Rechts- und Staatslehre als Sozialwissenschaft: Gesammelte Schriften über eine sozio-kulturelle Theorie des Staats und des Rechts. Ausgewählt und eingeleitet von Ernst E. Hirsch [1 ed.] 9783428440689, 9783428040681


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Rechts- und Staatslehre als Sozialwissenschaft: Gesammelte Schriften über eine sozio-kulturelle Theorie des Staats und des Rechts. Ausgewählt und eingeleitet von Ernst E. Hirsch [1 ed.]
 9783428440689, 9783428040681

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 42

Rechts- und Staatslehre als Sozialwissenschaft Gesammelte Schriften über eine sozio–kulturelle Theorie des Staats und des Rechts.

Von

Martin Drath Ausgewählt und eingeleitet von

Ernst E. Hirsch

Duncker & Humblot · Berlin

MARTIN DRATH

Rechts- und Staatslehre als Sozialwissenschaft

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder

Band 42

Rechts- und Staatslehre als Sozialwissenschaft Gesammelte Schriften über eine sozio - kulturelle Theorie des Staats und des Rechts

Von

Martin Drath Ausgewählt und eingeleitet von Ernst E. Hirsch

DUNCKER &

HUMBLOT /

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, BerUn 41 Gedruckt 1977 bei BUchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, BerUn 61 Printed in Germany

IC> 1977 Duncker

ISBN 3 428 04068 6

Inhalt Einleitung des Herausgebers .......................................... 1. Das Gebiet des öffentlichen Rechts und des privaten Rechts. Ein Bei-

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trag zur Soziologie des öffentlichen Rechts (1931) ..................

11

2. Regierung und Grundrechte (1932) ................................

24

3. Rechtsdogrnatik als Selbstzweck oder als fließende Anpassung des Rechts an die gesellschaftliche Wirklichkeit? (1971) ................

33

4. Der Gesetzesbegriff in den Rechtswissenschaften (1966) ............

47

5. Bemerkungen zur Theorie des Gesetzgebungsstaats (1965) ..........

71

6. Zur Soziallehre und Rechtslehre vom Staat, ihren Gebieten und Methoden (1952) ......................................................

84

7. Staatstheorie oder politische Philosophie? (1966) .................... 101 8. Der Staat der Industriegesellschaft. Entwurf einer sozialwissenschaftlichen Staatstheorie (1966) ......................................... 116 9. Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts a) Zusammenfassung der Schrift von 1963 durch den Herausgeber

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b) Nachtrag vom Verfasser (1966) .................................. 133 10. über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und des Rechts (1966) ...................................................... 154

Einleitung des Herausgebers Am 14. April 1976, in seinem 74. Lebensjahr, ist Bundesverfassungsrichter i. R. Prof. Dr. Martin Drath in Karlsruhe verstorben. Als Pfarrerssohn in Blumberg (Prov. Sachsen) am 12.11. 1902 geboren, studierte er Rechtswissenschaft an den Universitäten Leipzig, Rostock, Göttingen und Kiel. Er promovierte in Kiel mit einer parlamentsrechtlichen Arbeit bei Walter Jellinek und begann seine wissenschaftliche Laufbahn als Assistent bei Hermann Heller und Rudolf Smend in Berlin, wo er gleichzeitig als Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik Vorlesungen hielt. 1932 wurde er hauptamtlicher Dozent an der Akademie der Arbeit in Frankfurt (Main), aber schon im April 1933 wurde er aufgrund des berüchtigten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums seines Amtes enthoben. Zunächst versuchte er, an der Universität Lund (Schweden) seine wissenschaftliche Tätigkeit fortzusetzen. Nach wenigen Monaten kehrte er jedoch nach Deutschland zurück und versteckte sich auf dem Lande bei seinen Eltern, bis er als kaufmännischer Angestellter in der Privatwirtschaft eine Stellung fand. 1946 habilitierte er sich auf dringendes Anraten von Gustav Radbruch, unter dessen Dekanat er promoviert hatte, an der damals noch im amerikanischen Besatzungsgebiet liegenden Universität Jena, wo er kurz darauf zum a. o. Professor für öffentliches Recht ernannt wurde. Aber die politischen Verhältnisse in der Sowjetischen Besatzungszone, in die Jena mittlerweile geraten war, zwangen ihn 1948 zur Flucht in den Westen. Er fand zunächst eine Anstellung als Regierungsdirektor in Hessen, kehrte dann aber auf Betreiben von Ernst Reuter nach Berlin zurück, um an der dort neugegründeten Freien Universität den Lehrstuhl für Öffentliches Recht zu übernehmen. 1950 wurde er auf Vorschlag des Landes Berlin zum Bundesverfassungsrichter gewählt. Da er nach Ablauf seiner zwölf jährigen Amtszeit infolge von politischen Kabalen und Rankünen, die sogar die Öffentlichkeit beschäftigten und das Plenum des Bundesverfassungsgerichts zu einer Ehrenerklärung veranlaßten*, 1963 nicht wieder gewählt wurde, nahm er einen

* Die Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe gab unter dem 29. November 1963 folgende Verlautbarung heraus: "Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts hat sich in seinen beiden ersten Sitzungen nach der Sommerpause mit den Behauptungen beschäftigt, die im Anschluß an die letzte Richterwahl in der Öffentlichkeit verbreitet und kommentiert wurden und geeignet sind, den Ruf und die Ehre des Kollegen Prof. Dr. Drath und

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Einleitung des Herausgebers

Ruf auf den neu gegründeten Lehrstuhl für öffentliches Recht, Rechtssoziologie und Rechtstheorie an der Technischen Hochschule Darmstadt an, wo er bis zu seiner Emeritierung am 31. 3. 1971 in Forschung, Lehre und Hochschulverwaltung tätig war. Martin Draths wissenschaftliches Lebenswerk, durch 12 Jahre nationalsozialistischer Herrschaft völlig unterbunden, liegt in zahlreichen Abhandlungen und Vorträgen vor, die das Gebiet des öffentlichen Rechts unter rechtsdogmatischen, rechtssoziologischen und rechtstheoretischen Gesichtspunkten zum Gegenstand haben. Hier sind nur die für die Rechtssoziologie relevanten und nicht selbständig im Buchhandel erschienenen Arbeiten zusammengestellt. Als wichtigste der selbständig erschienenen Arbeiten seien jedoch angeführt: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in der sowjetischen Besatzungszone (Untersuchungen über Legalität, Loyalität und Legitimität), 2. Auf!. Bonn 1954; Die Entwicklung der Volksrepräsentation, Homburg v. d. H. 1954; Staatsbürger und Staatsbediensteter, Homburg v. d. H. 1963; Das Verhältnis von Justiz und Staatsbürger im Rechtsstaat, Homburg v. d. H. 1963; Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts. Prolegomena zur Untersuchung des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit (Sammlung Recht und Staat, Heft 272/273), Tübingen 1983; Wie weit dürfen weltanschauliche Tendenzen in der Rechtsprechung Berücksichtigung finden?, in Wolfgang Boehme: Weltanschauliche Hintergründe in der Rechtsprechung, Karlsruhe 1968, S.8&-155; Bedingungen der menschlichen Existenz in unserer Zeit, Homburg v. d. H. 1971. Die hier vereinigten Arbeiten kreisen um eine empirisch-analytische, d. h. letzten Endes sozialwissenschaftlich verankerte sozio-kulturelle Rechts- und Staatstheorie. In einem Neujahrsbrief an mich vom 1. 1. 1969 finden sich folgende, für das Denken und Forschen von Martin Drath charakteristische Sätze: "Ich habe mich besonders konzentriert an die Lektüre von Portmann: Biologie und Geist gemacht. Bis zu welchen Punkten soll ich meine Arbeit über Staat und Recht führen? Der gedachte Leser hat einen Erfahrungshorizont, aber auch einen Fragehorizont. Beide müssen wohl in einer Beziehung zueinander stehen, obwohl sie sich nicht decken; denn unsere Fragebereitschaften oder gar Fragetendenzen beginnen ja nicht schlicht dort, wo unsere Erfahrung endigt; vielleicht ist Erfahrung selbst etwas zu Summarisches oder das Ansehen des Gerichts zu schädigen. Das Plenum verweist die damit verbundenen politischen Verdächtigungen des Professors Drath mit Nachdruck als völlig unbegründet zurück. Es versichert Professor Drath, der 12 Jahre lang die Last der Arbeit des Gerichts mitgetragen und sich um seine Rechtsprechung verdient gemacht hat, seiner uneingeschränkten Verbundenheit und Wertschätzung."

Einleitung des Herausgebers

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summarisch Bezeichnetes, bestehend aus zu viel Inhomogenem, dessen Fragwürdigkeit besonders wir Intellektuellen uns schon zu sehr bewußt sind, um nicht innerhalb dieses uns nur scheinbar gegebenen und also abgrenzbar festen Bereichs doch Fragwürdigkeiten zu wissen und zu ahnen. Jedenfalls aber erscheint alles Erklären, das ja wohl Zurückführen auf Erfahrung bedeutet, dann selbst unbestimmt und ganz vage, wenn dieser Bereich selbst vage und keineswegs bestimmt ist. Es handelt sich dann beim Erklären eher um eine mehr oder minder gelingende, mehr oder minder vage Anknüpfung an das, was beim durchschnittlichen (und also selbst vage vorgestellten, imaginären) Leser bereitsteht an Wissen und an bloßer Neigung zum Akzeptieren. Diese Neigung ihrerseits wäre ein Problem der Sympathie, z. B. gegenüber dem Autor, seiner Ausdrucksweise, seiner Argumentationsweise, auch schon seinem gewählten Thema. Wir rationalisieren das dann weitgehend, aber es bliebe doch noch genug an Irrationalem, schon weil wir ja nur wenig genug rational über uns selbst und unsere eigene Struktur aufklären können, folglich alle erkenntnistheoretischen Bemühungen an dieser Grenze der Unerforschtheit und teilweise wohl auch Unerforschbarkeit unseres eigenen Selbst in seiner Konstitution endigen müssen. Nun habe ich aber etwas gegen das Sich-Ergehen im Dunklen und finde Portmann davon nicht ganz frei. Trotzdem scheint er mir die Grenzen unserer Bewußtheit und unserer Möglichkeit, uns einen Zugang zum Nicht-Bewußten, uns aber Konstituierenden als Biologe klarer zu machen." Diese Hinwendung zur Biologie, genauer zur Verhaltensforschung, zeigt sich auch in dem 1971 gehaltenen Vortrag über die "Bedingungen der menschlichen Existenz in unserer Zeit", wo es wörtlich (S. 7) heißt: "Wir haben nicht nur ganz neue Sachprobleme, sondern wir haben auch ganz andere Fragestellungen: sie sind vielmehr auf die Grundbedingungen menschlichen Lebens im Zusammenleben ausgerichtet, auf die sozio-kulturelle Beschaffenheit des Menschen, und dies sogar dann noch, wenn sie die rein biologische Ausstattung erforschen wollen, weil es nämlich auch dabei noch um das natürliche Substrat geht, aus dem und auf dem sich die soziokulturellen Ausformungen des menschlichen Lebens entwickeln und entfalten." Martin Drath bemühte sich vor allem um die Rückführung wissenschaftlich verbrämter politisch-ideologischer Kampffronten auf eine im Sinne von Max Weber werturteilsfreie theoretisch-wissenschaftliche Grundlage als der einzig möglichen Basis einer erdumfassenden, von Vorurteilen freien Diskussion über Recht und Staat als sozio-kulturelle Phänomene. Als ich ihn anläßlich seines 70. Geburtstags für eine kurze Stunde in Karlsruhe aufsuchte, äußerte er tiefe Besorgnisse über die weitere sozio-kulturelle Entwicklung des Rechts- und Soziallebens innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik. Bereits 1969 schrieb er mir über die Richtertagung der Evangelischen Akademie Herrenalb: "Es kam zwangsläufig zur Behandlung von Weltanschauung in der Jurisprudenz als einer Besessenheit von eigenen überzeugungen und zur Behandlung der Aufgegebenheit, sich von dieser Besessenheit zu befreien, gerade für den Richter. Da sprechen wir nun von Richterkönigen und haben einstweilen das

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Einleitung des Herausgebers

Problem der Richter-Kleinbürger, nicht einmal der bourgeois-gentilhommes vor uns, und das ist kaum lösbar (was ja wohl den Kleinbürger geradezu charakterisiert, weil er eben kein Großbürger ist). Man möchte sich geradezu Bildungs- und Besitzbürgertum wünschen - aber nichts dergleichen. Und an den Hochschulen haben wir längst darauf verzichtet, auch nur den Anspruch an die Studenten und an uns selbst zu stellen, etwas Ähnliches zu erziehen. Es wäre wohl sogar zu fragen, ob nicht das eigene Selbstbewußtsein des Wissenschaftlers heute eine ähnliche Verengung und einen ähnlichen Funktionswandel erfahren hat. Für wen aber soll ich dann überhaupt schreiben? Nur zur Selbstdarstellung, d. h. damit ich es eben getan habe, mich ein bißchen wohler mit mir selbst fühle und allenfalls noch denken kann (und wahrscheinlich muß), daß es doch nicht ankommt? Auf solche Fragen gibt es keine Antwort, weil sie damit doch nicht aufhören, sondern sogar bleiben würden, auch wenn ich längst mit einer Arbeit fertig wäre ... ". Ich habe den vorliegenden Sammelband in der Hoffnung zusammengestellt, daß die Gedanken, überlegungen und Erkenntnisse von Martin Drath endlich "ankommen" bei denen, die es angeht, den ins Blaue hineintheoretisierenden Soziologen, Politologen und Rechtsgelehrten nicht minder als den auf diese als "Schulweise" (Kant) mit großer Selbstgefälligkeit herabsehenden praktischen Juristen, Politikern und Publizisten. Königsfeld im Schwarzwald Ostern 1977 Ernst E. Hirsch

Das Gebiet des öffentlichen und des privaten Rechts Ein Beitrag zur Soziologie des öffentlichen Rechts· Wir besitzen eine Reihe wertvoller Untersuchungen über die Anpassung des Rechtes an die soziale Entwicklung, in denen auch die Ausbreitung des öffentlichen Rechtes keineswegs unbeachtet geblieben ist. Eine spezielle Untersuchung der soziologischen Bedeutung des öffentlichen Rechtes konnte ich jedoch nicht ermitteln. Eine solche Arbeit wäre aber nicht nur historisch und rechtspolitisch, sondern auch systematisch außerordentlich bedeutsam. Allerdings ist es nicht möglich, die Probleme in einem Aufsatz erschöpfend zu behandeln; zunächst genügt es aber auch, eine grundrißhafte Darstellung zu geben, die nicht mehr als ein Bei trag zur Lösung dieser Fragen sein kann, da alle rechtshistorischen und sonstigen Vorarbeiten noch in allzu großem Umfange fehlen. I. Der positiv-rechtliche Unterschied zwischen dem öffentlichen und dem privaten Recht Daß die deutsche Rechtsordnung irgendeinen Unterschied zwischen dem privaten und dem öffentlichen Recht macht, läßt sich angesichts des § 13 des Gerichtsverfassungsgesetzes ("Vor die ordentlichen Gerichte gehören alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten ... ") und des Art. 19 Abs. 1 der Reichsverfassung ("über Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländern ... entscheidet ... der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich ... ") nicht gut bestreiten. Da aber die in diesen beiden Vorschriften enthaltene Unterscheidung den materiellen Unterschied nicht selbst feststellt oder festsetzt, sondern einfach voraussetzt, und da auch sonst im geltenden Recht nirgends bestimmt ist, worin denn dieser Unterschied zwischen dem privaten und dem öffentlichen Recht besteht und welche Rechtsverhältnisse dem einen, welche dem anderen Rechtsgebiet angehören, kann die Abgrenzung nur nach rechtstheoretischen Gesichtspunkten von der Wissenschaft und von der Praxis vorgenommen werden. Diese Aufgabe war und ist schon deshalb dringlich, weil es sich in den beiden angeführten Fällen um Zu-

* Zeitschrift für soziales Recht 1931, S.229-235.

