich immer auch der Induktion (a). Die Verschränkung beider Vorgänge lässt sich mit dem Begriff der Abduktion kennzeichnen (b). Vorbedingung juristischen Schließens ist außerdem eine geistige Tätigkeit, die am treffendsten als Assoziation beschrieben werden kann (c).

a) Erkenntnis durch Deduktion und Induktion Der Vorgang der Subsumtion ist nicht auf den Bereich der Jurisprudenz beschränkt. Da zwischen Begriffen der Alltagssprache und der Philosophie einerseits (aa) und Begriffen des Rechts andererseits (bb) aber ein wesentlicher Unterschied besteht, ist es geboten zwischen beiden Bereichen deutlich zu unterscheiden.

_____ 249 Regelmäßig folgen hier die Rechtssätze dem Muster: „Wer …, wird mit … bestraft“. 250 Siehe grundlegend Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, S. 227 ff. 251 Ähnlich Mastronardi, Juristisches Denken, 2. Aufl. 2003, S. 191 f.

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aa) Begriffe im Allgemeinen Subsumtion ist eine Operation der Logik.252 Und wer über Logik spricht, der meint zumeist Deduktion – also Schlüsse nach dem folgenden Muster: Alle Menschen sind sterblich. – M a P (Obersatz) Sokrates ist ein Mensch. – S a M (Untersatz) Also ist Sokrates sterblich. – S a P (Konklusion)

Schlüsse dieser Art sind zwingende Schlüsse. Daraus ziehen sie ihre Schönheit und Überzeugungskraft. Deduktionsschlüsse haben in der Praxis allerdings eine entscheidende Schwäche: Sie führen nur dann zwingend zu einer wahren Konklusion, wenn ihre Prämissen wahr sind.253 Und eben dies ist sehr häufig zweifelhaft. Denn erstens haben die meisten Gegenstände in der Lebenswelt wenige bis gar keine notwendigen Eigenschaften/Prädikate; vielmehr lassen sich zahlreiche Gegenstände überhaupt nur durch Familienähnlichkeiten254 adäquat beschreiben.255 Zweitens haben keineswegs alle Gegenstände hinreichende Eigenschaften, d.h. Eigenschaften die sie mit keinem anderen, begrifflich verschiedenen Gegenstand in der Lebenswelt teilen; wiederum sind häufig nur Aussagen zu (überwiegender) Ähnlichkeit möglich. Drittens und erst recht sind notwendige Eigenschaften nur in den seltensten Fällen zugleich hinreichende Eigenschaften eines Gegenstands: Die meisten notwendigen Eigenschaften (etwa die Sterblichkeit) teilt der Mensch mit zahlreichen weiteren (Säuge-) Tieren; die wenigen denkbaren hinreichenden Eigenschaften (selbst-bewusstes Denkvermögen, ausdifferenziertes Kommunikationsverhalten, diverse körperliche Merkmale) sind nicht in jedem Einzelfall notwendig vorhanden.

Viertens schließlich sind notwendige wie hinreichende Eigenschaften von Gegenständen letztlich nur durch Induktion überhaupt zu „beweisen“ – am Anfang jeder Deduktionskette steht m.a.W. eine Induktion. Induktive Schlüsse entsprechen dabei den folgenden Mustern:

_____ 252 Hierzu und zum Folgenden siehe die instruktive Darstellung bei Lege, GreifRecht 2006, S. 1 ff. 253 Siehe Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 441 f. 254 Zum Konzept der Familienähnlichkeiten siehe Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1953, S. 56 f.; vgl. auch Lege, ARSP 2007, S. 21, 23 ff.; sowie bereits Kindhäuser, Rechtstheorie 1981, S. 226, 247. 255 Nach Lege, ARSP 2007, S. 21, 23 ff., gilt dies auch für den Begriff des Rechts als solchen.

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Quantitative Induktion256 Sokrates, Anna, Xaver etc. sind gestorben. – Sx a P (Obersatz) Sokrates, Anna, Xaver etc. sind Menschen. – Sx a M (Untersatz) Alle Menschen sind sterblich. – M a P (Konklusion)

Qualitative Induktion Alle Menschen sind sterblich. – M a P (Obersatz) Sokrates ist gestorben. – S a P (Untersatz) Sokrates ist ein Mensch. – S a M (Konklusion)

Auf induktive Schlüsse sind Alltagssprache und Sprache der Philosophie in erheblichem Umfang angewiesen. Zugespitzt gilt: Ohne Induktion keine Deduktion. Die prinzipielle Unzuverlässigkeit dieser Schlüsse liegt dabei auf der Hand. Allerdings gilt – in einem pragmatischen, nicht streng analytischen Sinne – einschränkend: Je eindeutiger und je häufiger wir ein bestimmtes Merkmal an Gegenständen einer Klasse beobachten (quantitative Induktion) bzw. je mehr Merkmale eines Gegenstandes den Merkmalen seiner Klasse entsprechen (qualitative Induktion), als desto gesicherter dürfen wir unsere Schlüsse betrachten.257 Da alle bislang bekannten Menschen am Ende doch gestorben sind, ist die Konklusion von der Sterblichkeit aller Menschen recht gut gesichert. Der Schluss (allein) von der Sterblichkeit des Sokrates auf sein Menschsein hingegen wäre höchst spekulativ.

bb) Begriffe des Rechts Auf Begriffe des Rechts lässt sich all dies übertragen – im Ausgangspunkt. Jedoch hat unser Verständnis von Ziel und Weg der Auslegung (siehe oben 2) auch Auswirkungen auf unser Verständnis von der Konstruktion und Interaktion juristischer Begriffe. Wer in Rechtstexten vornehmlich die objektiv-teleologische Stoßrichtung einer Norm erkennen will,258 der wird sich um das „richtige“ Verständnis von Begriffen ohnehin wenig scheren. Begriffliche Subsumtion ist dann im Grunde nur ein rein nachvollziehender Akt, eine lästige Pflichtübung.

_____

256 Zur Klarstellung: Die Terminologie im Bereich der Schlussformen ist nicht immer einheitlich. Was hier „Induktion“ genannt wird, firmiert z.T. auch unter dem Terminus „Hypothese“. Und für qualitative Induktionen findet sich zuweilen alternativ der Begriff „Abduktion“ (der hier anders gebraucht wird, siehe unter b). Für einen kleinen Ausschnitt aus der Debatte vgl. Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 438 ff., – dessen Terminologie das vorliegende Werk im Wesentlichen folgt. 257 In diesem Sinne auch Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 214. 258 Vgl. etwa Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 165 f.

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Wer zu einer objektiv-semantischen Interpretation von Rechtstexten neigt,259 für den geht es im Rahmen von Subsumtion und Auslegung letztlich um die objektive Richtigkeit von Begriffen – als jedenfalls regulative Idee; zwischen Begriffen des Rechts und solchen etwa der Philosophie besteht insofern kein wesentlicher Unterschied.260 (Rechts-) Begriffe sind dann als dreistellige Relation zu verstehen, darstellbar etwa mit folgendem Beispielsschema:261

Ist Aufgabe des Rechtsanwenders hingegen zuvörderst, die mutmaßliche Vorstellung des Normgebers zu ergründen (so oben 2), dann sind Rechtsbegriffe genau besehen vierstellige Relationen. Zur objektiv-richtigen Bedeutung (/Mensch/) eines Terminus („Mensch“) im Hinblick auf seinen Gegenstand (Anna, Xaver etc.) tritt die mutmaßliche Vorstellung des Normgebers über die Bedeutung des Terminus (R/Mensch/R):262

_____ 259 In diese Richtung wohl Lege, GreifRecht 2006, S. 1, insbes. S. 7 ff. Rein semantisch ausgerichtet ist Leges pragmatisch-ästhetischer Ansatz zwar gewiss nicht. Auch soweit es um den Einbezug von „Realdaten“ geht, scheint aber doch immer die Sicht des Rechtsanwenders im Vordergrund zu stehen – das historisch Gewollte spielt in seinem Werk kaum eine entscheidende Rolle. 260 Demenstprechend findet sich bei Lege, GreifRecht 2006, S. 1, 14 ff., zwar ein Unterkapitel zur „Eigenart von Rechtsbegriffen“; die dortige Darstellung beschränkt sich dann aber auf die (natürlich zutreffenden) Feststellungen, dass Rechtsbegriffe erstens (stets) normative Begriffe seien und dass sie zweitens trotz gelegentlicher „Vagheit“ eine geringere „Flexibilität“ aufweisen, als zuweilen angenommen. 261 Lege, GreifRecht 2006, S. 1, 7. 262 Wer zwischen mutmaßlichem und tatsächlichem Willen des Gesetzgebers unterscheidet (s.o. 2 b cc), könnte Rechtsbegriffe regelmäßig sogar als fünfstellige Relationen begreifen.

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Freilich ist es – auch auf Grundlage der hier vertretenen Auffassung – nicht gänzlich zwingend, zwischen (objektiv) richtiger Bedeutung und (mutmaßlicher) Vorstellung des Gesetzgebers zu unterscheiden. Denn wenn die Bedeutung eines Worts sein Gebrauch in der Sprache ist,263 dann ist ohnehin die Bedeutung von Wörtern des Rechts ihr Gebrauch in der Sprache des Normgebers. Um sich über die Vorstellung des Normgebers Klarheit zu verschaffen, ist es aber erforderlich, sich vorab bewusst über die eigene Gebrauchsvorstellung klar zu werden: Erstens nämlich haben wir auf die Vorstellung des Normgebers keinen unmittelbaren Zugriff (etwa in dem Sinne, in dem man die Festplatte seines Heimrechners gegen die des Nachbarn austauscht);264 unabhängig davon, wie sehr die Vorstellung des Normgebers auf einen bestimmten realen oder hypothetischen Gegenstand hin konkretisiert ist, bleibt immer eine „Kluft“ – keine qualitative Kluft zwischen „Sprachdaten“ und „Realdaten“265, 266 aber eine Kluft zwischen der Vorstellung des Normgebers und der Vorstellung des Rechtsanwenders. Und zweitens (und daher die Betonung bewussten Vorgehens) gelingt

_____ 263 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1953, § 43. 264 Insofern ist auch die Rede davon berechtigt, der Ausleger lege notwendig in einen fremden Text immer etwas „hinein“ – vgl. etwa Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 470 f. 265 Müller/Christensen, Juristische Methodik, 10. Aufl. 2009, S. 258 u.a. 266 Insoweit zu Recht Lege, GreifRecht 2006, S. 1, 6 f.

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nur so die Erkenntnis, dass im Verständnis eines Begriffs in der Zwischenzeit ein Wandel eingetreten ist – der vom Rechtsanwender gerade nicht (oder jedenfalls nicht unkritisch)267 nachvollzogen werden darf. Ein Beispiel:268 Der moderne (auch juristische) Gewaltbegriff wird meist überaus weit gefasst: Er umfasst dann auch psychische und sogenannte strukturelle Gewalt.269 Demnach erschiene es gut vertretbar, die Blockade von Eisenbahngleisen zum Zwecke der Verhinderung eines „Castor“-Transports unter /Gewalt/ zu subsumieren.270 Demgegenüber war der Gewaltbegriff bei Erlass des § 240 StGB in seiner im Wesentlichen unveränderten Sprachform im Jahr 1871271 erheblich enger – gemeint war damals (nur) die unmittelbare körperliche Einwirkung auf einen Dritten.272 Allein dieses Begriffsverständnis nun ist hier maßgeblich – im Strafrecht allemal.273 Daher wäre es nach hier vertretenem Verständnis auch falsch, die Teilnahme an einer Sitzblockade als R/Gewalt/R zu qualifizieren.274

Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt: Nichtjuristische deduktive Schlüsse bedürfen zumindest deshalb notwendig der Induktion, weil ihre Prämissen letztlich nicht auf anderem Wege eingeführt und „bewiesen“ werden können. Gilt dies, eingedenk der hier vertretenen Eigenart solcher Begriffe, im Ergebnis auch für Begriffe des Rechts? Oder sind Rechtsbegriffe – auf Grundlage der Vorstellung des Normgebers vom Gegenstand der entsprechenden Termini – im Rahmen einer lückenlosen Deduktionskette ohne jede „Beimischung“ subsumtionsfähig? Diese Vorstellung wäre natürlich die einer höchst naiven Begriffsjurisprudenz. Denn, genau besehen, ist auch die Ermittlung der Vorstellung des Norm-

_____ 267 Denn Ausnahmen dürften dort gelten, wo der historische Gesetzgeber den künftigen Wandel im Begriffsverständnis bereits in seine Vorstellung aufgenommen hatte. Insbesondere bei Ausdrücken, die auf gesellschaftliche Wertvorstellungen weiterverweisen (etwa „die guten Sitten“, „Treu und Glauben“) ist dies regelmäßig der Fall. Dort sollte das in der Zwischenzeit gewandelte Begriffsverständnis auch vom Rechtsanwender nachvollzogen werden. 268 Anknüpfend an Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 454 f.; erneut Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 213 ff. 269 Vgl. die Darstellung in BVerfGE 92, 1, 14 f., m.w.N. 270 So auch BVerfGE 73, 206; anders BVerfG 92, 1. 271 Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, Reichsgesetzblatt 1871 Nummer 24 vom 14. Juni 1871, S. 127–203. 272 Siehe erneut BVerfGE 92, 1, 15, m.w.N. 273 Siehe Art. 102 II GG. 274 Demgegenüber will Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 223, offenbar nicht ausschließen, dass stattdessen dem Wandel des Sprachgefühls nachzugeben sei.

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B. Grundlegung

gebers stets ein Vorgang der Induktion;275 dabei ist nicht selten sogar die Tatsachenbasis, anhand derer auf einen bestimmten, mutmaßlichen Willen des Normgebers geschlossen werden kann, nur mäßig tragfähig (s.o. 2 b cc). Ebenso beruht die Ermittlung eines jeden Sachverhalts im Fall (auch) auf Induktion (vgl. unter IV). Rein deduktiv ist nur das ab-schließende Entsprechensurteil, das die (Nicht-) Übereinstimmung von Normsachverhalt und Lebenssachverhalt konstatiert.276 Mithin gilt es in der Jurisprudenz – wie in allen übrigen Wissenschaften auch –, über möglichst gut gesicherte Induktionen zur Deduktion zu gelangen.277 Im Fall der Sitzblockade: Induktion

Alle „Gewalt“ i.S.d. § 240 StGB beinhaltet körperliche Einwirkung auf einen Dritten. Induktion Die Teilnehmer der Sitzblockade haben nicht körperlich auf Dritte eingewirkt. Deduktion Also haben die Teilnehmer keine „Gewalt“ ausgeübt.

Gegen diese Darstellung lassen sich mehrere Einwände vorbringen. So könnte man zunächst etwa meinen, bei Gegenständen ohne hinreichende und notwendige Eigenschaften lasse sich nur mit Familienähnlichkeiten arbeiten (s.o. aa), weshalb dort ein deduktives Entsprechensurteil unmöglich sei. Dem lässt sich entgegenhalten: Aufgabe der Auslegung ist auch die Erkenntnis, ab welchem Grad von Familienähnlichkeit ein bestimmter Gegenstand einem Begriff unterfällt; dieser Grad an Familienähnlichkeit ist dann hinreichende und/oder notwendige Bedingung im oben beschriebenen Sinne. Familienähnliche juristische Begriffe sind mithin durchaus einem deduktiven Schlussverfahren zugänglich. Noch grundsätzlicher lässt sich das Konzept abstrakter Definitionen in Frage stellen. Denn natürlich erlaubt uns diese Form des Be-Greifens keinen unmittelbaren Zu-Griff auf die Dinge an sich.278 Wiederum ist aber daran zu erinnern, was Begriffe sind – und was nicht: Ein Begriff ist die Bedeutung (genauer: die Vorstellung über die Bedeutung) eines Terminus im Hinblick auf einen Gegenstand. Mithin ist /Gewalt/ (bzw. R/Gewalt/R) die Vorstellung des Interpreten

_____

275 Dies gilt selbstverständlich auch dann, wenn einzelne Begriffe „legaldefiniert“ sind. Denn die in einer Legaldefinition enthaltenen Begriffe (etwa: „körperlicher Gegenstand“ in § 90 BGB) müssen in ihrer Bedeutung ebenfalls induktiv erschlossen werden (um z.B. zu erkennen, ob auch „Elektrizität“ nach Vorstellung des Gesetzgebers ein „körperlicher Gegenstand“ ist – vgl. RGSt 32, 165). 276 Deduktiv ist grds. ferner auch noch der Schluss des Justizsyllogismus, in den der Subsumtionsschluss eingebettet ist. 277 Vgl. Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 444 f. 278 Siehe Lege, GreifRecht 2006, S. 1, 8.

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(bzw. die Vorstellung des Interpreten über die Vorstellung des Normgebers) über die Bedeutung von „Gewalt“ im Hinblick auf bestimmte Handlungen (a – Ohrfeigen, Faustschläge, Würgen etc.; vielleicht aber auch – b – Mobbing, Beleidigen, Drohen etc.). Die oben genannte Definition dient dann der Konkretisierung dieser Vorstellung: /körperliche Einwirkung/ begrenzt unsere Vorstellung von R/Gewalt/R auf die zunächst genannten (a) Handlungen. Wir vermögen dann zu erkennen: Unsere konkretisierte Vorstellung von R/Gewalt/R entspricht nicht unserer Vorstellung von den Handlungen im Sachverhalt (Sitzblockade).

b) Erkenntnis durch Abduktion Es ist vorgeschlagen worden,279 juristische Erkenntnis fuße nicht nur auf Induktion und Deduktion, sondern noch auf einer dritten Schlussform – der sogenannten Abduktion. Während bei den „klassischen“ Schlussformen immer von zwei bekannten (bzw. für wahrscheinlich gehaltenen) Daten auf ein drittes geschlossen wird, ist nach Lege280, in Anlehnung an Reichertz281, die Abduktion dadurch gekennzeichnet, dass wir von nur einem bekannten Datum auf zwei weitere schließen. Es handelt sich danach um eine „Rechnung mit mehreren Unbekannten“282. Die Beispiele, die Lege zur Erläuterung anfügt,283 lassen allerdings an dieser Definition eines solchen dritten Schlussvorgangs zweifeln: So tauchen im nichtjuristischen Hauptbeispiel einer sogenannten qualifizierenden Abduktion dann doch zwei bekannte bzw. als bekannt vorausgesetzte Daten auf;284 und auch gleich im ersten juristischen Beispiel einer ebensolchen Abduktion285 ist neben dem einen Datum (der Sachverhalt einer Sitzblockade) im Grunde noch ein zweites wenigstens teilbekannt (die Regel des § 240 StGB). Was ist also das Besondere an der Abduktion? Eine Besonderheit scheint darin zu bestehen, dass bislang zusammenhanglos stehende Daten einander hypothetisch zugeordnet werden – sei es in einem induktiven, sei es in einem deduktiven Schluss. Eine weitere Eigenheit scheint

_____

279 Siehe insbes. Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 437 ff.; konzentrierter Lege, Die Abduktion im System der Wissenschaften, in: Rodi, Urteilskraft und Heuristik, 2003, S. 93 ff. 280 Siehe etwa Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 445. 281 Reichertz, Aufklärungsarbeit, 1991, S. 69. 282 Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 445. 283 Siehe Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 446 ff. 284 Im „Kepler“-Fall: erstens die Daten der Marsumlaufbahn, zweitens die Formel der Ellipse (ibid., S. 447 ff.). 285 Siehe Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 454 f.

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zuweilen der Bedarf an weiterer Explikation einer der Prämissen zu sein – wiederum entweder mittels induktiver und/oder mittels deduktiver Schlüsse. Allerdings: Sind dies wirklich Besonderheiten? Auch die Prämissen „Alle Menschen sind sterblich“ und „Sokrates ist ein Mensch“ stehen zunächst einmal nicht in Zusammenhang; auch hier führt erst unserer Interesse an der Frage „Ist Sokrates sterblich“ über die Frage „Welcher Klasse von Gegenständen gehört Sokrates an?“ über die Erkenntnis „Sokrates ist ein Mensch, dessen notwendige Eigenschaften er mithin teilt“ über die Frage „Welche notwendigen Eigenschaften hat der Mensch“ zu der Erkenntnis „Alle Menschen sind sterblich“. Und die Annahmen in diesem Schlussvorgang sind ebenfalls explikationsbedürftig – woher etwa wissen wir denn, dass Sokrates ein Mensch ist? Abduktive Schlüsse unterschieden sich von induktiven Schlüssen demnach nur durch den Grad der Evidenz oder der Plausibilität, mit dem bestimmte Prämissen herangezogen werden können; wie hierbei abzugrenzen wäre, erscheint unklar. Vielleicht sollte man daher die Abduktion nicht als eigene Schlussform auf einer Ebene mit Induktion und Deduktion begreifen – sondern vielmehr als ein Schlusssystem, in dem deduktive und induktive Schlüsse ineinander verschränkt sind mit dem Ziel, „neues“ Wissen zu erschließen.286 Dabei lassen sich in der Tat drei Formen der Abduktion differenzieren;287 diese unterscheiden sich allerdings nicht darin, welches Datum (Regel/Obersatz, Fall/Untersatz oder Konklusion) bekannt ist,288 sondern vielmehr danach, welches Datum für erklärungsbedürftig gehalten wird: In den Naturwissenschaften ist dies häufig das Ergebnis (ein neuartiges Phänomen v.a.), in der Jurisprudenz öfter289 der Fall (besonders sichtbar im Justizsyllogismus) oder die Regel (etwa bei der Kommentierung von Gesetzen). Versteht man Abduktion in diesem Sinne, gilt: (Neue) wissenschaftliche Erkenntnis ist immer abduktiv – also induktiv und deduktiv, ausgehend von einem erklärungsbedürftigen Datum. Dann bleibt allerdings die Frage offen, wie wir von diesem einen Datum zu einem zweiten gelangen, mit dessen Hilfe wir einen Schluss konstruieren können.

_____ 286 Vgl. in diesem Sinne letztlich wohl auch Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 454 f. 287 Siehe Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 441. 288 So aber offenbar Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 445 ff. 289 Gar so selten, wie zuweilen angenommen (vgl. Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 452) scheinen mir vom Ergebnis ausgehende Schlusssysteme im Recht allerdings wohl doch nicht zu sein: Sie dürften insbesondere im Bereich der Rechtsgestaltung (Entwurf von Vertragsbestimmungen, Gesetzen, Ermessensverwaltungsakten) vorkommen.

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c) Erkenntnis durch Assoziation Diese Vorbedingung logischen Schließens ist am treffendsten wohl unter den Begriff der Assoziation zu fassen. Wir ad-soziieren zwei oder mehr Prämissen, weil ihr Zusammenschluss eine Erkenntnis verspricht. Häufigster Unterfall einer solchen Assoziation ist wohl die kreative Analogie.290 Für gewöhnlich handelt es sich dabei um einen unbewussten, intuitiven Vorgang: Sehen wir aus der Ferne ein „brennendes Haus“ (Fall) denken wir vielleicht automatisch „Feuer ist heiß“ (Regel) und vermutlich zugleich „Dieses Haus ist heiß“ (Ergebnis); der geschulte Jurist wird außerdem vielleicht denken „Nach § 306 StGB sind Brandstifter zu bestrafen“ (Regel) und „Wer dieses Haus als Brandstifter angezündet hat, ist zu bestrafen“ (Ergebnis). Dabei gilt für bislang unbekannte Phänomene nichts qualitativ anderes als für solche, die wir bereits kennen. Als also Johannes Kepler bemerkte, dass die Daten der Marsumlaufbahn nicht gänzlich (aber immerhin beinahe) zur Form eines Kreises „passten“, da dürfte er assoziiert haben „Ellipsen haben eine Form, die der eines Kreises ähnelt“;291 er hätte natürlich auch die Form eines Rechtecks oder einer Birne assoziieren können; nur wusste er zweifellos, dass größere Himmelskörper in ihren Bewegungen regelmäßig weder rechte Winkel noch grobe Unregelmäßigkeiten zeigen. Wenn Assoziationen zumeist unbewusst erfolgen, heißt dies also nicht, dass sie deshalb willkürlich, zufällig oder dem Denken i.S.e. „Kübeltheorie des Geistes“292 von außen zugeführt wären. Vielmehr handelt es sich um eine innere geistige Suche nach Entsprechungen, Ähnlichkeiten und Unterschieden – nach Mustern in unserem Weltwissen. In der Jurisprudenz zeigt sich dies besonders deutlich bei den „erweiternden“ Schlüssen (der Analogie i.e.S., den Schlüssen a minore ad maius und a maiore ad minus), im distinguishing des case law sowie in der Suche nach einem tertium comparationis in der Rechtsvergleichung: Wir suchen dort ähnliche, über- oder untergeordnete Fälle bzw. Regeln.293 Natürlich sind Assoziationen „extrem fehlbar“294. Je nach Beschaffenheit unseres Weltwissens assoziieren wir dann womöglich unkritisch „Verbraucher – schutzbedürftig“, „Brille – intelligent“, „sauber – gesund“ usf. Regelmäßig beruhen Fehlassoziationen dabei auf fehlerhaften oder nicht hinreichend in Frage

_____

290 Instruktiv zum Ganzen Hofstadter/Sander, Surfaces and Essences, 2013, passim. 291 Vgl. Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 447 ff.; sowie Lege, in: Brugger/ Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 221. 292 Popper, Objektive Erkenntnis, 4. Aufl. 1998, S. 61 ff.; vgl. auch Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 475 f. 293 Vgl. Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 224 ff. 294 Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 463 – zu Abduktionen, die an dieser Stelle weiter (also offenbar inklusive des Prozesses der Assoziation) verstanden werden.

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gestellten Prämissen, letztlich auf fehlerhaften Induktionen. Solange wir anschließend nicht versäumen, die durch Assoziation entstandenen hypothetischen Schlüsse kritisch auf die Richtigkeit der Prämissen (und damit auch auf die Richtigkeit der wiederum zugrundeliegenden Schlüsse usf.) zu überprüfen, ist dies nicht weiter schlimm: Es kommt – auch in der Jurisprudenz – weniger auf die Herstellung eines Schlusses an, sondern vielmehr auf seine Darstellung (häufig sogar nur: Darstellbarkeit)295.296 Insofern zeigt sich aber auch: Wie (Zusammen-) Schlüsse entstehen, ist für die Frage nach der Richtigkeit juristischer Erkenntnis im Grunde ohne Belang. Entscheidend ist letztlich allein, dass die entstehenden Schlüsse formal richtig (deduktive Schlüsse) bzw. formal richtig und tatsächlich hinreichend gesichert (induktive Schlüsse) sind.

4. Bleibende Zweifel: Wenn die Methode versagt Zweierlei sollten die vorstehenden methodischen Skizzen zeigen: Erstens ist es möglich – und zugunsten von Rechtssicherheit und Demokratieprinzip auch wünschenswert – in der Rechtsanwendung mehr als üblich auf den mutmaßlichen Willen des jeweiligen Normgebers abzustellen; in der Praxis erhöht dies für die Parteien eines Rechtsstreits die Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen. Zweitens können aber selbst bei einem solchen Vorgehen richterliche Zweifel (bis hin zur Unentschiedenheit) nicht ausgeschlossen werden;297 somit vermögen in wirklich schwierigen Fällen die Streitparteien das Risiko eines Prozessverlusts noch nicht einmal in der Tendenz abzuschätzen. Im Kern beruht dabei die Unvermeidbarkeit richterlicher Zweifel auf der Einbettung induktiver Schlüsse in das Verfahren der Rechtsanwendung; solche Schlüsse sind per se niemals zwingend und je nach Datengrundlage können sie sogar höchst unsicher sein. Induktive Schlüsse sind in der Rechtsanwendung aber unvermeidbar; dies gilt nicht nur dann, wenn (so die wohl herrschende

_____

295 Vgl. etwa § 561 ZPO (ähnlich § 144 IV VwGO): Ergibt die Begründung des Berufungsurteils zwar eine Rechtsverletzung, stellt die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen sich als richtig dar, so ist die Revision zurückzuweisen. 296 Instruktiv Neumann, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 2, 2005, S. 369 ff.; vgl. auch Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 230; sowie grundlegend Sobota, Sachlichkeit, 1990, insbes. S. 16 ff. 297 Im Ergebnis ebenso Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 105, 115 f.; Bleckmann, JZ 1995, S. 685 f.; Bydlinski, JZ 1985, S. 149, 151 f.; Canaris, Grazer Universitätsreden Nr. 50 (1993), S. 23, 30; sowie Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1064 f.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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Vorstellung) Ziel der Rechtsanwendung die Übertragung der „objektiven“ Zweckbestimmung einer Norm auf einen Lebenssachverhalt ist – sondern auch dann, wenn „nur“ der vermutete historische Wille des Normgebers ermittelt und im konkreten Fall verwirklicht werden soll. Nun hat jede wissenschaftliche Methode ihre Grenzen, ist notwendig imperfekt, in Grenzfällen ungenau. Insofern verhält es sich in der Rechtswissenschaft nicht grundlegend anders als in den Naturwissenschaften: Methodische Erfassungen normativer wie tatsächlicher Wirklichkeit sind immer nur Näherungen; methodischer Fortschritt meint daher regelmäßig nur die – erhoffte – bessere Annäherung an die Wahrheit.298 Derartige „Verbesserungsversuche“ gibt es für die Methodik der Rechtsanwendung zuhauf. Sie sollen in diesem Werk nur im Überblick dargestellt werden (siehe folgend unter b). Dabei dürfte aber immerhin erkennbar werden, dass die Grundgedanken der Lösungsansätze sich oftmals ähneln und dass im Ergebnis ein Mehr an Rechtssicherheit nicht erzielt wird. Vorab ist noch auf zwei Gesichtspunkte einzugehen, die das Problem richterlicher Unentschiedenheit zwar nicht lösen, ihm aber immerhin Grenzen ziehen (a).

a) Grenzen der Problematik Von zwei Seiten wird das Problem zweifelhafter Normbefehle eingegrenzt: einerseits durch das Gebot hinreichender Bestimmtheit von Rechtsnormen (aa) – andererseits durch die Befugnis des Richters zur Rechtsfortbildung (bb).

aa) Verfassungsrechtliches Bestimmtheitsgebot In manchen „Zweifelsfällen“ liegt es nahe, die entsprechende Vorschrift für zu unbestimmt und damit wegen eines Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG)299 für verfassungswidrig zu erachten. Allerdings ist das Bestimmtheitsgebot regelmäßig kein strenger inhaltlicher Maßstab (1). In funktioneller Hinsicht betrifft das Gebot lediglich rechtsetzende, nicht hingegen rechtsanwendende Tätigkeit (2).

_____ 298 Siehe Popper, Objektive Erkenntnis, 4. Aufl. 1998, S. 376 ff.; sowie, aus rechtswissenschaftlicher Sicht, ähnlich Zippelius, Rechts- und Staatssoziologie, 3. Aufl. 2012, S. 31 ff. 299 Im Strafrecht ist Art. 103 II GG die speziellere und grds. „schärfere“ Vorschrift – siehe etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 103 II Rn. 38 f., m.w.N. Für verordnungsermächtigende Gesetze ist zudem Art. 80 I S. 2 GG zu beachten.

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B. Grundlegung

(1) Inhaltliche Reichweite Das (allgemeine) verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot ist in der Rechtsprechungspraxis ein äußerst schwaches Schwert – und sein genauer Gehalt ist selbst kaum hinreichend bestimmt.300 Dafür gibt es gute Gründe. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG soll jede gesetzliche Vorschrift „in ihren Voraussetzungen und ihrem Inhalt so formuliert sein, dass die von ihr Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können.“301

Von diesem Ideal rückt das Gericht allerdings noch im gleichen Urteil wieder deutlich ab, mit der Klarstellung, es könne nicht erwartet werden, dass jeder Zweifel ausgeschlossen wird; Zweifelsfragen zu klären sei [nämlich gerade] Aufgabe der Rechtsanwendungsorgane.302 Zudem stellte das Gericht in der Folge den Bestimmtheitsgrundsatz unter einen rechtsgebiet- und normspezifischen Vorbehalt des Möglichen303 und Erforderlichen.304 Folgern lässt sich: Rechtsnormen müssen so bestimmt sein, dass die Betroffenen die mutmaßliche Rechtslage, insbesondere das Risiko einer Grundrechtsbeschränkung erkennen können. Dabei genügt in manchen Bereichen des Rechts bereits eine schwache Mutmaßung, also ein Für-möglich-Halten einer bestimmten Rechtsfolge; in anderen, besonders grundrechtssensiblen Bereichen muss die Mutmaßung schon eher Gewissheitscharakter erlangen. Im Ergebnis hat das BVerfG bislang nur in äußerst wenigen Einzelfällen305 ein Gesetz aufgrund mangelnder Bestimmtheit letztlich für verfassungswidrig erklärt.306 An dieser Rechtsprechung dürfte sich auf absehbare Zeit kaum etwas ändern – und dies im Wesentlichen zu Recht. Zwar wird zuweilen behauptet,307 es seien Ansätze eines leichten Wandels zu erkennen. Die Belege hierfür sind aber eher dünn gesät.308 Und es mag wünschenswert sein, dass sich die obersten

_____ 300 In diesem Sinne dezidiert Papier/Möller, AöR 1997, S. 177, 196 ff. 301 So erstmals BVerfGE 31, 258, 264; vgl. ferner etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 129, m.w.N. 302 Siehe erneut BVerfGE 31, 258, 264. 303 Siehe insbes. BVerfGE 87, 234, 263. 304 Siehe hierzu die Analyse bei Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Losebl. Stand 01/2011, Art. 20 VII Rn. 58 ff. 305 Namentlich BVerfGE 17, 306, 314 ff.; sowie 22, 180, 220. 306 Siehe zusammenfassend Papier/Möller, AöR 1997, S. 177, 196 f. 307 So etwa Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 20 Rn. 126; sowie insbes. Papier/Möller, AöR 1997, S. 177, 197 f. 308 Das einzige von Papier/Möller, AöR 1997, S. 177, 197 f., angeführte Beispiel (BVerfGE 88, 366) betraf die Satzung eines privaten Pferdezüchtervereins. Die von Sachs, in: Sachs,

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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Gerichte (neben dem BVerfG insbesondere auch der EuGH)309 stärker zum Prinzip der Rechtssicherheit (s.o. I 2 a gg) und mithin auch zur Klarheit und Bestimmtheit des Rechts bekennen. Jedoch würde eine deutlich strengere verfassungsrechtliche Handhabung des Bestimmtheitsgrundsatzes letztlich das BVerfG überfordern: Die Zahl der Verfassungsbeschwerden würde unter anderem durch Angriffe auf Normen im Steuer- und Sozialrecht, aber auch in weiten Teilen des Umwelt- und Technikrechts sprunghaft ansteigen. Ob der Erfolg solcher Verfahren letztlich zu besseren, verständlicheren Gesetzen führen würde, ist ungewiss. Im Übrigen vermöchte natürlich auch eine strengere Handhabung des Bestimmtheitsgrundsatzes Zweifelsprobleme in der Auslegung nie gänzlich zu beseitigen: Jeder Begriff hat neben seinem eigentlichen „Begriffskern“ immer auch einen „Begriffshof“,310 jede Willensäußerung (auch des Gesetzgebers) neben einem Willensziel immer auch eine „Willensstreuung“ – über deren Reichweite man streiten kann, ohne je Einigkeit zu erzielen. Es gibt mithin Fälle, bei denen die oben erläuterten Regeln der Rechtsanwendung nicht zu hinreichend eindeutigen Ergebnissen führen – ohne dass deshalb notwendig das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot verletzt wäre.311

(2) Funktionelle Reichweite Dem Rechtsstaatsgebot sind Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichte verpflichtet (vgl. Art. 20 III GG). Insofern liegt die Annahme nahe, auch Gerichtsentscheidungen seien vollumfänglich am Bestimmtheitsgebot zu messen. Dies trifft jedenfalls dann zu, wenn Gerichte Rechtsfortbildung betreiben: Richter als Ersatzgesetzgeber sind im Kern an den gleichen Maßstäben zu messen wie der originäre Gesetzgeber. Richtig ist zudem, dass auch Urteile sich am Gebot der Rechtssicherheit zu orientieren haben – und dazu zählt u.a. die Klarheit des Rechts (s.o. I 2 a gg). Äußerst zweifelhaft ist hingegen die Vorstellung, die Auslegung eines als solchen hinreichend bestimmten Rechtsbegriffs könne ihrerseits zu unbestimmt

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Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 20. Rn. 126, Fn. 515 f., angeführten Zitate sind ebenso wenig aussagekräftig. 309 Insoweit bereits krit. Richers, GreifRecht 2007, S. 88, 93 f. 310 Die Unterscheidung geht zurück auf Philipp Heck, siehe etwa Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 52, 60. 311 Siehe Bleckmann, JZ 1995, S. 685, 686, m.w.N. Ergänzend sei bemerkt: Bei Zweifeln über die Auslegung (individual-) vertraglicher Vereinbarungen erstens hilft das Bestimmtheitsgebot ohnehin nicht weiter. Und zweitens bedürfen auch Zweifel über Inhalt und funktionelle Reichweite des Bestimmtheitsgebots selbst einer Lösung.

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B. Grundlegung

sein.312 Nach der hier vertretenen Grundkonzeption, nach der Auslegung das inhaltliche Erkennen und nötigenfalls Konkretisieren eines historischen Befehls meint (s.o. 2 a) verhält es sich vielmehr so: Ist eine Gesetzesvorschrift als solche hinreichend bestimmt, und hält sich das Gericht hinsichtlich Tatbestand und Rechtsfolge im Rahmen dieser Vorschrift, so kann seine Normauslegung nicht zu „unbestimmt“ sein; verlässt hingegen das Gericht den vom Gesetzgeber gezogenen Rahmen, so betreibt es nicht Auslegung – sondern Rechtsfortbildung.

bb) Richterliche Rechtsfortbildung Richterliche Rechtsfortbildung ist allerdings keineswegs generell unzulässig, vielmehr ist sie nach zutreffender und ganz herrschender Auffassung inzwischen zumindest grundsätzlich (verfassungs-) gewohnheitsrechtlich verbürgt.313 Zuweilen vermag diese Rechtsfortbildung in Zweifelsfällen der Rechtsanwendung eine Entscheidung herbeizuführen – und zwar nicht nur dort, wo der Gesetzgeber eine Lücke gelassen (1) oder seinen mutmaßlichen Willen nicht in die richtigen Worte gekleidet hat (2), sondern auch bei unklarem Normbefehl (3). In allen drei Fällen sind allerdings der richterlichen Rechtsfortbildung Grenzen gesetzt; auch – aber nicht nur – aufgrund dieser Grenzen bleibt Raum für Zweifel in der Jurisprudenz (4).

(1) Fall 1: Lückenfüllung Geradezu unabdingbar ist richterliche Rechtsfortbildung dort, wo der Gesetzgeber bewusst Lücken oder Wertungsspielräume gelassen hat. „Echte“ Lücken finden sich in der Rechtsordnung zwar zunehmend seltener; aber noch immer kommt es vor, dass der Gesetzgeber die Durchdringung bestimmter neuer Sachprobleme314 (zunächst) der Rechtspraxis überlässt – wobei als Einstieg häufig sogenannte Generalklauseln315 herhalten dürfen. Daneben enthalten zahlreiche

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312 So aber das BVerfG in seinen Entscheidungen zum Gewaltbegriff des § 240 StGB (Sitzblockaden) – siehe BVerfGE 73, 206; 76, 211; sowie 92, 1. In der letzten dieser Entscheidungen hält das BVerfG, in Abänderung seiner bisherigen Rspr., eine extensive Auslegung des Gewaltbegriffs für unvereinbar mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG (siehe BVerfGE 92, 1, 18); methodisch zustimmend Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 19 f. 313 Siehe BVerfGE 3, 225, 243 f.; 13, 153, 164; 34, 269, 288 f.; 122, 248. 314 Dies betrifft insbesondere technische Neuerungen – vgl. hierzu die Darstellung bei Dähne, Wissenschaftsfreiheit und Wirtschaftsfreiheit, 2007, passim. 315 Für das Öffentliche Recht insbes. die polizeiliche Generalklausel in den Sicherheits- und Ordnungsgesetzen der Bundesländer; für das Zivilrecht insbes. § 242 BGB (Treu und Glauben).

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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Vorschriften sogenannte unbestimmte Tatbestandsmerkmale316, die von der Rechtspraxis iterativ mit konkretem Inhalt zu füllen sind. In fließendem Übergang zu diesen „absichtlichen“ Auslassungen existieren vielfach unvorhergesehene (und zuweilen: unvorhersehbare) Lücken. Dies betrifft insbesondere – aber nicht nur – Sachprobleme, die sich durch das Aufkommen neuer Technologien oder sich wandelnder menschlicher Verhaltensweisen erstmals stellen.317

(2) Fall 2: Überwindung der Wortlautgrenze Wiederum eng verwandt sind Fälle, in denen der Normgeber den Wortlaut einer Vorschrift unabsichtlich zu eng318 oder zu weit319 gefasst hat. Hier ist auch die Grenze zur Auslegung besonders fließend – nach hier vertretener Auffassung ist sie dort überschritten, wo der noch mögliche Wortsinn einer Vorschrift endet. Etwas anders gelagert sind Konstellationen, in denen der Wortlaut einer Norm vom (historischen) Normgeber bewusst eng bzw. weit gefasst wurde – in denen aber veränderte gesellschaftliche Vorstellungen oder gar höherrangige Normen einen Wandel in der Rechtsprechung zu fordern scheinen.320 In diesen Fällen dient Rechtsfortbildung nicht nur der Überwindung des Wortlauts, sondern zusätzlich auch der Überwindung des ursprünglichen gesetzgeberischen Willens. Beide Unterfälle finden sich in jüngerer Zeit gehäuft dort, wo nationales (deutsches) Recht gegen Vorschriften des Unionsrechts verstößt. Die richterliche Rechtsfortbildung dient hier dazu, die absichtlich oder unabsichtlich unvollkommene Umsetzung EU-rechtlicher Vorgaben zu korrigieren.321

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316 Etwa der Begriff der „Zuverlässigkeit“ gemäß § 35 I GewO. 317 Man denke an die Rechtsprechung zu „Paintball“ und „Laserdromen“ – siehe nur BverwGE 115, 189; oder an die vor einigen Jahren aufgekommene Erscheinung der „Flashmobs“ – siehe hierzu Richers, GreifRecht 2010, S. 59 ff. 318 Dies dürfte etwa im Eingangsbeispiel der alttestamentarischen Norm (oben III 1) zu bejahen sein. 319 Man denke etwa an das ausnahmslose Verbot der Aufrechnung gegen Forderungen aus unerlaubter Handlung gemäß § 393 BGB. 320 Klassisches Beispiel ist § 253 I BGB: Die Norm schließt Schadensersatz für immaterielle Schäden grds. aus, was heutigen Gerechtigkeitsvorstellungen (womöglich auch den Vorschriften des Grundgesetzes) zu widersprechen scheint – vgl. hierzu BGH, NJW 1965, 685, 686; BVerfGE 34, 269, 286. 321 Vgl. zuletzt etwa die „Quelle“-Entscheidung, BGHZ 179, 27. Einen interessanten Sonderfall betraf auch die Entscheidung des BVerfG zur Grundrechtsfähigkeit EU-ausländischer juristischer Personen (BVerfGE 129, 78): Das BVerfG entschied hier, dass solche Unternehmen trotz

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B. Grundlegung

(3) Fall 3: Unklarer Normbefehl Auslegung endet dort, wo der noch mögliche Wortsinn einer Vorschrift überschritten wird. Sie endet wegen Unmöglichkeit aber auch dort, wo ein Normbefehl nicht mit hinreichender Sicherheit ermittelt werden kann:322 Sofern der Richter die entsprechende Vorschrift nicht wegen Unbestimmtheit für verfassungswidrig hält (oben aa), hat hier wiederum richterliche Rechtsetzung an die Stelle von Rechtserkenntnis zu treten.

(4) Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung Anders als die Auslegung des Rechts kennt seine richterliche Fortbildung keine definitionsgemäßen Grenzen. Beschränkungen folgen auch seltener aus der Endlichkeit menschlicher Erkenntnis. Der judikativen Rechtsetzung sind aber normative Schranken gesetzt. Diese Grenzen des (verfassungs-) rechtlich Zulässigen sind im Einzelnen allerdings höchst umstritten.323 Immerhin lassen sich einige Grundlinien identifizieren, an denen Rechtsfortbildung in der Praxis zwar oftmals nicht endet – aber doch wenigstens stärker begründungsbedürftig wird. Die deutlichste Begrenzung ist darunter nach wie vor der Grundsatz nulla poena sine lege – nach dem richterliche Rechtsfortbildung im Bereich des Strafrechts grundsätzlich ausgeschlossen ist. 324 Vielfach als unzulässig gilt im Grundsatz auch die Rechtsfortbildung contra legem – also Judikatur, die sich dem deutlich erkennbaren Willen des Gesetzgebers widersetzt.325 Jedenfalls soweit eine solche Rechtsfortbildung dazu dienen soll, (scheinbare) Widersprüche einfachen Rechts zum Grundgesetz zu beheben, scheitert sie nämlich bereits an der alleinigen Normverwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts (Art. 100 I GG).326 Im Übrigen stehen der richterlichen Rechtsfortbildung oftmals zwei grundgesetzliche Prinzipien entgegen: erstens das Rechtsstaatsprinzip (in seinen

_____ des eindeutigen Wortlauts in Art. 19 III GG grds. inländischen juristischen Personen gleichgestellt seien – weil die deutsche Legislative dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot über den Umweg des Art. 23 I S. 3 GG mit verfassungsändernder Mehrheit zugestimmt habe. 322 Vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, S. 10. 323 Siehe exemplarisch Rennert, NJW 1991, S. 12, 17 f.; sowie Wiedemann, NJW 2014, S. 2407 ff., m.w.N. 324 Weshalb etwa eine richterliche „Modernisierung“ des Gewaltbegriffs in § 240 StGB ausgeschlossen ist (vgl. oben 3 a bb). 325 Siehe hierzu etwa Neuner, Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005, passim. 326 Und wenigstens insofern ist auch die Rspr. contra legem § 253 I BGB zum Schadensersatz bei Verletzungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts kritikwürdig.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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Ausprägungen von Gewaltenteilung, Vorbehalt des Gesetzes, Rechtssicherheit), zweitens das Demokratieprinzip. Vor diesem Hintergrund sind nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „grundrechtswesentliche“ Fragen vom Gesetzgeber selbst zu entscheiden.327 Sonderlich trennscharf ist diese letzte Grundlinie freilich nicht: Jedenfalls im Bereich der Eingriffsverwaltung werden (wegen Art. 2 I GG) durchweg Grundrechte berührt; und über die Frage, ob diese Grundrechte „wesentlich“ berührt werden, lässt sich im Einzelfall trefflich streiten.328 Zugunsten materieller Einzelfallgerechtigkeit werden dabei nicht selten Rechtssicherheit und demokratisches Prinzip zurückgestellt (siehe oben I 2). Umso bedeutsamer erscheint es, in diesen Fällen – aber nicht nur in diesen – am „Prinzip Ehrlichkeit“ (oben I 2 b bb) festzuhalten. Existenz und Begründung rechtsfortbildender Elemente in einer Entscheidung müssen durchweg offengelegt werden.329 Nicht zuletzt vermindert sich dadurch der Raum für Zweifel in der Rechtsanwendung bei künftigen Fällen. In dieser Hinsicht ist in jedem Fall der Rechtsfortbildung auch mit zu bedenken, dass durch solche Rechtsfortbildung regelmäßig die Rechtsklarheit wenig befördert wird; denn nur selten330 fühlt sich der Gesetzgeber bemüßigt, das geschriebene Recht nachträglich an das fortgebildete Recht anzupassen (oder umgekehrt, das fortgebildete Recht durch Gesetzesänderung zu korrigieren).331 Vollständige Zweifelsfreiheit lässt sich aber jedenfalls auch durch eine weit verstandene richterliche Befugnis zur Rechtsfortbildung nicht erzielen. Dies liegt nicht nur an den vorstehend skizzierten Grenzen dieser Befugnis und auch nicht nur an Zweifeln über diese Grenzen. Vielmehr gilt: Auf manche Gerechtigkeitsfragen gibt nicht einmal das persönliche Rechtsgefühl eine sichere Antwort.332 Wenn aber Zweifel am Recht, wie es sein sollte, zu unseren Zweifeln am Recht, wie es ist, hinzutreten – dann bedarf es eines zusätzlichen, äußeren Instruments, anhand dessen eine mögliche Unentschiedenheit beseitigt werden kann.

_____ 327 Siehe BVerfGE 33, 125; 47, 46; 49, 89; 90, 289. 328 Man denke bspw. an die sogenannte Rechtschreibreform: Vom BVerfG für „nicht wesentlich“ erachtet (NJW 1998, 2515), avancierte diese Regierungsentscheidung in bestimmten Kreisen dennoch zum (einzig) wesentlichen Streitthema. 329 Siehe umfassend Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, 2007, passim. 330 Ein Beispiel immerhin: die §§ 214 ff. BauGB; vgl. hierzu etwa Hoppe/Henke, DVBl 1997, S. 1407 ff. 331 Siehe Rennert, NJW 1991, S. 12, 17 (Fn. 73). 332 Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, S. 18.

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B. Grundlegung

b) Bisherige Lösungsansätze Lösungsansätze aus Rechtsprechung und Lehre, die sich letztlich333 am subjektiven Empfinden des Richters orientieren (aa), verzichten jedoch weitgehend auf ein solches Instrument; diese Ansätze werden im Folgenden daher nur summarisch dargestellt. Letztlich ebenso wenig zu überzeugen vermögen allerdings auch die übrigen bis dato vertretenen Vorschläge, die auf unterschiedlich geartete Mehrheitsauffassungen Dritter Bezug nehmen (bb).

aa) Subjektives Empfinden als Maßstab: Recht gläubig? Historisch besehen besteht zwischen Theologie und Jurisprudenz eine enge Verwandtschaft.334 Insofern ist es kein Zufall, wenn der jeder Religion innewohnende „Sprung in den Glauben“ nach weit verbreiteter Auffassung auch als letzter Halt rechtlicher Entscheidung herhalten soll. Regelmäßig firmiert die entsprechende Grundauffassung dabei unter dem Begriff der „Wertungsjurisprudenz“ (1); insbesondere seitens der Praxis wird daneben gern auf „Judiz“ (2) bzw. auf die „Sachgerechtigkeit im Einzelfall“ (3) abgestellt; umgekehrt finden sich in der Literatur Vorstellungen, nach denen die in einem Fall betroffenen Interessen „abstrakt“ (4) oder hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ (5) gewichtet werden sollen. Allen diesen Ansätzen gemein ist, dass sie bei Glaubenszweifeln und widerstreitenden Glaubenssystemen keine Hilfestellung leisten. Ob freilich Parallelen zwischen Recht und Kunst (6) bzw. die teilweise Gleichsetzung von Recht und Politik (7) wesentlich weiterführen, ist ebenso zweifelhaft.

(1) Wertungsjurisprudenz Regeln haben Gründe. Man mag diese Gründe „Prinzipien“ nennen,335 wenn man vor allem ihre Abwägbarkeit336 betonen möchte. Geht man von „Interessen“ aus,337 scheint das sprachliche Augenmerk auf der Partikularität und zudem womöglich der rationalen Erklärbarkeit der Gründe für Regeln zu lie-

_____

333 Zur Klarstellung: Wenn im Folgenden von Maßstäben juristischen Entscheidens die Rede ist, geht es allein um äußerste Zweifelsfälle, um den letzten Halt juristischer Richtigkeit – nicht um Rechtsfragen, die mit der herkömmlichen Methodik (oben 1–3) noch zu bewältigen sind. 334 Statt vieler Kelsen, Logos 1922/23, S. 261 ff. 335 Siehe etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 71 ff. 336 Vgl. ibid. S. 129 ff. 337 Herausragend Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, passim; Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, passim.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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gen.338 Wer von „Werten“ spricht,339 will umgekehrt zumeist die Allgemeinverbindlichkeit340 und zuweilen auch die natürlich vorgegebene Eigenart der Gründe341 behaupten. In diesem Sinne handelt die sogenannte Wertungsjurisprudenz von dem Versuch, das Regelwerk der Rechtsordnung auf eine Reihe allgemein gültiger Gründe zurückzuführen. Entstanden in einer Zeit, als der absolute Geltungsanspruch der Verfassung noch in Frage stand,342 ergab sich diese Allgemeingültigkeit zunächst nicht aus dem Herrschaftsanspruch des demokratisch legitimierten Souveräns, sondern aus der Erkenntnis des Richters über die „natürliche“ Form bestimmter sozialer Erscheinungen (Familie, Eigentum etc.). Seit Erlass des Grundgesetzes hat sich daran nur teilweise und oftmals nur vordergründig etwas geändert:343 Zwar wird gemeinhin anerkannt, dass die entsprechenden Werte sich (nunmehr) aus der Verfassung zu ergeben haben;344 die genaue Gestalt der Werte wird aber wiederum durch den Rechtsanwender bestimmt – weitgehend ohne Rückgriff auf die Vorstellungen des historischen Verfassungsgebers.345 Zugleich verdrängt das „Abwägen“ von „Prinzipien“ zuweilen sogar die hergebrachten Standards der juristischen Methodik.346 Diese Sicht mündet in eine Apotheose objektiv-teleologischer Auslegung (vgl. oben 3 a, b), die dem Richter in seiner Erkenntnis des Rechts erhebliche Freiheit gewährt. Von dieser Freiheit darf, ja soll,347 der Richter insbesondere in Zweifelsfällen Gebrauch machen. Die Wertungsjurisprudenz „erspart“ dem Juristen insofern nachhaltige Zweifel über den mutmaßlichen Willen des Normgebers; stattdessen erhöht sie aber die Wahrscheinlichkeit für Zweifel, die ansons-

_____ 338 Nicht zufällig findet sich der Terminus des „Interesses“ vornehmlich in zivilrechtlichen Werken bzw. in den Texten von Juristen entsprechender Provenienz. 339 Siehe zuvörderst Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 36 ff. 340 Besonders deutlich in der Rede des BVerfG von der „objektiven Werteordnung“ des Grundgesetzes – vgl. grundlegend BVerfGE 7, 198. 341 Dies zeigt sich etwa dann, wenn die „Natur der Sache“ oder ein bestimmter „Typus“ bemüht wird – vgl. insofern Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 236 ff. sowie 290 ff. 342 Die erste Auflage der „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ von Karl Larenz erschien im Jahr 1960. 343 Siehe hierzu etwa die Kritik bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 7. Aufl. 2012, S. 494 ff.; vgl. auch Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 476 f. 344 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 159 ff. 345 Vgl. erneut Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 288 ff. (hier zum Eigentum nach Art. 14 GG). 346 Vogel/Christensen, Rechtstheorie 2013, S. 29; krit. auch Windisch, Rechtstheorie 2013, S. 61 ff.; sowie bereits Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 128 ff. (insbes. 134 ff.). 347 Von einem unabdingbaren „Beurteilungsspielraum“ ist die Rede bei Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 39, 114 ff.

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B. Grundlegung

ten vornehmlich im Bereich der Rechtsfortbildung (oben a bb) auftreten: Zweifel über die Be-Wertung sozialer Erscheinungen – Zweifel über das Recht „wie es sein sollte“. Selbst ein weltanschaulich höchst gefestigter Jurist wird zuweilen zugestehen müssen, dass er in seiner Wertung unentschieden ist – ob ein bestimmter Typus (noch) vorliegt oder nicht, welches Gewicht einzelnen Gesichtspunkten zukommt etc.348 Erst recht ist für die Parteien eines Rechtsstreits in zweifelhaften Fällen schwer bis gar nicht vorhersehbar, welche Wertung der zur Entscheidung berufene Richter vornehmen wird.349 Ihnen bleibt allenfalls der Blick auf die bisherige Rechtsprechung des Gerichts – und ggf. auf außerrechtliche, soziale Faktoren, die das Entscheidungsverhalten beeinflussen könnten.350

(2) Judiz Nicht wesentlich anders verhält es sich mit einer Jurisprudenz, die im Zweifelsfalle auf das – angeborene oder durch Erfahrung erworbene – Judiz des Richters verweist.351 Gewiss ist dieses „Rechtsgefühl“ kaum verzichtbar bei eiligen Entscheidungen und als erster assoziativer Anhaltspunkt (vgl. oben 3 c) bei der rechtlichen Beurteilung eines Sachverhalts. Als letzter Halt in schwierigen Fällen taugt es aber bereits aus den vorstehend beschriebenen Gründen kaum. Zwar mögen im Leben intuitive Entscheidungen, also „Bauchentscheidungen“ und überschlagsweise „Kopfentscheidungen“, gründlich durchdachten Lösungswegen zuweilen überlegen sein. 352 Allerdings: Juristische Bauchentscheidungen mögen in einer überwiegenden Vielzahl von Fällen zu einem vertretbaren Ergebnis führen; sie sind aber als solche nicht der Kritik und der Vorausberechnung zugänglich. Denn wer soll entscheiden (quis iudicabit), wessen Bauchentscheidung die zutreffende ist – wenn als Entscheidungsmittel immer nur eine weitere Bauchentscheidung zur Verfügung steht? Und wie sollen die Parteien zu einem Wahrscheinlichkeitsurteil über die zu erwartende Bauchentscheidung gelangen – wenn die Ernährungsgewohnheiten des Richters353 ihnen unbekannt sind?

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348 Vgl. in diesem Sinne Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 105. 349 Siehe jüngst etwa Andriychuk, Rechtstheorie 2013, S. 1, zusammenfassend 26 f. 350 Vgl. zu dieser Form der „Richtersoziologie“ etwa Schmid, in: Schmid/Drosdeck/Koch, Rechtsfall, 1997, S. 57 ff., m.w.N. 351 Vgl. etwa die erhellenden Praxisbeobachtungen bei Schmid, in: Schmid/Drosdeck/Koch, Rechtsfall, 1997, S. 159, 167. 352 Instruktiv in diesem Zusammenhang Glöckner/Engel, Reprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods 2008/36, S. 1, insbes. 17 ff. 353 Vgl. Schmid, in: Schmid/Drosdeck/Koch, Rechtsfall, 1997, S. 57 ff.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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Um Missverständnissen vorzubeugen: „Rein“ rationale Entscheidungen gibt es nicht – irrationale Momente, insbesondere Fehlwahrnehmungen,354 lassen sich nie gänzlich ausschließen und wirken in allen Bereichen des Lebens;355 und gewiss gehört zum guten Juristen auch die Phantasie.356 Aber rational begründete und entsprechend dargestellte Entscheidungen, die bestimmten Denkgesetzen und zusätzlichen normativen Vorgaben folgen, sind immer der Kritik und grundsätzlich der Vorausberechnung zugänglich und können gegebenenfalls durch bessere Gründe oder durch den Nachweis einer fehlerhaften Anwendung der Denkgesetze widerlegt werden.357 Wenn also rechtliche Entscheidungen der Kontrolle und der tendenziellen Vorausberechnung zugänglich sein sollen (vgl. oben I 2 a gg), so können „Bauchverdikte“ nicht letzter Maßstab der Jurisprudenz sein.

(3) Sachgerechtigkeit im Einzelfall Kontrolle und Vorausberechenbarkeit scheiden natürlich auch dann weitgehend aus, wenn die Wahl und Anwendung der Interpretationsregeln generell dem jeweiligen Einzelfall und dem Belieben des jeweiligen Richters folgt.358 Wer sich zunächst auf ein bestimmtes Ergebnis verständigt, um erst anschließend einen Weg zu diesem Ergebnis zu konstruieren, der mag in Standardfällen noch immer erwartbare und allgemein überzeugende Lösungen produzieren; denn der Methodenkanon ist begrenzt und setzt allzu „kühnen“ Konstruktionen durchaus Grenzen.359 Spätestens in schwierigen Zweifelsfällen jedoch werden diese Grenzen durchlässig (vgl. bereits die vorstehenden Abschnitte).

_____ 354 Instruktiv dazu jüngst die Studie von Weaver/Garcia/Schwarz, Journal of Consumer Research 2012, S. 445 ff., nach der die Adressaten rechtlicher Argumentation deutlich dazu neigen, dieser eher zuzustimmen, wenn nur die stärksten Argumente präsentiert werden – und auf „Nebenerwägungen“ weitgehend verzichtet wird. M.a.W.: Ein Anwalt wird – bei identischer Fallgestaltung – im Durchschnitt öfter dann Erfolg haben, wenn er sich in seinen Schriftsätzen auf das Wesentliche beschränkt. Würden Richter „rein rational“ entscheiden, dürfte dieses Phänomen nicht auftreten. 355 Siehe nur Kahneman/Tversky, Psychological Review 103 (1996), S. 582 ff. 356 Großfeld, Zeichen und Zahlen, 2. Aufl. 1995, S. 232 f.; vgl. auch bereits oben zur Assoziation im Recht (3 c). 357 Ähnlich Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 104. 358 In diese Richtung etwa Hassemer, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 8. Aufl. 2011, S. 263; sowie erneut Hassemer, Rechtstheorie 2008, S. 1, 3. 359 Ähnlich Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 222.

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B. Grundlegung

Wenn dann im Zweifelsfall nur noch die einzelfallbezogene Gewichtung von „Werten“ oder „Interessen“ den Ausschlag geben soll, dann vermögen die Parteien ihre Erfolgschancen schon deshalb nicht annähernd zutreffend einzuschätzen, weil sie im Zweifel ihre eigenen Interessen gegenüber denen des Gegners immer höher gewichten werden. Ähnlich muss letztlich jede rationale Kritik durch Außenstehende daran scheitern, dass konkrete Gewichtungen im Einzelfall sich kaum je von persönlichen Präferenzen hinsichtlich bestimmter sozialer Erscheinungen trennen lassen. Zusätzliche Verwirrung stiften dabei scheinrationale Worthülsen – etwa die in diesem Zusammenhang häufig bemühte „Natur der Sache“, auf die der denkende Jurist zurückgehen müsse, wenn es an einer positiven Norm fehlt oder wenn diese unvollständig oder unklar ist360.361

(4) Abstrakte Interessengewichtung Ein höheres Maß an Allgemeinheit und Systematik versprechen Ansätze, die sich vom konkreten Einzelfall lösen und sich um eine abstrakte Gewichtung der typischerweise in bestimmten Fallkonstellationen auftretenden Interessen bemühen.362 Allerdings lässt sich in Zweifelsfällen auch eine solche generalisierte Gewichtung kaum von persönlichen Überzeugungen der jeweils zur Entscheidung berufenen Personen lösen: Was ist gewichtiger – Meinungsfreiheit oder Ehrschutz, positive oder negative Glaubensfreiheit etc.? Nur selten lässt sich bei diesen Gewichtungsfragen ein einigermaßen eindeutiger Wille des historischen Normgebers erkennen, so dass letztlich der Jurist doch wieder auf sein „Rechtsgefühl“ zurückgeworfen wird.363 Immerhin: Ist eine abstrakte Festlegung (beispielsweise: Meinungsfreiheit überwiegt grundsätzlich Ehrschutz) einmal erfolgt, so bietet sie für die Zukunft ein gewisses Maß an Rechtssicherheit mittels justizieller Selbstbindung.364 Sehr weit jedoch reicht diese Bindung nicht. Dies liegt v.a. daran, dass die Stärke der abstrakten Interessengewichtung – ihre Allgemeinheit – zugleich

_____ 360 Radbruch, in: Dreier/Paulson, Gustav Radbruch – Rechtsphilosophie, 1999, S. 208; noch weitergehend Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, 1972, S. 165, wonach die „Natur der Sache“ bei jeder Auslegung „untergelegt“ werde; daran anschließend jüngst etwa Pavcnik, Rechtstheorie 2008, S. 557, 565 ff. 361 Siehe eindrücklich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 536 ff. 362 Klassisch: Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, passim. 363 Siehe pointiert Vogel/Christensen, Rechtstheorie 2013, S. 29, 71. 364 Ähnlich Lege, GreifRecht 2006, S. 1, 15.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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eine wesentliche Schwäche ist: Von der abstrakten Gewichtung (beispielsweise: Meinungsfreiheit versus Ehrschutz) ist es ein weiter Weg bis hin zur praktischen Anwendung. Denn das prinzipielle Überwiegen eines Interesses sagt wenig über die Entscheidung im konkreten Einzelfall; dort mag das gewichtigere Interesse (nach Auffassung des Gerichts) derart geringfügig betroffen sein, dass es prinzipiell untergeordneten anderen Interessen letztlich doch unterliegt. Die oben beschriebene Einzelfallabwägung mit all ihren Unsicherheiten wird durch die Vorstufe abstrakter Interessengewichtung mithin zwar grob eingegrenzt – nicht aber ersetzt: Nur in wenigen Zweifelsfällen vermöchten abstrakte Gewichtungsregeln365 eine Entscheidung in der Praxis tatsächlich zu determinieren.

(5) Schleier des Nichtwissens und Rollentauschprobe Den vorstehend beschriebenen Unwägbarkeiten versucht eine neuere Strömung in der Rechtstheorie zu entgehen, indem sie die Akteure einem Gedankenexperiment unterwirft. Seinen Ursprung verdankt das Experiment dem Versuch einer allgemeinverständlichen Legitimation von Minderheitenrechten im demokratischen Staatswesen. Die Herrschaftsform der Wettbewerbs-Demokratie366 hat in ihrem Kern und zunächst vor allem zwei Vorzüge: Sie bietet erstens eine vergleichsweise sichere Gewähr für die zeitliche Begrenzung von Herrschaft; und sie führt zweitens dazu, dass im Regelfall der Wille der jeweiligen Bevölkerungsmehrheit Gehör findet.367 Aus diesen beiden Errungenschaften leiten sich weitere Konsequenzen ab – erfreuliche, aber auch einige weniger erfreuliche. Zu den unangenehmen Folgeerscheinungen der Mehrheitsherrschaft gehört die latente Gefahr der Tyrannei gegenüber Minderheiten.368 Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die Rechtstheorie seit geraumer Zeit auch mit einem gedanklichen Experiment aus der Spieltheorie, das dazu

_____ 365 Nach dem Muster: „Sind Interesse a und Interesse b in durchschnittlicher Weise gleich betroffen, so überwiegt Interesse a.“ 366 Im Gegensatz zur echten (Modell: Schweiz) oder vorgeblichen (Modell: Deutsche Demokratische Republik) Konsens-Demokratie. Natürlich sind die Grenzen fließend. So bringt etwa ein ausgeprägtes Verhältniswahlrecht mehr konsensuale Elemente mit sich als das klassische Mehrheitswahlrecht. 367 Siehe BVerfGE 123, 267, 340 f.; sowie ferner etwa Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Demokratie) Rn. 69. 368 Klassisch: Tocqueville, De la Démocratie, 12. Aufl. 1848, S. 128 ff., insbes. 135 ff. (Chapitre VII, De la Tyrannie de la Majorité).

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B. Grundlegung

beitragen möchte, in juristisch schwierigen Fragen eine Entscheidung der Gerechtigkeit, nicht der (Mehrheits-) Macht herbeizuführen. 369 „Gerechtigkeit“ meint in diesem Zusammenhang: eine Entscheidung, der alle Betroffenen unter einer bestimmten Bedingung zustimmen würden – und zwar unter der Bedingung, dass sie nicht wissen, auf welcher Seite sie von der Regelung betroffen sein werden.370 Hinter diesem „Schleier des Nichtwissens“371 erkennen die meisten Menschen rasch, dass es weniger schmerzhaft ist, Minderheitenmeinungen zu tolerieren – als umgekehrt seine eigene Minderheitenposition nicht äußern zu dürfen; dass es andererseits eher erträglich ist, auf das (straflose) Töten seiner Mitmenschen zu verzichten – als Angriffen Dritter schutzlos ausgeliefert zu sein. Zur allgemeinen Erläuterung von Grund- und Menschenrechten ist diese „Rollentauschprobe“372 daher von einigem didaktischen Wert. Auch zur rechtstheoretischen Begründung gegebener oder noch zu entwickelnder (Zweifels-) Regeln kann sie unterstützend argumentativ herangezogen werden.373 Zur Lösung schwieriger Rechtsanwendungsprobleme im Zweifelsfalle hingegen taugt das Gedankenexperiment kaum. Dies hat mehrere Gründe: Erstens setzt die Rollentauschprobe voraus, dass alle Entscheidungsbetroffenen rechtlich vollauf „gleichrangig“ sind – dies ist bereits bei Embryos/Schwangeren (Stichwort: Abtreibung) und Inländern/Ausländern (Stichwort: DeutschenGrundrechte), spätestens aber bei Tieren/Menschen (Stichwort: § 20a GG) und Verstorbenen/Lebenden (Stichwort: Postmortales Persönlichkeitsrecht) höchst zweifelhaft. Zweitens haben Menschen zumindest in einigen wesentlichen Grundfragen des Zusammenlebens sehr unterschiedliche Präferenzen – somit führt der Rollentausch letztlich doch wieder zur schlicht-subjektiven (wenngleich immerhin: reflektierteren) Entscheidung desjenigen, der den Rollen-

_____ 369 Siehe grundlegend Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 137 insbes. 370 Der Grundgedanke erinnert an den kategorischen Imperativ des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft bei Kant: „Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, S. 54 [Erstes Buch, Erstes Hauptstück, § 7]). Dies wird bei der „RollentauschProbe“ praktisch so fortgeführt: Zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden kann die Maxime einer gewillkürten Handlung dann, wenn ein jeder sich mit dieser Handlung einverstanden erklären würde, der nicht weiß, ob und wie er einmal von der Handlung betroffen sein wird. 371 Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 137 („veil of ignorance“). 372 Zimmermann, ARSP (Beiheft 128) 2012, S. 195. 373 Bspw. beim Grundsatz in dubio pro reo – siehe Velten, in: Wolter, SK-StPO, Bd. 5, 4. Aufl. 2012, § 261 Rn. 80. Auch die in diesem Buch entwickelte Rechtslastregel mag hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ zusätzliche Legitimation erfahren.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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tausch gedanklich vornimmt.374 Drittens fällt es auch phantasiebegabten Menschen zuweilen offenkundig schwer, eine ihren eigenen Lebensumständen sehr weit entfernte Tauschposition einzunehmen und die damit verbundenen Empfindungen wenigstens annähernd nachzuvollziehen; hier droht die Rollentausch-Probe eine „mitfühlende Gerechtigkeit“375 nur vorzutäuschen. Viertens liefert die Rollentausch-Probe auch unter Ausschluss der eben genannten Schwierigkeiten in echten Zweifelsfällen nur selten wirklich eindeutige Ergebnisse; dies gilt selbst für scheinbar so evidente Maximen wie die „Freiheit der Meinungsäußerung“ oder das „Tötungsverbot“: Gewiss ist Meinungsfreiheit ein auch „gefühlt“ eminent wichtiges Gut – aber muss deswegen jede noch so schmerzhafte Beleidigung hingenommen werden?376 Gewiss ist der Wert des menschlichen Lebens intuitiv um ein Vielfaches höher anzusetzen als der Wert jeder „Sache“ – was aber folgt daraus für die Gebotenheit der Notwehr bei drohendem Sachentzug?377 Wer sich bei solchen Fragen in die Rolle der jeweils (anderen) Betroffenen hineinversetzt, der entwickelt vielleicht Verständnis für dieselben. Verständnis macht Entscheidungen meistens besser. Es macht sie aber selten leichter. Zusammenfassend: Eindeutige Ergebnisse produziert die RollentauschProbe nur in eindeutigen Fällen. In den echten Zweifelsfällen – vor allem bei der trennscharfen Grenzziehung zwischen mehreren Rechtspositionen – liefert der Rollentausch bestenfalls Argumentationshilfe für eine der Seiten.

(6) Recht als Kunst: Ästhetik Eine gewisse Familienähnlichkeit teilt die Jurisprudenz nicht nur mit der Theologie, sondern auch mit der Kunst: Insbesondere sind beide Tätigkeiten zunächst Handwerk, beide erschöpfen sich darin jedoch nicht – große (Rechts-) Wissenschaft hat wie große Kunst oftmals378 etwas Genialisches, das

_____ 374 Um nochmals das Beispiel „Abtreibung“ aufzugreifen: Ein streng gläubiger Katholik mag auch dann noch für strikten Schutz ungeborenen Lebens plädieren, nachdem er ausgiebig versucht hat, sich in die Lage eines schwangeren Vergewaltigungsopfers hineinzuversetzen. 375 Zum gedanklichen Konzept der mitfühlenden Gerechtigkeit siehe Marshall, Compassionate Justice, 2012, S. 321 insbes. 376 Vgl. grundlegend BVerfGE 82, 43; 93, 266. 377 Es ist nicht allzu lange her, da genügte den Strafgerichten insofern bereits der Diebstahl einer Handvoll Kirschen – vgl. RGSt 55, 82; heute mag die „Gebotenheit“ der Notwehr zurückhaltender beurteilt werden – vgl. BGH, NJW 2003, 1955, 1957. 378 Immerhin ein prägender Unterschied zwischen Kunst und Jurisprudenz dürfte sich feststellen lassen: Langweilige Kunst ist im Grunde immer schlecht; überzeugende Rechtsanwen-

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B. Grundlegung

sich mit Lege wohl am besten unter den Begriff der „Gelungenheit“379 fassen lässt. Vor diesem Hintergrund scheint es naheliegend, den letzten Halt juristischer Richtigkeit in Parallelen zur künstlerischen Ästhetik zu suchen.380 Danach zeigt sich die „richtige“ unter mehreren „vertretbaren“ Lösungen am ehesten in einer Art Gesamtschau, die alle Aspekte juristischen Entscheidens (die „harte Realität“381 ebenso wie Normtext, Normzweck etc.) berücksichtigt. Einheitlichkeit im ästhetischen Urteil der Rechtsanwender sei durch die ähnliche, intensive (professionelle) Sozialisation der Juristen weitgehend gesichert.382 Nun tut diese knappe Zusammenfassung der Komplexität juristischer Ästhetik gewiss Unrecht. Und bei der Betrachtung des Rechts als ars boni et equi383 geht es auch zweifellos um mehr als um bloße „Geschmacksfragen“384. Der hier vermittelte Verdacht einer gewissen Unschärfe scheint mir dennoch zutreffend. Und man mag sich auch fragen, ob das Letztkriterium einer holistischen Ästhetik sich wirklich mit der mechanisch-technischen „Härte“ eines antagonistisch angelegten europäischen Rechtsdenkens der Moderne verträgt – oder nicht eher einem romantischen, vielleicht auch einem fernöstlichen Harmonie-Ideal entspricht.385 Jedenfalls aber stützt sich auch eine Ästhetik des Rechts letztlich nur auf den individuellen „belief“386 des Juristen – und dabei tröstet die Hoffnung, dass „in the long run“387 alle Andersgläubigen überzeugt sein werden, unter dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit rechtlicher Entscheidungen nur wenig. Im

_____ dung hingegen ist, anders als das subjektive Gefühl der Gerechtigkeit, auch in schwierigen Fällen nicht selten wenig aufregend – ähnlich, in anderem Zusammenhang, Lege, Abscheu Schaudern und Empörung, in: Byrd/Hruschka/Joerden, Jahrbuch für Recht und Ethik, 2006, S. 447, 471 ff. 379 Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 230 f. 380 Siehe erneut Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 226 ff.; sowie jüngst Lege, Rechtsphilosophie 2015, S. 28 ff.; ausführlicher bereits Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 306 ff. 381 Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 543. 382 Siehe Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 231 (insbes. Fn. 78). 383 Digesten 1.1.1. pr; zur historischen Qualifizierung der Juristerei als Kunst vgl. etwa Lepsius, Von Zweifeln zur Überzeugung, 2003, S. 228 ff. 384 So aber Anderheiden, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 26, 39, der entsprechende Ansätze daher für „unattraktiv“ erachtet. 385 Vgl. Großfeld, Zeichen und Zahlen, 2. Aufl. 1995, S. 219 ff.; sowie Richers, in: Lege, Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft, 2009, S. 271, 273 ff. 386 Vgl. Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 28 insbes. 387 Siehe Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 383.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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Übrigen lässt auch Lege erkennen, dass es „ganz am Ende“388 bei Orientierung an der Ästhetik des Rechts im Zweifelsfall nach wie vor auf „politische“ Kriterien wie Rasse, Geschlecht etc. (verallgemeinernd vielleicht: unterschiedliche Schönheitsideale?) ankommen kann389. Vor allem aber, und dies ist für Zwecke des vorliegenden Werkes letztlich allein entscheidend: Auch das Gefühl für Schönheit, für den Zusammenklang des Ganzen kann den Juristen im einzelnen Zweifelsfall einmal dergestalt im Stich lassen, dass er sich zwischen zwei gleich schönen (oder: hässlichen) Bildern nicht zu entscheiden vermag.

(7) Recht als Politik: Dezision Aus den bislang angestellten Überlegungen könnte man nun folgern, dass jedenfalls im Zweifelsfalle immer persönliche Glaubensüberzeugungen des Juristen den Ausschlag zugunsten einer bestimmten Entscheidung geben. Stellt man dieser Annahme als zweite Prämisse das „Prinzip Ehrlichkeit“ (oben B I 2 b bb) zur Seite, so erscheint es folgerichtig, einen möglichst offenen Umgang mit dem „politischen“ Wesen der Jurisprudenz zu fordern. Rechtsprechung ist dann auch Politik, insofern als sie im Zweifelsfalle immer Politik ist. Und der selbst-bewusste Richter ist geradezu verpflichtet, sich seiner persönlichen politischen Überzeugungen gewahr zu werden, sich von ihnen leiten zu lassen und sie im Urteil möglichst transparent zum Ausdruck zu bringen. Entsprechende Auffassungen sind in der Rechtstheorie der Vereinigten Staaten weit verbreitet,390 sie finden aber auch in der kontinentaleuropäischen Literatur Anklang391 – und haben dort ihre Vorläufer.392 Bereits an diesen Ursprüngen allerdings lassen sich erste Bedenken festmachen: Eine Jurisprudenz, die sich ganz offen als – und sei es nur im Zweifelsfal-

_____ 388 Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 231 (insbes. Fn. 78). 389 „Kann“ hier deshalb, weil nach Lege (ibid.) der Jurist an diesem Punkt hinreichend als solcher vorgeprägt sein wird, dass er derlei Kriterien zu ignorieren weiß. Diesen Optimismus teile ich insoweit, als er sich gegen überzogene Annahmen richterlicher Voreingenommenheit richtet. Jedoch deuten Erkenntnisse aus dem Bereich der Rechtssoziologie darauf hin, dass in Zweifelsfällen auch eine langjährige juristische Karriere nicht gegen außerrechtliche Weltanschauungen imprägniert – vgl. erneut die Praxisbeobachtungen bei Schmid, in: Schmid/Drosdeck/Koch, Rechtsfall, 1997, S. 159 ff. 390 Siehe hierzu bereits Richers, ZaöRV 2007, S. 509, 537 f. insbes. 391 Vgl. etwa Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 485 ff.; sehr deutlich erneut Rüthers, JZ 2011, S. 593, 600 f. 392 Am deutlichsten wohl im Denken von Carl Schmitt – vgl. etwa Schmitt, Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 20 ff. insbes.

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B. Grundlegung

le – politisch versteht, hat oftmals wenig Hemmungen, dem jeweils herrschenden politischen Zeitgeist auch dann zu folgen, wenn diesem das geltende Recht (noch) unzweifelhaft entgegensteht. Im Hinblick auf materielle Gerechtigkeit ist dies grosso modo zwar neutral zu bewerten – die Bewertung hängt jeweils davon ab, ob das positive Recht als materiell gerecht empfunden wird oder nicht.393 In jedem Fall geschwächt wird aber der Eigenwert des Rechts – als bewahrendes, retardierendes Moment.394 Man mag nun zwar darauf beharren, dass Recht eben ausschließlich im Zweifelsfalle politisch zu sein habe. Aber es scheint mir naheliegend, dass in der Psychologie des Juristen gleichwohl eine slippery slope betreten wird.395 Vielleicht ist im Ergebnis eine offen politische Justiz dennoch einer verdeckt politischen vorzuziehen (vgl. erneut oben B I 2 b bb). Umso mehr stellt sich die Frage, ob denn die eingangs beschriebene erste Prämisse zutrifft – ob Jurisprudenz im Zweifelsfalle wirklich nur eine politische sein kann. Festzuhalten ist dabei zunächst, dass es Rechtsetzung im „politikfreien Raum“ nicht gibt. Zwar lassen sich „technische“ Regeln anführen, bei denen politische Implikationen eher fern zu liegen scheinen, bei denen es vor allem darum geht, dass überhaupt entschieden wird (etwa: Rechts- oder Linksfahrgebot im Straßenverkehr; DIN-Normen).396 Zumeist jedoch gilt – auch im Zivilrecht – das Gegenteil. Scheinbar an „bloßer Zweckmäßigkeit“397 ausgerichtete Normen, wie die über das Maß an Vertragsautonomie, sind alles andere als neutral. Auch in diesen Regeln zeigen sich letztlich politische Präferenzen, etwa hinsichtlich (rechtlicher) Freiheit des Einzelnen und (tatsächlichem) sozialem

_____ 393 Insofern ist der Streit darüber, ob nun eher „der Positivismus“ oder seine Gegenströmungen die Unrechtsherrschaft des NS-Regimes befördert haben weitgehend müßig: Solange das Regime (rechtlich) noch nicht gefestigt war, hätte eine positivistischere Rechtsauffassung vielleicht manches Unrecht verhindern können; später dann mag ebendiese positivistische Haltung mancher Juristen systemstabilisierend gewirkt haben – in diese Richtung auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 300 ff. 394 Vgl. Lege, ARSP 2007, S. 21, 32 f. 395 Dies gilt insbes. dann, wenn sich die Ruf nach offen politischer Justiz paart mit einem sehr engen Wissenschaftsverständnis (vgl. Rüthers, JZ 2011, S. 593, 600 f.; dagegen die Replik von Canaris, JZ 2011, S. 879, 887 f. – der seinerseits dann aber wieder das Bedürfnis nach und die Berechtigung von „Werturteilen“ in der Rechtswissenschaft überbetont). 396 Genau besehen stellen sich sogar hier Wertungsfragen, etwa: Ist womöglich das Rechtsfahrgebot zur Unfallvermeidung gegenüber dem Linksfahrgebot vorzugswürdig? Wählt man als DIN-Norm die Maßgaben eines Marktteilnehmers (und benachteiligt damit dessen Konkurrenten) oder eine gänzlich neue Maßgabe (und verursacht damit der Industrie insgesamt höhere Umstellungskosten)? 397 Zum Topos der „Zweckmäßigkeit“ in diesem Sinne vgl. bereits kritisch oben B I 2 a ff.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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Ausgleich.398 Für die Jurisprudenz bedeutet dies: Sind Regeln des Rechts unklar, zweifelhaft, so sind auch richterliche Zweifelsentscheidungen letztlich politisch – es sei denn, es gelingt, ein äußeres, vergleichsweise einfach zu handhabendes Zweifelsinstrument zu finden, an dem der Richter wenigstens in einem Großteil der betreffenden Fälle seine Entscheidung unabhängig von eigenen politischen Präferenzen auszurichten vermag. Der „politischen“ Zweifelsentscheidung vorzuziehen wäre dies nicht nur zugunsten erhöhter Vorausberechenbarkeit und geringerer Zeitgeistabhängigkeit juristischer Entscheidungen. Denn zu diesen zwei wesentlichen Schwächen einer Jurisprudenz, die im Zweifel auf den „belief“ des Juristen setzt, tritt notwendig immer eine dritte: Auch am eigenen Glauben kann man zweifeln, zuweilen verzweifeln (vgl. insofern bereits die Erwägungen im vorstehenden Unterkapitel). Das Zweifelsproblem wird in diesen Fällen nicht behoben, sondern lediglich verschoben. Dies gilt unverändert auch dann, wenn der Glaube sich nicht hinter vermeintlich „objektiven“ Werten versteckt, sondern sich offensiv als politisch bekennt. Und daran ändert sich auch nichts, wenn die politischen Glaubensfragen im Rahmen einer „strukturierten“ Argumentation beantwortet werden;399 eine solche Struktur steigert gewiss die Nachvollziehbarkeit einer Entscheidung – letzter Halt der „Wertzumessung“400 bleibt aber: der Glaube.

bb) Mehrheit als Maßstab: Recht demokratisch? Die bislang beschriebenen Lösungsvorschläge unterscheiden sich in einigen Grundannahmen und zahlreichen Nuancen. Weitgehend teilen sie aber die vorstehend nochmals aufgeführten Schwächen. Die im Folgenden skizzierten Überlegungen zielen demgegenüber sämtlich darauf ab, Zweifel in der Rechtsanwendungen durch möglichst berechenbare, äußere Kriterien zu beheben. Sie beziehen sich entweder auf eine bereits bestehende „herrschende Meinung“ (1), auf den – antizipierten – Konsens eines formalisierten Diskurses (2) oder auf Lösungen anderer Rechtsordnungen (3). Dem gestellten Anspruch vermögen allerdings auch diese Ansätze nur teilweise gerecht zu werden. Im Übrigen sind sie jeweils aus weiteren Gründen kritikwürdig. Zur Lösung schwieriger juristischer Zweifelsfragen können sie daher allenfalls in wenigen Einzelfällen entscheidend beitragen.