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Das Gebiet dies öffentlichen und des privaten Rechts

ständigkeitsvorschriften handelt, die außerordentlich häufig angewendet werden, wenn auch meistens stillschweigend und mit selbstverständlicher Auslegung der Begriffe "öffentliches" und "privates Recht". Schon aus diesem rein praktischen Grunde fehlt es nicht an Untersuchungen über diese Fragen, vor allem auch nicht in der Literatur!. Die herrschende Ansicht steht auf dem Standpunkt, daß sich der Unterschied dokumentiert - deshalb aber natürlich noch nicht ohne weiteres erschöpft - in einer Angelegenheit der Rechtstechnik, nämlich in der besonders großen Gewährleistung des Funktionierens des öffentlichen Rechtes, und daß die Zugehörigkeit der einzelnen Rechtsverhältnisse zu dem privaten oder dem öffentlichen Rechtsgebiet beurteilt werden muß nach dem Vorhandensein eben dieser Gewährleistung bei den Rechtsvorschriften, die das betreffende Rechtsverhältnis beherrschen. Die öffentlich-rechtlichen Rechtsgeschäfte haben vor den privatrechtlichen die Vermutung der Gesetzmäßigkeit und der Gültigkeit voraus. Diese Vermutung ist selbstverständlich im einzelnen ganz verschieden stark ausgeprägt. Wir finden sie als eine fast völlig unwiderlegliche praesumptio juris et de jure, und zwar selbst bei offenbarer Gesetzwidrigkeit oder Unrichtigkeit, und als eine bloße praesumptio juris, die jederzeit - meistens jedoch nur in bestimmter Form oder in einem bestimmten Verfahren - widerlegt werden kann. Grundsätzlich bedeutet jede solche Vermutung eine Steigerung der Rechtssicherheit, und zwar selbst auf Kosten der Richtigkeit und der Gesetzmäßigkeit. Allerdings finden wir ähnliche Verhältnisse hier und da auch im Privatrecht, so z. B. bei § 271 HGB (Erschwerung der Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen durch ein besonderes Anfechtungsverfahren), in § 858 f. BGB (Vermutung der Rechtmäßigkeit des Besitzes) und in § 1357 Abs.2 BGB (Vermutung der Berechtigung einer Entziehung der Schlüsselgewalt). Aber es handelt sich hier um einzelne Ausnahmefälle, und diese Vermutungen gehen wohl in keinem Falle so weit wie im öffentlichen Recht, wo die Vermutung der Gesetzmäßigkeit und Gültigkeit schon an sich die Regel bildet und außerordentlich oft viel weiter ausgeprägt, also schwerer widerlegbar ist, als in diesen einzelnen Ausnahmefällen aus dem Privatrecht. Man kann diese Fälle vielleicht als übergangsform ansehen, aber sie würden auch als solche nur beweisen, daß das gleiche Rechtssicherheitsbedürfnis, dem das öffentliche Recht sein Privileg verdankt, manchmal auch in sonst durchaus privatrechtlichen Verhältnissen stark empfunden wird. Gerade die angeführten Beispiele aus dem Recht der Aktiengesellschaft, des Besitzes und der Ehe, also aus Verhältnissen grundsätzlich privatrechtlicher Natur, zei1 Eine gute übersicht über den Stand der Wissenschaft bieten Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechtes, S. 377 f., und W. Jellinek, Verwaltungsrecht,

2. Aufl., S. 39.

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gen besonders deutlich, daß es sich hier um das gleiche Rechtssicherheitsbedürfnis wie im öffentlichen Recht allgemein handelt. Wir finden außerdem noch einen erhöhten Schutz durch strafrechtliche Bestimmungen zugunsten der Vornahme öffentlich-rechtlicher Rechtsgeschäfte (§ 113 StGB, Widerstand gegen die Staatsgewalt), zugunsten öffentlicher Rechtsverhältnisse überhaupt (§ 120 StGB, Gefangenenbefreiung, § 136 StGB, Siegelbruch, § 271 StGB, sogenannte intellektuelle Urkundenfälschung usw.) und zugunsten der Befolgung öffentlichrechtlicher Vorschriften überhaupt (§ 110 StGB, Aufforderung zum Ungehorsam gegen öffentlich-rechtliche Gesetze - sehr bestritten! -) u. a. m. Nun gibt es selbstverständlich auch eine Fülle strafrechtlicher Bestimmungen zum Schutze rein privatrechtlicher Verhältnisse; ja diese Tatsache ist sogar in gewissem Umfange charakteristisch für unser heutiges Strafrecht überhaupt, aber die besonderen Bestimmungen zum Schutze des öffentlichen Rechtes in Strafgesetzen beweisen doch, daß auch in dieser Hinsicht ein besonderes Bedürfnis nach Gewährleistung des Funktionierens des öffentlichen Rechtes besteht. Drittens ist das öffentliche Recht dadurch ausgezeichnet, daß es grundsätzlich zwingenden, unabdingbaren Charakter besitzt, der sogar vielfach zum Handeln von Amts wegen führt. Zwar kennen wir auch zwingende privatrechtliche Bestimmungen in großer Zahl; aber auch das beweist nichts dagegen, daß wir auch hier ein besonderes Privileg des öffentlichen Rechtes festzustellen haben, bei dem die Regel ist, was im privaten Recht immerhin eine gewisse Ausnahme darstellt. Schließlich ist die besondere Haftungsbestimmung des Art. 131 RV gleichfalls ein Privileg des öffentlichen Rechtes; denn sie bewirkt, daß der Beamte bei Ausübung obrigkeitlicher Gewalt nicht mit einem unmittelbaren Haftungsanspruch eines geschädigten Dritten zu rechnen hat, daß deshalb also seine Entschlußfreudigkeit bei Ausübung obrigkeitlicher Gewalt möglichst wenig beeinträchtigt wird. Gewiß sind manche dieser Privilegien des öffentlichen Rechtes erst durch die Wissenschaft und die Rechtsprechung konstruiert worden2 ; und insofern kann man vielleicht mit Kelsen zu Recht behaupten, daß es sich hier um "politische", gewollte und nicht in der Natur der Sache selbst liegende Dinge handle 3 • Aber ebenso gewiß ist, daß diese Privilegien zum größten Teil im positiven Recht absolut eindeutig begründet, weil ausdrücklich festgesetzt sind, und insofern ist die schwierige Arbeit der Literatur und der Judikatur das allerdings schwierige Auffinden 2

Vgl. besonders die Untersuchungen über den fehlerhaften Staatsakt von

W. Jellinek, Kormann u. a.

3 Vgl. Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 630, Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 31, S. 53 und 190.

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tatsächlich im Gesetz selbst vorhandener Unterscheidungen gewesen. Allerdings bedeutet dann die Schaffung eines Privilegs durch den Gesetzgeber ihrerseits eine gewollte, " politische " Entscheidung; aber das ist selbstverständlich bei allen Gesetzgebungsakten der Fall, nicht minder bei denen von rein privatrechtlicher Natur, denn schon die Frage, ob ein bestimmtes Verhältnis rechtlich geordnet werden soll, verlangt ja für sich eine "politische" Entscheidung. Das Vorhandensein "politischer" Motive, auch im engsten Sinne dieses Begriffes, beim Gesetzgeber soll also keineswegs bestritten werden; im Gegenteil ist dieser Aufsatz sogar zum großen Teil der Feststellung gewidmet, daß solche Motive auch bei der Privilegierung von Rechtsverhältnissen durch Unterstellung unter öffentlich-rechtliche Prinzipien vorhanden sind. Aber wenn jeder Akt der Gesetzgebung durch "politische" Motive bestimmt ist, so ist deshalb die theoretische Feststellung des vom Gesetzgeber geschaffenen Unterschiedes zwischen dem öffentlichen und dem privaten Recht sowie der Zugehörigkeit der einzelnen Rechtsverhältnisse zu dem einen oder anderen Rechtsgebiet und die Herausarbeitung der sich daraus ergebenden Konsequenzen keineswegs in höherem Grade "politisch" als jede andere rechtswissenschaftliche Arbeit auch. Deshalb kann also der von Kelsen erhobene Vorwurf "politischer" Beeinflussung die Feststellungen über das positiv geltende Recht noch nicht entwerten. 11. Die soziologischen Grunde der Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Recht Damit ist freilich noch in keiner Weise geklärt, ob diese ganze Unterscheidung mehr ist als eine Eigenart des heute bei uns in Deutschland geltenden positiven Rechtes. Es liegt also nahe, nun nach den soziologischen Ursachen der Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Recht zu suchen, wie sie sich in der Privilegierung des ersteren vor dem letzteren ausdrückt, weil eine solche soziologische Forschung Aufschluß über die Gründe geben kann, die zur Schaffung der Unterscheidung geführt haben und sie noch heute aufrechterhalten. Wir wollen an dieser Stelle nicht untersuchen, ob der Unterschied zwischen dem öffentlichen und dem privaten Recht immer bestanden hat, auch als er noch nicht allgemein bewußt war, und ob ein öffentlich-rechtlicher Charakter schon den "Staatsakten" früherer Zeit zukommt4 • Es ergibt sich aber von vornherein die Vermutung, daß die erhöhte Garantie der Sicherheit des Funktionierens des öffentlichen 4 Vgl. hierüber E. Kaufmann in Stengel-Fleischmanns Wörterbuch des Staats- und Verwaltungsrechtes, Bd. III, S.688, Artikel "Verwaltung, Verwaltungsrecht" .

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Rechtes in irgendwelchen Beziehungen zu dem modernen Bedürfnis nach Rechtssicherheit überhaupt steht, und daß also auch historisch Zusammenhänge zwischen der Ausprägung der oben geschilderten Privilegien des öffentlichen Rechtes und dem gesteigerten Rechtssicherheitsbedürfnis einer arbeitsteiligen Verkehrswirtschaft feststellbar sind, wenn auch natürlich die "Staatsakte" der früheren Zeit wahrscheinlich gleichfalls mindestens eine erhöhte faktische Garantie ihres Bestehens besessen haben werden. Diese Untersuchung ist indessen so umfangreich, daß wir hier auf sie verzichten müssen, zumal sich neben der Frage, wie die Tatsachen gewesen sind, noch die zweite Frage ergibt, wann, wodurch und wie sie den Menschen bewußt geworden sind. Ebenso soll in diesem Aufsatz der naheliegende Vergleich mit ausländischen Verhältnissen nicht unternommen werden, die mindestens ebenso eingehende Studien erfordern würden. Die erhöhte Garantie des Funktionierens des öffentlichen Rechtes muß selbstverständlich mit der besonderen Natur des Inhaltes dieses Rechtsgebietes in Verbindung gebracht werden. Man bezeichnet das Privatrecht oft als das Recht zwischen Gleichgestellten, das öffentliche Recht als das Recht zwischen über- und Untergeordneten. Diese Unterscheidung bedarf einer sehr genauen Durcharbeitung, ist aber im Kern nicht unrichtig. Wenn wir nämlich das Gebiet des öffentlichen Rechtes betrachten, so finden wir, daß öffentliches Recht überall dort vorhanden ist, wo über- und Unterordnungsverhältnisse bestehen. Allerdings gibt es Ausnahmen, besonders im Familienund im Arbeitsrecht; aber beide zeigen relativ starke öffentlich-rechtliche Anklänge, deren Natur jedoch selbst im Arbeitsrecht, das so stark im Brennpunkte der wissenschaftlichen Diskussion steht, noch keineswegs hinreichend geklärt ist. Immerhin ergibt sich schon aus diesen beiden Beispielen die Frage, ob man die Unterscheidung nicht noch dahin vertiefen müßte, daß man vom öffentlichen Recht nur dort spricht, wo Unterordnung unter den Staat in Betracht kommt; auch diese Frage bedarf trotz der bereits vorhandenen Literatur noch weiterer Klärung. Aber die beiden Beispiele des Familien- und des Arbeitsrechtes führen von selbst zu der wichtigen Frage, ob denn dieses Auftreten des öffentlichen Rechtes gerade bei den über- und Unterordnungsverhältnissen nur zufällig ist oder ob es einen inneren, in der Natur der Sache selbst liegenden Grund hat. Wenn wir das letztere unterstellen, so könnten wir das öffentliche Recht als Herrschaftsrecht charakterisieren. Die öffentlich-rechtlichen Anklänge im Familien- und Arbeitsrecht würden sich daraus erklären, daß auch in diesen beiden Lebensverhältnissen eine gewisse Herrschaft ausgeübt wird. Diese Beispiele würden also die Charakterisierung des öffentlichen Rechtes als Herrschaftsrecht sogar bestätigen. Man könnte dann weiter folgern, daß dieses Herrschafts-

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recht die oben erwähnten besonderen Privilegien und Garantien naturgemäß besonders dringend nötig hat, weil ja jede Herrschaft darin besteht, daß sie besteht, und hierzu gehört ihr Funktionieren, das fast nicht weitgehend genug gesichert werden kann. Die Frage nach der Entwicklung des Unterschiedes zwischen dem öffentlichen und dem privaten Recht würde also hiernach identisch sein mit der Frage nach der Entwicklung des Staates als Herrschaftsorganisation5 und die weitere Frage nach dem zukünftigen Schicksal des Unterschiedes würde wesentlich davon abhängen, ob auch zukünftige Staatsformen Rechtsstaaten sein, d. h. "die Bahnen und Grenzen ihrer Wirksamkeit und die freie Sphäre ihrer Bürger in der Weise des Rechtes bestimmen" werden. Denn es darf als selbstverständlich vorausgesetzt werden, daß ein Rechtsstaat seinen Bürgern stets eine gewisse Sphäre freien privatrechtlichen Verhaltens überlassen wird, mag sie auch noch so klein sein 6 • Im übrigen hängt diese Entwicklung in so großem Umfang von den Verhältnissen und von positiven Maßnahmen ab, daß sie sich im einzelnen gar nicht wird übersehen lassen. Beispielsweise wird derselbe Staat, der sonst umfangreiche öffentlich-rechtliche Maßnahmen in bezug auf die Kartelle vorsehen müßte, aller dieser öffentlich-rechtlichen Maßnahmen entbehren können, wenn er selbst ein faktisches Monopol auf dem betreffenden Gebiet besitzt oder erwirbt und damit selbst nur noch privatrechtlich tätig zu sein braucht. Um einen naheliegenden Einwand von vornherein abzuschneiden, ist es erforderlich, darauf hinzuweisen, daß das der Verwaltung vom Gesetzgeber eingeräumte freie Ermessen auf zahlreichen Gebieten des öffentlichen Rechtes, selbst dort, wo es zu einer Generalklausel gesteigert ist (§ 10 II 17 Allgemeines Landrecht; Art. 48 RV), dem Gedanken der besonderen Rechtssicherheit des öffentlichen Rechtes nur scheinbar widerspricht. In Wirklichkeit stellt sich nämlich eine derartige Klausel meistens - und auch das würde eine nähere Untersuchung lohnen als die Regel für die Fälle dar, die vom Gesetzgeber nicht von vornherein voraus- oder übersehbar sind, und die deshalb überhaupt nicht oder inhaltlich im einzelnen nicht anders geregelt werden können als durch Ermächtigung zum Handeln nach Ermessen an andere als den Gesetzgeber, die im Augenblick aktionsfähig sind und die allenfalls einer nachträglichen Kontrolle ihres Verhaltens unterworfen werden können. Wenn also Bestimmungen, die der Verwaltung freies Ermessen einräumen, und selbst Generalklauseln immerhin ein Ansatzpunkt für eine allgemeine Regelung sind, soweit eine solche Regelung eben möglich ist, so liegt darin eine Tendenz rechtsstaatlicher Art, nämlich die Schaffung irgendeines noch so geringen Maßes von Berechenbarkeit. Vgl. Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. e Vgl. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, S.71.

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Gerade die Tatsache, daß der Staat, soweit möglich, selbst für die Fälle vorsorgt, die einer Regelung am meisten widerstreben, charakterisiert die Aufgabe des Staates am deutlichsten (ebenso wie die Art der Regelung im einzelnen uns den besten Aufschluß über die innere Natur des Staates und die in ihm herrschenden Kräfte usw. gewährt). Hier zeigt sich nämlich die Souveränität, die Tatsache, daß der Staat oberste Entscheidungseinheit in allen Lebensverhältnissen, also die organisierte Herrschaftsmacht selbst ise. Im Wesen der Entscheidung liegt, daß sie beständig sein muß, und gerade diesem Wesen entspricht der Charakter des öffentlichen Rechtes: Es ist das Recht, dessen sich der Staat bedient, wenn er seine Herrschaft ausübt, wenn er sich als Entscheidungseinheit betätigt, und das er deshalb auch grundsätzlich sich selbst vorbehält. Die herrschaftliche Natur des öffentlichen Rechtes zeigt sich besonders deutlich daran, wie die Vermutung der Gesetzmäßigkeit und Gültigkeit öffentlich-rechtlicher Rechtsgeschäfte sich zur Rechtssicherheit verhält. Rechtssicherheit kann in zwei verschiedenen Dingen bestehen, in der Vorausberechenbarkeit und in der Rechtsbeständigkeit. Beides braucht miteinander nichts zu tun zu haben, und gerade die Vermutung der Gesetzmäßigkeit und Gültigkeit der Staatsakte ist hierfür ein typisches Beispiel: Die Vorausberechenbarkeit wird gesteigert durch eine strenge Bindung der Behörden an das Gesetz, sie nimmt ab, wenn diese Bindung in irgendeiner Weise gelockert wird, mag die Lockerung auch nur darin liegen, daß die Staatsakte trotz Verstoßes gegen die Gesetze doch rechtsbeständig sind. Denn wenn die Behörden durch die Vermutung der Gesetzmäßigkeit und Gültigkeit ihrer Akte in eine gewisse selbständigere Stellung zum Gesetze gebracht werden, so wird dadurch zwar die Rechtsbeständigkeit ihrer Akte gesteigert, die Vorausberechenbarkeit aber besonders für den "Untertan" erheblich vermindert. Deshalb stellt die Vermutung der Gesetzmäßigkeit und Gültigkeit öffentlich-rechtlicher Akte, da sie gerade die Rechtsbeständigkeit auf Kosten der Vorausberechenbarkeit steigert, ein wesentliches Charakteristikum des öffentlichen Rechtes als Herrschaftsrecht dar. Das Bedürfnis nach Beständigkeit ist ohne weiteres vorhanden bei allgemein gesetzten Regeln, also bei den Akten der Gesetzgebung. Es gilt aber ebenso bei der Entscheidung von Streitigkeiten auf Grund dieser Regel, also bei der Rechtsprechung. Deshalb ist jedes richterliche Urteil als solches und jeder Rechtssatz als solcher auch mit der Vermutung der Rechtmäßigkeit (Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit) und der Gültigkeit ausgestattet, deshalb ist also auch die Funktion des Rechtsetzens und des Rechtsprechens als solche ein Akt des öffentlichen Rechtes, und zwar beides mit einer gewissen inneren Notwendigkeit. 7 Vgl. HeUer, Die Souveränität; Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 32 f., 45 und passim.