_____ 398 Richers, ZaöRV 2007, S. 509, 528 f., m.w.N. 399 In diese Richtung Windisch, Rechtstheorie 2013, S. 61, insbes. 86 ff.; vgl. hierzu grundlegend Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, passim. 400 Windisch, Rechtstheorie 2013, S. 61, 86 u.a.

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B. Grundlegung

(1) Autorität: Die herrschende Meinung Kaum ein Entscheidungsinstrument ist in der Jurisprudenz wohl seit jeher401 derart gebräuchlich und zugleich entsprechend intensiver Kritik ausgesetzt wie das Kriterium der „herrschenden Meinung“.402 Bereits Studenten der Anfangssemester lernen, dass in einer Falllösung der Verweis auf „die h.M.“ die juristische Argumentation nicht ersetzen darf – dies aber nicht selten (mit stillschweigender Billigung des Prüfers) dennoch tut. In der gerichtlichen Praxis setzt sich dies fort, in Schriftsätzen der Anwälte ebenso wie im richterlichen Urteil.403 Zur Verteidigung dieses argumentum ex auctoritate sei daher zunächst gesagt: Die Berufung auf „herrschende Lehre“ und „herrschende Rechtsprechung“ (insgesamt: „herrschende Meinung“, kurz „h.M.“) hat durchaus ihre Vorzüge. Soweit eine Auffassung als deutlich „herrschend“ zu identifizieren ist, schafft die Verwendung dieses Zweifelsinstruments ein erhebliches Maß an Vorhersehbarkeit für die Parteien.404 Und auch inhaltlich spricht grundsätzlich nichts gegen die Annahme, dass der Konsens einer überwiegenden Zahl unabhängiger Rechtswissenschaftler die Richtigkeit ihrer Auffassung indiziert.405 Nun sind allerdings diese beiden Vorzüge durch Voraussetzungen bedingt, die in der Praxis nicht immer – um nicht zu sagen: eher selten – tatsächlich gegeben sind. Gerade in den wirklich schwierigen Fällen ist eine herrschende Meinung oftmals nicht hinreichend deutlich auszumachen; und wirklich „unabhängig“ – i.e.: nicht durch sachfremde Interessen geleitet – sind juristische Stellungnahmen in der Literatur ebenfalls nicht durchweg. Das Bestehen und Erkennen einer herrschenden Meinung erstens scheidet offenkundig zumindest dort aus, wo der Gesetzgeber ein Rechtsgebiet gänzlich neu geregelt hat – und sich dabei womöglich sogar gegen eine bislang bestehende herrschende Praxis wenden wollte. Ob eine Auffassung herrschend ist, lässt sich aber auch dann kaum erkennen, wenn umgekehrt bereits eine Vielzahl divergierender Stellungnahmen zu einer Rechtsfrage vorliegt.406 Diese Schwierigkeit verstärkt sich noch, wenn die Rechtsmeinungen ganz unterschiedlicher Gedankentiefe und Provenienz sind – wie etwa ist der Überblicks-

_____

401 Instruktiv insofern Conring, De Origine Iuris Germanici, 1643, übers. v. Hoffmann-Meckenstock, in: Stolleis, Der Ursprung des deutschen Rechts, 1994, S. 233 ff. 402 Vgl. etwa Pilniok, JuS 2009, S. 394 ff.; Drosdeck, Die herrschende Meinung, 1989, passim; sowie Wesel, Kursbuch 56 (1979), S. 88 ff., jeweils m.w.N. 403 Vgl. erneut Pilniok, JuS 2009, S. 394, 395. 404 Siehe Pilniok, JuS 2009, S. 394, 395; sowie Krebs, AcP 195 (1995), S. 171, 181 ff., 191; vgl. auch Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 95 Rn. 18. 405 Vgl. Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1080 f. 406 Ähnlich Krebs, AcP 195 (1995), S. 171, 192.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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aufsatz eines Doktoranden gegenüber der Habilitationsschrift eines Verfassungsrichters zu gewichten? Dies leitet über zu der Einsicht, dass zweitens juristische Stellungnahmen vielfach nicht in geistiger und wirtschaftlicher Unabhängigkeit erfolgen. Richter zwar sind – jedenfalls in ihren Urteilen – zur Neutralität verpflichtet. Für die Verfasser und Herausgeber juristischer Fachliteratur hingegen gilt dies nicht; hier entstehen (und entstanden wohl regelmäßig auch zu früheren Zeiten)407 Stellungnahmen nicht selten als „Zweitverwertungen“ anwaltlicher Schriftsätze, die im Rahmen eines Rechtsstreits gefertigt wurden – oder schlicht zum Zwecke der Mandantenwerbung bzw. als Auftragsgutachten zugunsten bestimmter Interessengruppen. Soweit in einem bestimmten Rechtsgebiet – typisch dürfte dies etwa für das Gesellschaftsrecht sein – die gegenläufigen Interessen (wirtschaftlich) ungefähr gleichstark vertreten sind, ist dies nicht weiter problematisch: Die parteiischen Stellungnahmen heben sich dann gegenseitig auf, und eine herrschende Meinung entsteht entweder nicht oder bildet sich anhand der verbleibenden „unabhängigen“ Stellungnahmen. Wenn jedoch – gerade im Öffentlichen Recht ist dies nicht selten – eine Seite besonders wirkmächtig vertreten ist, so bildet sich eine herrschende Meinung, die in Wirklichkeit eher die Meinung der (wirtschaftlich) Herrschenden ist.408 Auch dies ist grundsätzlich nicht weiter schlimm. Immerhin bereiten die entsprechenden Autoren zumindest teilweise dem Richter argumentativ das Feld – und die Richterschaft ist ganz überwiegend gewiss willens und in der Lage, sich dieser Argumentation nötigenfalls entgegenzustellen. Als Zweifelsinstrument scheidet die Berufung auf eine herrschende Meinung allerdings auch in diesen Fällen aus.

(2) Diskurs: Die herrschaftsfreie Meinung Wenn zwei oder mehr Personen aufeinandertreffen, kommunizieren sie – ob sie wollen oder nicht.409 Und zumindest die freiwillige Teilnahme an freiwilliger Kommunikation impliziert bestimmte Ansprüche – insbesondere den Anspruch

_____ 407 Instruktiv erneut Conring, De Origine Iuris Germanici, 1643, übers. v. Hoffmann-Meckenstock, in: Stolleis, Der Ursprung des deutschen Rechts, 1994, S. 233, 234 f. 408 Im Original: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“ [Hervorh. im Original] – Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in: SED, MEW, 1962, S. 9, 46. 409 „One cannot not communicate.“ lautet das Erste Axiom der Kommunikation nach Watzlawick/Beavin/Jackson, Human Communication, 1967, S. 51.

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B. Grundlegung

auf Konsensfähigkeit der eigenen Position.410 Daher lässt sich jeder Rechtsstreit mühelos als Diskurs begreifen, wenngleich als ein Diskurs besonderer Art.411 Folglich lassen sich Überlegungen zum kommunikativen Handeln im Allgemeinen grundsätzlich auch auf kommunikatives Handeln im Juristischen übertragen. Soweit diese Überlegungen vornehmlich deskriptiver Art sind,412 vermögen sie juristische Entscheidungen zwar nur zu erklären, naturgemäß nicht zu leiten. Umgekehrt mag man aber erwägen, ob rechtliche Zweifelsprobleme nicht dadurch zu lösen sind, dass der juristische Diskurs durch bestimmte Diskursregeln eingehegt und fortentwickelt wird.413 Im Ansatz sind diese Überlegungen vielversprechend. Immerhin lassen sich bereits zahlreiche de lege lata existierende prozessuale Vorschriften als Diskursregeln verstehen;414 solche Regeln tragen dazu bei, dass richterliche Entscheidungen möglichst vorhersehbar, nachvollziehbar und auf einer soliden (Tatsachen-) Grundlage ergehen. Insbesondere kennt das Prozessrecht mit dem Instrument der (Tatsachen-) Beweislast (dazu noch unter IV 3) bereits eine Zweifels-Diskursregel, die sich womöglich auch für schwierige Rechtsanwendungsprobleme dem Gedanken nach nutzbar machen ließe (zu diesem Kerngedanken des vorliegenden Werks siehe unter C). Allerdings haben die bis dato entwickelten Vorschläge einer diskursiven Lösung juristischer Probleme wenig gemein mit diesem Verständnis einer Diskursregulierung. Vielmehr zielen sie eher darauf ab, alle Zweifelsprobleme letztlich in einen (grundrechtlichen) Abwägungsprozess zu überführen – um dort zu einem Konsens zu gelangen.415 Dabei gilt es zwei verschiedene Diskurse zu unterscheiden: einerseits den vornehmlich internen, zeitlich begrenzten (hypothetischen) Diskurs auf der Richterbank; andererseits den externen, zeitlich grundsätzlich unbegrenzten (real stattfindenden) Diskurs in der Jurisprudenz insgesamt.416

_____ 410 Siehe im Einzelnen näher Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, S. 112 ff. 411 Siehe insbes. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 32 ff. u.a. 412 So etwa bei Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 2. Aufl. 1997, passim. 413 In diese Richtung insbes. Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 498 ff. u.a. Seine wissenschaftlich einflussreiche Schule findet sich in etlichen jüngeren Arbeiten deutscher wie internationaler Autoren wieder – etwa bei Bäcker, Begründen und Entscheiden, 2008, passim; Arango, Filosofia de la democracia, 2007, passim; krit. dagegen etwa Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, passim. 414 Besonders deutlich tritt dies hervor bei der vielleicht ältesten Diskursregel der europäischen Rechtskultur: Audiatur et altera pars – stets ist auch der anderen Seite Gehör zu schenken. Zum Anspruch auf rechtliches Gehör in seiner heutigen Ausprägung siehe jüngst etwa Effer-Uhe, GreifRecht 2014, S. 108 ff. 415 Vgl. erneut Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 508 ff. insbes. 416 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 32 ff. u.a.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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Die a.a.O. vorgeschlagene Strukturierung des ersten (hypothetischen) Diskurses vermag jedenfalls zur Lösung wirklich zweifelhafter Fälle wenig Neues beizutragen. Die dort betonte grundsätzliche Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien im Recht417 hat zwar einen gewissen Erkenntniswert; allerdings scheint der Fokus hierbei vielfach sehr stark auf der angeblichen Prinzipienhaftigkeit des Rechts zu liegen418 – insofern durchaus der Hypostasierung teleologischer Auslegung in der sogenannten Wertungsjurisprudenz ähnlich. Im Übrigen ist es zwar grundsätzlich wünschenswert, wenn richterliche (Abwägungs-) Entscheidungen anhand einer rationalen, formalisierten Begründung erfolgen. Nur handelt es sich hier eben oftmals um Scheinrationalität durch Formelhaftigkeit.419 Gewiss lässt sich ein einfacher Abwägungsprozess wunderbar als (mathematische) Formel darstellen. Bloß ist in der Praxis zumeist nicht der Modus der Abwägung schwierig – sondern die Gewichtung der zugrundeliegenden Prämissen420;421 und diese Gewichtung bleibt beim Modell eines internen richterlichen Diskurses letztlich eine Frage auch der persönlichen Präferenzen, des Glaubens.422 Und die Parteien, denen diese richterlichen Präferenzen vorab nicht bekannt sind, sehen sich wiederum einer „Blackbox“423 gegenüber. Der zweite (real stattfindende) Diskurs demgegenüber verspricht in the long run tatsächlich so etwas wie objektive – jedenfalls: äußerliche – Richtigkeit. Denn es erscheint unmittelbar einleuchtend, dass sich dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“424 unter ansonsten herrschaftsfreien Bedingungen alle – jedenfalls alle, die wirklich am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen wollen,425 – anschließen werden. Allerdings existieren in der Lebens-

_____ 417 Siehe hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 71 ff. insbes. 418 Vgl. erneut Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 508 ff. 419 Siehe Windisch, Rechtstheorie 2013, S. 61, 72 f.; vgl. auch Großfeld, Zeichen und Zahlen, 2. Aufl. 1995, S. 212 ff. insbes. 420 Bei z.B. der Abwägung von Berufs- und Glaubensfreiheit einerseits mit dem Tierschutz andererseits (BVerfGE 104, 337 – Schächten) also das Gewicht der jeweiligen Verfassungsgüter. Aus der Verfassung (bzw. ihrer Historie) lässt sich dieses Gewicht im konkreten Fall jedenfalls nicht zweifelsfrei rational herleiten. 421 Siehe jüngst etwa Windisch, Rechtstheorie 2013, S. 61, 71; ferner Krimphove, Rechtstheorie 2013, S. 315, zusammenfassend 338 f.; sowie Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 72 f. 422 Alexy gesteht selbst zu, dass von einer solchen Prinzipientheorie insofern nicht zu viel erwartet werden dürfe – siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 519 f. 423 Windisch, Rechtstheorie 2013, S. 61, 65. 424 Siehe hierzu Habermas, in: Fahrenbach, FS Walter Schulz, 1973, S. 211 ff. 425 Lege, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie, 2008, S. 207, 216 f. (Fn. 36).

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B. Grundlegung

wirklichkeit keine herrschaftsfreien Diskurse,426 mithin auch kein herrschaftsfreier Konsens (vgl. hierzu bereits das vorstehende Unterkapitel). Und im Übrigen kann auch ein über Jahrhunderte hinweg gewachsener Konsens zuweilen von späteren Generationen für gänzlich irrig erachtet werden. Dies freilich wäre noch verkraftbar. Jedoch scheitert der Konsens als Richtigkeitskriterium schlicht daran, dass es ihn in Zweifelfragen nicht gibt – jedenfalls im konkret zu entscheidenden Fall noch nicht gibt. Wenn aber im Diskurs über Zweifelsfragen der Dissens regiert, dann bleibt als artverwandtes Entscheidungskriterium nur der Rekurs auf die jeweilige Mehrheitsauffassung 427 – letztlich also erneut auf eine wie auch immer zu bestimmende „herrschende Meinung“.

(3) Rechtsvergleichung: Die Meinung der Anderen Wenn es zutrifft, dass alle Gesellschaften auf einer historischen Entwicklungsstufe dem Recht im Wesentlichen die gleichen Probleme aufgeben, dann steht zu vermuten, dass jeweils auch die gleichen Lösungen in Betracht kommen.428 Von dieser praesumtio similitudinis ist der Schritt nicht weit zu einer entsprechenden praescriptio similitudinis: Ist die Lösung eines bestimmten gesellschaftlichen Problems innerhalb einer Rechtsordnung zweifelhaft, so ließe sich danach bei der Entscheidungsfindung die (unzweifelhafte) Lösung einer verwandten Rechtsordnung heranziehen. Entsprechende Ansätze finden sich insbesondere in der Rechtsprechung des US Supreme Court – sind allerdings auch dort seit jeher umstritten.429 Daneben sind es vor allem Gerichte kleinerer (etwa: Schweiz,430 Liechtenstein431) und jüngerer Staaten (etwa: Südafrika432), die bei der Auslegung der eigenen Rechtsordnung auf ausländisches Recht zurückgreifen.433 Häufig handelt es sich dabei

_____ 426 Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 516. 427 Siehe Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, S. 127 ff. 428 Siehe Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 39. In jüngerer Zeit ist diese Annahme zunehmend (insgesamt aber wohl eher zu Unrecht) in Zweifel gezogen worden – vgl. zum Ganzen die Darstellung bei Richers, ZaöRV 2007, S. 509, insbes. 521 ff. 429 Siehe etwa United States vs. Smith, 18 U.S. 153 (1820), einerseits 160 f. sowie andererseits 181 f.; The Paquete Habana, 175 U.S. 677 (1900), einerseits 686 ff. sowie andererseits 799 f. 430 Vgl. bspw. BGE 126 III 129, 138, 143 ff. 431 Siehe StGH 2000/1, Leitsatz 1a, wonach es sicherlich gerechtfertigt sei, die Rechtsvergleichung als „fünfte Auslegungsmethode“ zu bezeichnen. 432 Siehe Markesinis/Fedtke, Tulane Law Review 2005, S. 11, 48 ff. 433 Siehe Madjarov, GreifRecht 2013, S. 75, 80, m.w.N.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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um Staaten, die bereits im Verlauf ihrer Gesetzgebung in hohem Maße fremdes Recht rezipiert haben und nunmehr über eine „hybride“434 Rechtsordnung verfügen.435 Cum grano salis trifft dieser Befund auch auf das gemeineuropäische Recht zu. Das vergleichsweise junge Unionsrecht entstammt letztlich – ungeachtet seiner Eigenheiten – den juristischen Traditionen der EU-Mitgliedstaaten und ist insoweit grundsätzlich offen für rechtsvergleichende Ansätze bei der Auslegung in Zweifelsfällen.436 Besonders deutlich kommt dies im Bereich der Grundrechte zum Ausdruck, wo Art. 6 III EUV und Art. 52 IV EuGRCh auf „gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ Bezug nehmen. 437 Der EuGH bedient sich insoweit in seiner ständigen Rechtsprechung einer Methodik der „kritisch-wertenden Rechtsvergleichung“438. Demgegenüber finden sich in der Rechtsprechung und im Schrifttum zum deutschen Recht nur sehr vereinzelt Belege für die Lösung von Zweifelsfällen mit Hilfe rechtsvergleichender Erkenntnisse. Abgesehen von Sonderfällen mit spezifischem Bezug zum ausländischen Recht439 dient der rechtsvergleichende Blick der Gerichte regelmäßig nicht der Auslegung im engeren Sinne; vielmehr sollen zumeist in Fällen der Rechtsfortbildung die praktischen Auswirkungen einer bestimmten rechtlichen Lösung am ausländischen Beispiel erörtert werden440 – und/oder die gefundenen Lösungen im Rechtsvergleich zusätzliche Bestätigung erfahren.441 Ähnlich vorsichtig erscheinen die meisten Stellung-

_____ 434 Also nicht weitgehend eigenständig und auch nicht eindeutig einer bestimmten „Rechtsfamilie“ zuordenbar – siehe Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 72. 435 Instruktiv erneut die Entscheidung des StGH Liechtenstein 2000/1. 436 Siehe etwa Sommermann, DÖV 1999, S. 1017, insbes. 1020. 437 Allerdings dient insofern die Rechtsvergleichung „nur“ dem Ziel, den gemeinsamen Grundrechtsbestand der EU-Mitgliedstaaten herauszuarbeiten. Untersucht wird mithin nicht ein aliud – untersucht werden vielmehr die Teile eines gemeinsamen Ganzen. 438 So etwa ausdrücklich Generalanwalt Trstenjak, Schlussantrag v. 15.10.2009, EuGH Rs. C-101/08, Rn. 69, 73 – Audiolux. 439 Siehe etwa BGH 88, 157, 161 – zur Auslegung von Normen, die auf internationalem Einheitsrecht beruhen; vgl. zu ähnlichen Fällen auch Madjarov, GreifRecht 2013, S. 75, 77 f. Bei der Anwendung ausländischen Rechts nach § 293 ZPO sind rechtsvergleichende Betrachtungen ohnehin oftmals geboten. 440 Siehe etwa BGHZ 35, 363, 389; sowie 39, 124, 132 – jeweils zu den Auswirkungen von Bestimmungen über immateriellen Schadensersatz auf die Pressefreiheit. 441 Vgl. jüngst etwa BVerfGE 128, 226, 253 f. – mit Bezugnahme auf die Rspr. des U.S. Supreme Courts, zum „Leitbild des öffentlichen Forums“ im Versammlungsrecht. Siehe eingehender zum Ganzen Madjarov, GreifRecht 2013, S. 75, 76 ff., m.w.N.

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B. Grundlegung

nahmen in der Literatur;442 nur ganz vereinzelt wird eine stärkere Berücksichtigung der Rechtsvergleichung als (Zweifels-) Instrument der Auslegung gefordert.443 Diese Zurückhaltung hat Gründe: Erstens sind oftmals – soweit es um die „großen“ gesellschaftlichen Fragen geht – die Probleme in verwandten Gesellschaften nicht nur ähnlich, sie sind auch ähnlich umstritten;444 wirklich zweifelhafte Grundsatzentscheidungen bleiben damit auch beim „Blick über den Tellerrand“ vielfach zweifelhaft. Zweitens sind – dies betrifft insbesondere, aber nicht nur „kleinteilige“ Auslegungsfragen – die Lösungen gesellschaftlicher Probleme zwar im praktischen Ergebnis ähnlich, in ihrer Struktur aber doch sehr verschieden;445 konkrete rechtliche Lösungen einer Rechtsordnung fügen sich daher häufig nicht in die Struktur einer anderen ein. Drittens muss die Heranziehung ausländischer Rechtsordnungen zur Lösung inländischer Rechtsprobleme erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken wecken;446 das Demokratieprinzip dürfte dem regelmäßig entgegenstehen. Und viertens schließlich sollte der Aufwand zur Ermittlung einer – oder gar mehrerer – fremder juristischer Problemlösungen nicht unterschätzt werden;447 es besteht insofern die Gefahr, hierbei einer bloßen Scheinlösung aufzusitzen.

c) Zwischenergebnis: Zweifel bleiben Ein Problem und keine Lösung: Wenn der bestehende Methodenkanon (vgl. B III 1–3) an der Entscheidung einer Rechtsfrage scheitert, und wenn diese Frage trotz des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots und trotz der Befugnis des Richters zur Rechtsfortbildung offen bleibt (vgl. B III 4 a) – dann vermögen die bis dato entwickelten Vorschläge zur Lösung juristischer Zweifelsfragen

_____

442 Vgl. etwa Starck, JZ 1997, S. 1021, insbes. 1024; Mössner, AöR 1974, S. 193, insbes. 209; Drobnig, RabelsZ 1986, S. 610, insbes. 628; sowie Aubin, RabelsZ 1970, S. 458 ff. 443 Vgl. insbes. Häberle, JZ 1989, S. 913, 916 ff.; siehe zum Ganzen ferner erneut Madjarov, GreifRecht 2013, S. 75, insbes. 80 ff., m.w.N. 444 Man denke exemplarisch an die Abtreibungsentscheidungen von BVerfG und USSC: einerseits BVerfGE 39, 1 (Schwangerschaftsabbruch I) und BVerfGE 88, 203 (Schwangerschaftsabbruch II) – andererseits Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973) und Planned Parenthood v. Casey, 505 U.S. 833 (1992). 445 Wiederum exemplarisch denke man an das Problem der Verkehrssicherheit von Grundstücken: einerseits, etwa in Deutschland, gelöst mittels (staatlichem) Grundbuch – andererseits, in den USA, gesichert durch die (privaten) Register sogenannter Title Insurances; vgl. hierzu etwa Kischel, ZVglRWiss 2005, S. 10, 24 f. 446 Besonders nachdrücklich Alford, American Journal of International Law 2004, S. 57, 58 ff.; zurückhaltender Madjarov, GreifRecht 2013, S. 75, 83 f., m.w.N. 447 Instruktiv Kischel, ZVglRWiss 2005, S. 10 ff.

III. Die Rechtsfindung: Auslegung und Subsumtion

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(B III 4 b) nur selten Abhilfe zu leisten. In manchen Fällen lässt sich zwar das eine oder andere448 Entscheidungsinstrument fruchtbar machen. In den wirklich schwierigen Fällen jedoch lassen sich anhand der vorstehend skizzierten Ansätze richterliche Zweifel nur selten ausräumen. Ohnehin ähneln sich viele dieser Ansätze – sie unterscheiden sich dann eher im Ton als im Ergebnis.449 In ihrem Kern lassen sich die wesentlichen Ansätze in zwei Gruppen einteilen: Soweit die Lösungsvorschläge sich auf das subjektive Empfinden des Juristen konzentrieren (vgl. B III 4 b aa), schwächen sie Orientierungssicherheit und rationale Kontrolle des Rechts. Diese Gefahr lässt sich durch das Abstellen auf externe Determinanten (vgl. B III 4 b bb) weitgehend vermeiden; allerdings führen die hier herangezogenen Determinanten nicht wesentlich über den bestehenden Methodenkanon hinaus und/oder sie sind verfassungsrechtlich angreifbar sowie in praxi schwierig zu handhaben.

5. Zusammenfassung Über die zentralen Kunstregeln der Anwendung von Rechtsnormen besteht – innerhalb der deutschen Rechtskultur – weitgehend Konsens: Eherne Ordnungsrahmen juristischen Entscheidens sind danach Justizsyllogismus (B III 1) und Subsumtion (B III 3) mit ihren Verschränkungen induktiver und deduktiver Schlüsse. Bei der darin eingebetteten Auslegung (B III 2) des Rechtstexts (B I) verlassen sich die Akteure (B II) von Rechtsstreitigkeiten noch immer zuvörderst auf die hergebrachten canones; höchst unterschiedlich gewichtet werden dort allerdings die Ergebnisse der einzelnen Auslegungsebenen; zudem sieht sich die wohl herrschende Auffassung vom „objektiv-teleologischen“ Auslegungshorizont – mit Blick auf die Bedeutung von Rechtssicherheit und Demokratieprinzip: sehr berechtigten – Angriffen ausgesetzt. Allerdings könnte auch eine stärker am mutmaßlichen Willen des historischen Normgebers orientierte Auslegungspraxis nicht verhindern, dass in besonders schwierigen Rechtsfällen Ungewissheit (bis hin zur Unentschiedenheit) besteht; dies gilt trotz des verfassungsrechtlichen Gebots hinreichender Bestimmtheit von Rechtsnormen und trotz der Befugnis des Richters zur Rechts-

_____ 448 Der zuweilen beklagte „Methodensynkretismus“ (vgl. bereits krit. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 183 f.) der Gerichte und der allgemeinen Rechtslehre ist insofern keineswegs zufällig. 449 In diese Richtung bereits Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 396 f.

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B. Grundlegung

fortbildung. Spätestens bei der methodischen Anleitung zur Lösung entsprechender Fälle findet sich dann eine wachsende Fülle unterschiedlicher Vorschläge (B III 4). Allen diesen Ansätze gemein ist freilich, dass sie das Problem bleibender Zweifel auf Seiten des Richters – und damit einhergehend: fehlender Orientierungssicherheit auf Seiten der Parteien – nicht lösen, sondern allenfalls punktuell mindern. Insofern ist die Rechtsfindungsdogmatik nicht nur vielfach umstritten – sondern an Scheidepunkten der Jurisprudenz zudem unvollständig. Und so gerät der Richter unweigerlich an Fragen, zu deren Beantwortung es ihm an Führung durch Auslegungsregeln und Grundsätze der Gerechtigkeit fehlt.450

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast B. Grundlegung IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

Auch im Bereich der Tatsachenfeststellung lassen sich Zweifel zuweilen nicht mit hinreichender Gewissheit ausräumen. Jedoch hindern die Zweifel dort eine begründete Entscheidung nicht. Lässt sich nämlich ein tatsächlicher Sachverhalt (1.) durch Beweiserhebung und Beweiswürdigung im engeren Sinne (2.) nicht hinreichend aufklären, so erfolgt als ultima ratio eine Entscheidung nach Grundsätzen der Beweislast (3.). Die folgende Darstellung beschränkt sich auf Grundzüge.451 Für das eigentliche Thema der vorliegenden Untersuchung – Entscheidung bei Zweifeln auf Rechtsfindungsebene – sind die inzwischen zahlreichen Verästelungen der Beweislastproblematik nämlich überwiegend ohne Belang. Von Interesse ist allein die mögliche Übertragung einer Beweislastgrundregel auf Zweifelsfragen der Rechtserkenntnis.

1. Der Begriff der Tatsache Beweiserhebung und -würdigung sowie das Instrument der Beweislast beziehen sich allein auf Tatsachen. Der Begriff der Tatsache mit seinen verschiedenen Facetten ist, entgegen dem ersten Anschein, ähnlich schwierig wie der Begriff des Rechts (zu diesem bereits unter B I 1). Für den beweisrechtlichen Tatsa-

_____ 450 Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, S. 18. 451 Ausgeklammert wird u.a. die Problematik des Anscheinsbeweises, des Beweisrechts auf gemeineuropäischer Ebene, weitestgehend auch mögliche Sonderproblematiken des Beweises im Verfassungsprozess sowie – abgesehen von Einzelbeispielen – die ausgefeilte Kasuistik in den übrigen einzelnen Rechtsgebieten.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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chenbegriff in diesem Abschnitt mag die folgende, hergebrachte Definition einstweilen genügen. Tatsache in diesem Sinne ist danach „alles, was zum Tatbestand der anzuwendenden Rechtssätze gehört und den Untersatz des richterlichen Syllogismus bildet; es sind die konkreten, nach Raum und Zeit bestimmten, vergangenen und gegenwärtigen Geschehnisse und Zustände der Außenwelt und des menschlichen Seelenlebens, die das objektive Recht zur Voraussetzung einer Rechtswirkung gemacht hat.“452

In den Randbereichen allerdings ist selbst dieser auf das Beweisrecht zugeschnittene Tatsachenbegriff unscharf und umstritten. Zweifelhaft ist etwa, ob und inwieweit auch die tatsächlichen Geltungsgrundlagen von Gewohnheitsrecht, allgemeine und spezielle Erfahrungssätze sowie prognostische Einschätzungen dem Tatsachenbeweis zugänglich sind.453 Auf einer zweiten Ebene kann zuweilen auch die Abgrenzung von Tatsachenbehauptung und Rechtsbehauptung Schwierigkeiten bereiten454 – insbesondere dann, wenn es sich bei dem Parteivorbringen um die „juristisch gefärbte Einkleidung einer Tatsachenbehauptung“455 handelt. Für die vorliegende Grundlegung kommt es auf diese Problemfälle allenfalls ganz am Rande an.

2. Beweiserhebung und -würdigung Ob im Zivilrecht oder im Öffentlichen Recht und Strafrecht – zumeist streiten sich die Parteien vor Gericht nicht allein um die geltende Rechtslage, sondern wenigstens auch (zuweilen: allein) um den jeweils zugrunde zu legenden Sachverhalt, also um Tatsachen im oben beschriebenen Sinne: Hat B dem K die Zahlung einer bestimmten Geldsumme versprochen – oder nicht? Hat P Schadstoffe in ein Gewässer eingeleitet – oder nicht? Hat A dem O mit einem Messer in den Unterleib gestochen – oder nicht? Die Sachverhaltsfeststellung wirft eine Reihe im Einzelnen durchaus schwieriger Grundfragen auf: Zunächst ist hier das Spannungsverhältnis zwischen Amtsermittlung und Parteibeibringung kurz zu beleuchten (a). Anschließend bedarf der Klärung, wann ein (streitiger) Sachverhalt als feststehend gilt (b). Und schließlich ist überblicksweise auf das Verfahren der Beweiserhebung einzugehen (c).

_____

452 453 454 455

Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 116 I 1. Siehe zum Ganzen eingehend Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 28 ff., m.w.N. Siehe etwa Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 128 ff. BGH, NJW 1974, 1865, 1866, m.w.N.

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B. Grundlegung

a) Amtsermittlung versus Parteibeibringung Da mihi factum, dabo tibi ius – dieser Grundsatz gilt als solcher nach wie vor: Die Parteien haben die entscheidungserheblichen Tatsachen beizubringen und ihr prozessuales Begehren zu bezeichnen, der Richter erkennt und spricht daraufhin das Recht.456 Zum (Tatsachen-) Beibringungsgrundsatz gibt es im deutschen Recht allerdings gewaltige Ausnahmen – insbesondere wird prima facie das gesamte Öffentliche Recht stattdessen vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrscht (aa). Äußerstenfalls kann dies sogar dazu führen, dass das Gericht trotz tatsächlicher Einigkeit der Parteien eigene Sachverhaltsermittlungen anstellt (bb).

aa) Amtsermittlung statt Parteibeibringung Wenn zwei sich streiten und ein Dritter den Streit entscheiden soll, dann ist es regelmäßig vorzugswürdig, wenn die Streitparteien selbst die relevanten Tatsachen „beibringen“: Dem Dritten spart dies Zeit, und die Parteien können zugleich sicherstellen, dass alle für sie bedeutsamen Fakten Eingang in das Verfahren finden. Probleme bereitet diese Vorgehensweise allerdings unter anderem dort, wo zwischen den Parteien ein starkes Ungleichgewicht herrscht. Klassischerweise – aber nicht immer und nicht nur – ist eben dies im Staat-Bürger-Verhältnis der Fall (also vor allem im Öffentlichen Recht, insbesondere Strafrecht); dann ist die Behörde457 – und später der Richter458 – darauf angewiesen, „von Amts wegen“ selbst Ermittlungen anzustellen, um den Sachverhalt aufzuklären. Rein „technisch“ gelten für diese Amtsermittlung in weiten Teilen die gleichen Maßgaben wie im Bereich von (Partei-) Beweiserhebung und -würdigung (dazu unter 2 b und c).459 Die Frage schließlich, wann im Einzelnen die Amtsermittlung den Beibringungsgrundsatz verdrängt, kann hier dahinstehen. Von größerem Interesse ist hingegen der Umstand, dass zuweilen die Amtsermittlung trotz redlichen Bemühens misslingt; die richterliche Aufklärung des Sachverhalts scheitert dann an der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts.460 Unzweifelhaft ist nur, dass der Richter auch in einem solchen Fall zur Entschei-

_____ 456 Vgl. § 253 II Nr. 2 ZPO i.V.m. § 137 I ZPO bzw. § 308 I ZPO; vgl. ferner auch § 284 ZPO sowie zur Erläuterung etwa Greger, in: Zöller, ZPO Kommentar, 30. Aufl. 2014, Vor § 284 Rn. 1 ff. 457 Vgl. § 24 VwVfG. 458 Vgl. § 86 I S. 1 VwGO. 459 Siehe die Verweisung in § 173 S. 1 VwGO. 460 Pestalozza, in: Glaeser, FS Boorberg, 1977, S. 185, 195.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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dung verpflichtet ist. Streiten lässt sich aber darüber, nach welchen Regeln eine entsprechende Entscheidung erfolgen soll. Ohne Nachteile ist jedenfalls keine der zur Auswahl stehenden Regeln; den Vorzug verdient letztlich – wie im Zivilrecht – das formale Instrument der Beweislast (zu Begründung und Alternativen siehe noch ausführlich unter 3).

bb) Amtsermittlung trotz Parteibeibringung Volenti non fit iniuria – nach diesem Grundsatz, so könnte man meinen, sei das Gericht stets an „unstreitigen“ Sachvortrag der Parteien gebunden. Im Zivilrecht trifft dies aufgrund des aus der Verhandlungsmaxime folgenden Beibringungsgrundsatzes in der Tat weitgehend zu – aber selbst hier gibt es Ausnahmen461. Im Rahmen des vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrschten Strafrechts steht der Streitstoff dahingegen nur sehr eingeschränkt462 zur Disposition der Parteien, Ähnliches gilt im (übrigen) Öffentlichen Recht.463 Insbesondere vor den Verwaltungs- und Strafgerichten kann mithin der Fall eintreten, dass die Parteien über den Ablauf des tatsächlichen Geschehens einig sind – und der Richter sich gleichwohl eigenständig eine Überzeugung bilden möchte und daher von Amts wegen Ermittlungen anstellt. Misslingt die Sachverhaltsaufklärung auf diesem Wege, stellt sich wiederum die Frage, nach welchen Regeln zu entscheiden ist (unten 3 b). Zu den denkbaren Alternativen gesellt sich dann allerdings noch eine weitere – die schlichte Hinnahme des einmütigen Parteivorbringens. In der Praxis dürfte diese Alternative allerdings regelmäßig ausscheiden: Wenn ein Gericht am einmütigen Tatsachenvortrag der Parteien derartige Zweifel hegt, dass es weitere Tatsachenermittlungen für erforderlich hält, so geschieht dies meist zum Schutze (insbesondere: nicht anwesender) Dritter.464 Wenn diese Ermittlungen am Ende nicht zur Aufklärung des Sachverhalts geführt haben, so dürfte regelmäßig der begründete Verdacht „einvernehmlichen Lügens“ weiterbestehen – weshalb wiederum eine Entscheidung nach Grundsätzen der Beweislast bzw. einer ihrer Alternativen zu treffen ist.

_____ 461 Etwa in Ehe- und Kindschaftssachen – vgl. § 616 und § 640 ZPO. 462 Vgl. § 244 II StPO. Man denke aber immerhin auch an § 153 f. StPO oder an 257c StPO. 463 Vgl. § 24 VwVfG sowie § 86 VwGO. 464 Man denke an Fälle kollusiven Zusammenwirkens, etwa im Sozialversicherungsrecht – vgl. insoweit exemplarisch BSG, Urt. v. 1.9.1999 – B 13 RJ 49/98 R –.

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B. Grundlegung

b) Beweiswürdigung: Maßstab und Maß Spätestens dann, wenn die Parteien nicht über eine gemeinsame Version des Sachverhalts einig werden, muss das Gericht sich eine Überzeugung darüber bilden, ob eine (und wenn ja, welche) der angebotenen Versionen zutrifft. Nach welchen abstrakten Kriterien eine Tatsache als „wahr“ anzusehen ist, ist im Einzelnen umstritten;465 dabei geht es um die Frage des hier sogenannten Beweismaßstabs. Umstritten ist aber auch der – richtigerweise als eigenständiges Problem zu behandelnde – erforderliche Grad der Überzeugung auf Seiten des Gerichts; dies firmiert allgemein unter dem Stichwort des Beweismaßes.466

aa) Beweismaßstab Für den Beweismaßstab gilt im deutschen Recht durchgängig – jedenfalls de lege lata467 – der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung.468 So hat etwa nach § 286 I S. 1 ZPO das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei.

Vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung gibt es einige gesetzlich bestimmte Ausnahmen, auf die etwa im Zivilprozessrecht § 286 II ZPO verweist. Darunter fällt u.a. die Beweiskraft des Protokolls nach § 165 ZPO.469 Im Übrigen meint „freie Beweiswürdigung“ auch nicht Willkür; der Richter ist sehr wohl gehalten, bei der Beweiswürdigung unter anderem Denk- und Naturgesetze sowie allgemeine Erfahrungssätze zu beachten.470 Diesen Schranken korrespondiert die richterliche Pflicht, im Urteil die Gründe anzugeben, die für seine Überzeugung leitend gewesen sind (siehe § 286 I S. 2 ZPO). Die Entscheidung über die Beweiskraft einzelner Beweismittel ist mithin nicht der Kritik und Überprüfung entzogen. Beweismaß-

_____ 465 Siehe im Überblick die Darstellung bei Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 28 ff. 466 Siehe hierzu Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 44 ff. 467 Siehe § 286 ZPO, § 261 StPO, § 108 I VwGO, § 128 I SGG, § 96 I FGO, § 84 S. 1 ArbGG. 468 Statt von „Beweismaßstab“ wird andernorts denn auch oft, etwas unscharf, schlicht von „Beweiswürdigung“ gesprochen – siehe etwa Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 286 Rn. 20. Unter „Beweiswürdigung“ wird in der vorliegenden Arbeit der gesamte Vorgang der richterlichen Beweismittelbewertung verstanden, also von der sinnlichen Wahrnehmung des Beweismittels (Zeuge, Urkunde etc. – siehe dazu noch unten) bis hin zur Entscheidung über die Beweiskraft (Beweis erbracht oder nicht) des Beweismittels. 469 Für weitere Beispiele siehe Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 286 Rn. 15. 470 Siehe Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 286 Rn. 10 ff., m.w.N.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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stab des deutschen Prozessrechts ist folglich die, soweit rational begründbar471 zu begründende, Wahrheitsüberzeugung des Richters.472

bb) Beweismaß Vom hier verwandten Begriff des Beweismaßstabs zu trennen473 ist die Frage des Beweismaßes. Beweismaß meint dabei den Grad der Überzeugung, der auf Seiten des Richters erreicht sein muss, damit davon gesprochen werden kann, der Beweis sei erbracht.474 Für den sogenannten Vollbeweis gemäß § 286 ZPO geht der BGH in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass „der für das praktische Leben brauchbare Grad an Gewissheit erforderlich ist, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese gänzlich auszuschließen.“475

Zuweilen bedarf es anstelle dieses Regelbeweismaßes allerdings eines geringeren,476 zuweilen womöglich auch eines erhöhten Grades richterlicher Überzeugung.477 Wenn nun von einem „für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit“ als Regelbeweismaß die Rede ist, so lässt sich eine gewisse Unschärfe dieser Bemessung nicht leugnen. Eine wesentlich genauere Bezifferung dürfte allerdings aussichtslos sein: Wer vermag schon zu sagen, er sei zu exakt 70, 80 oder 90 Prozent von einem bestimmten Geschehen überzeugt? Insofern lässt sich wohl nur grob definieren: „Brauchbare Gewissheit“ ist deutlich mehr als bloß „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ (51 Prozent) und etwas weniger als „keinerlei vernünftige Zweifel“ (99 Prozent). Dabei verfügt der Richter über erheblichen Entscheidungsspielraum – innerhalb dessen ihm die Wahl zwischen Beweisentscheidung und Beweislastentscheidung überlassen bleibt.478

_____

471 Manche Umstände, die für die Wahrheitsüberzeugung des Richters tragend sind, lassen sich nur sehr eingeschränkt rational begründen. Die Überzeugung beispielsweise, dass ein Zeuge lügt, lässt sich (für sich genommen, sofern also keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen) nur teilweise verstandesmäßig begründen. 472 Siehe ausführlich, mit Darstellung des historischen Meinungsstreits, Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 27 ff.; ferner etwa Greger, in: Zöller, ZPO Kommentar, 30. Aufl. 2014, § 286 Rn. 13. 473 Siehe Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 35 f. 474 Ibid. 475 BGHZ 53, 245, 255 f.; BGH, NJW 1970, 946; BGH, VersR 2003, 474. 476 Wichtigster, gesetzlich geregelter Fall: § 294 ZPO (Glaubhaftmachung). 477 Siehe Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 286 Rn. 21 ff.; krit. Greger, in: Zöller, ZPO Kommentar, 30. Aufl. 2014, § 286 Rn. 28. 478 Vgl. zum Ganzen Greger, in: Zöller, ZPO Kommentar, 30. Aufl. 2014, § 286 Rn. 17 ff.; sowie Hartmann, in: Baumbach, ZPO Kommentar, 2014, § 286 Rn 16 ff.

96

B. Grundlegung

c) Verfahren der Beweiserhebung Während die „innere“ Überzeugungsbildung des Richters (siehe oben b) nur teilweise gesetzlich normiert ist und sich detaillierter Regelung auch weitgehend entzieht, existieren für das „äußere“ Verfahren der Überzeugungsbildung in allen drei großen Rechtsgebieten eine Reihe gesetzlicher Vorschriften. Allgemein unterscheiden lässt sich dabei die Beweiserhebung durch Strengbeweis einerseits und durch Freibeweis andererseits.

aa) Strengbeweis Strengbeweis meint die Beweiserhebung in dem vom Gesetz (etwa §§ 355 ff. ZPO) vorgesehenen Verfahren und ausschließlich mit den im jeweiligen Prozessrecht ausdrücklich benannten Beweismitteln479.480

bb) Freibeweis Freibeweis demgegenüber heißt, dass der Richter bei der Beweiserhebung nicht auf die oben benannten Beweismittel beschränkt ist. Er kann stattdessen oder ergänzend auch andere Mittel der Überzeugungsbildung heranziehen – etwa eidesstattliche Versicherungen oder telefonische Auskünfte. Eine „freiere“ Beweiswürdigung (insbesondere ein geringeres Beweismaß, s.o.) ist dabei weder Voraussetzung noch Folge.481

3. Beweislast als ultima ratio Lässt sich eine entscheidungserhebliche Tatsache nicht anhand der jeweils zulässigen Beweismittel und mit dem jeweils erforderlichen Beweismaß feststellen, befindet sich der Richter in einem Dilemma: Das Rechtsverweigerungsverbot zwingt ihn zu einer Entscheidung;482 angesichts des (teilweise) unaufgeklärten Sachverhalts kann er aber „nicht wirklich“ wissen, zu wessen Gunsten diese Ent-

_____ 479 Im Zivilprozessrecht sind dies Augenschein (§§ 371 f. ZPO), Zeuge (§§ 373 ff. ZPO), Sachverständiger (§§ 402 ff. ZPO), Urkunde (§§ 415 ff. ZPO) und Parteivernehmung (§§ 445 ff. ZPO); ähnlich im Verwaltungsprozessrecht (vgl. §§ 96 I, 98 VwGO); nur die vier erstgenannten im Strafprozessrecht (vgl. §§ 72 ff., 48 ff., 86, 249 StPO). 480 Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 284 Rn. 15. 481 Siehe zum Ganzen Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 284 Rn. 15 ff. 482 Siehe noch unter C I; ferner etwa Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 35; vgl. auch Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 103 f.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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scheidung auszufallen hat. Aus dieser Perspektive drängt sich das Instrument der Beweislast förmlich auf. Mit anderen Worten: Die prozessuale Lage verlangt geradezu nach einer allgemeinen Regel, wonach der fehlende Nachweis bestimmter Tatsachen jeweils zu Lasten einer vorher bestimmten Partei zu gehen hat.483 Der Begriff der Beweislast (a) kann freilich Verschiedenes meinen. Erst recht umstritten ist in der Literatur das Regelsystem der Beweislast im Einzelnen (b). Die Praxisrelevanz dieses Systems hängt wesentlich von den Anforderungen ab, die an Beweismaß und -maßstab gestellt werden (c). Beachtung verdienen daneben – auch im Hinblick auf mögliche Parallelen bei der Zweifelsüberwindung in der Anwendung von Rechtsnormen – die Schwächen (d) sowie Alternativen (e) des Beweislastinstruments. Erst vor dem Hintergrund dieser Alternativen lässt sich das (verfassungs-) rechtliche Fundament der Beweislast überzeugend begründen (f).

a) Der Begriff der Beweislast Erneut: Wer im (Zivil-)484 Prozess eine bestimmte Rechtsfolge begründen will, der muss grundsätzlich zunächst einen entsprechenden Sachverhalt behaupten (Tatsachenbehauptung) und sodann nötigenfalls beweisen (Tatsachenbeweis).485 Kann er das Gericht mit seinem Beweisantritt nicht hinreichend überzeugen, verliert er den Prozess. Dies ist der Grundgedanke der Beweislast. Der Begriff der Beweislast ist im Einzelnen aber nicht ohne Schwierigkeiten, seine Verwendung uneinheitlich und zuweilen unpräzise:486 Er ist abzugrenzen vom Begriff der meist sogenannten Behauptungslast und kann im Einzelnen weiter aufgegliedert werden. Der Kern und die wesentlichen Erscheinungsformen von Behauptungs- und Beweislast zeigen sich jedoch vorab am ehesten in der praktischen Anschauung.

_____ 483 Nach Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 1, kommt daher keine Rechtsordnung ohne Normen der Beweislast aus; zurückhaltender Hartmann, in: Baumbach, ZPO Kommentar, 2014, Anh § 286 Rn. 4, nach dessen Auffassung die Rede von der Beweislast als „Rückgrat des Zivilprozesses“ übertrieben ist. 484 Im Verwaltungsprozess (ähnlich im Strafprozess) sind, aufgrund der dort herrschenden Untersuchungsmaxime, die Behauptungs- und Beweisobliegenheiten der Parteien grds. auf den Umfang der jeweiligen Mitwirkungspflichten beschränkt – siehe etwa Kothe, in: Redeker/ von Oertzen, VwGO, 15. Aufl. 2010, § 108 Rn. 11. Zur Beweislast im Öffentlichen Recht und im Strafrecht siehe noch unter b bb. 485 Siehe Greger, in: Zöller, ZPO Kommentar, 30. Aufl. 2014, Vor § 284 Rn. 1 ff.; ferner erneut auch Kothe, in: Redeker/von Oertzen, VwGO, 15. Aufl. 2010, § 108 Rn. 10. 486 Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 286 Rn. 46.

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B. Grundlegung

Ein Beispiel: Will aufgrund des § 433 II BGB der Verkäufer vom Käufer den Kaufpreis für eine Sache verlangen, so muss er vor Gericht zunächst einmal (1a) behaupten, dass er mit dem Gegner einen Kaufvertrag geschlossen hat, dass der Kaufpreis in entsprechender Höhe fällig ist usw.; will nunmehr der Beklagte dennoch nicht zahlen, so muss dieser wiederum (1b) behaupten, der Vortrag des Klägers sei unzutreffend oder aber es lägen „Hindernisse“ vor, etwa sei inzwischen Verjährung eingetreten. Hat also der Beklagte den Vortrag des Klägers bestritten, so muss nun (2a) grundsätzlich letzterer beweisen, dass seine eigenen Behauptungen zutreffen; daraufhin (2b) kann der Beklagte entweder versuchen, einen Gegenbeweis zu führen und/oder seinerseits die behaupteten Hindernisse beweisen.

Erstens zeigt dieses Beispiel, dass unterschieden werden muss zwischen Behauptungs- (Sätze zu 1) und Beweislast (Sätze zu 2). Behauptungslast meint allgemein gesprochen die Obliegenheit der Parteien, Tatsachenbehauptungen vorzutragen, die die von ihnen begehrte Rechtsfolge stützen; Beweislast meint demgegenüber die Obliegenheit der Parteien, die jeweils behaupteten Tatsachen auch so zu belegen, dass das Gericht sie für wahr erachtet. Die Behauptungslast ist im Grunde also eine Vorfrage der Beweislast. Behauptungs- und Beweislast hinsichtlich einer bestimmten Tatsache treffen i.d.R. (anfänglich) dieselbe Partei. Dies muss aber keineswegs der Fall sein. Bei sogenannter Beweislastumkehr (Bsp.: § 476 BGB) muss die eine Partei eine bestimmte Tatsache (Bsp.: Sachmangel der Kaufsache bei Gefahrübergang) zwar behaupten – nicht aber beweisen. Zweitens – und in Fortführung des zuletzt Gesagten – lässt sich erkennen: Behauptungs- und Beweislast durchlaufen verschiedene Stationen (oben Sätze zu a und b). Erst wenn der Kläger bestimmte Tatsachenbehauptungen aufgestellt hat, ist der Beklagte gehalten, Gegenbehauptungen aufzustellen; erst wenn der Kläger für (bestrittene) Tatsachenbehauptungen den Beweis angetreten hat, ist der Beklagte gehalten, entsprechende Gegenbeweise beizubringen. Im Grunde gleicht dieses Für und Wider einem formalisierten Spiel, etwa einem Tennisspiel: Hat der eröffnende Spieler den Ball ins Feld des Gegners geschlagen (und erst dann) kann und muss dieser (will er den Punkt nicht verlieren) retournieren. Bei der Obliegenheit zu Behauptung und Beweis kommt es also zu „Lastwechseln“. Um dieses Wechselspiel näher zu beschreiben, wird in der Literatur z.T. der Unterschied zwischen einerseits „abstrakter“ und andererseits „konkreter“ Behauptungs- bzw. Beweislast betont.487 Abstrakte Last meint dann die Frage, welche Behauptungen eine Partei ungeachtet eines Vortrags der Gegenseite, insbesondere also zu Prozessbeginn, aufstellen muss, um ihr Prozessziel zu erreichen (Anfangslast).488 Konkrete Last meint hingegen die Obliegenheit einer Partei im Hin-

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487 Siehe etwa Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 286 Rn. 72. 488 Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 286 Rn. 72.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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blick auf den entsprechenden Vortrag der Gegenpartei im jeweiligen Stadium des Verfahrens. Sonderlich erhellend ist das Gegensatzpaar „abstrakt/konkret“ nicht. Festhalten lässt sich aber: Es gibt zum einen eine feststehende (= abstrakte) Behauptungs- und Beweislast (zu deren Herleitung siehe noch unter f), zum anderen eine wandelbare, verfahrensabhängige (= konkrete) Last. Drittens lässt sich das obige Beispiel aus zwei Perspektiven betrachten – aus der Perspektive der Parteien einerseits, aus dem Blickwinkel des Gerichts andererseits. Aus Sicht des Gerichts geht es um die Frage, wie zu entscheiden ist, wenn keine genügenden Tatsachenbehauptungen oder -beweise vorliegen (sog. objektive – Seite der – Behauptungs-/Beweislast); aus Sicht einer Partei geht es darum, welche Behauptungen sie aufstellen und Beweise sie beibringen muss, um im Prozess Erfolg zu haben (sog. subjektive – Seite der – Behauptungs-/Beweislast).489 Auch diese Unterscheidung ist, da es letztlich um zwei Seiten einer Medaille geht, wenig aufschlussreich.490 Viertens setzt das Beispiel implizit bereits eine Grundregel der „Lastverteilung“ voraus: Behaupten und beweisen muss grds. immer derjenige, der aus der positiven Behauptung oder dem entsprechenden Beweis eine ihm günstige Rechtsfolge herleiten möchte.

b) Das Regelsystem im Einzelnen Mit der letztgenannten Definition ist die Grundregel der Beweislast freilich noch höchst ungenügend umrissen. Sie soll im Folgenden eingehender erläutert werden (aa). Einer gesonderten Betrachtung bedarf im Anschluss die Übertragung der zivilprozessualen Beweislastgrundregel auf das (einfache) Öffentliche Recht (bb), bevor auf eine Reihe von Ausnahmen und Sonderfällen eingegangen werden kann (cc).

aa) Die Grundregel im Zivilprozessrecht Als Grundregel der Beweislastverteilung ganz herrschend ist heute – jedenfalls im Geltungsbereich des Zivilprozessrechts – das normtheoretische und hier sogenannte Rosenberg-Modell (1). Gegenüber allen vorgeschlagenen und sonst

_____ 489 Siehe etwa Greger, in: Zöller, ZPO Kommentar, 30. Aufl. 2014, Vor § 284 Rn. 18; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 286 Rn. 46 ff.; sowie zum Verwaltungsprozessrecht Kothe, in: Redeker/von Oertzen, VwGO, 15. Aufl. 2010, § 108 Rn. 10 f. 490 In der vorliegenden Arbeit wird die Differenzierung zwischen subjektiver/objektiver sowie konkreter/abstrakter Beweislast nur am Rande eine Rolle spielen. Sofern nicht anders bezeichnet, ist regelmäßig die abstrakt-objektive Beweislast gemeint.

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B. Grundlegung

denkbaren Alternativen ist es klar vorzugswürdig (2). Ein Gutteil der z.T. noch immer aktuellen Kontroverse erledigt sich freilich bei genauerem Hinsehen; etliche Alternativen zum Rosenberg-Modell stellen nämlich nicht eigenständige (Beweislast-) Regeln dar, sondern lediglich Gründe für Regeln (3).

(1) Das Rosenberg-Modell Das Rosenberg-Modell491 als Ausgangsregel der Beweislast ist in seiner Grundform von genialer Schlichtheit. Es beruht im Kern auf lediglich zwei Thesen. Erstens seien von demjenigen, der einen Anspruch oder ein sonstiges Recht geltend macht, die Voraussetzungen der rechtsbegründenden Norm zu beweisen, während der Gegner im Streitfall die Voraussetzungen der rechtsvernichtenden, der rechts(entstehungs-)hindernden und der rechtshemmenden Normen492 zu beweisen hat.493 Dieser in der vorliegenden Arbeit sogenannte Cuiprodest-Grundsatz war bereits als § 193 im Ersten Entwurf des BGB von 1888 enthalten.494 Er wurde offenbar allein deshalb nicht in das BGB aufgenommen, weil man ihn zu jener Zeit für selbstverständlich hielt.495

_____ 491 Wenn gemeinhin von der Normentheorie Rosenbergs oder, wie hier, gar vom RosenbergModell die Rede ist, so insinuiert dies die Autorenschaft einer einzelnen Person. Richtig daran ist, dass Leo Rosenbergs Hauptwerk (Erstauflage: Die Beweislast nach der Civilprozessordnung und dem Bürgerlichen Gesetzbuche, 1900) noch heute durch seine systematische Geschlossenheit und sprachliche Überzeugungskraft beeindruckt; der Einfluss dieses Werks, das mehrfach neu aufgelegt wurde und in Übersetzung weltweit Verbreitung gefunden hat, kann kaum überschätzt werden. Richtig ist auch, dass Rosenbergs Gedanken im Detail einige Neuerungen mit sich brachten und im Übrigen bloße Axiome in deduktive ableitbare Grundsätze verwandelten. Zu beachten ist jedoch, dass wesentliche Aussagen seines Werks zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits – freilich teilweise umstrittenes – Gemeingut der Rechtswissenschaft waren. 492 Sprachlich genauer (insbes. für die Zwecke der hiesigen Darstellung) wären die Bezeichnungen „tatbestandsvernichtend“, „tatbestands(entstehungs)hindernd“ und „tatbestandshemmend“. Zugunsten allgemeiner Verständlichkeit soll auf diese Neologismen verzichtet werden. 493 Siehe Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 98; sowie die Darstellung bei Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 102; aus der st. Rspr. etwa BGHZ 20, 109, 111; BGH, NJW 2005, 2396; BGH, NJW 2013, 1299, 1300; für das Öffentliche Recht BVerwG, DÖV 1979, 603; aus der Kommentarliteratur etwa Hartmann, in: Baumbach, ZPO Kommentar, 2014, Anh 286 Rn. 3; sowie Greger, in: Zöller, ZPO Kommentar, 30. Aufl. 2014, Vor § 284 Rn. 17a. 494 Siehe Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 35, 46; Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 108 f. 495 Siehe Prot., Bd. I, S. 259; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 312; sowie Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 109, jeweils m.w.N.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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Zweitens, und dies ist dann der eigentliche Clou des Cui-prodest-Grundsatzes, hat Rosenberg gezeigt,496 dass die Normen des materiellen Rechts sich sämtlich in entsprechende von ihm so genannte „Grundnormen“ bzw. Anspruchsnormen einerseits und „Gegennormen“ andererseits einteilen lassen: Die Grundnormen seien danach rechtsbegründend oder -erzeugend; die Gegennormen entweder rechtshindernd (genauer: rechtsentstehungshindernd), rechtsvernichtend oder rechtsausschließend bzw. -hemmend.497 Beide Thesen sind in ihrem Kern in Praxis und Rechtslehre kaum umstritten, insbesondere die Judikatur ist dem Rosenberg-Modell seit langem fest verhaftet.498 Streitig ist allerdings nach wie vor – neben manchen Einzelheiten – die dogmatische Begründung der entsprechenden Beweislastregeln. Rechtspolitisch wird im Übrigen kritisiert, das Rosenberg-Modell sei zu starr, dem Einzelfall nicht immer angemessen.499

(2) Alternative Grundregeln In der Literatur wurde daher in der Vergangenheit auch eine ganze Reihe alternativ denkbarer Beweislastgrundregeln erörtert. Einigkeit besteht dabei insoweit, dass die Beweislastverteilung nicht (allein) aus der Parteirolle gefolgert werden kann.500 Schließlich wäre kaum zu begründen, warum in jedem denkbaren Falle und für sämtliche „Stationen“ des Prozesses der Kläger (oder der Beklagte) ein höheres Beweisrisiko zu tragen haben sollte als sein Gegner. Ob ein materielles Recht vom Anspruchsinhaber in einer Leistungsklage geltend gemacht oder vom Anspruchsgegner in einer negativen Feststellungsklage bestritten wird, soll also grundsätzlich keine Rolle spielen. Anders ist dies natürlich hinsichtlich der subjektiven, das heißt anfänglichen, Behauptungslast: Diese folgt unbestritten weitgehend der Parteirolle (siehe oben a).

_____ 496 Siehe Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 99 ff.; ferner etwa die Darstellung bei Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 110 f.; zur Kritik siehe noch im Folgenden unter (2) sowie unter d. 497 Siehe erneut Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 99 ff.; sowie Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 110 f. 498 Siehe nur die Darstellungen der in Fn. 493 Genannten, jeweils m.w.N.; ferner noch die zahlreichen Nachweise bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 22; sowie Engisch/Würtenberger, Einführung, 10. Aufl. 2005, S. 2 f., Fn. 15. 499 Dies gilt insbesondere für die Anwendung im Öffentlichen Recht – siehe exemplarisch eingehend Wernitz, Non liquet im öffentlichen Baurecht, 2008, S. 88 ff., zusammenfassend S. 233. 500 Siehe etwa BGH, NJW 1986, 2508; sowie Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 109, m.w.N.

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B. Grundlegung

Zu Recht nicht durchsetzen konnte sich auch der Vorschlag, die Beweislastverteilung nach freiem Ermessen des Richters zu bestimmen.501 Eine Beweislastverteilung nach freiem Ermessen würde das Beweisrisiko gänzlich uneinschätzbar machen. Dies wiederum widerspräche dem Grundsatz der Rechtssicherheit502 und führte die Idee des Instruments der Beweislast ad absurdum. Auf ähnliche Bedenken stößt eine „Beweislastregel“503, die die Beweislast danach verteilen möchte, dass der weniger wahrscheinliche tatsächliche Vorgang zu beweisen ist.504 Die gesamte Tatsachenentscheidung verschiebt sich hier in den Bereich der Beweiswürdigung;505 als „bewiesen“ gilt dann nämlich nicht mehr nur das, wofür eine „sehr hohe Wahrscheinlichkeit“ spricht (siehe oben 2 b bb), sondern auch das, was bloß (minimal) überwiegend wahrscheinlich scheint. Gewiss könnte man so verfahren. Immerhin würde die durchgängige Orientierung am Maßstab der Wahrscheinlichkeit wohl eher dem Wunsch nach Gerechtigkeit im Einzelfall entgegen kommen. Wenn minimal überwiegende Wahrscheinlichkeiten für die Entscheidung des Richters hinreichen, entstehen allerdings bei den Parteien vor und während des Prozesses erhebliche Rechtsunsicherheiten. Außerdem versagt der Vorschlag durchgängiger Entscheidungen nach Geschehenswahrscheinlichkeit dort, wo (nach Überzeugung des Richters) zwei oder mehr Geschehensabläufe gleich wahrscheinlich sind. Noch weniger Rechtssicherheit schafft der Grundsatz in dubio pro ratione legis506 – sofern man ihn materiell-weit und nicht, wie im Rosenberg-Modell, formaleng versteht. Denn die eine ratio gibt es zumeist nicht: Häufig stehen hinter einer Regel des materiellen Rechts gleich mehrere Gründe (vgl. noch unten (3) – der „wichtigste“ dieser Gründe könnte nur im Rahmen eines nicht selten komplizierten507 Abwägungsprozesses ermittelt werden. Insofern bedarf es dringend einer Rückbesinnung darauf, wozu Regeln eigentlich da sind: Regeln dienen erstens der Erzeugung materiell gerechter Ergebnisse im Einzelfall – wobei im parlamenta-

_____ 501 So noch Gautschi, Beweislast und Beweiswürdigung, 1913, S. 10 ff., 18 ff. 502 Siehe Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 110, m.w.N.; vgl. auch oben I 2 a gg. 503 Im Grunde handelte es sich um das Gegenteil – nämlich um die Abschaffung von Beweislastregeln. Siehe insofern noch ausführlicher unter e bb (1). 504 Dafür etwa Kegel, in: Biedenkopf/Coing et al., FS Kronstein, 1967, S. 321, 335; sowie Reinecke, Beweislastverteilung, 1976, passim. Zur Kritik siehe erneut Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 114 f.; sowie dezidiert Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 86 f., jeweils m.w.N. 505 Dies als solches ist methodisch noch nicht zu beanstanden – entgegen Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 115. 506 Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 243. 507 Vgl. nur den Versuch einer quasimathematischen Darstellung bei Alexy, GreifRecht 2010, S. 69 ff.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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risch-demokratischen Verfassungsstaat grundsätzlich die Gerechtigkeitsvorstellungen von Verfassungsgeber und Parlamentsmehrheit maßgeblich sind; Regeln dienen zweitens, und dies wird von den Apologeten eines allüberwölbenden diskursiven Abwägungsprozesses508 zuweilen gern übersehen, aber auch der Erzeugung von Klarheit und Erwartungssicherheit (siehe zum Ganzen schon unter III 2 b dd). Im Übrigen würde aus einer materiell-teleologischen Beweislastgrundregel neben Rechtsunsicherheit auch eine Unzahl prozessual falsch aggregierter Beweisobliegenheiten folgen: Bei einem „verbraucherschützenden“ Gesetz etwa hätte dann wohl generell der „Unternehmer“ die Beweislast zu tragen – auch z.B. in Fällen, in denen der „Verbraucher“ erheblich beweisnäher ist. Ebenfalls nur vordergründig zu mehr Einzelfallgerechtigkeit führen Vorschläge, die eine Beweislastverteilung anhand bestimmter allgemeiner materieller Prinzipen (insbes.: Grundrechte, Treu und Glauben) vorsehen. Solche Ansätze finden sich nicht nur, 509 aber doch vornehmlich in der Literatur zur Beweislastverteilung im Öffentlichen Recht510 (siehe daher noch näher unter bb). In eine ähnliche Richtung gehen Überlegungen, nach denen sich die Beweislastverteilung an bestimmten formalen Prinzipien zu orientieren habe; ein entsprechender Vorschlag im Haftungsrecht etwa geht von der Zuweisung persönlicher Gefahrenbereiche aus.511 Auch hier erweist sich die Abgrenzung aber als im Einzelfall höchst schwierig.512

(3) Regeln und Gründe für Regeln Vor allem der letztgenannte Alternativvorschlag zum Rosenberg-Modell macht das Bedürfnis für eine Unterscheidung deutlich, die in der Diskussion um Fragen der Beweislast leicht übersehen wird: die Unterscheidung zwischen Regeln und (rechtspolitischen) Gründen für Regeln513.514 Etliche Gesichtspunkte, die

_____ 508 Dies gegen Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 143 ff., 508 ff. Generell zur Entgrenzung der Auslegung siehe kritisch schon Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, passim. 509 Zum Haftungsrecht siehe etwa Wahrendorf, Prinzipien der Beweislast, 1976, passim. 510 Siehe Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, insbes. S. 55 ff., m.w.N.; sowie ferner auch Huster, NJW 1995, S. 112 f. 511 Siehe etwa Prölss, Beweiserleichterungen, 1966, S. 63 ff. 512 Siehe Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 116 – mit Hinweisen zu noch weiteren denkbaren Alternativmodellen auf den Folgeseiten. 513 Zu dieser Unterscheidung im Allgemeinen siehe grundlegend Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 90 ff. In dieselbe Richtung ging bereits die Analyse von Esser, Grundsatz und Norm, 4. Aufl. 1990, passim. 514 Ähnlich Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 121.

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B. Grundlegung

zuweilen als „Beweislastregeln“ firmieren, sind in Wirklichkeit nämlich nur Gründe für Regeln zur Verteilung der Beweislast – und zwar Gründe entweder für die allgemeine Cui-prodest-Regel oder Gründe für Ausnahmen hierzu. Gründe für die Cui-prodest-Regel sind etwa das sogenannte Angreiferprinzip515 sowie das Prinzip der prozessualen Waffengleichheit.516 Die besseren Aufklärungsmöglichkeiten einer Partei517 sowie das Prinzip der Gefahrerhöhung518 sprechen oft ebenfalls für die Anwendung der Cui-prodest-Regel – können im Einzelfall aber auch ebenso einmal zur Begründung von Abweichungen herangezogen werden wie die Grundrechte Betroffener oder bestimmte gesetzliche bzw. vertragliche Regelungen. Ob und inwieweit bestimmte Gründe eine Abweichung von der Cui-prodest-Regel gebieten, kann allerdings im Einzelfall schwierig zu beurteilen sein (hierzu noch unter cc). Bleibt die Frage, ob und woraus sich das Gebot einer Entscheidung per Beweislast nach dem Cui-prodest-Grundsatz im Rosenberg’schen Sinne dogmatisch – d.h. letztlich: verfassungsrechtlich – herleiten lässt. Darauf wird, in bewusster Umkehr der üblichen Darstellung, gegen Ende dieses Kapitels (unter ff) zurückzukommen sein – nachdem Funktionsweise, Probleme und Grenzen von Beweislastentscheidungen hinreichend geklärt sind.

bb) Übertragung auf das Öffentliche Recht und Strafrecht Entgegen dem ersten Anschein lässt sich das Rosenberg-Modell für die Beweislastverteilung auch im (einfachen)519 Öffentlichen Recht520 und sogar im Strafrecht weitgehend unverändert anwenden. Auch dort lassen sich nämlich Klageziele durchweg in Anspruchsform formulieren (1). Keine wesentlichen Abweichungen fordert daneben die Herrschaft der Untersuchungs- anstelle der

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515 Siehe Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 116 f.; sowie mit Einschränkungen auch Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 135 f., der letztlich alle Gründe für Beweislastregeln auf das von ihm sogenannte „heuristische Prinzip“ zurückführen möchte – also auf die abstrakte Wahrscheinlichkeit für einen bestimmten Geschehensablauf. 516 Siehe Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 118 f. 517 Siehe Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 119. 518 Siehe Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 117 f. 519 Das Verfassungs(prozess)recht soll hier weitgehend ausgeklammert bleiben – das Problem (konkreter) Tatsachenermittlung stellt sich dort seltener. Im Ergebnis dürfte allerdings auch dort das Rosenberg-Modell als Beweislastgrundregel Anwendung finden – so im grundsätzlichen Ergebnis etwa auch Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, S. 38, der allerdings eine ganze Reihe zusätzlicher spezifisch verfassungsrechtlicher Sonderregeln aufstellen möchte (ibid., S. 39 ff., insbes.). 520 Im Öffentlichen Recht haben Fragen der Beweislast erst relativ spät Beachtung gefunden –siehe Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 4 f.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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Verhandlungsmaxime (2). Einwände ergeben sich aus der besonderen Natur des Öffentlichen Rechts und Strafrechts (Staat-Bürger- statt Bürger-Bürger-Verhältnis); auf die Beweislastverteilung hat dies aber im Ergebnis – nach hier vertretener Auffassung – ebenfalls keinen entscheidenden Einfluss (3). Schwierigkeiten bereitet freilich zuweilen die Sprachform verwaltungsrechtlicher Normen; ein unüberwindbares Hindernis ist auch dies nicht (4).

(1) Anspruchsstruktur auch im Öffentlichen Recht Festzuhalten ist zunächst, dass eine jede Klage im Öffentlichen Recht sich mit geringem Aufwand in Anspruchsform umformulieren lässt. Dies ergibt sich bereits daraus, dass klagbare Rechte521 im Öffentlichen Recht grundsätzlich nur subjektive Rechte sind.522 „Subjektives Recht“ aber meint nach allgemeiner Definition nichts anderes, als die Rechtsmacht – und mithin den Anspruch –,523 von einem Träger öffentlicher Gewalt ein „Tun, Dulden oder Unterlassen“ verlangen zu können.524 In der Praxis des Verwaltungs-525 wie des Verfassungsprozesses526 zeigt sich: Zunächst hat der Bürger ein solches subjektives Recht (einen Anspruch) geltend zu machen – auf verfassungsrechtlich oder einfachrechtlich gewährte Freiheit (etwa aus Art. 2 I GG), Schutzmaßnahmen (z.B. gegen Freiheitsbetätigung Dritter) oder Leistungen (etwa auf Rentenzahlung) vom bzw. durch den Staat. Sofern dieser Anspruch dem Grunde nach besteht, kann der Beklagte sich dagegen nur verteidigen, wenn er geltend macht, dem jeweiligen Anspruch stehe ein Gegenrecht gegenüber – insbesondere eine Eingriffsermächtigung (etwa die polizeiliche Generalklausel) oder ein Leistungsverweigerungsrecht (z.B. wegen Fristablauf oder Verwirkung durch längere Untätigkeit). Ist das Bestehen dieses Gegenrechts wiederum dem Grunde nach anzuerkennen, so kann der Kläger nur dann den Prozess gewinnen, wenn ein Gegen-Gegenrecht greift – insbeson-

_____ 521 Für nicht klagefähiges (= nur objektives) Recht stellt sich auch das Problem der Beweislast nicht, jedenfalls nicht vor Gericht. 522 Siehe etwa die Darstellung bei Kopp/Schenke, VwGO Kommentar, 19. Aufl. 2013, § 42 Rn. 59 ff. 523 Siehe Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat, 2. Aufl. 2012, S. 52. 524 Klassisch: Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, 1914, S. 224; grundlegend: Jellinek, System, 1892, passim. 525 Hier schematisch besonders deutlich bei der Allgemeinen Leistungsklage. 526 Hier am anschaulichsten bei der Verfassungsbeschwerde gegen Grundrechtsverletzungen mit dem heute üblichen Dreiklang von Schutzbereich/Eingriff/Rechtfertigung-Rechtfertigungsschranken (vgl. dazu grundlegend Schlink, EuGRZ 1984, S. 457 ff.).

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B. Grundlegung

dere eine Schrankenregelung (z.B. aus höherrangigem Recht) oder eine Ausnahmebestimmung (etwa Wiedereinsetzung in den vorigen Stand). Dies heißt: Jedenfalls formal-logisch spricht nichts gegen die Übertragung des Rosenberg-Modells auf den Verwaltungs- und Verfassungsprozess.527 Zwar mag man sich daran stören, dass der Cui-prodest-Gedanke materiell gesehen nicht wirklich auf das Handeln des Staates zu „passen“ scheint – so seien etwa die verwaltungsrechtlichen Eingriffsbefugnisse den Behörden nicht wirklich „günstig“, nicht zu ihren Gunsten geschaffen.528 Bei diesem Einwand wird jedoch übersehen, dass es im Rahmen der Beweislast allein um prozessuale Günstigkeit529 geht530 – und dass auch im Zivilrecht nicht selten bloße Sachwalter der Interessen Dritter einen Prozess führen.531 Sogar auf den Bereich des Strafrechts lassen sich die vorstehenden Erwägungen übertragen. Auch dort geht es letztlich um Ansprüche – hier um Ansprüche des Staates, nämlich jeweils um einen Strafanspruch des Staates gegenüber dem Angeklagten. Insofern formuliert auch der Grundsatz in dubio pro reo zunächst keine Besonderheit: Der Vertreter der Anklage hat wenigstens de facto532 die tatsächlichen Voraussetzungen des staatlichen Anspruchs zu beweisen – letztlich also die Erfüllung des Straftatbestandes. In dubio pro reo statuiert lediglich insofern Sonderrecht, als der Zweifelssatz (inzwischen)533 grundsätzlich534 auch als abschließende „Entscheidungsregel“535 für tatsächliche Fragen

_____ 527 Dagegen, allerdings ohne vertiefte Erörterung, etwa Pestalozza, in: Glaeser, FS Boorberg, 1977, S. 185, 195 f. 528 In diesem Sinne etwa Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 407 f., m.w.N. 529 Also um die Frage „Wer gewinnt den Prozess?“ – nicht um die Frage „Wer trägt den materiellen oder ideellen Gewinn des Prozessgewinns?“ 530 In diese Richtung zu Recht Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 119, 267. 531 Es besteht insofern kein struktureller Unterschied zwischen einer Behörde, die etwa ihre Eingriffsbefugnisse für den Staat im Interesse der Allgemeinheit gerichtlich geltend macht – und dem Vorstand, der für seine Aktiengesellschaft im Interesse der Gesamtheit der Aktionäre einen Prozess führt. 532 Die grundsätzliche Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Neutralität (vgl. § 160 II StPO) steht dem nicht entgegen und entspricht in der Praxis auch nicht immer der Realität. 533 Instruktiv in diesem Zusammenhang BGHSt 18, 274 ff. 534 Für „nur“ verfahrensrechtlich erhebliche Tatsachen, die im Freibeweisverfahren festgestellt werden, soll in dubio pro reo weitgehend nicht gelten – siehe etwa die Darstellung bei Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner, StPO Kommentar, 53. Aufl. 2010, § 261 Rn. 33 ff.; krit. hierzu Pfeiffer/Hannich, in: Hannich, Karlsruher Kommentar StPO, 6. Aufl. 2008, Einleitung Rn. 19 f. 535 Fischer, StGB Kommentar, 59. Aufl. 2012, S. 18 (§ 1 Rn. 20). Ob es sich beim Grundsatz in dubio pro reo (auch) um eine „Beweislastregel“ im technischen Sinne handelt, ist str. Die Frage ist aber im Grunde rein terminologischer Natur – ihre Beantwortung hängt vom Begriff der

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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im Rahmen von „Rechtfertigung“, „Schuld (-unfähigkeit)“ und „Strafbarkeitshindernissen“ gilt536 – die normlogisch eher dem Bereich der anspruchsvernichtenden bzw. anspruchshemmenden Normen zuzuweisen sein dürften.

(2) Herrschaft der Untersuchungsmaxime Die Tatsache, dass Gerichtsverfahren im Öffentlichen Recht und Strafrecht von der Untersuchungsmaxime dominiert werden, erzwingt ebenfalls keine wesentlichen Abweichungen.537 Auf Seiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde dies bereits früh erkannt: Danach hat trotz des Grundsatzes der Amtsprüfung „in der Regel der in der Zivilgerichtsbarkeit entwickelte Grundsatz zu gelten: Jede Partei trägt die Beweislast für das Vorhandensein aller (auch der negativen) Voraussetzungen desjenigen Rechtssatzes, ohne dessen Anwendung ihr Prozessbegehren keinen Erfolg haben kann.“538

Die Herrschaft der Untersuchungsmaxime bewirkt im Wesentlichen nur, dass Beweislastentscheidungen erst später und damit seltener539 ergehen dürfen: Eigentlich hat nämlich das Gericht den Streitstoff weitgehend von Amts wegen zu erheben (siehe oben 2 a), so dass Beweislastlastentscheidungen nur dann zulässig sind, wenn das Gericht das rechtlich Gebotene unternommen hat, um den Sachverhalt selbst aufzuklären.540 Dann kann es aber gleichwohl zu einem non liquet kommen, so dass in der Praxis die Parteien gehalten sind, jeweils selbst diejenigen Tatsachen zur Kenntnis und Überzeugung des Gerichts zu bringen, deren Nichterweis aufgrund objektiver Beweislast für sie zum Verlust

_____

Beweislast ab; siehe hierzu instruktiv Velten, in: Wolter, SK-StPO, Bd. 5, 4. Aufl. 2012, § 261 Rn. 84, m.w.N. 536 Siehe Streng, in: Joecks/Miebach, MüKo StGB, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 29; Eser, in: Schönke/Schröder, StGB Kommentar, 28. Aufl. 2010, § 24 Rn. 55; sowie Pegel, in: Radtke/Hohmann, StPO Kommentar, 2011, § 261 Rn. 86. 537 Siehe Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Losebl. Stand 01/2011, Art. 19 Abs. 4 Rn. 227, m.w.N. 538 OVG Münster, DVBl. 1958, 65. 539 Die Beweislast ist nicht im selben Maße „Rückgrat“ des Prozesses wie im Zivilverfahren – siehe Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 17 f., m.w.N., der zu Recht aber auch darauf hinweist (insbes. S. 33 ff., m.w.N.), dass die Aufklärungsmöglichkeiten in einem Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz nicht überschätzt werden dürfen. 540 Dies (über-) betonend Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 10 f. Auch für den Zivilrichter ist die Beweislastentscheidung nur ultima ratio (s.o.) – mit dem einzigen Unterschied, dass hier grds. die Parteien die Tatsachen „beibringen“, diese vom Gericht also nicht selbst „ermittelt“ werden. Bei „Untätigkeit“ der Parteien kann daher der Richter im Zivilprozess rascher zur Beweislastentscheidung übergehen.

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B. Grundlegung

des Prozesses führen würde.541 Wenn erst das non liquet eingetreten ist, lassen sich aus der Herrschaft der Untersuchungsmaxime für den Fortgang des Prozesses keine Abweichungen mehr herleiten (vgl. oben 2 a).

(3) Besondere Natur des Öffentlichen Rechts Teilweise wird vertreten, bei der Beweislastverteilung im Öffentlichen Recht sei dessen besondere Natur, insbesondere die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt, entscheidend mit zu berücksichtigen – m.a.W.: die zivilprozessualen Grundsätze zum Bürger-Bürger-Streit seien im Staat-Bürger-Streit allenfalls eingeschränkt heranzuziehen.542 Zuweilen wird dabei allerdings lediglich der Versuch unternommen, diese allgemeinen (zivilprozessualen) Beweislast-Grundsätze auf andere (öffentlichrechtliche) Füße zu stellen:543 Entscheidender Bezugspunkt soll dabei das Prinzip der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sein. Ob dies wirklich trägt, mag – mangels wesentlicher Unterschiede im Ergebnis – hier dahinstehen. In eine gänzlich andere Richtung hingegen bewegt sich der Vorschlag, bei Betroffenheit von Grundrechten mit eher niedrigen Rechtfertigungshürden (Bsp.: Art. 14 GG) dem Bürger, bei solchen mit hohen Rechtfertigungshürden (Bsp.: Art. 2 II GG) dem Staat die Beweislast zuzuordnen.544 Dies überzeugt schon deshalb nicht, weil die dann erforderliche Abgrenzung zwischen wichtigen und weniger wichtigen Verfassungsgarantien regelmäßig kaum zu leisten sein dürfte: Die Gewährleistung der einzelnen Grundrechte reicht jeweils weitgehend stufenlos von einem eingriffsresistenten Kernbereich bis hin zur Schwelle der bloßen Lästigkeit.545

_____

541 Insofern zutreffend Seeliger, Beweislast, 1981, S. 43, wenn er meint: „Denn wer objektiv mit einer bestimmten Nachweispflicht belastet ist, ist das auch subjektiv.“ Dies wird ausgeblendet etwa bei Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, S. 21, wenn dort angenommen wird, die subjektive Beweislast trete nur in Verfahren unter Herrschaft der Verhandlungsmaxime auf. 542 Siehe, insbes. zum Verfassungsrecht, etwa Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, S. 34 ff., der allerdings schon für das Zivilprozessrecht das Rosenberg-Modell ablehnt (vgl. a.a.O., S. 32); zum Verwaltungsrecht etwa Pestalozza, in: Glaeser, FS Boorberg, 1977, S. 185, 195 ff. 543 Siehe Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 142 u.a. – der hier einen (m.E.: künstlichen) Gegensatz konstruiert zwischen einer verfassungsrechtlichen und einer allgemeinmethodischen Begründung der Beweislastverteilung. 544 So im Ergebnis Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, S. 45 ff. 545 Die sogenannte Drei-Stufen-Theorie zu Art. 12 I GG (erstmals BVerfGE 7, 377) hat das BVerfG denn inzwischen auch weitgehend aufgegeben– siehe BVerfGE 115, 276; 118, 1.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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Zuweilen – meist mit ablehnender Grundtendenz – erörtert wird daneben, ob nicht generelle „Vermutungen“, etwa in dubio pro libertate, in Zweifelsfällen zur Entscheidung führen könnten.546 Hiergegen spricht unter anderem Folgendes: Eine solche materielle Lastregelung würde die Frage nach den besseren Aufklärungsmöglichkeiten einer Partei ignorieren und das Angreiferprinzip sowie das Prinzip prozessualer Waffengleichheit (siehe oben unter aa (3)) von vornherein außer Acht lassen – obgleich all diese Gesichtspunkte auch im Verwaltungsprozess von Bedeutung sind bzw. sein sollten. Vertretbar wäre dies nur dann, wenn im Staat-Bürger-Verhältnis generell „der Staat“ sich in einer übermächtigen Position befände, ihm gegenüber der „kleine Bürger“, schwach und daher durchweg schutzbedürftig auch in der Tatsachenermittlung. Diese Vorstellung traf vermutlich schon im obrigkeitlichen „Polizeystaat“ des 19. Jahrhunderts nicht immer zu. Heute jedenfalls sind einzelne Verwaltungseinheiten des Staates der jeweiligen „privaten“ Gegenseite im Verfahren zwar keineswegs immer,547 aber doch oftmals deutlich unterlegen. 548 Im Übrigen kollidiert (zuweilen aber auch: koinzidiert) die Freiheit Einzelner im Verwaltungsprozess in einer Vielzahl von Fällen nicht nur mit bestimmten Interessen des Staates, sondern auch mit der Freiheit Dritter.549 Im Verhältnis von Bürger und Staat prinzipielle Rechtsvermutungen (im weiteren Sinne) zu begründen, ist also zumindest schwierig.550 Daraus kann man erstens den Schluss ziehen, man müsse sich eben „politisch“ für die eine oder die andere Sicht auf die Welt entscheiden, etwa für die generelle Freiheitsvermutung des Einzelnen – dazu gehört dann aber im Zweifel auch die Freiheit eines weltumspannenden Netzwerks organisierter Kriminalität. Zweitens mag man sich schlicht mit einem bunten Eklektizismus aus grundrechtlichen Topoi

_____ 546 Siehe die Darstellungen bei Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, S. 39 ff.; sowie bei Wernitz, Non liquet im öffentlichen Baurecht, 2008, S. 96 ff.; zusammenfassend ferner etwa Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Losebl. Stand 01/2011, Art. 19 Abs. 4 Rn. 227. 547 Der Grundsatz in dubio pro auctoritate würde ebendies offenkundig ignorieren. 548 Man denke nur an Genehmigungsverfahren für industrielle Großprojekte: Es ist keine Seltenheit, dass auf Verwaltungsseite wenige Sachbearbeiter einer ganzen Armada gutbezahlter Wirtschaftsanwälte auf Seite der Antragsteller gegenüberstehen. Siehe zum Ganzen auch Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 454 ff. 549 Man denke nur an eine schlichte Baugenehmigung für ein Wohnhaus, die vom Nachbarn (dritt-) angefochten wird. 550 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2. Aufl. 1975, S. 57 f. – übrigens unter Verweis auf die „zersplitterte Existenz“ von Beweislastregeln im verwaltungsgerichtlichen Verfahren.

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B. Grundlegung

und zivilprozessualen Anleihen abfinden551 – getreu der Maxime: Wer braucht schon Recht, wenn er doch Gerechtigkeit haben kann.552 Oder man gibt drittens einer formalen Betrachtungsweise, eng angelehnt an das klassische RosenbergModell, den Vorzug – dabei den Vorwurf „harten“ und „schematischen“ Vorgehens in Kauf nehmend.553 Der Jurist „als solcher“554 sollte sich für den dritten Weg entscheiden. Die beiden erstgenannten Alternativen sind, genau besehen, keine Lösungen des Rechts. Die Entscheidung für eine generelle Freiheitsvermutung des Einzelnen in Tatsachenfragen ist, de facto, zu häufig nur eine Entscheidung für das Recht des Stärkeren. Und die Entscheidung gegen klare Entscheidungen kann gleichfalls nie eine Lösung des Rechts sein, allenfalls eine Lösung der EinzelfallGerechtigkeit: Zum Recht wie zur Gerechtigkeit im Ganzen gehört nun einmal die Rechtssicherheit (oben B I 2 a gg); und unter diesem Gesichtspunkt kann den Parteien nicht zugemutet werden, sich auf einen Anspruch berufen zu müssen, bei dem nicht a priori feststeht, wer bestimmte Tatbestandsmerkmale in ihren sachlichen Voraussetzungen zu behaupten und im Streitfalle zu beweisen hat und wer bei Unaufklärbarkeit das Prozessrisiko zu tragen hat.555 Denn das Instrument der Beweislast hat, wie letztlich jede Rechtsregel (vgl. schon oben unter I 2 b bb), eine Doppelfunktion: Erstens dient es schlicht der Verhinderung eines „ewigen“ Schwebezustands im Prozess; zweitens, und dies wird oftmals übersehen, dient es aber auch der Kalkulation von Verlustrisiken durch die Parteien im Vorfeld des Prozesses – nur wenn die Gegner wissen, welchen Sachverhalt sie „im Zweifel“ selbst zu beweisen haben, können sie das Prozessrisiko wenigstens in der Tendenz abschätzen. Dementsprechend folgt aus der Natur des Öffentlichen Rechts, insbesondere der Grundrechtsbindung hoheitlicher Gewalt, nicht die Notwendigkeit einer generellen Abweichung vom Rosenberg-Modell.556

_____ 551 In diese Richtung etwa die Darstellung bei Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, S. 38 ff., der neben einer zivilprozessualen Grundregel eine ganze Reihe verfassungsrechtlicher Topoi in die Lastregelung einfließen lassen möchte. 552 Zum Recht als „langweiliger“ Alternative zu revolutionären Gerechtigkeit siehe Lege, ARSP 2007, S. 21, 34 ff. 553 Vgl. Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 16. 554 Windscheid, in: Oertmann, Windscheid – Gesammelte Abhandlungen, 1904, S. 100, 111 f. 555 Siehe bereits Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 1. 556 So im Ergebnis auch Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 142 u.a.; ferner etwa Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Losebl. Stand 01/2011, Art. 19 Abs. 4 Rn. 228, m.w.N.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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(4) Ungenügende Sprachform öffentlich-rechtlicher Normen Anders als im Zivilrecht sind bei der Sprachform der Normen des Öffentlichen Rechts die prozessualen Folgen oftmals nicht mit bedacht, insbesondere nicht die Folgen einer möglichen Beweislosigkeit.557 Wenn aber, wie zuweilen behauptet,558 das Rosenberg-Modell ganz wesentlich auf der Sprachstruktur von Rechtsnormen aufbaut, scheint die oftmals beklagte Vernachlässigung der Satzbaulehre559 durch den heutigen Gesetzgeber (insbesondere im Verwaltungsrecht)560 einer formalisierten Beweislastentscheidung im Rosenberg’schen Sinne von vornherein entgegenzustehen. Diese Annahme beruht jedoch auf falschen Vorstellungen von erstens den Möglichkeitsbedingungen und zweitens den Zielen einer Beweislastverteilung nach dem Rosenberg-Modell. Eine Entscheidung nach diesem Modell bedingt nicht, dass eine jede geschriebene Rechtsnorm bereits „gebrauchsfertig“ optimal als Anspruchs- und/ oder Gegennorm vorformuliert561 ist. Dies ist aus Gründen der Rechtsklarheit zwar wünschenswert – aber nicht notwendig. Eine formalisierte Beweislastentscheidung wird durch unscharfe und die Vorgaben der Satzbaulehre missachtende Gesetzesformulierungen zwar erschwert – regelmäßig aber nicht unmöglich gemacht;562 allenfalls ganz ausnahmsweise ist hier eine Flucht in materiellrechtliche Prinzipien erforderlich, um zu einer Lastentscheidung zu gelangen.563 Denn notwendige Bedingung einer Beweislastentscheidung nach dem Rosenberg-Modell ist lediglich, dass die jeweilige Rechtsnorm als Anspruchs- oder Gegennorm (um-) formuliert werden kann. Und diese Bedingung dürfte regelmäßig erfüllbar sein. Zuweilen wird man dabei zwar nicht umhin kommen, die normbegründenden Erwägungen des Normgebers nachzuvollziehen – also insbesondere nach dem Verhältnis von Regel und Ausnahme sowie den tatsächlichen Aufklärungsmöglichkeiten der Parteien fragen müssen.

_____

557 Siehe Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 8. 558 Siehe etwa Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 399 ff.; Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 120, 317. 559 I.e. insbesondere der Strukturierung von Regeln nach dem Muster Grundnorm/Gegennorm. 560 Die Kritik an der modernen Gesetzgebungstechnik ist zuweilen freilich deutlich übertrieben – vgl. die Analyse bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 399 ff. Es bestehen aber u.a. wenig Zweifel daran, dass der Gesetzgeber anstelle von konditional programmierten Normen zunehmend auf Finalprogramme setzt – von „Wunschzetteln in Gesetzesform“ spricht Lege, VVDStRL 70 (2011), S. 112, 138. 561 Klassisch: „Wer …, ist berechtigt …“ (Anspruchsnorm) „Dies gilt nicht, wenn …“ (Gegennorm). 562 Siehe Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Losebl. Stand 01/2011, Art. 19 Abs. 4 Rn. 228; vgl. auch Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 399 ff. 563 In der Tendenz ähnlich Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 317.

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B. Grundlegung

Dann natürlich kann die Verteilung der Beweislast streitig werden, kann selbst zweifelhaft sein. Deswegen wird aber nicht das Rosenberg-Modell im Öffentlichen Recht generell zum Muster ohne Wert. Denn eine durchweg völlig zweifelsfreie Verteilung der Beweislast vermag keine der bis dato vorgeschlagenen Beweislastregeln zu leisten – entsprechende Erwartungen wären schlicht überhöht. Die Rechtspraxis wird sich damit begnügen müssen, dass die Beweislast im Regelfall einer Partei vorhersehbar zugeordnet werden kann. Eben dies aber vermag das Rosenberg-Modell zu leisten – und zwar weitaus besser, als sämtliche ernsthaft diskutierten Alternativen. Im Regelfall – also abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen (siehe unten cc) – ergibt sich die Beweislastverteilung danach auch im Öffentlichen Recht aus der Gegenüberstellung von Anspruch und Gegenrechten. Zur Verdeutlichung dieser Beweislastgrundstrukturen seien im Folgenden zwei Anwendungsbeispiele herausgegriffen, jeweils in Drittbetroffenenkonstellationen. Zunächst ein Fall aus der Eingriffsverwaltung:564 E ist Eigentümer eines Wohnhauses in der Gemeinde G. Das Wohnhaus liegt neben der Gaststätte des Betreibers B. E ist der Meinung, dass die Gaststätte des Nachts zu viel Lärm entwickelt. Der Landrat L untersagt daher den Betrieb der Gaststätte zwischen 22 und 6 Uhr. B ficht den Bescheid des L an. Soweit Tatsachen strittig sind, verteilt sich nun die Beweislast wie folgt. B belastet – Sofern diesbzgl. Zweifel bestehen (etwa wegen eines Betreiberwechsels) hat B den Nachweis zu führen, dass er durch den Bescheid tatsächlich selbst in geschützten Rechtspositionen betroffen ist. L belastet – Im Zweifel muss L nachweisen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der Eingriffsgrundlage (§ 5 I GastG bzw. § 22 BImSchG) erfüllt sind. Ist E beigeladen, ist er von dieser Last miterfasst.565 B belastet – Will nun B sich darauf berufen, dass eine Schrankenregelung greift – sei es eine Befreiungsregelung, sei es höherrangiges Recht, etwa die Grundrechte – so hat im Zweifel wiederum B deren tatsächliche Voraussetzungen zu beweisen.

Sodann ein Fall aus der Leistungsverwaltung:566 A ist langzeitarbeitslos und erhält daher Arbeitslosengeld II nach dem SGB II. Die zuständige Arbeitsagentur G weist ihm mehrfach eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung („Ein-Euro-Job“) gemäß § 16d SGB II zu: Danach soll A im Umfang von 30 Wochenstunden einfache Reparaturarbeiten im Betrieb der Stadtwerke S übernehmen. A lehnt jeweils ab – mit der Begründung, erstens sei die Arbeitsgelegenheit nicht „wettbe-

_____

564 Nach Richers, JURA 2011, S. 139 ff. 565 Würde umgekehrt E gegen L auf Einschreiten gegen B klagen, so wäre an dieser Stelle allein E belastet. 566 Vgl. zu dessen materiell-rechtlichen Aspekten Richers/Köpp, DÖV 2010, S. 997 ff.; sowie Richers/Köpp, DVBl 2011, S. 404 ff.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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werbsneutral“ (vgl. §§ 16d II SGB II) und zweitens habe er wegen häuslicher Pflichten einen „wichtigen Grund“ für seine Verweigerung (vgl. § 31 I S. 2 SGB II). Daraufhin kürzt G dem A das Arbeitslosengeld gemäß § 31a SGB II. Gegen den Kürzungsbescheid erhebt A Klage. Beigeladen werden S sowie der Energieversorger V, der sich bei G darüber beschwert hat, durch die Zuweisung von „Ein-Euro-Jobbern“ werde sein Wettbewerber S unzulässig begünstigt. A belastet – Im Zweifelsfalle obliegt zunächst grundsätzlich A der Nachweis, dass in seinen Leistungsanspruch eingegriffen wurde. Allerdings wird in der hier vorliegenden Fallkonstellation regelmäßig nicht mehr die Berechtigung des originären Anspruchs in Frage stehen – sondern allenfalls noch die Frage, ob die Behörde einen solchen Anspruch per Verwaltungsakt festgestellt und später gekürzt hat. Hinsichtlich dieser Frage ist wegen entsprechender behördlicher Dokumentationspflichten eine Beweislastumkehr denkbar (vgl. cc (3)). G belastet – Steht der (ungekürzte) Leistungsanspruch dem Grunde nach fest, hat bei Ungewissheit grundsätzlich G nachzuweisen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen einer ALG-II-Kürzung nach § 31a SGB II vorliegen. Allerdings lässt sich darüber streiten, ob es sich bei der „Zusätzlichkeit“ der Arbeitsgelegenheit nach § 16d II SGB II um ein Tatbestandsmerkmal handelt (angesichts der Gesetzessystematik wohl zu bejahen)567 – oder ob umgekehrt die fehlende Zusätzlichkeit Schranke des Kürzungsrechts ist. A belastet – Sofern man daraufhin die Berechtigung der ALG-II-Kürzung dem Grunde nach bejaht, obliegt es im Zweifelsfalle wiederum A, nachzuweisen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen einer Verweigerung wegen eines wichtigen Grundes nach § 31 I S. 2 SGB II vorliegen (bei diesem Verweigerungsrecht handelt es sich nach der Gesetzessystematik und unter Berücksichtigung der Beweisnähe beider Parteien eindeutig um eine Schranke des Kürzungstatbestands – nicht etwa um ein negatives Tatbestandsmerkmal).

Exemplarisch zeigt sich an diesen Fällen: Jedenfalls regelmäßig lässt sich die Beweislast mittels des Rosenberg-Modells auch im Öffentlichen Recht vorhersehbar und weitgehend unabhängig von der konkreten Sprachfassung der betroffenen Normen zuordnen.

cc) Ausnahmen und Sonderfälle Im zuletzt erörterten (öffentlich-rechtlichen) Beispielfall waren allerdings zugleich bereits erste mögliche Ausnahmen angedeutet. Hier war jeweils ein Abweichen von der Regelbeweislast zu erwägen. Allerdings ist bei solchen etwaigen Abweichungen immer mit zu bedenken, dass das Instrument der Beweislast auch der Risikoabschätzung der Parteien im Vorfeld eines Prozesses dient. Bei der Zulassung von Ausnahmen ist daher Zurückhaltung geboten. Nur in unabweisbaren Fällen und nur dann, wenn sich Ausnahmebestimmungen hinreichend trennscharf formulieren lassen, darf daher von der Regelbeweislast abgewichen werden.

_____

567 Vgl. BSGE 108, 116.

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B. Grundlegung

Hierzu gehören zweifellos die Fälle gesetzlicher Beweislastanordnung (1) sowie der Grundsatz impossibilium nulla est obligatio (2). Womöglich können ferner auch gesetzliche bzw. vertragliche Dokumentationspflichten Einfluss auf die Verteilung der Beweislast haben (3). Probleme bereitet sodann die Gruppe der rechts(entstehungs)hindernden Normen (4). Daneben sind allenfalls wenige, eng begrenzte Einzelausnahmen geboten (5).

(1) Gesetzliche Beweislastanordnung Ordnet der Gesetzgeber für einen bestimmten Tatbestand568 oder eine ganze Reihe von Tatbeständen569 ausdrücklich bzw. konkludent anhand bestimmter Schlüsselworte eine Umkehr der Beweislast an, so ist dieser Aufforderung selbstverständlich grundsätzlich Folge zu leisten. Ausdrückliche Anordnungen in diesem Sinne sind – weil umständlich – selten. Konkludente gesetzliche Anordnungen finden sich hingegen regelmäßig in Schlüsselformulierungen wie „es sei denn“, „wenn nicht“, „sofern nicht“, „außer“ oder „dies gilt nicht, wenn“.570 Hier wird dann die Sprachstruktur des Gesetzestextes in der Tat bedeutsam: Der Gesetzgeber bringt dadurch erstens zum Ausdruck, dass ein bestimmtes Sachverhaltselement aus den Anspruchsvoraussetzungen auszuklammern ist. Aus einem (möglichen) Element der Anspruchsnorm wird dann zweitens eine Gegennorm, anders gewendet – eine eigentliche Gegennorm findet sich in den Zusammenhang einer Anspruchsnorm eingebettet.571 Ist die Sprachstruktur unklar oder in sich widersprüchlich, so kann im Einzelfall durchaus einmal zweifelhaft sein, ob der Gesetzgeber wirklich eine Beweislastumkehr vorsehen wollte oder nicht – ob m.a.W. eine bestimmte Norm (noch) Teil einer Anspruchs- oder (schon) Gegennorm ist. Gleiches gilt für die „richtige“ Zuordnung bestimmter Hilfsnormen. Dabei handelt es sich dann

_____ 568 Siehe etwa die Beweislastanordnungen gemäß § 2336 III BGB bei Entziehung des Pflichtteils; sowie beim Sperranspruch gemäß § 20 IV BDSG. 569 Siehe etwa die Beweislastumkehr beim Verbrauchsgüterkauf gemäß § 476 BGB. 570 Siehe zur Satzbaulehre als Grundgerüst der Normentheorie zusammenfassend Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 289 ff; sowie, mit Blick speziell auf das Öffentliche Recht, Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 399 ff. 571 Ein Beispiel – in § 280 I BGB heißt es: „Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.“ Anstelle des zweitens Satzes hätte der Gesetzgeber auch eine ausdrückliche Gegennorm formulieren können – etwa: „Weist der Schuldner nach, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat, so ist er zum Schadensersatz nicht verpflichtet.“

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

115

aber schlicht um ein Problem der Auslegung, das – für den Bereich der Beweislast – keine anderen Fragen aufwirft als jedes andere Auslegungsproblem auch.572

(2) Impossibilium nulla est obligatio Die wichtigste nicht ausdrücklich allgemein positivierte Ausnahme zum Cuiprodest-Grundsatz findet sich in dem Satz impossibilium nulla est obligatio. Generell573 Unmögliches darf das Recht nicht verlangen – dieser in § 275 I BGB enthaltene Grundsatz lässt sich zumindest teilweise auf das Beweisrecht übertragen.574 Vorausgeschickt sei dabei: In jedem Fall völlig trennscharf ist diese Grenze nicht. Dies gilt aber bereits für ihre Erkenntnis im materiellen Recht. Man denke nur an den Schulfall des Ringes, der vor der geschuldeten Übergabe auf den Meeresgrund fällt – ab wann ist dessen Bergung im Lichte moderner technischer Mittel wahrlich „faktisch unmöglich“?575 Die wiederum wichtigste Gruppe generell unmöglichen Beweisverlangens bilden zahlreiche Fälle des Beweises von Negativa: Einen (Standard-) Brief nicht erhalten zu haben, nie an einem bestimmten Ort gewesen zu sein, einen bestimmten Vertrag nicht/nie in der erforderlichen Form geschlossen zu haben – Tatsachen dieser Art lassen sich regelmäßig nicht oder jedenfalls nicht mit dem erforderlichen Beweismaß beweisen.576 Gleiches gilt für Tatsachen, die sich allein in der Person oder jedenfalls im ausschließlichen Herrschaftsbereich des jeweiligen Gegners finden: Man denke im Extremfall etwa an die Unterdrückung von Urkunden (§ 444 ZPO) oder sonstige Fälle der Beweisvereitelung durch den eigentlich nicht Beweisbelasteten. Auch in solchen Fällen kann der Beweis für denjenigen unmöglich sein, dem es eigentlich obliegt, ihn zu führen. Die Konsequenz ist wenig überraschend: Ist dem eigentlich Beweisbelasteten ein Beweis aus solchen generellen Gründen unmöglich, dem Gegner hinge-

_____ 572 Probleme bei der Einordnung einer Norm als Anspruchs- oder Gegennorm können in anderem Zusammenhang allerdings ein schwieriges Auslegungsproblem „zweiter Ordnung“ darstellen (siehe hierzu noch unter C II 3 b dd). 573 Gemeint ist nicht die Beweisunmöglichkeit aufgrund (selbst verschuldeter) besonderer Umstände – etwa die Versäumnis der Anfertigung oder der Verlust eines Beweismittels. 574 Siehe Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 156 f., im Zusammenhang mit der Schwierigkeit von Negativbeweisen. 575 Vgl. bereits RGZ 57, 116 – Eichenlaub. Danach genügt es für die Annahme wirtschaftlicher Unmöglichkeit, wenn „die Beschaffung von Gegenständen der fraglichen Gattung eine so schwierige geworden ist, dass sie billigerweise niemandem zugemutet werden kann“. 576 Siehe erneut Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 156 f.

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B. Grundlegung

gen generell möglich – so kommt es zu Beweiserleichterungen bis hin zu einer Umkehr der Beweis-577 oder wenigstens der Darlegungslast.578 Vor diesem Hintergrund ist es leicht zu begreifen und keineswegs eine unerklärliche Inkonsequenz des Rosenberg-Modells,579 wenn etwa bei der Vorschrift des § 125 S. 1 BGB (Formnichtigkeit) nach „allgemeiner Meinung“ 580 davon ausgegangen wird, dass grundsätzlich581 immer derjenige beweisbelastet ist, der die Einhaltung der jeweils geforderten Form behauptet: Es liegt auf der Hand, dass der Versuch etwa des Beweises, dass kein schriftförmlicher Vertrag vorliegt, de facto auf letztlich unüberwindbare Schwierigkeiten stößt.582

(3) Behördliche und betriebliche Dokumentationspflichten Generell Unmögliches also kann auch im Beweisrecht nicht verlangt werden. Im Umkehrschluss mag man daraufhin fragen, ob nicht allgemein verlangt werden kann, was aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen immer möglich ist (bzw. sein müsste): Ist immer dann vom Cui-prodest-Grundsatz abzuweichen, wenn die eigentlich nicht beweisbelastete Partei eindeutig in der Lage ist (bzw. sein müsste), den Beweis zu führen? M.a.W.: Soll eine Partei im Zweifelsfall (schon) dann unterliegen, wenn sie ein bestimmtes Beweismittel nicht hat, das sie aus anderen als originär-beweisrechtlichen Gründen haben müsste? Die Frage stellt sich insbesondere dort, wo zwingende Vorschriften (nur) einer Partei bestimmte Dokumentationspflichten aufbürden. Wenn beispielsweise Behörden regelmäßig dazu verpflichtet sind, ihre Verwaltungsvorgänge über

_____ 577 Siehe BGH, NJW 2002, 825, 827; sowie ferner NJW 2004, 222. 578 Instruktiv, wenngleich mit etwas unscharfer Begründung, insofern BGHZ 169, 377: Grds. hat derjenige, der sich auf einen bestimmten Anspruch stützt, auch alle negativen Tatbestandsmerkmale (hier „ohne rechtlichen Grund“ i.S.d. § 812 I S. 1 BGB) zu beweisen. Hierfür kann es aber u.U. erforderlich sein, dass der Gegner darlegt, warum das negative Tatbestandsmerkmal nicht vorliegen soll (hier: warum also ein Rechtsgrund besteht). In terminologischer Hinsicht befindet sich die Darlegungslast i.d.S. auf einer Zwischenstufe inmitten von Behauptungs- und Beweislast; man könnte insofern vielleicht von einer „Anscheinsbeweislast“ sprechen. 579 In diese Richtung jedoch Leipold, Beweismass und Beweislast, 1985, S. 19 f. 580 So bereits Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 310, m.w.N.; aus jüngerer Zeit etwa Braun, Lehrbuch des Zivilprozessrechts, 2014, S. 722, ebenfalls m.w.N. 581 Im konkreten Fall kann sich diese besondere Beweislastverteilung auch einmal ins Gegenteil verkehren. Dies soll etwa bei der Berufung auf Formnichtigkeit als Voraussetzung einer bereicherungsrechtlichen Rückforderung nach § 812 I S. 1 BGB anzunehmen sein – siehe BGH, NJW-RR 2003, 1432. 582 Ähnlich Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 133 f.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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mindestens zehn Jahre aufzubewahren,583 so scheint es u.U. ernsthaft erwägenswert,584 ihnen die Beweislast für sämtliche in diesen Vorgängen abgebildeten Tatsachen aufzubürden. Übertragen lässt sich diese Erwägung auch auf Dokumentationspflichten bestimmter Privater – etwa Kaufleute (vgl. § 257 HGB) und Ärzte585. Für eine solche allgemeine Beweislastverlagerung auf dokumentationspflichtige Parteien spricht zunächst die offensichtliche Beweisnähe, die durch entsprechende Pflichten hergestellt wurde. Darüber hinaus wird durch Beweislastverlagerung die Missachtung der betreffenden Dokumentationspflicht wirksam sanktioniert. Ferner kann – insbesondere im Zivilprozess – de facto die Wahrheitsfindung erleichtert werden; dokumentationspflichtige Parteien müssen nämlich fürchten, dass sie (auch) bei Rückhaltung von „uneindeutigen“ Schriftstücken den Prozess verlieren. Und schließlich dürfte in vielen Fällen unnötiger Dokumentationsaufwand auf Seiten des „nicht rechtlich Dokumentationspflichtigen“ vermieden werden. Der letztgenannte Gesichtspunkt freilich ist nicht durchweg nur von Vorteil; zugunsten umfassender Sachverhaltsaufklärung ist es regelmäßig wünschenswert, wenn beide Parteien sich gehalten fühlen, im Vorfeld eines Streits jegliche verfügbaren Beweise zu sichern. Noch aus einem weiteren Grund ist bei der Beweislastverlagerung auf die dokumentationspflichtige Partei zuweilen Vorsicht geboten: Wenn die Gegenseite zu irgendeinem Zeitpunkt Zugriff auf die betreffenden Dokumente hatte, besteht ggf. die Gefahr, dass diese verfälscht wurden; insbesondere bei Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und ihren Angestellten dürften entsprechende Probleme häufiger auftreten – auszuschließen sind sie aber auch im Verwaltungsrechtsstreit nicht immer.586 Und schlussendlich darf nicht übersehen werden, dass Dokumente (d.h. regelmäßig: Schriftstücke) in der modernen Lebenswirklichkeit zwar wichtige Beweismittel sind – aber keineswegs die einzigen. Im Ergebnis dürfte daher mit der Beweislastverlagerung auf dokumentationspflichtige Parteien zurückhaltend umzugehen sein: Sie ist gewiss erstens dort erforderlich, wo der (eigentlich beweisbelastete) Gegner generell keine Möglichkeit zum Beweis hat587 – dies ergibt sich aber bereits aus der oben erör-

_____

583 Siehe überblicksweise und unter Einbezug jüngerer Entwicklungen Beck, in: Beck/Stember, Verwaltungswissenschaften, 2008, S. 107, 108 ff. 584 Siehe etwa Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 431 ff., m.w.N., der diese Überlegung zudem für seine allgemeine Sphärentheorie der Beweislastverteilung im Öffentlichen Recht fruchtbar machen möchte. 585 Vgl. BVerfGE 52, 131, 134 ff. 586 Vgl. VGH Mannheim, DVBl 1987, S. 951 f., mit einem Fall aus dem Prüfungsrecht (Verdacht der Aktenverfälschung bei Einsichtnahme durch den Prüfling). 587 Im Arzthaftungsrecht dürfte dies häufig naheliegen.

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B. Grundlegung

terten allgemeinen Impossibilium-Ausnahme (oben (2)). Und sie ist zweitens natürlich auch dort geboten, wo eine Dokumentationspflicht als konkludente Beweislastumkehr auszulegen ist (vgl. oben (1)).588 Im Übrigen wird eine (teilweise)589 Beweislastumkehr regelmäßig dort angebracht sein, wo die dokumentationspflichtige Partei evident in der Lage sein müsste, eine bestimmte Tatsache mittels Dokumenten zu belegen.590

(4) Rechts(entstehungs)hindernde Normen als Problem? In einem Beweislastregelsystem, das maßgeblich auf dem Wechselspiel zwischen rechtsbegründenden und rechtsvernichtenden Normen aufbaut, müssen sich sämtlichen Normen und Normbestandteile möglichst zweifelsfrei zuordnen lassen. Daher gilt es festzustellen, ob und ggf. inwieweit sich die sogenannten rechtshindernden (genauer: rechtsentstehungshindernden)591 Normen abgrenzen bzw. zuordnen lassen – zu einerseits den rechtsvernichtenden Normen, zu andererseits den negativen Tatbestandsmerkmalen einer rechtsbegründenden (oder in Einzelfällen: rechtsvernichtenden) Norm. Der Unterschied zu den rechtsvernichtenden Normen erscheint weitgehend eindeutig: Bei den rechtsvernichtenden Normen (etwa Erfüllung nach § 362 BGB), gelangt ein Recht zunächst zur Entstehung und wird grundsätzlich592 erst nachträglich (ex nunc) zerstört; die rechtsentstehungshindernden Normen (etwa Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB) hingegen sorgen dafür, dass bereits die Begründung des Rechts gesperrt wird. Ein materieller Unterschied zu den negativen Tatbestandsmerkmalen hingegen besteht nicht.593 Aus den materiellen Rechtsfolgen nämlich lässt sich grundsätzlich594 keinerlei Differenzierung herleiten: Bejahung einer rechtsent-

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588 Dabei kann allerdings zuweilen zweifelhaft sein, ob diese konkludente Beweislastumkehr auch für die jeweilige konkrete Fallkonstellation gelten soll – oder (nur) für anders gelagerte Streitfälle. 589 Teilweise kann dabei nicht nur bedeuten, dass nur hinsichtlich bestimmter Einzeltatsachen eines Gesamttatbestandes die Beweislast umgekehrt wird – es kann auch bedeuten, dass nur die Darlegungslast (vgl. oben Fn. 578) wechselt (oder umgekehrt die Darlegungslast unverändert bleibt, aber auf erfolgreiche Darlegung hin die Beweislast wechselt). 590 Man denke an Bebauungspläne bei der zuständigen Baubehörde, Prüfungsunterlagen bei der zuständigen Schulbehörde etc. 591 Noch genauer: „tatbestandsentstehungshindernd“ – s.o. Fn. 492. 592 Mögliche Ausnahme etwa: Die Anfechtung nach § 142 I BGB. 593 Ebenso Leipold, Beweismass und Beweislast, 1985, S. 18; ausführlicher bereits Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 32 ff.; ferner etwa, m.w.N., Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 112. 594 Mögliche Ausnahme, je nach Einordnung, wiederum: § 142 I BGB – vgl. oben Fn. 592.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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stehungshindernden Norm wie Verneinung eines negativen Tatbestandsmerkmals (etwa „ohne rechtlichen Grund“ nach § 812 I S. 1 BGB) führen beide dazu, dass das jeweils beanspruchte Recht gar nicht erst zu Entstehung gelangt. Jedenfalls pragmatisch (also mit Blick auf die Folgen) betrachtet lässt sich daher festhalten: Rechtsentstehungshindernde Normen sind negative Tatbestandsmerkmale – deren Nichtvorliegen im Zweifelsfalle grundsätzlich immer von demjenigen zu beweisen ist, der hinsichtlich des jeweiligen Grundtatbestands beweisbelastet ist. Allerdings ist bei diesen negativen Tatbestandsmerkmalen allgemein besonders sorgfältig darauf zu achten, ob nicht ein Fall konkludenter gesetzlicher Beweislastumkehr (siehe oben (1)), genereller Beweisunmöglichkeit (siehe oben (2)) oder wenigstens umgekehrter Beweisnähe (vgl. oben (3)) vorliegt.595

(5) Weitere Ausnahmen und Problemfälle? Regelungen der Beweislast müssen für den Richter handhabbar und für die Parteien berechenbar sein.596 Das Ziel, „Fehlurteile“ in jedem Einzelfall vermeiden zu wollen, ist daher kurzsichtig.597 Beweislastentscheidung heißt Risikozuweisung, und Risikozuweisung bedeutet für die Parteien auch Risiko der („unverdienten“) Prozessniederlage. Eine „Durchlöcherung“ der formalen Beweislastgrundregel durch eine unbestimmte Vielzahl von „einzelfallgerechten“ Ausnahmen steht insofern vor demselben Problem wie der anfängliche Verzicht auf eine Beweislastgrundregel überhaupt: Richterliche Entscheidungen und damit die Prozessrisiken der Parteien verlieren an Vorhersehbarkeit, die Rechtssicherheit leidet. Dies gilt beim gegenwärtigen Stand der Gesetzgebungstätigkeit noch weitaus mehr als in der Zeitperiode, in der die Normbegünstigungstheorie ihren Anfang nahm. Im Rhythmus nicht mehr von Jahren, sondern eher von Tagen verändert sich der Normbestand, dem natürliche und juristische Personen unterworfen sind.598 Dies heißt auch: Um die spezifische Beweislastverteilung für eine Rechtsnorm oder einen Normenkomplex zu erkennen, hilft ein Blick auf Präjudizien und Fachliteratur oftmals nicht weiter – mangels Vorhandensein oder umgekehrt wegen aus-

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595 Vgl. Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 112, m.w.N. 596 Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 64 f.; Seeliger, Beweislast, 1981, S. 7; insoweit zustimmend auch Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 21 f. 597 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 16. 598 Ob dies eher an der „Unfähigkeit“ des modernen Gesetzgebers liegt oder vielmehr aus der rascheren Veränderung und höheren Komplexität der tatsächlichen Lebensverhältnisse resultiert, mag hier dahinstehen. Der Befund eines umfangreicheren und stärker im Wandel begriffenen Normbestandes (nicht zuletzt auf gemeineuropäischer Regelungsebene) als solcher dürfte aber unbestritten sein.

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B. Grundlegung

ufernder Breite. Sollen die Parteien die Lastenverteilung vor Prozessbeginn auch hinsichtlich neugeschaffener Rechtsnormen selbst zuverlässig ermitteln können, so ist bei der Zulassung weiterer Ausnahmen zur Beweislastgrundregel äußerste Zurückhaltung geboten.599 Unbedenklich ist in dieser Hinsicht eine Beweislastumkehr, die sich aus gewillkürter Parteivereinbarung ergibt: Soweit gesetzlich zulässig, können die Parteien eines (künftigen) Rechtsstreits natürlich vereinbaren, dass hinsichtlich bestimmter Tatsachen – abweichend von der Regelbeweislast – die eine oder die andere Seite beweisbelastet sein soll.600 Problematisch sind demgegenüber Ausnahmen zur Regelbeweislast, die sich auf hinter materiellen Rechtsregeln stehende Gründe (Prinzipien) stützen.601 In diese Richtung scheint sich aktuell die Entwicklung von Lehre und Rechtsprechung zu vollziehen – insbesondere,602 aber nicht nur603 im Öffentlichen Recht. Ganz gleich, ob es dabei um spezifische Einzelgründe einer bestimmten Rechtsregel geht604 oder um allgemeine Prinzipien der Rechtsordnung605 – jeweils bestehen die gleichen Bedenken, die bereits einer prinzipiengeleiteten Beweislastgrundregel entgegenstehen: Rechtsunsicherheit und prozessual falsch aggregierte Beweisobliegenheiten (siehe oben aa (2)).

c) Verhältnis zu Beweismaß und -maßstab Unabhängig von der konkreten Fassung der Beweislastregeln sind Ertrag und Problematik der Beweislast stark abhängig von den Vorschriften zur Beweiswürdigung.606

_____ 599 Ähnlich – aber stärker mit Blick auf die Waffengleichheit der Parteien – Reinhardt, NJW 1994, S. 93, 96 ff.; a.A. offenbar Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 137; sowie Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 224, der es angesichts der „Vielgestaltigkeit des materiellen Rechts“ letztlich für „völlig unrealistisch“ hält, die „Vielfalt und unerfreuliche Kasuistik der Beweislastsonderregeln auch nur annähernd auf einen überschaubaren Kernbestand zu reduzieren“. 600 Siehe etwa Hartmann, in: Baumbach, ZPO Kommentar, 2014, Anh § 286 Rn. 7; sowie ausführlich Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 127 ff. 601 Krit. hierzu bereits Reinhardt, NJW 1994, S. 93 ff., insbes. 96 f. 602 Vgl. etwa Huster, NJW 1995, S. 112 ff.; sowie teilweise auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Losebl. Stand 01/2011, Art. 19 Abs. 4 Rn. 228. 603 Siehe jüngst etwa die Entscheidung des EuGH, Urt. v. 4.6.2015 – C-497/13 –, zur Ausweitung der Beweislast zulasten des Verkäufers beim Verbrauchsgüterkauf. 604 Etwa Schutz des Verbrauchers, der Minderjährigen, der Erben, der Umwelt etc. 605 Etwa Treu und Glauben, Grundrechte. 606 Sehr weitgehend Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 4, nach dessen Auffassung die jeweiligen Probleme „auf das Engste miteinander verknüpft“ sind.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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So wird der Geltungsumfang der Beweislastnormen wesentlich dadurch mit bestimmt, welche Anforderungen an das Beweismaß jeweils zu stellen sind:607 Ein geringstmögliches Beweismaß (minimal überwiegende Wahrheitsüberzeugung) verringert den Raum für Beweislastenscheidungen (vgl. hierzu auch noch unter e bb (1)). Umgekehrt führt ein höchstmögliches Beweismaß (Wahrheitsüberzeugung bei bzw. nahe 100%) dazu, dass Tatsachenentscheidungen fast durchgängig per Beweislast zu treffen wären. Ein Konnex besteht aber auch hinsichtlich des Beweismaßstabs: Ist Beweismaßstab nicht die persönliche Wahrheitsüberzeugung des jeweils zur Entscheidung berufenen Richters, so bleibt für das Instrument der Beweislast u.U. kein Raum mehr. So verhindert etwa de lege lata die volle Beweiskraft des Verhandlungsprotokolls (vgl. § 165 ZPO) Zweifel an den dort festgestellten Tatsachen – und mithin auch entsprechende Entscheidungen per Beweislast. Rechtsgeschichtlich bzw. -vergleichend mag man zudem an sogenannte Gottesurteile608 denken oder auch an Beweisregeln, die (sonstige) formelle Wahrheitszeugnisse (etwa eine bestimmte Anzahl von Zeugen) für den Beweis eines Geschehens fordern und/oder für ausreichend erachten.609 Der Geltungsumfang der Beweislastnormen ist im Recht der Bundesrepublik Deutschland insofern erheblich: Ausnahmen zum Beweismaßstab der persönlichen Wahrheitsüberzeugung des Richters gibt es nur sehr wenige (vgl. bereits oben 2 b aa); und für das Beweismaß fordert das Recht grds. eine „sehr hohe Wahrscheinlichkeit“ (vgl. oben 2 b bb).

d) Schwächen des Beweislastinstruments Dementsprechend sind Schwächen des Beweislastinstruments auch nicht nur Randerscheinungen des Rechtssystems. Vielmehr können Probleme der Beweislast in zahlreichen Fällen fallentscheidend sein. Wesentliche Probleme wurden bereits oben (b cc) im Zusammenhang mit möglichen Ausnahmen zur Regelbeweislast angesprochen. Im Zentrum stand dabei der Gedanke der Unmöglichkeit. Ist der eigentlich beweisbelasteten Partei ein Beweis generell unmöglich, so kann es zu einer Umkehr der Beweislast kommen. Bereits oben wurde aber auch darauf hingewiesen, dass diese Linie nicht immer trennscharf ist: Wann liegt (unzumutbare) „Unmöglichkeit“ vor – wann hingegen nur (hinzunehmende) Erschwertheit?

_____ 607 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 11. 608 Siehe etwa Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, 2010, S. 162 f. u.a. 609 Besonders instruktiv hierzu die historische Untersuchung bei Lepsius, Von Zweifeln zur Überzeugung, 2003, S. 415 ff. u.a. (dort zum aktuellen Fortwirken im italienischen Recht).

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B. Grundlegung

Wann ist die Unmöglichkeit eine „generelle“ (insbes.: unverschuldete) – wann hingegen überwiegend eine individuelle (insbes.: mit verschuldete)? Wie umgehen mit Fällen, in denen der Beweis für beide/alle Parteien (nahezu) generell unmöglich ist?610 Eindeutige, immer vollauf befriedigende Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. Dies gilt zwar auch für die herkömmliche Unmöglichkeitsgrenze im materiellen Recht. Gleichwohl wird an dieser Stelle eine Problematik des materiellen Rechts in das Prozessrecht importiert. Problematische „Importe“ gibt es daneben noch an weiteren Stellen, nämlich bei Unklarheiten des materiellen Rechts: Ist etwa unklar, ob eine Vorschrift rechtsvernichtender Natur oder rechtsentstehungshindernder Natur ist, so schlägt diese Unklarheit natürlich auf das Recht der Beweislast durch. Sehr praxisrelevant dürfte diese Problematik allerdings nicht sein – jedenfalls im Zivilrecht bereitet die Erkenntnis rechtsvernichtender Normen regelmäßig wenige Probleme.611 Grundsätzlicherer Art sind Bedenken, wonach das Beweislastdenken vielfach allzu „schematisch“ sei (siehe oben b aa). Nun ist der Zwang zu digitalen Entscheidungen bei graduellen Sachverhaltsunterschieden dem Recht keineswegs wesensfremd: In einer Vielzahl von Fällen entscheiden vergleichsweise kleine Details im Ergebnis über „Null“ oder „Eins“ – etwa über Freispruch oder Strafbarkeit. Beim Instrument der Beweislast zeigt sich diese Problematik aber doch in besonderer Schärfe: Man denke beispielhaft an einen Richter, der zu nur (aber auch: immerhin) ungefähr 70 Prozent von der Sachverhaltsversion überzeugt ist, die ihm von der beweisbelasteten Partei angeboten wird; für einen Vollbeweis wird dies tendenziell nicht ausreichen; der Richter wird dann womöglich zu Ungunsten der beweisbelasteten Partei entscheiden (müssen) – obwohl er dieser Partei deutlich mehr Glauben schenkt als ihrem Gegner. Jedenfalls juristischen Laien ist ein solches Ergebnis schwer zu vermitteln. Fehlende materielle Gerechtigkeit lässt sich zuweilen auch dort beklagen, wo zwischen den Parteien ein erhebliches Ungleichgewicht besteht. Darunter fallen erstens Sachverhalte, bei denen eine (nicht beweisbelastete) Partei wesentlich beweisnäher ist (vgl. oben b cc (3)). Daneben existieren zweitens auch Streitigkeiten, bei denen eine Partei schlicht wirtschaftlich weitaus potenter und aus diesem Grunde eher zur Beweisführung in der Lage wäre: Man denke

_____ 610 Dies freilich dürfte selten sein. Zumeist wird sich eine der Parteien die fehlende Beweissicherung vorwerfen lassen müssen. 611 Schwieriger ist die Abgrenzung zwischen rechtsentstehungshindernden Normen und negativen Tatbestandsmerkmalen (von Anspruchsnormen). Eine solche Abgrenzung ist aber nach hier vertretener Auffassung (oben b cc 4) auch nicht erforderlich.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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nur an die erheblichen Kosten, die durch Beauftragung eines Sachverständigen entstehen können. In der ersten Fallgruppe wird gelegentlich (aber eben nicht immer und vor allem nicht immer vorab rechtssicher bestimmbar) eine Beweislastumkehr in Betracht kommen. In der zweiten Fallgruppe würde die Möglichkeit einer (über die bislang genannten Ausnahmen hinausgehenden) Beweislastumkehr wohl mehr Probleme schaffen als lösen; stattdessen werden hier manche Härten über Rechtsschutzversicherungen und Prozesskostenhilfe abgefedert; völlige Waffengleichheit ist so aber kaum herzustellen. In diesem Zusammenhang darf auch nicht übersehen werden, dass das Regelsystem der Beweislast einen Teil seiner Vorzüge nur dort voll zur Geltung bringen kann, wo die Parteien eines Rechtsstreits rechtskundig (beraten) sind: Wenn nämlich die Verteilung der Beweislast weitgehend von den Normen des materiellen Rechts abhängt, dann bedingt die zutreffende Einschätzung der Beweisrisiken eine möglichst weitgehende Erkenntnis eben dieser Rechtsnormen.

e) Alternativen zur Entscheidung per Beweislast Angesichts der vorstehend skizzierten Schwächen der Beweislast scheint es geboten, über Alternativen zu diesem Instrument der Entscheidung in Zweifelsfällen nachzudenken.612 Kein Ausweg ist unter Geltung des Rechtsstaatsprinzips die Verweigerung einer Entscheidung (aa). In Betracht kommen aber zumindest vier nicht gänzlich abwegige Alternativlösungen (bb). Gegenüber diesen Alternativen ist die Entscheidung per Beweislast letztlich jedoch – jedenfalls regelmäßig – klar vorzugswürdig (cc).

aa) Gebot der Entscheidung Wiederholend festzuhalten ist zunächst: Aufgrund des allgemeinen verfassungsrechtlichen Justizverweigerungsverbots (siehe hierzu noch unter f aa) ist der Richter auch bei ungewissem Sachverhalt gezwungen, Rechtsstreitigkeiten einer Entscheidung zuzuführen. Zwar ist der sachliche Umfang dieses „Entscheidungszwangs“ im Einzelnen umstritten (dazu noch unter C II 3 a). Klar ist aber: Kein Rechtsstreit darf auf Dauer im „Schwebezustand“613 bleiben; und

_____ 612 Dabei mag an dieser Stelle dahinstehen, ob solche Alternativen bereits deshalb nur de lege ferenda (voll) zu verwirklichen wären, weil jedenfalls das Zivilrecht mit seinen zahlreichen impliziten Beweislastumkehrnormen die Beweislast als Instrument der tatsächlichen Zweifelsentscheidung grds. zwingend vorschreibt (vgl. hierzu noch unter f). 613 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 35.

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B. Grundlegung

eine Demission von Richtern nach der Maxime sibi non liquere614 kennt das deutsche Recht gleichfalls nicht.615 Folglich ist bei Zweifeln auf Tatbestandsebene bereits von Verfassung wegen eine Entscheidung per Beweislast oder anhand eines funktionalen Äquivalents616 unumgänglich.

bb) Vier Alternativen zur Beweislastentscheidung Als funktionale Äquivalente zur Beweislastentscheidung kommen vor allem vier Verfahrensweisen in Betracht: Lösung auf Ebene der Beweiswürdigung (1), Quotelung von Ansprüchen (2), Vergleich (3) und Losverfahren (4).

(1) Senkung des Beweismaßes, flexibler Beweismaßstab Die erste Lösung setzt auf einer der Beweislastentscheidung vorgelagerten Stufe an: bei der Beweiswürdigung. Anhand eines flexibleren Beweismaßstabs (generelle Zulassung des Freibeweises) und/oder einer Senkung des Beweismaßes (minimal überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt) sollen Beweislastentscheidungen entbehrlich werden.617 Für eine entsprechende Vorgehensweise wird vor allem der Gesichtspunkt der Einzelfallgerechtigkeit angeführt: Ist, nach Ausnutzung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel, der Sachverhalt A leicht wahrscheinlicher als der Sachverhalt B, so sei es immer noch am gerechtesten, im Zweifel zugunsten derjenigen Partei zu entscheiden, die sich auf A beruft. Demgegenüber seien Entscheidungen per Beweislast zu starr und unflexibel.618

_____ 614 Zu einem solchen Demissionseid für den Fall, dass die Sache sich aus Sicht eines oder mehrerer Richter nicht „geklärt“ hat, siehe etwa Kaser, Das römische Zivilprozessrecht, 1966, S. 88, 284; sowie ausführlich Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, 2016, S. 22 ff., m.w.N. 615 Im Übrigen: Auch die ausdrückliche oder faktische Verweigerung ist eine Entscheidung – und zwar regelmäßig eine Entscheidung zulasten des Klägers. Insofern handelt es sich bei der Demission sibi non liquere im Grunde um eine – sehr einseitige – Form der Beweislast. 616 Zum (aus der Theorie zur Rechtsvergleichung) stammenden Begriff des „funktionalen Äquivalents“ vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 37 f. u.a.; zur Kritik an der funktionalen Rechtsvergleichung siehe etwa Piek, GreifRecht 2009, S. 84 ff.; sowie ferner Richers, ZaöRV 2007, S. 509 ff. 617 In diese Richtung etwa Motsch, Beweis, 1983, S. 34 ff.; sowie Kegel, in: Biedenkopf/Coing/ Mestmäcker, Festgabe Kronstein, 1967, S. 321, 335; zu weiteren Vertretern dieses aus dem skandinavischen Raum stammenden „Überwiegensprinzips“ (Överviktsprincip) siehe Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 42 (Fn. 100), mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 618 Siehe erneut Motsch, Beweis, 1983, S. 34 ff.; sowie die kritische Würdigung bei Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 38 ff., m.w.N.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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Dies vermag nicht zu überzeugen. Eine (weitere) Flexibilisierung des Beweismaßstabs, erstens, würde allenfalls in wenigen Einzelfällen weiterhelfen – nach deutschem Recht ist das Gericht insofern ohnehin sehr frei. Eine Senkung des Beweismaßes, zweitens, würde bei nur minimal überwiegenden Wahrscheinlichkeiten letztlich den Zufall zum Rechtsprinzip erklären (dazu noch unten), persönlichen Eigenarten und aktuellen Stimmungslagen des Richters bestimmendes Gewicht bei der Entscheidung einräumen und jedes Mindestmaß an Rechtssicherheit vermissen lassen; im Übrigen würden Anspruchsbehauptungen „ins Blaue hinein“ zunehmen; und vor allem fehlte es für Fälle mit 50:50-Wahrscheinlichkeit619 noch immer an einer Entscheidungsregel.620 Ohnehin ist – entgegen etlichen Stimmen in der Literatur621 – zu betonen, dass alle Überlegungen zur (ausnahmslosen) Auflösung von Tatsachenzweifeln im Wege der Beweiswürdigung lediglich de lege ferenda zu verwirklichen wären. Für eine mögliche Flexibilisierung des Beweismaßstabs (insbesondere Abschaffung des Strengbeweises) versteht sich dies von selbst. Aber auch einer Absenkung des Beweismaßes stehen im Zivilrecht wie im Öffentlichen Recht gesetzliche Regelungen entgegen: Neben den „Zentralnormen“ über die Beweiswürdigung (§ 286 I ZPO, § 108 I VwGO) sind dies vor allem all diejenigen materiellrechtlichen Normen, die eine Abweichung vom Regelbeweismaß anordnen; diese Normen wären gegenstandslos, dürfte der Richter nötigenfalls immer eine nur (leicht) überwiegende Wahrscheinlichkeit (anstelle des Fürwahr-Haltens) genügen lassen.622

(2) Quotelung Während Modifikationen an Beweismaßstab und Beweismaß darauf abzielen, dem Problem der Beweislast gewissermaßen die Basis zu nehmen, setzen die übrigen Alternativen bereits das Eingeständnis voraus, dass dies letztlich nie (vollständig) gelingen kann. Nächstliegend scheint dort dann der Gedanke, Ansprüche bei non liquet schlicht zu quoteln. Kann also, um ein simples Beispiel zu wählen, ein Kaufpreisanspruch über 1.000 Euro weder mit dem erforderlichen Beweismaß bewiesen noch entkräftet werden, so wäre im Urteil ein An-

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619 Diese dürften v.a. bei komplexen Sachverhalten weniger selten sein als gemeinhin angenommen – vgl. insoweit bereits Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 39 f. 620 So bereits zutreffend Kegel, in: Biedenkopf/Coing/Mestmäcker, Festgabe Kronstein, 1967, S. 321, 337, der in diesen Fällen eine „modifizierte Normentheorie“ gelten lassen will; krit. hierzu Seibl, Beweislast, 2009, S. 118 ff. 621 Siehe erneut Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 38; sowie Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 44. 622 Ähnlich Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 51 f.

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B. Grundlegung

spruch auf die Hälfte des Geldes (oder, je nach Beweislage, ein anderer Bruchteil) zuzusprechen. Eine solche Lösung hat de lege ferenda in der Literatur durchaus Befürworter gefunden623 und kann sich auch auf historische Vorbilder624 berufen.625 Für ein entsprechendes Vorgehen lassen sich zwei durchaus starke Argumente anführen. Erstens kann, v.a. bei „verworrenen“ Sachverhalten, durch Quotelung oftmals eher Rechtsfrieden erzielt werden als durch eine digitale „Alles-oder-Nichts“-Entscheidung. Und zweitens diente ein solches Instrument in vergleichsweise hohem Maße auch dem Ziel der Rechtssicherheit, insbesondere einer Abschätzung der Kosten/Nutzen-Relation eines Gerichtsverfahrens durch die Parteien – jedenfalls dann, wenn diese aufgrund eigener oder anwaltlicher Sach- und Rechtskenntnis die Qualität ihrer Beweismittel einigermaßen zuverlässig abzuschätzen vermögen. Im Ergebnis kann das Instrument der Quotelung als Ausweg in Fällen der tatsächlichen Ungewissheit dennoch nicht überzeugen. Es schafft Probleme, die es – jedenfalls ohne Ergänzung – nicht löst und scheitert an der Natur der meisten Rechtsverhältnisse. Probleme schafft der Ausweg der Quotelung mit Blick auf betrügerisches Verhalten der Parteien: Macht etwa die eine Partei einen Kaufpreisanspruch geltend, ohne hierfür irgendwelche Beweise (etwa einen schriftlichen Vertrag) vorlegen zu können (etwa weil es gar keinen Vertrag gab), so müsste nach der Quotelungslösung in der Praxis dennoch häufig die Hälfte des Kaufpreises zugesprochen werden. Man sieht – für sich genommen führt die Quotelungslösung zur schrankenlosen und unter Umständen betrügerischen Anspruchsbehauptung „ins Blaue hinein“. Diesem Einwand ließe sich wohl nur mittels Fortgeltung einer abgeschwächten Version der Beweislast626 begegnen. Grundlegendere Bedenken weckt die Tatsache, dass zahlreiche Streitgegenstände – insbesondere, aber nicht nur im Öffentlichen Recht – schlicht nicht teilbar sind.627 Dies betrifft etwa die meisten „Ansprüche“ auf Aufhebung von Verwaltungsakten ebenso wie zum Beispiel Ansprüche auf Einräumung unmit-

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623 Siehe etwa Bötticher, Gleichheit vor dem Richter, 1954, S. 15 ff.; Kegel, in: Biedenkopf/ Coing/Mestmäcker, Festgabe Kronstein, 1967, S. 321, 337 f. 624 Siehe etwa Teil 1, Dreizehnter Titel, § 29 der Allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten (1793): Teilung des „Objecti litis“ „nach einem billigen Verhältnisse“ bei Unaufklärbarkeit. 625 Siehe zusammenfassend Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 36 f. 626 I.S.v.: Der Anspruchsbehauptende muss das Bestehen seines Anspruches mindestens als minimal überwiegend wahrscheinlich darlegen können. Spiegelbildliches gilt für den Gegner bzgl. etwaiger Gegennormen. 627 So zu Recht Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 104, m.w.N.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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telbaren Sachbesitzes oder auf Unterlassung einer (behaupteten) Markenrechts- oder Persönlichkeitsrechtsverletzung. Gewiss ließen sich auch in den meisten dieser Fälle Lösungen finden, die zu einem ungefähren Ausgleich zwischen den Parteien führen (das heißt regelmäßig: Stattgabe/Abweisung gegen Ausgleichszahlung). Dann allerdings würde das Gericht in einer Weise rechtsgestaltend tätig, die jedenfalls mit den Grundsätzen des Zivilprozesses unvereinbar wäre. Wenn aber zumindest in manchen Fällen Anspruchsquotelungen ausgeschlossen sind, dann dürfte diese Variante der Entscheidungsfindung schon aufgrund des Art. 3 I GG generell ausscheiden. Denn es erschiene evident ungerecht (im Sinne von: ungleich bei materiell gleicher Interessenlage), bei jeweils unklarer Beweislage dem Anspruchsteller einer Geldforderung die Hälfte des Betrags zuzusprechen – denjenigen, der in einem ansonsten gleichen Fall die Herausgabe einer unteilbaren Sache beansprucht, hingegen leer ausgehen zu lassen.628

(3) Prozessvergleich Die letztgenannten Schwierigkeiten vermeidet eine weitere Lösung, die im Ergebnis der Quotelung von Ansprüchen sehr nahe steht: der Prozessvergleich, erforderlichenfalls vorbereitet durch ein Mediationsverfahren. Auch hier kommt es regelmäßig zu einer Teilung von Ansprüchen – allerdings nicht durch hoheitliche Zuteilung von Quoten, sondern anhand einer (meist durch das Gericht oder Dritte vermittelten) Einigung der Streitparteien. Diese „Mitwirkung“ der Parteien bei der Entscheidungsfindung ermöglicht eine flexiblere Handhabung der Anspruchsquotelung, insbesondere in Fällen eigentlicher Unteilbarkeit: Ausgleichszahlungen und sonstige vertragliche „Gegenversprechen“ zur Anspruchszuerkennung schaffen hier die nötigen Freiräume. Insofern erscheint der Prozessvergleich geradezu als Idealfall gerichtlicher Zweifelsentscheidung. Es verwundert daher nicht, wenn der Gesetzgeber in § 278 I ZPO vom Richter fordert, in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Streits bedacht zu sein. Nicht wenige Richter kommen dem gerne nach,629 sel-

_____ 628 Zweifelhaft wäre im Übrigen auch, ob dann konsequenterweise nicht in nahezu allen gerichtlich entschiedenen Fällen zu quoteln wäre: 100-prozentige Gewissheit gibt es nicht – also müsste folgerichtig auch bei einer Tatsachenentscheidung von „sehr hoher Wahrscheinlichkeit“, demjenigen, der die sehr unwahrscheinlichen Gegentatsachen behauptet, ein Anspruchsrest zugesprochen werden. Damit wären gerichtliche Entscheidungen (außer in Fällen unstreitigen Sachverhalts) immer graduelle Entscheidungen. 629 Wobei neben der persönlichen Überzeugung zuweilen vermutlich auch Arbeitsüberlastung und ministeriale Vorgaben im Hinblick auf die Leistungsbewertung eine Rolle spielen.

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B. Grundlegung

biges gilt für die Anwälte.630 Die Zahl der Prozessvergleiche in 1. Instanz ist im Zivilrecht in der jüngeren Vergangenheit denn auch kontinuierlich weiter angestiegen, auf zuletzt über 15 Prozent der erledigten Verfahren vor den Amtsgerichten631 und 26 Prozent der erledigten Verfahren vor den Landgerichten632 im Jahr 2015 nach circa 14 Prozent vor den Amtsgerichten und circa 23 Prozent vor den Landgerichten im Jahr 2007633. Doch die Lösung von Streitigkeiten und Ungewissheiten „im Wege gegenseitigen Nachgebens“ (§ 779 I BGB) hat nicht nur Vorzüge. Sie führt letztlich dazu, dass rechtliche Argumente von wirtschaftlichen teilweise verdrängt werden – die Tatsache etwa, dass eine der Parteien finanziell potenter ist oder ihre Kosten durch eine Rechtsschutzversicherung zu decken vermag, wird ebenso bedeutsam wie mögliche Prozessrisiken in den Folgeinstanzen.634 Im Übrigen steht die Funktionsweise des Vergleichs (Aushandeln) in diametralem Gegensatz zur Funktionsweise des Rechts (Entscheiden) – der Gerichtsprozess verkommt zur „Schlichtungsverwaltung“635. Geschichtlich besehen handelt es sich im Grunde um einen Rückschritt von der Moderne zurück in das Mittelalter des Rechts.636 Für sich genommen, das heißt im jeweiligen Einzelfall, ist dieses Aushandeln noch nicht einmal notwendig nachteilig für die Beteiligten – jedenfalls dann, wenn der Handel unter (auch: wirtschaftlich) Gleichen stattfindet; der materiellen Gerechtigkeit dient in komplexen Fällen der Kompromiss oftmals mehr als die digitale Entscheidung im Sinne eines „Alles oder Nichts“. In der Summe materiell gerechter Einzelfallkompromisse aber verliert das Recht an Kontur, an Klarheit und Steuerungsfähigkeit (vgl. bereits oben unter I 2 a gg); zudem werden erneut Anspruchsbehauptungen ins Blaue (also Behauptungen, von denen der Behauptende weiß oder wenigstens vermutet, dass er sie nicht

_____ 630 Sie erhalten für den Abschluss eines Vergleichs als „Belohnung“ eine Vergleichsgebühr (vgl. § 23 BRAGO). 631 Siehe Statistisches Bundesamt, Rechtspflege Zivilgerichte, 2015, S. 18, 22. 632 Siehe ibid., S. 48, 52. 633 Siehe Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 130 Rn. 2. In der 2. Instanz wurden danach im Jahr 2007 circa 12% (LG) bzw. 14% (OLG) aller Fälle durch Vergleich beendet. 634 Natürlich spielen wirtschaftliche Ungleichgewichte auch sonst in Streitigkeiten eine wesentliche Rolle. Aber dies geschieht sonst eben nur mittelbar, nicht mit direktem Bezug zum Ausgang des Gerichtsverfahrens. Um es bildlich und überspitzt zu fassen: Mit Geld lässt sich zuweilen das Forum eines Wettkampfs günstig gestalten, lassen sich Waffen kaufen; bei Vergleichsentscheidungen aber wird Geld zudem noch selbst zur Waffe. 635 Lege, ARSP 2007, S. 21, 25. 636 Vgl. Lege, NVwZ 2005, S. 880, 886.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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belegen kann) befördert, wenn der Behauptende sich darauf verlassen kann, dass im Zweifel das Gericht ohnehin auf einen Vergleich drängen wird; umgekehrt erfolgen auch vorschnelle (Zu-) Geständnisse, wenn eine Partei befürchten muss, dass das Gericht einen Vergleich anstrebt.637 Letzteres impliziert: Auch die Grundlage des Vergleichs kann nur eine „aufbereitete“ Tatsachengrundlage sein, also eine Tatsachengrundlage, bei der der vorgebliche Anspruchsinhaber seine Anspruchsinhaberschaft und der Gegner etwa das Bestehen einer Einwendung glaubhaft gemacht haben. Deshalb, aber auch aufgrund der Freiwilligkeit des Vergleichs, kann die Entscheidung (bzw.: Entscheidungsvermeidung) per Prozessvergleich andere Zweifelsinstrumente immer nur ergänzen, nicht aber ersetzen. Und spätestens dann, wenn die Parteien sich einem Vergleich verweigern, bleibt dem Richter ohnehin nur die Streitentscheidung.

(4) Losverfahren Als einzig verbleibende Alternative zur letztentscheidenden638 Beweislast bietet sich damit die vielleicht älteste Variante menschlicher Entscheidungsfindung an: das Los. In der Frühgeschichte des Rechts639 und noch bis zum Beginn der Neuzeit war es in Form des sogenannten Gottesbeweises oder Ordals bei Zweifeln vielfach Mittel der Wahl.640 Heute findet es lediglich in einigen Einzelfällen nach wie vor Anwendung – etwa im Falle der Stimmgleichheit bei der Besetzung öffentlicher Ämter,641 bei der Aufstellung von Schöffenlisten,642 im Rahmen der Verteilung gleichartiger unteilbarer Güter bei Auseinandersetzung einer Erbengemeinschaft,643 bei der Studienplatzvergabe,644 bei Zulassungsentschei-

_____ 637 Vgl. in diesem Zusammenhang die jüngste Entscheidung des BVerfG zur Verständigung im Strafverfahren – BVerfGE 133, 168 ff. 638 Um Anspruchsbehauptungen ins Blaue hinein zu vermeiden, erscheinen, wie bereits erwähnt, eine reduzierte Form der subjektiven Beweislast und/oder Mitwirkungspflichten nahezu unumgänglich. 639 Siehe etwa Wesel, Frühformen des Rechts, 1985, S. 326. 640 Siehe eingehend bereits Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl. 1962, S. 147 ff. (m.w.N. auf S. 151), 387 ff. (m.w.N. auf S. 394); sowie, zu Ideengeschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektiven des Loses im Staatswesen insgesamt, jüngst Buchstein, Demokratie und Lotterie, 2009, passim.; ferner auch Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, 2010, S. 162 f. u.a. 641 Siehe § 5 S. 3 BWahlG. 642 Siehe § 45 GVG. 643 Siehe §§ 2042 II, 752 S. 2 BGB. 644 Siehe BVerfGE 43, 291, 324.

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B. Grundlegung

dungen im Gewerberecht645 sowie bei sonstigen anders kaum rational auflösbaren Zuteilungsentscheidungen.646 Abseits dieser spezifischen Einzelfälle fristet das Los inzwischen ein Schattendasein. Denn dem aufgeklärten, rational denkenden Menschen heutzutage ist die Zufallsentscheidung im Grunde zutiefst suspekt.647 Dabei scheint das Los – wenigstens bei Unsicherheiten im 50:50-Verhältnis – geradezu der Inbegriff materieller Gerechtigkeit zu sein: Es ist bis zum Äußersten un-parteiisch, es behandelt eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit (der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung) als genau das, was diese Wahrscheinlichkeit zu signalisieren scheint: Eine 50-prozentige Chance darauf, den Rechtsstreit in dieser Frage für sich zu entscheiden.648 Doch der Schein trügt. In Wahrheit würde das Los dann zumeist (auch in Fällen des 50:50) normativ Ungleiches in gleicher Weise behandeln – und damit gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG verstoßen. Dass eine Tatsache aus Sicht des Richters (nur) zu 50 Prozent wahrscheinlich ist, heißt nämlich noch lange nicht, dass beide Parteien ein 50-prozentiges Verlustrisiko tragen sollen. Daher und weil die tatsächlichen Wahrscheinlichkeiten regelmäßig ungleich (nicht 50:50) verteilt sind, müsste konsequenterweise auch beim Losen mit (wenigstens ungefähr) gewichteten Chancen gearbeitet werden.649 Selbst dann wäre aber fraglich, ob das Los sich mit dem rechtsstaatlichen Willkürverbot vereinbaren ließe650 – der Zufall als Rechtsprinzip ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Im Übrigen würde der Losentscheid wiederum die Gefahr von Anspruchsbehauptungen ins Blaue befördern – wiederum wäre also wenigstens eine abgeschwächte Version der subjektiven Beweislast kaum verzichtbar. Ebenso wie die übrigen (Teil-) Alternativen zum Instrument der Beweislast weist das Los – auch de lege vel constitutione ferenda – mithin etliche wesentliche Mängel auf. Vor allem aber ist die Losentscheidung nicht nur unserem geschriebenen Recht, sondern auch unserer Rechtskultur inzwischen gänzlich

_____ 645 Hierzu etwa Depenheuer, JZ 1993, S. 171, 173; sowie von Arnauld, in: von Arnauld, Recht und Spielregeln, 2003, S. 171, 181 ff., jeweils mit einigen weiteren Beispielen und Nachweisen. 646 Vgl. jüngst etwa den Fall der begrenzten Zulassung von Pressevertretern in einem Mordfall vor dem OLG München – BVerfG, NJW 2013, S. 1293. 647 Siehe von Arnauld, in: von Arnauld, Recht und Spielregeln, 2003, S. 171 ff. 648 Ähnlich von Arnauld, in: von Arnauld, Recht und Spielregeln, 2003, S. 171, 183 f. 649 Und ganz konsequenterweise müssten – ähnlich wie bei der Quotelung (s.o. Fn. 628) – dann alle streitigen Tatsachenentscheidungen letztlich Losentscheidungen mit gewichteten Chancen sein. 650 Siehe von Arnauld, in: von Arnauld, Recht und Spielregeln, 2003, S. 171 ff., 181, 185, m.w.N.; vgl. daneben auch Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 118, 122, m.w.N.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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fremd.651 Akzeptanz solcher Entscheidungen könnte daher – in absehbarer Zukunft und über eng begrenzte Anwendungfälle hinaus – ohnehin nicht erwartet werden.652

cc) Überlegenheit der Beweislast Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern: Das Instrument der Beweislast in seiner klassischen, allenfalls leicht modifizierten Form, ist schon deshalb unverzichtbar, weil sich Anspruchsbehauptungen ins Blaue hinein sonst kaum wirksam vermeiden lassen. Aber auch darüber hinaus ist die Zweifelsentscheidung per Beweislast allen ernsthaft denkbaren Alternativlösungen regelmäßig überlegen. Denn diese Alternativen weisen sämtlich noch weitere gravierende Schwächen auf. Das einzige Zweifelsinstrument, das überhaupt de lege lata teilweise die Beweislast zu ersetzen vermöchte, ist der Prozessvergleich; dieser begünstigt tendenziell allerdings verstärkt wirtschaftlich potente Parteien; zudem würde eine (weitere) Zunahme vergleichsweiser Entscheidungen auf Dauer die Steuerungsfähigkeit des Rechts erodieren lassen; und natürlich setzt der Vergleich immer die Zustimmung der Parteien voraus. Diese Zustimmung wäre entbehrlich bei Einführung eines „Zwangsvergleichs“; die flächendeckende Quotelung von Ansprüchen würde jedoch bereits daran scheitern, dass zahlreiche Ansprüche unteilbar sind; eine Beschränkung der Quotelung auf dafür geeignete Fälle wäre im Hinblick auf Art. 3 I GG schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt. Leichter durchführbar wäre eine generelle Absenkung des erforderlichen Beweismaßes; jedenfalls in Fällen tatsächlicher Ungewissheit im Verhältnis 50:50 würde eine solche Änderung des Prozessrechts aber nicht weiterhelfen. Vor allem – aber nicht nur – dort käme stattdessen ein Losverfahren in Betracht; dabei handelte es sich allerdings um einen völligen Fremdkörper der Rechtskultur, dessen Akzeptanz nicht zu erwarten ist und dessen Einführung überdies die Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen nicht stärken, sondern schwächen würde. Gegenüber diesen teilweise gravierenden Einwänden fallen die punktuellen Schwächen des Beweislastinstruments wenig ins Gewicht – und in Teilen sind diese Schwächen auch gar nicht beweislastspezifisch, sondern betreffen in ähnlicher Weise die denkbaren Alternativen. Einzige „strukturelle“ Schwäche des Beweislastdenkens ist sein „Schematismus“ – aber diese Eigenart, die im Grun-

_____

651 Wenngleich es zumindest in der Literatur eine gewisse Rennaissance erlebt. Siehe jüngst etwa Buchstein, Demokratie und Lotterie, 2009, passim. 652 Siehe ibid., S. 190.

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B. Grundlegung

de eine Eigenart des Rechts ist, ist eben nicht nur Schwäche, sondern ebenso Stärke: Kehrseite des beklagten Schematismus ist nämlich die möglichst weitgehende Vorhersehbarkeit von Streitentscheidungen – und dies ist eine zentrale Errungenschaft juristischer Gerechtigkeit (siehe bereits oben I 2 a gg).

f) Rechtliches Fundament des Beweislastinstruments Die Erkenntnis, dass das Instrument der Beweislast möglichen Konkurrenzlösungen überlegen ist, vermag freilich – für sich genommen – Auftrag und Zulässigkeit der Beweislastenscheidung nicht zu konstituieren. Im (Verfassungs-) Rechtsstaat bedarf die Befugnis zur Begründung einer juristischen Entscheidung mittels Beweislast ihrerseits der rechtlichen Begründung653.654 Die Erkenntnis eines tatsächlichen non liquet im Einzelfall genügt dabei – wiederum: für sich genommen – zur Rechtfertigung nicht (aa). Und auch das einfachrechtliche – insbesondere einfachgewohnheitsrechtliche – Fundament der Beweislast ist teilweise unsicher und fragmentarisch (bb). Eine überzeugende Herleitung von Grenzen und Ermächtigung zur Beweislastentscheidung ist – insbesondere für das Öffentliche Recht – nur auf Grundlage verfassungsrechtlicher Maßgaben möglich (cc). Das rechtliche Gesamtfundament ergibt sich dann aus der Synthese von verfassungs- und einfachrechtlichen Bestimmungen in der Non-liquet-Situation (dd).

aa) Non liquet als „Fundament“ Nach Leonhard und Rosenberg war die Entscheidung per Beweislast noch quasi selbstverständliche, notwendige Konsequenz der Unbewiesenheit von Tatsachen: Ließ eine Tatsache sich nicht mit dem erforderlichen Beweismaß feststellen, so war der betreffende Tatbestand mangels Erwiesenheit nicht erfüllt (Leonhard) 655 bzw. aufgrund eines non liquet im Ergebnis als nicht erfüllt zu fingieren (Rosenberg)656.

_____

653 Üblicherweise wäre diese Begründung bereits zu Beginn dieses Abschnitts zu verorten gewesen (vgl. oben 3 a). Eine überzeugende Antwort ist allerdings erst nach Erörterung der vorstehenden Problemkreise möglich. 654 Dieses Problem wird nur selten überhaupt zur Kenntnis genommen. Eine der wenigen Ausnahmen ist insofern die Darstellung bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 214 ff. – seinerseits mit krit. Anm. zur „Nachlässigkeit“ (ibid., S. 215) der Beweislastlehren sowohl im Öffentlichen Recht wie im Zivilrecht; vgl. ferner noch Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 181 ff. insbes. 655 Siehe Leonhard, Die Beweislast, 2. Aufl. 1926, S. 127. 656 Siehe Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 5, 6, 12 u.a.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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Diese Begründung allerdings ist en quelque façon nulle657. Gegen die „Erwiesenheitstheorie“ von Leonhard spricht rein formal bereits, dass materiellrechtliche Normen an Tatsachen und nicht an die Erwiesenheit von Tatsachen anknüpfen.658 Und die „Fiktionslösung“ von Rosenberg belässt es bei der bloßen Behauptung der Fiktion – sie begründet nicht, warum der Richter zu dieser Fiktion ermächtigt ist.659

bb) Einfachrechtliches Fundament Nun mag man sich allerdings in weiten Teilen damit begnügen, dass die entsprechende „Fiktionsermächtigung“ mittlerweile auf solidem einfachrechtlichen Fundament stehe: Eine ausdrückliche positiv-rechtliche „Beweislastgrundregel“ existiert zwar weder im Zivil- noch im Öffentlichen Recht.660 Das Instrument der Beweislast findet aber in Deutschland seit mindestens dem 19. Jahrhundert und im Übrigen in sämtlichen entwickelten Rechtssystemen der westlichen Welt661 allgemeine Anwendung,662 dort zuweilen sogar positivrechtlich verbürgt;663 die Ermächtigung des Richters zur Anwendung von Beweislastregeln, und zwar im Wesentlichen Regeln nach dem Rosenberg-Modell, könnte also in Gewohnheitsrecht,664 vielleicht sogar „Weltgewohnheitsrecht“665 erwachsen sein. Und wenn zudem zahlreiche Vorschriften – vor allem, aber nicht nur,666 im Zivilrecht – implizit eine Beweislastumkehr anordnen, dann liegt es nahe, sogar (zusätzlich)667

_____ 657 Montesquieu, De l'esprit des Loix, 1748, Livre XI, Chapitre VI. 658 Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 101, m.w.N. 659 Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 31 f.; zustimmend Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 102; generell kritisch zur Behauptung einer Fiktionswirkung der Beweislastregeln Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 191 ff. – stattdessen seien Beweislastnormen eigenständige Normen mit eigenem Tatbestand und eigenen Rechtsfolgen (siehe ibid., S. 196 ff.). 660 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 227. 661 Vgl. exemplarisch für den angelsächsischen Rechtskreis bereits Schwering, Beweislast im englisch-amerikanischen Zivilprozess, 1969, passim. 662 Siehe dezidiert Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 1. 663 Vgl. etwa § 8 des schweizerischen ZGB: „Wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, hat derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet.“ 664 Siehe Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 227, Fn. 581, m.w.N. 665 Pohle, in: Caemmerer/Nikisch/Zweigert, FS Dölle, Bd. 2, 1963, S. 317, 323. 666 Vgl. insofern exemplarisch die Übersicht bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 216 f. 667 So wohl die Grundauffassung bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 181 ff. (insbes. 184). Danach sei die Ermächtigung zur Entscheidung per Beweislast in die gesetzlichen und richterrechtlichen Beweislastverteilungsnormen zu „inkorporieren“.

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B. Grundlegung

von „stillschweigendem Gesetzesrecht“ auszugehen.668 Noch weitergehend wird die Ermächtigung zur Beweislastentscheidung teilweise unmittelbar aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (etwa § 286 I ZPO; § 108 I VwGO) entnommen.669 Gar so sicher, wie es scheinen möchte, ist dieses einfachrechtliche Fundament freilich nicht. So ist die Berufung auf § 286 I ZPO schon deshalb äußerst zweifelhaft, weil nach herrschender Auffassung die Bereiche der Beweiswürdigung einerseits und der Beweislast andererseits begrifflich wie dogmatisch strikt zu trennen sind:670 Nach § 286 I ZPO ist ein Tatbestand erwiesen, soweit die jeweiligen Tatsachen als wahr oder nicht wahr zu erachten seien; Beweislast hingegen meint die nachgeordnete Frage, wann ein Tatbestand als erwiesen gilt, soweit die jeweiligen Tatsachen weder als wahr noch als nicht wahr zu erachten seien.671 Weiterhin lässt sich die Annahme von Gewohnheitsrecht oder gar stillschweigendem Gesetzesrecht wohl nur lückenhaft belegen;672 im Recht der Europäischen Union etwa ist die Beweislastdogmatik (noch) immer wenig verankert – und auch andernorts ist sie keineswegs gänzlich unumstritten (vgl. bereits oben, insbesondere b und d). Vor allem aber muss natürlich einfaches (stillschweigendes) Gesetzes- und/oder Gewohnheitsrecht grundsätzlich673 den Bestimmungen des Verfassungsrechts genügen; insbesondere sind die Beweislastnormen674 an den Artt. 20 III, 19 IV sowie 3 I GG zu messen – u.a. unter den Gesichtspunkten des effektiven Rechtsschutzes sowie der Waffengleichheit der Parteien.675

_____ 668 Siehe Leipold, Beweismass und Beweislast, 1985, S. 19; in dieselbe Richtung Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 183. 669 Vgl. etwa Pohle, in: Caemmerer/Nikisch/Zweigert, FS Dölle, Bd. 2, 1963, S. 317, 323, m.w.N. 670 Siehe Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 37, m.w.N. 671 Siehe ausführlich u. m.w.N. – auch mit Blick auf § 108 I VwGO – Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 222 ff. 672 Für die Feststellung von Gewohnheitsrecht dürfte es (jdf. in weiten Teilen) wenigstens an der erforderlichen opinio necessitatis fehlen – siehe Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 109; mit Blick auf das Öffentliche Recht ausführlicher Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 227 ff. 673 Eine (unbefriedigende) „Hintertür“ böte ansonsten allenfalls die Berufung auf die Vorkonstitutionalität des Beweislastinstruments. 674 Dies gilt für die zur Beweislastentscheidung ermächtigenden Normen ebenso wie für die beweislastverteilenden Normen (Beweislastoperationsregeln/Beweislastnormen i.e.S.); zu dieser Unterscheidung siehe etwa Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 100 f. 675 Siehe Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 20 f., m.w.N.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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cc) Verfassungsrechtliches Fundament Eine tragfähige Begründung des Beweislastinstruments kommt mithin nicht ohne Rekurs auf die Vorschriften des Grundgesetzes aus. Im Hinblick auf judikative Zweifelsentscheidungen in Tatsachenfragen676 sind diese Vorschriften in zweifacher Hinsicht von Bedeutung, weisen sie eine Doppelnatur auf: Einerseits begrenzen sie die richterlichen Befugnisse (1); anderseits erteilen sie zugleich Auftrag und Befugnis zur (Zweifels-) Entscheidung (2).