2 Drath

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Wie steht es aber mit der Funktion der Verwaltung? In ihr sind so viele einzelne Aufgaben zusammengefaßt, daß sich bei ihr durchaus kein einheitliches Bild ergibt. Die Verwaltungsbehörden arbeiten in größtem Umfange auch auf dem privatrechtlichen Gebiete; ihre Tätigkeit ist durchaus nicht immer eine für andere bindende, autoritative Entscheidung, wie es bei der Rechtsetzung und der Urteilsfällung ist. Ja, sie können oft sogar in den gleichen Fällen, in denen sie die Möglichkeit einer obrigkeitlichen Entscheidung haben, in denen ihnen also auch öffentliches Recht zur Verfügung steht, sich statt des öffentlichen Rechtes des privaten Rechtes bedienen8 • Deshalb kann man nicht sagen, daß die Funktion der Verwaltung insgesamt kraft einer inneren Notwendigkeit öffentlich-rechtlicher Natur wäre, weil eben Verwalten im Gegensatz zu Rechtsetzen und Rechtsprechen noch nicht ohne weiteres bedeutet, "mit autoritativer Wirkung für andere entscheiden", und weil deshalb der Fall, in dem die Privilegien und Garantien des öffentlichen Rechtes besonders angebracht sind, bei der Tätigkeit der Verwaltung keineswegs überall vorliegt. Deshalb ist es besonders interessant, festzustellen, auf welchen Gebieten die Verwaltung von unserer Rechtsordnung die Möglichkeit erhalten hat, mit bindender autoritativer Wirkung vorzugehen, mit anderen Worten, wo die Verwaltung sich öffentlich-rechtlicher Formen bedient oder wenigstens dem Buchstaben des Gesetzes nach bedienen kann. Aus der Tatsache, daß die Verwaltung auf irgendeinem Lebensgebiet öffentlich-rechtlich arbeiten kann oder sogar soll, läßt sich nämlich ein Schluß darauf ziehen, wie wichtig dem Gesetzgeber dieses Gebiet gewesen ist, und umgekehrt kann man überall dort, wo ein besonders starkes Bedürfnis nach Entscheidung und Regelung durch den Staat besteht oder entsteht, auch vermuten, daß öffentlich-rechtliche Formen vorhanden sind oder geschaffen werden. Wenn also Lebensverhältnisse, die bisher gar nicht oder privatrechtlich geregelt waren, nun öffentlich-rechtlich geregelt werden und umgekehrt, so ist der Inhalt des öffentlichen Rechtsgebietes naturgemäß ein interessantes Kriterium für die Bedürfnisse eines Staates. Derartige Feststellungen würden sich noch besonders dadurch erhärten lassen, daß etwa gleichartige Feststellungen auch für die Gesetzgebungsprogramme und Rechtsgrundsätze der Verfassung gemacht werden, weil die Parallelität der Erscheinungen die Richtigkeit der Ergebnisse erweisen würde. Der Gedanke, daß die Wichtigkeit eines Lebensgebietes für den Staat maßgebend ist für die Einführung öffentlich-rechtlicher Formen, ist 8 Vgl. das in der Literatur häufig verwandte Beispiel des Ankaufes an Stelle der Enteignung.

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übrigens alt. Schon in Rom galt der Satz, daß jus publicum est, quod ad utilitatem rei publicae spectat, daß das öffentliche Recht einem besonderen öffentlichen Interesse entspringt, eine Feststellung, die auch vielfach in den deutschen Theorien zur Abgrenzung des öffentlichen Rechtes vom privaten verwendet wird. Selbstverständlich entspringt auch das Privatrecht einem öffentlichen Interesse. Das zeigt sich am besten daran, daß es ja zum Recht erst durch die Anerkennung als solches in der objektiven Rechtsordnung geworden ist, daß es sub tutela juris publicae latet. Aber es ist doch offenbar, daß das öffentliche Interesse im Privatrecht zurücktritt, daß es grundsätzlich von dem Privatinteresse eines unmittelbar Beteiligten abhängt, daß der Staat hier dem privaten Interesse nur Hilfestellung leistet9 • Im öffentlichen Recht zeigt sich das unmittelbare öffentliche Interesse daran, daß die Staatsorgane prinzipiell nicht erst auf Antrag, Klage usw. eines Privaten, sondern von Amts wegen tätig werden. Allerdings ist der Grad dieses öffentlichen, unmittelbaren Interesses verschieden stark, wie am besten die strafrechtliche Abstufung beweist zwischen Privatklagedelikten, Antragsdelikten, Delikten, deren Verfolgung dem Opportunitätsprinzip und dem Legalitätsprinzip unterliegt, eine Abstufung, deren besondere Gründe uns hier nicht beschäftigen sollen. Das grundsätzliche Fehlen des Einschreitens von Amts wegen im privaten Recht steht also dem zwar gelegentlich außerordentlich weitgehend abgestuften, aber grundsätzlich doch vorhandenen Einschreiten von Amts wegen im öffentlichen Rechte gegenüber, und dieses Prinzip entspricht der Tatsache, daß das öffentliche Recht aus unmittelbarem öffentlichen Interesse, das private aus mittelbarem öffentlichen Interesse entspringt. Eine Untersuchung, wo und in welchen Formen wir in unserer Rechtsordnung das "öffentliche Interesse" anerkannt finden, würde zu den bedeutsamsten soziologischen Aufschlüssen führen. Eine Teilfrage dieses Komplexes von Problemen ist aber die Untersuchung darüber, für welche Lebensgebiete wir öffentliches und für welche wir privates Recht besitzen. Diese Feststellung kennzeichnet die Kräfte, die den Staat beherrschen, weil das "öffentliche Interesse", wie es sich in der Regel durch das öffentliche Recht dokumentiert, identisch ist mit dem Interesse der herrschenden Klasse, das mittels der Herrschaftsmacht des Staates, also durch das öffentliche Recht, gefördert wird. Umgekehrt kann man aber auch aus der Tatsache der Herrschaft bestimmter Kräfte in großem Umfang auf den Inhalt des öffentlichen Rechtsgebietes schließen.

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Vgl. G. JeHinek, System, S. 56.

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III. Der Inhalt des öffentlich-rechtlichen Rechtsgebietes Der Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptungen ist zu erbringen durch den starken Wechsel des Inhaltes des öffentlichen und des privaten Rechtsgebietes, der einem gleichlaufenden Wechsel der herrschenden Kräfte im Staate völlig entspricht. Wir können feststellen, daß ein Lebensgebiet, das bisher rechtlich überhaupt nicht geregelt war und jetzt erstmalig einer rechtlichen Regelung unterworfen ist, aus diesen soziologischen Gründen öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich geregelt wird und umgekehrt, daß ferner eine vorhandene öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Regelung aus diesen soziologischen Gründen überhaupt aufgegeben wird und daß schließlich auch ein unmittelbarer übergang von der privatrechtlichen Regelung zur öffentlich-rechtlichen und umgekehrt oder nur eine öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Ergänzung einer vorhandenen Regelung geschaffen oder beseitigt wird. Das zeigt sich am eindruckvollsten und unmittelbarsten im Strafrecht, soweit dort Verfassungszustände unter Schutz gestellt werden (Schutz des Monarchen, der Republik). Aber dieselbe Beobachtung läßt sich auch an viel feineren und komplizierteren Verhältnissen machen. Typisch hierfür ist das Entstehen und Verschwinden des Kriegsnotrechtes (Beschlagnahme, Höchstpreise, Produktionszwang, Rationierung des Bedarfes, Devisen- und Geldausfuhrverbot, Veräußerungsbeschränkungen, Wohnungsmangel- und Mieterschutzgesetzgebung usw.), das - unter einem unmittelbaren öffentlichen Bedürfnis stärksten Grades entstanden - fast zu 100 Prozent öffentlich-rechtlich war und entsprechend dem nach dem Kriege abnehmenden Bedürfnis schrittweise entweder völlig abgebaut oder wieder in privatrechtliche Formen zurückgeleitet wurde, wobei über das "öffentliche Bedürfnis" durch die jeweils in der Öffentlichkeit und besonders im Reichstag herrschenden Richtungen und den Einfluß der Kreise, die hinter ihnen standen, entschieden wurde. Im übrigen ergibt sich die Richtigkeit der Behauptung aus einer Untersuchung über die Entwicklung des öffentlichen Rechtes vom liberalen Staate bis heute. Dabei soll von den Rechtsgebieten völlig abgesehen werden, die, wie das Steuer- und Zollrecht, eine Entscheidung nach Klassengesichtspunkten geradezu herausfordern und deshalb heute schon allgemein als Klassenrecht betrachtet werden. Der liberale Staatsgedanke vom reinen Manchestertum bis zur Konzedierung von Wohlfahrtsmaßnahmen des Staates ist bekannt10• Ist die 10 Vgl. Wilhelm v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen; Edikt über die Bauernbefreiung von 1807: " ... daß es ebensowohl den Forderungen der Gerechtigkeit als den Grundsätzen einer wohlgeordneten Staatswirtschaft gemäß ist, alles zu ent-

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Wirtschaftsform dieser Zeit die kapitalistische mit ihrem Bedürfnis nach ungehemmter Entfaltung und nach Fernhaltung jeder Störung sowie nach Sekurität (rationaler Staat Max Webers), so begnügt man sich im öffentlichen Recht zunächst mit der Beseitigung von Hemmungen und Belastungen, beispielsweise durch die Befreiung der Bauern, die Einführung der Gewerbefreiheit und der Freizügigkeit, die Aufhebung von Nachteilen des Standes und der Religion l1 und hält sich von Eingriffen in die Arbeits- und Güterordnung möglichst fern. Dabei ist interessant, im einzelnen festzustellen, wie weit die noch großenteils feudale Staatsorganisation sich von Konzessionen innerhalb ihres eigenen Bereiches fernzuhalten weiß, wie also gleichsam ein Pakt zwischen dem Feudalismus und dem Bürgertum über die Teilung zwischen Staatsorganisation und Geldverdienen besteht. Hierdurch charakterisiert sich nämlich, daß der Staat als solcher keineswegs schwach war, weil er beispielsweise Nachteile des Standes und der Religion in seinem Bezirke durchaus zu bewahren wußte, weil er die Justiz von der Verwaltung fernhielt und sich mit der "Selbstkontrolle" der Verwaltung begnügte, weil er die Kompetenzkonflikte bei Amtshaftung einführte, Generalklauseln für das Verwaltungsstreitverfahren vermied, die Ministerunabhängigkeit vom Parlament erhalten konnte und sogar die Einrichtung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse überhaupt verhütete oder dadurch sabotierte, daß eine Geheimverhandlung vorgeschrieben wurde u. v. a. m. Dabei blieb das öffentliche Recht erhalten oder wurde es sogar neu geschaffen, wo es und damit die Staatsgewalt zur Unterdrückung wirtschaftlich Schwächerer dienen sollte. Charakteristisch hierfür sind die Gesinde- und Landarbeiterordnungen, die beispielsweise das Gesinde durch Polizeigewalt zum Dienstantritt zwangen, die Festsetzung des üblichen Lohnes und Kostgeldes der Polizei überließen, einen unmittelbaren Zwang zur Fortsetzung des Dienstes durch die Polizei sogar ohne vorheriges richterliches Urteil kannten, einen Sühneversuch vor der Polizei als Voraussetzung für die Klage des Gesindes gegen seine Herrschaft vorschrieben, die Koalition für die Landarbeiter und das Gesinde verboten usw. Charakteristisch sind auch die Gutsbezirke mit dem unmittelbaren Gebrauch der Staatsgewalt zugunsten des Gutbesitzers, die §§ 152 Abs.2 und 153 der Gewerbeordnung, die Beschränkung des Vereins- und Versammlungsrechtes und das Sozialistengesetz; besonders charakteristisch ist schließlich auch die Ausgestaltung des damals geschaffenen und zum großen Teil noch heute geltenden Beamtenrechtes. Erst allmählich, und zwar bezeichnenderweise zunächst nur zum Ausgleich der Schädigungen des Kapitalismus in dessen eigenstem Interesse dringt öffentliches Recht in die Arbeitsfernen, was den einzelnen bisher hinderte, den Wohlstand zu erlangen, den er nach dem Maße seiner Kräfte zu erreichen fähig war ... " 11 Vgl. DiehL, Die rechtlichen Grundlagen des Kapitalismus.

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ordnung zum Schutze der Schwächeren (Arbeitsschutzvorschriften und Sozialversicherungsgesetze, die zunächst aus kapitalistischen und militärischen Interessen geschaffen werden) und in die Wirtschaftsordnung ein (Handels- und Landwirtschaftskammern, Regelung der Forstwirtschaft usw.). Diese Entwicklung wird durch die Bestrebungen sozialer Wirtschaftsund Staatsideen unterstützt. Hier wird zum Grundsatz erhoben, daß die Gesamtheit für das Schicksal aller ihrer Glieder verantwortlich ist, daß die Gleichheit der Chance nicht genügt, daß mindestens die Menschenwürdigkeit der Verhältnisse vorhanden sein muß (Art. 151 RV). Demgemäß wird ein staatlicher Eingriff in die Arbeitsverhältnisse zum Schutze der Arbeitnehmer und in die Wirtschaft zum Schutze der Verbraucher und der Allgemeinheit gefordert (Volkswirtschaft, Planwirtschaft, nicht Individualwirtschaft). Der Staat wird Wohlfahrtsstaat durch und zum Schutze der Schwachen und Belastung der Leistungsfähigen. Die Entwicklung des öffentlichen Rechtes kennzeichnet diesen Weg, denn mit der Einbeziehung der Arbeits- und Güterordnung in den Staat ist unmittelbar eine Ausdehnung der Herrschaftsgewalt verbunden, eine Entwicklung, die die Ausdehnung des öffentlichen Rechtes verlangt, zum Teil in Ausprägung öffentlich-rechtlicher Konnexinstitute für bisher privatrechtliche Erscheinungen (Sozialversicherung statt Unterhaltes durch die Familie). Man kann nicht ausschließlich das Verwaltungsrecht heranziehen, sondern muß auch die Gesetzgebungsprogramme selbst mit berücksichtigen, um die Tendenz der Entwicklung zu verdeutlichen. Es mag genügen, die Einzelheiten stichwortartig anzudeuten, weil die Vorgänge aus der Gesetzgebung der letzten Jahre, aus der Reichsverfassung usw. bekannt sind oder leicht festgestellt werden können. Drei Hauptgebiete der Entwicklung heben sich heraus: 1. Kulturelle Fragen

Art. 121 RV Schutz der unehelichen Kinder; Art. 145 RV Freiheit von Unterrichts- und Lernmitteln an Volks- und Fortbildungsschulen; Art. 146 RV Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und höheren Schulen durch Erziehungsbeihilfen; Art. 139 RV Schutz der Feiertage; Ausbildung des Jugend- und Wohlfahrtsrechtes, des Jugendgerichtswesens, Schaffung von Uferwegen zur Erholung usw. 2. Arbeitsrecht

Art. 157 RV Verheißung des allgemeinen Arbeitnehmerschutzes und des Reichsarbeitsrechtes; Art. 159 RV Gewährleistung der Koalitionsfreiheit; Art. 161 RV Ausbau der Sozialversicherung; Art. 163 RV An-

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spruch auf Arbeit; Art. 165 RV gleichberechtigte Mitwirkung der Arbeiter und Angestellten bei der Regelung der Arbeitsverhältnisse sowie Betriebsräte usw.; Art. 162 RV Schaffung eines einheitlichen Arbeitsrechtes; Art. 7 Nr.9 RV Reichskompetenz für Arbeitsschutzgesetze, Sozialversicherung und Arbeitsnachweis; Ausbau der Sozialversicherung in Einzelheiten; Schaffung der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitsvermittlung; Ausbau des Arbeitsschutzes und der Arbeitszeitregelung; Schaffung der Arbeitsgerichtsbarkeit; Einführung des Betriebsrätewesens; Schutz der Schwerbeschädigten; Ausbau der Arbeitsaufsicht; Schaffung der Tarifvertragsverordnung und der Schlichtungsordnung, der Stillegungsverordnung und des Kündigungsschutzes. 3. Wirtschaftsrecht

Art. 151 RV allgemeine Ordnung des Wirtschaftslebens nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle; Art.153 RV Enteignung und Schranken des Eigentums; Art. 155 RV Bodenreform; Art. 156 RV Sozialisierung; Sozialisierungsgesetz; Reichssiedlungsgesetz; Schaffung des vorläufigen Reichswirtschaftsrates; Ordnung der Kohlen-, Kali-, Elektrizitäts- und Eisenwirtschaft; Schaffung der Kartellverordnung. Die Entwicklung, in der wir noch stehen, ja, die eben erst begonnen hat, läßt sich in ihrem Verlauf und ihrem Ende selbstverständlich noch nicht absehen. Die bisherige Tendenz der Entwicklung aber zeigt sich klar 12• Die relativ grobe Betrachtung des Inhaltes der beiden großen Rechtsgebiete des privaten und des öffentlichen Rechtes genügt also zwar nicht für eine in jeder Beziehung erschöpfende Beurteilung der Verhältnisse, kann uns insbesondere den Zusammenhang zwischen der Staatsordnung und Gesellschaftsordnung, zwischen der Betätigung der Staatsgewalt und dem Interesse der herrschenden Klassen nicht in jeder Beziehung aufklären, weil hierfür noch die Gestaltung des Rechtes im einzelnen und seine Anwendung bedeutsam wäre, und zwar auch auf den Rechtsgebieten, die als grundsätzlich öffentlich-rechtlich betrachtet werden (z. B. Beamtenrecht, Arbeitsgerichtsverfahren im Vergleich zum sonstigen Zivilprozeß usw.). Aber die Ergebnisse einer solchen Untersuchung sind, zumal bei eingehenderen historischen Forschungen, als sie im Rahmen eines Aufsatzes möglich sind, doch so überraschend, daß eine nähere Beschäftigung mit der Verschiebung des Inhaltes des öffentlichen und des privaten Rechtsgebietes sich sehr wohl lohnt. 12 Vgl. Radbruch, Vom individualistischen zum sozialen Recht, in Hanseatische Rechts- und Gerichtszeitschrift 1930, S. 458.

Regierung und Grundrechte* Unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten werden jetzt die Grundrechte der Reichsverfassung wieder in den Vordergrund des Interesses gerückt. Ernst Fraenkel schreibt in seinem Aufsatz "Abschied von Weimar"l: "Solange die Weimarer Verfassung diese Freiheitsrechte enthält, solange der Staat Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Pressefreiheit gewährt, solange ist die Verfassung dieses Staates für die Arbeiterschaft von Wert."

earl Schmitt nennt in seiner Schrift "Legalität und Legitimität"! den zweiten Hauptteil der Verfassung "in Wahrheit eine gegenüber dem ersten, einen parlamentarischen Gesetzgebungsstaat organisierenden Hauptteil heterogene, zweite Verfassung". Während diese beiden Autoren ein Losgelöstsein der Grundrechte von dem Funktionieren der parlamentarischen Demokratie (so Ernst Fraenkel) oder sogar einen Gegensatz zwischen ihnen (so earl Schmitt) feststellen, sieht ein dritter Autor, Franz Röhr, der in der Zeitung "Der Deutsche"3) über "Die Arbeiter und die bürgerliche Freiheit" schreibt, gerade die enge Verbindung, die die Grundrechte mit der parlamentarischen Demokratie haben. Diese Häufung der Untersuchungen über die Grundrechte ist kein Zufall. Sie beweist, daß wir uns in einem kritischen Stadium befinden, das zur Besinnung drängt. Deshalb soll hier der Versuch gemacht werden, zur Klärung dieser Fragen beizutragen.

I. Zunächst kommt es darauf an, zu prüfen, ob es sich bei der parlamentarischen Demokratie wirklich um eine "Organisationsform" handelt, die man - freiwillig oder gezwungen - aufgeben kann, ohne daß damit auch das Wesentliche an den Grundrechten mit aufgegeben wird. Ich behaupte, daß die Grundrechte und die parlamentarische Demokra• Arbeit (Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik) 1932, S. 723-730. Die Gesellschaft, 9. Jahrgang, Nr. 8, S.122. ! München und Leipzig 1932, S. 41. 3 Nr. 219 vom 17. September 1932. 1

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tie weit enger miteinander verknüpft sind, als wir heute zugeben, daß nämlich die Grundrechte, und vor allem die Freiheitsrechte, ohne parlamentarische Demokratie verfälscht, entstellt und zu wesentlichen Teilen wertlos werden 4• Diese Frage ist um so wichtiger, nun schon zum zweiten Male erklärt nisatorischen Teils der Verfassung Grundrechte in ihrem Wortlaut oder getastet bleiben sollen5 •

als der Reichskanzler von Papen hat, daß er eine Reform des orgabeabsichtige, bei der jedoch die wenigstens in ihrem Wesen unan-

a) Untersuchen wir also zunächst die Richtigkeit der Fraenkelschen Behauptung! Sie bezieht sich ausschließlich auf die Freiheitsrechte. Prüfen wir, wie es mit ihnen steht, und zwar an Hand der Beispiele, die Fraenkel selbst aufzählt: Die "Meinungsfreiheit", richtiger "Meinungsäußerungsfreiheit" gewährt Art. 118 RV. "innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze". Die Versammlungsfn~iheit garantiert Art. 123 dem Wortlaut nach ohne Hinweise auf Beschränkungen durch einfaches Gesetz; indessen ist anerkannt, daß die Strafgesetze und polizeiliche Gesichtspunkte nach wie vor Schranken der Versammlungsfreiheit bilden, wobei schon der Begriff "Strafgesetz" dem steten Wandel der gesellschaftlichen Auffassungen und erst recht sein Inhalt der jeweiligen Ausprägung der Strafrechtsnormen unterworfen ist und ebenso die polizeilichen Möglichkeiten sich laufend sogar ohne ausdrückliche Gesetzesänderung der jeweiligen Situation anpassen. Nicht anders steht es - wie eine eingehende, hier jedoch nicht mögliche Untersuchung ergeben würde - mit den Konnexinstituten der Koalitionsfreiheit, die für die Koalitionsfreiheit selbst praktisch von geradezu ausschlaggebender Bedeutung sind, wobei sich obendrein noch Schwierigkeiten anderer Art, besonders das grundlegende Problem der Abgrenzung der Koalitionen von den politischen Vereinigungen, erge!?en. Endlich ist die Pressefreiheit des Art. 118 RV. nur durch Verbot der vorherigen Zensur gewährleistet, während alle nachträglichen "Sanktionen", die die Existenz der Presse erschüttern und zu größter "Regierungsfrömmigkeit" zwingen können, unbenommen bleiben. Wohin wir sehen: die klassischen und ebenso die neueren Freiheitsrechte unterliegen schon in der Formulierung, die die Verfassung enthält, sonst aber in der Praxis - und die ist ausschlaggebend - immer noch der 4 Daß auch umgekehrt das Funktionieren der Demokratie die Freiheit der Meinungsäußerung usw. voraussetzt, ist schon oft dargestellt und braucht hier nicht wiederholt zu werden. S Vgl. seine Rede vor bayerischen Industriellen am 12. Oktober 1932 nach dem Bericht des "Vorwärts", NI". 482 vom gleichen Tage, und seine Erklärung vor einem Journalisten der französischen Zeitung "Intransigeant" nach einem Bericht der "Vossischen Zeitung" vom 6. November 1932, NI". 533.

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Regelung durch das Recht in vielfältiger, hier überhaupt nur angedeuteter Weise. Daß diese nähere Regelung nach der deutschen Staatsrechtspraxis nicht nur durch parlamentarisch verabschiedete Gesetze, sondern auch durch Ausnahmeverordnungen getroffen werden kann, ist nicht mehr zu bezweifeln. Hinzu kommt für den Ausnahmezustand, daß wichtige Freiheitsrechte im Artikel 48, Absatz 2 RV. selbst ausdrücklich als aufhebbar bezeichnet sind ft • Gegenüber einer rücksichtslosen Ausnutzung aller Möglichkeiten, die Artikel 48 RV. bietet, bilden die Freiheitsrechte also erst recht keinen wesentlichen Schutz für die Arbeitnehmerschaft. Dies gilt ganz besonders, wenn der Ausnahmezustand nicht eine kurze, sondern eine sehr lange Zeit dauert. Denn dann wird die Rechtsauslegung durch die allgemeine politische Situation und durch Berücksichtigung der Konsequenzen dieser oder jener Auslegung ganz bedeutend beeinflußt - nicht zum Vorteil derer, die sich zwar auf Freiheitsrechte, jedoch weniger auf politische Macht stützen wollen. Fraenkel macht also den m. E. entscheidenden Fehler, die Freiheitsrechte statisch statt dynamisch zu betrachten7 • In Wahrheit gelten die Freiheitsrechte aber nicht nur einfach und unerschütterlich klar und sicher, weil und wie sie dort in der Verfassung geschrieben stehen, sondern sie gelten im Zusammenhang mit den "allgemeinen Gesetzen", mit denen sie vielfältig (am stärksten das für die Arbeiterschaft ja besonders wichtige Koalitionsrecht mit seinen Konnexinstituten) verknüpft sind. Sie gelten im Rahmen einer allgemeinen gesellschaftlichen Situation und Wertung, die erst ihre praktische Wirkung bestimmt und die ihrerseits vor allem in den jeweils geltenden Gesetzen ihren Ausdruck findet. !'fun könnte eine gefestigte Tradition der Auslegung und Anwendung der Freiheitsrechte auch in Krisenzeiten sehr viel nützen; sie könnte kraft des Gesetzes der Stetigkeit, auf dem die Wirkung der Rechtsordnung und ihrer Anwendung beruht, einen allzu rapiden Umschwung verhindern und manches selbst über die Dauer eines längeren Ausnahmezustandes hinwegretten. Indessen befinden wir uns in dieser angenehmen Lage nicht. Das Verhältnis der Grundrechte zum Gesetzgeber ist in der Vorkriegszeit kaum diskutiert worden; es ist erst ein Problem der jetzigen Verfassung. Und bei der Diskussion, die darüber stattgefunden hat und stattfindet, spielt die spezifische Bedeutung, die ft Freiheit der Person; Unverletzlichkeit der Wohnung: Briefgeheimnis usw. Meinungsäußerungsfreiheit ; Pressefreiheit; Versammlungsfreiheit; Vereinigungsfreiheit. 7 In einem zweiten Aufsatz "Um die Verfassung" erkennt Fraenkel das selbst (Die Gesellschaft, 9. Jahrgang, Nr. 10, S. 311).

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die Freiheitsrechte für die Arbeiterschaft haben, fast gar keine Rolle. Das gilt sogar für das Recht der wirtschaftlichen Vereinigungen der Arbeitnehmer, für das Recht der Koalitionen. Es gilt nicht minder für das Recht der politischen Arbeitnehmerbewegung, die gleichfalls der Freiheitsrechte in einem durchaus spezifischen Sinne bedarf. Es fehlt uns also auch in dieser Hinsicht das, was die Bedeutung der Freiheitsrechte für uns verstärken könnte. Zusammengefaßt zeigt sich: Krisenfeste Freiheitsrechte gibt es für uns nicht. Das ist kein Zufall! Unverletzliche Menschenrechte, die nicht dem - einfachen oder verfassungsändernden - Gesetzgeber zur näheren Regelung überlassen sind, gibt es nur als Rechtsgrundsätze, als Naturrecht, als' Idee. Die in der Idee unverlierbare, unverzichtbare und unbeschränkbare Menschenwürde war und bleibt aber in den Niederungen des positiven Verfassungsrechts, d. h. aber in ihrer Wirklichkeit (und dieses Wort "Wirklichkeit" bedeutet: dort, wo sie wirken!) beschränkt durch mannigfache Schranken des geltenden Gesetzes. So wird es auch in absehbarer Zukunft bleiben, da der Staat absolute Freiheiten niemandem und in keiner Beziehung zugesteht, wo er sie nicht zugestehen muß, weil er ohnehin keine Einflußmöglichkeiten hat8 • Wir sind aber auch gerade heute weit davon entfernt, diese Idee wenigstens als Ideal, als etwas, was erstrebt werden muß, gerade weil es nicht verwirklicht ist, so stark in uns zu spüren, daß die Rechtswirklichkeit von dieser Idee her maßgeblich gestaltet würde, daß unser positives Recht und seine Anwendung an der Idee mehr als unbedingt notwendig orientiert würde. Aber gerade weil die Idee der Freiheitsrechte nicht oder so wenig lebendig ist, kommt es auf die Kräfte an, die die Freiheitsrechte durch die Gesetzgebung und durch Verordnungen gestalten. Daher gilt der Satz, daß die Freiheitsrechte für die Arbeiterschaft heute nicht viel mehr als das wert sind, was ihr politischer Einfluß selbst erkämpft oder wenigstens bewahrt. Nicht: Politischer Rückzug auf die Grundrechte, weil die parlamentarische Demokratie uns nichts mehr bietet; sondern Kampf um und für die parlamentarische Demokratie, weil sie uns - neben anderem - auch die wirklichen Freiheiten garantiert, die wir brauchen und die wir selbst so mitgestalten müssen, wie wir sie brauchen. Es gibt keine Konservierung bestehender Rechte, am wenigsten der politischen Rechte, die die Grundrechte doch sind, in der Krise, ohne daß man für sie kämpft. Der Kampf spielt sich - nicht ausschließlich, aber doch zu einem wichtigen Teil9 - ab in den Formen der Demokra8 9

Auch die Gedanken sind nur beim heutigen Stande der Technik frei! Daß der Stimmzettel nicht das Allerweltsmittel ist, um bei völlig ver-

änderter sonstiger Machtlage noch alle Positionen erfolgreich zu verteidigen, ist selbstverständlich.

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tie. Die Freiheitsrechte, wie wir sie brauchen, sind also geradezu existenziell verbunden mit der Demokratie und abhängig von ihr10 • Verfassungsreformpläne, die das verkennen oder verschleiern, sind besonders gefährlich. Nun könnte man darauf hinweisen, daß wir in der Vorkriegszeit in Deutschland nicht gerade in einer Demokratie gelebt haben, daß aber trotzdem eine Freiheit der Person, der Meinungsäußerung und sogar der Vereinigung usw. bestand. Ich will demgegenüber gar nicht einmal prüfen, ob denn diese Freiheit wirklich so weit ging; ich glaube, es wäre ein leichtes, die beweglichsten Klagen aus der Arbeiterbewegung ins Gedächtnis zurückzurufen. Wenn ich aber zugebe, daß natürlich ein gewisses Maß von Freiheit bestanden hat, so kann ich doch nicht glauben, daß eine politische Entwicklung von der Demokratie hinweg nun auf dem Gebiete der Freiheitsrechte weniger konsequent sein würde. Ganz besonders nach der Zuspitzung der politischen Lage, die eine grundlegende Änderung der Verfassung zweifellos bringen würde, kann man sich hier wohl kaum Illusionen machen. Hinzu kommt, daß ich die bürgerlichen Kräfte nicht sehe, die in der Vorkriegszeit neben der Arbeiterschaft für die Freiheit eingetreten sind, die heute aber sehr stark fehlen würden. Selbst wenn ich also vom Ausnahmezustand und damit von den Möglichkeiten des Artikels 48 RV. absehe, kann ich zu keinem günstigeren Ergebnis kommen. Nach Beseitigung der Demokratie bleiben uns Freiheitsrechte niemals so übrig, wie wir sie nötig haben. b) Was wir bisher von den eigentlichen Freiheitsrechten festgestellt haben, gilt von den übrigen Grundrechten ganz ähnlich. Zwar gibt es einige unter ihnen, die von der Gesetzgebung und von Notverordnungen besonders unabhängig sind; aber hier handelt es sich nur um relativ wenige, die gerade für die Arbeitnehmerschaft keine eigentliche Bedeutung besitzen. Wohl aber bleiben noch Grundrechte übrig, die programmatischen Charakter tragen und von den Grundsätzen sprechen, nach denen das Wirtschafts- und Arbeitsleben geordnet werden soll. Hier handelt es sich zu einem erheblichen Teil überhaupt nicht um Normen, die bindende Anordnungen enthalten, sondern um Programme, die nur in besonders nachdrücklicher Form verkündet und festgelegt worden sind. Diese Grundrechtsartikel sollen also erst durch be10

Während dieser Aufsatz schon gedruckt wird, erhalte ich die Schrift

Franz Neumanns: "Die öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Beschrän-

kungen der Pressefreiheit", die sehr deutlich zeigt, wie es bei uns mit diesem besonders wichtigen Freiheitsrecht bereits bestellt ist. Wem das noch nicht einleuchtet, der lese in der Zeitschrift der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände "Der Arbeitgeber" 1932, Heft 18 und 23, was zu dem Thema "Der autoritäre Staat und die Freiheit der Presse" ausgeführt wird - alles ohne formelle Beschränkung der Pressefreiheit.