(1) Verfassungsrechtliche Grenzen Grundrechte sind zuvörderst Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.677 Und auch außerhalb des Grundrechtsteils dienen die Bestimmungen der Verfassung vornehmlich dazu, staatlichem Handeln Grenzen zu setzen. Die Judikative nimmt im Zusammenspiel der Gewalten insofern zwar eine gewisse Sonderrolle ein – weil und soweit sie in besonderem Maße dafür zuständig ist, die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grenzen durch die übrigen Gewalten zu kontrollieren; gleichwohl ist ihr Handeln doch selbst ebenfalls durch die grundgesetzlichen Bestimmungen eingehegt (siehe nur Art. 1 III GG); dies gilt natürlich grundsätzlich auch dort, wo ein Gericht in tatsächlichen Fragen eine Zweifelsentscheidung zu treffen hat.678 Generell müssen solche Entscheidungen insbesondere erstens in sich willkürfrei679 ergehen,680 auch systematisch den Gleichheitsgrundsatz achten681 und prozessuale Waffengleichheit der jeweiligen Parteien herstellen;682 sie dürfen zweitens einen effektiven Rechtsschutz nicht hindern,683 müssen soweit möglich

_____ 676 Für Rechtsfragen gilt grds. Entsprechendes – siehe noch unter C III. 677 Ständige Rspr. des BVerfG, siehe nur BVerfGE 7, 198 ff.; 50, 290, 337; zu Hintergrund und Querbezügen etwa Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, § 191, insbes. Rn. 17, m.w.N. 678 Siehe Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 20 f., m.w.N. 679 Dies dürfte einer Zweifelsentscheidung mittels Los (oben e bb (4)) entgegenstehen. 680 Dies ist – anders als regelmäßig sonst – keineswegs völlig unproblematisch: Gerade bei Ungewissheit im Verhältnis 50:50 drängt sich die Gefahr willkürlicher Dezision geradezu auf (zur entsprechenden Problematik bei Zweifeln im Rahmen der Rechtsanwendung vgl. bereits oben III 4). 681 Dies würde einer „Quotelungslösung“ entgegenstehen, bei der teilbare und unteilbare Ansprüche unterschiedlich behandelt werden. 682 Eben dies wäre der Fall bei einem „Beweislast“-System, das (rechtlich oder faktisch) generell entweder dem Kläger oder dem Beklagten die Beweislast zuwiese. 683 Dies schließt insbesondere Rechtsverweigerung (i.S.v.: Vermeidung einer Fallentscheidung) aus; das Drängen der Gerichte auf einen Vergleich der Parteien (vgl. oben e bb (3)) ist insofern ebenfalls nicht unproblematisch.

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B. Grundlegung

vorhersehbar sein684 und haben den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten685.686 In manchen Einzelfällen können zudem Einzelgrundrechte einer oder mehrerer Parteien zu berücksichtigen sein.687 Einige Instrumente688 zur Zweifelsentscheidung von Tatsachenfragen scheitern bereits isoliert für sich betrachtet an den diversen verfassungsrechtlichen Schranken – v.a. des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes (erstens) und des Rechtsstaatsprinzips (zweitens). Die Schranken-Schranke des Verhältnismäßigkeitsprinzips689 lässt darüber hinaus verbleibende Alternativen jedenfalls insoweit ausscheiden, als sie (teilweise) ungeeignet sind690 oder bei (höchstens) gleicher Eignung in andere verfassungsrechtliche Gewährleistungen stärker eingreifen oder bei (mindestens) gleicher Eingriffsintensität weniger geeignet sind.691 Im Ausgangspunkt unabhängig von den vorstehend aufgezeigten Grenzen stellt sich die Frage, ob richterliche Entscheidungen mittels eines Zweifelsinstruments (etwa der Beweislast) dem Vorbehalt des Gesetzes unterfallen.692 Denn generell gilt: „Grundrechtswesentliche“ staatliche Maßnahmen bedürfen regelmäßig einer gesetzlichen Ermächtigung.693 Dieser allgemeine Vorbehalt des

_____ 684 Eine Absenkung des Beweismaßes (oben e bb (1)) wäre unter diesem Gesichtspunkt zumindest wenig förderlich. 685 Dies führt u.a. – aber nicht nur – dazu, dass an das Beweismaß auch nicht völlig überhöhte Anforderungen gestellt werden dürfen. 686 Zum Ganzen siehe erneut etwa Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 20 f., m.w.N. 687 So mag etwa das besondere Gewicht eines Grundrechts dazu führen, dass von der Regelbeweislast abzuweichen ist (vgl. allerdings oben b cc). 688 Entsprechenden Bedenken sind sämtliche oben unter e erörterte Alternativen zur Beweislast ausgesetzt (vgl. auch bereits die Fn. 679, 681, 682, 683, 684). 689 Grundlegend hierzu Stern, in: Badura/Scholz, FS Lerche, 1993, S. 165 ff. 690 Besonders offenkundig gilt dies für den Prozessvergleich, wenn eine oder mehrere Parteien sich einem solchen verweigern. 691 Zur Dogmatik des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Allgemeinen siehe erneut Stern, in: Badura/Scholz, FS Lerche, 1993, S. 165 ff. Aus dieser Dogmatik folgt u.a.: Soweit der Gesetzgeber die Zweifelsentscheidung in Tatsachenfragen selbst regelt, verfügt er hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit über eine Einschätzungsprärogative, mithin über einen gewissen Spielraum. Soweit die Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Zweifelsinstrument den Gerichten überlassen wird, sind diese demgegenüber grds. strikt (und durch übergeordnete Instanzen überprüfbar) an eine durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip hergestellte Rangfolge gebunden. 692 Bemerkenswerterweise wird – soweit ersichtlich – die Problematik bislang nur selten gesehen, geschweige denn ernstlich erörtert (am ehesten noch bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 197 f. insbes.). Dies mag daran liegen, dass am „gewünschten“ Ergebnis aus Sicht von Rspr. und Lehre kaum ein Zweifel bestehen kann. 693 Siehe grundlegend BVerfGE 49, 89, 124 ff. (insbes. 125 f.); sowie ferner BVerfGE 108, 282.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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Gesetzes ergibt sich sowohl aus den Grundrechten als auch aus dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip.694 Nun ist allerdings der Vorbehalt des Gesetzes nicht allumfassend und um seiner selbst willen verfassungsrechtlich verbürgt. Vielmehr dient er dem Schutz des Gesetzgebers und des Bürgers: Dem Gesetzgeber, erstens, bewahrt der Vorbehalt des Gesetzes verbleibende Entscheidungsspielräume im Verhältnis zu Exekutive und Judikative. Den Bürger, zweitens, sichert er nicht nur gegenüber nicht hinreichend legitimierten, sondern insbesondere auch gegenüber überraschenden Entscheidungen derselben Gewalten; so muss wenigstens das Risiko einer (künftigen) Grundrechtsbeschränkung für den Bürger erkennbar sein. Und hinsichtlich gerichtlicher Zweifelsentscheidungen kommt jedenfalls dem ersten dieser beiden Schutzzwecke wenig Bedeutung zu: Der Spielraum des Gesetzgebers bei der Entscheidung für oder gegen bestimmte Zweifelsinstrumente ist nach hier vertretener Auffassung gering (vgl. oben b aa (3), e bb). Anders mag man die Relevanz des zweiten Schutzzwecks beurteilen: Denn keineswegs immer ist den Parteien hinreichend klar, dass bei tatsächlicher Unaufklärbarkeit in der Praxis besondere „Entscheidungsnormen“695 (in Form der Beweislast) gelten.696 Andererseits dürfte jedem Bürger zumindest bewusst sein, dass ein jeder Gang vor Gericht am Ende in eine Entscheidung mündet – und dass ihm diese Entscheidung „im Zweifel“ ungünstig sein kann. Vor allem aber handelt es sich bei der Grundrechtswesentlichkeit von Normen zur Zweifelsentscheidung (nur) um „nachrangige“ Grundrechtswesentlichkeit; das primäre Risiko einer Grundrechtsbeschränkung ergibt sich für den Bürger bereits aus der jeweiligen eigentlich anzuwendenden (zumeist: materiellen) Rechtsnorm. Vor diesem Hintergrund erscheint eine gesetzliche Regelung der Entscheidung von tatsächlichen Zweifelsfragen697 zwar aus Klarstellungsgründen rechtspolitisch wünschenswert – nicht aber verfassungsrechtlich geboten.

(2) Verfassungsrechtliche Ermächtigung Dies gilt – letztlich wegen der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz698 – allerdings nur dann, wenn sich eine allgemeine Ermächtigung zur richterlichen Zweifelsentscheidung per Beweislast jedenfalls in ihrem Kern überhaupt ir-

_____ 694 Siehe Lege, JZ 2005, S. 698, 703 f., m.w.N. 695 BVerfGE 52, 131, 145. 696 Siehe Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 177. 697 Zu entsprechenden Überlegungen hinsichtlich rechtlicher Zweifelsfragen siehe noch unter C IV. 698 Siehe ausführlich Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 133 ff., m.w.N.

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B. Grundlegung

gendwie rechtlich herleiten lässt. Nach den vorstehenden Erwägungen (insbes. oben aa, bb) kommt für eine überzeugende Herleitung letzten Endes nur das Verfassungsrecht in Betracht – womöglich in Verbindung mit teilweisen einfachgesetzlichen Konkretisierungen. Inwieweit das Grundgesetz auch eine materiale oder objektive „Werteordnung“ 699 konstituiert, Schutz- und Leistungsrechte gewährt 700 sowie Handlungsermächtigungen zugunsten staatlicher Gewalten enthält,701 ist seit jeher Gegenstand der Kontroverse.702 Zunehmend hat sich dabei aber wenigstens ein Minimalkonsens verstetigt – wonach die Rechtswirkungen des Grundgesetzes sich jedenfalls nicht in seiner abwehrrechtlichen und staatsorganisatorischen Funktion erschöpfen.703 Zu den verfassungsrechtlich gewährten Leistungsrechten im weiteren Sinne zählt nach ganz h.M. auch der sogenannte Justizgewähranspruch704.705 Grundsätzlich soll dieser Anspruch allerdings der weiteren gesetzlichen Ausgestaltung bedürfen.706 Interessanterweise ist nun ausgerechnet der unumstrittene, absolute Kerngehalt des Justizgewähranspruchs im (rein nationalen)707 Recht der Bundesrepublik Deutschland nirgends ausdrücklich umfassend einfachgesetzlich geregelt: Der Anspruch der Parteien darauf, dass ein einmal anhängiger Rechtsstreit am Ende auch entschieden wird, ist hier weder prozess- noch materiellrechtlich explizit normiert. Zwar existieren prima facie

_____

699 BVerfGE 7, 198, 205. 700 Siehe BVerfGE 33, 303 ff. 701 Vgl. BVerfGE 105, 252 ff.; 105, 279 ff. 702 Die Debatte lässt sich teilweise sogar zurückführen bis auf widerstreitende Grundhaltungen zur WRV: Vgl. einerseits etwa Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 309 (insbes. 313 ff.) – andererseits Kelsen, Der Staat als Integration, 1930, passim.; siehe dazu bereits Richers, in: Lege, Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft, 2009, S. 271, 277 ff. 703 Siehe den umfassenden Überblick bei Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, § 191, mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 704 Zuweilen auch bezeichnet als Justizgewährleistungsanspruch, Justizanspruch, Rechtsgewähranspruch. 705 Siehe nur Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Losebl. Stand 01/2011, Art. 20 Rn. 133, m.w.N. 706 Siehe erneut Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Losebl. Stand 01/2011, Art. 20 Rn. 134; sowie etwa Papier, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 8, 3. Aufl. 2010, § 177 Rn. 16, m.w.N. 707 Für das Zivil- und Strafrecht immerhin konkretisiert Art. 6 I S. 1 EMRK: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“ Diese Vorschrift ist mittlerweile auch Teil des (einfachen) Bundesrechts – siehe BGBl. II 2002, S. 1054.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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einige denkbare Anknüpfungspunkte – etwa im GVG708, in ZPO709 und VwGO710; bei genauerem Hinsehen aber entpuppt sich der jeweilige Wortlaut als trügerisch – die genannten Vorschriften regeln die Entscheidungspflicht und -befugnis der Gerichte allenfalls in Randbereichen.711 Wohl allgemeiner Meinung zufolge ist gleichwohl der Richter in sämtlichen Rechtsgebieten auch und insbesondere bei tatsächlicher Ungewissheit dazu verpflichtet, den jeweiligen Fall in angemessener Frist zu entscheiden.712 Und notwendig korrespondiert der Pflicht zur Zweifelsentscheidung auch eine entsprechende verfassungsunmittelbare Ermächtigung.713 Nun bedarf allerdings nicht nur die richterliche Zweifelsentscheidung als solche („Ob“ einer Zweifelsentscheidung) der Ermächtigung – sondern ebenso die Frage, mit welchen Mitteln der Richter in tatsächlichen oder rechtlichen Zweifelsfällen zu dieser Entscheidung gelangen soll („Wie“ einer Entscheidung). Auch hier fehlt es an einer expliziten einfachgesetzlichen Regelung: Sowohl der methodische Umgang mit Rechtsnormen (siehe bereits oben III sowie unten C) als auch die Methodik des Umgangs mit Tatsachen (siehe die vorstehenden Ausführungen unter 2 und 3) sind gesetzlich nur äußerst rudimentär normiert; ebenso lässt sich ein gewohnheitsrechtlicher accord allenfalls in Teilbereichen feststellen. Im Hinblick auf die Ermächtigungen zur Zweifelsentscheidung in Tatsachenfragen714 sind diese „Lücken“ nun auf drei Wegen überbrückbar: entweder im Wege einer verfassungsunmittelbaren Beweislast-

_____ 708 Die Vorschrift des § 17 II S. 2 GVG lautet: „Das Gericht des zulässigen Rechtsweges entscheidet den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten.“ 709 Insbesondere der bereits genannte § 286 I ZPO. 710 Siehe § 107 VwGO: „Über die Klage wird, soweit nichts anderes bestimmt ist, durch Urteil entschieden.“ 711 So regelt etwa § 17 GVG (allein) den rechtlichen Umfang, § 286 I ZPO die tatsächliche Grundlage und § 107 VwGO die Form der gerichtlichen Entscheidung. 712 Dies entspricht der st. Rspr. des BVerfG, wonach das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 IV nicht nur ein formelles Recht gewährt, sondern dem Bürger einen „substantiellen Anspruch“ auf effektive gerichtliche Kontrolle zubilligt – siehe nur BVerfGE 40, 272, 275; Musielak, in: Musielak, ZPO Kommentar, 9. Aufl. 2012, Einleitung, Rn. 6 ff.; sowie, spezifisch auf die Beweislast zugeschnitten, erneut Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 35, jeweils m.w.N.; ferner etwa Kirchhof, NJW 1986, S. 2275, 2280; sowie Christensen, NJW 1989, S. 3194, 3195 f. 713 Subjektiv-rechtlich gewendet: Die Parteien haben vor Gericht auch in Zweifelsfällen verfassungsunmittelbar Anspruch auf (zeitnahe) Entscheidung „ihres“ Rechtsstreits – und sind umgekehrt verpflichtet, eine entsprechende Zweifelsentscheidung als solche hinzunehmen. 714 Zur Übertragung auf Zweifelsentscheidungen in Rechtsfragen vgl. noch unter C III.

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B. Grundlegung

ermächtigung, die im Wesentlichen aus der Zusammenschau des Justizgewähranspruchs mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt;715 oder auf Grundlage eines an einfachrechtliche Einzelvorschriften anknüpfenden Richterrechts,716 dessen initiale Berechtigung auf der allgemeinen verfassungsrechtlichen Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung (vgl. oben III 4 a bb) beruht; oder durch eine Kombination aus beiden Begründungssträngen.717

dd) Synthese Dementsprechend zeigt bereits eine überblicksweise Betrachtung: In Literatur und Rechtsprechung hat sich mittlerweile wenigstens ein gutes Dutzend teilweise stark divergierender Erklärungsansätze herausgebildet, mittels derer eine richterliche Ermächtigung für Beweislastentscheidungen begründet werden soll.718 Ein Teil dieser Ansätze überzeugt schon deshalb wenig, weil die betreffenden Autoren sich lediglich auf bloße Behauptungen stützen – statt auf (verfassungs-) rechtliche Erwägungen; etliche andere Vorschläge können eine richterliche Beweislastermächtigung lediglich für Teilbereiche des einfachen Rechts begründen. Noch grundlegender wird zuweilen übersehen, dass zwischen einer Ermächtigung zur Beweislastentscheidung als solcher (1) und einer Ermächtigung zur konkret-inhaltlichen Verteilung der Beweislast (2) unterschieden werden muss.719 Diese Unterscheidung ist auch von Bedeutung für die Frage nach der „formalen“ Rechtsnatur der Beweislastnormen (3).

(1) Beweislastentscheidung als solche Der Befund eines allenfalls rudimentären einfachrechtliches Fundaments der Beweislast sollte nicht dazu (ver-) führen, von einer gewissermaßen freischwebenden rein richterrechtlich selbstermächtigenden – und daher richterlich

_____ 715 So wohl Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 170 ff.; sowie Reinhardt, NJW 1994, S. 93, 96 ff. 716 Vgl. BGH, NJW 1991, 1053; die Darstellung etwa bei Greger, in: Zöller, ZPO Kommentar, 30. Aufl. 2014, Vor § 284 Rn. 17, m.w.N.; für das Öffentliche Recht exemplarisch BVerwGE 30, 358, 360 f. („allg. Grundsätze des Verwaltungsprozessrechts“ bzw. „des Verwaltungsrechts“); sowie ferner die zahlreichen Nachweise aus dem Schrifttum bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 231, Fn. 604. 717 So überzeugend Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 232 ff., insbes. 234 f. 718 Vgl. nur die ausführliche kritische Würdigung bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 214 ff.; sowie die etwas knappere Darstellung bei Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 100 ff., jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 719 Siehe Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 197 ff.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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zwanglos wandelbaren – Grundlage der Beweislast720 auszugehen: Keineswegs wurzelt die Idee der Beweislast allein in der richterlichen Befugnis zur Rechtsfortbildung.721 Vielmehr erzwingt – und ermächtigt – das Justizgewährgebot im Fall des non liquet Entscheidungen per Beweislast oder Beweislastanalogon (oben e aa). Dies wirft notwendig die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der nun möglichen Entscheidungsvarianten auf. Soweit dann insbesondere der rechtsstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die möglichen Beweislastanaloga als relativ weniger geeignet und/oder relativ eingriffsintensiver722 identifiziert, müssen diese ausscheiden (oben e bb, cc). Mit anderen Worten: Das Justizgewährgebot ermächtigt den Richter zur Zweifelsentscheidung mittels einer im Ausgangspunkt offenen Zahl geeigneter Lösungsinstrumente; der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Zusammenschau mit den übrigen grundgesetzlichen Bestimmungen begrenzt dann wiederum diese Alternativen – und zwar dergestalt, dass nach hier vertretener Auffassung in allen Teilbereichen des Rechts allein das Instrument der Beweislast zur Lösung tatsächlicher Zweifelsfragen verbleibt.723 Kurz: Das Zweifelsinstrument der Beweislast als solches ist verfassungsrechtlich 724 zwingend vorgeschrieben.

(2) Konkret-inhaltliche Verteilung der Beweislast Einen Schritt weitergehend stellt sich sodann die Frage nach der konkretinhaltlichen Verteilung der Beweislast und deren (verfassungs-) rechtlicher

_____ 720 Die bereichsspezifisch – insbesondere im Zivilrecht – in der Gerichtspraxis bereits allgemein angewandten Beweislastermächtigungen wären danach mittlerweile in (überwiegend: einfaches) Richterrecht erwachsen; und wo bislang noch keine richterlichen (Selbst-) Ermächtigungen bestehen, eröffnete die Generalbefugnis zur Rechtsfortbildung den Gerichten die Möglichkeit, sich selbst entsprechende Beweislastermächtigungen zu schaffen. 721 In diese Richtung aber offenbar Reinecke, Beweislastverteilung, 1976, S. 84, 88; zu Recht kritisch dagegen Schwab, in: Frisch/Schmid, Festschrift Bruns, 1978, S. 505, 510; sowie Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 233. 722 Geeignetheit und Erforderlichkeit beziehen sich dabei nicht nur auf das Justizgewährgebot, sondern daneben auch auf alle weiteren verfassungsrechtlich ableitbaren Vorgaben: die Ermöglichung der Inanspruchnahme von Grundrechten, das rechtsstaatliche Willkürverbot, die Verhinderung von (erfolgreichen) Anspruchsbehauptungen ins Blaue etc. – vgl. auch oben b aa (3). 723 Sehr ähnlich bereits Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 170 ff.; nahestehend ferner Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 232 ff. 724 Möglichen einfachrechtlichen Entsprechungen (inzident-gesetzlicher, gewohnheits- oder richterrechtlicher Art) in etlichen Teilbereichen des Rechts kommt insofern nur nachrangige Bedeutung zu.

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B. Grundlegung

Grundlage. Der Rosenberg’sche Grundsatz der Lastverteilung ist nicht im engeren Sinne verfassungsrechtlich vorgegeben. Es gibt keinen ausdrücklichen oder auch nur abgeleiteten verfassungsrechtlichen Grundsatz des Inhalts, wonach im Zweifel grundsätzlich der Anspruchsbehauptende die Voraussetzungen seines Anspruchs und sein Gegner die Voraussetzungen eines etwaigen Gegenrechts zu beweisen habe. Jedoch ist der Grundsatz dieser Lastverteilung dem neuzeitlichen (deutschen) Recht, einschließlich des Grundgesetzes, in ähnlicher Weise vorgegeben wie die etablierten canones der Auslegung (vgl. noch unter C III 1 a). Denn das neuzeitliche Recht ist bis in seine tiefsten Verästelungen grundsätzlich nach genau jenem an prozessualer Waffengleichheit orientierten Antagonismus strukturiert.725 Allerdings vermag – wohl unstreitig – der Gesetzgeber die Verteilung der Beweislast bei Erlass von Rechtsnormen weitgehend frei zu steuern, etwa durch inzidente Beweislastumkehrnormen; insbesondere im Zivilrecht hat er davon auch umfassend Gebrauch gemacht. Der Gesetzgeber ist dabei nicht wesentlich mehr oder weniger verfassungsrechtlich beschränkt, als dies auch bei Erlass der entsprechenden materiell-rechtlichen Normen der Fall ist. Aus bestimmten Gründen (oben b cc) können sich die Grenzen allerdings zuweilen verschieben; im Einzelfall726 kann dies so weit gehen, dass nur eine einzige Variante der Beweislastzuteilung zulässig ist. Erheblich stärkeren Beschränkungen unterliegen – nach hier vertretener Auffassung – die Gerichte bei Verteilung der konkret-inhaltlichen Beweislast. Zwar ist die Judikative durchaus in einer Vielzahl von Fällen dazu berufen, im Wege gesetzesergänzenden sekundären Richterrechts727 Beweislastverteilungsnormen zu schaffen. Und – nicht wesentlich anders als in sonstigen Fällen der Rechtsfortbildung – sind die zu bildenden Normen gewiss nicht immer und in Gänze verfassungsrechtlich vorgezeichnet. Gleichwohl ist der richterliche Normsetzungsspielraum in mehrfacher Hinsicht begrenzt: Erstens kommt eine richterliche Rechtsfortbildung auch hier728 grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber die Verteilung versehentlich unklar oder gar (bewusst)

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725 Siehe Reinhardt, NJW 1994, S. 93, 96 ff. 726 Etwa in den Fällen genereller absoluter Beweisunmöglichkeit auf Seiten (nur) einer Partei – vgl. oben b cc (2), (3). 727 So die gelungene Begriffswahl bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 232 ff. Nierhaus (ibid.) bewertet aber offenbar sämtliche Beweislastverteilungsnormen als letztlich richterrechtliche Erzeugnisse. Nach hier vertretener Auffassung hingegen bestehen zwar keineswegs durchweg aber doch in weitem Umfang inzident-gesetzliche Normen, die unmittelbar zu einer bestimmten konkret-inhaltlichen Verteilung der Beweislast ermächtigen und verpflichten. 728 Zur richterlichen Rechtsfortbildung im Allgemeinen vgl. oben III 4 a bb.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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gänzlich offen gelassen hat. Dies geht aus Gründen der Vorhersehbarkeit729 so weit, dass, zweitens, regelmäßig die Beweislastverteilung selbst dann anhand gesetzlicher Anspruchs-, Gegen- und Umkehrnormen nachzuvollziehen ist, wenn der Richter daran zweifelt, ob der Gesetzgeber bewusst (keine) Beweislastumkehrnormen geschaffen hat. Immer (und grundsätzlich: nur) dann, wenn die Normstruktur völlig unklar ist,730 hat, drittens, das gesetzesergänzende sekundäre Richterrecht auch die materiell-rechtlichen Wertungen des Gesetzgebers zu berücksichtigen und nachzuvollziehen, soweit die beweislastspezifischen Grenzen dies erlauben. Die letztgenannten Grenzen, viertens, binden selbstverständlich auch die Gerichte; das Gleiche gilt, fünftens, für die allgemeinen grundgesetzlichen Schranken – insofern bestehen jeweils keine wesentlichen Unterschiede zur Bindung des Gesetzgebers.

(3) Rechtsnatur der Beweislastnormen Einer wenigstens überblicksweisen Erörterung bedarf abschließend noch die „formale“ Rechtsnatur der diversen Beweislastnormen: Sind diese Normen prozessrechtlicher Natur – oder materiellrechtlicher Natur? Nur scheinbar handelt es sich dabei um eine „rein akademische“ Frage. In Wirklichkeit hängen von der Antwort durchaus praktische Konsequenzen ab, etwa hinsichtlich der Revisionszulassung sowie in der Anwendung ausländischen Rechts.731 Gleichwohl ist ein Konsens über die systematische Stellung der Beweislastnormen keineswegs ersichtlich732 – was nicht zuletzt an der Umstrittenheit des rechtlichen Fundaments der Beweislast insgesamt liegen mag. Die Frage nach dem Geltungsgrund von Beweislastnormen und die Frage nach ihrer Rechtsnatur stehen allerdings nur in entferntem Zusammenhang:733 Wer etwa annimmt, die Ermächtigung zur Beweislastentscheidung als solcher ergebe sich – für den Zivilprozess – (allein) aus § 286 I ZPO, der muss diese Ermächtigung deshalb noch nicht notwendig dem Prozessrecht zuzuordnen; ein und dieselbe Vorschrift kann nämlich durchaus sowohl materiell- wie prozessrechtliche Wirkungen

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729 Zur Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen als einem Kernanliegen des formalen Beweislastinstruments siehe oben b cc (5); zu Rechts- und Erwartungssicherheit im Allgemeinen vgl. oben I 2 a gg, b bb. 730 Allzu oft kommt dies nach hier vertretener Auffassung nicht vor – vgl. oben b bb (4). 731 Siehe ausführlich Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 201 ff. 732 Vgl. nur die Darstellungen und jeweils zahlreichen Nachweise bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 201 ff.; sowie Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 105 f. 733 Vgl. Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 214 insbes., wenn er die beiden Fragen weitgehend unabhängig voneinander erörtert (siehe ibid., einerseits S. 201 ff., anderseits 214 ff.).

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B. Grundlegung

entfalten (man denke nur an § 242 BGB).734 Und wenn nun – wie hier vertreten – die Verpflichtung und Ermächtigung zur Beweislastentscheidung unmittelbar dem Verfassungsrecht entstammt, so ist deshalb das Instrument der Beweislast noch nicht notwendig insgesamt materiell-rechtlicher Natur; ebenso gut kann es sich (auch) um eine Verfahrensvorschrift handeln – deren Missachtung im Non-liquet-Fall in einen Verstoß gegen materielles Verfassungsrecht mündet. Nun ist die Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Recht leider insgesamt schwierig und umstritten.735 Am ehesten noch gelingt eine klare Differenzierung, wenn man darauf abstellt, in welchem Rahmen die jeweiligen Vorschriften Wirkung entfalten: Prozessrechtliche Vorschriften entfalten (ausschließlich) vor Gericht ihre Rechtsfolgen und können ausschließlich in diesem Forum zum Gewinn oder Verlust einer Rechtsposition führen – materiellrechtliche Vorschriften hingegen können (auch) außerhalb eines Gerichtsverfahrens Rechtsfolgen bewirken.736 Dieser Dichotomie folgend lassen sich auch die Beweislastnormen im weiteren Sinne einigermaßen befriedigend zuordnen. Danach ist die Beweislastgrundnorm, also die verfassungsunmittelbare Ermächtigung und Verpflichtung des Richters zur Beweislastentscheidung (als solcher) im Non-liquet-Fall, eine Vorschrift des Prozessrechts. Übersieht der Richter diese Verpflichtung und entscheidet er stattdessen etwa mittels Los oder Quotelung, so handelt es sich um einen Verfahrensfehler – gerade so, als würde er ein zu hohes (oder zu niedriges) Beweismaß anlegen. Die einzelnen Beweislastverteilungsnormen hingegen gehören nach zutreffender Auffassung demjenigen Rechtsgebiet an, aus dem das non liquet stammt; regelmäßig wird dies das materielle Recht sein – Ausnahmen sind aber durchaus vorstellbar.737 Diese streng akzessorische Zuordnung hat ihren Grund darin, dass die Beweislastverteilungsnormen als „Ermöglichungsnormen“ untrennbar mit den jeweiligen (regelmäßig: materiellen) Ausgangsnormen verwoben sind738 – und das Verhalten der Parteien bereits im Vorfeld eines etwaigen Prozesses in einem Ausmaß steuern können, das sich nicht mehr als bloße „Reflexwirkung“ einstufen

_____ 734 Siehe hierzu etwa Roth, in: Säcker/Rixecker, MüKo BGB Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 242, einerseits Rn. 78 ff., andererseits Rn. 89 ff. 735 Ausführlich hierzu Kollmann, Verhältnis von formellem und materiellem Recht, 1996, passim; mit Bezug zur Beweislastproblematik Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 72 ff. 736 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2. Aufl. 1975, S. 56 ff. 737 So überzeugend Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 213 f., mit einigen Bsp. sowie m.w.N. insbes. in Fn. 460. 738 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 210 ff., m.w.N.

IV. Die Tatsachenfeststellung: Beweis und Beweislast

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lässt.739 Wenn also ein Gericht eine einzelne Beweislastverteilungsnorm falsch anwendet,740 so gehört der Rechtsfehler zu dem Gebiet, aus dem die Ausgangsnorm stammt – regelmäßig also zum materiellen Recht. Besonders schwierig ist die formale Einordnung der Rosenberg’schen Beweislastverteilungsgrundregel – als „Scharnier“ zwischen Beweislastgrundnorm und den einzelnen Beweislastverteilungsnormen. Richtigerweise wird man dieser Verteilungsgrundregel eine „Doppelnatur“ attestieren müssen: Als rechtsgebietsübergreifende Metaregel, die grundsätzlich allein im Prozess zur Anwendung kommt, ist die Verteilungsgrundregel eher dem Verfahrensrecht zuzuordnen; demgegenüber darf aber auch die enge Verknüpfung mit den Verteilungseinzelregeln (also regelmäßig: mit dem materiellen Recht) sowie erneut die faktische Relevanz im Vorfeld eines Gerichtsverfahrens nicht übersehen werden. Für die Praxis bedeutet dies: Missachtet ein Gericht die Verteilungsgrundregel als solche,741 so handelt es sich um einen Verfahrensfehler; wendet ein Gericht die Verteilungsgrundregel hingegen insofern falsch an, als es diese unrichtig auf die Verteilungseinzelregeln bezieht,742 so gehört der Rechtsfehler wiederum zu dem Gebiet, aus dem die Ausgangsnorm stammt – regelmäßig also zum materiellen Recht.

g) Zwischenergebnis: Klarheit im Zweifelsfall Zweifel in Tatsachenfragen sind vor Gericht keineswegs seltener als Zweifel in Rechtsfragen. Jedenfalls erstinstanzlich dürfte allgemein sogar das Gegenteil richtig sein. Klarheit im Zweifelsfall schafft dann in der Rechtspraxis aber eine unter dem Begriff der „Beweislast“ (oben a) firmierende Lastregel. Mittels der Grundregel dieses Zweifelsinstruments lässt sich jedenfalls im Bereich des Zivilrechts (oben b aa) meist unstreitig eine Lastzuordnung erreichen, bei der vorab erkennbar ist, welche Partei im Zweifel das Risiko der Nichterweislichkeit einer

_____ 739 Man denke nur an die diversen Beweislastumkehrnormen des BGB im Bereich des Verschuldens (etwa § 276 I S. 1, § 831 I S. 2 BGB). 740 Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn das Gericht eine Beweislastumkehrnorm auch auf Tatsachen bezieht, die nach Vorstellung des Normgebers nicht von der Beweislastumkehr erfasst sein sollen. 741 Dies ist etwa dann der Fall, wenn das Gericht eine Norm (zutreffend) als Anspruchsnorm qualifiziert und dann dennoch dem Anspruchsgegner die Beweislast zuweist – ohne eine Beweislastumkehr zu begründen. Entsprechende Fälle dürften in der Gerichtspraxis äußerst selten auftreten. 742 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Gericht eine Rechtsnorm unzutreffend als Anspruchsnorm qualifiziert (oder umgekehrt). Der Übergang zu einer fehlerhaften Anwendung von Verteilungseinzelnormen (vgl. Fn. 740) dürfte zugegebenermaßen fließend sein.

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B. Grundlegung

bestimmten Tatsache trägt: Danach sind die tatsächlichen Voraussetzungen von Anspruchsnormen grundsätzlich vom Anspruchsbehauptenden, die tatsächlichen Voraussetzungen von Gegennormen grundsätzlich von seinem Prozessgegner zu beweisen. Nach zutreffender – wenngleich in der Literatur überaus streitiger – Auffassung lässt sich dieses System auch ohne wesentliche Einschränkungen auf das Öffentliche Recht übertragen (oben b bb). Allerdings hat sich auf allen Gebieten des Rechts mittlerweile in Rechtsprechung und Lehre eine kaum überschaubare Fülle von Ausnahmen und Sonderfällen zur Rosenberg’schen Beweislastgrundregel herausgebildet (oben b cc): Einige wenige der daraus folgenden Beweislastregeln sind generell oder wenigstens in Einzelfällen unverzichtbar. Im Übrigen aber gebiert die Vielzahl von Beweislastsonderregeln eine Komplexität im Übermaß, die das Instrument der Beweislast letztlich ad absurdum führt; demgegenüber ist dringend eine Rückbesinnung auf die Ursprünge der Beweislastidee geboten. Gewiss ist auch das Beweislastsystem in seiner – weitgehend – ursprünglichen Form nicht ohne Schwächen (oben d). Besonders häufig beklagt wird insbesondere der „Schematismus“ dieses Systems; und natürlich kann auch ein klar konturiertes Beweislastinstrument – schon aufgrund der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis – Zweifel nicht in jedem Einzelfall ausschließen; gerade der genannte Schematismus vermag aber doch, diese Zweifel erheblich zu reduzieren. Und ein Blick auf mögliche Alternativen zur Beweislast (oben e) zeigt zudem: Nicht nur sind vor dem Hintergrund der bestehenden einfachrechtlichen Regelungen zu Beweismaß und -maßstab (oben c) die meisten dieser Alternativen de lege lata unzulässig; sie sind dem Beweislastinstrument auch mit Blick auf Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit durchweg deutlich unterlegen. Gewiss führen Beweislastregeln nicht in jedem Einzelfall zu einer rundum gerechten Entscheidung, weil auf dieser Welt „letzte“ Gerechtigkeit eben nicht erreichbar ist. Aber klare und daher das Prozessrisiko kalkulierbar machende Lastregeln sind in Zweifelsfällen dennoch die besten aller möglichen Regeln.743 Aus dem beschriebenen Alternativenvergleich – im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung –, in Zusammenschau mit dem rechtsstaatlichen Justizgewährgebot, bezieht das Beweislastinstrument als solches auch seine wesentliche (verfassungs-) rechtliche Legitimation im Non-liquet-Fall (oben f). Demgegenüber ist das einfache Recht überwiegend allein für die Begründung der einzelnen konkret-inhaltlichen Beweislastverteilungsregeln von Bedeutung.

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743 Nach Engisch, Einführung, 8. Aufl. 1983, S. 60, handelt es sich um „eine der sinnreichsten Figuren, die der menschliche Verstand je ausgebildet hat“; ähnlich, spezifisch (auch) für das Öffentliche Recht, Michael, Beweislast im Verwaltungsprozess, 1976, S. 233.

V. Ergebnisse

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Eine abschließende Bemerkung: Manches im vorstehenden Abschnitt wird dem „Beweisrechtler“ arg verkürzend und vereinfachend erschienen sein; und vermutlich lassen sich die obigen Thesen auch als beweisrechtlicher Rückschritt geißeln, als Ignoranz von Jahrzehnten weiterer Ausdifferenzierung des Beweisrechts. Umgekehrt wird der „Rechtstheoretiker“ sich nach Lektüre dieses Abschnitts fragen, ob als Fundament einer Lastentheorie der Auslegung wirklich ein Eingehen auf manche Detailprobleme der Beweislast erforderlich gewesen sei. Dem Beweisrechtler, erstens, möchte ich entgegnen: Mag sein, dass eine von vielfachen Ausnahmen gereinigte Beweislastgrundregel nicht in jedem Einzelfall zur materiell gerechtesten Lastenverteilung führt; aber eine solche von barocken Schnörkeln befreite Regelung schafft Vorhersehbarkeit, Anwendbarkeit – und damit letztlich auch mehr Gerechtigkeit. Und hiermit beginnt, zweitens, zugleich auch meine Entgegnung für den zweifelnden Rechtstheoretiker: Nur wenn sich zeigen ließ, dass eine „geläuterte“ Lastentheorie im Beweisrecht praktikabel und wünschenswert ist, verdient es eine solche Theorie, dass ihre teilweise Übertragung in den Bereich der Auslegung von Rechtsnormen überhaupt erwogen wird.

4. Zusammenfassung Auf eine unvermittelte Wirklichkeit, auf „die Dinge an sich“, hat ein Richter ebenso wenig Zugriff wie jedes andere Lebewesen. Und selbst die Dinge nach dem beweisrechtlichen Tatsachenbegriff (oben 1) können am Ende eines Prozesses unsicher bleiben: Ob auf Grundlage der Amtsermittlung oder der Parteibeibringung – die Würdigung der Beweismittel im jeweils vorgeschriebenen Verfahren der Beweiserhebung endet oftmals mit der Erkenntnis, dass weder eine bestimmte Tatsache noch ihr Gegenteil mit hinreichender Gewissheit bewiesen ist (oben 2). Als ultima ratio kommt dann eine Entscheidung mit Hilfe des Instruments der Beweislast in Betracht; ungeachtet mancher Schwächen vermag dieses Instrument am ehesten, eine formell wie materiell gerechte Tatsachenentscheidung im Non-liquet-Fall herbeizuführen (oben 3).

V. Ergebnisse B. Grundlegung V. Ergebnisse

Die Gesamtheit der Sollens-Regeln, nach denen vor einem Gericht über einen Fall entschieden wird (Recht) ist begrifflich nicht gleichzusetzen mit dem Recht, wie es sein soll (Gerechtigkeit). Gleichwohl ist die Richtigkeit des Rechts aus

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B. Grundlegung

einem Bild von der Arbeit am Rechtstext nicht auszublenden. Gleichheit, Freiheit, Gesetzmäßigkeit, Moralität, Zweckmäßigkeit und Sicherheit des Rechts geraten dort zuweilen in Widerstreit. Strikte Vorrangrelationen zwischen den einzelnen Elementen der Gerechtigkeit im weiteren Sinne lassen sich dabei nicht herstellen. Ein Gutteil der Folgeprobleme von Gerechtigkeit im Widerstreit kann aber durch juristische Begründungsehrlichkeit vermieden werden (oben I). Recht und Gerechtigkeit sind grundsätzlich allen Akteuren juristischer Streitverfahren aufgegeben, also sowohl den Richtern als auch den Parteien (-vertretern). Allerdings sind die sozialen Rollen sowie die jeweiligen Einzelaufgaben dieser Akteure höchst verschieden. Gerechtigkeit im weiteren Sinne verwirklicht sich auch dadurch, dass die Rechtsordnung möglichst weitgehend Kongruenz zwischen sozialer Rolle und Aufgabenzuschreibung herstellt. Dies bedeutet unter anderem, dass die mit der sozialen Rolle von Parteien (-vertretern) verbundenen Interessen und Kompetenzen optimal zu nutzen sind – möglicherweise in größerem Umfang, als dies nach bis dato herrschendem Verständnis vorgesehen ist (oben II). Die Rechtsfindung nämlich ist letztlich nach wie vor fast ausschließlich Aufgabe des Richters. Dies ist zwar insofern rollengerecht, als die Un-Parteilichkeit einer Entscheidung von herausragender Bedeutung für die Idee der modernen Gerichtsbarkeit als solcher ist. Allerdings vermag selbst eine strikt regelgeleitete, begründungsehrliche Rechtsfindungsmethodik mit historischem Auslegungshintergrund zuweilen nicht zu verhindern, dass am Ergebnis der Rechtserkenntnis erhebliche Zweifel bestehen – bis hin zur Unentschiedenheit in einzelnen Rechtsfragen: Weil und soweit es sich beim Subsumtionsschluss notwendig um einen (auch) induktiven Vorgang handelt, ist Ungewissheit ein konstitutiver Faktor der Rechtsanwendung. Das verfassungsrechtliche Gebot hinreichender Bestimmtheit von Rechtsnormen sowie die Befugnis des Richters zur Rechtsfortbildung ändern daran wenig: Das Bestimmtheitsgebot setzt jedenfalls in der Praxis nur selten Grenzen, die richterliche Rechtsfortbildung ist mit denselben Ungewissheitsmomenten behaftet wie die „konservative“ Rechtsanwendung. Und auch die bislang entwickelten Ansätze zur Rechtsfindung in Zweifelsfragen vermögen kaum Hilfestellung zu bieten: Diese Lösungsvorschläge stellen letztlich entweder auf das subjektive Empfinden des Richters ab – oder auf eine (hypothetische) Mehrheitsmeinung; das Maß der Ungewissheit für Richter und Parteien vermindern diese Vorschläge damit allenfalls in Einzelfällen (oben III). Ein anderes Bild zeigt sich in Zweifelsfällen der Tatsachenfeststellung. Auch hier ist zwar – nicht nur in Verfahren der Amtsermittlung – zunächst der Richter „Zentralgestalt des Geschehens“: Nach regelgeleiteter, „freier“ Wahr-

V. Ergebnisse

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heitsüberzeugung entscheidet er über die beigebrachten und die selbst ermittelten Tatsachenbelege. Wenn aber am Ende der jeweils nötige Überzeugungsgrad (das erforderliche Beweismaß) nicht erreicht ist, werden die Parteien mit ihren Obliegenheiten „ins Spiel gebracht“. Das formale Instrument der Beweislast weist den Parteien vorab jeweils bestimmte Tatsachenbehauptungen zu, von deren Vorliegen sie das Gericht „im Zweifel“ überzeugen müssen: Nach dem Grundmodell Rosenbergs trägt für Anspruchsnormen der Anspruchsbehauptende, für Gegennormen der Gegner die Beweislast. Dieses Zweifelsinstrument kann die Möglichkeit richterlicher Ungewissheit zwar nicht gänzlich ausschließen, reduziert sie aber doch in erheblichem Umfang; dies gilt allerdings nur dann, wenn die Beweislastdogmatik weitgehend auf ihre Grundstrukturen zurückgeführt, von zahlreichen „wildgewachsenen“ Ausnahmen und Unterausnahmen bereinigt wird. Dann freilich ist zuzugestehen: Die Stärke der Beweislastidee nach dem Rosenberg-Modell – ihre weitgehende Eindeutigkeit und damit Vorhersagbarkeit – ist, als Starrheit und damit Inflexibilität, zuweilen eine Schwäche. Doch allen denkbaren Alternativen ist das Instrument der Beweislast nicht zuletzt dank seiner formalen, schematischen Natur weit überlegen. Denn auch hier gilt: Das Bemühen um äußerste Einzelfallgerechtigkeit schafft neben Rechtsunsicherheit oftmals nur noch mehr Ungleichheit im Recht und damit in der Summe mehr Ungerechtigkeit – summum ius summa iniuria (oben IV).

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B. Grundlegung

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I. Hinführung

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C. Rechtslast als Zweifelsregel C. Rechtslast als Zweifelsregel I. Hinführung

I. Hinführung DOI 10.1515/9783110539332-003

Zwischen Ärzten und Richtern bestehen eine ganze Reihe offenkundiger Gemeinsamkeiten. Dazu zählt, dass beide zuweilen nicht wissen, was sie tun – obgleich genau dies gemeinhin uneingeschränkt von ihnen erwartet wird: „Rollenerwartung und Rollenvorstellung erlauben dem Richter nicht das Eingeständnis, in einem konkreten Fall nicht genau zu wissen, was rechtens sei. Die zu Überlegenheit und Entrücktheit hochstilisierte Rolle des Richters auch in der modernen Gesellschaft führt zu (unreflektierten) Verhaltensweisen, die nur zum Teil sachlich gerechtfertigt sind.“744

Nun mag man das Vertrauen der Bürger auf eine letzte unanfechtbare Autorität – darauf, dass einer schlicht immer „weiß“, was rechtens ist – als Notwendigkeit der „Integrationsfunktion“745 des Rechts verklären.746 Aber dieser Gedanke war seit jeher angreifbar;747 und im heutigen demokratischen Verfassungsstaat mit seinem Ideal des mündigen aufgeklärten Bürgers ist er es erst recht. Denn Entscheidungen auf Grundlage nur vorgetäuschten Wissens können im Einzelfall zwar durchaus „heilsam“ sein – langfristig aber (spätestens, wenn die Täuschung entdeckt wird) wirken sie destabilisierend: Der Arzt, der seinem Patienten ein Placebo verabreicht, ohne dies offenzulegen, mag damit durchaus einen Therapieerfolg erzielen; bemerken die Patienten allerdings diese oder jegliche andere Irreführung, dann drohen sie ihr Vertrauen in die ärztliche Kunst insgesamt zu verlieren.748 Nicht anders ergeht es einer Jurisprudenz, die auf den beruhigenden Placeboeffekt richterlicher Dezision setzt.

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744 Horak, in: Sprung, Die Entscheidungsbegründung, 1974, S. 1, 21 f.; siehe auch Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 273; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 2; sowie Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1080; instruktiv aus rechtssoziologischer Sicht ferner Drosdeck, in: Schmidt/Drosdeck/Koch, Rechtsfall, 1997, S. 24 f.; zur vergleichbaren Lage im Arzt-Patienten-Verhältnis siehe etwa Schuth, in: Huppmann/Lipps, Prolegomena, 2006, S. 355 ff. 745 Siehe grundlegend Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, passim.; vgl. hierzu bereits Richers, in: Lege, Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft, 2009, S. 271 ff. 746 In diese Richtung mag man die regelmäßig besonders hohen Zustimmungsraten der Bevölkerung zur Institution des BVerfG deuten. In Umfragen erreicht das BVerfG seit langem Zustimmungswerte, die meist weit über denen der übrigen Institutionen des Verfassungslebens liegen – siehe hierzu eingehend Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 338 ff. 747 Vgl. nur Kelsen, Der Staat als Integration, 1930, passim. 748 Vgl. Schuth, in: Huppmann/Lipps, Prolegomena, 2006, S. 355, 363 f. DOI 10.1515/9783110539332-003

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Kaum ein Arzt, kaum ein Richter will sich diesem Risiko aussetzen. Er wird daher Strategien entwickeln, mittels derer er sein Handeln wenigstens scheinbar rational begründen kann: Dann ist das Placebo eben Ausdruck der „Homöopathie“749 oder einer sonstigen wie auch immer gearteten „Scheinbegründung“750. Manche Patienten, manche Parteien werden sich damit durchaus auch langfristig behandeln, befrieden lassen. Es leidet aber zumindest das Ethos der Wissenschaft. Und umso informierter die Bürger den Entscheidungen von Medizinern wie Juristen begegnen, desto öfter werden sie die Forderung nach nachprüfbar rational begründeten Entscheidungen erheben.751 Es hat sich allerdings gezeigt (oben B III 4), dass auf Grundlage der herkömmlichen Dogmatik in der Jurisprudenz eine solche Entscheidung zuweilen nicht herbeizuführen ist: In manchen Fällen der Rechtsanwendung herrscht schlicht Ungewissheit. Nun ist vor Gericht – aufgrund des Rechtsverweigerungsverbots – „wait and see“ auf Dauer keine Lösung. Ohne eine ausgefeilte Technik des Ausgleichs von Ungewissheitsmomenten kann das Recht im Entscheidungsstadium daher weder seine Funktion der Schaffung von Rechtssicherheit erfüllen noch einen wirksamen Rechtsschutz gewährleisten.752 Hinsichtlich tatsächlicher Ungewissheit im Prozess ist dies längst weitgehend anerkannt (oben B IV 3). Einer „theoretisch befriedigenden und praktisch brauchbaren Antwort“753 bedarf das Problem richterlicher Ungewissheit aber nicht nur im Bereich der Sachverhaltsfeststellung, sondern auch auf Ebene der Rechtsanwendung.754 In Anlehnung an Radbruch: Lässt sich weder feststellen, was rechtens ist, noch feststellen, was rechtens sein soll – so bedarf es doch der Feststellung, was als rechtens gelten soll.755 Im Folgenden wird daher nach einer kurzen Zusammenfassung des Grundgedankens (I 1) und Skizzen zu Begriffswahl (I 2), rechtshistorischem und -ver-

_____ 749 Vgl. hierzu jüngst Glasziou/Brooks/Mendelsohn et al., in: NHMRC, Information Paper – Evidence on the effectiveness of homeopathy, 2015, zusammenfassend S. 24, 27. 750 Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 122. Vgl. auch die unnachahmliche Illustration einer solchen (Schein-) Wissenschaft bei Perec, Cantatrix Sopranica L., 1991, passim (diesen Hinweis verdanke ich Patrice Mollie). 751 Es dürfte insofern kein Zufall sein, wenn in der ärztlichen Praxis bereits seit geraumer Zeit der zunehmende Wunsch nach „Patientenbeteiligung“ einhergeht mit dem Vordringen der sogenannten evidenzbasierten Medizin – vgl. zu diesen Entwicklungen etwa Sänger/Brunsmann/Englert et al., in: ÄZQ, Handbuch Patientenbeteiligung, 2008, S. 9 ff. 752 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 1. 753 Ule, DVBl 1981, S. 422. 754 Ähnlich auch Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1064. 755 Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 1963, S. 179: „Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muss jemand festsetzen, was rechtens sein soll.“

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gleichendem Befund (I 3) sowie praktischer Relevanz (I 4) das Fundament gelegt für eine Überzeugungslastregel als allgemeine Letztentscheidungsmaxime der Rechtsanwendung (II). Erst nachdem dort die Funktionsweise der Überzeugungslastregel näher erläutert und in einigen Anwendungsbeispielen „getestet“ worden ist, lässt sich das Instrument (verfassungs-) rechtlich beurteilen (III).756 Dabei spätestens wird sich zeigen, dass das positive Recht der Anwendung von Überzeugungslastregeln in der Rechtsanwendung enge Grenzen setzt; Abschnitt C endet daher mit einen skizzierten Betrachtung de lege ferenda (IV).

1. Grundgedanke Der Grundgedanke ist einfach, er konnte daher bereits eingangs (A) kurz dargestellt werden und in dem vorstehenden Kapitel (B) wiederholt aufscheinen: Erstens gibt es nicht nur auf Tatsachenebene, sondern ebenso auf Rechtsanwendungsebene Fälle, in denen der Richter auch nach gründlicher Prüfung und reiflicher Überlegung unentschieden ist. Zweitens müssen auch solche Fälle entschieden werden. Drittens sollte diese Entscheidung möglichst vorhersehbar und rational überprüfbar sein. Viertens liefert die bestehende Dogmatik hierfür bislang kein geeignetes Modell. Fünftens zeigt die Parallelproblematik im Bereich der Sachverhaltsfeststellung, dass ein solches Modell am ehesten in einer „Lastentheorie“ der Entscheidung zu finden sein wird – auf deren Basis je einer Partei des Rechtsstreits für den Fall richterlicher Unentschiedenheit bezüglich einer Rechtsfrage vorab bestimmbar die Last zugewiesen wird.

2. Begriffswahl Wer „alte“ Begriffe umdeutet, läuft Gefahr missverstanden zu werden und muss sich den Vorwurf der Sprachverwirrung, vielleicht gar der „Trickserei“, gefallen lassen. Wer sich demgegenüber für einen Neologismus entscheidet, wird zwar seltener miss-, dafür aber umso häufiger überhaupt nicht verstanden. In jedem Fall besteht ein Zielkonflikt: Jeder Begriff sollte vor hergebrachtem Verständnishorizont möglichst präzise, intuitiv und systematisch widerspruchsfrei das

_____ 756 An einzelnen Punkten werden gleichwohl schon zuvor verfassungsrechtliche Bezüge unvermeidbar sein.

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Gemeinte bezeichnen (Begriffswahrheit und -klarheit), dabei aber wohlklingend, einprägsam und praktisch handhabbar sein (wenn man so will: Begriffsoptik und -haptik). Nur eines drängt sich vor dem Hintergrund dieser Maßgaben auf für die in diesem Buch vorgestellte Idee (Obliegenheit der Parteien zur Überzeugung des Richters von der Richtigkeit jeweils bestimmter Behauptungen auf Rechtsanwendungsebene): Aufgrund der offenkundigen Parallelen zum Instrument der „Beweislast“ sollte der zu wählende Begriff möglichst spiegelbildlich erscheinen – wobei sich die Verwendung des Begriffsteils „-last“ anbietet. Am ehesten anschlussfähig wäre wohl der Begriff der „Argumentationslast“, der für das hier Gemeinte wenigstens ganz ungefähr bereits zuweilen verwendet wurde.757 Treffend ist dieser Begriff aber nicht – er verschweigt das Entscheidende: die Frage, ob die im Fokus stehende Argumentation der Parteien Tatsachen- oder Rechtsfragen betrifft. Nicht überzeugend – weil eher den Richter anstelle der Parteien adressierend – sind auch die Begriffe der „Entscheidungslast“758 oder der „Rechtswahrungslast“759. Dasselbe gilt für die Begriffe „Abwägungslast“760, „Wertungslast“761, „Begründungslast“762, „Definitionslast“, „Auslegungslast“ und „Subsumtionslast“. Die in diesen Begriffen enthaltenen Präfixe betreffen nach herrschendem Sprachgebrauch überdies nur Teilbereiche der Rechtsanwendung. Dem Bedürfnis nach Begriffswahrheit und -klarheit am nächsten kommt wohl das Wort „Rechtsüberzeugungslast“. Sonderlich ästhetisch und handlich ist dieser Kopfbegriff freilich nicht. Um dem bei häufiger Verwendung zu begegnen, bietet sich die Verkürzung an zur schlichten „Rechtslast“763.

_____ 757 Siehe insbesondere Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, S. 55 ff., m.w.N.; sowie auch Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 150 ff. 758 Pfisterer, ZSR 2002, S. 177, 272. 759 Knöfel, AnwBl 2004, S. 76, 78. 760 Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 122. 761 Ibid., S. 138. 762 Krebs, AcP 195 (1995), S. 171 ff.; Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063 ff.; hierzu erneut auch Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 126 f. 763 Der Begriff ist, soweit ersichtlich, bislang nur ganz vereinzelt in der Jurisprudenz verwendet worden und zwar zumeist im Wortsinne von „rechtliche Belastung“ – vgl. etwa Lucas, Steuerermittlung und Steuerveranlagung, 1950, S. 30; ähnlich wie hier hingegen bereits Nordmann, Konkurrentenklage im EG-Beihilferecht, 2002, S. 68 f. Erhöhte Verwechslungsgefahr droht daher jedenfalls nicht.

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3. Rechtshistorische und -vergleichende Skizze Der Begriff der Tatsachenüberzeugungslast („Beweislast“) ist verbunden mit einer zeitlich weit zurückreichenden und inhaltlich detailreichen Ideengeschichte (vgl. oben B IV 3). Demgegenüber hat der Gedanke der Rechtsüberzeugungslast („Rechtslast“) historisch im In- und Ausland nie eine wesentliche Rolle gespielt. Von einer „geschichtlichen Entwicklung“ (a) lässt sich daher nur unter Vorbehalt sprechen; auch der aktuelle Befund im „Systemvergleich“ (b) wird eine stringente Überzeugungslastregelung in der Rechtsanwendung nirgends zutage fördern. Im Übrigen darf nicht übersehen werden, dass jegliche rechtsgeschichtlichen und/oder rechtsvergleichenden Spuren einer solchen Lastregel nur mit äußerster Vorsicht zu bewerten sind: Zu unterschiedlich und oftmals auch in sich heterogen sind die jeweils betrachteten Rechtssysteme, zu groß sind daneben die Divergenzen zwischen dem law in the books und dem law in action – als dass vermeintliche „Entdeckungen“ das Fundament eines Rechtslastinstruments im heutigen deutschen Recht bilden könnten.

a) Geschichtliche Entwicklung Die archaischste Ausprägung einer Überzeugungslast im „Kampf um’s Recht“ ist zugleich die drastischste: das Duell764. Ob mit oder ohne Schiedsrichter – immer oblag es letztlich den Parteien selbst, beim jeweiligen Gegner für die Anerkennung ihrer Interessen zu sorgen. Mit „Recht“ im hier verstandenen Sinne (oben B I) hat diese Form der „Konfliktlösung“ natürlich wenig gemein; die „Last“ der Streitparteien war denn auch eine vornehmlich physische, keine rechtliche. Die ersten zuverlässig verbrieften Nachweise einer nicht ganz unwesentlichen Überzeugungslast in Rechtsfragen finden sich für die Gerichtsbarkeit in den griechischen Stadtstaaten765 – und zwar wenigstens in zweierlei Hinsicht: Erstens hatten dort regelmäßig die Parteien selbst diejenigen gesetzlichen Bestimmungen vorzutragen, auf die sie sich beriefen; für die Richtigkeit ihrer Rechtsbehauptungen waren sie dabei (unter Strafandrohung) verantwortlich.766 Und zweitens existierte eine Regel, nach der in Strafverfahren die (grds.: Pri-

_____ 764 Zu dieser auch in Europa bis ins 20. Jahrhundert hinein existenten Praxis vgl. etwa Wesel, Frühformen des Rechts, 1985, S. 324 ff.; sowie Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl. 1962, S. 28 ff. 765 Zur Entwicklung des heutigen Subsumtionsschlusses aus der Form der antiken Gerichtsrede siehe etwa Lege, GreifRecht 2006, S. 1, 10. 766 Siehe etwa Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, 2010, S. 23; sowie Grosch, Rechtswandel und Rechtskraft, 2002, S. 285.

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vat-) Anklage abzuweisen war, wenn unter den Richtern Stimmengleichheit herrschte767 – gewissermaßen ein früher Vorläufer des § 196 III GVG (zu dieser Vorschrift noch unter II 1 b aa). Für „das“ römische Recht ist der Befund schwieriger: Das Rechtssystem war weitaus stärker ausdifferenziert, es durchlief mehrere Entwicklungsstufen mit teilweise gegensätzlichen dogmatischen Fixpunkten, und seine intensive spätere Rezeption „verfremdete“ so manche historische Gegebenheit.768 Im Hinblick auf die Problematik von Lastregeln aber lässt sich – in, zugegeben, grober Verallgemeinerung – wohl konstatieren: Lastregeln kannte das römische Recht vor allem in Tatsachenfragen; im Zivilrecht war das Beweislastsystem dabei in Teilen bereits weit ausdifferenziert769 – einschließlich diverser, für verschiedene Zeiten überlieferter In-dubio-Regeln (etwa: in dubio contra fiscum);770 und im Strafrecht bestand grundsätzlich eine tatsächliche Zweifelslast zugunsten des Beschuldigten (in dubio pro reo771)772. Daneben galten auch im römischen Recht zu verschiedenen Zeiten Abstimmungsregeln, die für unentschiedene Rechtsfragen ebenso relevant werden konnten wie für reine Tatsachenentscheidungen.773 Ferner ist für rechtsfortbildende Entscheidungen ein qualifiziertes Mehrheitserfordernis bei Kollegialentscheidungen überliefert.774 Im Übrigen galt für Rechtsfragen zumeist – nicht dem „unrömischen“ Wortlaut, aber doch dem Inhalt nach – der Grundsatz iura novit curia.775 Daran sollte sich auch in den nachfolgenden Jahrhunderten wenig ändern. Gewiss mag es zuweilen Ansätze einer (auch) rechtlichen Überzeugungslast gegeben haben – etwa im germanischen Recht776 und bei der Rezeption rö-

_____ 767 Siehe Aristoteles, Staat der Athener, 1993, Rn. 61, I. 768 Zum Ganzen vgl. etwa Kaser, Das römische Privatrecht, 1955, S. 16 ff. 769 Vgl. Kaser/Hackl, Das römische Zivilproessrecht, 2. Aufl. 1996, S. 118 u.a. 770 Siehe Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, 2016, S. 30 f. 771 Bzw. satius enim impunitum relinqui facinus nocentis quam innocentum damnari (damnare) – Digesten 48, 19, 5. Zum Grundsatz in dubio pro reo und seiner möglichen Rechtslastwirkung im heutigen deutschen Recht siehe noch unter II 1 e ff. 772 Siehe – auch zur weiteren geschichtlichen Entwicklung im Einzelnen – Zopfs, „In dubio pro reo“, 1999, S. 120 ff. 773 Siehe ausführlich Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, 2016, S. 26 ff. 774 Siehe ibid., S. 71. 775 Siehe Kaser/Hackl, Das römische Zivilproessrecht, 2. Aufl. 1996, S. 119, 358, 597; zur Genese und Entwicklung der Maxime iura novit curia in Deutschland und im romanischen Sprachraum siehe jüngst die Untersuchung von Pennec, L’adage „jura novit curia“, 2010, passim; siehe ferner auch Grosch, Rechtswandel und Rechtskraft, 2002, S. 283 ff. 776 So mag man sich u.a. fragen, ob die über lange Zeit als Zweifelsinstrument gebrauchten „Gottesbeweise“ denn immer nur die Tatfrage betrafen – vgl. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl. 1962, S. 147 ff.

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misch-rechtlicher Regeln zu Verfahrensweisen bei unentschiedenen Richtermehrheiten.777 Zumeist blieb es aber bei der – häufig unausgesprochenen – Prämisse der allumfassenden richterlichen Rechtskenntnis, wie hier von Larenz/Canaris auf den Punkt gebracht: „Über die „Tatfrage“ urteilt der Richter aufgrund des Vorbringens der Parteien und der Beweisaufnahme, die Rechtsfrage entscheidet er, ohne dass es auf das Vorbringen der Parteien ankäme, aufgrund seiner eigenen Rechts- und Gesetzeskenntnis, die er sich zu verschaffen hat („jura novit curia“).“778

b) Aktueller Befund im Systemvergleich Dieser Befund dürfte weitgehend für alle aktuell in der – westlichen – Welt anzutreffenden Rechtssysteme gelten. Durchweg ist der Richter in Rechtsfragen letztentscheidende „Zentralgestalt des Geschehens“. In Nuancen freilich gibt es Unterschiede. So ist im angelsächsischen Rechtskreis die Rolle des Richters vergleichsweise stark zurückgenommen. Grundmodell ist hier ein weitgehend „passiver Richter“779 im Zusammenspiel mit einer stark hervorgehobenen Rolle der Anwälte.780 Selbst dann, wenn man (bei Verfahren mit Jury-Beteiligung) Richter und Geschworene – im Einklang mit der oben (B II) dargestellten Systematik – als funktionale Einheit betrachtet, so verlässt sich doch das Prozessrecht relativ deutlich auf den produktiven Antagonismus zwischen den Parteien eines Streits: Dies zeigt sich – ungeachtet zwischenzeitlicher Reformen zugunsten einer stärker materiell prozessleitenden Rolle des Richters – insbesondere im Zivilrecht eindeutig hinsichtlich der Sachverhaltsfeststellung, aber ebenso mit Blick auf die Bedeutung der Parteivorträge auch in Rechtsfragen.781 Auf ein freies Spiel der Kräfte setzt das Recht in den meisten Staaten des angelsächsischen Rechtskreises daneben u.a. insofern, als die Ahndung deliktischer Handlungen

_____ 777 Siehe Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, 2016, S. 86 ff. 778 Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 128. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Dogma ist bis zum heutigen Tag weitgehend unterblieben (instruktiv aber immerhin BGH, AnwBl 2009, 306, insbes. 308). 779 Maiwald, Herstellung von Recht, 1997, S. 212. 780 Siehe etwa Remien, in: Basedow/Drobnig et al., FS 75 Jahre Max-Planck-Institut für Privatrecht, 2001, S. 617, 623; sowie Knöfel, AnwBl 2004, S. 76, 79. 781 Siehe dezidiert Koch, Mitwirkungsverantwortung im Zivilprozess, 2013, S. 75 f., m.w.N.; sowie ferner Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, 2012, S. 216 f.; vgl. im Überblick daneben etwa Clark, in: Clark/Ansay, Introduction to the Law of the United States, 2. Aufl. 2002, S. 373, 392 ff.

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klassischerweise in die Hand der einzelnen Bürger gelegt wird.782 Ausprägungen einer „echten“ Rechtslast im oben (I 1) beschriebenen Sinne sind diese Elemente aber gleichwohl bei Weitem nicht. Und auch die Bedeutung von stare decisis783 in den eher kasuistisch geprägten angelsächsischen Rechtssystemen784 wirkt allenfalls in sehr geringem Maße lastverteilend: Regelmäßig berufen sich jedenfalls bei schwierigen Fällen in diesen Systemen beide Parteien auf bestimmte Vorgängerfälle – so dass die jeweils mittels Präjudiz hervorgerufene Überzeugungslast sich weitgehend gegenseitig aufhebt; und/oder die Parteien versuchen, im konkret zu entscheidenden Fall bestimmte Merkmale aufzufinden, die ihn vom Präzedenzfall wesentlich unterscheiden (distinguishing)785 – so dass jedenfalls im einzelnen Zweifelsfall keine letzte Klarheit hergestellt wird. Für den romanischen Rechtskreis könnte man prima facie zu der Einschätzung gelangen, die Position des Richters sei noch schwächer, als dies im angelsächsischen Rechtskreis der Fall ist: Ist nicht der Richter nichts als „la bouche qui prononce les paroles de la loi“786? Der Schein dürfte trügen. Das genannte Postulat ist auch in den Ländern des romanischen Rechtskreises längst von neueren Entwicklungen in Rechtstheorie und -praxis überholt – wenn es denn überhaupt jemals praktische Geltung beanspruchen konnte.787 Vielmehr gilt der Grundsatz iura novit curia im gesamten romanischen Rechtskreis weitgehend ohne Einschränkungen.788 Daneben ist im romanischen Rechtskreis die Rechtssprache heute – anders noch der insofern „vorbildliche“, zugleich sprachlich elegante wie verständliche Code Civil von 1804789 – oft hermetisch, sind die Ur-

_____ 782 Die punitive damages im US-Deliktsrecht dienen insofern als funktionales Äquivalent zu staatlichen verbraucherschützenden Instanzen im kontinentaleuropäischen Recht – siehe hierzu etwa Müller, Punitive Damages, 2000, S. 11 u.a., m.w.N. 783 Nach der Doktrin des stare decisis (etwa: „bei früheren Entscheidungen bleiben“), entfalten Präjudizien grds. dauerhafte Bindungswirkung. Abweichungen vom Präjudiz sind nur bei „signifikanten“ Unterschieden des neu zu entscheidenden Falls zum bereits entschiedenen Fall erlaubt. 784 Siehe hierzu etwa James/Hazard/Leubsdorf, Civil Procedure, 5. Aufl. 2001, § 11 Rn. 6. Zur Rechtslast mittels Präjudizien im deutschen Recht siehe noch unter II 1 d. 785 Siehe hierzu eingehend Duxbury, The Nature and Authority of Precedent, 2008, S. 113 ff., m.w.N. 786 Montesquieu, De l’esprit des Loix, 1748, Livre XI, Chapitre VI (vgl. auch oben Fn. 21). 787 Siehe hierzu etwa die Einschätzung des BVerfG vor dem Hintergrund der (künftigen) Entwicklung des gemeineuropäischen Rechts in BVerfGE 75, 223, 242 f. 788 Siehe jüngst die rechtsvergleichende und rechtshistorische Untersuchung von Pennec, L’adage „jura novit curia“, 2010, passim. 789 Siehe Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 78 f.

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teilsbegründungen für Laien oftmals schwer nachvollziehbar.790 Hinzu treten dürfte auch noch ein Verständnis vom Verhältnis von Staat und Bürger, das generell stärker als in den angelsächsischen Rechtsordnungen auf staatliches Handeln verweist. Rechtslastförmige Entscheidungsinstrumente überantworten demgegenüber einen Teil der Verantwortung für die Entscheidungsfindung den Parteien bzw. deren Vertretern – und sind daher den romanischen Rechtssystemen bereits im Ausgangspunkt eher fremd.791 Gleiches dürfte – aus etwas anderen Gründen – für die eher konsensorientierten Rechtssysteme im asiatischen Raum gelten.792 Und auch im islamischen Recht soll traditionell der Qâdî grundsätzlich „den Weg zu jedem Urteil allein finden“793.

4. Relevanz von Überzeugungslastregeln Wenn sich nun für das Instrument einer – wie auch immer gearteten – Rechtslast weder historisch noch im aktuellen Rechtsvergleich nennenswerte Belege finden lassen, so zeigt dies wenigstens Eines: Die Idee der Rechtslast wird eine Vielzahl von Bedenken zu überwinden haben (dazu noch unter II 3). Ein möglicher – besonders grundlegender – Einwand wurde bereits einleitend (oben 1) angedeutet: Bedarf für die Entwicklung eines solchen Instruments existiert überhaupt nur dann, wenn man die Möglichkeit von Unentschiedenheit in der Rechtanwendung anerkennt (a) und keinem absoluten Dezisionismus anhängt (b).

_____ 790 Siehe hierzu Lashöfer, Zum Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, 1992, S. 55 ff.; sowie Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 115 u. 118 ff. 791 Dies soll nicht bedeuten, dass sich keinerlei Ansätze finden ließen. Auch das moderne französische Recht kennt seit jeher bspw. Regeln für die Unentschiedenheit bei Gremienentscheidungen – siehe Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, 2016, S. 147. Dieser und weitere mögliche Anknüpfungspunkte (in dubio pro reo, Ermittlung ausländischen Rechts etc.) gehen aber jdf. nicht wesentlich über die entsprechenden Vorschriften im deutschen Recht hinaus (vgl. noch unter II 1). 792 Vgl. insofern etwa die Darstellung bei Heuser, Einführung in die chinesische Rechtskultur, 3. Aufl. 2006, S. 66 ff. insbes. 793 Nagel, Das islamische Recht, 2001, S. 119. Dabei sind sogar Kollegialentscheidungen ausgeschlossen – allerdings kann (und soll) vom jeweils zur Entscheidung berufenen Richter der Rechtsrat anderer Sachkenner erfragt werden (siehe ibid., S. 131).

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a) Erste Voraussetzung: Unentschiedenheit Eine Zweifelsentscheidung setzt Zweifel voraus, genauer: Unentschiedenheit. Dabei ist im Grunde gleichgültig, worauf diese Unentschiedenheit im Einzelfall gründet.794 Bedarf für Überzeugungslastregeln als Ergänzung der hergebrachten Regeln und Grundsätze der Rechtsanwendung besteht jedenfalls nur dann, wenn die bestehende Methodik nicht in allen Fällen zu einer rational begründbaren Lösung führt. Wer (entgegen der hier vertretenen Auffassung, oben B III) davon ausgeht, dass sich anhand der etablierten Dogmatik immer feststellen lässt, was rechtens ist und/oder sein soll – für den sind Regeln dafür, was als rechtens gelten soll, schlicht irrelevant.795

b) Zweite Voraussetzung: Kein absoluter Dezisionismus Bedarf für Überzeugungslastregeln besteht weiterhin nur dann, wenn überhaupt ein Interesse an „richtiger“ Entscheidung gegeben ist. Wer von vornherein meint, jede gerichtliche Entscheidung sei reiner Dezisionismus, reine (willkürliche) Politik im banalsten Sinne eines auctoritas non veritas facit legem796,797 dessen Entscheidung bedarf auch keiner äußeren Rechtfertigung, also auch keiner rationalen Regel für äußerste Zweifelsfälle.798 Anders gewendet: Wenn ohnehin in jedem Fall „nach Laune“799 entschieden wird, dann gibt es keinen Unterschied zwischen „hinreichend gewissen“ und „völlig ungewissen“ Rechtsfragen – letztere stellen mithin keine besondere Schwierigkeit dar. Eine solche Extremposition wird jedoch kaum jemals vertreten.800 Mit einem begrenzten Dezisionismus hingegen ist die vorliegende Kernthese durchaus vereinbar: Wer nämlich die Auffassung vertritt, dass auch dezisionistische Urteile irgendeiner „politischen“ oder „technischen“ Begründung bedürfen (qualitativ begrenzter Dezisionismus) – der kann wenigstens hinsicht-

_____ 794 Vgl. hierzu oben B III 3 und 4; sowie – aus eher sozialpsychologischer Perspektive – Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 105 ff. 795 Vgl. aus rechtssoziologischer Sicht zur Selbstgewissheit nicht weniger Juristen Drosdeck, in: Schmidt/Drosdeck/Koch, Rechtsfall, 1997, S. 24 f. 796 Hobbes, Leviathan, 1668, S. 133 (Kapitel 26). 797 Siehe Schmitt, Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 27 f.; zum Dezisionismus in der Rechtswissenschaft vgl. außerdem Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 404 ff. 798 Vgl. Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1080. 799 Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 414. 800 Vgl. aber immerhin Enzensberger, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 1, 2004, 83 f. – mit der Auffassung, die (alle?) an der Produktion und Administration des Rechts Beteiligten hätten an Klarheit und Sicherheit des Rechts nicht das geringste Interesse.

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lich dieser Begründung noch immer unentschieden sein. Und wer meint, Urteile dürften nur im äußersten Notfall dezisionistisch sein (quantitativ begrenzter Dezisionismus) – der wird in Fällen der Unentschiedenheit eine rational begründete Entscheidung bevorzugen. Unschädlich ist auch die Feststellung, dass richterliche Entscheidungen oftmals einem informellen Entscheidungsprogramm entspringen mögen, das von den formalen Regeln deutlich abweicht.801 Denn die Richtigkeit einer Entscheidung hängt nicht davon ab, ob ihre innere Begründung bestimmten Regeln folgt – sondern allein davon, ob äußerlich eine tragende Begründung gegeben wird oder wenigstens gegeben werden kann.802

5. Zusammenfassung Grundgedanke dieses Werks ist die Entwicklung eines Analogons zur Beweislast auf Ebene der Rechtsanwendung (oben 1). Ein solches Parallelinstrument lässt sich am treffendsten mit dem Begriff der „Rechtslast“ bezeichnen (oben 2). Geschichtlich ist ein solches Instrument ohne nennenswerte Vorläufer, Gleiches gilt in (aktuell) rechtsvergleichender Hinsicht – jeweils sind allenfalls eng beschränkte Ansätze für Lastregelungen in Rechtsfragen ersichtlich; bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber generalisierenden historisch-vergleichenden Betrachtungen lässt sich daneben aber immerhin feststellen, dass bestimmte Rahmenbedingungen die Implementierung rechtslastförmiger Elemente begünstigen oder umkehrt erschweren (oben 3): Je stärker eine Gesellschaft und ihr Rechtssystem die betroffenen Individuen als eigenständige, prinzipiell „geschäftsfähige“ Subjekte begreift (sei es in der stadtstaatlichen griechischen „Bürgergesellschaft“ oder in der neuzeitlichen Privatrechtsordnung des Common Law) – desto gewichtiger ist die Rolle der Parteien hinsichtlich der Rechtsfindung auf dem Forum des Gerichts; und desto näher liegt in rechtspolitischer Hinsicht auch die Einführung lastförmiger Entscheidungsinstrumente. Je mehr hingegen die Betroffenen als „bloße Objekte“ einer übergeordneten staatlichen oder kirchlichen Autorität begriffen werden (sei es im Rahmen des geschichtlichen Inquisitionsprozesses oder in Facetten des modernen Wohlfahrtsstaats) – desto eher verlässt sich die Verfahrensordnung der Gerichte auf die Erkenntnisfähigkeit des Richters bereits in Tatsachen- und erst recht in

_____ 801 Vgl. einführend etwa Struck, Rechtssoziologie, 2011, S. 138 ff. 802 Siehe Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1083; vgl. auch bereits oben B III 3 c.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Rechtsfragen.803 Allerdings auch dort lässt sich kaum bestreiten, dass der richterlichen Erkenntnisfähigkeit Grenzen gesetzt sind; und wenn gleichwohl ein jeder Rechtsstreit (möglichst) willkürfrei befriedet werden soll, dann bedarf es eines rational begründbaren Instruments zur Überwindung richterlicher Unentschiedenheit (oben 4).

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel C. Rechtslast als Zweifelsregel II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

Die Möglichkeit von Lastregeln auf Rechtsanwendungsebene ist in Rechtsprechung und Lehre bis dato kaum erörtert worden. Dennoch gibt es in der hergebrachten Dogmatik des deutschen Rechts nicht nur im Bereich der Tatsachenfeststellung einige wenige Ansatzpunkte für „formale Ausweichentscheidungen“804, auf die in dieser Arbeit zurückgegriffen werden kann (1). Es wird sich allerdings zeigen, dass die meisten dieser Ansätze nur wenig hergeben für die erste und vielleicht wichtigste Kernfrage einer jeden „Lastentheorie“805: die Herleitung einer in möglichst jedem Einzelfall zweifelsfreien und fairen Lastverteilung auf die Parteien (2), mit deren Überzeugungskraft diese Theorie „steht und fällt“. Hieran unmittelbar anschließend sind möglichst umfassend einige mögliche Einwände, Probleme und Grenzen auszuloten (3) – deren Berücksichtigung im Zwischenergebnis zum Umriss einer modifizierten prozessual strukturierten Rechtslast führt (4). Zum Schluss des Kapitels soll der Ertrag einer solchen Lastregel in Aussicht gestellt werden (5).

1. Ansätze in der bestehenden Dogmatik Der Satz iura novit curia wurde für das deutsche Recht bislang nie ernsthaft bestritten (oben I 3). Gleichwohl besteht bei genauerem Hinsehen doch eine ganze Reihe von „Durchbrechungen“ in Form expliziter und (öfter) impliziter (Zweifels-) Regeln zur Überwindung richterlicher Unentschiedenheit in Rechtsfragen.806 Von Interesse sind hier zunächst die Zulassungshürden im Rechtsmit-

_____ 803 Vgl. zu dieser Einschätzung höchst instruktiv die Erörterung bei Nobili, Richterliche Überzeugungsbildung, 2001, S. 181 ff., insbes. 210 ff. 804 Luhmann, Rechtstheorie 1990, S. 459, 468. 805 Zur Beweislast vgl. insoweit oben B IV 3 b. 806 In diesem Sinne bereits Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 140 ff., der neben bzw. anstelle der hier identifizierten Ansätze noch eine Reihe von Vorschriften insbesondere des Zivilrechts als „Wertungslastregeln“ einordnet.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

163

telrecht (a). Der ausdrücklichen gesetzlichen Positivierung von In-dubio-Regeln am nächsten kommen prozessuale Abstimmungsregeln für Richtergremien, insbesondere die § 196 GVG und § 15 IV BVerfGG (b), sowie diverse Einzelvorschriften zur Auslegung im Zweifelsfall (c). Weniger ergiebig für die hier erörterte Problematik ist die „Leitwirkung“ von Präjudizien nach Vorstellung des positiven Prozessrechts (d). Demgegenüber zeigen sich in der tatsächlichen Entwicklung der Rechtspraxis in den vergangenen Jahrzehnten – des law in action807, wenn man so will – weitere interessante Ansätze (e). In der Literatur schließlich hat die gesamte Fragestellung bislang nur wenig Niederschlag gefunden (f).

a) Zulassung von Rechtsmitteln Bereits im Ansatz steht das Recht von Berufung und Revision zum Gedanken des iura novit curia in einem eigentümlichen Verhältnis. Belegt doch schon die schiere Existenz einer Instanz zur erneuten Überprüfung von Rechtsfragen, dass die richterliche Rechtserkenntnis offenbar zuweilen versagt: Wenn bereits die erste Instanz das Recht uneingeschränkt kennt (bzw. zu kennen hat) – wie kann es dann sein, dass eine der nachfolgenden Instanzen das gleiche Recht noch „besser“ kennt?808 Die Antwort liegt auf der Hand: Juristische Richtigkeit ist und bleibt eine regulative Idee, ein anzustrebendes Ideal, das im konkreten Fall nie mit letzter Gewissheit „erkannt“ wird (oben B III 4). Dies gilt natürlich auch vor den Gerichten. Insofern beschreibt dann auch der Satz iura novit curia nur eine regulative Idee. In der Wirklichkeit erkennen die Gerichte also nicht richtiges Recht, sondern vertretbares Recht. „Vertretbarkeit“809 aber ist keine digitale Kategorie – es gibt Stufen der Vertretbarkeit. Auf diesen Stufen sucht der Rechtsanwender sich dem richtigen Recht anzunähern. Als „Geländer“ hierfür dienen verschiedene methodische und institutionelle Sicherungen: Hierzu zählen die Regeln der Auslegung – ebenso wie die Möglichkeit der erneuten Überprüfung von Rechtsfragen im Instanzenzug.

_____ 807 Die Unterscheidung zwischen „law in action“ und „law in the books“ geht zurück auf Pound, American Law Review 1910, S. 12. 808 Zur verfassungsrechtlichen Dimension dieser Problematik siehe zuletzt eingehend BVerfGE 107, 395. 809 Zur Einordnung des Begriffs siehe näher Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 585 ff.; vgl. ferner auch Neupert, Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit, 2011, S. 63 ff.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Der eingangs beschriebene Widerspruch löst sich damit freilich nur teilweise auf: Denn es bleibt zumindest die Frage, warum denn der Revisionsrichter das besser vertretbare Recht eher erkennen soll als der Richter einer untergeordneten Instanz. Plausibel ist die rechtliche Überlegenheit des Revisionsrichters nur dann, wenn sie sich auf eine höhere tatsächliche Eignung stützt – sei es aufgrund höherer persönlicher Qualifikation oder dank umfangreicherer Ressourcen. Diese Ressourcen sucht das geltende Recht unter anderem dadurch zu gewährleisten, dass der Zulassung von Rechtsmitteln etliche (zusätzliche) Hürden entgegenstehen: Eine Vielzahl von „Rechtsausschlussregeln“ verhindert, dass jeder Einzelfall von mehreren Instanzen überprüft wird.810 In ihrer Gesamtheit wirken diese Rechtsausschlussregeln wie ein einziger Grundsatz der Rechtslast – ein Grundsatz zulasten desjenigen, der ein Urteil mit (weiteren) Rechtsmitteln angreifen möchte. Wenngleich die Rechtsprechung in den Einzelfragen der Zulassung zuweilen inkonsistent811 ist, so kann man in grober Vereinfachung dennoch davon sprechen, dass eine Partei (den Revisionsführer) eine stärkere Begründungslast812 trifft als den bzw. die jeweiligen Gegner. Ist, mit anderen Worten, ein Rechtsstreit erstmals gerichtlich entschieden worden, wird im Zweifel diese Entscheidung rechtskräftig – es gilt dann: In dubio pro status quo. Die Geltung dieses Last-Grundsatzes beschränkt sich im geltenden Recht aber auf die vor seinem Hintergrund positivierten einzelnen AusschlussRegeln.813 Eine weitergehende lastförmige Auffangregel814 existiert im gesetzlichen Rechtsmittelrecht offenkundig nicht. Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Regel sich mittlerweile in der Rechtspraxis entwickelt hätte. Im Übrigen ist natürlich die hier beschriebene „Grundsatz-Rechtslast“ auf ein einziges Stadium des Rechtsstreits begrenzt: Richtungsweise Prognosen über den Ausgang eines Rechtsfalls erlaubt diese Last erst, sobald ein Streit überhaupt vor das Rechtsmittelgericht gelangt – und nur bis er dort die Hürde der Zulassung passiert hat. Vorher und nachher besagen die Hürden der Rechtsmittelzulassung kaum etwas über die Erfolgsaussichten eines Verfahrens.

_____ 810 Vgl. insbes. §§ 511, 543 ZPO sowie §§ 124, 132 VwGO. 811 Siehe hierzu etwa Wenzel, in: Rauscher/Wax/Wenzel, MüKo ZPO, Bd. 1, 3. Aufl. 2008, § 546 Rn. 13. 812 Zu den Grundsätzen der Revisionsbegründung siehe erneut Wenzel, in: Rauscher/Wax/ Wenzel, MüKo ZPO, Bd. 1, 3. Aufl. 2008, § 551 Rn. 20, m.w.N. 813 Bspw. der Regelausschluss der Berufung im Zivilprozess bei einer Beschwer unter EUR 600 (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) oder die Beschränkung der Revision im Verwaltungsprozess auf Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung, Divergenzentscheidungen und Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 VwGO). 814 Etwa des Inhalts: „Zweifel an der Zulässigkeit eines Rechtsmittels gehen zulasten des Rechtsmittelführers.“

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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Zusammenfassend: In den Vorschriften zur Zulassung von Rechtsmitteln zeigt sich ein rechtslastförmiges Prinzip. Weder aber handelt es sich bei den geschriebenen Vorschriften selbst um Rechtslastregeln – noch wird aus dem Grundprinzip eine solche ungeschriebene Regel hergeleitet.

b) Prozessuale Abstimmungsregeln „Echte“ Rechtslastregeln finden sich im deutschen Recht an weniger prominenten Stellen – etwa in den §§ 196 GVG, 15 IV BVerfGG.815 Solche Abstimmungsregeln gehören (wie zahlreiche weitere Verfahrensbestimmungen) zu den meist unterschätzten Vorschriften im Spektrum des Rechts.816 Dabei kommt ihnen als „MetaRegeln“ elementare Bedeutung zu. Dies gilt nicht nur für Wahlen zu und in den Volksvertretungen – sondern zuweilen auch für richterliche Entscheidungen. Bei materiell (nicht zuletzt: im wirtschaftlichen Sinne) bedeutsamen Letztentscheidungen der Gerichte ist der Einzelrichter eher Ausnahme denn Regelfall. Entscheidet ein Richtergremium – eine Kammer, ein Senat etc. – so ist damit notwendig zugleich die Möglichkeit von Uneinigkeit auf Seiten der entscheidenden Instanz verbunden. Das geltende (Prozess-) Recht erkennt dies an – und stellt sich damit implizit auch einer Apotheose des Satzes iura novit curia in den Weg. Für den Fall richterlicher Uneinigkeit enthält insbesondere § 196 GVG eine Reihe von Weisungen (aa). Als „Lastregel“ von besonderem Interesse sind daneben die verfassungsprozessualen Sondervorschriften des § 15 IV BVerfGG (bb).

aa) § 196 GVG Für den Fall der Uneinigkeit eines Richtergremiums treffen die vier Absätze des § 196 GVG817 Regelungen größtenteils rein „formaler“,818 in einem Fall aber auch materieller Natur. Insbesondere § 196 III GVG liegt offenbar eine materielle Wertentscheidung zugrunde. Nach dieser Vorschrift ist bei paritätischer Uneinigkeit in

_____

815 In diesem Sinne bereits Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 111 f. 816 Instruktiv, aus rechtshistorischer Sicht, Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, 2016, insbes. S. 188 ff. 817 Zur Erläuterung in rechtspraktischer Hinsicht siehe etwa Kissel/Mayer, GVG Kommentar, 5. Aufl. 2008, § 196 Rn. 1 ff.; zur Historie siehe Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, 2016, S. 188 ff. In rechtstheoretischer Hinsicht ist die Norm bislang – soweit ersichtlich – deutlich unterbelichtet geblieben. 818 Im Sinne von: Welche Partei im Einzelfall typischerweise von der Regelung profitiert, lässt sich nicht vorhersagen.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Strafsachen tendenziell die „mildere“ (Rechts-) Auffassung maßgeblich.819 Darin scheint jedenfalls im Ergebnis der Grundsatz in dubio pro reo zum Ausdruck zu kommen.820 Es wird noch zu erörtern sein, ob nicht dieses telos generell auf die Rechtsanwendung im Strafverfahren auszudehnen ist (siehe dazu unter 2 b bb (3)). Eher formale Entscheidungsregeln enthalten dahingegen die Absätze 1–2, 4. So entscheidet nach § 196 I GVG grundsätzlich die Mehrheit der Richter. Die Norm des § 196 II GVG821 ist im Grunde eine richterliche „Vergleichsvorschrift“822.823 Eine personelle Zweifelsregelung trifft § 196 IV GVG: Danach erhält die Stimme des Vorsitzenden Richters in bestimmten Fällen der Unentschiedenheit doppeltes Gewicht; diese Vorschrift ist vor allem interessant in der Zusammenschau mit § 15 IV GVG – der diese Stimmgewichtung gerade nicht vorsieht.

bb) § 15 IV BVerfGG Stattdessen gilt im Verfassungsprozessrecht eine eindeutig materielle Zweifelsregel.824 So heißt es in § 15 IV S. 3 BVerfGG knapp: Bei Stimmengleichheit kann ein Verstoß gegen das Grundgesetz oder sonstiges Bundesrecht nicht festgestellt werden.

In dubio haben die mit jeweils acht Richtern besetzten Senate des Gerichts also zugunsten der (Verfassungs- bzw. Bundes-) Rechtmäßigkeit des jeweiligen hoheitlichen Handelns (Gesetz, Verwaltungsakt, Realakt etc.) zu entschei-

_____ 819 Die Vorschrift in Gänze lautet: „Bilden sich in einer Strafsache, von der Schuldfrage abgesehen, mehr als zwei Meinungen, deren keine die erforderliche Mehrheit für sich hat, so werden die dem Beschuldigten nachteiligsten Stimmen den zunächst minder nachteiligen so lange hinzugerechnet, bis sich die erforderliche Mehrheit ergibt. Bilden sich in der Straffrage zwei Meinungen, ohne dass eine die erforderliche Mehrheit für sich hat, so gilt die mildere Meinung.“ 820 Zur Historie vgl. Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, 2016, S. 191 f. 821 Die Norm lautet: „Bilden sich in Beziehung auf Summen, über die zu entscheiden ist, mehr als zwei Meinungen, deren keine die Mehrheit für sich hat, so werden die für die größte Summe abgegebenen Stimmen den für die zunächst geringere abgegebenen so lange hinzugerechnet, bis sich eine Mehrheit ergibt.“ 822 Ein Beispiel: V verlangt von K 10.000 Euro aus Kaufvertrag. Fünf Richter, fünf Meinungen – A möchte 6.000, B 7.000, C 8.000, D 9.000, E 10.000 Euro gewähren. E wird zunächst dem D zugerechnet, nun steht es 2:1:1:1. E/D werden nun C zugerechnet, es steht jetzt eine Mehrheit von 3:1:1 – V bekommt daher 8.000 Euro zugesprochen. 823 Zur historischen Entwicklung siehe Ernst, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten, 2016, S. 181 ff. (insbes. 183), 192 ff. 824 Ebenso Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 140 f.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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den. 825 Dabei soll es auch nicht darauf ankommen, auf welcher „Ebene“ (Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung) die Verfassungswidrigkeit zweifelhaft ist. Auch hierauf wird noch zurückzukommen sein (siehe unter 2 b bb (2)).

c) Regeln zur Auslegung im Zweifelsfall Nur äußerst selten ordnet der Gesetzgeber ausdrücklich an, wie „im Zweifel“ auszulegen ist. Am ehesten noch finden sich entsprechende Vorschriften hinsichtlich der Auslegung von Verträgen, insbesondere im Recht der AGB (aa). In Ansätzen lassen sich zudem bestimmte Fiktionsnormen – namentlich die Vergütungsfiktionen der §§ 612, 632, 653 BGB – als Zweifelslastregeln für die Auslegung begreifen (bb). Keine Lastregeln im hier erörterten Sinne hingegen sind die Zielvorgaben, die der Gesetzgeber zuweilen in Präambeln oder Eingangsparagraphen einer Normensammlung voranstellt (cc). Auch bei Auslegung ausländischen Rechts gemäß § 293 ZPO erfolgt nach ganz h.M. keine „Lastverteilung“ auf die Parteien (dd). Eine echte Rechtslastregel findet sich hingegen an überraschendem Ort – im jüngeren Völkerstrafrecht (ee).

aa) Das Recht der AGB Die mit Abstand interessanteste Vorschrift zur (Vertrags-) Auslegung im Zweifelsfall findet sich im Recht der AGB.826 Für „mehrdeutige Klauseln“ bestimmt hier § 305c II BGB: Zweifel bei der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen gehen zu Lasten des Verwenders.

Diese höchst praxisbedeutsame827 Vorschrift in dubio contra proferentem828 – die inhaltsgleich bereits in § 5 AGBGB enthalten war – ist in mehrfacher Hinsicht instruktiv. Erstens belegt ihre Existenz und Relevanz wenigstens, dass logisch nachrangige Auslegungsregeln zur Behebung von anders nicht auszuräumenden Zweifeln über die Entscheidung zwischen mindestens zwei vertretbaren Ergebnissen829 dem deutschen Recht nicht (mehr) gänzlich fremd sind. Und

_____ 825 Instruktiv hierzu Danwitz, JZ 1996, S. 481 ff. 826 Siehe Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 146. 827 Vgl. nur die Übersicht bei Basedow, in: Säcker/Rixecker, MüKo BGB Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 305c Rn. 36 ff. 828 Riehm, RW 2013, S. 1, 22. 829 Schlosser, in: Staudinger, BGB Kommentar, 13. Aufl. 1993 ff., Neubearbeitung 2006, § 305c Rn. 106.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

darüber hinaus, zweitens, scheint es dabei offenbar möglich, in beweislastähnlicher Weise schematisch die Lasten vorab zu verteilen – also ohne dass jeweils im Prozess wie immer geartete „materielle Sachgründe“ erörtert werden müssten. Drittens muss die Norm des § 305c II BGB allerdings zugleich als Warnung dafür dienen, dass Zweifelsregeln immer auch selbst dem Zweifel anheimfallen können; denn bei genauem Hinsehen ist die genannte Vorschrift weniger eindeutig, als es zunächst scheinen möchte.830 So ist insbesondere nach wie vor umstritten, was genau „zu Lasten des Verwenders“ meint – und wie weit diese Last gehen soll. Die Problematik betrifft in erster Linie das Zusammenspiel von § 305c II BGB einerseits mit den Vorschriften über die Inhaltskontrolle (Gültigkeitskontrolle) von AGB andererseits. Nach mittlerweile herrschender Auffassung sind nämlich AGB auch im Individualprozess zunächst gewissermaßen zugunsten des Verwenders auszulegen – mit dem Ziel, sie auf Basis dieser „kundenfeindlichen“ Auslegung an der AGBInhaltskontrolle scheitern zu lassen (was im Ergebnis materiell natürlich regelmäßig zulasten des Verwenders geht); wenn (und nur wenn) die AGB die Inhaltskontrolle auch bei entsprechend extensiver Auslegung passieren, werden sie „kundenfreundlich“ – also auch im engeren Sinne zulasten des Verwenders – ausgelegt. Nach der Gegenauffassung handelt es sich bei der so entstehenden Doppelbelastung des AGB-Verwenders um eine Übertreibung. Der Streit bedarf im Rahmen dieses Werks keiner Entscheidung. Die Problematik dient hier lediglich als Beleg dafür, dass eine jede Lastregel der Rechtsanwendung nicht nur klar definieren muss, wer die Last zu tragen hat – sondern auch, ob die Last sich auf das materielle (Gesamt-) Ergebnis oder auf eine Zwischenstufe bezieht.

bb) Fiktions- und Vermutungsregeln Fiktionen im Recht831 können die Tatbestandsseite832 betreffen – oder die Rechtsfolgenseite833. Sie können widerleglich sein834 – oder unwiderleglich835. In den

_____

830 Siehe zum Folgenden einerseits (für die h.M.) Basedow, in: Säcker/Rixecker, MüKo BGB Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 305c Rn. 18 ff.; andererseits Schlosser, in: Staudinger, BGB Kommentar, 13. Aufl. 1993 ff., Neubearbeitung 2006, § 305c Rn. 108 ff., jeweils m.w.N. 831 Der Begriff der rechtlichen Fiktion wird in diesem Abschnitt für gesetzliche Vermutungen und Fiktionen gleichermaßen verwendet. Siehe zu den begrifflichen Einzelheiten im Überblick etwa Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002, S. 228 ff. 832 Vgl. etwa § 132 I S. 1 BGB. 833 Vgl. etwa § 4 II S. 2 VwZG. 834 Vgl. etwa § 1117 III BGB. 835 Vgl. etwa § 84 BGB.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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allermeisten Fällen haben solche Fiktionen mit Auslegung wenig gemein; häufiger schon handelt es sich um Regeln (auch) zur Beweislastverteilung.836 Ausnahmsweise kann man Fiktionsvorschriften aber womöglich dann als (auch) Rechtsanwendungsregeln begreifen, wenn sie sich auf (unklare) Bestimmungen von Verträgen, also auf auszulegende Rechtstexte beziehen. Insofern wäre es teilweise – aber nicht vollumfänglich – zutreffend, wenn etwa Absatz 2 des § 632 BGB837 als „Auslegungsregel zur Höhe der Vergütung“838 bei Werkverträgen bezeichnet wird. An drei Fallbeispielen lässt sich dies verdeutlichen: (1) Der Privatier A hat mit dem Tischler B vereinbart, dass B einen Tisch herstellen und liefern möge. Über eine Gegenleistung des A wird (unstreitig) nicht gesprochen. Bei Lieferung des Tisches verlangt B von A dennoch eine Vergütung.

In diesem Fall hat § 632 BGB vertragsergänzende bzw. -ersetzende Bedeutung. Absatz 1 der Vorschrift fingiert im Tatbestand eine Einigung über die Vergütung des Werks, Absatz 2 fingiert tatbestandlich eine Einigung über die konkrete Höhe der Vergütung – Folge ist ein wirksamer Werkvertrag,839 aus dem der Hersteller des Werkes einen Zahlungsanspruch gegen den Besteller herleiten kann. (2) A und B haben vereinbart, dass B einen Stuhl herstellen und liefern möge. B behauptet später, A habe ihm als Gegenleistung „den marktüblichen Preis“ versprochen – was A bestreitet (wer Recht hat, lässt sich nicht feststellen). B behauptet weiterhin, dass nach den tatsächlichen Umständen die Herstellung des Werks nur gegen Vergütung zu erwarten war und dass die übliche Vergütung EUR 200,00 betrage (was jeweils zutrifft).

In diesem Fall hat § 632 BGB eine Doppelfunktion. Zunächst bewirkt die Vorschrift eine teilweise Beweislastumkehr zulasten des Bestellers. Und sodann kommt den Normen wiederum die gleiche vertragsergänzende bzw. -ersetzende Bedeutung zu, die sich bereits im Fall 1 gezeigt hat. Ergebnis: Der Hersteller

_____ 836 Siehe eingehend etwa Vollmer, Auslegung und „Auslegungsregeln“, 1990, S. 292 ff. 837 Die Vorschrift des § 632 BGB lautet: (1) Eine Vergütung gilt als stillschweigend vereinbart, wenn die Herstellung des Werkes den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist. (2) Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, so ist bei dem Bestehen einer Taxe die taxmäßige Vergütung, in Ermangelung einer Taxe die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. (3) Ein Kostenanschlag ist im Zweifel nicht zu vergüten. 838 Busche, in: Säcker/Rixecker, MüKo BGB Bd. 4, 5. Aufl. 2009, § 632 Rn. 2. 839 Siehe Peters/Jacoby, in: Staudinger, BGB Kommentar, 13. Aufl. 1993 ff., Neubearbeitung 2008, § 632 Rn. 42 ff.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

kann auch in Fall 2 aufgrund tatsächlicher Vermutungen vom Besteller den marktüblichen Preis verlangen, obgleich er nicht beweisen kann, dass eben dieser Preis bei Vertragsschluss vereinbart wurde. (3) A und B haben vereinbart, dass B einen Schrank herstellen und liefern möge. In dem schriftlichen „Werkvertrag“ haben Sie (unstreitig) festgehalten, dass „die den Parteien obliegenden Verpflichtungen Zug um Zug am 20.12.2012“ zu erfüllen seien; spezifischere Vereinbarungen, insbesondere zur Vergütung, bestehen nicht. Bei Lieferung am 20.12.2012 verlangt B von A einen Betrag i.H.v. EUR 1.000,00 (Marktpreis).

In diesem Fall 3 endlich lassen sich die Normen des § 632 BGB in der Tat als Auslegungsregeln begreifen – und zwar des Inhalts, dass die tatsächlich unbestrittenen Vertragsbestimmungen nach dem objektiven Empfängerhorizont im streitigen Zweifelsfall rechtlich so zu verstehen seien, dass die übliche Vergütung vereinbart wurde. Die vorstehenden Fallbeispiele in ihrer Gesamtheit bestätigen den eingangs beschriebenen Befund: Erstens (dies war zu erwarten) haben Fiktionsregeln im Recht überwiegend tatbestandsergänzende bzw. -ersetzende Wirkung. Zweitens (auch dies ist wenig überraschend) sind Fiktionsregeln nicht selten implizite Beweislastregeln. Drittens (und dies nun mag verwundern) wird aus der Beweislastregel dann eine Rechtslastregel, wenn es sich bei dem in Bezug genommenen und als solcher unstreitigen Tatbestand um einen Rechtstext handelt – wenn also nicht eine Rechtstatsache (Haben A und B „x“ tatsächlich vereinbart?), sondern die Bedeutung dieser Tatsache (Was meint „x“ nach dem objektiven Empfängerhorizont?) streitig ist. Für die Kernthese dieses Werks ist der dritte Teilbefund von besonderem Interesse. Nicht nur belegt er erneut, dass Lastregeln in der Rechtsanwendung dem deutschen Recht nicht gänzlich fremd sind. Es deutet sich zudem an, dass der Unterschied zwischen „(Rechts-) Tatsachen“ und „(tatsächlichem) Recht“ lediglich konstruktiv-normativer Art ist. So kann bereits dann aus einer Tatsachenfrage (etwa einem Vertragstext mit bestimmtem Zeicheninhalt) eine Rechtsfrage werden, wenn der Sinngehalt der Tatsachen (der Zeichen) zweifelhaft ist.840 Soweit es um die Auslegung von Verträgen geht, führt diese Konsequenz – wegen der grundsätzlichen Maßgeblichkeit des „objektiven Empfängerhorizonts“ – zu einer Verschiebung der Gewichte weg von den Parteien (da mihi factum) hin zum Richter (dabo tibi ius); dies schließt aber offenbar nicht völlig aus (siehe Fall 3), dass einer der Parteien eine „Überzeugungslast“ aufgebürdet wird. Lässt man nun zudem den bislang auf das Vertragsrecht konzent-

_____

840 Vgl. BGH, NJW 1984, 721, zu der Frage, ob die Auslegung von Verträgen Tat- oder Rechtsfrage ist; ferner zum Ganzen auch Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 119 ff., m.w.N.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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rierten Blick zum staatlichen (Gesetzes-) Recht schweifen und erkennt man dort als Prämisse einen subjektiv-historischen Auslegungshorizont an, so zeigt sich dort erst recht: Die unterschiedliche Behandlung von Tatsachen und Recht ist mehr rechtspolitische Forderung denn eine zwingend-notwendig aus der Sache sich ergebende rechtsdogmatische Folgerung.841 Auch darauf wird später noch zurückzukommen sein (unter 3 c).

cc) Zielvorgaben des Gesetzgebers Nicht nur (aber auch) die Auslegung von Verträgen betrifft eine dritte Kategorie möglicher Lastvorschriften: Sogenannte Zielvorgaben des Gesetzgebers (etwa die inzwischen regelmäßig842 anzutreffenden Gesetzespräambeln, Erwägungsgründe 843 und „Zwecksetzungsparagraphen“ 844 ) scheinen geradezu prädestiniert – und wohl auch: intendiert –, die Rechtsanwendung materiell zu leiten. Gleichwohl handelt es sich bei diesen Finalnormen nicht um Zweifelsregeln im hier gemeinten Sinne. Zwar kann solchen Vorgaben selbstverständlich Bedeutung für die Rechtsanwendung zukommen. Dies hat aber bereits im Rahmen der herkömmlichen (historisch-) teleologischen Auslegung zu geschehen.845 Im Übrigen lässt sich nur höchst selten lediglich ein einziges Ziel des Gesetzgebers ausmachen, an dem die Rechtsanwendung „im Zweifel“ ausgerichtet werden könnte. Vielmehr ist es regelmäßig so, dass mehrere Grundpositionen in Ausgleich zu bringen sind (vgl. bereits unter B III 2 b cc). Dies gilt selbst für „Anlassgesetze“, etwa solche im Bereich des sogenannten Verbraucherschutzes; auch hier sind in der Auslegung immer zugleich gegengewichtige Interessen zu berücksichtigen – neben den Interessen der eigentlich adressierten Verbraucher beispielsweise auch die Grundrechte der ebenfalls betroffenen Unternehmer.

_____ 841 Siehe Nobili, Richterliche Überzeugungsbildung, 2001, S. 106 ff., der in seiner instruktiven historischen Darstellung auf die „extremen Schwierigkeiten bei der Durchführung dieser Unterscheidung“ hinweist (ibid., S. 107). 842 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 470. 843 Dies gilt insbesondere für das Recht der Europäischen Union. 844 Vgl. etwa § 1 UWG – „Dieses Gesetz dient dem Schutz der Mitbewerber, der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der sonstigen Marktteilnehmer vor unlauteren geschäftlichen Handlungen. Es schützt zugleich das Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb.“ Nebenbei bemerkt: Schlechter kann gesetzgeberisches „Gender-Mainstreaming“ kaum gelingen. Verbraucherinnen werden eigens erwähnt, Mitbewerberinnen und sonstige Marktteilnehmerinnen hingegen scheint der Gesetzgeber nicht zu kennen. 845 Siehe Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 469 f.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

dd) Auslegung „fremden“ Rechts: § 293 ZPO Gleichfalls nur prima facie fruchtbar für die Kernthese dieses Werks sind die Vorschriften zur Auslegung „fremden“ Rechts, namentlich § 293 ZPO. Die Regelung aus dem Zweiten Buch der Zivilprozessordnung846 lautet: Das in einem anderen Staat geltende Recht, die Gewohnheitsrechte und Statuten bedürfen des Beweises nur insofern, als sie dem Gericht unbekannt sind. Bei Ermittlung dieser Rechtsnormen ist das Gericht auf die von den Parteien beigebrachten Nachweise nicht beschränkt; es ist befugt, auch andere Erkenntnisquellen zu benutzen und zum Zwecke einer solchen Benutzung das Erforderliche anzuordnen.

Nun könnte man aus der teilweisen „Beweisfähigkeit“ fremden Rechts folgern, bleibende Zweifel über Existenz oder Inhalt fremder Normen gingen zulasten jeweils einer Partei, mit anderen Worten: aus Beweis folge Beweislast. Deutlich herrschend ist jedoch die gegenteilige Auffassung.847 Danach treffen die Parteien allenfalls Mitwirkungspflichten,848 der Richter bleibt zur „Vollermittlung“ von Amts wegen verpflichtet. Gelingt es ihm gleichwohl nicht, den mutmaßlich einschlägigen Rechtssatz zu ermitteln, so hat er grundsätzlich das „nächstliegende“ Recht (etwa solches aus derselben Rechtsfamilie) oder die lex fori anzuwenden.849 Die Ablehnung einer Beweislast für fremdes Recht überzeugt zumindest insofern, als zwischen der Erkenntnis von „fremdem“ und „forumseigenem“ Recht heutzutage allenfalls noch ein gradueller Unterschied besteht: Das geltende irische Kaufrecht etwa ist im Zeitalter von Globalisierung einerseits und Normenflut andererseits nicht wesentlicher schwieriger zu ermitteln als beispielsweise Sondervorschriften des aktuellen deutschen Steuerrechts. Wer also für das deutsche Recht eine „Zweifelslast“ der Parteien ablehnt, der tut gut dar-

_____ 846 Über die Verweisung in § 173 VwGO beansprucht die Vorschrift auch im Verwaltungsrecht Geltung – vgl. BVerwG, Urt. v. 19.7.2012 – 10 C 2.12 –. 847 Siehe grundlegend BGHZ 36, 353; BGH, NJW 1982, 1215, 1216; BAGE 80, 316; sowie aus der Literatur Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, S. 622 f., m.w.N.; ferner etwa v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 2003, S. 415 ff., ebenfalls m.w.N. sowie mit dem Hinweis (S. 416), viele ausländische Prozessrechte würden demgegenüber die Ermittlung „fremden“ Rechts als gewöhnliche Tatfrage behandeln. Für die Gegenauffassung, wonach § 293 ZPO jedenfalls eine subjektive Beweislastregelung enthalte siehe etwa Baumgärtel, Beweislastpraxis, 1996, S. 5, m.w.N. 848 Deren Missachtung allerdings durchaus beweislastähnliche Konsequenzen haben kann – vgl. BGH, NJW 1981, 1581, 1583. 849 Siehe ausführlich v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 2003, S. 417 f., 422 ff.; sowie ferner Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, S. 623 f., jeweils m.w.N.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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an, bei ausländischem Recht ebenso zu verfahren. Umgekehrt wird noch zu prüfen sein, ob § 293 ZPO (bzw. die herkömmliche Auslegung dieser Norm) nicht generell – a minori ad maius bzw. a fortiori – einem Zweifelsinstrument der Rechtslast entgegensteht (siehe hierzu unter 3 b); dabei wird dann allerdings auch zu berücksichtigen sein, dass das Recht in einzelnen Gebieten bzw. für bestimmte Verfahrensweisen durchaus bereits rechtslastförmige Regelungen kennt (siehe einige der voranstehenden Beispiele in diesem Kapitel).

ee) Völkerstrafrecht: Art. 22 des Römischen Statuts Eine weitere solche Rechtslastvorschrift findet sich an überraschendem Ort: im (jüngeren) Völkerstrafrecht. So ist gemäß Art. 22 II S. 2 des Römischen Statuts850 des Internationalen Strafgerichtshofs im Zweifelsfall … zugunsten der Person auszulegen, gegen die sich die Ermittlungen, die Strafverfolgung oder das Urteil richten.851

Für Fälle der Mehrdeutigkeit852 normiert diese Vorschrift als letztes Mittel der Auslegung853 also eine wenigstens im Kern eindeutige Rechtslast zugunsten des Beschuldigten.854 Allerdings ist im Einzelnen noch nicht abschließend geklärt,

_____ 850 Siehe BGBl. 2000 II, S. 1394. Für die Bundesrepublik Deutschland trat das Römische Statut am 1.7.2002 in Kraft (siehe BGBl. 2003 II, S. 293). 851 Die Gesamtvorschrift mit dem Titel „Nullum crimen sine lege“ lautet: (1) Eine Person ist nur dann nach diesem Statut strafrechtlich verantwortlich, wenn das fragliche Verhalten zur Zeit der Tat den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens erfüllt. (2) Die Begriffsbestimmung eines Verbrechens ist eng auszulegen und darf nicht durch Analogie erweitert werden. Im Zweifelsfall ist die Begriffsbestimmung zugunsten der Person auszulegen, gegen die sich die Ermittlungen, die Strafverfolgung oder das Urteil richten. [Hervorh. d. Verf.] (3) Dieser Artikel bedeutet nicht, dass ein Verhalten nicht unabhängig von diesem Statut als nach dem Völkerrecht strafbar beurteilt werden kann. 852 In der englischen, der französischen und der spanischen Sprachfassung ist von „ambiguity“, respektive „ambiguïté“, respektive „ambiguëdad“ die Rede – siehe zusammenfassend die Darstellung bei Jesse, Verbrechensbegriff des Römischen Statuts, 2009, S. 151. 853 Broomhall, in: Triffterer, Commentary on the Rome Statute, 2. Aufl. 2008, Art. 22 Rn. 46. 854 Damit geht das Römische Statut deutlich über den im deutschen Strafrecht nur für Tatsachenfragen geltenden Grundsatz in dubio pro reo (siehe noch unter e ff) und wohl auch über die Prinzipien der strict construction bzw. der lenity im englischen bzw. im US-amerikanischen Recht hinaus – siehe hierzu Jesse, Verbrechensbegriff des Römischen Statuts, 2009, S. 150, m.w.N. Eher schon dürfte die Rechtslastregel für Verfahren vor dem IStGH sich aus der allge-

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

welche qualitative und quantitative Reichweite die Norm eigentlich hat:855 Greift Art. 22 II S. 2 des Römischen Statuts bereits, soweit ein Straftatbestand keinen völligen sens claire aufweist – oder erst dann, wenn mehrere Auslegungsvarianten ungefähr gleich gut vertretbar sind (wohl eher)? Und bezieht sich die Vorschrift nur auf die „Begriffsbestimmung eines Verbrechens“ (was der vollständige Wortlaut indiziert) – oder ist sie zumindest analog auch auf andere Auslegungsfragen anzuwenden (bei teleologischer Interpretation wohl näherliegend)? Damit zeigt sich erneut (siehe bereits oben aa): Rechtslastregeln können selbst Auslegungsprobleme aufwerfen, können schlimmstenfalls anstelle von Klarheit nur noch mehr Unklarheit schaffen. Um solche Auslegungsprobleme „zweiter Ordnung“ weitgehend zu vermeiden, müssen Tatbestand und Rechtsfolgen von Rechtslastregeln sprachlich möglichst präzise gefasst werden (vgl. dazu noch unter IV).

d) Präjudizien I Präjudizien spielen nur scheinbar ausschließlich in kasuistisch angelegten Rechtssystemen eine maßgebliche Rolle. Zwar wird zuweilen – und prinzipiell nicht völlig zu Unrecht – behauptet, das deutsche Recht kenne keine (formelle) Präjudizienwirkung. 856 In Wirklichkeit jedoch sind Präzedenzfälle auch im Recht der Bundesrepublik mit seinem entwickelten Gesetzesbestand von erheblicher Bedeutung.857 Und dies gilt nicht erst auf der faktischen Ebene des law in action (dazu noch unter e aa), sondern bereits aufgrund der geltenden Regelungen des (insbesondere: Revisions-) Prozessrechts. Eine „echte“ formelle Präjudizienbindung statuiert für das deutsche Recht lediglich die Vorschrift des § 31 BVerfGG.858 Allerdings existieren daneben in sämtlichen Gebieten des Rechts prozessuale Vorschriften, die eine „quasiformelle“ Präjudizienbindung der Gerichte anordnen:859 Hierzu zählen insbe-

_____ mein-völkervertragsrechtlichen Regel des in dubio mitius (dazu noch unter e cc) herleiten lassen. 855 Hierzu erneut instruktiv Jesse, Verbrechensbegriff des Römischen Statuts, 2009, S. 151 ff. 856 Siehe etwa Gottwald, in: Rauscher/Wax/Wenzel, MüKo ZPO, Bd. 1, 3. Aufl. 2008, § 322 Rn. 23, 93, m.w.N. 857 Siehe nur die ausführliche Darstellung bei Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 95 Rn. 18 ff., m.w.N. 858 Abs. 1 der Regelung lautet: „Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.“ 859 Siehe zum Ganzen erneut Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 95 Rn. 20 ff.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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sondere Regeln über die Zulassung der Revision bei Abweichung von einem höchstrichterlichen Präjudiz 860 sowie Verfahren zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung innerhalb der Senate eines obersten Gerichtshofs861 und zwischen den obersten Gerichtshöfen862; ein Sonderfall ist in diesem Zusammenhang die Vorschrift des Art. 100 GG, insbesondere dessen Absatz 2 – wonach von den Gerichten (schon) dann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen ist, wenn die rechtliche Verbindlichkeit einer Regel des Völkerrechts „zweifelhaft“ ist.863 Alle diese Normen sind letztlich durch die grundgesetzlichen Gebote der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit bedingt;864 und sie dienen sämtlich dazu, in besonders umstrittenen Rechtsfragen die wesentlichen Zweifel autoritativ zu beseitigen. Insofern könnte man annehmen, bei den genannten Vorschriften handelte es sich um „Zweifelsregeln“ i.S.d. oben (I 1) beschriebenen Postulats: Regeln, die in allen anders nicht ausräumbaren Zweifelsfällen dafür sorgen, dass vorab vermutet werden kann, was als rechtens gelten soll – so dass immer wenigstens tendenziell absehbar ist, wie diese Zweifelsfälle von den Gerichten entschieden werden. Bei genauerem Hinsehen allerdings erweist sich diese Annahme als nur sehr eingeschränkt zutreffend. Richtig ist zwar gewiss, dass höchstrichterliche Entscheidungen i.V.m. einer (quasi-) formellen Präjudizienbindung dazu führen können, dass rechtliche Zweifelsfragen (vorerst) abschließend entschieden werden. Jedoch betrifft dies keinesfalls alle Zweifelsfragen – viele Fragen gelangen erst nach langer Zeit, manche nie vor die Revisionsgerichte. Auch werden die (abstrakten) Zweifelsfragen nicht immer abschließend entschieden – zuweilen verstärkt eine höchstrichterliche Entscheidung die Kontroverse sogar noch. Und schließlich führen Regeln über Revision und Präjudizienbindung nicht dazu, dass vorab eine Aussage über Zweifelsfragen getroffen werden könnte – allenfalls nachdem eine höchstrichterliche Entscheidung vorliegt, lässt sich für künftige ähnlich gelagerte Fälle eine Entscheidungswahrscheinlichkeit „berechnen“. Die oben angeführten einfachrechtlichen Vorschriften zum (Revisions-) Prozessrecht sind mithin keine Meta-Zweifelsregeln der Rechtsanwendung im

_____

860 Siehe ausdrücklich etwa § 132 II Nr. 2 VwGO; i.E. ähnlich u.a. § 543 II Nr. 2 ZPO. 861 Siehe etwa § 132 II GVG; sowie § 11 II VwGO. 862 Siehe insbes. § 2 I RsprEinhG; sowie ferner Art. 100 III GG. 863 Siehe hierzu etwa Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 100 Rn. 30 ff., m.w.N. 864 Siehe Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 95 Rn. 17 ff.; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 100 Rn. 30, jeweils m.w.N.; sowie noch unter e aa; vgl. auch bereits in der Grundlegung oben B I 2 a aa sowie gg.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

hier gemeinten Sinne. Vorstellbar allerdings ist, dass derartige präjudizielle Zweifelsregeln sich mittlerweile in der Rechtspraxis herausgeschält haben (dazu noch unter e aa).

e) Zweifels- und Lastregeln in der Rechtspraxis Typischerweise besonders schwierige Problemlagen haben nämlich in der Rechtspraxis zur Entwicklung einiger In-dubio-Grundsätze geführt. Erneut zu erörtern ist hier zunächst die (nunmehr: faktische) Zweifelswirkung von Präjudizien (aa). Mögliche Ansatzpunkte für Zweifelsinstrumente bzw. Lastregelungen finden sich daneben in der sogenannten Ermessensfehlerlehre (bb), in den Auslegungsgrundsätzen zum Völkerrecht (cc) sowie in verschiedenen Facetten „lex-superior-konformer“ Rechtsanwendung (dd). Instruktiv ist in diesem Zusammenhang auch die Behandlung von Richtervorlagen beim BVerfG (ee). Explizite Zweifelslastregeln im hier gemeinten Sinne haben sich allerdings auch in der Rechtspraxis bislang selbst in umgrenzten Teilbereichen (ff, gg, hh) nicht durchsetzen können. Unter (stillschweigender) Berufung auf den Grundsatz iura novit curia sind entsprechende Ansätze – ungeachtet einzelner Bekenntnisse zu den Grenzen der eigenen Erkenntnis865 – nie ernstlich fortentwickelt worden.

aa) Präjudizien II Neben der oben (d) beschriebenen einfachgesetzlich positivierten (quasi-) formellen Präjudizienwirkung zeichnet sich in der Rechtspraxis seit längerem eine umfassende „informelle, faktische Verbindlichkeit“866 von Präjudizien ab: Insbesondere (aber keineswegs nur) höchstrichterliche Entscheidungen zu zweifelhaften Rechtsfragen „leiten“ die zeitlich nachfolgenden Entscheidungen anderer Gerichte. Verfassungsrechtlich lässt sich dies letztlich wiederum durch die Gebote der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit grundsätzlich rechtfertigen.867 Insofern wird in der Literatur zuweilen von einer „präsumptiven Verbindlichkeit“ 868 der Präjudizien gesprochen – einer In-dubio-

_____ 865 Vgl. etwa Sendler, DÖV 1991, S. 521 ff. 866 Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 95 Rn. 21, m.w.N. 867 Siehe Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1071, m.w.N. 868 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 262; zustimmend Bydlinski, JZ 1985, S. 149, 154.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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Verbindlichkeit i.S. einer „Argumentationslast“869 bei den Gerichten und erst recht auf Seiten der Exekutive. Allerdings ist erneut diese „Last“ gleich in mehrfacher Hinsicht stark eingeschränkt: Sie greift wiederum erstens nur dort, wo überhaupt Präjudizien bestehen, zweitens nur insofern, als die Präjudizien selbst in sich hinreichend unzweifelhaft sind, und drittens nur insoweit, als sie sich nicht gegenseitig widersprechen.870 Viertens stehen die für eine lastweise Präjudizienbindung sprechenden Gebote der Rechtssicherheit und Rechtsanwendungsgleichheit nicht selten im Widerstreit zu anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben.871 Und fünftens schließlich können Präjudizien zwar abstrakte Rechtsfragen klären – nicht aber den Subsumtionsschluss im jeweiligen künftigen Einzelfall ersetzen.872 Präjudizien können in der Rechtspraxis also zuweilen eine begrenzte Lastwirkung entfalten; erneut zeigt sich damit auch, dass der Gedanke der Rechtslast als solcher dem deutschen Recht nicht völlig fremd ist. Als generelles Letztkriterium für die Rechtsanwendung taugen Präjudizien allerdings nicht.

bb) Ermessensfehlerlehre Zu einem ähnlichen Ergebnis führt die Betrachtung der Rechtspraxis bei der Überprüfung von Ermessensspielräumen im Öffentlichen Recht:873 Auch hier

_____ 869 Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 95 Rn. 22 (siehe auch bereits ibid., Rn. 19); vgl. auch Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1066, 1070 ff.; Krebs, AcP 195 (1995), S. 171, 173 f., 182 ff.; sowie Weber-Grellet, Beweisund Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, insbes. S. 55 ff.; vgl. ferner auch Bydlinski, JZ 1985, S. 149, 151 f. 870 Vgl. bereits unter d zur quasi-formellen Präjudizienbindung im Revisionsrecht; sowie ferner auch oben in der Grundlegung zum Auslegungskriterium der „herrschenden Meinung“ B III 4 b bb (1). 871 Instruktiv erneut Jachmann, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 95 Rn. 17 ff., m.w.N.; siehe auch bereits in der Grundlegung oben B I 2. 872 Zur Verdeutlichung: Ein Präjudiz möge entscheiden, dass der Embryo E mit den Merkmalen a, b, c „Mensch“ i.S. einer bestimmten Norm ist. Damit ist grundsätzlich klargestellt, dass alle Ex mit genau diesen Merkmalen als „Menschen“ zu qualifizieren sind (Deduktionsschluss). Nicht vorgeschrieben ist hingegen, wann (genau, immer, nur) die jeweiligen Merkmale a, b, c vorliegen (Induktionsschlüsse). Selbst dann, wenn in einem Präjudiz die relevanten Tatbestandsuntermerkmale (noch) näher definiert werden, bleibt notwendig immer Raum für weiteres fallweises distinguishing (vgl. bereits oben B III 3 zu Deduktion und Induktion im Subsumtionsschluss). 873 Aus der – mittlerweile uferlosen – Literatur zur Ermessensfehlerlehre vgl. etwa den Überblick bei Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, S. 141 ff; sowie den Versuch

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

zeigen sich zarte Anzeichen einer Rechtslast (zugunsten der Öffentlichen Hand); diese tendenzielle Lastverteilung folgt allein schon aus der Begrenzung des gerichtlichen Prüfprogramms gemäß § 114 VwGO, wonach die Gerichte lediglich berechtigt sind, die „Grenzen des Ermessens“ und einen möglichen zweckwidrigen Gebrauch dieses Ermessens zu prüfen. Die Last ist aber auch hier wenig spezifisch und zudem in den Praxis durch eine überbordende Fehlerlehre eingehegt, die dazu führt, dass sich das Prinzip einer Richtigkeitsvermutung für behördliche Ermessensakte zuweilen in sein Gegenteil verkehrt. Dies kann so weit gehen, dass Behörden faktisch die Argumentationslast dafür tragen, dass eine bestimmte Entscheidung nicht ermessensfehlerbehaftet war.874 In welche Richtung das Pendel im konkreten Rechtsstreit ausschlagen wird, ist daher auch in der Tendenz bei der gerichtlichen Überprüfung von Ermessensentscheidungen kaum vorherzusagen; erschwert wird die Vorhersage noch dadurch, dass die Ermessensfehlerlehre beim heutigen Stand – schon in der Terminologie – überaus uneinheitlich gehandhabt wird;875 besonders deutlich wird diese terminologische Uneinheitlichkeit auf dem Feld der sogenannten Abwägungsfehlerlehre im Bauplanungsrecht als Unterfall876 der Ermessensfehlerlehre.877 Das Kernanliegen eines jeden Rechtslastinstruments (Erwartungssicherheit – siehe oben I 1) wird durch die heutige Rechtspraxis der Ermessensfehlerlehre jedenfalls nicht befördert.

cc) Völkerrechtliche Verträge Die Rechtsanwendung im Völkerrecht ist aus gleich mehreren Gründen oft mit besonderen Schwierigkeiten behaftet: Regelmäßig können Urteilssprüche nicht oder nur sehr eingeschränkt zwangsweise durchgesetzt werden – so dass die Gerichte erheblich auf die allseitige Akzeptanz ihrer Entscheidungen angewiesen sind; oftmals sind bei den Parteien dabei besondere (politische) „Sensibilitäten“ zu berücksichtigen; und zumeist sind auch die maßgeblichen Rechtstexte schwierig zu interpretieren – ungenaue Formulierungen, divergierende Sprachfassungen und unklare Normenhierarchien können hier zu schwerwie-

_____ einer Systematisierung bei Alexy, JZ 1986, S. 701 ff.; ferner etwa Hufen, ZJS 2010, S. 603 ff.; sowie die krit. Betrachtung bei Neupert, Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit, 2011, S. 22. ff. 874 Vgl. in diesem Sinne bereits Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, S. 55 ff. 875 Vgl. nur erneut die in Fn. 873 genannten Darstellungen. 876 Siehe Durner, VVDStRL 70 (2011), S. 398, 430, m.w.N. 877 Instruktiv hierzu jüngst Lege, DÖV 2015, S. 361 ff.

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genden Auslegungszweifeln führen.878 Insofern verwundert es nicht, dass sich in der Praxis der Gerichte und Schiedsgerichte schon seit längerem eine ganze Reihe von In-dubio-Regeln zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge herausgebildet hat.879 Danach ist bei unklaren Vertragsbestimmungen grundsätzlich zu Lasten jenes Teils auszulegen, der die jeweilige Bestimmung vorgeschlagen hat.880 Was im Recht der AGB (oben c aa) die Auslegung zulasten des Verwenders ist, findet also im Völkerrecht seine Parallele in der Auslegung contra proferentem. Ferner sollen Beschränkungen staatlicher Freiheit im Zweifel restriktiv interpretiert werden:881 in dubio mitius – oder, wenn man so will, in dubio pro libertate bzw. gar in dubio pro reo (vgl. unten ff sowie gg). Dieser Zweifelsgrundsatz zugunsten der staatlichen Souveränität findet freilich (insbesondere, aber keineswegs nur im Recht der EU)882 seinen Widerpart in der Maxime des effet utile – also in dem Grundsatz, dass vertragliche Bestimmungen im Zweifel so auszulegen sind, dass ihnen volle (praktische) Wirksamkeit zukommt.883 Und schließlich gilt für zweifelhafte Vertragsbestimmungen auch noch das Prinzip der „völkerrechtskonformen Auslegung“ – unklare Normen sind also so auszulegen, dass sie denjenigen allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts entsprechen, die den Vertragsgegenstand „beherrschen“.884 Diese Mehrzahl von auslegungsleitenden Zweifelsgrundsätzen im Völkerrecht belegt erneut, dass die Existenz von Lastgrundsätzen im Bereich der Rechtsanwendung kein Fremdkörper ist. Es zeigt sich aber zugleich, dass sich auch im zwischenstaatlichen Recht noch kein überwölbendes allgemeines Prinzip (oder gar eine generelle Regel) zur Lösung von Zweifelsfragen herausgebildet hat. Die Konkurrenz mehrerer auslegungsleitender Prinzipien führt dabei eher zu erhöhter Komplexität denn zu Entscheidungssicherheit in Zweifelsfällen.

_____ 878 Besonders anschaulich Perrin, Droit international public, 1999, S. 393 ff. 879 Siehe zum Folgenden zusammenfassend Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 493 f., m.w.N. Allerdings ist die Methodik der Rechtsanwendung im Völkerrecht national wie international keineswegs unumstritten: Instruktiv hierzu erneut Perrin, Droit international public, 1999, S. 397 ff., 448 ff.; allgemeiner etwa Shaw, International Law, 6. Aufl. 2008, S. 932 ff. 880 Siehe StIGH 1929, Series A, No. 21, S. 114 – Brazilian Loans. 881 Siehe StIGH 1925, Series B, No. 12, S. 25 – Mossul. 882 Zur hervorgehobenen Bedeutung des effet utile in der Rspr. des EuGH siehe eingehend etwa Potacs, EuR 2009, S. 465 ff. 883 Siehe StIGH 1923, Series A, No. 1, S. 24 f. – S. S. Wimbledon. 884 Siehe StIGH 1929, Series A, No. 23, S. 26 – River Oder; ferner auch BVerfGE 46, 342 (Leitsatz 3), 361 f.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

dd) Lex-superior-konforme Rechtsanwendung Die Auslegung „im Lichte“ höherrangigen Rechts ist freilich kein (alleiniges) Spezifikum des Völkerrechts. Vielmehr handelt es sich hier um eine (wenn man so will: Zweifels-) Regel der Auslegung, die jedenfalls ansatzweise sämtliche Bereiche des Rechts betrifft. Genau besehen allerdings muss hier sorgsam zwischen wenigstens zwei Grundformen lex-superior-konformer Auslegung unterschieden werden – besser: zwischen lex-superior-konformer Auslegung (1) und lex-superior-konformer Rechtfortbildung (2).

(1) Auslegung Bei der lex-superior-konformen Auslegung handelt es sich nach hier vertretenem Verständnis schlicht um ein Element der historisch-systematischen Auslegung, das grundsätzlich885 allgemeine Geltung beanspruchen darf: Der mutmaßliche Wille des Normgebers (der niederrangigen Vorschrift) wird erforscht – und im Zweifel wird dabei vermutet, dass der Normgeber sich im zulässigen Rahmen der höherrangigen Vorschrift halten wollte. Mit anderen Worten: Lassen Wortlaut und Entstehungsgeschichte einer Vorschrift mehrere Auslegungsvarianten möglich erscheinen, sind aber nicht alle Varianten mit höherrangigem Recht vereinbar – so wird vermutet, dass der Normgeber die Norm in lexsuperior-konformen Sinne verstanden wissen wollte.886 Diese In-dubio-Regel lässt sich insoweit zwanglos in die Dogmatik der herkömmlichen Auslegungsmethodik integrieren. Allerdings darf ihre praktische Bedeutung nicht überschätzt werden: Erstens sind einerseits die Voraussetzungen „echter“ lex-superior-konformer (Zweifels-) Auslegung nur selten erfüllt. Und zweitens andererseits bleiben auch dann zuweilen noch mehrere Auslegungsvarianten möglich – können mithin nicht alle Zweifel ausgeräumt werden.

(2) Rechtsfortbildung Wenn von lex-superior-konformer Auslegung – d.h. regelmäßig: von verfassungs- bzw. europarechtskonformer Auslegung oder von der Ausstrahlungs-

_____ 885 Im Strafrecht ist wegen der engeren Wortlautbindung (Art. 103 II GG) allerdings Vorsicht geboten. 886 Siehe BVerfGE 48, 40, 45 f.; 69, 1, 55; Starck, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatrechts, Bd. 12, 3. Aufl. 2014, S. 613, 636; sowie etwa Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 177 ff., m.w.N.; allgemein krit. demgegenüber Lembke, Einheit aus Erkenntnis?, 2009, passim.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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und Drittwirkung der Grundrechte – die Rede ist, dann ist zumeist allerdings (auch) noch etwas anderes gemeint als „nur“ eine herausgehobene Form der historisch-systematischen Auslegung. Lex-superior-konforme Auslegung im dort gemeinten Sinne soll gerade dann in Betracht kommen, wenn eine Vorschrift nach herkömmlicher – insbesondere auch: historischer – Auslegung nicht mehr mit höherrangigem Recht vereinbar ist oder wenn die einfachrechtliche Rechtsordnung (scheinbar) lückenhaft ist.887 Dies ist mehr888 Einlegung als Auslegung (vgl. bereits oben B III 2 b dd (3)), ist Rechtsfortbildung – und zwar grundsätzlich Rechtsfortbildung contra legem889.890 Richterliche Rechtsfortbildung, die sich dem weitgehend eindeutigen (mutmaßlichen) Willen des Gesetzgebers widersetzt, ist als „Bevormundung“891 des Gesetzgebers immer problematisch (vgl. bereits oben B III 4 a bb). Man kann dies – insbesondere bei eilbedürftigen Entscheidungen892 – gleichwohl für zuweilen erforderlich halten. Allerdings sollte dann in besonderem Maße das „Prinzip Ehrlichkeit“ (oben B I 2 b bb (5)) gelten. Demgegenüber scheint der Rekurs auf eine besondere Form der „Auslegung“ häufig eher dazu zu dienen, den Vorgang der Rechtsfortbildung zu verschleiern (vgl. oben insbes. B III 2 b dd (2)). Dies gilt auch für die lex-superior-konforme Auslegung im hier gemeinten Sinne: Unter dem Mantel formeller Geltungserhaltung wird die materielle Geltung der jeweiligen Vorschrift zerstört bzw. verdrängt. Die Gewissheit über einen Widerspruch zwischen zwei Normen mündet also in die versteckte Umdeutung der rangniedrigeren Norm – statt in die Normverwerfung. Mit der Überwindung von Zweifeln in der Rechtsanwendung hat dies dann jedenfalls nichts mehr zu tun.

_____ 887 Instruktiv insofern insbes. BVerfGE 86, 288, 320; 88, 145, 167; vorsichtiger dagegen BVerfGE 110, 226; siehe daneben etwa Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. 96 ff.; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, S. 123 ff. 888 Die Übergänge sind natürlich gleitend. 889 Ein besonders extremes Beispiel: die „Umdeutung“ des § 253 I BGB (Ersatz immaterieller Schäden in durch das Gesetz nicht bestimmten Fällen) durch die Rspr. – vgl. BGH, NJW 1965, 685, 686; sowie BVerfGE 34, 269, 286. 890 Ähnlich etwa Looschelders/Roth, Juristische Methodik, 1996, S. 177 ff., m.w.N.; sowie Rennert, NJW 1991, S. 12, 18. 891 Starck, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatrechts, Bd. 12, 3. Aufl. 2014, S. 613, 636. 892 Gerade im Öffentlichen Recht kann dem Rechtsuchenden nicht immer zugemutet werden, auf eine (verfassungs- oder europarechtskonforme) Gesetzesnovelle zu warten. Aber auch bei scheinbar nur als „Übergangslösung“ gedachten Rechtsfortbildungen ist Vorsicht geboten: Nicht selten nehmen sie dem Gesetzgeber jeglichen Handlungsdruck (vgl. erneut das Bsp. des § 253 BGB). Dann geht die Einzelfallgerechtigkeit langfristig zulasten der Rechtssicherheit – weil das law in action dauerhaft vom law in the books abweicht.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

ee) Konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 I GG In engem Zusammenhang mit Möglichkeit und Gebot der verfassungskonformen Auslegung stehen Berechtigung und Verpflichtung der Gerichte zur konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 I GG: Wenn (und: nur wenn) das jeweilige Gericht ein entscheidungserhebliches Gesetz für grundgesetzwidrig hält und eine verfassungskonforme Auslegung nicht (mehr) in Betracht kommt, darf und muss es das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorlegen. Interessant ist die genannte Vorschrift im Rahmen dieses Abschnitts vornehmlich deshalb, weil sie in der Rechtspraxis mittlerweile eine wesentliche Lastwirkung entfaltet. So fordert das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, das vorliegende Gericht müsse von der Verfassungswidrigkeit der jeweiligen Norm „überzeugt“ sein und müsse diese Überzeugung auch „nachvollziehbar und umfassend“ begründen.893 Damit bürdet das Verfassungsgericht den Fachgerichten – die hier de facto „Partei“894 sind – sowie mittelbar auch denjenigen Streitbeteiligten, die von einer Nichtigkeit der jeweiligen Norm im Vorlagefall profitieren, eine erhebliche Begründungslast auf. Als Kehrseite entlastet das BVerfG den Gesetzgeber, verstärkt die bereits in § 15 IV BVerfGG enthaltene Wertung in dubio zugunsten der Verfassungsrechtmäßigkeit von Gesetzen (vgl. oben b bb). In der Literatur ist dies zum Teil auf Kritik gestoßen: Die Fachgerichte seien mangels vertiefter Kenntnisse des Verfassungsrechts mit ihrer Begründungslast häufig schlicht „überfordert“895, die Vorlage werde dadurch zum „prozessualen Roulette“896. Ob diese Kritik letztlich berechtigt ist, kann hier dahinstehen. Die Auseinandersetzung mag aber als Warnung dafür dienen, dass Rechtslastinstrumente – insbesondere im Öffentlichen Recht – rechtschutzverkürzend wirken können und daher nicht überspannt werden dürfen.

ff) In dubio pro reo als Auslegungsregel? Die mutmaßlich älteste und zugleich eindeutigste, parteibezogene Lastregel für Zweifelsfälle entstammt dem Strafrecht: „Im Zweifel für den Angeklagten“ galt

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893 Siehe BVerfGE 1, 184, 188 f.; 88, 70, 74; sowie zusammenfassend etwa Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 100 Rn. 18, m.w.N. 894 Natürlich nicht „Partei“ im Rechtssinne – wohl aber faktisch: Mit Blick auf die berufliche Laufbahn und den persönlichen Stolz dürfte ein jeder Richter erhebliches Interesse daran haben, dass eine von ihm umfassend begründete Vorlage beim BVerfG auch „Erfolg“ hat. 895 Wieland, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 100 Rn. 19; ähnlich Lechner/Zuck, BVerfGG Kommentar, 6. Aufl. 2011, § 80 Rn. 31. 896 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, S. 361.

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der Sache nach bereits teilweise im Römischen Recht sowie in den griechischen Stadtstaaten (siehe oben I 3 a) und ist heute der wahrscheinlich im allgemeinen Bewusstsein am stärksten verankerte (ungeschriebene)897 Grundsatz des Strafprozesses. Im Lauf der Zeit hat sich die konkrete Ausprägung des Prinzips allerdings wiederholt gewandelt.898 Dem Wandel unterworfen war dabei unter anderem auch die inhaltliche Reichweite im Hinblick auf die Art des Zweifels – konkret: Bezieht sich der Grundsatz allein auf die Tatfrage – oder auch auf die Rechtsfrage? Im deutschen Recht hat sich schon früh899 die restriktive Auffassung durchgesetzt, wonach Zweifel in Rechtsfragen ausschließlich nach den (übrigen) Auslegungsregeln zu lösen sind:900 Der Grundsatz in dubio pro reo soll für Rechtsfragen nach nahezu einhelliger – wenngleich nicht immer ganz eindeutiger901 – Ansicht generell nicht gelten, auch nicht analog oder in Form der Zweifelsregel in dubio mitius.902 Es bleibt hier also erneut beim Grundsatz iura novit curia.903 Dahinter könnte unter anderem die Überlegung stehen, dass Irrtümer in der Tatfrage häufig schwerwiegendere Folgen haben, als Irrtümer in der Rechtsfrage: Bereits aufgrund geringfügig falscher Tatsachenvorstellung kann ein völlig Unschuldiger verurteilt werden;904 aufgrund geringfügig fehlerhafter Rechtsanwendung wird zumeist nur derjenige verurteilt, der sich zuvor wenigstens am Rande der Illegalität bewegt hat. Aber wirklich überzeugend wäre eine solche

_____ 897 Siehe nur Schoreit, in: Hannich, Karlsruher Kommentar StPO, 6. Aufl. 2008, § 261 Rn. 56; zur möglichen Ableitung des Zweifelssatzes aus diversen geschriebenen (verfassungs-) rechtlichen Bestimmungen siehe etwa Velten, in: Wolter, SK-StPO, Bd. 5, 4. Aufl. 2012, § 261 Rn. 75. 898 Siehe Velten, in: Wolter, SK-StPO, Bd. 5, 4. Aufl. 2012, § 261 Rn. 75, 86. 899 Siehe bereits RGSt 62, 369, 372 f.; sowie BGHSt 14, 68, 73. 900 Siehe zuletzt BGH, NStZ 96, 328; sowie aus der Kommentarlit. Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB Kommentar, 28. Aufl. 2010, § 1 Rn. 51; Streng, in: Joecks/Miebach, MüKo StGB, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 20 Rn. 29; Schoreit, in: Hannich, Karlsruher Kommentar StPO, 6. Aufl. 2008, § 261 Rn. 61; Pegel, in: Radtke/Hohmann, StPO Kommentar, 2011, § 261 Rn. 85, jeweils m.w.N.; a.A. Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 154; sowie Bleckmann, JZ 1995, S. 685, 687 f. 901 Vgl. etwa Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner, StPO Kommentar, 53. Aufl. 2010, § 261 Rn. 37: „Grundsätzlich“ gelte in dubio pro reo in Rechtsfragen nicht. „Jedoch“ sei bei der Auslegung eines Grundrechts „im Zweifel für den Rechtsanspruch des Bürgers zu entscheiden“. 902 Siehe explizit Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB Kommentar, 28. Aufl. 2010, § 1 Rn. 51. Zum Grundsatz in dubio mitius nach Art. 22 II S. 2 Römisches Statut siehe bereits oben cc. 903 Siehe Sinn, in: Rudolphi/Horn et al., SK-StGB, Losebl. Stand 10/2011, § 61 Rn. 9. 904 Bereits das römische Recht kannte den Gedanken, es sei besser einen Schuldigen unbestraft zu lassen – als einen Unschuldigen einzusperren (siehe oben Fn. 771).

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Argumentation nicht. Denn umgekehrt gilt eben auch: Aufgrund des Zweifelssatzes in Tatsachenfragen kann (und wird sehr häufig)905 ein vollauf Schuldiger seiner Strafe entgehen; aufgrund eines Zweifelssatzes in Rechtsfragen könnte regelmäßig nur derjenige Strafe vermeiden, der sich vom Rand der Legalität nicht weit entfernt hat. Insofern zeigt sich, dass mit einer Rechtslast zugunsten des Beschuldigten letztlich der Grundsatz nulla poena sine lege (Art. 103 II GG)906 konsequent verwirklicht würde. Auch sonst wurde bislang – soweit ersichtlich – nie berücksichtigt, dass sich die Strafrechtsdogmatik mit der Beschränkung des Zweifelssatzes auf die Tatfrage zumindest in einen leichten Wertungswiderspruch begibt: So ordnet nämlich die Vorschrift des § 196 III GVG an, dass bei Uneinigkeit innerhalb eines Richtergremiums (grosso modo, vgl. oben a aa) zugunsten des Beschuldigten zu entscheiden ist. Es ist nicht recht ersichtlich, warum die dahinterstehende ratio legis nicht auch dort gelten sollte, wo die Uneinigkeit innerhalb einer einzigen (Richer-) Person auftritt („Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!“907). Denn: Rechtsstaatlichkeit ist eine Forderung an die ganze Strafrechtspflege, zumal unter Geltung des Grundgesetzes.908 Und ein jeder Verdacht ungesetzlichen Strafens schadet dem Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit.909

gg) In dubio pro libertate als Auslegungsregel? Ausfluss der Rechtsstaatlichkeit – hier: im materiellen Sinne – könnte auch eine weitere rechtspraktische Zweifelsregel sein, deren Bestehen zuweilen behauptet wird: In dubio pro libertate sollen Konflikte im (Öffentlichen) Recht entschieden werden.910 Ob eine solche Vermutungsregel zugunsten „der“ Frei-

_____

905 Nach Velten, in: Wolter, SK-StPO, Bd. 5, 4. Aufl. 2012, § 261 Rn. 80, führt in dubio pro reo zu mehr unberechtigten Freisprüchen denn (berechtigten Nicht-) Verurteilungen. 906 Hierzu siehe etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 103 Rn. 1 ff.; sowie Wolff, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte Bd. V, 2013, S. 1373 ff. 907 Goethe, Faust I, 1808, S. 73 (Vers 1112 ff.); vgl. auch bereits oben I 1. 908 BGHSt 18, 274, 277 (zur zunehmenden Erstreckung des Zweifelssatzes auch auf das Strafverfahrensrecht). 909 Siehe erneut BGHSt 18, 274, 278; ausführlicher ibid. (279): „Bleibt von Rechts wegen die Möglichkeit unberücksichtigt, dass dem Verfahren ein gesetzliches Hindernis entgegensteht, so kann das Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit der Strafrechtspflege Einbuße erleiden, der allgemeine Rechtsfriede in Gefahr geraten.“ 910 Siehe Denninger, in: Wassermann, Alternativkommentar GG, 2. Aufl. 1989, vor Art. 1 Rn. 13; Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren, 2. Aufl. 1985, S. 72 f.; Schneider, VVDStRL 20 (1963), S. 1, 31 ff., 50 sowie (Diskussionsbeitrag) 134; Braum, ZRP 2004, S. 105, 107; Rennert,

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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heit sich überzeugend begründen lässt und ob sie praktisch handhabbar wäre, soll hier zunächst dahinstehen (dazu noch unter 2 a aa). Jedenfalls aber findet die Regel zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Rechtsprechung keine Anwendung. Einzelne (vergleichsweise frühe) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts könnten zwar einen entgegenstehenden Eindruck erwecken.911 Bei genauerem Hinsehen jedoch erweisen sich die zitierten Passagen als – insofern – wenig ergiebig: Wenn das Gericht davon spricht, dass bei der Grundrechtsauslegung „die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm“912 möglichst stark entfaltet werden solle – so ist dies mehr rechtspolitisches Postulat denn rechtsdogmatische Ableitung; und im Ergebnis jedenfalls handelt es sich schlicht um eine extensive Bestimmung grundrechtlicher Schutzbereiche913,914 nicht aber um eine allgemeine und steuerungsfähige In-dubio-Regel für den Kollisionsfall auf Rechtfertigungsebene.915 Und wenn nach Auffassung des Gerichts „bei einem Zweifel diejenige Auslegung einer Bestimmung den Vorzug verdient, die dem Bürger einen Rechtsanspruch einräumt“916, dann meint dies (im Kontext betrachtet!)917 wohl allein die Frage, ob objektives Recht grundsätzlich auch subjektive Rechte vermittelt.918 Eine „echte“ Zweifelsregel zugunsten „der“ Freiheit findet sich in der Judikatur des Verfassungsgerichts mithin offenbar nicht; für strafrechtliche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs gilt nichts anderes.919 Noch deutlicher zeigt sich die Ablehnung in der Rechtsprechung des Bundes-

_____ NJW 1991, S. 12, 18; tendenziell auch Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 152; Krebs, AcP 195 (1995), S. 171, 196; Kahl, Der Staat 43 (2004), S. 167, 168 f. (Fn. 16); sowie Starck, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatrechts, Bd. 12, 3. Aufl. 2014, S. 613, 629, teilweise m.w.N. 911 Vgl. BVerfGE 6, 55, 72; 15, 275, 281 f.; ferner 30, 149, 161 f. (abw. M.). 912 BVerfGE 6, 55, 72; 30, 149, 161 f. (abw. M.). 913 In etwa vergleichbar der Effet-utile-Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten – vgl. in diesem Zusammenhang Bleckmann, NJW 1982, S. 1177, 1179 f., der bei den europäischen Gerichten generell eine Haltung pro libertate konstatieren will. 914 Instruktiv insofern Kahl, Der Staat 43 (2004), S. 167, 199 insbes. 915 Ähnlich Münch/Kunig, in: Münch/Kunig, GG Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Vorb. Art. 1–19 Rn. 36, m.w.N.; in der Tendenz teilweise noch etwas anders Münch, in: Münch/Kunig, GG Kommentar, Bd. 1, 4. Aufl. 1992, Vorb. Art. 1–19 Rn. 51. 916 BVerfGE 15, 275, 282; sowie erneut die abw. M. in BVerfGE 30, 149, 162. 917 Dies wird zuweilen übersehen – vgl. etwa Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner, StPO Kommentar, 53. Aufl. 2010, § 261 Rn. 37. 918 Was, nebenbei bemerkt, regelmäßig schon deshalb zu bejahen ist, weil objektives Recht im Rechtsstaat der gerichtlichen Kontrolle zugänglich sein muss – und hierfür herkömmlich meist eine subjektive Berechtigung für Einzelne erforderlich ist. 919 Zusammenfassend hierzu etwa Velten, in: Wolter, SK-StPO, Bd. 5, 4. Aufl. 2012, § 261 Rn. 78.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

verwaltungsgerichts, das schon die Möglichkeit einer entsprechenden Regel gleich ganz pauschal leugnet.920

hh) In dubio pro europa als Entscheidungsregel? Nach Nordmann existiert vor den europäischen Gerichten im Beihilferecht bereits eine der Behauptungs- und Beweislast vergleichbare „Rechtslast“ (sic).921 So habe der Kläger das Gericht in Beihilfeverfahren (auch) auf Rechtsfehler der Kommission aufmerksam zu machen und diese Fehler nachzuweisen. Nordmann verweist zum Beleg auf einige Entscheidungen des EuG922 sowie auf ein Urteil des EuGH.923 Und in der Tat finden sich an den genannten Stellen jedenfalls prima facie einige sprachliche Anhaltspunkte für eine Lastregel (auch) in Rechtsfragen: So ist dort die Rede davon, die Klägerin habe „nicht nachgewiesen“, dass die angefochtene Entscheidung der Kommission „fehlerhaft begründet oder rechtswidrig“ sei;924 an anderen Stellen heißt es, für Rechtsakte der Gemeinschaft spreche eine „Vermutung der Rechtmäßigkeit“. 925 Bei genauerem Hinsehen allerdings erscheint gleichwohl sehr zweifelhaft, ob sich die von Nordmann behauptete Rechtslastregel im (Beihilfe-) Recht der Europäischen Union wirklich (so) allgemein nachweisen lässt. Dabei besteht zwischen der Rechtsprechung des EuG und derjenigen des (übergeordneten) EuGH möglicherweise eine gewisse Divergenz; ein Blick auf die Historie der Rechtsprechung beider Gerichte legt dies zumindest nahe. Erstmals im Jahr 1987 offenbar stellte der EuGH fest, dass für einen Verwaltungsakt im Gemeinschaftsrecht die „Vermutung der Gültigkeit spricht“.926 Der Kontext der Entscheidung zeigt allerdings eindeutig, dass sich der EuGH dabei nur auf die Fragestellung bezog, ob und ab wann von der Nichtigkeit eines

_____ 920 Siehe BVerwGE 42, 79, 82 f.: Die Rechtsfindung sei – anders als die Beweiswürdigung – „Ergebnis einer Wertung“, daher sei „in diesem Bereich für ‚Vermutungen‛ kein Raum“. 921 Siehe Nordmann, Konkurrentenklage im EG-Beihilferecht, 2002, S. 68 f. 922 Urt. v. 18.9.1995, Rs. T-471/93 – Ladbroke/Kommission, Rn. 64; Urt. v. 30.4.1998, Rs. T-16/96 – Cityflyer Express/Kommission, Rn. 78 ff.; Urt. v. 15.9.1998, Rs. T-140/95 – Ryanair/Kommission, Rn. 135 ff.; Urt. v. 6.10.1999, Rs. T-110/97 – Kneissl Dachstein/Kommission, Rn. 45. 923 Urt. v. 27.6.2000, Rs. C-404/97 – Kommission/Portugal, Rn. 57. 924 Siehe EuG, Urt. v. 18.9.1995, Rs. T-471/93 – Ladbroke/Kommission, Rn. 64; Urt. v. 30.4.1998, Rs. T-16/96 – Cityflyer Express/Kommission, Rn. 78; Urt. v. 15.9.1998, Rs. T-140/95 – Ryanair/Kommission, Rn. 135. 925 Siehe EuG, Urt. v. 6.10.1999, Rs. T-110/97 – Kneissl Dachstein/Kommission, Rn. 45; EuGH, Urt. v. 27.6.2000, Rs. C-404/97 – Kommission/Portugal, Rn. 57. 926 Siehe Urt. v. 26.2.1987, Rs. C-15/85 – Consorzio Cooperative d’Abruzzo/Kommission, Rn. 10.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

187

Rechtsakts auszugehen ist.927 Der Gerichtshof sah sich hier (grundsätzlich wohl zu Recht)928 in der Tradition der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten.929 Diese Linie hat der Gerichtshof (übrigens nicht auf das Beihilferecht beschränkt) in seiner Rechtsprechung – soweit ersichtlich – im Wesentlichen unverändert fortgeführt. Zwar ist später zuweilen von einer „Vermutung der Rechtmäßigkeit“ (statt „Gültigkeit“) die Rede;930 eine Änderung in der Sache ist mit dieser sprachlichen Wendung931 aber – wiederum: im Kontext besehen – nicht verbunden: Stets geht es allein um die Erkenntnis des (schon) nichtigen/ungültigen Rechtsakts – bzw. um dessen Abgrenzung932 vom (nur) möglicherweise rechtswidrigen.933 Die Entwicklung einer Rechtslastregel lässt sich hier nicht erkennen. Demgegenüber scheint das Gericht erster Instanz – das EuG – mit der „Vermutung der Rechtmäßigkeit“ von Rechtsakten schon eher eine Art Rechtslastwirkung zu verbinden. Wenig aufschlussreich sind diesbezüglich zwar diejenigen Entscheidungen,934 in denen das Gericht (nur) davon spricht, eine Partei

_____

927 Siehe Urt. v. 26.2.1987, Rs. C-15/85 – Consorzio Cooperative d’Abruzzo/Kommission, Rn. 7 ff. 928 Zum deutschen Recht vgl. etwa BverwG, NVwZ 1998, 1061, 1062: „Nach der übereinstimmenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesfinanzhofs ist die aus Rechtsmängeln abgeleitete Folge der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts stets als eine besondere Ausnahme von dem Grundsatz angesehen worden, dass ein Akt der staatlichen Gewalt die Vermutung seiner Gültigkeit in sich trage“. Vgl. im Einzelnen aber auch noch Fn. 932. 929 Siehe erneut Urt. v. 26.2.1987, Rs. C-15/85 – Consorzio Cooperative d’Abruzzo/Kommission, Rn. 10: Qualifizierung eines Verwaltungsaktes als „inexistent“ nur bei Akten, „die mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet sind“. 930 So etwa in dem von Nordmann zitierten Urt. v. 27.6.2000, Rs. C-404/97 – Kommission/Portugal, Rn. 57. 931 Zur zuweilen schwankenden und sprachlich häufig unpräzisen Rechtsprechung des EuGH bereits krit. Richers, GreifRecht 2007, S. 88, 94. Der „Mangel“ ist wohl überwiegend strukturell bedingt: Insbesondere entstammen die einzelnen Richter verschiedenen Rechtsordnungen sowie Sprachräumen. 932 Sprachlich – und auch in der Sache – ist diese Abgrenzung freilich nicht immer sehr präzise. Ganz grob betrachtet scheint es in der Vorstellung des EuGH vier Stufen der „Gültigkeit“ von Rechtsakten zu geben: (1) Rechtmäßigkeit = volle Gültigkeit, (2) leicht zweifelhafte Rechtmäßigkeit = volle Gültigkeit, (3) Rechtswidrigkeit = volle Gültigkeit bis zur Nichtigerklärung durch EuGH bzw. Aufhebung durch erlassendes Organ, (4) eindeutige und schwerwiegende Rechtswidrigkeit = Ungültigkeit von Anfang an. Der Vergleich dieser Stufenfolge mit dem nationalen Recht ist schon deshalb schwierig, weil etwa im deutschen Recht hinsichtlich der Rechtswidrigkeit/Nichtigkeit von Rechtsakten bei den Voraussetzungen und Rechtsfolgen stärker zwischen den einzelnen Rechtsaktformen (Gesetz, Verwaltungsakt etc.) unterschieden wird. 933 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 5.10.2004, Rs. C-475/01 – Kommission/Griechenland, Rn. 19 ff.; sowie (besonders instruktiv) Urt. v. 12.2.2008, Rs. C-199/06 – CELF/SIDE, Rn. 59 ff.; ferner Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-27/09 P – People’s Mojahedin Organization of Iran, Rn. 74. 934 Siehe oben Fn. 924.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

habe die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes nicht „nachgewiesen“; diese Terminologie mag schlicht sprachlicher Unachtsamkeit geschuldet sein. Eindeutig lastverteilend ist jedoch die Feststellung, „es obliegt demjenigen, der die Nichtigerklärung [eines Rechtsakts] beantragt, Beweise vorzulegen, die Zweifel an den vom beklagten Organ vorgenommenen Bewertungen begründen können.“935

Fraglich ist allerdings, ob es sich bei der vom EuG auf eine „Vermutung der Rechtmäßigkeit“ gestützten Last wirklich um eine Rechts-(beweis-)last handelt. Vielmehr könnte sich die Formulierung auch auf eine reine (Prognosetatsachen-) Beweislast beziehen.936 Der Kontext des eben zitierten Urteils937 ebenso wie der Begründungszusammenhang einiger späterer Entscheidungen938 legen dies zumindest nahe. Jedenfalls beim aktuellen Stand des Unionsrechts kann daher ein wie auch immer geartetes spezifisches Instrument der Rechtslast nicht als gesichert gelten. Vereinzelte entsprechende Anhaltspunkte mag es – insbesondere im Beihilferecht – immerhin geben. Zu einem Gutteil erklären sich diese Ansätze aber vermutlich dadurch, dass im europäischen Recht die Unterscheidung zwischen „Beurteilungs-“ und „Ermessensspielraum“ weitaus weniger gebräuchlich ist, als im deutschen Recht;939 dies mag sich dann im Einzelfall auch einmal auf die fehlende (sprachliche) Differenzierung zwischen Rechtsfragen und Tatfragen auswirken. Zudem neigen die europäischen Gerichte generell zu einer „integrationsfreundlichen“ Haltung: Man denke nur an die Rechtsprechung zum effet utile940 bzw. an die weit fortgeschrittene Ausweitung des gemeineuropäischen Grundrechtsschutzes gegenüber Rechtsakten der Mitgliedstaaten;941 die „Vermutung der Rechtmäßigkeit“ für gemeineuropäische Rechtsakte ist vor diesem

_____ 935 Urt. v. 6.10.1999, Rs. T-110/97 – Kneissl Dachstein/Kommission, Rn. 45. 936 Eine solche Last wäre dann wiederum vom deutschen Recht nicht allzu weit entfernt: Zur „Einschätzungsprärogative“ des Gesetzgebers bei (Prognose-) Tatsachen vgl. grundlegend BVerfGE 50, 290, 332 f. 937 Urt. v. 6.10.1999, Rs. T-110/97 – Kneissl Dachstein/Kommission, Rn. 46 f. 938 Siehe etwa Urt. v. 26.4.2005, Rs. T-110/03 u.a. – Jose Maria Sison/Rat, Rn. 86 f.; sowie Urt. v. 15.4.2008, Rs. T-348/04 – SIDE/Kommission, Rn. 84 f. 939 Siehe hierzu eingehend Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, 2001, S. 390 ff. 940 Siehe bereits oben, Fn. 882. 941 Zu der jedenfalls in diesem Bereich angeblich vorherrschenden Haltung in dubio pro libertate vgl. Bleckmann, NJW 1982, S. 1177, 1179 f.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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Hintergrund nicht mehr als eine Ausprägung des allgemeinen Prinzips in dubio pro europa. Und dieses Prinzip mag man in der Tat als rechtslastförmig charakterisieren. Nur lässt sich ein solcher Grundsatz weder auf Dauer tragfähig begründen942 – noch kann er in einer nennenswerten Anzahl von Streitfragen eine Richtung vorgeben.943 Umso mehr tut daher ein Lastinstrument Not, das die oftmals schwierigen, „mehrpoligen“ 944 Rechtsverhältnisse auf Unionsebene ausgeglichen zu ordnen und in Zweifelsfällen zu entscheiden vermag.

f) Zweifels- und Lastregeln in der Literatur An wissenschaftliche Analysen und Anleitungen zur Entscheidung schwieriger Rechtsfälle herrscht in der deutschen Rechtslehre gewiss kein Mangel.945 Im Grunde handelt schon die – freilich zuweilen als defizitär beklagte946 – rechtstheoretische Grundausbildung an den Hochschulen von wenig Anderem. Insofern ist es dann doch ein wenig überraschend, wenn Möglichkeit und Behandlung eines bleibenden „non liquet“ in der Rechtsfrage dabei kaum je eine Rolle spielen. Vertiefte Erörterungen finden sich nur sehr spärlich.947 Die vorstehend erörterten gesetzlichen und/oder rechtspraktischen Rechtslastansätze werden auch in der jeweiligen (Kommentar-) Literatur besprochen. Dabei fällt allerdings auf, dass gerade die besonders interessanten Ansätze für Rechtslasteinzelregeln kaum Berücksichtigung finden: Während etwa der Grundsatz in dubio pro libertate immerhin noch kursorisch behandelt wird,948 sind gerichtliche Abstimmungsregeln oder auch Art. 22 des Römischen Statuts bislang kaum auf vertieftes Interesse gestoßen.949 Vor allem aber hat – soweit ersichtlich – die Rechtslehre bislang kaum wirklich eigenständige Modelle einer lastförmigen Lösung für Zweifelsprobleme der Rechtsanwendung entwickelt. Eher am Rande merken einzelne Autoren gelegentlich an, (parteibezogene) Begründungslasten, Argumentationslasten und

_____ 942 Man denke nur an das gegenläufige Subsidiaritätsprinzip – Art. 5 EUV. 943 Der Grundsatz versagt ohnehin spätestens dort, wo Unionsrecht gegen Unionsrecht steht. 944 Grabenwarter, DVBl 2001, S. 1, 11. 945 Für einen kleinen Ausschnitt siehe bereits oben die diversen Nachweise unter B III 4 b. 946 Siehe exemplarisch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 4. 947 So bereits die Bestandsaufnahme bei Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1074. 948 Siehe insbes. die Nachweise in Fn. 910. 949 Vgl. Abschnitte b und c oben.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Vorrangregeln könnten auch in Rechtfragen eine Rolle spielen.950 Bei der behandelten „Last“ geht es dann aber zumeist gar nicht um eine abschließende Entscheidungsregel im unentschiedenen Zweifelsfall – sondern vielmehr um eine abstrakte Prima-facie-Gewichtung, die im Einzelfall weggewogen werden könne.951 Diese Zurückhaltung könnte ihren Grund in der sozialen Rolle des Rechtslehrers haben: Der Richter ist zur Entscheidung verpflichtet – der Rechtslehrer in erster Linie zur Meinung. Womöglich wird daher das Bedürfnis nach In-dubioLösungen für unentschiedene Rechtsfragen in der Lehre geringgeschätzt. Vielleicht gründet das Schweigen aber auch schlicht auf der Ansicht, dass die Suche nach entsprechenden Lösungen ohnehin aussichtslos sei. Oder, weitergehend, die Frage wird schon deshalb nicht gestellt, da Beliebigkeit herrscht, da normative Fragen sich ohnehin immer „so oder anders“ beantworten ließen.952 Und mancher sorgt sich womöglich auch, von der Zunft ins juristische „Abseits“ gestellt zu werden. Die Sorge ist vielleicht nicht ganz unberechtigt: Wenn sogar Horst Sendler – ehemals immerhin Präsident des BVerwG – in einer Veröffentlichung zum Los als letztem Mittel der Rechtsfindung953 anmerkt, seine Glosse (sic!) werde ihm gewiss mancher übelnehmen, dann ist offenbar die wissenschaftliche Aufgeschlossenheit in diesem Bereich nicht sonderlich ausgeprägt. Eine Ausnahme ist die Darstellung von Riehm zur „Abwägungslast“954. Von der Wertungsjurisprudenz herkommend,955 in der Herangehensweise stark an sozialpsychologischen und probabilistischen Faktoren orientiert,956 schlägt der Zivilrechtler in seiner Arbeit einen Weg ein, der an einen Gedanken von Canaris anknüpft957 und dem hier entwickelten Modell der Rechtslast bereits recht nahe kommt. Riehm begründet dabei zunächst – vornehmlich anhand sozialpsychologischer Erwägungen – die Unausweichlichkeit eines non liquet bei manchen Abwägungsentscheidungen sowohl tatsächlicher als auch vor allem rechtlicher

_____ 950 Vgl. etwa Rüssmann, Normtatsachen – ein vorläufiger Überblick, in: Alexy/Koch et al., Begründungslehre, 2003, S. 357 ff., 366 f.; Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 476 f., 590 f., 602 f.; sowie ferner Christensen, in: Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 2, 2005, S. 1, 60 ff. 951 Vgl. insbes. Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 87 ff. u.a. 952 Vgl. Gast, Juristische Rhetorik, 5. Aufl. 2015, u.a. Rz. 32 (dort insbes. Fn. 28); sowie zu dessen Position bereits Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 572 f. 953 Sendler, DÖV 1991, S. 521 ff. 954 Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, insbes. S. 105 ff.; siehe auch jüngst ders., RW 2013, S. 1, 17 ff. 955 Vgl. ibid., insbes. S. 16, 43 f., 74, 92. 956 Vgl. ibid., S. 77 ff., 131. 957 Siehe Canaris, Grazer Universitätsreden Nr. 50 (1993), S. 23, 30.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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Art;958 der Begriff der Abwägung wird dabei – in der Tradition der Wertungsjurisprudenz (vgl. oben B II 4 b aa) – extrem weit und wirkmächtig verstanden.959 Auf Grundlage dieser Überlegungen gelangt Riehm zunächst zu dem Schluss, dass nicht nur bei der Entscheidung unentschiedener Tatsachenfragen ein Lastinstrument zum Einsatz kommen könne, sondern ebenso bei der Entscheidung bestimmter Rechtsfragen. Dieses Lastinstrument nennt Riehm „Abwägungslast“960 bzw. teilweise (wo es um rechtliche „Wertungen“ geht) auch „Wertungslast“961 oder (wo es um abstrakte Gesetzesauslegung geht) „Argumentationslast“962. Anschaulich legt er dar, dass diese Wertungslast bereits in etlichen Vorschriften des materiellen Rechts angelegt sei.963 Sie orientiere sich dabei im Wesentlichen an der Struktur der Normentheorie und den probabilistischen Grundannahmen, die der normtheoretischen Beweislastverteilung zugrundeliegen.964 Eine normtheoretische Lastverteilung kommt nach Riehm allerdings im Wesentlichen nur bei Zweifeln über die Auslegung von Vertragsrecht und bei Einzelfallwertungen in Betracht, nicht hingegen bei der (abstrakten) Auslegung von Gesetzesrecht965 – eine Differenzierung, die schon aus der Perspektive der Wertungsjurisprudenz zweifelhaft erscheint und aus hiesiger Sicht erst recht nicht überzeugt (vgl. oben B II 3 und 4). Für die Auslegung von Gesetzesrecht anhand von Lastregeln ist nach Riehm der Rückgriff auf eine (andere?) „Metaebene“966 erforderlich, „unabhängig vom positiven Recht“967. Hierfür skizziert Riehm eine mögliche Lastverteilung anhand der Grundsätze „in dubio pro libertate“ und – als Korrektiv – „freiwilliger Selbstbindung“.968 Teilweise in eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen bei Prölss in seinem Beitrag zur „Verteilung der Überzeugungslast“969. Auch er nimmt zum Ausgangspunkt, dass es bei Anwendung einer Norm auf bestimmte Sachverhalte zu Unsicherheiten kommen könne, die zu einem „Argumentations-Patt“ führen.970 Zur Vermeidung reiner Dezision müsse dann eine fallentscheidende Last-

_____ 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968 969 970

Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 105 ff. Vgl. ibid., insbes. S. 7 ff. Ibid. S. 122. Ibid., S. 130. Ibid., S. 150. Siehe ibid., S. 140 ff. Siehe ibid., S. 136 ff. Siehe ibid., S. 150 f. Ibid., S. 123. Ibid., S. 151. Siehe ibid., S. 150 ff. Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063 ff. Siehe ibid., S. 1063, 1065.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

regel angewandt werden,971 wobei die Entscheidung über die Anwendung – anders als im Bereich der Beweislast – nicht von der persönlichen Überzeugung des Richters, sondern von objektiven Kriterien abhängen müsse. 972 Im Anschluss an Überlegungen zu diversen spezifischen Argumentationslasten, die sich insbesondere aus Präjudizien ergeben könnten,973 erörtert Prölss die Frage nach einer generellen Norm der Verteilung der Begründungslast, die bei einem Argumentations-Patt immer dann eingreifen soll, wenn keine spezielle Regelung existiert.974 Er spricht sich dabei für eine „konservierende“975 Lösung aus, die sich strikt am Angreiferprinzip orientiert;976 bestehe beispielsweise Zweifel darüber, ob eine Verhaltensweise als rechtswidrig im Sinne des § 823 I BGB anzusehen ist, so wäre im Zweifel von der Rechtmäßigkeit auszugehen, um die Rechtsfolge eines Schadensersatzanspruchs zu vermeiden.977 Auf welchem – normtheoretischen, probabilistischen oder sonstigen – Wege die Angreiferposition jeweils ermittelt werden soll, erläutert Prölss allerdings nicht näher. Offen bleibt auch, ob die entsprechende Begründungslastregel in sämtlichen Bereichen des Rechts unterschiedslos gelten soll und auf welche (verfassungsrechtliche) Ermächtigung sie gestützt werden könnte. Noch stärker im Ungefähren bleibt die Position von Krebs978. Dies liegt nicht zuletzt an einigen „Begriffsverwirrungen“979 seines Beitrags zur „Begründungslast“ bei der Lösung zweifelbehafteter Rechtsfragen. Bereits die von Krebs an den Anfang gestellte Begriffsdefinition ist wenig präzise: So soll die von ihm erörtete Begründungslast zunächst zur Folge haben, dass eine Entscheidung im Sinne der „privilegierten Meinung“ gefällt werden müsse, wenn sich keine Gegengründe „aufdrängen“ – daneben soll sich die Begründungslast aber auch bei der „Abgrenzung im Rahmen der allgemeinen Methodik“ zugunsten der durch sie privilegierten Meinung auswirken.980 Im Folgenden vermengt Krebs wiederholt die Frage, wann der Jurist für eine von ihm vertretene (Minder-) Meinung besonderen Begründungsaufwand betreiben müsse – mit der davon völlig unabhängigen Frage, inwiefern ein argumentatives Patt in der Rechtsanwendung mittels einer Lastregel aufgelöst werden könne; inhaltlich konzent-

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971 972 973 974 975 976 977 978 979 980

Siehe ibid., S. 1080. Siehe ibid., S. 1083. Siehe ibid., S. 1066 ff. Siehe ibid., S. 1074 ff. Ibid., S. 1076. Siehe ibid., S. 1074 ff. Siehe ibid., S. 1076. Krebs, AcP 195 (1995), S. 171 ff. Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 126. Siehe Krebs, AcP 195 (1995), S. 171, 173.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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riert sich Krebs dabei auf die Erzeugung von Begründungslasten durch Präjudizien und herrschende Lehre.981 Im Ergebnis möchte Krebs – abgesehen von der Lastwirkung von Präjudizien – nur in wenigen Einzelfällen durch Analogie einzelne Lastregeln der Rechtsanwendung gewinnen; ein „geschlossenes System“ lehnt er ab.982 Etwas vertiefter erörtert wird der Topos einer „Argumentationslast“ in der Rechtsanwendung schließlich noch bei Weber-Grellet983; allerdings geschieht dies dort – ohne nähere Begründung – unter der etwas merkwürdig anmutenden Prämisse, die „Last“ trage stets allein „der entscheidende Rechtsanwender oder -geber“984. Ansätze für ein Lastinstrument im oben (I 1) beschriebenen Sinne ergeben sich daraus nicht.

g) Zwischenergebnisse In legislativen Einzelvorschriften (oben a-d) sowie in der Rechtspraxis (oben e) lassen sich etliche Lastregeln nachweisen, die bei Zweifeln auf Ebene der Rechtsanwendung wirksam werden. Die jeweils dahinter stehenden Überlegungen – Wertentscheidungen, wenn man so will – gehen freilich weit auseinander: Die verfolgten Ziele reichen von „bloßer“ Arbeitserleichterung auf Seiten der Gerichte über den Schutz der jeweils schwächeren Partei bis hin zum Bemühen um rechtlich besser vertretbare Entscheidungen. Ebenso stark divergiert die konkrete Form der jeweiligen In-dubio-Regeln: Manche bewirken eher Primafacie-Gewichtungen, andere sind umgekehrt abschließende Letztentscheidungsregeln. Ein geschlossenes „System“ ist nach der vorstehenden Zusammenstellung mithin nicht erkennbar, betroffen sind im Übrigen nur vereinzelte Teilbereiche der Jurisprudenz. Gleichwohl lassen sich manche Einzelansätze womöglich bei der Entwicklung einer rechtsgebietsübergreifenden Lösung im Folgenden fruchtbar machen. Weniger ergiebig ist demgegenüber die Suche nach lastförmigen In-dubioAnsätzen in der (rechtstheoretischen) Literatur (oben f): Abgesehen von Stellungnahmen zu den Vorgaben von Gesetzgeber und/oder Rechtspraxis wird die Thematik bislang meist eher randständig, ohne Vertiefung behandelt. Ausnahmen sind hier lediglich die Darstellung von Riehm zur „Abwägungslast“ sowie die Beiträge von Prölss und Krebs zur „Begründungslast“.