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sondere Gesetze in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Zum Teil sind solche Gesetze schon vorhanden. Aber die Verfassung gibt ihnen nicht die besondere Kraft von Verfassungssätzen, die nur durch ein verfassungsänderndes Gesetz abgeändert oder aufgehoben werden können. Deshalb stehen diese Gesetze auch dem einfachen Gesetzgeber und sogar dem Inhaber der Ausnahmegewalt zur Abänderung, Aufhebung oder Ergänzung zur Verfügung. Auch hier ist deshalb die Verwirklichung der Grundrechtsartikel ganz besonders abhängig von der politischen Machtlage, ganz zu schweigen davon, daß man manche Gesetze nicht einmal abZluändern oder aufzuheben. sondern nur nicht anzuwenden braucht, um das Programm der VerfaSSl\lug zu sabotieren. Das Funktionieren der Demokratie ist also wiederum sehr wesentlich, wenn man an diesen Grundrechten überhaupt ein Interesse nehmen will, wie ich es allerdings für notwendig halte. Wie man die Dinge auch betrachtet, ob man diese oder jene Grundrechte heranzieht, ob man vom Standpunkt des Artikels 48 RV. oder von der Wiederkehr normalerer Verhältnisse ausgeht, in jedem Falle tut man gut, sich der unmittelbaren Verknüpfung bewußt zu bleiben, die die Grundrechte mit der Demokratie verbindet. Das, was Franz Röhr in der Zeitung "Der Deutsche" schreibt, bestätigt sich damit in vollem Umfange.

11. Nun wäre es aber meines Erachtens keineswegs ausreichend, diese Tatsache hervorzuheben. Wir müssen außerdem erkennen, was die Grundrechte heute für das politische Bewußtsein der Arbeiterschaft bedeuten. Es besteht wohl unter den Kennern der Verhältnisse kaum Meinungsverschiedenheit darüber, daß die eigentlichen Freiheitsrechte kaum eine Rolle spielen. Neben allerlei anderen Gründen11 scheint mir der wichtigste der, daß alle Freiheitsrechte davon ausgehen, daß wenigstens die menschliche Existenz im voraus gesichert ist. Menschenrechte bedingen Menschenwürde; diese kann aber heute nicht mehr gewährleistet werden durch Freiheit vom Staat, sondern im Gegenteil durch Maßnahmen des Staates. Ein vielfach geradezu leidenschaftliches Bekenntnis zu den Freiheitsrechten, wie wir es aus der Vergangenheit kennen, ist heute kaum irgendwo zu hören. Und auch der Ruf der Eisernen Front erhält seine Kraft keineswegs aus dem Willen, nur Freiheit zu besitzen, sondern aus dem Willen, die eine große und heute allein wesentliche Freiheit zu erkämpfen und zu benutzen, die Freiheit, selbst das Gemeinschaftsleben mit zu gestalten nach den "Grundsätzen 11 Ältere Funktionäre kann man z. B. klagen hören, daß die jüngeren die Vorkriegszeit nicht mehr bewußt erlebt hätten und deshaZb nicht wüßten, was Vereinigungsfreiheit usw. bedeutet.

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der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle". Nicht Freiheit der Gesellschaft vom Staate, sondern Ordnung der Gesellschaft durch den Staat ist das leidenschaftliche politische Glaubensbekenntnis unserer Zeit. Auch und ganz besonders für die Arbeiterschaft ist auf die Dauer die Verfassung gerade das wert, was sie leistet oder möglich macht auf dem Weg zu diesem Ziele. Es scheint mir eine gerade jetzt höchst bedenkliche Beschneidung ihres politischen Gestaltungswillens, den Drang nach dieser kommenden Ordnung zu vertrösten mit den Freiheitsrechten. Den Freiheitsrechten, die heute kaum zur politischen Willensbildung im Volke beitragen, müssen wir die Gesetzg'ebungsprogramme der Verfassung gegenüberstellen. Sie sind von den Juristen lange als "leerlaufend" oder "nichtssagend" verspottet worden. Und doch stellen sie im Grunde für unsere Zeit dasselbe dar, was früheren Zeiten die Idee der freiheitlichen Menschenrechte bedeutete: das politische Ziel, nach dem die Menschen sich entscheiden. Es scheint mir keine hinreichende Erklärung, wenn man den Grund für die Wahlziffern der radikalen Parteien nur in der "menschlich verständlichen" Reaktion auf die allgemeine Not sieht. Vielmehr strömen die Menschen aus viel tieferen Gründen, als "vorübergehende Protestreaktionen" sind, gerade zu den Parteien, die eine Neuorganisation des gesellschaftlichen Lebens am lautesten versprechen. Das politis'che Funktionieren der Demokratie hängt eben nicht nur insofern von den Grundrechten ab, als selbstverständlich Freiheit der Meinungsäußerung, der Versammlung usw. nötig ist, wenn das Volk auch nur bei Wahlen seinen Willen äußern soll; sondern gerade die Demokratie, die die Staatsgewalt vom Volke herleitet, legitimiert sich auf die Dauer nur, wenn sie die politischen Aufgaben ihrer Zeit löstu. Eben diese Aufgaben nennen die Programmsätze des zweiten Teils der Reichsverfassung. Mir scheint, daß man in der Nationalversammlung einen besseren Instinkt hierfür gehabt hat, als viele ihrer Kritiker wahrhaben wollen. Die sogenannte "integrierende" Bedeutung der Grundrechte, die Tatsache, daß hier festgestellt worden ist, worin das Volk der Deutschen einig sein soll, hat schon Rudolf Smend hervorgehoben, und er hat dabei gewiß auch an die Gesetzgebungsprogramme der Verfassung gedacht. Demgegenüber hat gerade earl Schmitt darauf hingewiesen, wie wenig einheitlich die Grundrechte der Verfassung sind, wie sie den Pluralismus der gesellschaftlichen Kräfte geradezu begünstigen. Politi12 Auch daß sie eine "Selbstregierung der Regierung" sei, genügt nicht. Gewiß lassen sich Jahrtausende unserer Entwicklung nicht einfach aus unserem Bewußtsein streichen, nachdem sie uns den Willen zu eigenem Urteil und damit auch zu eigener Mitbestimmung gegeben haben. Aber wie skeptisch die Menschen gegenüber sich selbst werden können, beweisen doch heute wohl deutlich genug die Erscheinungen des "Führer-Gedankens".

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sche Ziele, die im Rahmen der Grundrechte liegen, lassen sich also finden wie Steine am Meer; von der reaktionärsten bis zur geradezu revolutionären Politik: vieles ließe sich mit einem Hinweis auf irgendein Grundrecht belegen, das damit "verwirklicht" werden soll. Diese "Legitimation", ein Spiel mit solchen "Begründungen", ist hier selbstverständlich nicht gemeint. Es ist auch nicht richtig, daß jedes Grundrecht dem anderen gleichwertig wäre! Unter den Sätzen, die die Aufgaben der Zukunft enthalten, und die - nicht auf Grund der Verfassung, wohl aber durch die politische Entwicklung - bedeutsamer geworden sind als alle Gewährleistungen bestehender Zustände, ragt wiederum einer hervor, weil er die Grundlage der Existenz von Millionen, gerade der Arbeiterschaft trifft und damit die Grundlage unseres gesellschaftlichen Seins überhaupt: "Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen" (Artikel 151, Absatz I RV.). Dieser Satz geht allen anderen vor. Die Demokratie und jede andere staatliche Organisation wird sein, wenn sie dieses Ziel verwirklicht, oder sie wird nicht sein. Bei aller Uneinheitlichkeit der Grundrechte, die man so oft festgestellt hat, hat gerade die Zuspitzung der Krise bewiesen, daß es sich keineswegs um eine - in sich vielfach widerspruchsvolle - "Gegenverfassung" gegen den ersten Teil der Reichsverfassung handelt (wie earl Schmitt meint)13, sondern um das Programm, dessen Durchführung die demokratische Republik zu rechtfertigen hat.

IH. Dieser Versuch, die Grundrechte der Verfassung gerade von der jetzigen Krise aus - die ja doch nicht einfach vorübergeht, als wäre nichts gewesen - wieder einheitlich aufzufassen, indem auf Artikel 151, Absatz I RV. als das Kernstück gerade in dieser Situation hingewiesen wird, setzt allerdings voraus, daß wir uns nicht scheuen, einmal die Naturrechtlichkeit oder Rechtsgrundsätzlichkeit der Grundrechte mehr als ihre Positivrechtlichkeit zu untersuchen. So läßt sich auf die Staatstheorie anwenden, was heute an Besinnung im Politischen vor sich geht. Und umgekehrt kann die Politik wieder befruchtet werden von solchen Untersuchungen: die in der gegenwärtigen Situation besonders wichtige Frage, ob die alleinige Ableitung der Autorität einer Regierung vom Reichspräsidenten genügt, 13 earl Schmitt sieht fast nur die Grundrechte, die Gewährleistungen, Anerkennungen bestehender Verhältnisse enthalten (vgl. seine Schrift "Legalität und Legitimität", S. 41 ff.); die Programms ätze spielen nur eine sehr geringe Nebenrolle für ihn (a. a. O. S.52), sie sind ihm Annex, weiter nichts.

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Regierung und Grundrechte

ob selbst der Versuch möglich ist, eine mit der Verfassung allenfalls noch vereinbare Notlösung der Regierungskrise zu finden, ohne daß man doch gleichzeitig ansetzt zu grundsätzlicher Neuordnung der Wirtschaft, ob es möglich ist, Politik zu entpolitisieren oder ob nicht der Kampf gegen die Parteipolitik und für ihre Ersetzung durch Politik der Berufsstände ein Kampf gegen Windmühlenflügel ist (oder eine einfache Tarnung); die Erkenntnis des Schwergewichts der Bürokratie und manches andere, nicht zuletzt auch das Verhältnis von Parlament und Regierung und das Problem der Führung scheinen mir dadurch eine interessante und unmittelbar aktuelle Beleuchtung zu erfahren. Vor allem aber gewinnt die Demokratie, die nach der Ansicht Carl Schmitts allein auf die formelle Legalität des Gesetzgebungs- oder Verordnungsvorgangs abgestellt ist, eine Legitimation, die sich freilich nicht des VorzuglS erfreut, metaphysisch begründet zu sein, die aber genau diejenige ist, die in unserer speziellen gesellschaftlich-kulturellen Situation die auf die Dauer allein mögliche zu sein scheint, nämlich die Legitimaton durch eine wirkliche Ordnung der menschlichen Gesellschaft, die ein menschenwürdiges Dasein für alle gewährleistet. Diese Tatsache kann der Reichsregierung, der im Ausnahmezustand eine besondere Machtfülle, aber auch eine besondere Verantwortung zukommt, gar nicht eindringlich genug vor Augen geführt werden. Carl Schmitts Versuch, zu zeigen, daß wir am Ende aller legalen Möglichkeiten angekommen sind, womit die Bahn frei wäre für andere Experimente, ist durch die politische Entwicklung der letzten Tage noch einmal widerlegt. Der neue Kanzler hat bis heute gezeigt, daß er gesonnen ist, alle legalen Möglichkeiten auszuschöpfen. Es kann aber in der heutigen Situation nicht genügen, daß eine Regierung die Grundlagen und Kräfte der Legalität einfach als gegeben und unabänderlich hinnimmt, wie sie derzeit sind; sie hat es auch in der Hand, diese Kräfte zu stärken, indem sie der Legalität der bestehenden demokratischen Verfassung wieder die Legitimation verschafft, die ihr heute im Bewußtsein des Volkes weitgehend fehlt. Diese Legitimation kann nur die sein, von der wir oben sprachen: die Legitimation durch die Bewährung in der politischen Aufgabe, die heute unabweislich gestellt ist, ein menschenwürdiges Dasein für alle zu gewährleisten.

Rechtsdogmatik als Selbstzweck oder als fließende Anpassung des Rechts an die gesellschaftliche Wirklichkeit?* Wenn ein Bürger das Wort "Rechtsdogmatik" hört, weiß er damit wohl nur wenig anzufangen. Er kann dabei kaum an etwas anderes denken als an kirchlich-dogmatische Einflüsse oder an Erstarrtheit im Sinne von Dogmatismus oder auch an rigorose Härte, ja, gegebenenfalls Inhumanität. Unbehagen und Verdächte werden in ihm aufsteigen. Der Jurist hingegen hört und liest das Wort "Rechtsdogmatik" nicht nur mit unbefangener Selbstverständlichkeit, sondern gebraucht es auch selbst gelegentlich so. Manchmal verbindet er damit sogar einen gewissen Stolz oder Anerkennung; denn wenn er bei einer Rechtsfrage eine bestimmte Lösung für "rechtsdogmatisch begründet" erklärt, dann ist das für ihn eine besonders gut begründete Lösung, also eine gewichtigere Rechtsbehauptung, ja, vielleicht sogar die allein richtige Rechtsentscheidung. Würden wir eine so hohe Wertschätzung von Rechtsdogmatik aber für voll berechtigt ansehen, dann gäbe es nicht nur als ideale Forderung, sondern als reale Wirklichkeit in allen Rechtsfragen und Rechtsstreitigkeiten immer nur eine einzige rechtsdogmatische Lösung und mit ihr auch stets die eine und einzig richtige Rechtsentsch.eidung, und das ist doch wohl zu schön, um wahr zu sein! Rechtsdogmatisches Denken kann also auch für den Juristen nicht problemlos sein, und noch weniger kann er jenes Unbehagen des Bürgers, so unklar es ihm auch erscheinen mag, als eine bloße Denkweise von "juristischen Laien" abtun, auf die oft beklagte "Rechtsfremdheit des Bürgers" zurückführen und - bestenfalls - meinen, daß dem durch Aufklärung, etwa durch Rechtskunde-Unterricht in den Schulen, abgeholfen werden könnte. Wir können doch wohl nicht einer "landläufigen" Auffassung von juristischen Laien eine genauso landläufige Auffassung von Juristen entgegenhalten wollen, die selbst erst kritischer Reflexion bedarf! Wir Juristen müssen also zunächst einmal uns selbst fragen, was "Rechtsdogmatik" sein und was sie nicht sein kann, was sie leistet und was sie nicht leistet. Sonst würden wir unser eigenes Problembewußtsein nicht stärken, sondern schwächen. "Dogmen" wären - wörtlich übersetzt - Lehrsätze; "Dogmatik" wäre - wörtlich übersetzt - eine Arbeitsweise, die sich in Lehrsätzen

* Aus: Das Rechtswesen, München 1971, S. 189-208. 3 Drath

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äußert. Aber wenn diese Wortbedeutung maßgebend wäre, dann wäre alle Theorie in allen wissenschaftlichen Disziplinen dogmatisch, und gerade dem steht unser Sprachgebrauch klar entgegen, schon der unserer Alltagssprache, erst recht der unserer Wissenschaften und Wissenschaftstheorien. Hier gelten Dogmen einerseits, Theorien andererseits oft gerade als etwas Entgegengesetztes. Diese Wortbedeutungen von "Dogma" und "Dogmatik" haben sich in historisch-sozialen Situationen und Entwicklungen ausgeformt, nämlich in und mit der Entwicklung unserer eigenen Denkweisen: Dogmen waren in unserem Kulturbereich zunächst Lehren der Kirche. Sie gaben kraft göttlicher Offenbarung und kirchlicher Lehre über das so Geoffenbarte unbezweifelte Gewißheit. Sie betrafen auch Dinge, über die wir Heutigen uns nicht mehr aus solchen Glaubenslehren der Kirchen, sondern durch wissenschaftliche Erkenntnis informieren wollen; denn manche kirchlichen Glaubenslehren wurden durch solche Erkenntnis sogar widerlegt. Der Prozeß des Galilei ist einer der bekanntesten Vorgänge aus dieser tiefgreifenden Wandlung der Denkweisen. So wurde Wissenschaft zu etwas anderem und sogar grundsätzlich der kirchlichen Dogmatik Entgegengesetztem: Dogmen konnten "nur geglaubt" werden, wissenschaftliche Erkenntnis hingegen konnte beweisen, also Zweifel widerlegen, während Glaube den Zweifel nicht widerlegt, sondern nur durch größere Stärke überwindet. Erfahrung wurde die Grundlage der Wissenschaften, nicht mehr Autorität. Diese grobe Skizze genügt für die Einsicht, daß es dann innerhalb der Wissenschaften aller Disziplinen eigentlich keine Dogmatik als Arbeitsweise mehr geben kann, daß ihre Lehrsätze keine Dogmen mehr sein können. Und doch treten in der Rechtswissenschaft beide auf. Wie ist das zu erklären? Was können hier Dogmen noch sein, wenn sie keine Glaubenslehren mehr sind? Soll etwa für die Rechtswissenschaft jener ausgesprochene Gegensatz von Dogmatik und Wissenschaft nicht gelten? Warum denn nur der Gebrauch des sonst für die Wissenschaften und für die Wissenschaftstheorie so suspekten Wortes? Einen zwingenden Grund hierfür gibt es sicherlich nicht, wohl aber Erklärungen, die diese Sprach:konvention verständlich machen: So wie Lehrsätze der Kirche die Gebote Gottes für das Verhalten der Menschen entfalten wollten, so entfaltet Rechtsdogmatik die hierfür erlassenen Gebote der Rechtsordnung durch ihre rechtsdogmatischen Lehrsätze. Damit erheben Dogmen der Rechtswissenschaft einen Anspruch auf Verbindlichkeit ihres Lehrinhalts, der mit dem Anspruch der kirchlich-theologischen Dogmen auf Verbindlichkeit ihrer Inhalte vergleichbar - allerdings nicht derselbe - ist. In beiden Fällen handelt es sich ferner nicht um isolierte Inhalte der Lehren, sondern um widerspruchslose, ja, ineinandergreifende, teilweise auseinander folgende oder auf