_____ 981 Vgl. ibid., insbes. S. 181 ff. 982 Siehe ibid., S. 197 f.; krit. hierzu Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1074 f. 983 Weber-Grellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, passim. 984 Ibid., S. 66.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

2. Einheitliche Rechtslast: Materiell oder prozessual? Das Postulat einer möglichst übergreifenden Rechtslast steht vor einer entscheidenden Hürde: der Entwicklung einer abstrakten Zweifelsregel, die in jedem konkreten Einzelfall Anwendung finden kann. Gesucht wird also eine Regel, die sich erstens in ihrer allgemeinen Form widerspruchsfrei in das bestehende Rechtssystem einfügen lässt, die mit dessen wesentlichen Wertentscheidungen in Einklang steht – kurz: eine materiell gerechte Regel. Diese Regel muss zweitens möglichst in jedem zu entscheidenden Einzelfall klar den Weg für die eine oder andere Lösung weisen – kurz: Rechtssicherheit gewährleisten. An diesen beiden Maßgaben sind alle denkbaren Zweifelsregeln im Folgenden zu messen. Die möglichen Zweifelsregeln lassen sich dabei kategoriell unterscheiden nach „materiellen“ Lastregeln einerseits (a), prozessualen Lastregeln andererseits (b).

a) Materielle Rechtslast – in dubio … Materielle Lastregeln sind Regeln, bei denen die Zweifelslast im Einzelfall jeweils einer Position (wenigstens faktisch mithin: einer Partei) nach vorher bestimmten Wertungen des materiellen (Verfassungs-) Rechts zugewiesen wird.985 Freiheit (aa), Sicherheit (bb) und Gleichheit (cc) als „Generalprinzipien“ des Rechts sind dabei die offensichtlichen Kandidaten. Vor dem Hintergrund der Überlegung, dass Rechtsfragen immer auch Fragen der Wirtschaft sind, mag man ferner über einen Zweifelsprimat zugunsten der (National-) Ökonomie nachdenken (dd). Dieser Katalog lässt sich um eine Reihe möglicher weiterer Gesichtspunkte ergänzen (ee).

aa) … pro libertate? (1) Keine allgemeine Vorrangrelation in Zweifelsfällen Es gibt eine Erzählung vom Menschen, die lässt sich ungefähr so zusammenfassen: Im Urzustand, da war der Mensch frei. Er konnte tun, was ihm beliebte –

_____ 985 Vorab, zur Klarstellung: Natürlich stehen hinter hier als „prozessual“ bezeichneten Lastregeln (unten b) ebenfalls zumindest auch Gesichtspunkte materieller Gerechtigkeit. Aber im konkreten Einzelfall ist bei diesen prozessualen Regeln eben nicht unmittelbar nach materiellen Gesichtspunkten zu fragen – sondern nach dem jeweiligen Vortrag der Parteien im Prozess und nach der Struktur der jeweils entscheidungserheblichen Rechtsnormen. Vgl. zur Parallelproblematik auf Tatbestandsebene bereits oben unter B IV 3, insbes. e.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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Jagen, Fischen, Kinderkriegen. Und alles war gut. Dann wandelte sich die Welt, der Mensch musste sich einem Herrscher unterwerfen. Nichts war mehr gut, auch wenn der Herrscher es gut meinte.986 Aus dieser Sicht ist es verständlich, wenn Schranken der Freiheit auf generelles Misstrauen stoßen – wenn mithin wenigstens in dubio pro libertate gelten soll. Dann gibt es aber noch eine andere Erzählung: Im Urzustand, da war der Mensch frei. Er konnte tun, was ihm beliebte – Jagen, Fischen, Krieg gegen alle führen. Und nichts war gut. Dann wandelte sich die Welt, der Mensch musste sich einem Herrscher unterwerfen. Und alles war gut, solange der Herrscher es gut meinte.987 Aus dieser Sicht liegt es nahe, nicht die Schranken der Freiheit sondern die schrankenlose Freiheit als allgemeine Gefahr zu begreifen. Natürlich sind beide Erzählungen ein bisschen richtig.988 Aber beide Erzählungen sind auch ziemlich falsch – und zwar schon im Ausgangspunkt.989 Denn „frei“ war der Mensch in Wirklichkeit nie – weder historisch noch entwicklungspsychologisch besehen. Der Mensch war und ist immer schon ein soziales Wesen, ein zoon politikon, auch im Urzustand. Und wo Menschen zusammenleben, da gibt es Knappheit; denn Knappheit ist nicht erst dort, wo wirklich Mangel herrscht – sondern bereits dort, wo ein bestimmtes Gut nicht zur selben Zeit am selben Ort beliebig oft verfügbar ist, also überall.990 Und Knappheit führt zu Konflikten. Und um die Konflikte zu befrieden, entstehen Regeln und Herrschaft zu deren Durchsetzung. Unfreiheit zum Schutze der Freiheit ist also eine notwendige Bedingung menschlichen (Zusammen-) Lebens. Umgekehrt ist die Freiheit der Einen zumeist die Unfreiheit der Anderen.991 Daraus folgt, erstens: Der Zweifelssatz zugunsten der Freiheit ist in seiner allgemeinen Form inhaltsleer, weil völlig unbestimmt. Man muss schon sagen, wessen Freiheit und/oder welche Freiheit im Zweifel den Vorrang erhalten soll: Freiheit der Starken – oder Freiheit der Schwachen? Freiheit vom Recht – oder Freiheit durch das Recht? Auch dies ist noch sehr allgemein gefragt. Aber gehen wir einmal davon aus, dass sich die enthaltenen Begriffe weiter präzisieren lassen, dass sich bestimmtere Einzelfragen herausschälen lassen. Selbst dann, zweitens, wird es nur in wenigen Fällen hinreichend bestimmte Antworten ge-

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986 Vgl. Rousseau, Du contrat social, 1762, S. S. 3 ff. 987 Vgl. Hobbes, Leviathan, 1651, S. 60 ff. 988 Eine der schönsten Synthesen aus beiden Gedanken ist dabei nach wie vor die alttestamentarische Verbildlichung in Genesis und Exodus. 989 Vgl. Lege, ARSP 2007, S. 21 f. 990 Zur Knappheit als normativem Begriff vgl. Lege, VVDStRL 70 (2011), S. 112, 114. 991 Siehe etwa Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu et al., BVerfGG Kommentar, Losebl. Stand 09/2011, § 90 Rn. 312, m.w.N.; sowie pointiert Schwabe, Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 64.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

ben. Wessen bzw. welche Freiheit in dubio schützenswert ist, lässt sich, insbesondere – aber nicht nur – im Zivilrecht, oft nicht generell-abstrakt vorherbestimmen. Freiheit vom Recht und Freiheit der Starken ist nämlich nicht immer nur die liebenswerte Freiheit der „kleinen“ Starken – sondern ebenso die ungehemmte Machtentfaltung der „großen“ Starken. Mit anderen Worten, verfassungsrechtlich besehen: Auf die Allgemeine Handlungsfreiheit beruft sich nicht nur der einzelne, staatsbedrängte mündige Bürger und auch nicht nur der harmlose Spinner, sondern ebenso das milliardenschwere, staatenlose Großunternehmen; Forschungsfreiheit nutzt nicht nur der zurückgezogene Schriftgelehrte oder Tüftler, sondern auch der Düngemittelhersteller, dessen Produkte potentiell das Trinkwasser für Millionen verseuchen können. Und natürlich wird die „große“ Freiheit sich in tatsächlicher Hinsicht immer leichter durchzusetzen wissen als die „kleine“ Freiheit. Schon aus Gründen demokratischer Gleichheit also kann im Zweifelsfall nicht regelmäßig zugunsten der Freiheit vom Recht und für die Starken entschieden werden. Nicht weniger zerstörerisch wäre umgekehrt eine abstrakte Festlegung im Zweifel zugunsten der Freiheit durch das Recht und zugunsten der Schwachen. Es wäre dies – paradoxerweise – letztlich wiederum eine Freiheit zugunsten (anderer) Starker und eine Freiheit (langfristig) vom Recht: Wenn nämlich die Durchsetzung von Freiheit durch das Recht (staatliche) Herrschaft voraussetzt, dann geht auch die Vermehrung von Freiheit durch das Recht einher mit der Vermehrung von (staatlicher) Herrschaftsmacht – und mit all den Missbrauchsmöglichkeiten für die Starken an der Spitze des hierfür erforderlichen Verwaltungsapparats. Weil zugleich die Vermehrung von Recht als Bürokratie einhergeht mit der Zunahme von Komplexität, verringert sich zudem in the long run die Bindungskraft des Rechts. Auf dem Papier vollständig verrechtlichte Lebensbereiche werden dann faktisch rechtsfrei – und in Wirklichkeit Starke nutzen mit Macht und mit List die den Schwachen zugedachte Freiheit.992 Zu Recht wird daher in der Literatur eine abstrakte (In-dubio-) Gewichtung zugunsten „der“ Freiheit überwiegend abgelehnt.993 Die Frage nach dem Vorrangverhältnis zwischen einzelnen Formen, Inhalten und Trägern von Frei-

_____ 992 Siehe Lege, ARSP 2007, S. 21, 37 f. unter Verweis auf Niccolò Machiavelli. 993 Siehe von Arnauld, Freiheitsrechte, 1999, S. 272 ff.; Münch/Kunig, in: Münch/Kunig, GG Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Vorb. Art. 1–19 Rn. 36; Dürig/Scholz, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 3 I Rn. 204 (Fn. 9); sowie erneut Bethge, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu et al., BVerfGG Kommentar, Losebl. Stand 09/2011, § 90 Rn. 312; a.A. die in Fn. 910 Genannten.

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heitsrechten muss grundsätzlich offen gehalten werden994 – in einer Balance, die immer (und: immer nur) in Ansehung des jeweils betroffenen Rechtsgebiets und des jeweiligen konkreten Einzelfalls der einen oder der anderen Seite zuneigt. Und wenn in einem solchen Einzelfall der Richter nicht zu entscheiden vermag, um welche Seite es sich dabei handelt – so bedarf es eines alternativen Maßstabs, der gerade nicht auf einer generellen Begünstigung bestimmter Freiheitsbedürfnisse beruht. Der Satz in dubio pro libertate in seiner Allgemeinheit kann jedenfalls zur Lösung solcher Fragen nichts beitragen, welche die Freiheitsbereiche zweier oder mehrerer Rechtssubjekte berühren.995

(2) Teilweise Vorrangrelation im Öffentlichen Recht Für das Gebiet des Öffentlichen Rechts enthält das deutsche Grundgesetz aber immerhin einige Maßgaben, die für bestimmte Fallkonstellationen eine Vorrangrelation zugunsten der Freiheit des Bürgers vom Staat beinhalten. Aus diesen Maßgaben kann zwar nach herrschender Auffassung996 – und nach den vorstehenden Erwägungen zu Recht – kein allgemeiner Grundsatz der Auslegung in dubio pro libertate im Öffentlichen Recht hergeleitet werden. Jedoch begründen einzelne verfassungsrechtlichen Bestimmungen für ihren jeweiligen Anwendungsbereich eine Rechtslast zulasten des Staates und zugunsten des Bürgers. Insbesondere die allgemeine Freiheitsvermutung des Art. 2 I GG,997 gegebenenfalls in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG verankerten allgemeinen998, allenfalls in Randbereichen eingeschränkten999 Vorbehalt des Gesetzes1000 führen dazu, dass dem Staat prima facie die Rechtslast für jedes Handeln im Bereich der Eingriffsverwaltung aufgebürdet wird.1001 Insofern gilt:

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994 A.A. dezidiert Schneider, VVDStRL 20 (1963), S. 1, 134 (Diskussionsbeitrag), nach dessen Auffassung aus methodischen Gründen eine (prinzipielle) Vorfestlegung erforderlich ist. 995 So bereits Schlosser, Einverständliches Parteihandeln, 1968, S. 2. 996 Vgl. die Nachweise in Fn. 993. 997 Siehe grundlegend BVerfGE 6, 32 ff.; 80, 137, 154; sowie hierzu etwa Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, S. 997 ff., m.w.N. 998 Für den strafrechtlichen Bereich tritt noch Art. 103 II GG hinzu. 999 Vgl. hierzu BVerfGE 105, 252; 105, 279. 1000 Vgl. hierzu etwa umfassend Kingren, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatrechts, Bd. 12, 3. Aufl. 2014, S. 293 ff.; sowie, insbes. zum (umstrittenen) Verhältnis zwischen der Auffangfunktion des Art. 2 I GG einerseits und dem allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes andererseits, Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, S. 183 ff. (insbes. 193 f.), jeweils m.w.N. 1001 Siehe Dreier, RW 2010, S. 11, 22 f.; vgl. auch Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 154.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

„Im Grundrechtsbereich hat das Freiheitsprinzip Vorrang, sofern der Gesetzgeber nicht ausreichende Gemeinwohlgründe vorweisen kann, die eine Freiheitsbeschränkung zu rechtfertigen vermögen.“1002

Es gilt also eine prinzipiell unbegrenzte Freiheitsvermutung zugunsten des Einzelnen, dem prinzipiell begrenzte und rechtfertigungsbedürftige Eingriffsmöglichkeiten des Staates gegenüberstehen. 1003 Interessanterweise drückt dabei schon die Formulierung des Art. 2 I GG („hat das Recht …, soweit nicht“) ein rechtliches Regel-/Ausnahmeverhältnis aus, das dem eingreifenden Staat die Rechtfertigungslast für sein Handeln zuweist.1004 Die „objektive ,Beweislast‛ für die verfassungsrechtliche Legitimät des Eingriffs“1005 wird insofern allein dem Staat aufgebürdet. Diese Erkenntnis hat allerdings nur eingeschränkte rechtliche und praktische Reichweite: Denn erstens gilt die allgemeine Freiheitsvermutung des Art. 2 I GG eben nur allgemein – das heißt, soweit die allgemeine Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht1006 einschlägig ist. Bei den Spezialgrundrechten ist demgegenüber jede staatliche Handlung erst dann rechtfertigungsbedürftig, wenn deren jeweiliger Schutzbereich durch einen Eingriff betroffen ist1007 – was in jedem Einzelfall erneut der expliziten Feststellung bedarf;1008 man könnte insofern daher sogar von einer umgekehrten Vermutung zugunsten der Rechtmäßigkeit staatlichen Handeln sprechen. Aus diesem Grunde und ferner auch aufgrund der mehrpoligen Grundrechtsverhältnisse in vielen Streitfällen ist, zweitens nicht ersichtlich, wie die Erkenntnis einer allgemeinen Freiheitsvermutung im Öffentlichen Recht als Lastregel im hier diskutierten Sinne unmittelbar fruchtbar gemacht werden könnte. Es ist daher wohl kein Zufall, wenn an ent-

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1002 Denninger, in: Wassermann, Alternativkommentar GG, 2. Aufl. 1989, vor Art. 1 Rn. 13. 1003 So bereits die Formel für das „rechtsstaatliche Verteilungsprinzip“ bei Schmitt, Verfassungslehre, 10. Aufl. 1993, S. 126, 158 f.; siehe hierzu auch eingehend Bethge, VVSStRL 57 (1998), S. 7, 11 ff., m.w.N. 1004 Siehe Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG Mitarbeiterkommentar – Bd. I, 2002, Art. 2 I Rn. 39 f. 1005 Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG Mitarbeiterkommentar – Bd. I, 2002, Art. 2 I Rn. 39. 1006 Siehe etwa Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 1958, Art. 2 I Rn. 26 f.; sowie Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 2 I Rn. 22, 66, jeweils m.w.N. 1007 Grundlegend Schlink, EuGRZ 1984, S. 457 ff. 1008 Genau genommen ist diese explizite Feststellung natürlich auch bei Art. 2 I GG immer erforderlich. Nur ist dies aufgrund des umfassenden Schutzsbereichs des Art. 2 I GG in Verbindung mit einem weiten Eingriffsbegriff des BVerfG (vgl. oben Fn. 999) in aller Regel völlig unproblematisch und steht daher der Annahme einer allgemeinen Freiheitsvermutung nicht entgegen.

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sprechende Bekundungen in der Literatur regelmäßig keine konkreten praktischen Folgen geknüpft werden. Solche Folgerungen lassen sich aber möglicherweise wenigstens für bestimmte Fallkonstellationen des Öffentlichen Rechts im Rahmen einer stärker formalisierten prozessualen Lastentheorie ziehen (siehe hierzu noch b bb (2)).

(3) Zwischenergebnis Eine allgemeine Auslegungsregel in dubio pro libertate ist weder praktikabel noch rechtstheoretisch überzeugend begründbar. Jedoch lässt sich für das Öffentliche Recht (einschließlich des Strafrechts) festhalten, dass im Rahmen der Eingriffsverwaltung aufgrund der allgemeinen Freiheitsvermutung des Art. 2 I GG der Staat eine allgemeine Zweifelslast zu tragen hat. Allerdings führt diese Erkenntnis für sich genommen nicht sehr weit; sie lässt sich aber später womöglich noch fruchtbar machen.

bb) … pro securitate? Damit dürfte bereits deutlich geworden sein, dass eine Zweifelsregel pro securitate in der Auslegung nicht den Ausschlag geben kann. Auch das Verlangen nach Sicherheit lässt sich letztlich als Freiheitsbedürfnis beschreiben – als Bedürfnis nach tatsächlicher Freiheit durch das Recht mittels aktiven Schutzes von Seiten des Staates.1009 In dubio pro securitate würde mithin einseitig bestimmte Freiheitsbedürfnisse begünstigen – und zwar Bedürfnisse, die dem modernen Gesetzgeber ohnehin schon besonders am Herzen zu liegen scheinen,1010 die aber im Grundgesetz nicht mit Vorrang ausgestattet sind. Im Übrigen wäre eine Zweifelsregel zugunsten „der“ Sicherheit auch schlicht untauglich, zur Lösung einer Vielzahl von Rechtsfällen nennenswert etwas beizutragen: Welche Sicherheitsaspekte etwa sind berührt, wenn im Zivilrecht die Parteien über die Auslegung eines Kaufvertrags streiten? Und sollen im Öffentlichen Recht Fragen der (inneren) Sicherheit über die Zulässigkeit einer Meinungsäußerung entscheiden? Und wie soll in dubio der Widerstreit konkurrierender Sicherheitsbedürfnisse aufgelöst werden, wenn etwa die Gesellschaft zuverlässig vor einem Straftäter geschützt werden möchte?

_____ 1009 Vgl. grundlegend Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 32 ff. insbes. 1010 Siehe exemplarisch die Kritik bei Braum, ZRP 2004, S. 105, insbes. 107 (zur nachträglichen Sicherungsverwahrung); Di Fabio, Risikoentscheidungen, 1994, S. 51; sowie ferner Sendler, NJW 1995, S. 1468, 1469.

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Allenfalls mag der Zweifelssatz pro securitate in eng umgrenzten Bereichen des Rechts zuweilen Anwendung finden – man denke etwa an das Umwelt- und Technikrecht. Aber selbst dort wird regelmäßig eine Abwägung mit gegenläufigen Interessen (etwa der Forschungsfreiheit) geboten sein.1011

cc) … pro egalitate? Nur scheinbar vielversprechender ist eine Zweifelsregel pro egalitate. Zwar verhält sich immerhin Gleichheit zur Freiheit durchweg als etwas Äußeres, steht zu dieser als „gleiche Freiheit“ notwendig adjektiv. Jedoch ist der Begriff der Gleichheit ähnlich schwierig und unbestimmt wie der Begriff der Freiheit: Geht es um Ausgangsgleichheit (Gleichheit vor dem Recht) – oder um Ergebnisgleichheit (Gleichheit durch das Recht)? Es handelt sich hier um zwei höchst unterschiedliche, oftmals gegensätzliche Konzeptionen von Gleichheit (und letztlich: Freiheit). Beiden gemein ist aber, dass sie als Zweifelsmaßstäbe zur Entscheidung besonders schwieriger Fälle wenig taugen. Insbesondere führt die Frage danach, was denn eigentlich – im Tatbestand oder in der Rechtsfolge – „gleich“ ist, zumeist nur zu neuen Abgrenzungsproblemen. Denn Unterschiede gibt es immer: Keine zwei Sachverhalte sind exakt gleich; und auch die tatsächlichen Auswirkungen zweier identischer Rechtsfolgen gleichen sich nie vollständig. Insofern kann es immer nur darum gehen, wesentlich gleiche Sachverhalte wesentlich gleich zu behandeln.1012 Über die Frage, was denn eigentlich „wesentlich“ sei, lässt sich aber häufig trefflich streiten. Dort wo der Streit nicht allzu groß ist, findet die Forderung nach Gleichheit vor dem Recht bereits im Rahmen der herkömmlichen Auslegungsmethodik Anwendung – und zwar im Wege von Analogie-, Erst-recht- und Umkehrschlüssen.1013 Es ist nicht ersichtlich, inwiefern eine materielle1014 Regel der Ausgangsgleichheit sich darüber hinaus für Zweifelsfälle fruchtbar machen ließe. Für eine aus dem Postulat der Gleichheit durch das Recht abgeleitete Entscheidungsregel stellen sich weitere Probleme. In Fällen, in denen zwei Sachverhalte bereits im Ausgangspunkt (wesentlich) gleich sind, verwirklicht sich

_____ 1011 Zu diesen Abwägungsprozessen siehe etwa Dähne, Wissenschaftsfreiheit und Wirtschaftsfreiheit, 2007, passim. 1012 Siehe bereits oben B I 2 a aa. 1013 Siehe etwa Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 521 ff.; vgl. auch bereits oben B III. 1014 Zu formellen Regeln, die wesentlich auf dem Gedanken der Ausgangsgleichheit fußen, siehe noch unter b.

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die Ergebnisgleichheit zwar bereits verfassungsrechtlich unproblematisch durch Gleichheit in den Rechtsfolgen, durch Gleichheit vor dem Recht. Unter gleichen Sachverhaltsumständen begehren A und B jeweils eine Geldleistung i.H.v. EUR 1.000. Es besteht tatsächliche Ausgangsgleichheit. Tatsächliche Ergebnisgleichheit wird hier hergestellt durch gleiche Rechtsfolgen: Dem Anspruch ist entweder in beiden Fällen stattzugeben – oder er ist in beiden Fällen abzuweisen.

Von Interesse ist die Ergebnisgleichheit aber vor allem dort, wo gerade nicht in allen Punkten tatbestandliche Gleichheit herrscht. C verfügt über Ersparnisse i.H.v. EUR 1.000. D ist völlig mittellos. Unter im Übrigen gleichen Sachverhaltsumständen begehren C und D jeweils eine Geldleistung i.H.v. EUR 1.000. Tatsächliche Ergebnisgleichheit könnte hier hergestellt werden durch ungleiche Rechtsfolgen. Dem Anspruch des D wäre danach stattzugeben, der Anspruch des C wäre abzuweisen.

Die Herstellung von tatsächlicher Ergebnisgleichheit durch gleiche Rechtsfolgen für im Ausgangspunkt wesentlich ungleiche Sachverhalte oder (wie hier) durch ungleiche Rechtsfolgen für im Wesentlichen gleiche Sachverhalte bedarf aber verfassungsrechtlich immer einer Rechtfertigung.1015 Eine solche Herstellung von Ergebnisgleichheit kann sich daher grundsätzlich immer nur aus einer Anordnung des (Verfassungs-) Gesetzgebers ergeben. Grundgesetzlich finden sich solche Anordnungen etwa in Art. 3 II S. 2 GG oder im Sozialstaatsprinzip, einfachrechtlich etwa in diversen Bestimmungen des Arbeits- und des Sozialrechts. Dies bedeutet: Auch eine allgemeine Entscheidungsregel der Ergebnisgleichheit ließe sich allenfalls durch gesetzgeberisches Handeln begründen – und wäre zudem aufgrund der Komplexität, die mit Fragen der Ergebnisgleichheit notwendig einhergeht, zur Lösung schwieriger Zweifelsfälle denkbar ungeeignet.

dd) … pro dignitate? Nun gibt es im (Verfassungs-) Recht natürlich nicht nur Prinzipien, sondern auch Regeln, die für eine materielle Rechtslastentscheidung herangezogen werden könnten – zuvörderst der Kerngehalt des Art. 1 I des Grundgesetzes1016: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

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1015 Siehe nur BVerfGE 82, 60, 86; 99, 129, 139. 1016 Siehe grundlegend Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 94 ff. Die lange herrschende Sichtweise von der (absoluten) Regelhaftigkeit des Art. 1 I GG ist allerdings in jüngerer Zeit von verschiedener Seite verstärkt in Zweifel gezogen worden – vgl. insbes. Brugger, JZ

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Bei einer solchen materiellen Regel allerdings stellen sich andere, letztlich unüberwindbare Probleme: Das bereits vorhandene Konditionalschema dieser Regel schließt die Anwendung (nur) im In-dubio-Fall aus. Denn immer dann, wenn die Menschenwürde betroffen ist, ist ein bestimmtes Handeln ge- oder verboten. Eine Lastregel, nach der nur im Zweifel zugunsten der Menschenwürde zu entscheiden wäre, setzte sich hierzu unauflösbar in Widerspruch. Vor allem aber gilt umgekehrt: In Fällen, in denen die Würde des Menschen nach den geltenden Maßstäben1017 erkennbar nicht betroffen ist, in denen sich aber dennoch schwierige rechtliche Zweifelsfragen stellen,1018 ließe sich über eine Lastregel aus Art. 1 I GG gar keine Entscheidung herbeiführen. Vor diesem Hintergrund ist eine allgemeingültige Regel in dubio pro dignitate überhaupt nur vorstellbar, wenn einerseits der Absolutheitsanspruch des Menschenwürdesatzes reduziert würde1019 – und andererseits in jedem nur denkbaren rechtlichen Zweifelsfall eine Menschenwürderelation hergestellt würde. Damit aber würde sich erstens auch hier die oben besprochene Abwägungsproblematik einstellen,1020 und es drohte zweitens der Wert der Würde zur „kleinen Münze“1021 zu verkommen.1022 Wieder einmal würden mithin mehr Probleme geschaffen als gelöst.

ee) … pro oeconomia? Statt auf Werte lässt sich eine Zweifelsentscheidung aber womöglich auf Preise gründen1023 – sind doch Rechtsfragen meist auch Fragen der Ökonomie. Konkreter: Jede gerichtliche Entscheidung zeitigt wirtschaftliche Konsequenzen – ganz gleich, ob es sich um Entscheidung über einen Kaufpreisanspruch, um die Genehmigung eines Bauvorhabens, die Folgen einer Ehescheidung oder die Verhängung einer Freiheitsstrafe handelt. Zu diesem Befund gesellt sich der Eindruck, dass auch in der rechtswissenschaftlichen Diskussion ökonomische Letztbegründungen gegenüber moralischen zunehmend die Oberhand gewin-

_____ 2000, S. 165, ff.; Enders, Menschenwürde, 1997, S. 108 ff.; sowie Teifke, Menschenwürde, 2011, S. 119 ff., jeweils m.w.N. 1017 Siehe etwa Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 1 I Rn. 1 ff.; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn. 1 ff. 1018 D.h., jdf. im Zivilrecht: in den meisten Zweifelsfällen. 1019 Vgl. hierzu bereits Fn. 1016. 1020 Vgl. bereits oben zu den unter aa-cc erörterten Prinzipien. 1021 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 1958, Art. 1 I Rn. 16, 29. 1022 Instruktiv die Darstellung der Kasuistik bei Isensee, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte Bd. IV, 2011, S. 74 ff. 1023 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten II, 1797, S. 139 (§ 37).

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nen.1024 Gesellschaftlich gilt dies ohnehin bereits seit längerer Zeit: Sozial ist, was Arbeit schafft,1025 Geiz ist geil1026 – gut ist, was Geldwert hat. Insofern scheint es naheliegend, in rechtlichen Zweifelsfragen generell die (volks-) wirtschaftliche Vorzugswürdigkeit der jeweils möglichen Entscheidungsvarianten den Ausschlag geben zu lassen. In dubio wäre dann beispielsweise der Verkäufer einer Sache nicht zur Leistung verpflichtet, wenn er selbst größeren wirtschaftlichen Nutzen aus der Sache ziehen kann (er müsste stattdessen nur Schadensersatz leisten).1027 Im Zweifel wäre nach derselben Logik: eine Baugenehmigung zu erteilen, die es dem Bauherrn ermöglicht, mit seinem Unternehmen zu expandieren und dabei Arbeitsplätze zu schaffen;1028 das eheliche Vermögen überwiegend demjenigen Ehegatten zuzusprechen, der damit mutmaßlich besser zu wirtschaften versteht; ein „kleptomanischer“ Angeklagter einzusperren, wenn seine Inhaftierung voraussichtlich weniger Kosten verursacht als zu erwartende weitere Diebstahlstaten.1029 Zwei Einwände, mindestens, drängen sich gegen ein solches Primat der Wirtschaftlichkeit auf: Erstens sind Rechtsfragen zwar immer auch Fragen der Ökonomie – aber eben nicht nur; ein Primat der Wirtschaftlichkeit wäre ebenso einseitig und daher ungerecht wie ein Primat für Freiheit, Sicherheit oder Gleichheit. Zweitens sind (Volks-) Wirtschaftlichkeitsberechnungen zumeist höchst komplex und mit zahlreichen Ungewissheiten behaftet.1030 Sie sind daher

_____

1024 Grundlegend zur ökonomischen Analyse des Rechts Posner, Economic Analysis of Law, 4. Aufl. 1992, passim; ferner ders., in: Parisi, Richard A. Posner – Public Law, 2001, passim.; sowie aus der deutschsprachigen Literatur Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2. Aufl. 1998, passim. 1025 So der „geflügelte“ Ausspruch eines Bundesministers nach der Jahrtausendwende – vgl. in diesem Zusammenhang bereits Richers/Köpp, DÖV 2010, S. 997 ff.; sowie Richers/Köpp, DVBl 2011, S. 404 ff. 1026 So lautete damals der Werbeslogan eines bekannten Betreibers von Elektronikmärkten. 1027 Vgl. zur sogenannten theory of efficient breach grundlegend Goetz/Scott, Columbia Law Review 1977, S. 554 ff. 1028 Vgl. insofern BVerfGE 74, 264. 1029 Oder umgekehrt, in weiterer Zuspitzung: Besteht nach Auffassung der Gutachter lediglich eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ein wegen Totschlags Verurteilter nach Haftentlassung binnen zehn Jahren erneut tötet, dann wäre Sicherungsverwahrung aufgrund ihrer vergleichsweise hohen Kosten im Verhältnis zum Preis eines Menschenlebens womöglich unwirtschaftlich – und daher nicht anzuordnen. Instruktiv in diesem Zusammenhang: Klare, Was bin ich wert?, 2010, passim. 1030 Um nur eines der genannten Beispiele aufzugreifen: Ob eine bestimmte Baugenehmigung volkswirtschaftlich wirklich vorteilhaft ist, hängt von einer ganzen Reihe schwer oder gar nicht zuverlässig abzuschätzender Faktoren ab – betriebswirtschaftliche „Solidität“ des Bau-

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

nicht nur in zahlreichen Fällen schlicht unpraktikabel, sie laufen auch evident dem Ziel einer im Voraus abschätzbaren Lastenverteilung auf Seiten der Parteien zuwider. Auch eine Regel in dubio pro oeconomia schüfe mithin nicht mehr, sondern weniger materielle Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.

ff) … ex contradictione sequitur quodlibet – ein Zwischenergebnis Die Wirtschaftlichkeit einer juristischen Entscheidung ist natürlich nicht der letzte denkbare Maßstab in der Liste möglicher In-dubio-Maximen. Die Reihung lässt sich nahezu beliebig fortsetzen. Sei es der im Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I GG) zum Ausdruck kommende Gedanke der fraternité, der in der Verpflichtung zum Schutz der Umwelt (Art. 20a GG) durchscheinende Gesichtspunkt der „Nachhaltigkeit“, der in den Wahlrechtsgrundsätzen (Art. 38 GG) teilweise positivierte status activus i.S. Jellineks1031, die im Demokratieprinzip (Art. 20 II GG) verankerte Wertentscheidung in dubio pro maioritate, die aus der Gesamtschau der Grundrechte erkennbare gegenläufige Maxime in dubio pro minoritate – oder auch schlicht jedes einzelne Grundrecht für sich genommen: Allein schon aus der geschriebenen „objektiven Werteordnung“1032 des Grundgesetzes lässt sich ein umfangreicher Katalog denkbarer Zweifelsprinzipien ableiten. Bloß würde damit aus einem schwierigen einfachrechtlichen Streit regelmäßig ein mindestens ebenso schwieriger Verfassungsrechtsstreit: Denn alle genannten Prinzipien stehen abstrakt wie im konkreten Einzelfall immer im möglichen Widerstreit zu anderen, oft exakt gegenläufigen Prinzipien. Nahezu jeder positiven Freiheit (einem Glauben anzuhängen, beispielsweise) korrespondiert zumindest auch eine negative Freiheit (nicht bzw. nichts glauben zu müssen, beispielsweise). Denn immer gibt es auch ein Recht darauf, schlicht „in Ruhe gelassen“1033 zu werden. Weil aber eine Rangfolge bestimmter Prinzipien sich nicht a priori begründen lässt, gälte bei Zugrundlegung materieller Lastregeln für die Entscheidung rechtlicher Fragen in dubio: Ex contradictione sequitur quodlibet.1034

_____ herrn, Folgen für den Wettbewerb im Geschäftsfeld desselben, Auswirkungen des Baus auf die natürlichen Ressourcen, die Lebensqualität der übrigen Wohn- und Arbeitsbevölkerung, auf das Stadtbild (Tourismus!) etc. 1031 Siehe Jellinek, System, 1892, S. 129 ff. 1032 BVerfGE 7, 198. 1033 BVerfGE 27, 1, 6. 1034 Zur Klarstellung: Damit sei nicht behauptet, verfassungsrechtliche Entscheidungen erfolgten generell beliebig („zufällig“ im allgemeinsprachlichen Sinne). Es geht hier allein um den (einfachrechtlichen) In-dubio-Fall; in einem solchen Fall gewinnt eine Entscheidung zumeist nicht dadurch an Vorausberechenbarkeit, dass sie auf eine verfassungsrechtliche Ebene verschoben wird (vgl. hierzu bereits oben B III 4 b aa (4)).

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Den inner-verfassungsrechtlichen Widerstreits mag man zwar ausweichen durch Bezugnahme auf außer-verfassungsrechtliche Entscheidungsmaximen. Bloß handelt man sich auch damit in den schwierigen Fällen (und allein diese sind hier überhaupt von Interesse) nur neue Zweifel ein. Wieder einmal zeigt sich eine Parallele zur Problematik materieller Zweifelsregeln im Bereich der Tatsachenfeststellung.1035 Sei es nun das zuletzt besprochene Prinzip in dubio pro oeconomia oder das (zumindest strukturell verwandte) utilitaristische Postulat des „Glücks der größten Zahl“1036, das Konstrukt eines „Schleiers des Nichtwissens“1037 oder eine etwaige Maxime in dubio pro universale1038: Jeweils wird zwar die Entscheidung auf eine übergeordnete Ebene gehoben; dabei wird aber nicht Komplexität reduziert zugunsten gesteigerter Vorhersehbarkeit der Entscheidung – sondern die Komplexität durch vermehrte und oft unscharfe Entscheidungsfaktoren noch erhöht; zugleich sind die zur Verfügung stehenden Konzepte unter dem Gesichtspunkt materieller Gerechtigkeit regelmäßig nicht wenigstens neutral – sondern einseitig weltanschaulich geprägt.1039 Unter Einbeziehung der Ergebnisse aus dem ersten Teil dieser Darstellung gilt mithin: (Gesetzliche) Regeln sind darauf gerichtet, bestimmte Prinzipien (Freiheit, Gleichheit, Wirtschaftlichkeit etc.) zu im Einzelfall anwendbaren Wenn-dann-Schemata zu verdichten.1040 Fehlt es an solchen Regeln oder lassen sich Zweifel über ihre Anwendung nicht beheben, so kann in manchen Fällen der unmittelbare richterliche Zugriff auf die dahinter stehenden (verfassungsrechtlichen oder politisch gewillkürten) Prinzipien zur Rechtserkenntnis verhelfen.1041 Mit Ausnahme einer teilweisen Vorrangrelation in dubio pro libertate im Öffentlichen Recht lässt sich eine einzelne materielle In-dubio-Regel auf Basis dieser Prinzipien jedoch nicht begründen; der Versuch, eine solche Regel zu

_____ 1035 Vgl. oben B IV 3 b. 1036 Klassisch Bentham, Fragment on Government, 2. Aufl. 1823, S. VI (Preface): „…it is the greatest happiness of the greatest number that is the measure of right and wrong…“. 1037 Siehe hierzu bereits oben B III 4 b aa (5). 1038 Zur Rechtsvergleichung als Mittel der Auslegung und richterlichen Fortbildung (nationalen) Rechts siehe oben B III 4 b bb (3). 1039 Bei Ansätzen, die sich an irgendeiner (behaupteten) „Wirtschaftlichkeit“ orientieren, dürfte dies evident sein. Aber etwa auch individuelles „Glück“ dürfte sich ohne Bezugnahme auf weltanschauliche Wertungen kaum abstrakt-generell bestimmen lassen. Im schlimmsten Fall werden auf diesem Wege völlig einseitige und weitgehend irrational begründete „Werte“ entscheidungsleitend, die Justiz verkommt etwa zur Klassen- oder Rassenjustiz – vgl. Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 339 ff., 569 ff. 1040 Vgl. oben B III 3. 1041 Vgl. oben B III 4.

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implementieren, führt nicht zu mehr, sondern zu weniger Rechtssicherheit – und/oder zu weniger materieller Gerechtigkeit. Dies ist im Grunde nicht überraschend: Materiell-rechtliche Gerechtigkeitsfragen stellen sich auf Ebene der Rechtslast nicht mehr. Erscheint nämlich dem Richter die eine rechtliche Entscheidung materiell „gerechter“, so wird er dem spätestens auf Ebene der Rechtsfortbildung Rechnung tragen. Zur Rechtslastentscheidung kommt es dann gar nicht erst. Mit anderen Worten: Wo die Produktion materieller Gerechtigkeit an den Grenzen menschlicher Erkenntnis scheitert, muss die Wahrheitsfunktion des Rechts zurücktreten; entscheidungsleitend ist dann die Bestätigung und Produktion von Erwartungssicherheit, die Klarheitsfunktion des Rechts. Denn bei Unmöglichkeit der Erkenntnis von Gerechtigkeit muss wenigstens Rechtssicherheit herrschen (vgl. oben insbesondere B I 2 b).

b) Prozessuale Rechtslast Im vorstehenden Abschnitt hat sich gezeigt, dass rein materielle Überzeugungslastregeln die juristische Dogmatik für sich genommen nicht weiterzuführen vermögen. Daher drängt sich die Frage auf, ob nicht bei Zweifeln in der Rechtsanwendung formal-prozessuale Überzeugungslastregeln eine besser vorausberechenbare Entscheidung ohne wesentliche materielle Gerechtigkeitseinbußen auf einer übergeordneten Ebene herbeiführen können.1042

aa) Ausgangsüberlegungen Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, inwiefern womöglich die Erkenntnisse zur Tatbestandsfeststellung in Zweifelsfällen für die Parallelproblematik auf Rechtsanwendungsebene fruchtbar gemacht werden können. Bezüglich der Untauglichkeit materieller Zweifelsregeln konnte dies – im negativen Sinne – im vorstehenden Abschnitt bereits bestätigt werden. Insofern liegt es nahe, dass die Parallele sich fortführen lässt, dass also die Grundstruktur des RosenbergModells sich auf Zweifelsentscheidungen in der Rechtsanwendung übertragen lässt.1043

_____ 1042 Vgl. in diesem Zusammenhang Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., S. 116 f., der – ohne nähere Ausführungen – die Auffassung vertritt, dass in unklaren Fällen, in denen keine allgemein anerkannte Rechtserkenntnis gewonnen werden kann, auf „formale Hilfsmittel“ zurückgegriffen werden müsse. 1043 Für die Vertragsauslegung und Wertungen im Einzelfall ebenso Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 136 ff.; vgl. auch bereits entsprechende Überlegungen bei Canaris, Grazer Universitätsreden Nr. 50 (1993), S. 23, 30.

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Ein erster Einwand (zu weiteren möglichen Kritikpunkten siehe noch unter 3) soll bereits vorweg angesprochen werden: Wenn, wie oftmals behauptet, die sogenannte Normentheorie in der Beweislast maßgeblich auf der Auslegung der jeweils streitgegenständlichen Normen beruht – führt deren Übertragung auf die Rechtsanwendung nicht zwangsläufig zu einem Zirkelschluss: Auslegung zum Zwecke der Überwindung von Zweifeln bei der Auslegung?1044 Dies trifft nur scheinbar zu. Die „Normentheorie“, jedenfalls in ihrer Reinform des Rosenberg-Modells, bewegt sich auf einer Metaebene. Sie fragt nicht nach dem Inhalt der Normen im Einzelnen; sie fragt lediglich danach, ob es sich bei der jeweiligen Norm um eine „Anspruchsnorm“ oder um eine „Gegennorm“ handelt. Um dies festzustellen, bedarf es aber – dies wird noch zu zeigen sein – keiner vertieften Kenntnis vom konkreten Inhalt der jeweiligen Vorschrift.

bb) Übersicht zur Grundstruktur Die Grundstruktur eines formalen Instruments für die Zweifelsentscheidung in der Rechtsanwendung beruht vor diesem Hintergrund auf den gleichen Annahmen, die dem Rosenberg-Modell in der Tatbestandsfeststellung zugrunde liegen: Erstens lassen sich grundsätzlich sämtliche Rechtsnormen als entweder Anspruchsnormen oder Gegennormen begreifen; hinzu treten noch Hilfsnormen, die sich in ihrer Lastrelevanz aber jeweils einer der beiden erstgenannten Kategorien zuordnen lassen. Zweitens soll danach bei den Anspruchsnormen der Kläger, bei den Gegennormen der Beklagte die Überzeugungslast tragen. Beide Annahmen wurden für den Bereich der Tatbestandsfeststellung bereits oben (B IV 3 b) erörtert. Für den Bereich der Rechtsanwendung sollen sie in der hier folgenden Darstellung erhärtet werden.

(1) Zivilrecht Im Zivilrecht bedarf der Begriff der Anspruchsnorm keiner ausführlichen Erörterung; nur in Randbereichen kann es hier Abgrenzungsschwierigkeiten geben. Gegennormen sind im Zivilrecht all diejenigen Rechtsvorschriften, die einen Anspruch vernichten, hindern oder hemmen. Hinzu treten grundsätzlich auch solche Normen, die bereits die Entstehung von Ansprüchen hindern (vgl. oben unter B IV 3 b cc (4)). Dabei kann zwar zuweilen die Abgrenzung von rechtsentstehungshindernden Normen einerseits zu negativen Tatbestandsmerkmalen von Anspruchsnormen andererseits schwierig sein; auf diese Abgrenzung

_____ 1044 In diese Richtung wohl Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 150 f.

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kommt es nach hier vertretener Auffassung aber gar nicht entscheidend an. Hilfsnormen sind im Zivilrecht – ebenso in den übrigen Rechtsgebieten – solche Vorschriften, die selbst weder Ansprüche noch Gegenmittel begründen, sondern lediglich Tatbestand oder Rechtsfolge einer der beiden Normkategorien näher konkretisieren oder ergänzen (Bsp.: § 276 II BGB). Hinsichtlich der Lastenverteilung gelten wiederum die gleichen Grundsätze, die für die Verteilung schon der Beweislast entscheidend sind. Die Rechtslast trägt bei Anspruchsnormen derjenige, der sich des Anspruchs berühmt; bei Gegennormen obliegt sie dem Anspruchsgegner; bei Hilfsnormen ist jeweils diejenige Partei rechtsbelastet, die der Hilfsnorm für die Ergänzung ihrer Primärnorm (Anspruchs- oder Gegennorm) bedarf. Für die Frage, ob eine Vorschrift im konkreten Streitfall Anspruchs-, Gegen- oder Hilfsnorm ist, ist allerdings letztlich eine prozessuale Sichtweise entscheidend. Eine Vorschrift, die für sich genommen Anspruchsnorm ist (etwa § 433 II BGB), kann daher zur Gegennorm werden; meist geschieht dies jeweils i.V.m. einer eigentlichen Gegennorm, so etwa bei der Aufrechnung (§§ 387 ff. BGB) oder bei den Zurückbehaltungsrechten (vgl. § 273 I BGB). Umgekehrt kann eine eigentliche Gegennorm niemals als Anspruchsnorm auftreten. Sowohl eigentliche Anspruchs- als auch eigentliche Gegennormen können aber im Einzelfall Hilfsnormen für andere Anspruchs- oder Gegennormen sein; dies ist insbesondere dann der Fall, wenn in solchen eigentlichen Primärnormen Legaldefinitionen enthalten sind, die auch für andere Primärnormen von Bedeutung sind (Bsp.: § 433 BGB). Die hier beschriebenen Grundsätze gelten unabhängig von der im Einzelfall vorliegenden Klageart. Demzufolge hat beispielsweise bei einer negatorischen Feststellungsklage (vgl. § 256 I Alt. 2 ZPO) im Zweifel der Klagegegner seinen vom Kläger in Abrede gestellten Anspruch zu „belegen“. Erneut gilt auf Ebene der Rechtsanwendung nichts anderes als auf Ebene der Tatsachenfeststellung. In der zivilgerichtlichen Praxis stellt sich der Ablauf des Zusammenspiels von Beweislast und Rechtslast in seinen Grundstrukturen dann dar wie folgt: K überzeugt das Gericht davon, dass es für den ihn betreffenden Sachverhalt mit den Elementen a, b, c eine Anspruchsnorm mit der behaupteten Rechtsfolge x gegen B gibt. Will sein Gegner B sich verteidigen, hat er vier Optionen: Erstens kann er das tatsächliche Vorliegen der Sachverhaltselemente a, b, c bestreiten bzw. einen entsprechenden Gegenbeweis führen. Zweitens kann er das Gericht davon überzeugen, dass die betreffende Anspruchsnorm nicht die von K behauptete Rechtsfolge x, sondern die Rechtsfolge y beinhalte. Drittens kann er das Gericht davon überzeugen, dass Voraussetzung der Anspruchsnorm außerdem das Sachverhaltselement d sei (welches nicht vom Anspruchsinhaber bewiesen sei). Viertens kann er das Gericht davon überzeugen, dass eine Gegennorm existiere (deren Sachverhaltselemente a’, b’, c’ von ihm bewiesen seien).

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Wählt B (erfolgreich) den vierten Weg, so verfügt zur Gegenverteidigung wiederum der K über die entsprechenden vier Optionen. Theoretisch lässt sich dies ad infinitum fortsetzen – in der Praxis setzen die Regeln des Prozessrechts1045 sowie die finite Zahl materieller (Gegen-) Gegennormen hier Grenzen. Unschwer lässt sich erkennen: Jedenfalls im Zivilrecht fügt sich ein prozessuales Lastinstrument zur Rechtsfindung nahtlos in die Parallelstruktur der Beweislastverteilung ein. Dem Richter erlaubt dabei das Rechtslastinstrument, in Fällen unüberwindbarer Zweifel – analog zum Vorgehen im Rahmen der Beweislast – einer der Parteien die Last für ein Scheitern der Überzeugungsbildung zuzuweisen. Für die Parteien umgekehrt ist von vornherein auch bei den Rechtsfragen ersichtlich, zu wessen Lasten eine etwaige Unentschiedenheit gehen wird.

(2) Öffentliches Recht Etwas komplexer stellt sich die Problematik der Lastverteilung im Öffentlichen Recht dar. Zwar kann hier in den Grundsätzen auf die Ausführungen zur Zweifelslast im Zivilprozess verwiesen werden. Da jedoch das „Denken in Ansprüchen“ im Staat-Bürger-Verhältnis noch immer wenig verbreitet ist,1046 bedarf die Differenzierung zwischen Anspruchsnormen und Gegennormen größerer Aufmerksamkeit – auch hier wiederum eine Parallele zur Beweislast (vgl. oben unter B IV 3 b bb). Als Grobraster lässt sich aber Folgendes festhalten: Anspruchsnormen sind in der Leistungsverwaltung vornehmlich die subjektiven einfachrechtlichen Rechte der Einzelnen bzw. (in Einzelfällen)1047 des Staates; insoweit besteht kein wesentlicher Unterschied zum Zivilrecht. Denn eine allgemeine „Leistungsvermutung“ des Bürgers gegenüber dem Staat (oder des Staates gegenüber dem Bürger) lässt sich weder dem Grundgesetz entnehmen noch sonst rechtstheoretisch überzeugend begründen. In der Eingriffsverwaltung werden regelmäßig die einfachrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen der staatlichen Verwaltung als Anspruchsnormen zu bezeichnen sein. Dies nun ergibt sich – im Rahmen der hier vertretenen Betrachtung des Rechts als System von Anspruchs- und Gegennormen – aus der oben (unter a aa (2)) begründeten allgemeinen Freiheitsvermutung des Art. 2 I GG: Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Freiheitsvermutung erweist sich

_____ 1045 Etwa § 296 ZPO (Zurückweisung verspäteten Vorbringens). 1046 Ausnahme: Die (in der VwGO inzident vorausgesetzte – vgl. § 43 II VwGO) allgemeine Leistungsklage. 1047 Man denke etwa an die §§ 48, 49 VwVfG oder auch an den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch.

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jedes eingreifende staatliche Handeln als Behauptung eines Anspruchs des Staates gegenüber dem Bürger; die Rechtslast für das Bestehen dieses Anspruchs trägt konsequenterweise der Staat. Etwas anderes gilt nur in seltenen Ausnahmefällen: Steht einmal ein Zweifel, ob ein bestimmtes staatliches Handeln den klagenden Bürger überhaupt beschwert, so trägt der Bürger auch im Rahmen des Art. 2 I GG die Rechtslast und die Beweislast für das Vorhandensein einer solchen Beschwer (eines „Eingriffs“). Und beruft sich im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4a GG) oder im Vorfeld einer Richtervorlage (Art. 100 I GG) der Bürger nicht auf Art. 2 I GG sondern auf eines der Spezialgrundrechte, so spricht viel dafür, dass er Rechtslast und Beweislast für das Vorliegens eines Eingriffs in den Schutzbereich dieses Grundrechts zu tragen hat; denn die Grundrechte sind nicht etwa vorstaatliches Naturrecht, sondern erst aufgrund des Aktes der Verfassungsgebung gewährte Rechtsansprüche des Bürgers gegenüber dem Staat.1048 Gegennormen sind dann in der Leistungsverwaltung vor allem solche Vorschriften, die der Verwaltung (bzw., in Einzelfällen: dem Bürger) ein Leistungsverweigerungsrecht im weitesten Sinne einräumen; strukturell besteht insofern erneut kein wesentlicher Unterschied zur zivilrechtlichen Dogmatik. Aber auch in der Eingriffsverwaltung finden sich innerhalb des jeweils maßgeblichen Normtextes auf Tatbetandsseite regelmäßig Bestandteile, die sich als Gegennormen identifizieren lassen (vgl. erneut oben B IV 3 b bb). Wichtigste allgemeine Gegennorm auf Rechtsfolgenseite, jedenfalls bei Ermessensvorschriften, ist daneben der Prüfungspunkt des Verstoßes gegen höherrangiges Recht, insbesondere eines Eingriffs in Spezialgrundrechte durch den konkreten Verwaltungsakt; bei Prüfung einer Grundrechtsverletzung in diesem Rahmen sind als Gegennorm nach den vorstehenden Erwägungen allerdings lediglich die Prüfungsschritte „Schutzbereich“ und „Eingriff“ anzusehen – der Prüfungsschritt der „Rechtfertigung“ ist demgegenüber Gegen-Gegennorm. Analog zur Entwicklung bei der Beweislastverteilung bedarf dieses Grobraster der Verfeinerung, des genauen Blicks auf die Struktur jeder einzelnen Vorschrift. Bei manchen Einzelfragen wird dabei die richtige Lastverteilung auf der Hand liegen. In anderen Fällen wird sich umgekehrt wegen fehlerhafter Sprach-

_____ 1048 Zur Positivierung der Grundrechte vor dem Hintergrund naturrechtlicher Vorstellungen vgl. etwa Stern, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, 3. Aufl. 2011, S. 3 ff.; zu den auch personellen Entwicklungslinien der Debatte in der Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs eingehend Foljanty, Recht oder Gesetz, 2013, passim. Zu dem im vorliegenden Werk vertretenen Begriff des Rechts vgl. im Übrigen bereits oben B I.

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struktur oder aufgrund sonstiger Eigenheiten die Rechtlast (und dann oft auch: die Beweislast)1049 nicht oder nicht befriedigend weil nicht vorhersehbar zuweisen lassen. Als besonders schwierig dürften sich dabei manche Rechtslastfragen auf Rechtsfolgenebene erweisen – insbesondere das weite Feld der Ermessensausübung 1050 oder auch, spezifischer, die bauplanungsrechtliche Abwägung1051. Erwägenswert ist, ob in diesen Zweifelsfällen ebenso wie bei der Auslegung von Finalnormen im Allgemeinen (dazu noch unter dd (1)) im Öffentlichen Recht wiederum die allgemeine Freiheitsvermutung des Art. 2 I GG dafür sprechen könnte, dass in Fällen der Eingriffsverwaltung die Rechtslast auf Seiten der Behörde liegt. Umgekehrt ließe sich aber auch argumentieren, dass die Einräumung von Ermessen auf Rechtsfolgenseite grundsätzlich eine Rechtslastverteilung zugunsten der Behörde signalisiere.1052 Abschließend noch eine Anmerkung zur institutionellen Reichweite eines etwaigen Lastinstruments im Öffentlichen Recht: Bislang wurde implizit das Instrument der Rechtslast allein im Bereich des gerichtlichen Verfahrens behandelt. Dies mit guten Gründen: Erstens stellt sich die Frage der Überzeugungslast in nicht gerichtsförmigen Verfahren grundsätzlich nur im Öffentlichen Recht. Und zweitens liegt es nahe, dass der Überzeugungslast als Zweifelsregel im Verwaltungsverfahren stärkere Bedenken entgegenstehen als im Gerichtsverfahren; insbesondere ist im Verwaltungsverfahren die zur Entscheidung berufene Stelle typischerweise selbst Partei; zudem ist eine anwaltliche Vertretung der Betroffenen im Verwaltungsverfahren deutlich seltener gegeben als vor Gericht. All dies schließt eine Anwendung rechtslastförmiger Entscheidungen hier ebenso wenig von vornherein aus wie eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen. Die praktische Relevanz von Lastregeln im Verwaltungsverfahren dürfte aber eher gering sein und soll daher auch im Folgenden nicht weiter thematisiert werden.

(3) Strafrecht Im Strafrecht dürfte aufgrund der besonderen Verfahrenssituation dem Instrument der Rechtslast ebenso geringe Bedeutung zukommen wie sich dies für das Instrument der Beweislast erwiesen hat (vgl. oben B IV 3 b bb).

_____ 1049 Vgl. oben B IV 3 b bb (4). 1050 Vgl. § 40 VwVfG; § 114 VwGO. 1051 Vgl. § 1 VII BauGB. 1052 Bei der bauplanungsrechtlichen Abwägung trüge konsequenterweise derjenige die Rechtslast, der die „gerechte Abwägung“ in Zweifel zieht.

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Anspruchsnormen sind hier jedenfalls die Straftatbestände selbst. Mehr noch als im (übrigen) Öffentlichen Recht scheint es im Strafrecht aber naheliegend, dem Staat darüber hinaus auch die Zweifelslast insgesamt aufzuerlegen. Immerhin kann hier typischerweise von einem erheblichen Informations- und Machtgefälle zulasten des Bürgers, des Angeklagten, ausgegangen werden. Bei Zweifeln über die Auslegung von Strafrechtsnormen gälte dann generell der Grundsatz in dubio pro reo (vgl. bereits oben 1 e ff).1053 Erwägenswert ist zwar, ob nicht zumindest hinsichtlich „Rechtfertigung“ und „Schuld“ dem Angeklagten die Rechtslast obliegt – entsprechende Vorschriften insofern als Gegennormen fungieren. Angesichts der vergleichsweise strikten Wortlautbindung im Strafrecht sowie im Hinblick auf einen möglichst anzustrebenden Gleichlauf mit den Regeln über die Beweislastverteilung scheint es jedoch vorzugswürdig, vom Grundsatz in dubio pro reo auch im Bereich der Auslegung allenfalls dort Ausnahmen zu machen, wo dies auch in Tatsachenfragen geschieht – so etwa im Wiederaufnahmeverfahren.1054

cc) Drei Fälle aus dem Alltag Wenn sich, wie hier vorgeschlagen, das Instrument der Rechtslast eng an das Instrument der Beweislast anlehnen soll, so entspricht im Regelfall die Rechtslastverteilung auch der Beweislastverteilung. Dieses Zusammenspiel soll im Folgenden an der harten Realität einiger Fallbeispiele aus dem juristischen Alltag gemessen werden.

(1) Fall 1 – Fahrradunfall Der Fahrradfahrer F radelt entlang einer vielbefahrenen Straße. Fahrzeughalter H hält mit leicht geöffneter Fahrertür mit seinem Wagen am Straßenrand; der Fahrzeugschlüssel steckt dabei im Zündschloss, der Motorlauf ist aufgrund Start-Stopp-Automatik vorübergehend gestoppt. Als F an H vorbeifahren will, schlägt die Tür des Wagens des H plötzlich weit auf, und F ist gezwungen auszuweichen. Dabei gerät F aus dem Gleichgewicht und stürzt; bei dem Sturz verletzt sich F schwer. Vor Gericht klagt er nun gegen H auf Ersatz der ihm entstandenen Schäden. Dabei obliegt es zunächst F, im Zweifelsfall das Gericht von den tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen seines Anspruchs zu überzeugen. So trägt er im Rahmen eines Anspruchs nach § 7 I StVG u.a. die Beweislast dafür, dass die geöffnete Fahrertür am Wagen

_____ 1053 Ähnlich Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 154; vgl. – aus verfassungsrechtlicher Sicht – auch bereits Bleckmann, JZ 1995, S. 685, 687 f. 1054 Siehe BGHSt 39, 75, 85; BGH, NStZ 2000, 218.

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des H kausal für den Unfall war.1055 Ebenso trägt er die Rechtslast dafür, dass der Unfall (adäquat kausal) „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ zustande kam.1056 Anschließend obliegt es H, im Zweifelsfall das Gericht davon zu überzeugen, dass die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen einer etwaigen Gegennorm vorliegen. So wäre der H beispielsweise beweisbelastet dafür, dass ein außergewöhnlicher, heftiger Windstoß unabwendbar zum Aufschlagen der Fahrertür geführt habe1057 – und rechtsbelastet dafür, dass diese Tatsachen sich unter den Begriff der „höheren Gewalt“ i.S.d. § 7 II StVG subsumieren lassen.1058

Unterstellen wir nun, dass der Sachverhalt zwischen den Parteien unstreitig ist. Wenn sich in diesem Fall das Gericht nun bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung außer Stande sieht, sich nach gründlicher Prüfung eine Überzeugung darüber zu bilden, ob der Unfall „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ zustande kam, so könnte die entsprechende Passage in dem Urteil (verkürzt) lauten wie folgt: Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch aus § 7 I StVG. (…) Es kann nicht festgestellt werden, dass der Tatbestand des § 7 I StVG erfüllt ist. Das Unfallgeschehen ist zwischen den Parteien unstreitig. Das Gericht hegt aber in rechtlicher Hinsicht unüberwindbare Zweifel in der Frage, ob sich dieses Geschehen bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs i.S.d. § 7 I StVG ereignete. Zwar ist einerseits (…). Andererseits aber (…). Die Tatbestandsvoraussetzung „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ zählt zum anspruchsbegründenden Tatbestand des § 7 I StVG. Für den konkreten Inhalt anspruchsbegründender Voraussetzungen trägt nach allgemeinen Grundsätzen im Zweifelsfall derjenige die Rechtslast, der den Anspruch geltend macht. Gelingt es dem Anspruchsbehauptenden nicht, das Gericht von dem von ihm behaupteten Inhalt einer solchen anspruchsbegründenden Voraussetzung zu überzeugen, so gehen die Zweifel des Gerichts zu seinen Lasten, und die Tatbestandsvoraussetzung gilt als nicht erfüllt.

(2) Fall 2 – Schuhe aus dem Internet Student S hat beim Versandhändler V im Internet zwanzig Paar neue Schuhe verschiedener Modelle bestellt. Da bei der Bestellung der in § 10 der AGB des V insoweit vorausgesetzte „Mindestbestellwert von EUR 200“ überschritten ist, hat V die Versandkosten übernommen; hätte S nur ein Paar Schuhe bestellt, so hätten die Versandkosten hierfür

_____

1055 Vgl. Burmann/Heß et al., Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. 2012, StVG § 7 Rn. 28. 1056 Vgl. zu den entsprechenden Rechtsfragen Burmann/Heß et al., Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. 2012, StVG § 7 Rn. 7 ff. 1057 Vgl. erneut Burmann/Heß et al., Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. 2012, StVG § 7 Rn. 28. 1058 Diese Frage kann überaus schwierig zu beurteilen sein – vgl. Burmann/Heß et al., Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl. 2012, StVG § 7 Rn. 17 ff.

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EUR 3,90 betragen. S sucht sich unter den Schuhen nun dasjenige Modell aus, das ihm am besten gefällt (Bestellwert EUR 20) und sendet die übrigen 19 Paar Schuhe verbunden mit einer „Widerrufserklärung“ an V zurück; V behauptet, dass dieses Vorgehen von vornherein geplant war, was S bestreitet. Fünf Monate später verlangt V von S Erstattung der Versandkosten für die ursprüngliche Übersendung („Hinsendekosten“) aller Schuhe, hilfsweise die Versandkosten für die Übersendung eines Paars Schuhe.1059 S weigert sich: V müsse alle Kosten tragen – und ein etwaiger Anspruch sei im Übrigen verwirkt. Dem zur Entscheidung berufenen Gericht stellen sich in diesem Fall einige schwierige Fragen, insbesondere: Wer trägt im Widerrufsfall beim Verbrauchsgüterkauf die Hinsendekosten, wenn (wie hier) der Widerruf nur hinsichtlich eines Teils der Ware erfolgt – und die Teilrücksendung im Übrigen seitens des Käufers möglicherweise von vornherein geplant war? Bei Zweifeln obliegt im ersten Schritt dem V die Rechtslast, das Gericht davon zu überzeugen, dass ihm in einem solchen Fall (etwa wegen § 242 BGB) ein Anspruch auf die Hinsendekosten (oder einen bestimmten Teil davon) zusteht. Daneben obliegt ihm die Beweislast, dass auch die von ihm tatsächlich behaupteten Umstände, auf die er seinen Anspruch stützt, vorliegen. Im zweiten Schritt obläge sodann dem S die Rechtslast dafür, dass nicht verfristete Ansprüche unter Umständen beim Verbraucher-Unternehmer-Kauf durch Untätigkeit verwirkt werden können.

Die gerichtliche Entscheidung könnte in diesem Fall (gekürzt) lauten wie folgt: Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung von Versandkosten. (…) Ein solcher Anspruch ergibt sich auch nicht unmittelbar aus § 242 BGB. (…) Zugunsten des Klägers hat das Gericht unterstellt, dass der von dem Kläger behauptete Sachverhalt zutrifft. Insbesondere hat das Gericht unterstellt, dass das Vorgehen des Beklagten von vornherein geplant war und der Beklagte zu keinem Zeitpunkt beabsichtigte, von dem Kläger eine über den „Mindestbestellwert“ (§ 10 V-AGB) hinausgehende Menge Ware zu erwerben. Auch in diesem Fall kann aber aus Rechtsgründen nicht festgestellt werden, dass der anspruchsbegründende Tatbestand erfüllt ist. Das Gericht hegt in rechtlicher Hinsicht unüberwindbare Zweifel in der Frage, ob das Vorgehen des Beklagten gegen Treu und Glauben i.S.d. § 242 BGB verstieß. Zwar ist einerseits (…). Andererseits aber (…). Die Treuwidrigkeit zählt zum anspruchsbegründenden Tatbestand eines etwaigen Anspruchs unmittelbar aus § 242 BGB. Für den konkreten Inhalt anspruchsbegründender Voraussetzungen trägt nach allgemeinen Grundsätzen im Zweifelsfall derjenige die Rechtslast, der den Anspruch geltend macht. Gelingt es dem Anspruchsbehauptenden nicht, das Gericht von dem von ihm behaupteten Inhalt einer solchen anspruchsbegründenden Voraussetzung zu überzeugen, so gehen die Zweifel des Gerichts zu seinen Lasten, und die Tatbestandsvoraussetzung gilt als nicht erfüllt.

_____ 1059 Vgl. den etwas anders gelagerten Fall bei BGH, NJW 2010, 2651.

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(3) Fall 3 – Gaststättenlärm G betreibt eine Gaststätte in einem allgemeinen Wohngebiet der Stadt S. Bei mehreren Lärmmessungen wird festgestellt, dass G die maßgeblichen Immissionsrichtwerte nachts um 7 dB(A) überschreitet – was G allerdings bestreitet. Gestützt auf die Ermächtigungsgrundlage des § 5 I Nr. 3 BundesGastG verbietet S daher den Betrieb der Gaststätte zwischen 22.00 und 06.00 Uhr. Vor Gericht ficht G den entsprechenden Bescheid an. Sofern bereits die Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage in Frage stehen sollte, trägt im Zweifelsfall G die Rechtslast dafür, dass die Ermächtigungsgrundlage in den Schutzbereich eines bestimmten Spezialgrundrechts (etwa Art. 12 I GG, Art. 14 I GG) eingreift. Die Rechtslast dafür, dass der Eingriff gerechtfertigt ist, trägt S. Im Zweifelsfall obliegt es auch der S, das Gericht von den tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des per Verwaltungsakt titulierten „Anspruchs“ zu überzeugen. So trägt S etwa die Beweislast dafür, dass die behaupteten Immissionen tatsächlich vorliegen. Ebenso trägt S die Rechtslast dafür, dass eine vergleichsweise geringfügige Richtwertüberschreitung bereits unter den Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkung“ i.S.d. § 5 I Nr. 3 BundesGastG zu subsumieren ist – also nicht lediglich eine hinzunehmende geringfügige Belästigung darstellt.1060 Anschließend obliegt es G, im Zweifelsfall das Gericht von den tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen einer etwaigen Gegennorm zum Grundtatbestand des § 5 I Nr. 3 BundesGastG zu überzeugen. Streiten kann man sodann darüber, wer auf Rechtsfolgenseite die Beweis- und die Rechtslast bzgl. der fehlerfreien Ermessensausübung durch die Behörde trägt.1061 Ein rein normtheoretisches prozessuales Lastinstrument stößt hier jedenfalls an seine Grenzen. Nach hier vertretener Auffassung spricht manches dafür, diese Last grundsätzlich der Behörde aufzuerlegen (vgl. oben a aa (2)). Soweit allerdings im Rahmen der Ermessensentscheidung eine Grundrechtsprüfung durchzuführen ist, obläge es G auf Ebene von Beweislast und Rechtslast, einen Eingriff in den Schutzbereich des jeweiligen Spezialgrundrechts (etwa Art. 12 I GG) zu belegen; auf Rechtfertigungsebene trüge dann wiederum S die entsprechende Last.

Unterstellen wir, dass das Gericht das behördliche Verbot für rechtmäßig erachtet und die Klage der G daher abweisen würde, sofern der von S behauptete Sachverhalt zutrifft. Da der Sachverhalt teilweise von G bestritten wird, wäre in diesem Fall Beweis zu erheben – insbesondere über das Ausmaß der Lärmimmissionen. Unterstellen wir, dass im Rahmen dieser Beweiserhebung anstelle einer Richtwertüberschreitung um 7 dB(A) lediglich eine Richtwertüberschreitung um 3 dB(A) festgestellt wird. In diesem Fall könnte die gerichtliche Entscheidung nunmehr (gekürzt) lauten wie folgt:

_____ 1060 Vgl. hierzu Richers, JURA 2011, S. 139 ff. 1061 Zur Verdeutlichung: Im Rahmen Ihres Auswahlermessens hat die Behörde je nach konkreter Fallgestaltung u.a. Alternativmaßnahmen zu erwägen (Einpegelung einer zu lautstarken Musikanlage, Verringerung der zulässigen Gastplätze, passive Schallschutzmaßen etc.).

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Die gegen die Klägerin gerichtete Verfügung der Beklagten gemäß § 5 I Nr 3 BundesGastG ist rechtswidrig. (…) Über die von der Beklagten behaupteten Lärmemmissionen aus dem Betrieb der Klägerin hat das Gericht Beweis erhoben. Denn nach Auffassung des Gerichts, wäre eine Richtwertüberschreitung um die von der Beklagten behaupteten 7 dB(A) nicht als unerheblich einzustufen und wäre grundsätzlich geeignet, die Verfügung der Beklagten zu rechtfertigen. Diese Frage bedarf allerdings keiner Entscheidung. Denn im Rahmen der Beweiserhebung wurde lediglich eine Richtwertüberschreitung um 3 dB(A) festgestellt. Dieser Sachverhalt ist der gerichtlichen Entscheidung zugrunde zu legen. Es kann nicht festgestellt werden, dass in diesem Fall der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage des § 5 I BundesGastG erfüllt ist. Das Gericht hegt in rechtlicher Hinsicht unüberwindbare Zweifel in der Frage, ob eine Richtwertüberschreitung um 3 dB(A) im konkreten Fall hinreichend erheblich ist, um die Untersagungsverfügung der Beklagten zu rechtfertigen. Zwar ist einerseits (…). Andererseits aber (…). Die Erheblichkeit der Einwirkung zählt zu den „anspruchsbegründenden“ Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage des § 5 I BundesGastG. Für den konkreten Inhalt anspruchsbegründender Voraussetzungen trägt nach allgemeinen Grundsätzen im Zweifelsfall derjenige die Rechtslast, der den Anspruch geltend macht. Gelingt es dem Anspruchsbehauptenden nicht, das Gericht von dem von ihm behaupteten Inhalt einer solchen anspruchsbegründenden Voraussetzung zu überzeugen, so gehen die Zweifel des Gerichts zu seinen Lasten, und die Tatbestandsvoraussetzung gilt als nicht erfüllt.

dd) Problematische Einzelkonstellationen Bereits die vorstehenden Fallbeispiele zeigen: Nicht für jede Rechtsfrage kann das Instrument der Rechtslast ohne Weiteres den Weg weisen. Einige Konstellationen, die sich typischerweise als problematisch erweisen dürften, sollen im Folgenden kurz angesprochen werden. Zu den „Problemfällen“ zählen insbesondere Finalnormen (1), Hilfsnormen (2) und negative Tatbestandsmerkmale (3). Weniger Schwierigkeiten bereiten demgegenüber Behauptungskonfusion (4) sowie Beteiligten- und Behauptungsinflation (5).

(1) Anwendung von Finalnormen Herkömmlich sind Rechtsnormen Konditionalprogramme.1062 Bei Erfüllung eines bestimmten Tatbestandes (und nur dann), soll eine bestimmte Rechtsfolge eintreten:

_____ 1062 Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, S. 88, 227 ff.; siehe zum Ganzen auch Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 23 ff.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.1063

Nicht immer tritt dies so offen zu Tage wie im vorstehenden Beispiel. Doch auch Rechtsnormen, die nicht ausdrücklich im „Wenn-Dann-Schema“ verfasst sind, lassen sich zumeist ohne Schwierigkeiten entsprechend umformulieren. Ein weiteres Beispiel: Durch den Kaufvertrag wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen.1064

Leicht umformuliert lautet diese Norm: Wer mittels Kaufvertrag eine Sache verkauft, ist dazu verpflichtet, dem Käufer die Sache übergeben und ihm das Eigentum an der Sache verschaffen.

In den vergangenen Jahrzehnten ist der Gesetzgeber insbesondere im Öffentlichen Recht allerdings vermehrt dazu übergegangen, Konditionalprogramme durch Finalprogramme zu ersetzen.1065 An die Stelle klassischer Rechtsnormen mit Tatbestand und Rechtsfolge treten dabei bloße Zielvorgaben – man denke etwa an § 1 VI BauGB oder an § 6 I WHG. Soweit sich solche Finalprogramme in Konditionalprogramme umwandeln lassen, bleibt das Instrument der Rechtslast anwendbar. Andernfalls bleibt es bei dem bereits oben (unter bb (2)) konstatierten Befund, dass sich die Schärfe von Lastinstrumenten nicht mit der (oftmals gewollten) Unschärfe bei Ermessens- und sonstigen Abwägungsentscheidungen verträgt.

(2) Anwendung von Hilfsnormen Die meisten, aber nicht alle Rechtsnormen lassen sich entweder als Anspruchsoder als Gegennormen (Primärnormen) begreifen (siehe bereits oben B IV 3 b). Hinzu treten aber noch hier sogenannte Hilfsnormen (Sekundärnormen). Hilfsnormen sind – in negativer Abgrenzung – all diejenigen Vorschriften, die für sich genommen im konkreten Fall weder Ansprüche noch Einwendungen be-

_____ 1063 § 242 I StGB. 1064 § 433 I S. 1 BGB. 1065 Vgl. bereits oben 1 c cc.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

gründen. Klassische Hilfsnormen sind etwa Legaldefinitionen (bspw. § 90 BGB), Formerfordernisse (bspw. § 311b I S. 1, III BGB), Beweislast- (bspw. § 345 BGB) und Auslegungsregeln (bspw. § 329 BGB) sowie Zuständigkeits- (bspw. § 2 I S. 1 BauGB) und Kompetenznormen (bspw. Art. 70 GG); daneben können im Einzelfall auch eigentliche Anspruchs- und Gegennormen als Hilfsnormen für andere Primärnormen Bedeutung erlangen – etwa dann, wenn sich in ihnen auch eine Legaldefinition versteckt. Im Grundsatz lässt sich das Instrument der Rechtslast ohne Weiteres auch auf Hilfsnormen anwenden. Denn in der Regel „dient“ eine jede Hilfsnorm entweder einer Anspruchs- oder einer entsprechenden Gegennorm. Sie lässt sich jeweils dem Tatbestand der einen oder der anderen Primärnorm zuordnen: So ist etwa die Erfüllung des Formerfordernisses aus § 311b I S. 1 BGB grundsätzlich Voraussetzung eines gültigen Anspruchs auf Auflassung und Eintragung gemäß §§ 433 I, 873, 925 BGB (vgl. § 311b I S. 2 BGB); und die Einhaltung der verwaltungsrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften ist grundsätzlich Voraussetzung dafür, dass die Verwaltung im jeweiligen Sachbereich Eingriffsbefugnisse gegenüber einzelnen Bürgern beanspruchen darf. Diejenige Partei, die einer bestimmten Sekundärnorm zur Ergänzung ihrer Primärnorm im konkreten Fall bedarf, ist jeweils rechtsbelastet. Dabei kann selbstverständlich ein und dieselbe Sekundärnorm je nach Anspruchslage verschiedenen, zuweilen konträren Vorschriften „dienen“.1066 Probleme können allerdings dann entstehen, wenn bereits zweifelhaft ist, ob eine bestimmte Hilfsnorm eher zum Tatbestand einer Anspruchsnorm gehört – oder vielmehr einer jeweiligen Gegennorm zuzuordnen ist. Jedenfalls im Zivilrecht dürfte die Zuordnung einzelner Normen zu entweder einer Anspruchsnorm oder einer Gegennorm nur selten scheitern. Zu den Ausnahme dürften insbesondere kollisionsrechtliche Vorfragen im Internationalen Privatrecht zählen – sowie das etwas weitere Feld der Abgrenzung negativer Tatbestandsmerkmale einer bestimmten Primärnorm von den (positiven) Tatbestandsmerkmalen einer entsprechenden Gegennorm. Diese Abgrenzung bereitet auf Ebene der Rechtslast ähnlich viele Schwierigkeiten wie bereits hinsichtlich der Beweislast. Um ein spezifisches Hilfsnorm-Problem handelt es sich hier allerdings nicht – negative Tatbestandsmerkmale können auch in Einkleidung einer Primärnorm auftauchen (siehe dazu im Folgenden).

_____ 1066 Im Beispiel des § 311b I S. 1 BGB etwa gilt: Die Norm kann umgekehrt ebenso Hilfsnorm für einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung aus § 433 II BGB sein.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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(3) Negative Tatbestandsmerkmale und Gegennormen Idealerweise enthalten Tatbestände von Anspruchsnormen eine finite Anzahl positiver Tatbestandsmerkmale. Und ihnen gegenüber stehen Gegennormen mit einer finiten Anzahl ebenfalls positiver Tatbestandsmerkmale. Die Gegennormen mögen dann wiederum durch entsprechende Gegen-Gegennormen konterkariert werden usw. In diesem Idealzustand ist die Zuordnung der Beweislast nach dem Rosenberg-Modell sowie der Rechtslast nach dem hieran angelehnten formal-prozessualen Modell weitgehend unproblematisch. Zuordnungsprobleme entstehen aber in beiden Fällen (zur Beweislast vgl. oben B IV 3 b cc) dann, wenn der Gesetzgeber – womöglich noch in sprachlich unreflektierter Weise – negative anstelle positiver Tatbestandsmerkmale verwendet. So kann man beispielsweise zweifeln, ob die Geschäftsunfähigkeit i.S.d. Hilfsnorm des § 104 BGB negatives Tatbestandsmerkmal der jeweiligen Anspruchsnorm ist oder vielmehr den Tatbestand einer rechtsentstehungshindernden (Gegen-) Norm (mit-) konstituiert.

Auf Rechtslast- wie auf Beweislastebene existiert keine vollständig befriedigende Lösung dieses Abgrenzungsproblems. Zwei Lösungsansätze immerhin sind denkbar: die Qualifikation anhand materieller Sachgründe sowie eine tatsächliche Regel-Ausnahme-Lösung. Die sich zunächst aufdrängende Lösung ist ein weiteres Mal diejenige einer Entscheidung anhand materieller Sachgründe. Eine solche Lösung ist auf der Rechtslastebene aber nicht weniger unzuverlässig, nicht weniger rechtsunsicher als auf der Ebene der Beweislast. Im Übrigen dürften sich in einer Vielzahl von Fällen – man denke erneut nur an das Beispiel der Geschäftsunfähigkeit – kaum überzeugende Sachgründe finden lassen, um Beweis- und Rechtslast der einen oder der anderen Seite zuzuweisen. Deutlich zuverlässiger als eine uferlose Inblicknahme materieller Sachgründe ist das Abstellen auf ein tatsächliches Regel-Ausnahme-Verhältnis im jeweiligen konkreten Normsachverhalt. Am obigen Beispiel illustriert: Geschäftsunfähigkeit ist nach jeder Betrachtungsweise die tatsächliche Ausnahme im Rechtsleben.1067 Nach dieser Lösung handelt es sich bei § 104 BGB eindeutig um eine Gegennorm.1068

_____ 1067 Zu dieser konstituiert wiederum u.a. § 110 BGB (der sog. Taschengeldparagraph) eine Gegen-Ausnahme. 1068 Ebenso bereits Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 134.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Freilich sind tatsächliche Regel und Ausnahme keineswegs immer derart eindeutig festzustellen. In anderen Fällen dürfte es sich daher – entsprechend der Verfahrensweise in Beweislastfragen – empfehlen, die negativen Tatbestandsmerkmale als Bestandteile der jeweiligen Anspruchsnorm zu begreifen.

(4) Lastverteilung bei Behauptungskonfusion Ein „lehrbuchhafter“ Rechtsstreit kennt zwei Seiten: einen Anspruchsbehauptenden und seinen Gegner, mit einander diametral entgegengesetzten Interessen, Behauptungen und Begehren;1069 den beiden Seiten können, wie gezeigt, Anspruchs- bzw. Gegennormen zugeordnet werden, für deren tatsächliche und rechtliche Voraussetzungen sie im Zweifelsfall jeweils die Überzeugungslast zu tragen haben. In der Praxis tauchen allerdings gelegentlich auch Fälle auf, in denen beide Seiten hinsichtlich einer bestimmten Rechtsfrage die gleiche Behauptung vertreten. Vertreten vor Gericht zwei (oder mehr) Parteien in einer bestimmten (Vor-) Frage die gleiche Auffassung, so ist dies scheinbar gänzlich unproblematisch. Soweit aber die Parteien nicht dazu befugt sind, das Gericht durch einverständliches Handeln zu binden,1070 kann nach wie vor eine Konstellation entstehen, in der das Instrument der Rechtslast zum Tragen kommt.1071 Zur Verdeutlichung ein weiteres Fallbeispiel: Der leicht angetrunkene Fahrradfahrer F radelt auf einer vielbefahrenen Straße. Als er von dem ebenfalls leicht angetrunkenen Halter und Fahrer eines Kraftfahrzeugs (H) überholt wird, gerät er aus dem Gleichgewicht, stürzt und verletzt sich schwer. Vor Gericht klagt F gegen H auf Schadensersatz aus § 7 I StVG. Beide Parteien vertreten dabei die Rechtsauffassung, der Sturz des F sei trotz der leichten Alkoholisierung der Parteien jedenfalls nicht „fahrlässig“ zustande gekommen, sondern beruhe allein auf der ihren Fahrzeugen inhärenten Betriebsgefahr (z.B., weil sich beide ihres Versicherungsschutzes nicht begeben

_____ 1069 Zur terminologischen Klarstellung: Streitbeteiligte äußern vor Gericht ein bestimmtes Begehren bzw. einen bestimmten Antrag (z.B. „Zahlung einer Geldsumme“), das sie mit bestimmten Behauptungen abstützen (z.B. „Anspruch aus Kaufvertrag“ oder „Anspruch aus Darlehensvertrag“), denen wiederum bestimmte Interessen zugrunde liegen (z.B. schlicht „Erhalt einer Geldsumme“ oder aber „Klärung der Rechtslage“ oder auch „wirtschaftliche Schädigung des Gegners“). Gerichtliche Entscheidungen beziehen sich – unter Würdigung der Interessenlage, die den einzelnen tatsächlichen wie rechtlichen Behauptungen zugrundeliegen, – allein auf das jeweilige Begehren. 1070 Siehe umfassend Schlosser, Einverständliches Parteihandeln, 1968, passim. 1071 Vgl. Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 127 f.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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möchten)1072. Der Richter zweifelt aber bis zuletzt daran, ob nicht die leichte Alkoholisierung der einen und/oder der anderen Partei bereits für sich genommen genügt, um (etwa im Rahmen des § 823 I BGB anstelle des § 7 I StVG) rechtlich einen Fahrlässigkeitsvorwurf zu begründen.

Vermag der Richter seine zweifelnde Unentschiedenheit nicht zu überwinden, kommt es nun trotz der Behauptungskonfusion zu einer Lastentscheidung: Dabei wäre „zulasten“ des F die leichte Alkoholisierung des H als nicht fahrlässigkeitsbegründend einzustufen.

In der Rechtsanwendung wird durch Behauptungskonfusion eine Lastentscheidung also nicht verhindert. Wenn diese Entscheidung dann (wenigstens scheinbar) unbefriedigend ausfällt, so beruht dies nicht auf den jeweiligen Lastinstrumenten. Vielmehr wird die Erkenntnis der richtigen Entscheidung schon im Ausgangspunkt und allein dadurch erschwert, dass die Parteien sich in einer bestimmten Frage kollusiv dem Widerstreit verweigern.

(5) Lastverteilung bei Beteiligten- und Behauptungsinflation Tauchen vor Gericht in einer Rechtsfrage mehr als zwei Standpunkte auf, so scheint eine „digitale“ Lastentscheidung prima facie erschwert. Allerdings muss hier zwischen drei denkbaren Konstellationen unterschieden werden: der bloßen Inflation von Beteiligten einerseits, der Inflation von Behauptungen und Entscheidungsoptionen andererseits – und dem Zusammenfallen von Beteiligten- und Behauptungsinflation. Regelmäßig völlig unproblematisch ist nämlich der Fall, in dem von drei oder mehr Streitbeteiligten lediglich zwei einander gegenüberstehende tatsächliche und/oder rechtliche Auffassungen vertreten werden; dann herrscht gar keine Inflation von Behauptungen (sondern nur: von Beteiligten) – es bleibt also beim klassischen Widerstreit zweier „Lager“, und im Zweifelsfall kann eine Rechtslastentscheidung ergehen. Etwas anders liegt die Sache bei einer Inflation von Entscheidungsoptionen. Es ist vorstellbar, dass in einem Fall mehr als zwei Auslegungs- oder Entscheidungsvarianten zur Verfügung stehen, die aus Sicht des Gerichts alle gleich gut vertretbar sind. Handelt es sich bei der zweifelhaften Vorschrift im konkreten

_____ 1072 Die Beteiligung der Versicherungsgesellschaft(en) an diesem Rechtsstreit soll hier zunächst außer Betracht bleiben. Zu entsprechenden Mehrbehauptungskonstellationen siehe noch im Folgenden.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Anwendungsfall um eine Anspruchsnorm, so dürfte hier diejenige Rechtsanwendung zu wählen sein, die dem Anspruchsbehauptenden am wenigsten günstig ist; handelt es sich um eine Gegennorm, wäre umgekehrt die dem Gegner ungünstigste Variante zu wählen. Diese konsequente Anwendung des Günstigkeitsprinzips verläuft dann auch hier weitgehend parallel zu den Grundregeln der Beweislastverteilung, dort beispielsweise: Der beweisbelastete A behauptet, sein Schreiben sei dem Gegner B (in jeder Hinsicht fristgemäß) am 1.1.2012 zugegangen, spätestens aber (fristgemäß hinsichtlich eines Teils seines Begehrens) am 15.1.2012. B hingegen behauptet, das Schreiben sei (in keiner Hinsicht fristgemäß) erst am 30.1.2012 zugegangen. Wenn der Richter alle drei Varianten für gleich wahrscheinlich hält, wird er denjenigen Geschehensablauf zugrunde legen, der dem Beweisbelasteten am wenigsten günstig ist (Zugang am 30.1.2012).

Keine Lösung liefert das Rechtslastinstrument lediglich dort, wo Behauptungsund Beteiligteninflation in einem Rechtsstreit zusammenkommen – wo also mehr als zwei Beteiligte in einem Rechtsstreit sich mit mehr als zwei (gleich gut vertretbaren) Auslegungs- bzw. Entscheidungsvarianten für die anzuwendende Rechtsnorm gegenüberstehen. Solche Fälle dürften selten sein, denkbar sind sie aber beispielsweise bei bestimmten Mehrpersonenkonstellationen des Bereicherungsrechts.1073

c) Zwischenergebnis Materielle Zweifelsregeln sind – in der Rechtsanwendung ebenso wie auf Tatbestandsebene – jedenfalls als Maßgaben einer unmittelbaren Anwendung unpraktikabel und nicht sachlich gerechtfertigt: Solche Lastregeln führen zu weniger statt zu mehr Rechtssicherheit; sie bevorzugen einseitig bestimmte Rechtsprinzipien gegenüber anderen, sind mithin auch materiell ungerecht. Demgegenüber wird hier eine formal-prozessuale Lösung vorgeschlagen, die sich eng an der klassischen Vorgehensweise bei der Überwindung von Zweifeln auf Tatbestandsebene orientiert und lediglich im Öffentlichen Recht teilweise durch grundrechtliche Erwägungen materiell aufgeladen wird. Nicht jeder Fall wird sich anhand dieses Instruments im Zweifelsfall lösen lassen. Ähnlich wie dies auch im Bereich der Beweislast der Fall ist, existieren eine Reihe problematischer Einzelkonstellationen, in denen die Rechtslast nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten ermittelbar ist. Allerdings: Streitigkeiten über die Beweislast sind selbst in Zivilverfahren nicht sehr häu-

_____ 1073 Vgl. hierzu etwa Habermeier, AcP 193 (1993), S. 364 ff.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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fig.1074 Dies dürfte nach einer ersten Phase der Gewöhnung in der Praxis auch auf das Instrument der Rechtslast zutreffen.

3. Mögliche Einwände Die Rechtswissenschaft ist eine konservative Wissenschaft.1075 Insofern wäre es geradezu verwunderlich, wenn der Vorschlag einer Neuerung – zumal einer Neuerung grundsätzlich-methodischer Art – nicht zunächst auf zahlreiche Einwände stieße. Ich möchte versuchen, einer möglichst großen Zahl denkbarer Einwände wenigstens überblicksweise vorab zu begegnen. Die denkbaren auszuräumenden Einwände sind dabei, natürlich mit Überschneidungen, sowohl rechtsdogmatischer (a) als auch rechtspolitischer Art (b). Als rechtsdogmatische Einwände seien hierbei solche Bedenken bezeichnet, die auf Grundlage des geltenden Gesetzesrechts zur Unzulässigkeit des Rechtslastinstruments führen könnten; rechtspolitischer Art demgegenüber sind hier diejenigen Einwände, die sich auf nachteilige tatsächliche oder rechtliche Folgen und Begleitumstände einer Verwendung des Rechtslastinstruments beziehen und die daher seinen Einsatz – womöglich auch de lege ferenda – als nicht opportun erscheinen lassen.

a) Rechtsdogmatische Einwände Für denjenigen, gegen den sich eine gerichtliche Lastentscheidung richtet – sei es eine Entscheidung nach Beweislast oder eine Entscheidung nach Rechtslast – ist diese Entscheidung in erster Linie, ganz praktisch: belastend. Belastende Entscheidungen einer staatlichen Stelle bedürfen im grundgesetzlichen Ordnungsrahmen grundsätzlich immer einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung (vgl. bereits oben 2 a). Entsprechenden Einwänden muss sich daher auch das Instrument der Rechtslast stellen. Da aber die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ihrerseits davon abhängt, welche praktische Beschwernis und welchen Ertrag die staatliche Maßnahme überhaupt mit sich bringt, sei hinsichtlich dieses rechtsdogmatischen „Generaleinwands“ auf eine spätere Stelle verwiesen (siehe unter III.). Zuvor sollen hier nur jene rechtsdogmatischen Einwände abgehandelt werden, die gewissermaßen „für sich“ stehen und auf deren Grundlage das Instru-

_____

1074 Hartmann, in: Baumbach, ZPO Kommentar, 2014, Anh § 286 Rn. 4. 1075 Siehe etwa Funk, in: Killias/Rehbinder, Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie, 1985, S. 43, 44; sowie Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, S. 110.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

ment der Rechtslast angreifbar sein könnte. Hierzu zählt in verfassungsrechtlicher Hinsicht zuvörderst der mögliche Einwand der Rechtsverweigerung (aa). Einfachrechtlich lassen sich mögliche Bedenken vor allem auf einen Umkehrschluss zu § 293 ZPO stützen (bb). Und schließlich lässt sich fragen, ob dem geltenden Recht – vielleicht sogar jedem geltenden Recht – nicht auch ein struktureller Unterschied zwischen Sachverhaltsfeststellung und Rechtsanwendung immanent ist (cc).

aa) Rechtsverweigerung An erster Stelle ist also einem zuweilen anzutreffenden1076 Irrglauben entgegenzutreten: dem Glauben nämlich, dass die Annahme eines non liquet in der Auslegung des Rechts unweigerlich zur „Rechtsverweigerung“ des Richters führen würde und damit verfassungsrechtlich verboten wäre. Träfe dies zu, so wäre jede methodische Arbeit (auch die hier vorliegende), die von der Möglichkeit eines ebensolchen non liquet ausgeht, zum Scheitern verurteilt. Das Argument der „Rechtsverweigerung“ beruht jedoch auf einer Fehlvorstellung.1077 Nach dieser Vorstellung führt offenbar ein jedes non liquet zu einem Scheitern des Prozesses als Ganzem, zu einer hung jury1078, wenn man so will. Demgegenüber ist festzuhalten, dass lastgeregelte non-liquet-Situationen – auf Tatsachenebene1079 ebenso wie auf Rechtsanwendungsebene – ausnahmslos zu einer gerichtlichen Entscheidung führen: Der Richter „vertagt“ den Prozess nicht auf unbestimmte Zeit, sondern er trifft eine Entscheidung. Dabei fällt diese Entscheidung regelmäßig zu Ungunsten desjenigen aus, dem es nicht gelingt, bestimmte Tatsachen zu beweisen (Tatbestandsebene) beziehungsweise das Gericht von einer ihm günstigen Rechtsauffassung zu überzeugen (Rechtsanwendungssebene). Dem fehlenden Anspruch des Klägers korrespondiert auf Beklagtenseite notwendig die Freiheit von einem ebensolchen Anspruch, der fehlenden Einrede des Beklagten gegenüber einem Anspruch des Klägers korrespondiert die Einredefreiheit des Anspruchs auf Klägerseite usw. Zusammenfassend: Eine (behaup-

_____

1076 Vgl. etwa Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, S. 401, 491; Schumann, ZZP 81 (1968), S. 79 ff.; wohl auch Kirchhof, NJW 1986, S. 2275, 2280; sowie Sendler, NJW 1987, S. 3240 ff. 1077 Im Ergebnis ebenso Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 116 ff. 1078 Zu einer hung jury kommt es im angelsächsischen Jury-System dann, wenn unter den Geschworenen das erforderliche Quorum für eine Entscheidung (meist Einstimmigkeit) nicht erzielt werden kann. Genau besehen handelt es sich allerdings auch bei der hung jury nicht um einen Fall der Rechtsverweigerung, sondern eher um einen (verfahrensrechtlichen) Sonderfall des Grundsatzes in dubio pro reo. 1079 Hierzu Laumen, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2010, § 286 Rn. 47.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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tete) „Lücke“ im Tatbestand oder im Recht führt niemals zu einer Lücke in der Rechtsprechung; sie führt lediglich zu einer Prozessniederlage der Seite, zu deren Lasten die Lücke geht.1080

bb) Nochmals: § 293 ZPO Nicht völlig von der Hand zu weisen sind demgegenüber – de lege lata – Bedenken, die sich im Wege eines Erst-recht-Schlusses (1) oder aber eines Umkehrschlusses (2) auf die Regelung zur Ermittlung fremden Rechts nach § 293 ZPO (siehe bereits oben 1 c dd) stützen lassen.

(1) Erst-recht-Schluss aus § 293 ZPO Wenn im Rahmen des § 293 ZPO für die Ermittlung des Rechts anderer Staaten der Grundsatz iura novit curia gelten soll, so könnte man – argumentum a fortiori – daraus schließen, selbiges müsse im übrigen Prozessrecht notwendig und erst recht gelten. Ungeachtet der Tatsache, dass Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte dafür nichts hergeben, geht die heute wohl h.M. davon aus, auch im Rahmen des § 293 ZPO gelte uneingeschränkt der Grundsatz iura novit curia; (Rechts-) Überzeugungslastentscheidungen im Geltungsbereich dieser Norm seien daher unzulässig.1081 Bei Nichtfeststellbarkeit eines ausländisches Rechtssatzes1082 führt dies entweder zur Anwendung der lex fori (die durch die Verweisung im EGBGB gerade nicht zur Geltung gelangen soll) oder zum Rückgriff auf ein mehr oder minder verwandtes „Ersatzrecht“ aus demselben Rechtskreis. Bedenkt man allerdings, wie erheblich selbst das deutsche vom nahe verwandten österreichischen Zivilrecht bisweilen abweicht, überzeugt es eher, den Parteien zumindest eine wesentliche Mitwirkungspflicht bei der Ermittlung des

_____ 1080 Für die kontinentaleuropäischen Juristen des 19. Jahrhunderts war dies noch weitgehend selbstverständlich; erst im späteren Verlauf ist diese Klarheit teilweise abhanden gekommen. Siehe zum Ganzen eingehend Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, 2001, S. 629 insbes., m.w.N.; sowie dezidiert Christensen, NJW 1989, S. 3194, 3195 f. Zur dogmatischen Figur des Rechtsverweigerungsverbots vgl. ferner bereits die weiteren Nachweise in Fn. 147. 1081 Besonders dezidiert Schütze, in: Wieczorek/Schütze, GK-ZPO, 3. Aufl. 2008, § 293; aus der Rspr. siehe insbes. BGHZ 120, 334, 342; BGH, NJW 1982, 1215; anders noch BGHZ 22, 24; a.A. wohl auch Grosch, Rechtswandel und Rechtskraft, 2002, S. 183 ff.; sowie aus der älteren Literatur etwa Hellwig, System des deutschen Zivilprozessrechts, Bd. 1, 2. Neudr. d. Ausg. Leipzig 1912, 1980, S. 677; Zitelmann, Internationales Privatrecht, Bd. 1, 1897, S. 289. 1082 Zu diesem Problem siehe Schütze, in: Wieczorek/Schütze, GK-ZPO, 3. Aufl. 2008, § 293 Rn. 33 ff.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

eigentlich anwendbaren fremden Rechts aufzuerlegen.1083 Die Missachtung dieser Obliegenheit führt dann analog den allgemeinen Grundsätzen der Beweislast grundsätzlich zur Nichtanwendung der jeweils behaupteten und nicht feststellbaren Norm des ausländischen Rechts.1084 Diese Lösung für ein non liquet bei der Ermittlung fremden Rechts kommt faktisch einer Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Beweislast gleich. Jedenfalls in dieser Lesart steht § 293 ZPO daher auch dem Instrument der Rechtslast nicht auf Grund eines argumentum a fortiori im Wege.

(2) Umkehrschluss aus § 293 ZPO Allerdings könnte aus § 293 ZPO auch im Wege eines Umkehrschlusses die Unzulässigkeit eines Lastinstruments in der Rechtsanwendung gefolgert werden. Denn wenn nach dieser Vorschrift ausländisches Recht unter Umständen des „Beweises“ bedarf, so mag man daraus umgekehrt schließen: Für inländisches Recht gilt ausnahmslos iura novit curia.1085 Entsprechend stellte der BGH im Jahr 1966 fest, es sei unzulässig, die Kosten für die Ermittlung des Rechts durch Sachverständigengutachten auf die Parteien abzuwälzen, „… soweit es sich um inländisches geschriebenes Recht handelt. Dessen Ermittlung obliegt dem Gericht, ohne dass es einer Mitwirkung der Parteien bedarf. Nachforschungen, die es in dieser Richtung anstellt, gehören zu den ihm amtlich übertragenen Aufgaben, die es an Hand aller ihm zugänglichen Aufgaben ohnehin zu erfüllen hat. Ein Beweis i.S. der zivilprozessualen Vorschriften ist insoweit nicht zu erbringen“.1086

In jüngerer Zeit scheint der BGH seine Rechtsprechung zwar der sich wandelnden Rechtswirklichkeit (vgl. hierzu noch näher unter b ff sowie 4 d) angepasst zu haben. In diese Richtung lässt sich jedenfalls eine Äußerung aus dem Jahr 1998 deuten, wonach das Berufungsgericht sich bei der Beurteilung einer schwierigen steuerrechtlichen Frage der „Hilfe eines Steuerfachmanns“ bedienen durfte.1087 Als Abrücken vom Grundsatz iura novit curia lässt sich dies aber wohl (noch) nicht deuten.

_____ 1083 1084 1085 1086 1087

Siehe BGH, NJW 1976, 1581. BGHZ 22, 24. So etwa Grosch, Rechtswandel und Rechtskraft, 2002, S. 285 ff., m.w.N. BGH, NJW 1966, 1364. BGHZ 140, 111, 113.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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Dasselbe dürfte auch für die Rechtsprechung des BVerfG gelten. So stellt das Gericht in einem Kammerbeschluss aus dem Jahr 1992 fest, es „… gilt im deutschen Recht der Grundsatz „iura novit curia“, so dass für die Rechtsauslegung und -anwendung allein das Gericht zuständig ist und es auf den Vortrag der Prozessbeteiligten nicht ankommt.“1088

Im selben Beschluss betont das BVerfG zwar auch, von Verfassung wegen müsse teilweise von dieser „prozessrechtlichen Rollenverteilung“ abgewichen werden, um einen Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs nach Art. 103 I GG zu vermeiden.1089 Die Geltung des Grundsatzes iura novit curia als solche stellt das Gericht damit aber nicht in Frage. Überzeugend ist diese Rechtsprechung nicht in jeder Hinsicht. Denn die rechtsprechende Gewalt darf als freiheitlich-demokratische ohnehin nicht nach dem obrigkeitsstaatlich gedachten Satz iura novit curia so handeln, „als sei es ihr allein vorbehalten zu erwägen, was rechtens ist“1090. Dies hat im Ausgangspunkt auch das BVerfG in dem vorstehend beschriebenen Beschluss festgestellt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Anwaltshaftung trägt dem bereits seit längerem Rechnung (siehe noch unter 4 d dd). Damit aber drängt sich eine noch weitergehende Einschränkung des Grundsatzes iura novit curia auf. Die Vorschrift des § 293 ZPO steht dem jedenfalls nicht ausdrücklich entgegen. Denn beim Instrument der Rechtslast als Einschränkung des Satzes von der allumfassenden Rechtskenntnis des Gerichts geht es – anders als bei § 293 ZPO – gar nicht um die Ermittlung von Rechtsvorschriften, sondern lediglich um deren Auslegung im Zweifelsfall.1091 Einem unmittelbaren, zwingenden Umkehrschluss aus § 293 ZPO fehlt mithin die Grundlage. Überdies handelt es sich bei § 293 ZPO auch nicht um eine zentrale Vorschrift der ZPO, deren Leitgedanken als für das gesamte Verfahrensrecht verbindlich prägend anzusehen wären.

cc) Struktureller Unterschied zwischen Sachverhaltsfeststellung und Rechtsanwendung? Gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass der Vorschrift des § 293 ZPO die Vorstellung eines strukturellen Unterschiedes zwischen Sachverhaltsfeststellung

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1088 BVerfG, NJW-RR 1993, 383. 1089 Siehe ibid. 1090 Arndt, NJW 1959, S. 1297, 1299; siehe auch Grosch, Rechtswandel und Rechtskraft, 2002, S. 294, m.w.N. 1091 Siehe Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 116, der den Grundsatz iura novit curia darauf beschränken möchte, dass das Gericht zur Ermittlung der anzuwendenden Rechtsnormen „von Amts wegen“ verpflichtet sei.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

einerseits und Rechtsanwendung andererseits zugrunde zu liegen scheint. Dies spricht aber lediglich dafür – wenigstens aus Gründen der Klarstellung – das Instrument der Rechtslast ausdrücklich positivrechtlich zu verankern. Ein Argument gegen das Instrument der Rechtslast auch de lege ferenda ist es hingegen nicht. Denn die Vorstellung, in der Welt der Tatsachenfeststellung gälten andere Gesetzlichkeiten als in der Welt der Rechtsfeststellung, ist unzutreffend.1092 Einen strukturellen Unterschied könnte man zwar darin erblicken, dass es bei der Feststellung eines Sachverhalts in der „Lebenswirklichkeit“ um reale Tatsachen, um „Geschehenes oder Bestehendes“ gehe, wohingegen bei der Auslegung nicht weiter begründbare Wertungen letztlich den Ausschlag gäben. Die Sachverhaltsfeststellung ließe sich demnach allein durch sinnliche Wahrnehmung und logisches Schließen bewerkstelligen; für die Auslegung von Normen wäre demgegenüber ein weiteres Element entscheidend, so etwas wie „moralische Wertungskompetenz“. Mit anderen Worten: Schauen und seine Schlüsse aus dem Gesehenen ziehen kann jeder (auch die Parteien und deren Vertreter) – Werten können nur a selected few, bei Gericht nur der Richter. Und deshalb darf die Last des Zweifels zwar in der Feststellung des Sachverhalts, nicht aber in der Feststellung des geltenden Rechts auf die Parteien verteilt werden. Dieser Vorstellung ist entgegenzutreten. „Unhintergehbares“ Werten ist keine solide Grundlage für gerichtliches Entscheiden.1093 Ebenso wenig überzeugend scheint es auch, die Existenz von Ungewissheitsmomenten im Recht durch einen rhetorischen Kniff vom Malus zum Bonus um zu deklarieren – etwa durch einen Lobpreis auf das „Wagnis“ der Gerechtigkeit1094 in solchen Fällen. Gewiss ist es aus Sicht des Richters zuweilen eine schöne Sache, wenn sein Beruf teil hat „an der Lebendigkeit des Gestaltens“1095. Bei den Parteien eines Rechtsstreits jedoch dürfte der Wunsch nach richterlichem thrill eher eine untergeordnete Rolle spielen: Ist die eine materiell gerechte Lösung eines Streits nicht erkennbar, so erwarten die Normbetroffenen vom Recht nicht Wagnis und Lebendigkeit – sondern, ganz im Gegenteil, in erster Linie Klarheit (vgl. oben B I 2 b). Solche Klarheit durch Lastverteilung für den Zweifelsfall lässt sich im Bereich der Rechtsanwendung aber ebenso herstellen wie im Bereich der Tatsachenfeststellung. Zwischen Tatsachen und Normen besteht insofern kein rele-

_____ 1092 Siehe Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 114 ff., 119 ff., m.w.N. 1093 Siehe Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, 1999, S. 476 f.; sowie bereits oben B III 2 und 4 b. 1094 Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, S. 14. 1095 Ibid., S. 15.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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vanter Unterschied – weder in tatsächlicher noch in semantischer Hinsicht. Die Unterscheidung zwischen Tatsachenfrage und Rechtsfrage, zwischen quaestio facti und quaestio iuris, entspringt mithin eher der Dezision, denn einer zwingend logischen Herleitung.1096 Denn Normen im Sinne von Verhaltensaufforderungen („Peter, schließ die Tür!“) sind zwar keine Tatsachen und können auch nicht als solche formuliert werden. Normsätze hingegen („Peter soll die Tür schließen.“) können auch als Aussagesätze formuliert werden („Es ist so, dass Peter die Tür schließen soll.“) und sind damit wie sonstige Tatsachen wahrheitsfähig, mithin dem „Beweis“ zugänglich.1097 Es ist daher wohl kein Zufall, wenn auch der BGH nicht strikt zwischen Tatfrage und Rechtsfrage trennt.1098

b) Rechtspolitische Einwände Aus rechtspolitischer Warte lässt sich eine ganze Reihe von Überlegungen anstellen, die dem Instrument der Rechtslast möglicherweise entgegengehalten werden könnten. Dazu zählen nicht nur Erwägungen zu Präjudizwirkung (aa), Rechtfortbildung (bb) und Ergebnisdivergenzen (cc) in rechtslastgeregelten Verfahren. Wesentlich grundsätzlicherer Natur sind etwaige Einwände, die sich auf ein Zuviel (dd) oder ein Zuwenig (ee) an rechtspolitischer Grundhaltung beziehen. Ernst zu nehmen sind aber vor allem mögliche Sorgen im Hinblick auf Anforderungen und Rückwirkungen auf Anwaltschaft (ff) und Gerichte (gg).

aa) Präjudizwirkung rechtslastgeregelter Verfahren? Verglichen mit den case-law-zentrierten angelsächsischen Rechtssystemen spielen Präjudizien im kontinentaleuropäischen Rechtsdenken zwar eine weniger bedeutende Rolle. Die Praxisrelevanz obergerichtlicher und erst recht höchstrichterlicher Einzelfallentscheidungen für die künftige Entscheidungspraxis in ähnlich gelagerten Fällen darf gleichwohl nicht unterschätzt werden. Die (fakti-

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1096 Siehe Nobili, Richterliche Überzeugungsbildung, 2001, S. 106 ff., der in seiner instruktiven historischen Darstellung auch auf die „extremen Schwierigkeiten bei der Durchführung dieser Unterscheidung“ hinweist (ibid., S. 107). 1097 Siehe zum Ganzen eingehend Heidemann, Die Norm als Tatsache, 1997, S. 324 ff.; sowie nochmals Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 114 ff., m.w.N. 1098 Vgl. BGHZ 14, 163, 167; 31, 295, 306; siehe auch Wenzel, in: Rauscher/Wax/Wenzel, MüKo ZPO, Bd. 1, 3. Aufl. 2008, § 546 Rn. 3, ausführlicher Rn. 9 f. (zur Auslegung von Willenserklärungen und Vereinbarungen), zu Inkonsistenzen in der Rspr. Rn. 13; Ball, in: Musielak, ZPO Kommentar, 9. Aufl. 2012, § 546 Rn. 3; sowie, zurückhaltender, Kayser, in: Saenger, ZPO Handkommentar, 4. Aufl. 2011, § 546 Rn. 7.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

sche) Bindungswirkung von Präjudizien reicht weit über die gesetzlich geregelten Fälle hinaus.1099 Mithin ist auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Präjudiz und Rechtslast nicht nur von rein akademischem Interesse. Gegen das Instrument der Rechtslast könnte eingewendet werden, dass Rechtslastentscheidungen in späteren Fällen andere Gerichte rechtlich oder wenigstens faktisch binden könnten. Zur Veranschaulichung der möglichen Problemlagen ein standardisiertes Beispiel: Teil 1: Die Parteien A und B streiten darüber, ob A gegen B einen Leistungsanspruch hat. A trägt die Rechtslast dafür, dass die Primärnorm x den von A behaupteten Anspruch umfasst. Das in zweiter Instanz zuständige OLG1 bleibt im Zweifel darüber, ob die Norm x einen entsprechenden Anspruch umfasst – und entscheidet daher nach Rechtslast. A verliert den Prozess, das Urteil wird rechtskräftig. Teil 2: Wenig später streiten die Parteien C und D vor dem OLG2 eines anderen Bundeslandes in einem wesentlich gleich gelagerten Fall ebenfalls darüber, ob die Primärnorm x die in bereits Teil 1 in Frage stehende Rechtsfolge umfasst.

Bei der Frage zum Verhältnis zwischen Präjudiz und Rechtslast geht es also darum, wie sich die Rechtslast-Entscheidung eines Gerichts (hier: OLG1) auf die Entscheidung von später zur selben Rechtsfrage entscheidenden anderen Gerichten (hier: OLG2) auswirkt. Bei der Antwort ist zunächst erneut zwischen rechtlicher und faktischer Bindungswirkung zu differenzieren: Mit Blick auf rechtliche „Bindung“ geht es insbesondere um die Frage, ob das OLG2 zur Zulassung der Revision nach § 543 II S. 1 Nr. 2 ZPO verpflichtet ist, wenn es – anders als das OLG1 – nicht nach Rechtslast entscheidet; dies ist zu bejahen – denn Meinungsverschiedenheiten über die Anwendung der Rechtslast in einer bestimmten Rechtsfrage führen ebenso zur Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung wie herkömmliche interjustizielle Meinungsverschiedenheiten. Hinsichtlich „nur“ faktischer Bindungswirkung werden sich die Erfahrungen zu nichtrechtslastgeregelten Verfahren ebenfalls weitgehend übertragen lassen; denn natürlich werden die Zweifel eines Gerichts die Haltung eines später zur selben Frage entscheidenden anderen Gerichts in vielen Fällen beeinflussen. Rechtslastentscheidungen kommt mithin im Wesentlichen die gleiche präjudizielle Wirkung zu wie sonstigen gerichtlichen Entscheidungen. Besondere Schwierigkeiten für die justizielle Praxis dürften sich daraus aber nicht ergeben. Allenfalls könnte die Tatsache, dass den Gerichten eine zusätzliche Entscheidungsvariante eröffnet wird – nämlich die Entscheidung nach Rechtslast – dazu

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1099 Siehe zum Ganzen bereits oben 1 d und e aa.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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führen, dass die Zahl der Zulassungsrevisionen i.S.d. § 543 II S. 1 Nr. 2 ZPO leicht ansteigt.

bb) Stillstand bei schwierigen Fragen? Lücken und Unklarheiten im Gesetzestext sind regelmäßig unbeabsichtigt. Zuweilen freilich lässt der Gesetzgeber Tatbestand und/oder Rechtsfolge einer Norm bewusst unbestimmt – auf dass Rechtsprechung und Lehre iterativ „am Fall“ zu sachgerechten Lösungen finden mögen. Unter diesen Umständen kann das Instrument der Rechtslast kontraproduktiv wirken. Solange die Gerichte Rechtslastentscheidungen nur als ultima ratio gebrauchen, ist diese Gefahr gering. Nachteile werden dann außerdem zumindest aufgewogen durch erhöhte Disziplinierungswirkung gegenüber dem Gesetzgeber, durch stete Mahnung, wesentliche Fragen auch selbst zu entscheiden.1100 Sofern jedoch, was kaum zu erwarten ist (vgl. unten ff, gg), vom Instrument der Rechtslast übermäßig Gebrauch gemacht wird, droht Stillstand auch und gerade in rechtspolitisch besonders brisanten Fragen – und damit letztlich doch wieder Rechtsunsicherheit. Hier zeigt sich: Eine „Flucht in die Rechtslast“ wäre mindestens ebenso problematisch wie eine (in Anwaltskreisen zuweilen kolportierte) richterliche Flucht in die Beweislast. Oder, mit anderen Worten, – die Rechtslast ersetzt den Würfel, nicht das gründliche Nachdenken. Stillstand bei schwierigen Rechtsfragen mag man außerdem noch unter einem anderen Gesichtspunkt befürchten: Wenn und soweit das Instrument der Rechtslast die Parteien dazu befähigt, die Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits vorab besser einzuschätzen, so könnte dies dazu führen, dass sich die Zahl gerichtlicher Entscheidungen insgesamt verringert. Dies wäre im Kern gewiss zu begrüßen. Unerwünschte Nebenfolge jedoch könnte sein, dass schwierige (d.h.: ggf. rechtslastfähige) Rechtsfragen länger offen blieben. Sehr wahrscheinlich ist aber auch diese Entwicklung nicht: Denn erstens dürfte die Möglichkeit von Rechtslastentscheidungen kaum dazu führen, dass die Rechtsbetroffenen in ihrer Mehrheit auf den Gang zu Gericht verzichten.1101 Und zweitens ist neben der eben in Frage gestellten Prämisse auch die zuvor behauptete Folge angreifbar: Gewiss hat die Rechtsprechung oftmals unbestimmte Rechtsbegriffe und

_____ 1100 Vgl. grundlegend BVerfGE 33, 125. 1101 Dies ist nicht zuletzt deshalb unwahrscheinlich, weil es – neben dem Idealtypus des rational kalkulierenden homo oeconomicus – immer auch hochemotionale „Prozesshanseln“ und Berufsoptimisten geben wird.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

schwierige Fallkonstellationen klären können;1102 ähnlich oft haben aber die Entscheidungen eines oder mehrerer Gerichte rechtliche Unklarheiten über den Geltungsbereich einzelner Normen oder die Regelung einzelner Sachgebiete eher befördert denn beseitigt.1103 Insofern bleibt festzuhalten: Soweit das Instrument der Rechtslast mit der gebotenen Zurückhaltung – d.h. nur als ultima ratio – angewandt wird, sind iterative „Rechtsklärung“ und Rechtsfortbildung nicht gefährdet.

cc) Ergebnisdivergenzen Je nach Fallkonstellation kann bei einer vornehmlich prozessual-formalen Lastregel die Rechtslast derart unterschiedlich verteilt sein, dass es zu „gespaltenen“ Auslegungsergebnissen kommt (1). Zuweilen kann diese Spaltung sogar im Rahmen eines einzigen Gerichtsfalls auftreten (2).

(1) Fallweise Ergebnisdivergenzen Eigentliche Anspruchsnormen können zuweilen auch als Gegennormen oder Hilfsnormen für andere Anspruchsnormen auftreten; dieselbe Hilfsnorm kann sowohl auf Anspruchsseite als auf Gegenseite entscheidungsrelevant werden. Dies führt notwendig dazu, dass die Rechtslast hinsichtlich einer bestimmten Vorschrift in ähnlich gelagerten Fällen unterschiedlich verteilt sein kann.1104 Ein Beispiel aus dem Arbeitsrecht:1105 A ist Arbeitnehmer im kommunalen Krankenhaus K in Greifswald. K „fusioniert“ nun mit zwei weiteren Krankenhäusern, der ursprüngliche Personalrat wird aufgelöst, ein neuer

_____ 1102 Man denke an den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ im Polizeirecht, der ohne definitorische Konkretisierung durch die Rechtsprechung kaum handhabbar wäre (vgl. BVerfGE 69, 315, 352); oder an den Begriff des „Wuchers“ in § 138 BGB, der ohne fallweise Eingrenzung letztlich beliebig bleibt (vgl. zuletzt BGH, NJW 2012, 1570). 1103 So etwa im Bereich „Autokauf“ (vgl. nur das gleichnamige, mit jeder Auflage anwachsende Werk von Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Aufl. 2014, passim), wo mittlerweile eine kaum noch überschaubare Fülle von Einzelfallverdikten die Sicht behindert; oder auch hinsichtlich des Verhältnisses von § 211 zu § 212 StGB, wo die Weichenstellungen des BGH (vgl. etwa BGHSt 1, 368) zu abenteuerlichen Folgekonstruktionen geführt haben, die eine Reform der Tötungsdelikte dringend angeraten erscheinen lassen (vgl. hierzu etwa Deckers/Fischer et al., NStZ 2014, S. 9 ff.). 1104 Siehe Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 155; sowie Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1075 f. 1105 Dieses Beispiel verdanke ich RA’in Diana Richter.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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Personalrat hat sich noch nicht konstituiert. In dieser Übergangsphase wird dem A (ohne Beteiligung eines Personalrats) betriebsbedingt gekündigt. Der Fortgang des Falls ist nun in zweierlei Varianten denkbar. Erstens könnte nun der A Kündigungsschutzklage erheben. Kann er dabei belegen, dass er ursprünglich Arbeitnehmer der K (bzw. ihres Rechtsnachfolgers) war, so trüge nun K die Rechtslast dafür, dass alle Voraussetzungen einer betriebsbedingten Kündigung vorlagen. Hierzu zählt auch die Beteiligung des Personalrats1106 bzw. die Entbehrlichkeit dieser Voraussetzung. Bleibt nun ungewiss, ob ein Personalrat (der sog. Übergangs-Personalrat)1107 beteiligt werden musste, so geht die Ungewissheit zulasten des Arbeitgebers K – die Kündigungsschutzklage des A ist erfolgreich. Zweitens könnte aber auch der „Übergangs-Personalrat“ versuchen gegen K zu klagen, und zwar auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Nichtbeteiligung.1108 Die Mitwirkungsbefugnis des Übergangspersonalrats wäre in diesem Fall Anspruchsvoraussetzung. Ungewissheit in dieser Frage ginge dann zugunsten des Arbeitgebers K – die Klage des Personalrats wäre im Zweifel erfolglos.

Diese Ergebnisdivergenz in Fällen mit sehr ähnlicher Interessenallokation erscheint zunächst unbefriedigend. Einen durchgreifenden Einwand gegen das Instrument der Rechtslast begründet sie aber nicht:1109 Die Rechtslast dient nicht dazu, Rechtsfragen einheitlich und für die Zukunft verbindlich zu lösen. Vielmehr handelt es sich vorrangig um ein Instrument zur besseren Abschätzung der Erfolgsaussichten eines Gerichtsverfahrens durch die Parteien im konkreten Einzelfall (hierzu sowie zu weiteren Erträgen siehe noch unter 4.). Im Übrigen sind derart „gespaltene“ Ergebnisse nicht nur bei Beweisfragen1110 sondern auch bei Rechtsfragen kein völliges Novum: Dass zwei verschiedene Gerichte (oder: Kammern ein und desselben Gerichts) in der gleichen Rechtsfrage unterschiedlich entscheiden, ist nicht eben selten (daher rühren die Regelungen zur Divergenzrevision, vgl. bereits oben aa).

_____ 1106 Siehe § 68 I Nr. 2 PersVG M-V; vgl. auch § 109 BPersVG. 1107 Siehe § 20 PersVG M-V; und vgl. den eindeutigeren § 106 LPVG B-W. 1108 Ob der Personalrat insofern klagebefugt wäre, ist allerdings zweifelhaft – siehe § 87 PersVG M-V. 1109 A.A. offenbar Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 151 f. (vgl. aber auch ibid., S. 155); sowie wohl auch Krebs, AcP 195, S. 171, 197; vgl. ferner Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1075. 1110 Instruktiv hierzu die Darstellung bei Braun, Lehrbuch des Zivilprozessrechts, 2014, S. 722 ff.; vgl. ferner auch BGH, NJW-RR 2003, 1432.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

(2) Fallinterne Ergebnisdivergenzen Ungewohnt, aber wenig relevant, dürften Fälle sein, in denen im Rahmen desselben Falls vor demselben Gericht die Rechtslast hinsichtlich einer Frage wechselt. Solche Fälle sind theoretisch vorstellbar – dürften in der Praxis aber äußerst selten vorkommen. Im Übrigen hätten auch solche Fälle ihr Pendant in der bereits bestehenden Dogmatik der Beweislast.

dd) Bewahrung des status quo? Das Instrument der Rechtslast ist in der Tendenz konservativ – und zwar insofern, als im Zweifelsfall immer diejenige Partei obsiegen soll, deren Rechtsposition bereits „bewiesen“ ist. Wiederum gilt für die Rechtslast das Gleiche wie für das Parallelinstrument der Beweislast: Im Zweifelsfall bewahren beide Instrumente den status quo des jeweils gesicherten Prozessfortschritts.1111 Dies mag man kritisieren, als Schwächung des Rechts zugunsten der Macht und des Haben-Wollens zugunsten des Habens. Diese Kritik würde allerdings zu kurz greifen. Denn der Konservatismus von Beweislast und Rechtslast ist nur vordergründig, bezieht sich immer nur auf die jeweilige Station des Prozessfortschritts. Wohl hat nach den Grundregeln der Lastverteilung zunächst immer derjenige, der einen Anspruch geltend macht, im Zweifelsfall das Gericht von den tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des Anspruches zu überzeugen. Der Anspruchsbehauptende ist aber keineswegs immer der Kläger und auch keineswegs immer der „Schwache“, der des besonderen Schutzes durch das Recht bedürfte. Überdies wechselt die Last vom Anspruchsbehauptenden zu seinem Gegner, sobald nur der Anspruch dem Grunde nach bewiesen ist. Der Konservatismus von Beweislast und Rechtslast ist insofern rein formaler Natur. Er enthält sich eigener politischer Wertungen und vollzieht lediglich die jeweiligen Strukturvorgaben des Gesetzgebers nach.

ee) Zufälligkeit im Recht? Dies allerdings leitet über zu einem anderen Einwand: Die Strukturvorgaben des Gesetzgebers sind nicht in allen Fällen planvoll. Die Ausgestaltung von Normen als Anspruchsnormen oder als Gegennormen ist zuweilen nicht gewollt, sondern eher zufällig (vgl. bereits oben B IV 3 b bb (4)).1112

_____ 1111 Siehe Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1075 f. 1112 Gegen die Anwendung der Normentheorie bei Lastentscheidungen betreffend die Auslegung von Gesetzen daher Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 118 f.

II. Rechtslast als allgemeine Zweifelsregel

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Lastentscheidungen – gleich ob auf Tatsachen- oder auf Auslegungsebene – wohnt auch im Übrigen notwendig ein Zufälligkeitselement inne: Es ist, aus Sicht des Normadressaten, oft Zufall, ob eine Ungewissheit in seinem Lastbereich oder in dem des Gegners auftritt. Zuweilen können die Parteien ihr Risiko beeinflussen (z.B. indem sie eine Frage klarstellend vertraglich regeln oder indem sie einen Vertrag in Schriftform aufsetzen), aber nicht immer ist dies der Fall. Erhebt also das Instrument der Rechtlast den Zufall zum Rechtsprinzip?1113 Dies wäre zwar kein völliges Novum – würde aber gewiss allgemein Bedenken wecken (vgl. bereits oben B IV 3 e bb (4)). Doch der Einwand sticht nicht. Denn gleich der Beweislast spiegelt die Rechtlast nur die Zufälligkeiten, die dem Leben und dem Recht ohnehin innewohnen. Diese Zufälligkeiten würden auch ohne Anwendung eines Lastinstruments die Entscheidung des Gerichts beeinflussen – nur wäre dies regelmäßig lediglich von außen erkennbar. Die Instrumente von Beweislast und Rechtslast machen die Zufälligkeiten sichtbar – und ermöglichen erst dadurch eine Korrektur zufälliger, unerwünschter Folgen durch Parteien, Gericht und Gesetzgeber.

ff) Genereller faktischer Anwaltszwang? Somit ist es an der Zeit für eine Auseinandersetzung mit dem vielleicht offensichtlichsten Einwand gegen das Instrument der Rechtslast als solchem: Wie verträgt sich Rechtslast mit dem Bedürfnis des „einfachen Bürgers“ nach umfassendem Rechtsschutz – in welchem Verhältnis stehen Rechtslast und Rechtsanwalt?

(1) Rechtslast ohne Anwälte Mit dem Gedanken der Lastentscheidung als solcher untrennbar verbunden ist die Zuweisung prozessualer Obliegenheiten an jeweils eine Partei des Rechtstreits. Daher korrespondiert auch jeder objektiven Beweislast de facto immer eine entsprechende subjektive Beweislast (siehe bereits oben B IV 3 a). Für die Rechtslast gilt nichts anderes: Jeweils einer Partei obliegt es – will sie den Prozess nicht „im Zweifel“ verlieren –, das Gericht von der Richtigkeit derjenigen Rechtsbehauptungen zu überzeugen, über die das Gericht nicht zur Entscheidung gelangen kann und für die sie die Rechtslast trägt.1114

_____ 1113 Vgl. instruktiv von Arnauld, in: von Arnauld, Recht und Spielregeln, 2003, S. 171 ff., insbes. 180 ff. 1114 Siehe Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 127, der von einer „faktischen Vortragslast“ spricht.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Diese Überzeugungsleistung kann vom rechtsunkundigen Bürger regelmäßig nicht erwartet werden. Daher rührt der Grundsatz iura novit curia, diese Überforderung zu vermeiden ist sein telos (vgl. oben a bb). In Gesellschaften, in denen eine gut ausgebildete, jedem Rechtssuchenden zugängliche Anwaltschaft nicht existiert, sind Geltung und Richtigkeit des Grundsatzes daher evident.1115 Ebenso evident ist, dass unter solchen Bedingungen das Instrument der Rechtslast als Mittel der Überwindung von Zweifeln in der Rechtsanwendung auf schwerwiegende Bedenken stoßen muss.

(2) Rechtslast ohne Anwälte? Wenngleich bereits zu Zeiten des Römischen Reichs eine in Teilen professionalisierte Anwaltschaft existierte, so ist anwaltliche „Vollversorgung“ doch eine vergleichsweise junge Errungenschaft der juristischen Menschheitsgeschichte.1116 Es handelt sich zudem um eine Erscheinung, die auch heute noch auf nur wenige Staaten der Welt beschränkt ist.1117 In Deutschland erlangte der Berufsstand der Anwälte erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts wenigstens annähernd und erst im Verlauf der jüngsten Geschichte ungefähr die heutige Bedeutung und zahlenmäßige Größe;1118 noch von Savigny legte seiner Methodenkonzeption einen schwach besetzten „gelehrten“ Juristenstand zugrunde.1119 Mittellose Bürger erhielten erst deutlich später weitgehend ungehinderten Zugang zu qualifiziertem Rechtsrat – so wurde das eher rudimentäre Recht der Armenhilfe erst durch das Gesetz über die Prozesskostenhilfe vom 13. Juni 19801120 sowie das Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen vom 18. Juni 19801121 abgelöst und damit auf „rechts- und sozialstaatliche Füße“ gestellt1122.1123

_____ 1115 Grosch, Rechtswandel und Rechtskraft, 2002, S. 285. 1116 Siehe zur globalen geschichtlichen Entwicklung im Überblick etwa Vago, Law and Society, 8. Aufl. 2006, S. 354 ff. 1117 Siehe Raiser, Rechtssoziologie, 6. Aufl. 2013, S. 356 ff. 1118 Vgl. Ostler, Rechtsanwälte, 1971, S. 20, 60 f., 70, 109, 153, 207; sowie auch Raiser, Rechtssoziologie, 6. Aufl. 2013, S. 354 f. 1119 Siehe Rückert, in: Rückert, Methodik des Zivilrechts seit Savigny, 1997, S. 69. 1120 BGBl. I, S. 677. 1121 BGBl. I, S. 689. 1122 Grunsky, NJW 1980, S. 2041, 2048; siehe ferner etwa Rehbinder, Rechtssoziologie, 2009, S. 131; sowie Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, S. 761, 783 f. 1123 Zu den aktuellen Zahlen zu Prozesskostenhilfeentscheidungen vor den Zivilgerichten vgl. jüngst Statistisches Bundesamt, Rechtspflege Zivilgerichte, 2015, S. 26, 56.

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Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, dass der Grundsatz iura novit curia im Schrifttum kaum je ernsthaft angetastet wurde (vgl. bereits oben a bb). Umso drängender stellt sich aber nunmehr die Frage, ob die Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht mittlerweile eine abweichende rechtliche Beurteilung erlaubt. Hiergegen spricht: Wenn anwaltliche Vertretung der Parteien grundsätzlich Voraussetzung von Rechtslastentscheidungen ist, so würde die allgemeine Zulassung solcher Entscheidungen einen faktischen Anwaltszwang bewirken. Den Zwang zu geeigneter juristischer Vertretung sieht das Gesetz zwar ohnehin bereits in einer Vielzahl von Fällen vor1124 – aber eben nicht generell. Das Instrument der Rechtslast scheint daher in faktischem Widerspruch zum „Recht auf Selbstverteidigung“1125 zu geraten. Entsprechende Bedenken sind nicht völlig von der Hand zu weisen. Sie bedürfen aber unbedingt der Relativierung. Ein Blick auf das Parallelinstrument der Beweislast zeigt nämlich erstens: Auch dort führt die Möglichkeit von Lastentscheidungen zu einem faktischen Zwang der Parteien, sich in schwierigen Fragen externer Hilfe zu bedienen; man könnte dort in bestimmten Rechtsbereichen zunehmend von einem faktischen „Gutachterzwang“ sprechen;1126 daneben ist auch für die Einschätzung der Beweisrisiken qualifizierter Rechtsrat offenkundig mindestens förderlich (vgl. bereits oben B IV 3). Hier wie dort handelt es sich um eine unliebsame Nebenwirkung, die aber nicht entscheidend den Wert des Instruments zu schwächen vermag. Zweitens und vor allem sind in rechtlich schwierigen Fällen – mithin in allen Fällen, die für Rechtslastentscheidungen überhaupt in Betracht kommen – die Parteien in der heutigen Praxis ohnehin fast ausnahmslos anwaltlich vertreten – entweder weil das Prozessrecht dies vorschreibt oder aus eigenem Antrieb (siehe hierzu noch unter 4 d bb); entsprechend ist zwischen dem Jahr 1965 und dem Jahr 2011 die Zahl der Rechtsanwälte um das Achtfache gestiegen – während die Zahl der Staatsanwälte und Richter sich nicht einmal verdoppelt hat.1127 Drittens genießen wie bereits erwähnt auch mittellose Parteien Zugang zu anwaltlicher Vertretung, so dass hier jedenfalls aus rein rechtlicher Sicht kein wesentliches Ungleichgewicht entsteht.1128 Hiergegen lässt sich auch nicht ein-

_____ 1124 Insbesondere bei Berufung und Revision in allen Rechtsgebieten sowie in den Fällen notwendiger Verteidigung im Strafrecht. 1125 BGE 95 I, 356. 1126 Vgl. BGH, NJW-RR 2009, 1192. 1127 Siehe Raiser, Rechtssoziologie, 6. Aufl. 2013, S. 354 f. 1128 Instruktiv hierzu die eingehende Darstellung bei Goebel, Verfahrenssoziologie, 1994, S. 195 ff.

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wenden, die Gewährung von Prozesskostenhilfe erfolge nur dann, wenn die Sache nicht offensichtlich aussichtlos ist (vgl. § 114 ZPO). Denn wenn die Sache nach Einschätzung des Gerichts offensichtlich aussichtslos ist, wird auch eine Rechtslastentscheidung nicht in Betracht kommen. Ein nicht zu unterschätzendes faktisches Ungleichgewicht besteht allerdings insofern, als wirtschaftlich potentere Parteien eher in der Lage sind, sich die Dienste besonders qualifizierter Anwälte zu sichern und manche Mandanten auch aus sozio-kulturellen Gründen eher als andere den Zugang zur Rechtsberatung finden; besondere Vorteile genießen zudem solche Parteien, die als repeat players gewohnheitsmäßig in eine Vielzahl gleichartiger Streitigkeiten verwickelt sind (etwa Behörden, Versicherungen, Verbände, Hausverwalter).1129 Dieser Missstand existiert freilich unabhängig von der Möglichkeit von Rechtslastentscheidungen. Das Instrument der Rechtslast führt hier kaum zu weiterer Verschärfung – sondern nur zur Offenlegung eines Problems.

gg) „Verführung“ des Richters zur Untätigkeit? Lastentscheidungen als solche sind keine Rechtsverweigerung. Es handelt sich schlicht um rechtliche Entscheidungen auf einer anderen Ebene, mit dem Ziel, Komplexität zu reduzieren (siehe oben a aa). Dabei freilich kann es zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen, die man als „materielle Rechtsverweigerung“ bezeichnen könnte. Denn wenn eine schwierige Entscheidung durch eine einfache Entscheidung ersetzt werden kann, ist regelmäßig die Versuchung groß, den Schwierigkeiten auch dann auszuweichen, wenn sie eigentlich – durch Fleiß und Geisteskraft – überwindbar sind. Die Möglichkeit von Lastentscheidungen kann daher im Einzelfall zur Vermeidung einer eigentlich möglichen Sachentscheidung – kurz: zur Untätigkeit, zur Faulheit – führen. Die Gefahr solch unerwünschter Nebenwirkungen sollte jedoch – ebenso wie der drohende faktische Anwaltszwang – nicht überschätzt werden. Zunächst: Ein unmotivierter oder schlicht überarbeiteter Richter wird immer Wege finden, der intensiven Befassung mit einem Streitentscheid aus dem Weg zu gehen – etwa, indem er vorschnell einer sogenannten herrschenden Auffassung den Vorzug gibt. Die Möglichkeit einer Entscheidung per Rechtslast „erleichtert“ ihm eine solche Arbeitsvermeidung nicht wesentlich. Anhand eines Blicks auf das Parallelinstrument der Beweislast lässt sich dies zumindest plausibel machen. Das oben beschriebene Problem stellt sich auf Tatbestandsebene nämlich gleichermaßen, mangels Revisibilität von Tatfragen vermutlich sogar noch

_____

1129 Siehe erneut eingehend Goebel, Verfahrenssoziologie, 1994, S. 120 ff., 148 ff.; ferner etwa Rehbinder, Rechtssoziologie, 2009, S. 128 f., 145 f.

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stärker. In der Praxis dürfte daher die Zahl der Fälle, in denen ein Richter aus bloßer Arbeitsscheu die Ergründung einer Rechtsfrage verweigert und deshalb per Rechtslast entscheidet, eher zu vernachlässigen sein.1130 Vielmehr dürften Entscheidungen per Rechtslast regelmäßig sogar besonders sorgfältig begründet sein – da nämlich der Richter nicht im herkömmlichen Sinne eine Rechtsfrage entscheidet, sondern darlegen muss, warum die jeweilige Frage gerade nicht anhand der herkömmlichen methodischen Hilfsmittel entschieden werden kann. Versäumt er eine entsprechende Darlegung, ist das Urteil schon aus diesem Grunde in der Berufungs- oder Revisionsinstanz angreifbar; und dort sind Lastentscheidungen nicht weniger rational überprüfbar als Entscheidungen zur jeweils vorgelagerten Rechtsfrage.

c) Zwischenergebnis Dem Instrument der Rechtlast lassen sich eine Reihe rechtsdogmatischer wie rechtspolitischer Einwände entgegenhalten. Diese Einwände gegen das hier vorgeschlagene Instrument zur Entscheidung von Rechtsfragen in Zweifelsfällen erscheinen aber nicht als durchschlagend. Die wenigen handfesten rechtsdogmatischen Einwände lassen sich nach hier vertretener Auffassung ausräumen, so dass Rechtslastentscheidungen auch de lege lata nichts zwingend entgegensteht; zur Klarstellung wäre gleichwohl eine gesetzliche Positivierung der Rechtslastregeln erwägenswert. Dies gilt insbesondere auch eingedenk der vorstehend noch nicht erörterten verfassungsrechtlichen Ermächtigung zur Rechtslastentscheidung (siehe dazu noch unter III 2). Von den zahlreicheren vorstellbaren rechtspolitischen Einwänden erweisen sich nur zwei als ernstlich bedenkenswert. So sollten bei Implementierung des Rechtslastinstruments etwaige Nebenwirkungen im Hinblick auf die mögliche Verstärkung eines faktischen Anwaltszwangs sowie mögliche Fehlanreize für das richterliche Entscheidungsverhalten langfristig beobachtet werden. Die Erfahrungen mit dem analogen Instrument der Beweislast lassen allerdings keine wirklich schwerwiegenden Nebenwirkungen infolge von Rechtslastentscheidungen erwarten.

_____ 1130 Zu § 293 ZPO und unter Zugrundelegung der später so benannten Klagabweisungstheorie bemerkt Hellwig, System des deutschen Zivilprozessrechts, Bd. 1, 2. Neudr. d. Ausg. Leipzig 1912, 1980, S. 677, Fn. 14, zutreffend: „Die Situation ist höchst unerfreulich, und jeder Richter wird alles Mögliche tun, um sie zu verhüten.“

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4. Ertrag Jede methodische Neuerung schafft zunächst vor allem Probleme. Diese Probleme ergeben sich erstens daraus, dass in der Übergangszeit widerstreitende wissenschaftliche Paradigmen 1131 aufeinanderstoßen, mithin der Ablauf der Kommunikation in der Wissenschaftsgemeinschaft wenn nicht verhindert, so doch erheblich erschwert wird. Zweitens schafft jede Neuerung aber auch neue inhaltliche Probleme, die vielfach zunächst kaum zu erkennen und erst nach und nach im Zuge der praktischen Anwendung zu lösen sind. Insofern stehen Neuerungen mit gutem Grund unter einem Rechtfertigungszwang. Für eine notwendig „strukturkonservative“ Disziplin wie die Jurisprudenz gilt dies sogar in verstärktem Maße.1132 Die in diesem Buch vorgeschlagene Ergänzung der hergebrachten Rechtsanwendungsgrundsätze um das Element der hier so genannten Rechtslast ist daher nur dann empfehlenswert, wenn sie nicht nur verfassungsrechtlich zulässig (dazu noch unter III) und wenigstens in einer überwiegenden Anzahl von Zweifelsfällen überhaupt durchführbar (dazu bereits unter 2 b) ist, sondern auch handfeste praktische Vorteile mit sich bringt. Solche Vorteile bestehen in der Tat – wie im Folgenden zu zeigen ist. So verspricht das Instrument der Rechtslast als Zweifelsregel erstens ein Mehr an Rechtssicherheit (a) und zweitens auch eine Stärkung der juristischen Dogmatik (b). Drittens dürfte seine Anwendung zu einer besseren Strukturierung des Prozessstoffs und langfristig zu einer sinkenden Zahl von Verfahren und damit zu einer Entlastung der Gerichte führen (c). Viertens wird das Procedere der Rechtsfindung in äußersten Zweifelsfällen an eine veränderte soziale Realität angepasst – wobei das Instrument der Rechtslast umgekehrt auch positiv auf diese soziale Realität rückwirken soll (d). Fünftens schließlich sollten sich langfristig auch Erträge in der Gesetzgebungskunst zeigen (e).

a) Gewinn an Rechtssicherheit Absolute Rechtssicherheit im Sinne völliger Erwartungssicherheit aller Rechtsunterworfenen gibt es in keinem Rechtssystem. Ein solches ist auch notwendig ausgeschlossen: Die individuelle menschliche Unzulänglichkeit der Erkenntnisund Sprachmittel sowohl auf Seiten des Normgebers (etwa „des Gesetzgebers“,

_____ 1131 Zum Begriff des wissenschaftlichen Paradigmas siehe Kuhn, Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 12. Aufl. 1993, S. 25 ff. insbes.; krit. Popper, The Myth of the Framework, 1994, S. 55 ff. 1132 Siehe hierzu etwa Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, S. 110.

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also der Parlamentarier) als auch auf Seiten des Normanwenders (etwa „des Gerichts“, also des Einzelrichters oder auch des Richterkollegiums) und des Normbetroffenen (etwa des Bürgers) führen dazu, dass Erwartungssicherheit immer nur eine relative Größe sein kann (vgl. bereits oben B I 2 a gg). Dies gilt selbstverständlich auch bei Ergänzung der hergebrachten Rechtsanwendungsgrundsätze um die Zweifelsregel der Rechtslast: Insbesondere ist hier nämlich nur begrenzt vorhersagbar, wann ein Gericht eine Auslegungsfrage für unrettbar zweifelhaft und daher der Entscheidung per Rechtslastregel zugänglich halten wird; sowohl das Maß des erforderlichen Zweifels als auch das Bestehen des Zweifels als solcher wird im Einzelfall unterschiedlich beurteilt werden. Daneben kann es in Einzelfällen – vergleichbar der Problematik bei der Beweislastfeststellung – auch noch ungewiss sein, welche Partei die Rechtslast im konkreten Fall überhaupt trifft. Der zweite Gesichtspunkt spielt allerdings eine untergeordnete Rolle (vgl. oben 2 b dd). Die Zahl der Fälle, in denen die Bestimmung der Rechtslast ernsthafte Schwierigkeiten bereitet, dürfte sogar eher geringer sein als die Zahl schwieriger Beweislastfälle. Ebenso wenig wie das Mittel der Beweislast gibt das Instrument der Rechtslast den Parteien also Gewissheit darüber, ob sie den Rechtsstreit gewinnen oder verlieren werden. Beide Zweifelsregelungen zur Risikozuordnung führen aber zu einer genaueren Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit:1133 Wer weiß, dass im Zweifelsfall er (oder eben gerade umgekehrt: der Gegner) den Richter von dem Bestehen einer bestimmten Tatsache oder dem Inhalt eines bestimmten Rechtssatzes überzeugen muss, der kann die Wahrscheinlichkeit des Prozessverlusts genauer beziffern. Im Regelfall ist nämlich bereits vor Beginn des Gerichtsverfahrens ersichtlich, welche Tat- und Rechtsfragen im Prozess eine entscheidende Rolle spielen werden. Hinsichtlich der Beweislast in der Tatsachenfeststellung ist der hier postulierte Gewinn an Erwartungssicherheit für die Parteien seit langem fast allgemein anerkannt (vgl. B IV 3 e cc), dem Grunde nach soll die Rechtslast für ihren Anwendungsbereich ein ähnliches Maß an Orientierung bieten. Allerdings vermittelt eine jede Lastregel erst dann ein hohes Maß an Orientierung, wenn die Parteien auch in jedem Fall mit ihrer Anwendung rechnen können. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich eine Positivierung der Regel im geltenden Gesetzesrecht (siehe noch IV.).

_____ 1133 In diese Richtung auch Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 118; sowie Krebs, AcP 195 (1995), S. 171, 176.

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b) Stärkung der Dogmatik In engem Zusammenhang mit der Erhöhung der Rechtssicherheit – aber gleichwohl gesondert zu betrachten – ist die mit einer Rechtslastregel angestrebte Stärkung der juristischen Dogmatik. Dass das Instrument der Rechtslast mit der juristischen Dogmatik zu vereinbaren ist, wurde bereits erörtert (oben 3 a). An dieser Stelle nun soll behauptet werden, dass umgekehrt sogar ein Gewinn für die Gesamtheit der Lehren von der juristischen Richtigkeit1134 zu erwarten ist: durch einen teilweisen Rückbau überdehnter und teilweise „arkanisierter“ Leitmotive juristischer Argumentation. Zu diesen Leitmotiven zählen nicht nur die in der Grundlegung kritisch erörterten Maßstäbe juristischer Gerechtigkeit im Allgemeinen – Maßstäbe, die sich überwiegend an Kriterien subjektiven Empfindens und/oder behaupteter Mehrheitsmeinungen orientieren (oben B III 4 b). Als argumentative Topoi mittlerweile überdehnt erscheinen auch einige spezifischere Letztentscheidungsmaximen des (insbesondere: Verfassungs-) Rechts – vor allen anderen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das Instrument der Rechtslast ermöglicht es dem Richter, in äußersten Zweifelsfällen das schwankende und dogmatisch wenig tragfähige Terrain solcher Konstrukte zu verlassen und dadurch die Schwächen des geltenden Rechts offenzulegen. Diese Offenheit befördert den juristischen Diskurs über die Richtigkeit des Rechts in Praxis und Theorie und ermöglicht – in the long run – Fortbildung des Rechts durch Gesetzgeber und/oder Gerichte.

c) Vereinfachung, Entlastung der Gerichte Die Orientierung, die das Instrument der Rechtslast auf Ebene der Rechtsanwendung bietet, führt nicht nur zu mehr Erwartungssicherheit bei den Rechtsunterworfenen und zu einer Stärkung der Dogmatik, sondern ganz praktisch auch zur Entlastung der Gerichte. Dabei ist die Entlastung im jeweils zur Entscheidung anstehenden Einzelfall zwar nur geringfügig (aa), von umso größerer Bedeutung ist aber der Effizienzgewinn im Rechtssystem insgesamt (bb).

aa) Entlastung im Einzelfall? Im konkreten Einzelfall führen Lastinstrumente nicht zu wesentlich geringerer Arbeitsbelastung des jeweils zur Entscheidung berufenen Richters, genauer: Sie sollen gar nicht dazu führen. Lastinstrumente dienen in erster Linie dazu, bei

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1134 So die Definition von Lege, in: Gansel, Systemtheorie in den Fachwissenschaften, 2011, S. 33, 44.

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Unmöglichkeit (gesicherter) Tatsachen- bzw. Rechtsfeststellung eine rational begründete, vorhersehbare Entscheidung herbeizuführen. Den Ermittlungseifer und -aufwand des Gerichts sollen sie grundsätzlich nicht mindern. Zur Entlastung des Gerichts im konkreten Einzelfall kommt es allenfalls dadurch, dass anwaltliche Pflichten stärker hervorgehoben (hierzu noch unter d bb, cc), mithin Tatsachen- und Rechtsstoff rechtzeitig besser „aufbereitet“ und strukturiert werden. Entscheidungspsychologisch besehen kann das Gericht zudem dadurch entlastet werden, dass die Entscheidungsperspektive anhand des Rechtslastinstruments auf eine einfache, digitale Fragestellung verengt wird.1135 Weitere Entlastung kann auch die oben (unter b) postulierte Verschlankung und Entarkanisierung der juristischen Dogmatik bewirken. Umgekehrt ist freilich auch denkbar, dass steigende Anforderungen an die Gewähr rechtlichen Gehörs im Einzelfall zu erhöhtem Aufwand führen – sei es für zusätzliche Sitzungstermine, sei es für die Lektüre umfangreicher anwaltlicher Schriftsätze. Denn wer vor Gericht eine Last zu tragen hat, dem muss notwendig im gegebenen Fall auch die Möglichkeit gewährt werden, den Anforderungen dieser Last gerecht zu werden. Die Einschränkung des Grundsatzes iura novit curia durch das Instrument der Rechtslast geht daher folgerichtig auch mit einer Stärkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör einher.1136

bb) Entlastung auf Systemebene Demgegenüber führt aber das Instrument der Rechtslast – ebenso wie die Möglichkeit von Beweislastentscheidungen – mittelbar zu einer wesentlichen Entlastung der Gerichte auf Systemebene. Wenn nämlich die Parteien vorab eher in der Lage sind, die Erfolgschancen einer etwaigen Klage (bzw.: Verteidigungsstrategie) zu beziffern, wird mittelfristig die Zahl wenig aussichtsreicher Prozesshandlungen sinken. Lastinstrumente wirken insofern „präventiv“. Im Bereich der Beweislast lässt sich dies leicht veranschaulichen: Da grundsätzlich demjenigen, der einen vertraglichen Anspruch geltend macht, die Beweislast für Abschluss und behaupteten Inhalt des Vertrages obliegt, werden erstens auch formfreie Verträge oftmals schriftlich abgefasst – und zweitens mündliche Vertragsversprechen vergleichsweise selten „eingeklagt“. Auf Ebene der Rechtslast lässt sich dies weitgehend analog fortführen: Wer weiß, dass er im Streitfall die Rechtslast für seine Anspruchs- bzw. Gegenbehauptung trägt, wird ebenfalls vorsichtiger agieren. Er wird erstens – soweit

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1135 Siehe Riehm, Abwägungsentscheidungen, 2006, S. 129 f., m.w.N. 1136 Instruktiv zu diesem Zusammenhang eine Entscheidung des Schweizerischen Bundesgerichts aus dem Jahr 2003 – siehe BGE 130 III, 35.

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möglich – versuchen, unklare gesetzliche Vorschriften dadurch zu „entschärfen“, dass er bereits im Vertrag (oder auch: in einem Verwaltungsakt) klarstellt, was für die Rechtsbeziehung zur Gegenpartei künftig gelten soll. Und er wird zweitens – wenn dennoch Streit entsteht – eher wissen, ob der Gang vor Gericht den Aufwand überhaupt lohnt.

d) Anpassung an eine sich wandelnde soziale Realität Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein.1137 „Nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG muss der das Beschwerdeverfahren einleitende Antrag in der Begründung bestimmten Mindestanforderungen genügen. Werden gerichtliche Entscheidungen angegriffen, so muss sich der Beschwerdeführer auch mit deren Grundlagen und Inhalt auseinandersetzen …“1138

Zwischen den beiden vorstehenden Absätzen klafft recht offensichtlich eine gewisse Lücke: Die mit Gesetz vom 29. Januar 19691139 eingeführte Vorschrift des Grundgesetzes über die Verfassungsbeschwerde erweckt noch den Eindruck, als könne „jedermann“ mit der schlichten „Behauptung“ einer Verletzung in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten eine solche Beschwerde erheben. Demgegenüber stellt das BVerfG an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde inzwischen Anforderungen, denen allenfalls „Spitzenanwälte und Rechtsprofessoren“ gewachsen sind.1140 Nicht nur in verfassungsgerichtlichen Streitigkeiten ist in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend juristische Fachkompetenz von den Gerichten auf die Anwaltschaft „ausgelagert“ worden – wobei ein Ende dieser Entwicklung nicht absehbar ist. Für dieses Phänomen gibt es eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Gründe. Im Kern sind fünf Leitmotive erkennbar, die auch für den Ertrag des Rechtslastinstruments von Bedeutung sind: Der Umfang des Rechtsstoffes – staatliche Vorschriften, Präjudizien, private Rechtsbeziehungen – ist stark angewachsen (aa). Daher, aber nicht nur daher, hat auch das Maß anwaltlicher Vertretung in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen (bb). Dabei prägen zu-

_____ 1137 1138 1139 1140

Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG, Hervorh. des Verf. BVerfG, Beschl. v. 18.10.2004, – 2 BvR 1453/04 –, Rn. 5. BGBl. I, S. 97. Siehe etwa Lübbe-Wolff, EuGRZ 2004, S. 669, 676.

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mindest in wirtschaftlich besonders relevanten Fällen zunehmend Großkanzleien mit entsprechenden personellen wie finanziellen Ressourcen den Markt (cc). Insbesondere, aber nicht nur diesen Sozietäten verlangt das Anwaltshaftungsrecht mittlerweile in weitem Umfang Rechtsaufklärung nicht nur der Mandanten, sondern auch der Gerichte ab (dd). Insgesamt ist eine Tendenz zunehmender Privatisierung von Streitschlichtung und -entscheidung erkennbar (ee).

aa) Wachsender Rechtsstoff Vermutlich handelt es sich um eine unvermeidbare historische Gesetzmäßigkeit: Je länger eine Gesellschaft von größeren Kriegen und sonstigen Ursachen für Systembrüche verschont bleibt, desto stärker wächst der Umfang des Rechtsstoffs. Ungeachtet phasenweiser Bemühungen zur „Entbürokratisierung“1141 neigt der Gesetzgeber dann regelmäßig dazu, in immer weiterer Verästelung jede denkbare Fallkategorie bis hinab auf Einzelfallebene zu regeln – und zugleich wächst der Fundus gerichtlicher Entscheidungen mit echter oder faktischer Präjudizwirkung von Jahr zu Jahr.1142 In der Anwaltschaft und bei den Gerichten führt der wachsende Rechtsstoff zu zunehmender Spezialisierung. Diese Spezialisierung vermag aber nicht zu verhindern, dass die zu erwartende gerichtliche Entscheidung im Dickicht des Rechts nicht nur für den Laien zunehmend schwerer zu erkennen ist. Hier schafft das Instrument der Rechtslast ein Stück Orientierungssicherheit: Ebenso wie das Instrument der Beweislast weist es bei den zweifelhaften Fragen eines jeden Falls einer der Prozessparteien die Überzeugungslast zu und macht damit die Erfolgswahrscheinlichkeit für alle Parteien besser abschätzbar.

bb) Anwaltliche Vertretung als Regelfall Eine Folge des wachsenden Rechtsstoffs ist eine überwiegende Anzahl von Verfahren, in denen die Parteien anwaltlich vertreten sind. Auch in Verfahren, in denen kein Anwaltszwang herrscht, ist anwaltliche Vertretung inzwischen eher der Regelfall denn die Ausnahme. So fanden im Jahr 2012 lediglich zehn Prozent der erledigten Zivilverfahren1143 vor dem Amtsgericht ohne anwaltliche Vertre-

_____ 1141 Vgl. den Bericht des BMJ, „Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“, 26. März 2009, S. 1 ff. 1142 Vgl. zu diesen Zusammenhängen bereits oben B I 2 b sowie C II 1 d und e aa. 1143 Ähnliches gilt für die verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Hier sind in 1. Instanz inzwischen über 70 Prozent aller Antragsteller anwaltlich vertreten – siehe Statistisches Bundesamt, Rechtspflege Verwaltungsgerichte, 2015, S. 29.