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letzte Grundlagen als Basislehren zurückgeführte und darauf konsequent aufgebaute Lehrinhalte. Und schließlich kann hier wie dort nicht Erfahrung im Sinne von Empirie, die intersubjektiv ist, der Ausgangspunkt sein, die zu Theorien verarbeitet wird, weil es nicht um "Sein" und dessen Erkenntnis geht, sondern um Verbindlichkeiten für das (menschliche) Sein, also um "Sollen". Hätte sich nicht unsere Philosophie so sehr im Gegensatz und als Gegensatz zur Theologie entwickelt, so hätte man wohl auch sie oder große Teile von ihr als Dogmatik bezeichnen können, wie das in der Rechtswissenschaft heute noch geschieht. Betrachten wir nämlich die Gesamtheit aller unserer jeweils existierenden einzelnen Rechtsgebote und -verbote als unsere Rechtsordnung, dann ist diese eine "Summe" aus Gesetzen von gestern, vorgestern und sogar aus dem vorigen Jahrhundert. Und dann ist es schon dieserhalb unmöglich, daß wir all diese Normen nur zu einer wirklichen Summe zu addieren brauchten. Denn dann kann da unmöglich alles widerspruchs- und lückenlos zueinander passen und ineinandergreifen. Dann muß die inhaltliche "Einheit der Rechtsordnung" immer wieder erst gedanklich durch die Arbeit der Juristen hergestellt, kann sie danach erst einer juristischen Entscheidung zugrunde gelegt werden. Viele einzelne Rechtsnormen, Rechtsbegriffe und ganze Rechtsinstitute muß man immer wieder darauf prüfen, ob sie noch so verstanden werden dürfen, wie sie bisher verstanden worden und wie sie vielleicht in den Gesetzblättern heute wie früher wörtlich zu finden sind; dies immer schon deshalb, weil ständig neue Rechtsnormen hinzukommen, die am älteren Bestande etwas verschieben, auch wenn sie am Wortlaut selbst nichts ausdrücklich ändern. Rechtsdogmatik setzt sich die Aufgabe, die inhaltliche Konsistenz und möglichst sogar Stringenz der Sollensordnung "Recht" herauszuarbeiten. Sie wählt oder sucht Gesichtspunkte, unter denen sie die Rechtsordnung durchforscht, und strebt danach, solche Lehrsätze aufzustellen, die jene Konsistenz und möglichst Stringenz nachweisen oder erst herstellen. Weil Konsistenz-Probleme sich meistens nicht aus einer einzelnen Rechtsnorm ergeben, sind das in der Regel übergreifende Gesichtspunkte, die durch mehrere Rechtsnormen, manchmal durch ganze umfangreiche Gesetze hindurchgehen, ja, nicht selten viele Gesetze betreffen. Dabei werden manchmal Gebote und Verbote, die man bis dahin ganz separat betrachtete und auch in separaten Gesetzen fand, unter einem neuen Gesichtspunkt zusammen betrachtet; dann können hieraus neue Folgerungen entstehen, die ihrerseits den Inhalt des uns rechtlich gebotenen oder verbotenen Verhaltens und damit auch den Inhalt der richterlichen Entscheidungen in Konfliktsfällen beeinflussen, gegenüber früher verändern. Der Kreis derjenigen Rechtsnormen, die dabei in Betracht gezogen werden, wird

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möglichst so gewählt, daß der Rechtsdogmatiker alles erfaßt, was für den von ihm gewählten Gesichtspunkt seiner Betrachtung wichtig ist, zu seiner Herausarbeitung beitragen kann. Da wird verglichen, gegeneinander abgegrenzt, unterschieden, damit Lehrsätze herausspringen, die den Inhalt unserer Rechtsordnung klarstellen helfen, Lehrsätze also für das Verhalten der Menschen und für die juristische Entscheidung darüber. Und wenn das möglich ist, werden mehrere solcher Lehrsätze zu gan2Jen Lehr-Systemen zusammengefaßt, meistens wohl in der Weise, daß man Basis-Lehren herausarbeitet oder aufstellt, auf denen alle weiteren Lehrsätze beruhen oder auf die sie zurückgeführt werden können. Aus den Gegebenheiten jeder halbwegs komplexen und dann eben auch komplizierten Rechtsordnung, besonders also aus den Gegebenheiten unserer eigenen modernen Rechtsordnung, wie sie mit unserem komplizierten Gesellschaftsleben verbunden sind, folgt unvermeidlich diese Aufgabe. Denn diejenige ordnende Zusammenfassung, die der Gesetzgeber selbst schon vornimmt, z. B. indem er ein Strafgesetzbuch, ein Bürgerliches Gesetzbuch usw. erläßt und darin eine konsistente Ordnung konzipiert, reicht nie aus. Sie muß ergänzt werden durch ein Denken, eine Arbeitsweise, die - bildlich gesprochen - möglichst viele Querschnitte durch die jeweilige Rechtsordnung legt und dabei die Zusammenfassung und Zusammenordnung, die in den einzelnen Gesetzen immer schon vorliegt, nicht auch selbst noch einhält, sondern überschreitet; dies unter Gesichtspunkten, die der betreffende Rechtsdogmatiker sich frei wählt, so daß die Bemühungen vieler Rechtsdogmatiker am Ende einen möglichst umfassenden Gesamtertrag erhoffen lassen; allerdings auch mit dem Risiko, daß sich ein frei gewählter Gesichtspunkt als unfruchtbar erweist oder daß seine Durcharbeitung fehlgeht, erst recht, daß eine rechtsdogmatische Lehre später korrigiert werden muß oder daß sie durch die Entwicklung unserer Rechtsordnung selbst überholt und erledigt wird. Das Unbehagen des Bürgers kann also weichen; es muß jedoch deshalb noch nicht weichen. Selbstbewußtsein und gar Stolz des Juristen, der eine Rechtsansicht rechtsdogmatisch begründet hat oder zu haben glaubt, kann bestehen, muß aber deshalb noch nicht berechtigterweise bestehen, wie es - oft allzu selbstverständlich - besteht. Alles kommt darauf an, nicht daß Rechtsdogmatik existiert und als prinzipiell notwendig erkannt wird, sondern alles kommt darauf an, ob es gute, zuverlässige, selber richtige Rechtsdogmatik ist. Nur dann ist sie beweiskräftig, auch für ein Gericht, ja, nur dann ist sie unschädlich auch für den Bürger - wenn ich hier von dem Fall absehe, daß eine schlechte Rechtsdogmatik oft eine Provokation zu ihrer eigenen Widerlegung und zur Ausarbeitung einer besseren Rechtsdogmatik darstellen, insofern

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also "wider Willen" doch nützlich werden kann. Wann aber ist eine Rechtsdogmatik gut oder richtig? Doch nicht schon, indem sie eine Aufgabe zu lösen sucht, die mit unserer modernen Rechtsordnung untrennbar verbunden ist, sondern erst dann, wenn ihr die Lösung dieser Aufgabe auch gelingt! Dieser Frage müssen wir uns also zuwenden, zuvor aber zusammenfassen, wo wir in unseren überlegungen stehen: Die Existenz von Rechtsdogmatik ist für den Bürger ersichtlich fragwürdig - für den Juristen ist sie es nicht. Man kann dem Bürger jedoch diese Existenz als mit dem komplizierten sozialen Leben in einer modernen Gesellschaft und damit auch mit der Unvermeidlichkeit einer komplizierten Rechtsordnung untrennbar verbunden aufzeigen. Er wird sie dann noch immer als ein "notwendiges übel" auffassen können, als eher gefährlich denn nützlich. Und ob er das tut und begründeterweise tut, wird vor allem davon abhängen, wie selbstverständlich und also selbstsicher - statt kritisch reflektiert - die Juristen rechtsdogmatisch arbeiten, denkend, argumentierend und entscheidend. Das ist kein Wunder, denn letzten Endes sieht sich der Bürger den Rechtsentscheidungen der Juristen, vor allem den verbindlichen Entscheidungen der Gerichte unterworfen, also ausgeliefert. Er muß sich deshalb ein Maximum an kritischer Haltung der Juristen selbst gegenüber und bei aller rechtsdogmatischen Arbeit wünschen, ja, er darf ein solches Maximum fordern. Und er braucht dann auch ein eigenes Unbehagen an Rechtsdogmatik nicht zu verschweigen, geschweige denn sich ausreden zu lassen. Er braucht sich nicht einmal zu genieren, weil er es selbst nicht näher präzisieren, dem Juristen nicht weiter begründen kann. Umgekehrt müßte der Jurist imstande sein, mindestens vor sich selbst und unter anderen Juristen jede einzelne rechtsdogmatische Auffassung unter jeder kritischen Fragestellung als richtig zu erweisen. Der Jurist muß also zumindest wissen, daß Rechtsdogmatik nicht an sich schon die richt1ge juristische Lösung eines Falles ergibt; er muß den nicht absoluten Beitrag rechtsdogmatischer Arbeit, ihren bloßen "Stellenwert" innerhalb der Rechtswissenschaft kennen. Nur dann kann er auch einem Bürger als einem juristischen Laien, der Geduld und Mühe genug aufbringt, über die abstrakte Unvermeidbarkeit von Rechtsdogmatik hinaus ein konkretes Rechtsdogma erklären und verständlich machen, zuvor dessen meist wohl unartikuliertes Unbehagen aufgreifen und präzisieren, was ja die Voraussetzung für jede fruchtbare Klärung ist. Das war nicht immer so! Rechtsdogmatik wurde lange Zeit weit selbstsicherer getrieben, auch dies im Zusammenhang mit dem Stande unserer geistes- und sozial geschichtlichen, vielleicht auch politischen Entwicklung, die mit dem Wort vom damaligen "Obrigkeitsstaat" nur recht grob charakterisiert wird. Rechtswissenschaft und in ihr auch

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Rechtsdogmatik war wohl nie etwas ganz für sich selbst Stehendes, also Isoliertes, stand vielmehr immer in weiteren Zusammenhängen der Denk- und Verhaltensweisen, des sozialen Lebens, seiner Ordnungsweisen wie der ordnenden Entscheidungsweisen und speziell auch des Denkens über diese Entscheidungsweisen. Und dies auch dann, wenn die Rechtsdogmatiker zu ihrer Zeit ihr Tun und dessen Ergebnisse, also ihre eigenen rechtsdogmatischen Lehrsätze und Lehrgebäude, ganz anders, nämlich als außerhalb aller solcher Zusammenhänge stehend auffaßten. Heute aber ist uns solche Unbefangenheit des Denkens über unser rechtsdogmatisches Tun nicht mehr erlaubt. Wir ahnen das als Juristen wohl fast alle unbewußt; wenn - wie mir scheint - der Gebrauch der Wörter "Rechtsdogmatik" und "rechtsdogmatisch" abnimmt, um eine juristische Begründung oder Argumentation zu kennzeichnen, abnimmt auch in den Bücher- und Aufsätze-Titeln, dann könnte das ein Ausdruck eigener Verunsicherung sein. Vielleicht klingt uns nur das Wort nicht gut in den Ohren oder meinen wir nur, daß es bei Nicht-Juristen keinen guten Klang habe. Vielleicht aber haben wir den richtigen "Stellenwert" von Rechtsdogmatik noch selbst nicht gefunden, besitzen wir noch nicht einmal ein Kriterium dafür, ihn :ru ermitteln, sind wir also mit der Problematik, die rechtsdogmatische Arbeit für uns selbst aufwirft, noch nicht fertig geworden, ja, wissen nicht einmal, wie wir damit fertig werden können. In der Tat: "fertig" werden in dem Sinne, daß wir sie ein für allemal gelöst hätten, können wir mit dieser Problematik nie! Sie stellt sich bei jeder konkreten rechtsdogmatischen Arbeit neu, weil es immer auf das konkrete Ergebnis der konkreten rechtsdogmatischen Argumentation und Begründung einer juristischen Entscheidung ankommt. Und diese kann immer gut oder schlecht, falsch oder richtig sein. Je mehr wir Juristen also diesen Fragen selbst nachgehen, statt Angriffe anderer auf Rechtsdogmatik abzuwehren, je mehr wir - bis zu den Grundlagen! - unser eigenes rechtsdogmatisches Tun in unsere kritischen Reflexionen einbeziehen, um so mehr wird wenigstens unsere Fähigkeit wachsen, gute, richtige Rechtsdogmatik zu betreiben, statt vorgefundenen rechtsdogmatischen Standpunkten nur zu folgen, so wie sie einmal sind. Wer wollte denn heute bezweifeln, daß jede Wissenschaftsdisziplin immer wieder ihre Fundamente entweder selbst kritisch überdenken oder aber von anderen Disziplinen überdenken und in Frage stellen lassen muß? Und speziell die Rechtsdogmatik muß das, wenn sie nach einer hinter ihr liegenden Periode von Selbstgewißheit verunsichert ist und neue, ebenso selbstgewisse Fundamente nicht wiedergefunden hat, auch unter den heute voraussehbaren Bedingungen kaum wiederfinden kann. Sie muß es um so mehr, als ihr eigener "Stoff", also der Gegenstand ihrer Arbeiten, nämlich die Rechtsordnung selbst sich ununterbrochen, bald hier, bald dort, ändert, also sogar

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ein Rechtsdogma, das heute gut und richtig ist, morgen unzulänglich und übermorgen gar falsch und überholt sein kann. Bei einer noch so offenen, wenig präzisierbaren Problemlage, wie wir sie hier vor uns haben, ist es nicht gut, wenn man allzu direkt auf ein "brauchbares Ergebnis" hinsteuert, weil sich dann der Blick verengt. Deshalb ist es ratsam, mit der Frage zu beginnen, in welchen Zusammenhängen Rechtsdogmatik steht, von welchen sie also auch abhängt. Das ist ihr selbst, noch ehe sie ihre Arbeit überhaupt begonnen hat, vorwegbestimmt. Damit ist bereits weitgehend entschieden, was sie ist, was sie sein kann, was sie leistet und was nicht, wo spezielle Gefahren ihrer Fehlleistungen liegen. Das läßt sich am besten zeigen am Vergleich mit kirchlich-theologischer Dogmatik, einem Vergleich, der selbstverständlich nur den einen Punkt betrifft, den ich jetzt anführe: Dogmen sind für die katholische Kirche nicht dasselbe wie für die evangelische. Damit ist auch Dogmatik als Arbeitsweise für die eine Kirche nicht dasselbe wie für die andere. Der Grund dafür ist, daß wiederum aufgrund dogmatischer Basis-Lehre - die Lehre und mit ihr das Lehramt in den beiden Kirchen etwas grundlegend Verschiedenes ist. Damit ist, leistet und bewirkt also auch die Dogmatik in der einen Konfession etwas anderes als in der anderen. Und damit betrifft auch die Dogmatik der einen Kirche unvermeidlich die Gläubigen dieser Kirche anders als die Dogmatik der anderen Kirche deren Gläubige; wir pflegen kurz zu sagen, daß die Dogmatik in den beiden Konfessionen etwas Verschiedenes "bedeutet". Wenden wir dies auf die Rechtsdogmatik an, dann folgt daraus: Dieser Begriff selbst und das, was er bezeichnet, ist nichts ein für alle Mal Festes. Er hängt selbst bereits davon ab, was und wie das Recht ist, das da in dogmatischer Weise behandelt wird. Rechtsdogmatik war also etwas anderes in der Zeit, als man mit großen Gesetzgebungswerken zu tun hatte, die wir als "Kodifikationen" bezeichnen, etwas anderes als heute, da eine Fülle von Einzelgesetzgebungen vorherrscht und Kodifikationen früherer Art kaum noch vorkommen. Das ist keineswegs nur eine Frage bloßer Gesetzgebungstechnik oder auch nur praktischer Schwierigkeiten, codices im früheren Sinne zustande zu bringen. Sondern dahinter stehen auch ganz verschiedene soziale Ordnungsvorstellungen, Denkweisen über soziale Ordnungsbedürfnisse und deren Erfüllung, Ja, ganze "Weltanschauungen". Zu den Grundüberzeugungen großer Kodifikationsperioden gehört wohl stets auch die Auffassung, daß bestimmte Prinzipien für das Leben der Menschen maßgeblich seien oder sein sollten. Diese Gewißheiten will man in den Kodifikationen verwirklichen und sicherstellen. Rechtsdogmatik hierzu ist dann fundiert in denselben Prinzipien, leitet ihre Gedankengänge und damit auch ihre Ergebnisse für die juristische Auslegung und für die