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tung statt, in 44 Prozent der Verfahren waren beide Parteien anwaltlich vertreten.1144 Berücksichtigt man zugleich, dass es sich bei immerhin 18 Prozent aller Zivilverfahren vor dem Amtsgericht im Jahr 2012 um Bagatellverfahren mit einem Streitwert bis maximal 300 Euro handelte und dass der mittlere Streitwert (Median) in diesem Jahr lediglich 1078 Euro betrug,1145 so lässt sich folgern: In nahezu sämtlichen Verfahren, in denen es rechtlich und/oder wirtschaftlich „um etwas geht“ sind inzwischen die Parteien vor Gericht anwaltlich vertreten. Dem Instrument der Rechtslast lässt sich mithin kaum entgegenhalten, es führe zu einem faktischen Anwaltszwang. Dieser Anwaltszwang besteht faktisch bereits ohnehin (siehe auch schon oben 3 b ff). Umgekehrt liegt vielmehr nahe: Wenn ohnehin bereits in nahezu allen für eine Rechtslastentscheidung in Frage kommenden Verfahren die Parteien anwaltlich vertreten sind, so sollten die anwaltlichen Ressourcen auch durch Zuweisung von Überzeugungslasten genutzt werden.

cc) „In-Pflichtnahme“ der Anwaltschaft Eine „In-Plichtnahme“ der Anwaltschaft erscheint umso eher geboten, als sich der Berufsstand in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur wesentlich vermehrt,1146 sondern auch erheblich professionalisiert hat. Man kann zwar darüber streiten, ob die wachsende Zahl an Fachanwaltschaften auch wirklich zu einer Verbesserung der Beratungsqualität geführt hat. Kaum bestreiten lässt sich aber jedenfalls, dass die seit nunmehr über zwei Jahrzehnten andauernde Konzentration von Anwälten in Großkanzleien nach US-Vorbild dazu geführt hat, dass neben der staatlichen Justiz ganze Verwaltungsapparate entstanden sind, die personell und hinsichtlich ihrer Sachmittel (IT, Bibliotheken etc.) meist erheblich besser ausgestattet sind als die Gerichte. In nicht wenigen Verfahren von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung übernehmen diese Apparate dabei sogar die Funktion von (Schieds-) Gerichten (siehe hierzu noch unter ee).

_____ 1144 Siehe Malecki, Justiz, 2015, S. 40 f. Der Trend ist seitdem unverändert. Nach jüngsten Zahlen fanden im Jahr 2014 lediglich neun Prozent der erledigten Zivilverfahren vor dem Amtsgericht ohne anwaltliche Vertretung statt, in 46 Prozent der Verfahren waren beide Parteien anwaltlich vertreten – siehe Statistisches Bundesamt, Rechtspflege Zivilgerichte, 2015, S. 30. 1145 Siehe Malecki, Justiz, S. 44 ff. Lediglich rund 7% der amtsgerichtlichen Zivilverfahren hatten danach einen Streitwert über 5000 Euro. 1146 Siehe etwa Raiser, Rechtssoziologie, 6. Aufl. 2013, S. 354 f.

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Je nach Standpunkt wird man diesen Zustand begrüßen oder bedauern. Es spricht aber jedenfalls wenig dafür, dass sich daran auf absehbare Zeit wesentlich etwas ändern wird. Dann allerdings sollte das Prozessrecht sich an die gewandelte soziale Realität anpassen und durch Verdeutlichung anwaltlicher Prozessförderpflichten dazu beitragen, die neu entstandenen Ressourcen zu nutzen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, hat die Rechtsprechung zur Anwaltshaftung bereits auf die veränderte Lage reagiert. Das hier vorgeschlagene Instrument der Rechtslast folgt derselben Logik.

dd) Anwaltspflichten und Anwaltshaftung: iura novit advocatus Ein Anwalt, der seinem Mandanten unrichtigen Rechtsrat erteilt, kann diesem gegenüber haftbar sein. Insbesondere wird dabei nach heutigem Verständnis auch erwartet, dass ein Anwalt selbst entlegene Judikatur und Fachliteratur sowie zu erwartende Rechtsänderungen kennt und den Mandanten auf deren Grundlage zutreffend berät.1147 Gerade in den juristisch schwierigen Fällen, in Fällen, die typischerweise Zweifelsfragen aufwerfen, gilt der Grundsatz iura novit mithin nicht nur für das Gericht sondern in ähnlichem Maße auch für die Anwaltschaft.1148 Überdies fordert der BGH von der Anwaltschaft unterdessen nicht nur Aufklärung des Mandanten – sondern auch des jeweiligen Gerichts: Der heutige1149 Anwalt soll nicht nur seinen Mandanten sondern auch das Gericht – und sonstige staatliche Stellen1150 – vor etwaigen Irrtümern bewahren.1151 Er ist im Prozess mithin verpflichtet, „den Versuch zu unternehmen, das Gericht davon zu überzeugen, dass und warum seine Auffassung richtig ist. Mit Rücksicht auf das auch bei Richtern nur unvollkommene menschliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit eines Irrtums ist es Pflicht des Rechtsanwalts, nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und

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1147 Siehe BGH, AnwBl 2001, 118; sowie im Grundsatz bereits BGH, NJW 1979, 877; BGH NJW 1865, 1868, jeweils m.w.N. 1148 Siehe BVerfG, Beschl. v. 22.4.2009 – 1 BvR 386/09 –, insbes. Rn. 8 ff., wonach das Gericht der Einschätzung der Beschwerdeführer, es gebe keinen Rechtssatz des Inhalts „iura novit advocatus“ deutlich entgegentritt. 1149 Sehr viel zurückhaltender noch die Rspr. des RG – siehe etwa RGZ 142, 394. Umgekehrt hat in jüngerer Zeit das BVerfG im obiter dictum eines Kammerbeschlusses Zweifel an der Ausweitung von Anwaltspflichten erkennen lassen – siehe BVerfG, NJW 2002, 2937; instruktiv hierzu die krit. Analysen von Medicus, AnwBl 2004, S. 257, insbes. 260 ff.; sowie Knöfel, AnwBl 2004, S. 76, insbes. 78 ff. 1150 BVerfG, NJW 2013 , 2674, 2680. 1151 So erstmals BGH, NJW 1964, 2402, 2403.

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Versehen des Gerichts entgegenzuwirken […]. Daher muss er alles vorbringen, was die Entscheidung günstig beeinflussen kann […]. Hierzu können auch Rechtsauffassungen gehören […].“1152

Kennt etwa das erkennende Gericht eine bestimmte Rechtsprechung nicht, so ist der Anwalt dazu verpflichtet, die Richter nachdrücklich auf diese Judikatur hinzuweisen.1153 Zwar „weist die Zivilprozessordnung die Entscheidung und damit die rechtliche Beurteilung des Streitfalles dem Gericht zu; dieses trägt für sein Urteil die volle Verantwortung. Es widerspräche jedoch der rechtlichen und tatsächlichen Stellung der Prozessbevollmächtigten in den Tatsacheninstanzen, würde man ihre Aufgabe allein in der Beibringung des Tatsachenmaterials sehen. […] Schon nach der Zivilprozessordnung ist Aufgabe des Anwalts nicht nur die Beibringung der Tatsachengrundlage für die vom Richter zu treffende Entscheidung. Das zeigt etwa die Vorschrift des § 137 Abs. 2 ZPO, die gemäß § 525 ZPO auch im Berufungsrechtszug gilt. Nach § 137 Abs. 2 Halbsatz 2 ZPO haben die Vorträge der Parteien das Streitverhältnis auch in rechtlicher Beziehung zu umfassen. Der in diesem Zusammenhang oft zitierte Satz „iura novit curia“ betrifft das Verhältnis der juristisch nicht gebildeten Naturalpartei zum Gericht (vgl. Medicus AnwBl 2004, 257, 260). Der Anwalt hat dagegen – ebenso wie der Richter – die Befähigung zum Richteramt oder eine teilweise gleichwertige Qualifikation (§ 4 Abs. 1 BRAO). Der Anwaltszwang (§ 78 ZPO), der die Prozessparteien mit zusätzlichen Kosten belastet, wäre nicht zu erklären, wenn Aufgabe des Anwalts allein die Beibringung des Tatsachenmaterials wäre und nicht auch die rechtliche Durchdringung des Falls.“1154

Das Instrument der Rechtslast vollzieht diese Rechtsprechung zur Anwaltshaftung nach und kann sich dabei auch auf das moderne anwaltliche Selbstverständnis stützen.1155 Gleich der Beweislast im Bereich der Tatsachenfragen verdeutlicht die Rechtslast das anwaltliche Pflichtenprogramm im Bereich der Rechtsfragen – für den Anwalt selbst, für seinen Mandanten und für das Gericht. Die Anwälte (und ihre Mandanten) drängt das Instrument nachdrücklich dazu, in Zweifelsfällen für die ihnen günstige Rechtsauffassung argumentativ zu werben; dem Gericht erlaubt es, offensiv mit Zweifeln umzugehen und auf diese Weise Irrtümer aus Unwissenheit – aus eigener Unwissenheit und aus anwaltlicher Unwissenheit über eben diese Unwissenheit – zu vermeiden.1156

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BGH, NJW 1974, 1865, 1866. Siehe BGH, AnwBl 2009, 306 ff., m.w.N.; ähnlich erneut BGH, AnwBl 2009, 306, 307. BGH, AnwBl 2009, 306, 307 f. Vgl. § 1 III BORA; sowie BGH, AnwBl 2009, 306, 307. Vgl. erneut BGH, AnwBl 2009, 306, 309.

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ee) Privatisierung des Rechts Wachsender Rechtsstoff, stärkere globale wirtschaftliche Verflechtung, Professionalisierung der Anwaltschaft und eine Vielzahl weiterer interdependenter Faktoren haben zu einer Entwicklung geführt, die sich holzschnittartig mit dem Schlagwort von der „Privatisierung des Rechts“1157 kennzeichnen lässt. Diese Entwicklung zeigt sich in unterschiedlichen Facetten der Rechtspraxis. Sie zeigt sich erstens darin, dass private Akteure in wesentlichen Teilen des Wirtschaftslebens darauf verzichten, staatliche Stellen zur Durchsetzung ihrer Interessen zu bemühen. Bereits im Vorfeld wichtiger Transaktionen führt seit längerem jedes größere Wirtschaftsunternehmen mittels spezialisierter Anwälte und sonstiger Fachleute eine sogenannte due diligence1158 hinsichtlich des Transaktionsgegenstandes (etwa eines zu übernehmenden Unternehmens) durch und legt sämtliche Annahmen und Garantieansprüche in einem umfassenden, detaillierten Vertragswerk fest – statt sich für den späteren Streitfall auf die Entscheidung eines staatlichen Gerichts zu verlassen.1159 Kommt es dann doch zum Streit, so wird in diesen Fällen regelmäßig gleichwohl nicht ein staatliches Gericht angerufen, sondern die Entscheidung durch Schiedsklauseln an eine private Schiedsstelle (meist handelt es sich dabei um berufserfahrene, spezialisierte Anwälte von Großkanzleien) übertragen.1160 Selbst dort, wo es zum Äußersten kommt und Unternehmen in starke wirtschaftliche Schieflage geraten, wird häufig eine „private“ Lösung gesucht – etwa ein sogenannter debt to equity swap anstelle des oder neben dem eigentlichen Insolvenzverfahren.1161 Zweitens zeigt sich die Abwendung von hoheitlichen Entscheidungen aber nicht nur bei den „Großen und Mächtigen“ – sondern auch im Alltag des Rechtslebens der Bürger. Mediation und Schlichtung sind feste Bestandteile der Rechtskultur geworden (vgl. hierzu bereits oben B IV 3 e bb (3)). Die Privatisierung des Rechts zeigt sich drittens – und teilweise als Folge, zuweilen vielleicht auch als Grund der vorgenannten Verschiebungen – in der Entwicklung des Arbeitsmarkts und der Ausbildung der Juristen selbst. Bereits in der Ausbildung in Studium und Referendariat liegt heute der Schwerpunkt wesentlich stärker als früher in der Anleitung für die anwaltliche Praxis.1162 Bei

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1157 Siehe hierzu etwa Köndgen, AcP 206 (2006), S. 477 ff.; sowie Leisner, „Privatisierung“ des Öffentlichen Rechts, 2007, passim. 1158 I.e. eine mit der gebotenen Sorgfalt durchzuführende Risikoprüfung. 1159 Siehe hierzu etwa Fleischer/Körber, BB 2001, S. 841 ff.; sowie umfassend Beisel/Klumpp et al., Der Unternehmenskauf, 6. Aufl. 2009, S. 35 ff., 365 ff. insbes. 1160 Siehe erneut etwa Beisel/Klumpp et al., Der Unternehmenskauf, 6. Aufl. 2009, S. 403 ff. 1161 Siehe hierzu jüngst von Oppen/Richers, Corporate Finance 2015, S. 95 ff. 1162 Die Ausbildungsgesetze der Bundesländer sowie die Studien- und Prüfungsordnungen fast aller Universitäten enthalten mittlerweile entsprechende Vorgaben. So nimmt im Juristi-

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der Arbeitstätigkeit der Juristen geht die Entwicklung der Zahlen hinsichtlich der Mitglieder der Richterschaft einerseits und der Anwaltschaft andererseits bereits seit langem auseinander.1163 Auch in der jüngeren Vergangenheit hält dieser Trend an: Zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2012 sank die Zahl der Richter an deutschen Gerichten insgesamt um knapp zwei Prozent1164 – während gleichzeitig die Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte um 47 Prozent zunahm.1165 Viertens schließlich nehmen Private heute in nicht ganz zu vernachlässigendem Maße auch eigentliche juristische Aufgaben von Exekutive und Legislative wahr – sei es bei der Akkreditierung von Studiengängen an Universitäten1166 oder bei der Entwicklung internationaler Rechnungslegungsstandards1167 und Regelwerke zur Unternehmensführung1168. Das Instrument der Rechtslast kann diese Entwicklung nicht aufhalten und schon gar nicht umkehren. Das Instrument kann aber zum einen den Drang zur Flucht ins Private insofern abschwächen, als Entscheidungen staatlicher Gerichte besser vorab kalkulierbar erscheinen. Zum anderen macht das Instrument die gewachsenen Kompetenzen privater Akteure, insbesondere spezialisierter Anwälte, stärker für das staatliche Gerichtssystem nutzbar und sichtbar und trägt damit zur Entlastung des staatlichen Systems in den übrigen Fällen bei.

e) Einfluss auf die Normgebung Jedenfalls bei komplexen Tatbeständen liefern Lastinstrumente, die vorrangig an die Sprachform der Norm anknüpfen, dort besonders brauchbare Ergebnisse,

_____ schen Vorbereitungsdienst (Referendariat) die Anwaltsstation inzwischen häufig mehr als ein Drittel der gesamten Ausbildungszeit ein (vgl. exemplarisch § 14 JAG Berlin i.d.F. v. 22.3.2016). 1163 Siehe Raiser, Rechtssoziologie, 6. Aufl. 2013, S. 354 f. 1164 Dabei bestanden erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Gerichtszweigen. Insbesondere wurde ein starker Stellenabbau in mehreren Gerichtszweigen durch eine erhebliche Aufstockung der Sozialgerichtsbarkeit (+ 50%) teilweise aufgewogen. 1165 Siehe Malecki, Justiz, 2015, S. 36; vgl. zum Ganzen auch schon die vorstehenden Abschnitte sowie oben 3 b ff. 1166 Siehe hierzu krit. Lege, JZ 2005, S. 698 ff.; sowie Lege, Forschung und Lehre 5/2006, S. 8 ff. 1167 Die International Financial Reporting Standards (IFRS) werden durch das International Accounting Standard Board (IASB) entwickelt. Die Mitglieder des IASB werden aber nicht von staatlichen Stellen ernannt und die Trägerorganisation des IASB, die International Accounting Standards Committee Foundation (IFRSF), ist eine Stiftung internationalen Rechts mit Sitz in Delaware, U.S.A. Siehe hierzu etwa Möllers/Fekonja, ZGR 2012, S. 777, 798 ff.; sowie ausführlicher Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer, Kapitalmarktgesetzgebung, 2008, S. 167 ff. 1168 Auch der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) ist ein Werk privater Rechtsetzung. Siehe hierzu erneut Möllers/Fekonja, ZGR 2012, S. 777, 803 ff.

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wo der Gesetzgeber die Lastverteilung bei Konstruktion der Norm mit bedacht hat. Dies ist bei der Beweislast so und bei der Rechtslast nicht anders. In the long run wird die Anwendung des Instruments der Rechtslast daher auch dazu führen, dass sich Legislative und Exekutive (womöglich sogar: Vertragspartner im Zivilrecht) um mehr (sprachliche) Klarheit bei der Konstruktion von Rechtsnormen bemühen.1169 Insbesondere im Öffentlichen Recht und Strafrecht – wo die Rechtslast überwiegend den Staat trifft (siehe oben 2 b bb (2) und (3)) – dürfte sich ein positiver Einfluss bemerkbar machen: Will die Öffentliche Hand sich dort nicht dem Risiko aussetzen, „im Zweifel“ aufgrund unklarer Normen vor Gericht zu unterliegen, so ist sie gehalten, ihre Eingriffsbefugnisse so klar wie möglich zu fassen. Überspannte Erwartungen sollte man insofern freilich nicht hegen. Eindeutigkeit ist in der Normgebung nie erreichbar – und auch das Instrument der Beweislast hat in der Gesetzgebung nur begrenzte „pädagogische“ Wirkung erzielt. Aber es wäre gleichwohl ein Erfolg, wenn der Gesetzgeber sich zusätzlich bemüßigt fühlte, die ein oder andere „Dunkelnorm“ etwas zu erhellen. Als positive „Nebenwirkung“ gewissermaßen würde eine klarere Strukturierung von Rechtsnormen durch den Gesetzgeber übrigens auch eine für die Gerichte vereinfachte und für die Parteien besser vorhersehbare Anwendung des Beweislastinstruments befördern. Denn die hier vorgeschlagene Wirkweise des Rechtslastinstruments entspricht im Kern der Wirkweise des Beweislastinstruments (vgl. oben 2) – so dass jede Verbesserung der Struktur einer Rechtsnorm beiden Zweifelsinstrumenten zu Gute kommt.

f) Zwischenergebnis Kernanliegen und Hauptertrag des Rechtslastinstruments ist ein erhöhtes Maß an Erwartungssicherheit für die Parteien eines Rechtsstreits; die anhand der Rechtslast vermittelte Risikoverteilung bei Ungewissheit ermöglicht es den Parteien, die Chancen und Risiken des Rechtsstreits genauer abzuschätzen. Zum Ertrag des Rechtslastinstruments zählt daneben aber auch eine Stärkung der juristischen Dogmatik durch Transparenz, durch Offenlegung der Schwächen und Ungewissheiten des geltenden Rechts. Langfristig könnte die Zulässigkeit von Rechtslastentscheidungen auch zu einer Entlastung des Rechtssystems führen. Überdies wird mit dem Instrument der Rechtslast die Praxis der gerichtlichen Rechtsanwendung an eine veränderte soziale Realität angepasst; diese soziale Realität ist unter anderem durch verschiedene Elemente einer „Privatisierung“ des Rechts sowie durch gewachsene anwaltliche Kompetenzen gekennzeichnet; diese Kom-

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1169 In diese Richtung auch Krebs, AcP 195 (1995), S. 171, 196.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

petenzen lassen sich durch die (präventive) Wirkweise der Rechtslast stärker nutzbar machen. Positiven Einfluss könnte das Instrument der Rechtslast langfristig auch auf die Gesetzgebungstätigkeit haben; denn die Existenz des Instruments sollte den Gesetzgeber dazu veranlassen – insbesondere im Öffentlichen Recht – mehr als bislang auf eine klare Normstruktur zu achten.

5. Zusammenfassung Neben dem Regelsystem der Beweislast finden sich in der bestehenden Dogmatik eine ganze Reihe von Ansätzen für Lastinstrumente als Mittel der Entscheidungsfindung. Diese Ansätze belegen zusätzlich, dass entsprechende Regeln zur Lösung juristischer Zweifelsfälle dem Recht nicht fremd sind – sie taugen aber nicht als Muster für das hier vorgeschlagene Instrument der Rechtslast (oben 1). Als Grundlage des Rechtslastinstruments erweisen sich alle denkbaren materiellen Entscheidungskriterien als weitgehend ungeeignet; als generelle Letztentscheidungsmaximen sind diese Kriterien weder hinreichend begründbar noch bieten sie ein Mehr an Rechtssicherheit. Stattdessen orientiert sich das hier entwickelte Regelsystem der Rechtslast eng an dem hergebrachten Regelsystem der Beweislast (oben 2). Gegen die Rechtslast als Regelung zur Entscheidung anders nicht lösbarer Zweifelsfälle können eine Reihe von Einwänden vorgebracht werden. Nur wenige dieser Einwände allerdings erweisen sich als wenigstens teilweise stichhaltig. Keiner der Einwände vermag das Instrument der Rechtslast letztlich wirklich in Frage zu stellen (oben 3). Als Ertrag verspricht die Rechtslast demgegenüber vor allem einen Gewinn an Rechtssicherheit. Daneben sind aber auch eine Stärkung der juristischen Dogmatik und langfristig eine teilweise Entlastung der Gerichte zu erwarten. Aus der Anpassung der Rechtsanwendung an eine sich wandelnde soziale Realität sowie durch den mittelbaren Einfluss auf die Normgebung können sich zusätzliche Erträge ergeben (oben 4).

III. Rechtliches Fundament der Rechtslast C. Rechtslast als Zweifelsregel III. Rechtliches Fundament der Rechtslast

Was für die Regeln der Beweislast gilt (vgl. oben B IV 3 f), gilt in ähnlicher Weise für das Zweifelsinstrument der Rechtslast: Ohne ein tragfähiges rechtliches Fundament lässt sich eine Lastregel nicht überzeugend begründen. Dieses rechtliche Fundament kann nur verfassungsrechtlicher Natur sein – denn aus

III. Rechtliches Fundament der Rechtslast

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einfachrechtlicher Sicht bestehen für das Instrument der Rechtslast de lege lata weder Grund noch Grenzen.1170 Mithin sind einerseits erneut zunächst die verfassungsrechtlichen Grenzen zu beleuchten (1), bevor die möglichen Bestandteile einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung zur Lastentscheidung ermittelt werden können (2). Angesichts der – in diesem Werk behaupteten – Ähnlichkeit der Grundproblematik und Parallelität der Lösungsansätze wird dabei wenig überraschen, wenn jeweils auch die verfassungsrechtlichen Erwägungen zur Rechtslast weitgehend parallel verlaufen zu den entsprechenden Überlegungen im Bereich der Beweislast.

1. Verfassungsrechtliche Grenzen Aus den grundgesetzlichen Vorgaben (a) ergeben sich bestimmte Folgerungen sowohl für das Instrument der Rechtslast als auch für die alternativen Instrumente zur Entscheidungsfindung im Zweifelsfall (b).

a) Grundgesetzliche Vorgaben Das Grundgesetz schreibt keine bestimmte Methode der Auslegung oder der Rechtsanwendung im Übrigen vor. 1171 Anders als etwa das österreichische Recht1172 enthält auch das deutsche einfache Recht kaum ausdrückliche Bestimmungen für seine eigene Auslegung durch die Gerichte. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das deutsche (Verfassungs-) Recht gänzlich methodenneutral wäre; jedenfalls im Grundsatz sind Methodenfragen zugleich auch Verfassungsfragen.1173 Denn das Grundgesetz setzt seit dem Zeitpunkt seiner Entstehung bestimmte Auslegungsmethoden schlicht voraus1174 – und setzt darüber hinaus weiteren Methoden Grenzen. Zu den im Grundgesetz vorausgesetzten Auslegungsregeln dürften insbesondere die oben (B III 2 b) dargestellten canones zählen.1175 Ihre selbstverständ-

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1170 Vgl. allerdings den möglichen Einwand unter II 3 a bb; sowie den Vorschlag de lege ferenda unter IV. 1171 Vgl. BVerfGE 88, 145, 166 f. 1172 Vgl. §§ 5 ff. ABGB. 1173 Siehe Rüthers, Vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2014, S. IV; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 488; sowie im Ergebnis ähnlich Böckenförde, NJW 1976, S. 2089, 2097 f. 1174 Siehe das Sondervotum der Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio in BVerfGE 122, 248, 282 ff. 1175 Siehe erneut BVerfGE 122, 248, 282 ff.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

liche Anwendung war zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung bereits derart Allgemeingut, dass eine ausdrückliche Aufnahme in den Text des Grundgesetzes im Grunde entbehrlich war, um ihnen Geltung zu verschaffen. Die Geltung dürfte nichtsdestoweniger implizit verfassungsrechtlich verbürgt sein.1176 In welcher Weise und in welchem konkreten Umfang allerdings die canones der Auslegung als implizites Verfassungsrecht Geltung haben, kann für Zwecke dieses Werks dahinstehen. Denn die betreffenden herkömmlichen Auslegungsregeln werden durch das hier vorgeschlagene Instrument der Rechtslast nicht in Frage gestellt. Daneben enthält das Grundgesetz aber auch explizite Grenzen der Rechtsanwendung durch die Gerichte. Solche Grenzen setzen wiederum1177 insbesondere die Gebote der Willkürfreiheit, der Achtung des Gleichheitsgrundsatzes auch im Übrigen, der möglichst weitgehenden Vorhersehbarkeit (Rechtssicherheit), der Verhältnismäßigkeit sowie der Berücksichtigung grundrechtlicher Bestimmungen. 1178 Diese Grenzen begrenzen nicht nur das jeweilige Ergebnis der Rechtsanwendung – sondern, und darauf allein kommt es im vorliegenden Kontext an, bereits die Wahl der Mittel der Rechtserkenntnis. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Wenn im Rahmen einer Ermittlung ausländischen Rechts nach § 293 ZPO oder zur Beantwortung einer komplexen steuerrechtlichen Frage1179 das erkennende Gericht darauf verfallen würde, bei einem Streitwert von EUR 500,– ein mit erheblichen Kosten verbundenes Gutachten anzufordern, so wäre dieses Mittel der Rechtserkenntnis (unabhängig vom späteren Ergebnis) am rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen. Wenn das Mittel bzw. dessen (hier: finanzielle) Folgen außer Verhältnis stehen zu dem möglichen Ertrag, dann kann seine Wahl unzulässig sein. Entsprechendes gilt für ein Mittel, das als solches Rechte der Parteien verletzt. Zu diesen Rechten zählen insbesondere auch die allgemeine prozessuale Waffengleichheit der Parteien1180 sowie die Garantie effektiven Rechtsschutzes1181 als Ausflüsse des Rechtsstaatsprinzips.

b) Folgerungen Aus den vorstehend im Überblick dargestellten Vorgaben lassen sich Folgerungen nicht nur für das Instrument der Rechtslast ziehen (aa), sondern auch für

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1176 Vgl. zum Ganzen etwa Starck, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatrechts, Bd. 12, 3. Aufl. 2014, S. 613, 623 ff. 1177 Zur Parallele im Bereich der Tatsachenermittlung siehe oben B IV 3 f cc (1). 1178 Vgl. bereits BVerfGE 7, 89, 92; BGHSt 18, 274, 277. sowie etwa Starck, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatrechts, Bd. 12, 3. Aufl. 2014, S. 613, 628 ff., m.w.N. 1179 Vgl. insofern BGHZ 140, 111, 113. 1180 Vgl. BVerfGE 38, 105, 111. 1181 Vgl. BVerfGE 112, 185, 207; 88, 118, 123.

III. Rechtliches Fundament der Rechtslast

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die denkbaren alternativen Instrumente der Entscheidungsfindung im Zweifelsfall (bb). Auf Beides wird es weiter unten noch ankommen.

aa) Folgerungen für das Instrument der Rechtslast Das hier entwickelte Instrument der Rechtslast setzt dort an, wo die vom Grundgesetz vorausgesetzten Auslegungsregeln ihre Funktion nicht zu erfüllen vermögen. In diesen Zweifelsfällen der Rechtsanwendung führt das Instrument der Rechtslast – analog dem Instrument der Beweislast in Tatsachenfragen – eine anders nicht rational begründbare Entscheidung herbei, ohne dabei eine der vorstehend benannten verfassungsrechtlichen Grenzen zu verletzen. Insbesondere basiert die Rechtslastentscheidung nicht auf Willkür, sondern auf vorab bestimmter Risikozuweisung (vgl. hierzu auch oben II 3 b ee) unter strikter Achtung des Gleichheitsgrundsatzes. Denn den Parteien werden zwar unterschiedliche – und insofern „ungleiche“ – Lasten aufgebürdet. Ebenso wie dies auch bei der Beweislast der Fall ist, wird aber jeder Person für die gleiche Rechtsbehauptung auch die gleiche Last aufgelegt. Gleiches wird insofern immer gleich behandelt. Soweit auf der übergeordneten Ebene die Ungleichbehandlung von „Angriff“ und „Verteidigung“ bei einer Rechtsbehauptung (ebenso wie im Falle einer Tatsachenbehauptung) am Gleichheitssatz zu messen ist – worüber man streiten mag –, findet diese Ungleichbehandlung ihre Rechtfertigung in der vom Gesetzgeber aus Sachgründen jeweils vorgegebenen Normstruktur. Auch die Prozessgrundrechte der Parteien bleiben vom Instrument der Rechtslast unberührt. Für das Gebot der prozessualen Waffengleichheit gilt dabei das bereits vorstehend zum allgemeinen Gleichheitsgrundsatz Skizzierte. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes wird insbesondere durch die Verdeutlichung anwaltlicher Pflichten und die Nutzbarmachung anwaltlicher Kompetenzen nach hier vertretener Auffassung sogar gestärkt – wohingegen die Gefahr richterlicher Verführung zur Untätigkeit kaum ins Gewicht fällt (vgl. oben zusammenfassend II 4 f). Aufgrund seiner formalen Natur greift das Instrument der Rechtslast auch nicht in Grundrechte der beteiligten Parteien ein. Das Instrument bevorzugt oder benachteiligt keine der jeweils grundrechtlich geschützten Interessen der Parteien. Allenfalls führt die Ausgangsvermutung in dubio pro libertate im Öffentlichen Recht dazu, dass die Pflicht des Staates zum Nichteingriff in Grundrechte seiner Bürger der staatlichen Schutzpflicht für dieselben im Ausgangspunkt vorgeht. Diese teilweise Vorrangrelation ist nach hier vertretener Auffassung aber selbst verfassungsrechtlich vorgegeben (vgl. oben II 2 a aa (2)).

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Allenfalls lässt sich darüber streiten, ob das Instrument der Rechtslast als Mittel der Rechtsanwendung im Zweifelsfall in die allgemeine Handlungsfreiheit der Parteien aus Art. 2 I GG eingreift (vgl. erneut oben II 2 a aa (2)). Denn die Parteien werden im Falle einer Rechtslastentscheidung gezwungen, diese Lastentscheidung als solche zu dulden – einschließlich der Obliegenheiten, die mit einer entsprechenden Entscheidung im Vorfeld für die Parteien einhergehen. Sachlicher Grund für den Eingriff, will man einen solchen denn bejahen, wäre dann aber richterliche Pflicht zur Entscheidung auch im Zweifelsfall, verbunden mit der Unmöglichkeit auf herkömmlichen Wege zu einer Entscheidung zu gelangen (vgl. insofern noch unter 2). Unabhängig von einem etwaigen Eingriff in Art. 2 I GG ist das Instrument der Rechtslast auch am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu messen. Dabei gilt es einen Alternativenvergleich anzustellen zwischen den überhaupt vorstellbaren Mitteln einer Zweifelsentscheidung. Das Mittel der Rechtslast ist danach zulässig, wenn kein milderes gleich geeignetes Mittel der Zweifelsentscheidung zur Verfügung steht (siehe hierzu noch unter 2). Zweifelhaft ist daneben einzig, ob nicht richterliche Entscheidungen mittels des formalen Zweifelsinstruments der Rechtslast dem Vorbehalt des Gesetzes unterfallen. Nach einem obiter dictum in einem Kammerbeschluss des BVerfG aus dem Jahr 2002 seien die Gerichte verfassungsrechtlich nicht legitimiert, den Rechtsanwälten eine Verantwortung für die richtige Rechtsanwendung aufzubürden.1182 Diese Entscheidung ist aber zu Recht auf deutliche Kritik gestoßen.1183 Denn insoweit gelten die bereits oben dargestellten Erwägungen zur Beweislast (siehe unter B IV 3 f cc (1)): Insbesondere handelt es sich bei der Grundrechtswesentlichkeit von Normen zur Zweifelsentscheidung lediglich um Grundrechtswesentlichkeit „zweiter Ordnung“; das primäre Risiko einer Grundrechtsbeschränkung ergibt sich für den Bürger bereits aus der jeweiligen eigentlich anzuwendenden (zumeist: materiellen) Rechtsnorm. Und die Verantwortung der Rechtsanwälte, die als Obliegenheit aus der Anwendung des Lastinstruments folgt, ist lediglich Reflex dieses Instruments. Vor diesem Hintergrund erscheint auch eine gesetzliche Regelung der Entscheidung von rechtlichen Zweifelsfragen zwar aus Klarstellungsgründen rechtspolitisch wünschenswert – nicht aber verfassungsrechtlich geboten (zum Vorschlag einer einfachrechtlichen Vorschrift de lege ferenda siehe noch unter IV).

_____ 1182 Siehe BVerfG, NJW 2002, 2937. 1183 Siehe nachdrücklich – wenngleich ohne explizite Bezugnahme – BGH, AnwBl 2009, 306, 307; sowie aus dem Schrifttum etwa die Stellungnahmen von Knöfel, AnwBl 2004, S. 76; Medicus, AnwBl 2004, S. 257; vgl. überdies auch BVerfG, Beschl. v. 22.4.2009 – 1 BvR 386/09 –, insbes. Rn. 8 ff.

III. Rechtliches Fundament der Rechtslast

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bb) Folgerungen für alternative Entscheidungsinstrumente Als alternative Entscheidungsinstrumente kommen zuvörderst die oben (unter II 2 a) erörterten materiellen Lastinstrumente in Betracht. Bereits im dortigen Zusammenhang ließ sich feststellen, dass – mit Ausnahme der teilweisen Vorrangrelation in dubio pro libertate im Öffentlichen Recht – alle insofern ernstlich in Betracht kommenden Instrumente jedenfalls auch an verfassungsrechtlichen Grenzen scheitern. Denn diese Instrumente begünstigen einseitig und ohne hinreichende Differenzierung einzelne grundrechtlich geschützte Interessen und beeinträchtigen dadurch regelmäßig andere grundrechtliche Interessen mit gleichem oder gar höherem Gewicht. Neben solchen materiellen Lastinstrumenten sind zur Herbeiführung einer Entscheidung im Zweifelsfall weitere Alternativen vorstellbar. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um bereits im Rahmen der Erwägungen zur Beweislast erörterte Mittel (vgl. oben B IV 3 e bb (2)–(4)): Quotelung, Prozessvergleich und Losverfahren. Hinsichtlich der (Un-) Zulässigkeit dieser Mittel zur Entscheidung von Zweifelsfällen gelten die dort angestellten Erwägungen entsprechend. Danach dürften Quotelung und Losverfahren im Ergebnis an verfassungsrechtlichen Grenzen scheitern. Sieht man dies anders, wären diese Mittel am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu messen (siehe insofern noch unten 2 b). Das Instrument des Prozessvergleichs ist bereits aus praktischen Gründen kein vollständiges Rechtslastäquivalent. Denn ein solcher Vergleich kann naturgemäß nur mit Zustimmung der Parteien zustande kommen.

2. Verfassungsrechtliche Ermächtigung Eine ausdrückliche einfachrechtliche Ermächtigung zur Entscheidung mittels eines Lastinstruments ist – in Rechtsfragen wie in Tatsachenfragen (siehe oben B IV 3 f cc (1)) – nur dann entbehrlich, wenn sich eine allgemeine Ermächtigung zur richterlichen Zweifelslastentscheidung jedenfalls in ihrem Kern überhaupt irgendwie verfassungsrechtlich herleiten lässt. Dabei ist zwischen dem „Ob“ (a) und dem „Wie“ (b) der Entscheidung zu unterscheiden. Ausgangspunkt der Herleitung ist dabei in beiden Fällen der allgemeine1184 Justizgewähranspruch.

_____ 1184 Für einige Konstellationen ist der Anspruch speziell geregelt, etwa in Art. 19 Abs 4 GG – siehe den Überblick bei Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 20 VII Rn. 133.

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

a) Ermächtigung zur Zweifelsentscheidung als solcher Der allgemeine Justizgewähranspruch zählt nach ganz h.M. zu den verfassungsrechtlich gewährten Leistungsrechten im weiteren Sinne.1185 Ebenso wie die übrigen Prozessgrundrechte und richterrechtlichen Ausprägungen des Rechtsstaatsgebots gilt der Justizgewähranspruch unmittelbar, so dass bei Fehlen prozessrechtlicher Bestimmungen im einfachen Recht darauf zurückgegriffen werden kann.1186 Zum Inhalt des Justizgewähranspruchs gehört, dass der Richter in sämtlichen Rechtsgebieten auch bei rechtlicher Ungewissheit dazu verpflichtet ist, den jeweiligen Fall in angemessener Frist verbindlich zu entscheiden.1187 Und notwendig korrespondiert dieser Pflicht zur Zweifelsentscheidung wiederum eine entsprechende verfassungsunmittelbare Ermächtigung. Denn die Pflicht zur Entscheidung ist ohne die Rechtsmacht zur Entscheidung nicht denkbar. Subjektiv-rechtlich gewendet: Die Parteien haben vor Gericht auch in äußersten Zweifelsfällen verfassungsunmittelbar Anspruch auf (zeitnahe) Entscheidung „ihres“ Rechtsstreits – und sind umgekehrt verpflichtet, eine entsprechende Zweifelsentscheidung als solche auch in diesen Fällen hinzunehmen.

b) Zulässige Mittel der Zweifelsentscheidung Allerdings bedarf nicht nur die richterliche Zweifelsentscheidung als solche („Ob“ einer Entscheidung auch im äußersten Zweifelsfall) der Ermächtigung – sondern ebenso die Frage, mit welchen Mitteln der Richter in tatsächlichen oder rechtlichen Zweifelsfällen zu dieser Entscheidung gelangen soll („Wie“ einer Entscheidung). Auch der methodische Umgang mit solchen äußersten Zweifelsfällen ist – von einzelnen Ausnahmen abgesehen (vgl. oben II 1) – nicht ausdrücklich gesetzlich normiert. Diese „Lücke“ ist daher wiederum nur auf einem einzigen Wege überbrückbar: im Wege einer verfassungsunmittelbaren Ermächtigung. Allerdings liefert auch das Grundgesetz weder eine ausdrückliche konkrete Ermächtigung, noch lässt sich eine solche unmittelbar aus den einzelnen Vorschriften der Verfassung ableiten. Bereits oben (unter II 2 a) haben wir gesehen, dass entsprechende Versuche einer Ableitung von einzelnen Zweifelsmaximen

_____ 1185 Siehe grundlegend BVerfGE 54, 277; 85, 337; sowie Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Losebl. Stand 01/2011, Art. 20 VII Rn. 133; und Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, S. 761, 768, jeweils m.w.N. 1186 Siehe Degenhart, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, S. 761, 769, m.w.N. 1187 Siehe Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG Kommentar, Losebl. Stand 10/2011, Art. 20 VII Rn. 133, m.w.N.

III. Rechtliches Fundament der Rechtslast

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aus den Vorgaben des Grundgesetzes im Wesentlichen scheitern. Da aber gleichwohl auch in äußersten Zweifelsfällen eine Entscheidung gefunden werden muss (siehe vorstehend Abschnitt a), kann die Lösung nur aus einem Alternativenvergleich unter den überhaupt vorstellbaren Varianten einer Zweifelsentscheidung anhand der grundgesetzlichen Vorgaben gefolgert werden. Dabei geht es zunächst um die Grundentscheidung zwischen dem Instrument der Rechtslast als solchem (aa) – und in einem nächsten Schritt um die konkret-inhaltliche Verteilung der Rechtslast (bb).

aa) Das Mittel der Rechtslast als solches Zunächst sind in einem ersten Grobraster diejenigen möglichen Mittel einer Zweifelsentscheidung auszuscheiden, die als solche in (Spezial-) Grundrechte eingreifen oder gegen sonstige verfassungsrechtliche Bestimmungen verstoßen würden – also genau diejenigen Mittel, die an den im vorstehenden Abschnitt dargelegten verfassungsrechtlichen Grenzen scheitern. Nach dort vertretener Auffassung scheitern alle denkbaren Rechtslastäquivalente an diesen Grenzen – mit Ausnahme des Prozessvergleichs, dessen praktische Durchführbarkeit aber vom Einvernehmen der Parteien abhängt. Vertritt man demgegenüber die Auffassung, eines der erörterten Instrumente – insbesondere Quotelung oder Losverfahren – wären mit oder ohne entsprechende gesetzliche Regelung für sich genommen mit den grundgesetzlichen Grenzen vereinbar, so wären diese Instrumente noch in einem Alternativenvergleich am Maßstab der Verhältnismäßigkeit als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips zu messen. Dabei wäre jeweils ein Alternativenvergleich anzustellen zwischen dem Instrument der Rechtslast einerseits und den genannten Alternativinstrumenten andererseits. Gegenüber dem Alternativinstrument der Quotelung wäre das Instrument der Rechtslast in diesem Vergleich schon deshalb überlegen, weil eine Vielzahl von Ansprüchen einer solchen Quotelung gar nicht zugänglich ist (vgl. oben B IV 3 e bb (2)). Ein Zweifelsinstrument, das lediglich auf einen kleinen Teil von Rechtsstreitigkeiten Anwendung finden kann – im Wesentlichen solche, in denen ein Geldanspruch in Frage steht –, ist als allgemeines Zweifelsinstrument schlicht ungeeignet. Gegenüber dem Alternativinstrument des Losverfahrens ist das Instrument der Rechtslast jedenfalls aus Gründen der Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen deutlich überlegen. Denn Eigenart des Losverfahrens ist gerade die Tatsache, dass das Ergebnis vorab ungewiss ist. Demgegenüber ermöglicht das Instrument der Rechtslast eine erhöhte Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen in Zweifelsfällen (oben II 4 a).

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass das Instrument der Rechtslast auch gegenüber der Möglichkeit des Prozessvergleichs selbst in Fällen, in denen die Parteien grundsätzlich vergleichsbereit sind, überlegen sein kann. Denn die Vergleichsbereitschaft der Parteien hängt oftmals wesentlich von bestimmten außerrechtlichen Faktoren (etwa dem Vorliegen einer Rechtsschutzversicherung) ab. In solchen Fällen kann eine „harte“ Rechtslastentscheidung gegenüber einer ausgehandelten Lösung im Hinblick auf die prozessuale Waffengleichheit der Parteien vorzugswürdig sein.

bb) Konkret-inhaltliche Verteilung der Rechtslast Einen Schritt weitergehend stellt sich nochmals die Frage nach der konkretinhaltlichen Verteilung der Rechtslast – und zwar nach der verfassungsrechtlichen Grundlage der bereits oben (unter II 2) begründeten Lastverteilung. Nach den dort dargestellten Grundsätzen hat im Zweifelsfall bei Anspruchsnormen der Anspruchsbehauptende und bei Gegennormen sein jeweiliger Gegner die Rechtslast zu tragen. Dieser Grundsatz der Lastverteilung ist nicht im engeren Sinne verfassungsrechtlich vorgegeben. Es gibt keinen ausdrücklichen oder auch nur abgeleiteten verfassungsrechtlichen Grundsatz des vorgenannten Inhalts. Jedoch ist der Grundsatz der Lastverteilung dem neuzeitlichen (deutschen) Recht, einschließlich des Grundgesetzes, in ähnlicher Weise vorgegeben wie die etablierten canones der Auslegung (vgl. oben 1 a). Denn dieses neuzeitliche Recht ist bis in seine tiefsten Verästelungen grundsätzlich nach genau jenem an prozessualer Waffengleichheit orientierten Antagonismus strukturiert, auf welchem die konkret-inhaltliche Verteilung der Rechtslast ebenso fußt, wie die konkretinhaltliche Verteilung der Beweislast (vgl. oben B IV 3 f dd (2)). Die ausdrücklichen Bestimmungen des Grundgesetzes sind für Zwecke der konkret-inhaltlichen Verteilung der Rechtslast daher nur dort relevant, wo die Normstruktur der (einfachrechtlichen) Normen im Einzelfall nicht oder nicht hinreichend erkennbar zwischen Anspruch und Gegennorm differenziert. Insbesondere kommt im Öffentlichen Recht als Ausgangspunkt die teilweise Vorrangrelation in dubio pro libertate aus Art. 2 I GG zum Tragen (vgl. oben II 2 a aa (2)).

3. Zusammenfassung Das rechtliche Fundament der Rechtslast als Instrument zur Entscheidung von Zweifelsfällen in der Rechtsanwendung kann sich mangels einfachrechtlicher

IV. Rechtslast als Zweifelsregel de lege ferenda

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Grundlage de lege lata nur unmittelbar aus verfassungsrechtlichen Erwägungen ergeben. Das Rechtslastinstrument hält sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen, wohingegen sämtliche Alternativinstrumente entweder mit den grundgesetzlichen Vorgaben unvereinbar sind und/oder aus praktischen Gründen nicht als allgemeine Alternative in Betracht kommen. Die Ermächtigung der Gerichte zur Entscheidung per Rechtslast als solcher ergibt sich aus dem Justizgewährgebot in Verbindung mit einem Alternativenvergleich im Rahmen des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips. Das Justizgewährgebot verpflichtet und zugleich ermächtigt die Gerichte zur Entscheidung eines jeden Rechtsstreits auch im äußersten Zweifelsfall. Gemessen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist hierfür allein das Instrument der Rechtslast allgemein geeignet. Sämtliche alternativ in Betracht kommenden Mittel der Zweifelsentscheidung – soweit sie nicht bereits an verfassungsrechtlichen Grenzen scheitern – sind weniger geeignet, bei unüberwindbaren rechtlichen Zweifeln eine Fallentscheidung herbeizuführen. Die konkret-inhaltliche Verteilung der Rechtslast folgt aus der dem neuzeitlichen (deutschen) Recht, einschließlich des Verfassungsrechts, vorgegebenen Strukturierung von Rechtsnormen nach Anspruch und Gegennorm. Dort wo – insbesondere im Öffentlichen Recht – diese Normstruktur nicht hinreichend klar vorgegeben ist, kann sich die Unterscheidung zwischen Anspruch und Gegennorm aus den Bestimmungen des Grundgesetzes ergeben.

IV. Rechtslast als Zweifelsregel de lege ferenda C. Rechtslast als Zweifelsregel IV. Rechtslast als Zweifelsregel de lege ferenda

In den vorstehenden Kapiteln wurde begründet, weshalb das Instrument der Rechtslast als Ergänzung der hergebrachten Auslegungsgrundsätze nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern auch aufgrund praktischer Erwägungen geeignet und als mildestes Mittel zur Entscheidung äußerster Zweifelsfälle erforderlich ist. Nach hier vertretener Auffassung besteht daher sogar ein verfassungsrechtliches Gebot zur Entscheidung per Rechtslast in den betreffenden Fällen. Zumindest aber wären aufgrund der vorstehenden Ergebnisse bereits nach der bestehenden Rechtslage die Gerichte nicht gehindert, in diesen Fällen die Rechtslastregel zur Anwendung zu bringen. Wenn im Folgenden gleichwohl, scheinbar hilfsweise, eine Erörterung de lege ferenda „nachgeschoben“ wird, so liegt der Verdacht nahe, der Autor traue seinen eigenen Thesen nicht in Gänze. Die Beweggründe dieses kurzen Schlusskapitels liegen jedoch an anderer Stelle. Die gesetzliche Positivierung der Rechtslast als Zweifelsregel hätte nämlich zumindest zwei Vorzüge: Erstens würde sie schlicht den Prozess ihrer Einführung in die Praxis erheblich abkür-

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

zen. Und zweitens diente sie – je nach Grad der Detaillierung – in erheblichem Maße zusätzlicher Rechtsklarheit und damit der Erwartungssicherheit auf Seiten der Normbetroffenen. Dies gilt insbesondere für den Übergangszeitraum, während dessen die Parteien mit einer Entscheidung nach Rechtslast jedenfalls bei Klageerhebung noch nicht rechnen und auch nicht rechnen müssen. Eine Positivierung der Rechtslast könnte entweder in den einzelnen Prozessordnungen, pars pro toto in der Zivilprozessordnung oder aber im Gerichtsverfassungsgesetz erfolgen. Eine Positivierung im Gerichtsverfassungsgesetz erscheint aus systematischen Gründen vorzugswürdig. Insbesondere enthalten nämlich die §§ 192 ff. GVG bereits sachlich verwandte Regelungen. Der Sechzehnte Titel des GVG („Beratung und Abstimmung“) wäre dann klarstellend um den Zusatz „Rechtslast“ zu erweitern. Als § 198 GVG könnte eine Vorschrift mit etwa dem folgenden Wortlaut eingefügt werden: (1) Vermag das Gericht nicht, sich hinsichtlich einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage eine Überzeugung zu bilden, so ergeht eine Entscheidung nach dem Grundsatz der Rechtslast. (2) Unüberwindbare Zweifel hinsichtlich derjenigen Rechtssätze, die den geltend gemachten Anspruch begründen, gehen dabei zulasten desjenigen, der den Anspruch behauptet. Unüberwindbare Zweifel hinsichtlich derjenigen Rechtssätze, die dem Anspruch oder einem bestimmten Recht entgegenstehen, gehen zulasten desjenigen, der das entgegenstehende Recht geltend macht.

Erwägenswert ist, im Zusammenhang mit der vorstehenden Regelung auch das Zweifelsinstrument der Beweislast entsprechend zu positivieren. Zwingend geboten ist dies nicht. Eine gewisse Klarstellungswirkung hätte eine ausdrückliche gesetzliche Regelung nach meinem Dafürhalten allerdings auch im Fall der Beweislast. Überdies würde durch eine solche ergänzende Regelung der sachliche Zusammenhang und insbesondere der grundsätzliche Gleichlauf von Rechtslast und Beweislast verdeutlicht. Abzulehnen wäre demgegenüber eine gesetzliche Erstreckung des Rechtslastinstruments auf Rechtsfragen, in denen keine „unüberwindbaren Zweifel“ sondern lediglich „Zweifel“ oder „erhebliche Zweifel“ vorliegen1188.1189 Denn eine solche Ausweitung wäre nicht nur verfassungsrechtlich zweifelhaft, sondern würde auch das Anliegen des Rechtslastinstruments in sein Gegenteil verkehren: Statt eines Gewinns an Erwartungssicherheit für die Parteien eines Rechtsstreits entstünde ein Verlust an Rechtssicherheit durch Aushebelung der etab-

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1188 Vgl. die entsprechende Beweislastdogmatik, oben unter B IV 2. 1189 In diesem Sinne bereits Prölss, in: Stathopoulos/Beys et al., FS Georgiades, 2006, S. 1063, 1069.

V. Ergebnisse

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lierten canones der Auslegung. Die Entscheidung per Rechtslast wäre dann nicht mehr absolute Ausnahme, nicht mehr „bestes Mittel unter vielen schlechten“ bei der Lösung äußerster Zweifelsfälle – sondern würde zum bequemen Regelfall im allzeit schwierigen Alltagsgeschäft der Rechtsanwendung.1190

V. Ergebnisse C. Rechtslast als Zweifelsregel V. Ergebnisse

Das Analogon zur Beweislast auf Ebene der Rechtsanwendung lässt sich am treffendsten mit dem Begriff der „Rechtslast“ bezeichnen. Geschichtlich ist ein solches Instrument ohne nennenswerte Vorläufer, Gleiches dürfte in (aktuell) rechtsvergleichender Hinsicht gelten. Allerdings lässt sich kaum bestreiten, dass der richterlichen Erkenntnisfähigkeit Grenzen gesetzt sind; und wenn gleichwohl ein jeder Rechtsstreit (möglichst) willkürfrei befriedet werden soll, dann bedarf es eines rational begründbaren Instruments zur Überwindung richterlicher Unentschiedenheit (oben I). Neben dem Regelsystem der Beweislast finden sich in der bestehenden Dogmatik eine ganze Reihe von Ansätzen für Lastinstrumente als Mittel der Entscheidungsfindung. Diese Ansätze belegen zusätzlich, dass entsprechende Regeln zur Lösung juristischer Zweifelsfälle dem Recht nicht fremd sind – sie taugen aber nicht als Muster für das hier vorgeschlagene Instrument der Rechtslast. Als Grundlage des Rechtslastinstruments erweisen sich alle denkbaren materiellen Entscheidungskriterien als weitgehend ungeeignet; als generelle Letztentscheidungsmaximen sind diese Kriterien weder hinreichend begründbar noch bieten sie ein Mehr an Rechtssicherheit. Stattdessen orientiert sich das hier entwickelte Regelsystem der Rechtslast eng an dem hergebrachten Regelsystem der Beweislast. Gegen die Rechtslast als Regelung zur Entscheidung anders nicht lösbarer Zweifelsfälle könnte eine Reihe von Einwänden vorgebracht werden. Jedoch erweisen sich nur wenige dieser Einwände als wenigstens teilweise stichhaltig. Keiner der Einwände vermag das Instrument der Rechtslast letztlich wirklich in Frage zu stellen. Als Ertrag verspricht die Rechtslast demgegenüber vor allem einen Gewinn an Rechtssicherheit. Daneben sind aber auch eine Stärkung der juristischen Dogmatik und langfristig eine teilweise Entlastung der Gerichte zu erwarten. Aus der Anpassung der Rechtsanwendung an eine sich wandelnde soziale Realität sowie durch den mittelbaren Einfluss auf die Normgebung können sich zusätzliche Erträge ergeben (oben II).

_____ 1190 Vgl. oben II 3 b gg sowie ferner auch die entsprechende Entwicklung im Bereich der Prozessvergleiche (oben unter B IV 3 e bb (3)).

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C. Rechtslast als Zweifelsregel

Das rechtliche Fundament der Rechtslast als Instrument zur Entscheidung von Zweifelsfällen in der Rechtsanwendung kann sich mangels einfachrechtlicher Grundlage de lege lata nur unmittelbar aus verfassungsrechtlichen Erwägungen ergeben. Das Rechtslastinstrument hält sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen, wohingegen sämtliche Alternativinstrumente entweder mit den grundgesetzlichen Vorgaben unvereinbar sind und/oder aus praktischen Gründen nicht als allgemeine Alternative in Betracht kommen. Die Ermächtigung der Gerichte zur Entscheidung per Rechtslast als solcher ergibt sich aus dem Justizgewährgebot in Verbindung mit einem Alternativenvergleich im Rahmen des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips. Das Justizgewährgebot verpflichtet und zugleich ermächtigt die Gerichte zur Entscheidung eines jeden Rechtsstreits auch im äußersten Zweifelsfall. Gemessen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist hierfür allein das Instrument der Rechtslast allgemein geeignet. Sämtliche alternativ in Betracht kommenden Mittel der Zweifelsentscheidung – soweit sie nicht bereits an verfassungsrechtlichen Grenzen scheitern – sind weniger geeignet, bei unüberwindbaren rechtlichen Zweifeln eine Fallentscheidung herbeizuführen. Die konkret-inhaltliche Verteilung der Rechtslast folgt aus der dem neuzeitlichen (deutschen) Recht, einschließlich des Verfassungsrechts, vorgegebenen Strukturierung von Rechtsnormen nach Anspruch und Gegennorm. Dort wo diese Normstruktur nicht hinreichend klar vorgegeben ist, kann sich die Unterscheidung zwischen Anspruch und Gegennorm aus den Bestimmungen des Grundgesetzes ergeben (oben III). Eine gesetzliche Positivierung der Rechtslast würde den Prozess ihrer Einführung in die Praxis abkürzen und in erheblichem Maße zusätzlicher Rechtsklarheit und damit der Erwartungssicherheit auf Seiten der Normbetroffenen dienen. Die Positivierung der Rechtslast könnte entweder in den einzelnen Prozessordnungen, pars pro toto in der Zivilprozessordnung oder aber im Gerichtsverfassungsgesetz erfolgen (oben IV).

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Auf manche Fragen gibt es keine richtige Antwort. Umgekehrt scheinen bei manchen Fragen zwei oder mehr Antworten gleichermaßen gut vertretbar. Man kann vor solchen Fragen kapitulieren und es vermeiden, sich jemals zu entscheiden; man kann die Komplexität der Fragestellung schlicht ignorieren und „so tun als ob“; man kann die Unmöglichkeit rational begründeter Entscheidung akzeptieren und darauf vertrauen, dass das eigene Bauchgefühl schon den rechten Weg weisen werde; oder man kann versuchen, die Komplexität so weit zu reduzieren, dass eine rational begründete Entscheidung (noch) möglich ist. Alle diese Wege bieten sich auch dem Juristen. Alle diese Wege kann auch das zu einer Entscheidung berufene Gericht beschreiten: Das Gericht kann, im Zivilrecht und in Teilen des Öffentlichen Rechts, der „harten“ Entscheidung ausweichen und die Parteien zu einem Vergleich bewegen (im Strafrecht entsprechen dem ungefähr die Verfahrenseinstellung gegen Auflagen und Weisungen gemäß § 153a StPO sowie die Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten gemäß § 257c StPO); es kann seine tatsächlichen oder rechtlichen Zweifel schlicht beiseiteschieben und eine Eindeutigkeit vorspiegeln, die in der Wirklichkeit des betreffenden Falls nicht existiert; oder es kann versuchen, die Entscheidung auf eine weniger komplexe Ebene zu heben, indem nach vorherbestimmten Regeln im Zweifelsfall einer Partei die Zweifelslast auferlegt wird. Dies ist, im Kern, das Anliegen des vorliegenden Werks. Die wesentlichen Ergebnisse dieses Werks lassen sich wie folgt in zwölf Thesen zusammenfassen: DOI 10.1515/9783110539332-004 (1) Die Gesamtheit der Sollens-Regeln, nach denen vor einem Gericht über einen Fall entschieden wird (Recht) ist begrifflich nicht gleichzusetzen mit dem Recht, wie es sein soll (Gerechtigkeit). Gleichwohl ist die Richtigkeit des Rechts aus einem Bild von der Arbeit am Rechtstext nicht auszublenden. Gleichheit, Freiheit, Gesetzmäßigkeit, Moralität, Zweckmäßigkeit und Sicherheit des Rechts geraten dort zuweilen in Widerstreit. Strikte Vorrangrelationen zwischen den einzelnen Elementen der Gerechtigkeit im weiteren Sinne lassen sich dabei nicht herstellen. Ein Gutteil der Folgeprobleme von Gerechtigkeit im Widerstreit kann aber durch juristische Begründungsehrlichkeit vermieden werden (B I). (2) Recht und Gerechtigkeit sind grundsätzlich allen Akteuren juristischer Streitverfahren aufgegeben, also sowohl den Richtern wie den Parteien (-vertretern). Allerdings sind die sozialen Rollen sowie die jeweiligen Einzelaufgaben dieser Akteure höchst verschieden. Gerechtigkeit im weiteren Sinne verwirklicht sich auch dadurch, dass die Rechtsordnung möglichst weitgehend Kongruenz zwischen sozialer Rolle und Aufgabenzuschreibung herstellt. Dies bedeutet unter anderem, die mit der sozialen Rolle von Parteien (-vertretern) verbundenen InteDOI 10.1515/9783110539332-004

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ressen und Kompetenzen optimal zu nutzen – möglicherweise in größerem Umfang, als dies nach bis dato herrschendem Verständnis vorgesehen ist (B II). (3) Die Rechtsfindung nämlich ist letztlich nach wie vor fast ausschließlich Aufgabe des Richters. Dies ist zwar insofern rollengerecht, als die Un-Parteilichkeit einer Entscheidung von herausragender Bedeutung für die Idee der modernen Gerichtsbarkeit als solcher ist. Allerdings vermag selbst eine strikt regelgeleitete, begründungsehrliche Rechtsfindungsmethodik mit historischem Auslegungshintergrund zuweilen nicht zu verhindern, dass am Ergebnis der Rechtserkenntnis erhebliche Zweifel bestehen – bis hin zur Unentschiedenheit in einzelnen Rechtsfragen: Weil und soweit es sich beim Subsumtionsschluss notwendig um einen (auch) induktiven Vorgang handelt, ist Ungewissheit ein konstitutiver Faktor der Rechtsanwendung. Das verfassungsrechtliche Gebot hinreichender Bestimmtheit von Rechtsnormen sowie die Befugnis des Richters zur Rechtsfortbildung ändern daran wenig: Das Bestimmtheitsgebot setzt jedenfalls in der Praxis nur selten Grenzen, die richterliche Rechtsfortbildung ist mit denselben Ungewissheitsmomenten behaftet wie die „konservative“ Rechtsanwendung. Und auch die bislang entwickelten Ansätze zur Rechtsfindung in Zweifelsfragen vermögen kaum Hilfestellung zu bieten: Diese Lösungsvorschläge stellen letztlich entweder auf das subjektive Empfinden des Richters ab – oder auf eine (hypothetische) Mehrheitsmeinung; das Maß der Ungewissheit für Richter und Parteien vermindern diese Vorschläge damit allenfalls geringfügig (B III). (4) Ein anderes Bild zeigt sich in Zweifelsfällen der Tatsachenfeststellung. Auch hier ist zwar – nicht nur in Verfahren der Amtsermittlung – zunächst der Richter „Zentralgestalt des Geschehens“: Nach regelgeleiteter, „freier“ Wahrheitsüberzeugung entscheidet er über die beigebrachten und die selbst ermittelten Tatsachenbelege. Wenn aber am Ende der jeweils nötige Überzeugungsgrad (das erforderliche Beweismaß) nicht erreicht ist, kommen die Parteien „ins Spiel“. Das formale Instrument der Beweislast weist ihnen vorab jeweils bestimmte Tatsachenbehauptungen zu, von deren Vorliegen sie das Gericht „im Zweifel“ überzeugen müssen: Nach dem Grundmodell Rosenbergs trägt für Anspruchsnormen der Anspruchsbehauptende, für Gegennormen der Gegner die Beweislast. Dieses Zweifelsinstrument vermag die Möglichkeit richterlicher Ungewissheit zwar nicht gänzlich auszuschließen, reduziert sie aber doch in erheblichem Umfang; dies gilt allerdings nur dann, wenn die Beweislastdogmatik weitgehend auf ihre Grundstrukturen zurückgeführt, von zahlreichen „wildgewachsenen“ Ausnahmen und Unterausnahmen bereinigt wird. Dann freilich ist zuzugestehen: Die Stärke der Beweislastidee nach dem Rosenberg-Modell – ihre weitgehende Eindeutigkeit und damit Vorhersagbarkeit – ist, als Starrheit und damit Inflexibilität, zuweilen auch eine Schwäche. Doch auch hier gilt: Das Bemühen um mehr Einzelfallgerechtigkeit schafft neben Rechtsunsicherheit oftmals nur noch mehr Ungleichheit im

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Recht und damit in der Summe mehr Ungerechtigkeit – summum ius summa iniuria (B IV). (5) Grundgedanke dieses Werks ist die Entwicklung eines Analogons zur Beweislast auf Ebene der Rechtsanwendung. Ein solches Parallelinstrument lässt sich am treffendsten mit dem Begriff der „Rechtslast“ bezeichnen. Geschichtlich ist ein solches Instrument ohne nennenswerte Vorläufer, Gleiches gilt in (aktuell) rechtsvergleichender Hinsicht – jeweils sind allenfalls eng beschränkte Ansätze für Lastregelungen in Rechtsfragen ersichtlich; bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber generalisierenden historisch-vergleichenden Betrachtungen lässt sich daneben aber immerhin feststellen, dass bestimmte Rahmenbedingungen die Implementierung rechtslastförmiger Elemente begünstigen oder umkehrt erschweren: Je stärker eine Gesellschaft und ihr Rechtssystem die betroffenen Individuen als eigenständige, prinzipiell „geschäftsfähige“ Subjekte begreift (sei es in der stadtstaatlichen griechischen „Bürgergesellschaft“ oder in der neuzeitlichen Privatrechtsordnung des Common Law) – desto gewichtiger ist die Rolle der Parteien hinsichtlich der Rechtsfindung auf dem Forum des Gerichts; und desto näher liegt in rechtspolitischer Hinsicht auch die Einführung lastförmiger Entscheidungsinstrumente. Je mehr hingegen die Betroffenen als „bloße Objekte“ einer übergeordneten staatlichen oder kirchlichen Autorität begriffen werden (sei es im Rahmen des geschichtlichen Inquisitionsprozesses oder in Facetten des modernen Wohlfahrtsstaats) – desto eher verlässt sich die Verfahrensordnung der Gerichte auf die Erkenntnisfähigkeit des Richters bereits in Tatsachen- und erst recht in Rechtsfragen. Allerdings auch dort lässt sich kaum bestreiten, dass der richterlichen Erkenntnisfähigkeit Grenzen gesetzt sind; und wenn gleichwohl ein jeder Rechtsstreit (möglichst) willkürfrei befriedet werden soll, dann bedarf es eines rational begründbaren Instruments zur Überwindung von richterlicher Unentschiedenheit (C I). (6) In legislativen Einzelvorschriften sowie in der Rechtspraxis lassen sich etliche Lastregeln nachweisen, die bei Zweifeln auf Ebene der Rechtsanwendung wirksam werden. Die jeweils dahinter stehenden Überlegungen – Wertentscheidungen, wenn man so will – gehen freilich weit auseinander: Die verfolgten Ziele reichen von „bloßer“ Arbeitserleichterung auf Seiten der Gerichte über den Schutz der jeweils schwächeren Partei bis hin zum Bemühen um rechtlich besser vertretbare Entscheidungen. Ebenso stark divergiert die konkrete Form der jeweiligen Indubio-Regeln: Manche bewirken eher Prima-facie-Gewichtungen, andere sind umgekehrt abschließende Letztentscheidungsregeln. Ein geschlossenes „System“ ist nach der vorstehenden Zusammenstellung mithin nicht erkennbar, betroffen sind im Übrigen nur vereinzelte Teilbereiche der Jurisprudenz. Gleichwohl lassen sich manche Einzelansätze bei der Entwicklung einer rechtsgebietsübergreifenden Lösung fruchtbar machen. Weniger ergiebig ist demgegenüber die Suche nach lastförmigen In-dubio-Ansätzen in der (rechtstheoretischen) Literatur: Abgesehen von

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wenigen Ausnahmen wird die Thematik bislang meist nur randständig behandelt (C II 1). (7) Materielle Zweifelsregeln sind – in der Rechtsanwendung ebenso wie auf Tatbestandsebene – jedenfalls als Maßgaben einer unmittelbaren Anwendung unpraktikabel und nicht sachlich gerechtfertigt. Solche Lastregeln führen zu weniger statt zu mehr Rechtssicherheit; sie bevorzugen einseitig bestimmte Rechtsprinzipien gegenüber anderen, sind mithin auch materiell ungerecht. Demgegenüber wird hier für die Grundstruktur der Rechtslast eine formal-prozessuale Lösung vorgeschlagen, die sich eng an der klassischen Vorgehensweise bei der Überwindung von Zweifeln auf Tatsachenebene orientiert und lediglich im Öffentlichen Recht teilweise durch grundrechtliche Erwägungen materiell aufgeladen wird. Nicht jeder Fall wird sich anhand dieses Instruments im Zweifelsfall lösen lassen. Ähnlich wie dies auch im Bereich der Beweislast der Fall ist, existieren eine ganze Reihe problematischer Einzelkonstellationen, in denen die Rechtslast nicht oder nur unter Schwierigkeiten ermittelbar ist. Allerdings: Streitigkeiten über die Beweislast sind selbst in Zivilverfahren nicht sehr häufig. Dies dürfte nach einer ersten Phase der Gewöhnung in der Praxis auch auf das Instrument der Rechtslast zutreffen (C II 2). (8) Dem Instrument der Rechtlast lassen sich eine Reihe rechtsdogmatischer wie rechtspolitischer Einwände entgegenhalten. Diese Einwände gegen das hier vorgeschlagene Instrument zur Entscheidung von Rechtsfragen in Zweifelsfällen erscheinen aber nicht als durchschlagend. Die wenigen handfesten rechtsdogmatischen Einwände lassen sich nach hier vertretener Auffassung ausräumen, so dass Rechtslastentscheidungen auch de lege lata nichts zwingend entgegensteht; zur Klarstellung wäre gleichwohl eine gesetzliche Positivierung der Rechtslastregeln wünschenswert. Dies gilt insbesondere auch eingedenk der verfassungsrechtlichen Gründe und Grenzen der Rechtslastentscheidung. Von den zahlreicheren vorstellbaren rechtspolitischen Einwänden erweisen sich nur zwei als ernstlich bedenkenswert. So sollten bei Implementierung des Rechtslastinstruments etwaige Nebenwirkungen im Hinblick auf die mögliche Verstärkung eines faktischen Anwaltszwangs sowie mögliche Fehlanreize für das richterliche Entscheidungsverhalten langfristig beobachtet werden. Die Erfahrungen mit dem analogen Instrument der Beweislast lassen allerdings keine wirklich schwerwiegenden Nebenwirkungen infolge von Rechtslastentscheidungen erwarten (C II 3). (9) Hauptertrag des Rechtslastinstruments ist ein erhöhtes Maß an Erwartungssicherheit für die Parteien eines Rechtsstreits; die anhand der Rechtslast vermittelte Risikoverteilung bei Ungewissheit ermöglicht es den Parteien, die Chancen und Risiken des Rechtsstreits genauer abzuschätzen. Zum Ertrag des Rechtslastinstruments zählt daneben aber auch eine Stärkung der juristischen Dogmatik durch Transparenz, durch Offenlegung der Schwächen und Ungewiss-

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heiten des jeweils geltenden Rechts. Langfristig könnte die Zulässigkeit von Rechtslastentscheidungen auch zu einer Entlastung der Gerichte führen. Überdies wird mit dem Instrument der Rechtslast die Praxis der gerichtlichen Rechtsanwendung an eine veränderte soziale Realität angepasst; diese soziale Realität ist unter anderem durch verschiedene Elemente einer „Privatisierung“ des Rechts sowie durch gewachsene anwaltliche Kompetenzen gekennzeichnet; diese Kompetenzen lassen sich durch die (präventive) Wirkweise der Rechtslast stärker nutzbar machen. Positiven Einfluss dürfte das Instrument der Rechtslast langfristig auch auf die Gesetzgebungstätigkeit haben; denn die Existenz des Instruments dürfte den Gesetzgeber dazu drängen – insbesondere im Öffentlichen Recht –, mehr als bislang auf eine klare Normstruktur zu achten (C II 4). (10) Das rechtliche Fundament der Rechtslast als Instrument zur Entscheidung von Zweifelsfällen in der Rechtsanwendung kann sich mangels einfachrechtlicher Grundlage de lege lata nur unmittelbar aus verfassungsrechtlichen Erwägungen ergeben. Das Rechtslastinstrument hält sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen, wohingegen sämtliche Alternativinstrumente entweder mit den grundgesetzlichen Vorgaben unvereinbar sind und/oder aus praktischen Gründen nicht als allgemeine Alternative in Betracht kommen (C III 1). (11) Die Ermächtigung der Gerichte zur Entscheidung per Rechtslast als solcher ergibt sich aus dem Justizgewährgebot in Verbindung mit einem Alternativenvergleich im Rahmen des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips. Das Justizgewährgebot verpflichtet und zugleich ermächtigt die Gerichte zur Entscheidung eines jeden Rechtsstreits auch im äußersten Zweifelsfall. Gemessen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist hierfür allein das Instrument der Rechtslast allgemein geeignet. Sämtliche alternativ in Betracht kommenden Mittel der Zweifelsentscheidung – soweit sie nicht bereits an verfassungsrechtlichen Grenzen scheitern – sind weniger geeignet, bei unüberwindbaren rechtlichen Zweifeln eine Fallentscheidung herbeizuführen. Die konkret-inhaltliche Verteilung der Rechtslast folgt aus der dem neuzeitlichen (deutschen) Recht, einschließlich des Verfassungsrechts, vorgegebenen Strukturierung von Rechtsnormen nach Anspruch und Gegennorm. Dort wo diese Normstruktur nicht hinreichend klar vorgegeben ist, kann sich die Unterscheidung zwischen Anspruch und Gegennorm aus den Bestimmungen des Grundgesetzes ergeben (C III 2). (12) Eine gesetzliche Positivierung der Rechtslast würde den Prozess ihrer Einführung in die Praxis erheblich abkürzen und in erheblichem Maße zusätzlicher Rechtsklarheit und damit der Erwartungssicherheit auf Seiten der Normbetroffenen dienen. Die Positivierung der Rechtslast könnte entweder in den einzelnen Prozessordnungen, pars pro toto in der Zivilprozessordnung oder aber im Gerichtsverfassungsgesetz erfolgen. Dabei könnte eine Vorschrift mit etwa dem folgenden Wortlaut eingefügt werden:

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(1) Vermag das Gericht nicht, sich hinsichtlich einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage eine Überzeugung zu bilden, so ergeht eine Entscheidung nach dem Grundsatz der Rechtslast. (2) Unüberwindbare Zweifel hinsichtlich derjenigen Rechtssätze, die den geltend gemachten Anspruch begründen, gehen dabei zulasten desjenigen, der den Anspruch behauptet. Unüberwindbare Zweifel hinsichtlich derjenigen Rechtssätze, die dem Anspruch oder einem bestimmten Recht entgegenstehen, gehen zulasten desjenigen, der das entgegenstehende Recht geltend macht.

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Sachregister | 285

Sachregister Sachregister Sachregister DOI 10.1515/9783110539332-006 – als Gewohnheitsrecht 133 Abduktion 59–60 – Anspruchs- und Gegennormen 101, 111–113 Abstimmungsregeln 165–167 – Begriff der 97–99 Abwägung 71, 84–85 – -grundregel 99–101 – -sfehlerlehre 178 – im Öffentlichen Recht 104–113 – -slast 154, 190–191 – im Strafrecht 106–107 Allgemeine Handlungsfreiheit 197, 256 – rechtliches Fundament 132–145 Amtsermittlungsgrundsatz 92–93 – Schematismus 122 Analogie 61 – -umkehr 116, 118, 120 Angreiferprinzip 104 – und Amtsermittlungsgrundsatz 93 Anwalt Siehe Rechtsanwalt – und Behauptungslast 97–99 Argumentationslast 154, 191, 193 Assoziation 61–62 canones Siehe Auslegung Ästhetik 77–79 Auslegung 51–52 Deduktion 52–59 – canones der 49–50, 253 Demokraktieprinzip 46 – europarechtskonforme 47–49 Demokratieprinzip 22, 37, 69 – historische 42–44 Dezision 79–81 – objektiv-teleologische 47, 71 Dezisionismus 160 – -shorizont 38, 45 Dicker-Hund-Theorie 20 – systematische 41–42 Diskurstheorie 83–86 – teleologische 47–49 distinguishing 25 – verfassungskonforme 47–49 Dogmatik 242 – Wortlaut- 39–41 Dokumentationspflichten 116 Bauchentscheidungen 72 Effektivität 12–13 Begriffe 51, 55, 58, Siehe auch effet utile 179, 188 Rechtsbegriffe Effizienz 12–13 Begründung Egalität Siehe Gleichheit – Schein- 30 Ehrlichkeit 79 – -sehrlichkeit 22 Einlegung 47 – -slast 154, 192–193 Einzelfallentscheidung 25 Behauptungsinflation 221–222 Empfängerhorizont Behauptungskonfusion 220–221 – objektiver 33 Behauptungslast 97 Entscheidungslast 154 Beibringungsgrundsatz 92–93 Erkenntnis 61–62 Bestimmtheitsgebot 63–66 Erklärerhorizont 36 Beteiligteninflation 221–222 Ermessensfehlerlehre 177–178 Beweis Erwartungssicherheit 17 – -erhebung 96 – Frei- 96 Familienähnlichkeiten 53 – -maß 120–121, 124–125 Fiktionsregeln 168–171 – -maßstab 94, 95, 121, 124–125 Finalnormen 216–217 – Streng- 96 Finalprogramme 217 Beweislast 96–147 DOI 10.1515/9783110539332-006

286 | Sachregister

Freiheit 8–9 – Vermutung für die 8–9, Siehe auch in dubio pro libertate Gerechtigkeit 22–26 – Begriff der 7–8 – materielle 17 – politische 11 – Recht und 3–6 – regulative Idee der 46 Gesetz – -esbindung 9 – -mäßigkeit 9–10 – Vorbehalt des 9, 69, 256 Gewaltenteilung 69 Gewissheit – brauchbare Siehe Beweismaß Gleichheit 8, 200–201 – -sgrundsatz 136, 254 Gottesurteil 121 Großkanzleien 246, 249 Günstigkeitsprinzip 222, Siehe auch Normentheorie hard cases 22, 30 Hilfsnormen 217–218 hung jury 224 impossibilium nulla est obligatio 115–116 in dubio mitius 179 in dubio pro dignitate 201–202 in dubio pro egalitate 200–201 in dubio pro europa 186–189 in dubio pro libertate 109, 179, 191, 194–199, 255, 260 in dubio pro oeconomia 202–204 in dubio pro reo 182–184, 212 in dubio pro securitate 199–200 Induktion 52–59 Interessengewichtung 74–75 iura novit advocatus 247 iura novit curia 30, 156, 162, 183, 226, 236, 237, 243 iustitia legalis Siehe Gesetzmäßigkeit Judiz 72–73 Jurist als solcher 3

Justiz – -gewähranspruch 138–140, 258, Siehe auch Rechtsverweigerungsverbot – -verweigerungsverbot Siehe Rechtsverweigerungsverbot Knappheit 195 Konditionalprogramme 216 Konditionalschema 51, 216 Legitimität 11–12 Logik 53 Losverfahren 129–131, 257 Lückenfüllung 66 Meinung – herrschende 82–83, 86 Menschenwürde 201–202 Moralität 10–11 Moralvorstellungen 10 Natur der Sache 74 non liquet 132–133 Normbefehl 33 Normenklarheit 14 Normenkontrolle – konkrete 182 Normentheorie 99–101, 207–208, 260, Siehe auch Beweislast – rechtsentstehungshindernde Normen 118–119 Normenwahrheit 14 nulla poena sine lege 184 Obliegenheit – zu Behauptung und Beweis 98–99 Orientierungssicherheit 245 Parteien 28–29, 29 Phantasie 73 Politik 79 Postmoderne 9 praesumtio similitudinis 86 Präjudizien 174–176, 176–177, 229–231 Prinzipien 45, 85, Siehe auch Regeln Prozesskostenhilfe 236

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Prozessrisiko 110 Prozessvergleich 31, 127–129, 257 quaestio facti 229 quaestio iuris 229 Quotelung 125–127, 257 Radbruchʼsche Formel 20–22 Rationalität 73 Recht – als Kulturgut 47 – als Politik 79–81 – Begriff des 3–6 – Beständigkeit des 15 – der AGB 167–168 – fremdes 172–173, 225–127 – Klarheit des 14–15 – Privatisierung des 249–250 – -sbegriffe 51 – -sfindung 89–90 – -sstaatsprinzip 68, 136, 184, 254 – -sstoff 30, 245 – -stext 3 – subjektives 105 – -svergleichung 86–88 – und Moral 11 – Völkerstraf- 174 Rechtsanwalt – Rolle des 28–29, 29–31, 123, 235–238, 244–250 Rechtsanwendung – Begriff der 32 Rechtsbegriff – Umdeutung von 23 Rechtsbegriffe 54 Rechtsfortbildung 37, 47, 66–69, 180–181 – contra legem 68 – Grenzen der 68–69 Rechtslast – Anspruchs und Gegennormen 99–101 – de lege ferenda 261–263 – Fallbeispiele 212–216 – geschichtlicher Hintergrund 155–157 – Grundgedanke 153 – Grundstruktur der 207–212 – im Öffentlichen Recht 209–211 – im Strafrecht 211–212

– im Zivilrecht 207–209 – materielle 204–206 – prozessuale 221–222 – rechtliches Fundament der 260–261 – rechtsvergleichender Befund 157–159 – Tatsache und Norm 227–229 – und Anwaltschaft 235–238, 244–250 – und Dogmatik 242 – und Gleichheitssatz 255 – und Normgebung 250–251 – und Präjudizien 229–231 – und Rechtssicherheit 240–241 – und Richter 239, 243 – und Zufälligkeit 234 Rechtsmittelzulassung 163–165 Rechtsnatur der Beweislastnormen 143–145 Rechtssicherheit 22–26, 37, 46, 69, 176, 206, 240–241, 254 Rechtsverweigerung 30, 224–225 Rechtsverweigerungsverbot 96, 123, 138–140 Rechtswahrungslast 154 Regeln – Diskurs- 83–86 – und Prinzipien 44–46, 70, 85, 103 Reziprozität Siehe Gleichheit Richter – Rolle des 29–31, 151 Richtigkeit – juristische 46, 78 – sachliche 14 Risikozuordnung 241 Rollentauschprobe 75–77 Rosenberg-Modell Siehe Normentheorie Rückanknüpfung – tatbestandliche 15 Rückwirkung – echte 15 – unechte 15 Sachgerechtigkeit im Einzelfall 73–74 Schleier des Nichtwissens 75–77 Schlichtung 31, 249 – -sverwaltung 128 Sicherheit 199 Streitschlichtung Siehe Schlichtung

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Subsumtion 32, 61–62 – -sautomat 6, 17 – -sschluss 32 Talion 8 Tatbestandsmerkmale – negative 119, 220 – unbestimmte 67 Tatsache – Begriff der 90–91 – -nstoff 30 Theorie – objektive 34–35 – subjektive 34 Überzeugungslast 191–192 Unabhängigkeit – richterliche 27 Unentschiedenheit 160, 263, Siehe auch Zweifel Ungleichgewicht der Parteien 122 Unmöglichkeit 115–116 Unparteilichkeit 27 Untersuchungsmaxime 107

Ende

Vergleich 31, 127–129 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 136, 141, 242, 254 Vermutungsregeln 168–171 Wahrheit 9 Wahrheitsüberzeugung Siehe Beweismaßstab Wertordnung – objektive 10 Wertung 8 – -sjurisprudenz 70–72 – -slast 154, 190–191 Wesentlichkeitstheorie 69 Widerspruchsfreiheit 14 Wille – der Verfassung 34–35 – des Gesetzes 34–35 – des Gesetzgebers 35–38, 42–44 Wirtschaftlichkeit 203 Wortlautgrenze 40 Zufall 235, Siehe auch Losverfahren Zweckmäßigkeit 12–13 Zweifel 62, 69, 89, 88–90, 262