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Entscheidung von Rechtskonflikten von eben diesen Prinzipien ab oder führt ihre Thesen und Lehrsätze bis auf eben diese Prinzipien zurück, was für unsere Fragen dasselbe ausmacht. Für eine rein geistige, eine ästhetische oder auch systematisch-logische Betrachtung kann eine solche Dogmatik etwas Großartiges an sich haben, ein imponierender Gedankenbau sein. Man kann sie bewundern, ihre Autoren als leuchtende Vorbilder ansehen oder auch beneiden. Aber bei einer anderen Betrachtung, vor allem einer Betrachtung der Wirkungen, die solche Rechtsdogmatik gerade dann auf die Rechtsgenossen in der Rechtspraxis der Gerichte auf die Dauer haben kann, wenn sie so imponierend ist, bei einer solchen Betrachtung kann das Urteil ganz anders ausfallen. Rechtsdogmatik kann dann "erstarrt" sein, "das Leben vergewaltigen", jedenfalls zu " lebensfremden " Entscheidungen beitragen. Und dies besonders deshalb, weil ihr solche vermeintlich festen, ja, allgemein-menschlichen oder ewigen, absoluten Prinzipien, Begriffe oder Institutionen zugrunde gelegt worden sind; denn das soziale Leben entwickelt sich fort und mit ihm auch die normativen sozialen Ordnungsvorstellungen, zunächst bei Teilen der Betroffenen, dann oft allgemein; die alten Prinzipien, Wertungen usw. verlieren ihre überzeugungskraft als vermeintlich letzte, unbezweifelbare Gewißheiten oder Wahrheiten. Auch eine Rechtsdogmatik kann in solchem Falle nichts mehr mit dem Anspruch auf Gewißheit oder " Evidenz " in Lehrsätzen und Lehrgebäuden entfalten, das in ihren Ausgangs- oder Basis-Lehren oder -positionen nicht mehr an deren eigener Gewißheit oder überzeugungskraft, kurz an Geltung vorgegeben ist. Nun brauche ich wohl nur noch das Stichwort von der modernen "pluralistischen Gesellschaft" fallen zu lassen, um sichtbar zu machen, daß Rechtsdogmatik heute etwas durchaus anderes sein muß als in jener früheren Periode. Soweit sie heute in jener früheren Weise betrieben würde, erschiene sie wohl schlankweg als pure Ideologie. Müssen wir alle Begriffe und besonders aus verschiedenen Gründen alle Rechtsbegriffe, Rechtsinstitute usw. als wandelbar ansehen, dann müssen wir auch zu einer immer wieder erneuten inhaltlichen Prüfung aller Rechtsdogmen kommen. Dann kann es eine Art gesicherten Lehrbestands an Rechtsdogmatik überhaupt nicht mehr geben, sondern höchstens noch solche einzelnen Rechtsdogmen, die faktisch-herkömmlich geblieben, d. h. bislang noch unbezweifeit sind, aber morgen schon in Zweifel gezogen werden können und, wenn es auf sie ankommt, sogar heute schon kritisch neu in Frage gestellt werden müssen. Dann ist eben Rechtsdogmatik eine Arbeitsweise, die immer erneut Lehrsätze zugleich aufstellt und bewußt kritisch, kritisch vor allem auch gegenüber ihren eigenen Voraussetzungen und Zusammenhängen erwägt, das heißt aber: in Frage stellt. Diese eigenen Voraussetzungen, und

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unter ihnen wieder in erster Linie diejenigen, die als selbstverständlich und sicher gelten, wären also in die kritische Reflexion selbst einzubeziehen, mindestens aber ergänzend dazu kritisch herauszuarbeiten und als der betreffenden Lehre immanent aufzuweisen. Von anderen Voraussetzungen aus und manchmal bereits bei Berücksichtigung weiterer Tatsachen und Zusammenhänge wäre eine rechtsdogmatische Begründung dann schon nicht mehr zwingend oder überzeugend, vielleicht sogar falsch. Rechtsdogmatische Arbeit würde mehr als Entwürfe oder Vorschläge für die Betrachtung und Lösung juristischer Probleme nie liefern, was natürlich nicht ausschließt, daß ein Gericht sie sich für die Begründung seiner Entscheidung zu eigen macht und daß damit (und dadurch erst!) das, was von sich aus nur Entwurf oder Vorschlag war, für diese Entscheidung ein tragendes Element und also mehr als Vorschlag wird. übrigens kommt dieser Charakter aller Rechtsdogmen auch dadurch zum Ausdruck, daß wir geradezu eine Aufteilung der sozialen Rollen sogar durch unsere Rechtsordnung feststellen können: Rechtsdogmatik ist Sache der Rechtswissenschaftler, Sache theoretischer Arbeit; hingegen Rechtsentscheidung Sache der Gerichte - nicht mehr wie früher einmal von Fakultäten, so sehr auch unsere Gerichte gehalten sind, rechtswissenschaftlich vorzugehen; wir besitzen in ihnen also geradezu einen Filter, der Rechtsdogmen jedenfalls kraft jener Arbeitsteilung nicht primär selbst aufstellt, sondern kritisch unter die Lupe nimmt, mindestens nehmen kann und sicherlich soll. Wir sollten jedoch bei den Voraussetzungen von Rechtsdogmen noch etwas verweilen. Da es sich um Recht handelt, das von unserer Rechtsdogmatik abgehandelt wird, und da Recht selbst nicht etwas immer Gleiches ist, etwa immer dieselbe Art von Normen, ja, schon wenn Recht dies nicht mit Sicherheit ist und bleibt, muß zu den Voraussetzungen einer jeden Rechtsdogmatik auch irgendeine These oder Annahme gehören von dem, was das in eben dieser Rechtsdogmatik abgehandelte Recht selber "sei". Solche Thesen oder Annahmen sind rechtstheoretischer oder rechtsphilosophischer Art. Wir haben folglich jedem Rechtsdogma eine Rechtstheorie oder -philosophie zugrunde liegen, sei das nun dem Autor selbst bewußt oder auch nicht. Ob sie für den Inhalt des rechtsdogmatischen Lehrsatzes oder Lehrgebäudes von Einfluß ist und von welchem Einfluß, das läßt sich nicht von vornherein schon entscheiden. Es kann sogar sein, daß wir heute alle übereinstimmend feststellten, weder die Tatsache, daß überhaupt eine Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie zugrunde liege, noch vielleicht sogar, daß dies die uns bekannte, von demselben Autor schon anderwärts vorgetragene Rechtsphilosophie oder Rechtstheoriesei, habe in seiner rechtsdogmatischen Arbeit irgendeine erkennbare Wirkung gehabt. Dennoch könnte leicht später ein anderer uns das klare Gegenteil überzeugend nach-

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weisen. Mindestens, daß bestimmte Rechtstheorien oder Rechtsphilosophien in einem rechtsdogmatischen Lehrsatz oder Lehrgebäude nicht mitgemacht worden sind, ließe sich wohl meistens aufzeigen. Das ist nun selbst eine wichtige Tatsache. Rechtsdogmatik will ja immer zur Klärung juristischer Entscheidungsprobleme beitragen. Sie tut es, indem sie mittels Querschnitten - wie ich bildlich gesagt habe - gerade die nicht unmittelbar ausgesprochenen und angeordneten Ordnungsintentionen unserer Rechtsordnung offenlegt. Es geht also bei den Resultaten rechtsdogmatischer Untersuchungen um die Lösung von Problemen der richtigen, der gebotenen sozialen Lenkung und Ordnung. In einer Gesellschaft, die man jedenfalls nicht als harmonisch-konfliktfrei, als "heil" ansehen kann, wenn man nicht realitätsblind sein will, die also - um hier der Einfachheit halber wieder das gängige Wort zu gebrauchen - mindestens "pluralistisch" ist und sich - damit zusammenhängend - in raschen Veränderungen befindet, die man als "sozialen Wandel" eher sehr blaß als sehr sinnfällig bezeichnet, in einer solchen Gesellschaft ist die Frage, zu wessen Gunsten und zu wessen Lasten eine juristische Entscheidung oder ein Entscheidungsvorschlag (oder auch ein bloßer Gedankengang rechtsdogmatischer Art ohne Entscheidungsvorschlag) wirkt, nicht mehr zu unterdrücken. Auch rechtsdogmatische Arbeit, die doch früher einmal vermeintlich gesicherte Lehrsätze erzielen und - einmal erzielt - stabilisieren sollte und wirklich stabilisiert hat, sieht sich heute dieser Frage nach ihren Ergebnissen, nach deren Richtigkeit oder Falschheit, nach deren Zurückführbarkeit auf konkrete rechtstheoretische, rechtsphilosophische, weltanschauliche, ideologische Voraussetzungen ausgesetzt. Mindestens stehen ihre sozialen Lenkungs- und Ordnungseffekte zur Diskussion. In der Tat kann ein Stück unserer sozialen Ordnung, gerade aus der Ordnungsart "Recht", heute sogar allgemein als gut aufgefaßt, aber bei den eminent raschen Wandlungen unserer "Verhältnisse" manchmal schon kurze Zeit später als fragwürdig, der Korrektur oder Ergänzung und nicht einmal so selten sogar der Beseitigung bedürftig angesehen werden. Im Steuerrecht, das sehr große soziale und ökonomische Wirkungen haben kann, ist das besonders augenfällig; aber man kann es auch sonst in unserer Gesetzgebung vielfach aufzeigen, wo Gesetzesänderungen kurz aufeinander folgen. Für Lehrsätze der Rechtsdogmatik kann es dann höchstens der Häufigkeit nach (weil sie meistens mehr prinzipielle, weniger detaillierte Inhalte haben), aber doch nicht dem Prinzip nach besser stehen: Auch sie unterliegen schon von Anfang an der Frage nach ihren sozialen Ordnungswirkungen und dem Wandel der Wertungen, gleichgültig hier, ob neue Tatsachen eingetreten sind oder erkennbar wurden oder ob die Wertungshaltungen selbst sich verändert haben. Deshalb befassen sich auch

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die Autoren selbst und nicht selten auch Gerichtsentscheidungen ausdrücklich mit diesen sozialen Auswirkungen, und man müßte einmal feststellen, ob das nicht in Entscheidungen dann besonders häufig der Fall ist, wenn das Gericht eine klar rechtsdogmatische Begründung gewählt hat, was auf ein Gefühl von Ergänzungsbedürfnis bei den Richtern hindeuten könnte. In der Art nun, wie solche überlegungen angestellt werden, wie der Autor oder Richter sich dann mit den von ihm erwähnten Wirkungen auseinandersetzt, abfindet oder auch sie zu mindern oder zu vergrößern sucht, wie er vielleicht begründet, daß soziale Folgen überhaupt außer Betracht bleiben könnten oder müßten usw. an all dem kann man in der Regel ablesen, welche rechtsphilosophischen, rechtstheoretischen oder sonstigen "weltanschaulichen" Grundauffassungen da vorliegen oder - mindestens - nicht vorliegen, welche Auffassungen vom Amte des Richters oder Theoretikers, vom Verhältnis des Bürgers zur Staatsgewalt und anderes mehr. Damit habe ich bereits dargelegt, daß zu den Voraussetzungen rechtsdogmatischer Lehrsätze und Lehrgebäude u. U. auch eigene soziale Ordnungsvorstellungen des betreffenden Autors gehören (oder aber soziale Ordnungsvorstellungen anderer, denen er sich anschließt), ja, daß solche Ordnungsvorstellungen heute Elemente sind, die schon die Autoren und Anhänger eines rechtsdogmatischen Lehrsatzes oder Lehrgebäudes zu einer Vergewisserung von der Haltbarkeit oder Richtigkeit ihrer Thesen zu verwenden pflegen. Noch weniger entgeht heute rechtsdogmatische Arbeit einer solchen Befragung auf ihre Ergebnisse hin durch andere. Die "Unmöglichkeit des Ergebnisses" ist also heute auch für die Rechtsdogmatik ein Richtigkeitskriterium, das kaum noch bestritten wird. Worum der Streit geht, das ist erst die Bewertung des Ergebnisses als gut oder schlecht, als von unserer Rechtsordnung gewünscht oder doch in Kauf genommen oder als unerwünscht, ja, mißbilligt oder sogar als unerträglich und damit als schlechthin "nicht gewollt" im Sinne von "verboten". Die "Unmöglichkeit des Ergebnisses" wird in erster Linie am sozialen Ordnungseffekt oder "Miß-Effekt" - wenn diese Wortbildung erlaubt ist - gemessen. Rechtsdogmatik konnte wohl lange Zeit "ex cathedra" sprechen, sie kann es heute schwerlich noch. Sie kann nicht mehr so betrieben werden, als ob sie "Selbstzweck" wäre. Ist aber damit Rechtsdogmatik ganz unhaltbar geworden und also überflüssig? Kann man gar nicht mehr abgrenzen, was sie als Arbeitsweise von anderen rechtswissenschaftlichen Arbeitsweisen unterscheidet? Ich habe schon zuvor sagen müssen, wie sie vorgeht und daß dieses ihr Vorgehen sinnvoll ist, weil es offenlegen kann, was nicht unmittelbar an unserer Rechtsordnung ablesbar ist und was gerade mit dieser Weise ihres Vorgehens offengelegt werden kann. Aber vielleicht

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empfiehlt es sich, behutsam und also auf einem übersehbaren Gebiet zu zeigen, wie sich Rechtsdogmatik fruchtbar, nämlich als ein Ordnungsfaktor fortentwickeln kann, indem sie einen neuen "Querschnitt" durch die inzwischen veränderte Rechtsordnung legt und die ihr heute zugrunde liegenden Ordnungsintentionen offenlegt. Deshalb möchte ich hier ein Beispiel rechtsdogmatischen Denkens vortragen, das mich sehr beschäftigt, ja, beunruhigt, weil ich es nicht längst schon öffentlich vorgetragen habe, und zwar um des Un-Ordnungseffekts willen, der von der unkritischen Beibehaltung einer tradierten Rechtsdogmatik ausgeht, und des guten, richtigen Ordnungseffekts willen, den eine neue, nein: eine nur fortgeführte, auf der überkommenen Basis weiterentwickelte Rechtsdogmatik haben würde. Ich gehe von einer fast großartig zu nennenden Rechtsdogmatik aus, die einmal bei uns geleistet worden ist, und knüpfe daran eine dogmatische Frage, die jeden Bürger jeden Tag betreffen kann, sowie den Ansatz zu einer Beantwortung dieser Frage, also zu einem neuen rechtsdogmatischen Lehrsatz, mit einem veränderten Sollensgebot an den Bürger, also an jedermann. Auch wenn ich hier nicht die ganze Begründung dieses Lehrsatzes vortragen kann, so will ich doch vorweg sagen, daß er aus einer denkenden Zusammenordnung aller in Betracht kommenden einzelnen Rechtsnormen, ganzer Rechtsinstitute aus verschiedenen Gesetzen gewonnen und - wie ich glaube - gut begründet ist, weil er die von unserer Verfassung selbst gewollte Rechtsstellung des Bürgers zu aller staatlichen und kommunalen Verwaltung, soweit sie "öffentliche Gewalt" darstellt, verwirklicht, sowohl mit dem Prinzip des Rechtsstaates als auch mit dem Freiheitsprinzip und dem Prinzip der Demokratie ernst macht. Es handelt sich um folgendes: Ein bedeutender deutscher Jurist, Otto Mayer, hat ein Lehrbuch des Verwaltungsrechts geschrieben, in dem er rechtsdogmatisch aus einer Fülle einzelner Gesetze und Normen den Rechtsbegriff des "Verwaltungsaktes" 'entwickelte und definierte. Seine Definition wird seither bei jedem Juristen, schon in allen Prüfungen, als bekannt vorausgesetzt, man kann sie jedem "abfragen"; aber Otto Mayers Rechtsdogmatik über den Verwaltungsakt war zu seiner Zeit weit mehr als bloße Erweiterung des juristischen Denkens und Fachwissens: sie war seinerzeit ein eminenter rechtsstaatlicher Fortschritt. Otto Mayer selbst sprach das ausdrücklich aus und wies dabei sogar darauf hin, daß der (damalige) Gesetzgeber, also der aus der Zeit um 1900, es oft bewußt vermeide, Gesetze zu erlassen, durch die es zu "Verwaltungsakten" komme, weil nämlich damit die monarchischen Verwaltungsbehörden in ihren Handlungsmöglichkeiten gegenüber dem Bürger eingeengt wurden, während sie doch weitgehend Obrigkeit gegenüber dem Unter-

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tan sein und bleiben sollten. Als wir später unter der Weimarer Verfassung dieses Untertänigkeitsverhältnis grundsätzlich beseitigen wollten, "galt" noch immer allgemein anerkannt Otto Mayers Definition des Verwaltungsakts. Sein Lehrsatz war also ein Dogma im Sinne erstarrten Denkens, im Sinne von "Dogmatismus" geworden; indem er zum absolut sicheren juristischen Lehrbestand gehörte, wurde nun aus einem ursprünglichen rechtsstaatlich gemeinten und rechtsstaatlich wirkenden Rechtsdogma die Aufrechterhaltung einer Rechtssituation des früheren Obrigkeitsstaates. Er wurde das gerade dadurch, daß Otto Mayers Dogmatik so überzeugend und gut durchdacht und begründet gewesen war. Von der gesamten Dogmatik Otto Mayers über den Verwaltungsakt war am Ende nur der rein definitorische Lehrsatz übrig geblieben. Indem dieser aufgrund der gesamten damaligen Gesetzeslage und Verwaltungspraxis treffend konzipiert und begründet war, war die Stufe der damaligen Entwicklung eben dieser Rechtslage am Ende versteinert. Die umfassende Rechtsdogmatik und vor allem ihre ausgesprochen rechtsstaatliche Tendenz kannte man kaum noch, die bloße Lehrsatz-Formel war ein Handwerkszeug geradezu rechtstechnischer Art geworden. Sonst hätte man doch wohl am Ende im ursprünglirnen Sinne Otto Mayers weitergedacht, seine eigene Rechtsdogmatik fortentwickelt, und dies schon nach 1918. Aber ich darf mit diesen vergangenen Zeiten nicht zu streng ins Gericht gehen. Was schon damals an Fortentwicklung möglich und rechts- und verfassungspolitisch nötig gewesen wäre, drängt sich nach meinem Urteil heute geradezu rechtsdogmatisch auf, ist aber auch heute noch nicht erkannt, geschweige denn durchgeführt, obwohl inzwischen nahezu sämtliche einschlägigen Gesetze aus der Zeit Otto Mayers aufgehoben und in hoher übereinstimmung so abgeändert worden sind, daß sich die neue Rechtsdogmatik - wie ich sagte - auch aus rein rechtsdogmatischen Gründen heute geradezu aufdrängt. Es geht um die Frage, ob der Bürger, gegen den ein Verwaltungsakt der "öffentlichen Gewalt" ergeht, welcher nicht - was in bestimmten Ausnahmefällen zulässig ist - sofort vollziehbar ist, diesem Gebot oder Verbot der Verwaltung dennoch sofort gehorchen muß. Die Frage wird leider dadurch besonders wichtig, daß ein etwaiger Ungehorsam dieses Bürgers bei uns in manchen Fällen als strafbare Handlung oder Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann und auch geahndet wird. Auch hohe Gerichte behaupten, der Bürger sei in diesen Fällen zum sofortigen Gehorsam verpflichtet - ganz wie zur Zeit Otto Mayers. Hier fehlt es an einem neuen rechtsdogmatischen Durchdenken unserer heutigen Gesetzeslage, die von derjenigen zu Otto Mayers Zeit so grundlegend verschieden ist. Dessen eigene großartige rechtsdogmatische Leistung würde dadurch, daß man seine Arbeit "korrigierte", keineswegs vermindert, sondern umgekehrt geradezu " honoriert", indem man in seinem eigenen Sinne fortsetzte, was zu

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seiner Zeit von ihm bewußt begonnen worden ist, also auf seiner eigenen Arbeit und rechtsstaatlichen Intention aufbaute. An diesem Beispiel wird sichtbar: Rechtsdogmen können erstarren, und sie erstarren wirklich, wenn man sie nur noch "kennt", weil man sie - wenn ich das so sagen darf - auswendig gelernt hat, ohne aber ihre volle Ableitung und Begründung in derjenigen Rechtslage sich bewußt zu halten, aus der sie "geboren" sind und an die sie gebunden bleiben. Hieran kann auch das Unbehagen des Bürgers anknüpfen, daß es dergleichen gibt und daß diese Gefahr mit Rechtsdogmatik leicht verbunden werden kann. Aber das liegt dann nicht an der Rechtsdogmatik, sondern am Verhalten der Juristen gegenüber Rechtsdogmen und an ihrem Umgang mit Rechtsdogmen in der juristischen Argumentation und Entscheidung. Nicht die Rechtsdogmatik ist in dem kurz dargelegten Fall erstarrt, sondern wir sind erstarrt, haben uns bis heute noch auf den damaligen Stand der Rechtsdogmatik festgelegt. Dieser von Otto Mayer begründete damalige Stand war seinerzeit voll überzeugend, war ein voll gelungener Entwurf, war lebendig und war ein rechtsstaatlicher Fortschritt. Wir haben ihn bisher nicht fortsetzen können. Alle jeweils überkommene Rechtsdogmatik, alle rechtsdogmatischen Lehrbestände müssen also immer wieder neu bedacht werden. Sie stellten von allem Anfang an nichts anderes als bloße Entwürfe dar, und sie bleiben auch dann "vorläufig", wenn ein solcher Entwurf voll gelungen und allgemein akzeptiert ist; denn die Rechtsentwicklung und das rechtsdogmatische Denken gehen beide weiter, und die Rechtsdogmen von gestern werden revisionsbedürftig, werden zu bloßen "Vorläufern" der neuen Rechtsdogmatik von heute und morgen. Rechtsdogmen müssen nicht nur auf ihre eigene innere Logik, ihre Konsistenz und Konsequenz durchdacht, sondern auch auf ihre soziale Wirkung hin immer wieder neu geprüft werden, darauf also, ob sie die von der ohnehin heute rasch wandelbaren Rechtsordnung intendierte sozialordnende Wirksamkeit entfalten und in diesem Sinne richtig sind. Ist das allerdings der Fall, dann kann rechtsdogmatische Arbeit auch heute, ebenso wie im Falle Otto Mayers zu seiner Zeit, eminente Fortschritte begründen.

Der Gesetzesbegriff in den Rechtswissenschaften * I.

Der Gesetzesbegriff des Juristen hängt naturgemäß ab von dem Rechtsbegriff, den der Jurist hat. Das Gesetz ist eine Erscheinung des Rechts. Was aber ist das Recht selbst? Darüber gibt es sehr verschiedene Auffassungen, die man nicht in einem Vortrag darlegen kann. Nur soviel: Man kann das Recht als eine SoHensordnung ansehen, und davon werde ich später ausgehen. Man kann in ihm aber auch hypothetische Seinsaussagen erblicken über etwas Künftiges, und zwar dann regelmäßig über künftiges Verhalten von Organen des Staates; unsere Strafgesetze sind sogar durchweg nach dieser zweiten Auffassung formuliert: Wer stiehlt, wird bestraft werden. Woher nehme ich dieses Wissen von der Zukunft? Aus weiteren ähnlichen Seinsprognosen: Der Staatsanwalt, der den Dieb nicht anklagt, der Richter, der ihn nicht verurteilt, werden ihrerseits bestraft werden; und so fort, bis wir bei einem ultimus custos custodum anlangen, der dann keine überwachung und Sanktion bei falschem Verhalten mehr zu erwarten hat. Ich will das nicht zu Ende führen und mich nicht kritisch damit auseinandersetzen; weiter verbreitet, vor allem zwangloser erscheint mir die Auffassung des Rechts als Sollensordnung; denn rechtliche Billigung oder Mißbilligung des einen oder anderen Verhaltens von Menschen liegt ja auch den Auffassungen vom Gesetze als hypothetischer Seinsaussage zugrunde, auch sie setzen also in Wahrheit eine Unterscheidung von richtigem und falschem Verhalten voraus; sie handeln also eher von der logischen Struktur als von dem sozialen Bedeutungsgehalt der Rechtsnormen. Das Recht ist also für die erste Auffassung eine Sollensordnung, es gebietet, verbietet, erlaubt hier das eine, dort das andere Verhalten von Menschen. Dies aber tun noch manche anderen Normen, solche des Taktes, der Sitte, der Ethik und sogar der Mode usw. Was macht dann das Recht als eine spezifische Ordnungsart aus? Daß wir mit etymologischen überlegungen keine Klarheit gewinnen, halte ich - obwohl es oft geglaubt wird - für fast sicher. Versuchen

* Studium Generale

19 (1966), S.679-692. (Vom Hrg. gekürzt).

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Der Gesetzesbegrifi in den Rechtswissenschaften

wir es zunächst mit dem "Recht"! Das Würt hängt natürlich mit "richtig" und beide hängen mit "regere = lenken, richten zusammen, wie ius mit iubere = befehlen und - vielleicht - mit iuvare = unterstützen, wie lex mit eligere = wählen und - vielleicht - mit ligare = binden zusammenhängen. Aber sübald wir dergleichen überlegungen deuten, dürfen wir nicht vergessen, daß hinter sülchen Würtzusammenhängen ganze geistige Vürstellungswelten stehen, denen wir nachgehen müßten, wenn wir sie richtig vrerstehen und aus ihnen richtig ableiten wüllten, was etwa daraus zu lernen wäre. Und dagegen sträube ich mich, weil sülches Verstehen geistiger Vürstellungswelten, die hinter etymülügischen Entwicklungen vün vielen Jahrhunderten düch stehen, mit zu viel RisikO' behaftet ist, als daß sich daraus mehr als interessante Probleme, nämlich sichere, auch auf unsere geistigen Vürstellungswelten und unser Verhalten und seine Erkenntnis übertragbare Antworten ergäben. Nicht besser fällt ein etymülogischer Versuch mit dem Würte "Gesetz" aus. " Gesetz " :ist das Gesetzte, früher das "Cksatzte", die Satzung, alsO' eine püsitiü, etwas Aufgerichtetes. Aufgerichtet vün jemand und für jemand, offensichtlich zur Unterrichtung - vielleicht über das, was der Aufrichtende " will " und der andere "süll", vielleicht aber auch über etwas, das der Aufrichtende "weiß", und der andere nicht üder nüch nicht "weiß", z. B. über etwas Zukünftiges, das mit üder ühne Rücksicht auf das Tun üder Lassen des anderen eintreten wird. Ich glaube nicht, daß wir auf sülchen Wegen weiterkümmen, ühne ständig etwas vün anderswO' dazuzutun; die Kohärenz unseres Gedankenganges könnte manipuliert, seine Stringenz könnte erschlichen sein. Daß dergleichen üft geschieht, macht die Sache nicht besser. Das führt m. E. auf Pseudü-Phänümenülügie hinaus, gegen die sich niemand mehr gewehrt hat als Russer!. Vielleicht ist es eher eine Assüziatiüns-Mystik ich will die Frage üffenlassen. Der adäquate Weg scheint mir zu sein, daß man das Recht in dem gesamten sozialen Kontext sieht, in dem 'es auftritt, um auf diese Weise ein Sachverständnis unmittelbar zu erstreben und zu begründen. Wir kennen menschliche Gemeinschaften - dieses W ürt immer ganz blaß verstanden - ühne eine spezifische Erscheinung "Recht". Sie scheinen in einem frühen Stadium der Entwicklung der Gemeinschaftsfürmen allgemein gewesen zu sein. Ethnülügen, Anthrüpülügen und andere Wissenschaftler haben sülche primitiven Gemeinschaften erforscht. Die These, daß solche Stufen der Entwicklung überall bestanden haben, ist nicht willkürlich, weil Sagen, Mythen, Legenden, alte Bücher usw. uns sülche Stufen vielfältig bestätigen, die Annahme einer "Entwicklung" der Gemeinschaftsformen - was auch immer "Entwicklung" sei und wie sie sich vollziehe - obendrein nicht nur durch Vorgeschichte, sündern auch durch Geschichte bestätigt wird. Wir brauchen

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heute nicht die "Entwicklung" selbst nachzuzeichnen; das möchte auch schwierig sein. Es genügt, daß wir zwei Zeichnungen einander gegenüberstellen, ein frühes Stadium dem heutigen. Bei dem frühen können wir uns sogar mit einer rohen Skizze begnügen, weil es nur darauf ankommt, daß sich dann das heutige klar davon abheben kann. So können wir hoffen, daß deutlich wird, worin das Spezifikum des heutigen "Rechts" besteht, und dann fragen, was nun das "Gesetz" in diesem Zusammenhang des Rechts bedeutet.

II. In frühen Stadien ihrer Entwicklung haben die Menschen wohl allgemein sich selbst unter gleichen Kräften stehend angesehen wie die "Natur". Was um sie herum wirkte, war identisch mit dem, was in ihnen wirkte. Auch damals gab es schon so etwas wie Erfahrungen, die man bestätigt fand und auf denen man aufbaute, gab es eine Art von Zurechnung von Folgen auf Ursachen, die man für regelmäßig hielt; jedenfalls wissen wir von Einstellungen der Menschen, die hierauf beruhten. Man wußte sich wohl von solchen Einflüssen weniger frei als wir heute. Bei Homer sind exzeptionelle Entschlüsse den Adligen vorbehalten, den Söhnen der Götter, die allein zu derartigem überhaupt fähig erschienen. Selbst sie aber standen oft unter unmittelbaren Einflüsterungen eines Gottes, der den Gedanken gab und den Speer oder Pfeil lenkte. Anders und bei anderen waren solche Entschlüsse also damals offensichtlich kaum vorstellbar. Die "Götterfamilie" selbst war mit einer Art Kompetenz-Regelung der einzelnen Götter und Göttinnen verbunden usw. Eine göttliche Ordnung schien erst recht für Natur und Mensch gesetzt, wie der Mensch eben noch Teil der "Natur" war. Freilich gab es früh schon gewillkürte Ordnung für abnorme Lagen, wie die Errichtung eines Oberbefehls ad hoc für den Trojanischen Krieg selbst zeigt. Aber solche bewußte Ordnungsstiftung durch den Menschen war nicht das Normale. Jener Fall war unmittelbar durch einen konkreten Zweck bestimmt, der per se einsichtig war, der auch die (vorübergehende) Dauer dieser Ordnung ad hoc bestimmte (denn auf der Heimfahrt suchte schon jeder seinen eigenen Weg) und von dem sogar abhing, was der Oberbefehl umfaßte und nicht umfaßte (siehe die Teilung der Beute im Fall der Sklavin Briseis als Grenzfall). Grundsätzlich also gab es keine Ordnung, die den Menschen selbst als Mittel zu menschlich gewählten Zwecken frei zur Verfügung stand, gab es kein "irdisches Gesetz". Was wir heute retrospektiv "Gesetze" der damaligen Zeit nennen würden, war für die Menschen von damals Bestandteil einer einheitlichen Ordnung, die von den Göttern stammte, wie die Gesetze Moses oder Solons.Weitgehend führte ein Bruch dieser Ordnung zu "innerer" Bestrafung der Tat, er war Trennung, war Los4 Drath

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sagung von den Göttern, war "Sünde" = "Sonderung", Trennung von Gott, die den Täter selbst änderte, "ärgerte" im Sinne von "arg machte"; Bruch von Tabus führte gar zum "Eingehen" des Menschen selbst. Unverbrüchlichkeit der Ordnung war also als Anspruch gegeben, wie prinzipiell bei jeder Ordnung. Bruch dieser Ordnung aber wurde nicht einer Spontaneität des Menschen zugerechnet, wie es ja auch strafbare Taten von Tieren gab. Die Geschichte vom Sündenfall und dem "Wissen, was gut und böse ist", dürfte viel späteren Ursprungs (im Sinne einer Phaseologie der Entwicklung) und dann zurückdatiert sein. Die Zurechnung eines Bruchs der Ordnung endigte wohl immer an der gleichen Stelle, etwa bei der Einflüsterung böser Geister, fremder Götter, bei Zauber usw. Erst spät ist die Vorstellung von der persönlichen "Gerechtigkeit" oder "Ungerechtigkeit" des Menschen im Sinne seines persönlichen, Gott wohlgefälligen oder mißfallenden Verhaltens (ein "Gerechter" in Sodom und Gomorrha). Das gewisse Nebeneinander verschiedener Götterwelten, sei es durch mehrere Altersschichten solcher Götterwelten z. B. bei den Griechen, aber auch bei den Juden, sei es durch die Vorstellung räumlicher oder persönlicher Herrschaftsbereiche verschiedener Götter usw. mag solche früheren Zurechnungen zu Zauber, anderen Göttern usw. erleichtert haben. Beim Umgang mit der Natur machte sich der Mensch wohl längst Gesetze zunutze; Fall, Schwung, Luftwiderstand, Wärmeentstehung durch Reibung waren feststellbar und erprobt, längst bevor sie theoretisch berechenbar wurden. Aber wenn die Zusammenhänge komplizierter waren, schon wenn ersehnter Wind aufkam, dann schickte ihn doch ein Gott. Wolken, Regen, Blitz, Donner, Wechsel der Jahreszeiten, Wechsel von Saat und Ernte sind Tun der Götter. Genug, ein überblick, der nur allgemein Bekanntes heranzieht, reicht für diese Zeit aus, uns den Ausgangspunkt unserer überlegungen zu liefern: Die Gemeinschaftsform und deren innere Ordnung war für diese Menschen noch göttlich bestimmt. Stadt- oder Stammesgötter zeigen das, ebenso die "Heiligkeit" der Ordnung, die auch später noch als "Ordnung der Väter" sakrosankt blieb, als man sie nicht mehr unmittelbar auf göttliche Anordnung, göttliche Verkündung, göttliche Gründung zurückführte wie bei Dekalog und Koran, selbst wenn nicht Totemismus und Ahnenkult, Familiengötter herrschten. Dieser Charakter, sakrosankt zu sein, kam der einheitlichen Gesamtordnung dieser Gemeinschaften zu, die man noch nicht - wie wir das heute tun - unterschied nach OrdnungJSarten, gar mit einer wertenden Rangfolge, für die ich hier nur die religiösen Gebote, die ethischen Gebote, die Rechtsgebote und den Brauch als Beispiele erwähnen will. Charakteristisch ist m. E. für die Stufe der Entwicklung die ununterschiedene Einheit von dem allem.

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Hieran knüpft ein langer Entwicklungsprozeß, in dem die Menschen objektiv der Natur gesetzte, unverbrüchlich erscheinende Gesetze, "Naturgesetze" unterscheiden lernten von den nicht der "Natur" angehörigen, vielmehr von Menschen gesetzten, aber auch kraft Subjektivität des Menschen brechbaren Ordnungen, und in dem deren Setzung schließlich als nicht mehr von einer übermenschlichen Macht abhängig und also für den Menschen etwas objektiv Verbindliches erzeugend erkannt wurde, sondern als möglich für Menschen und als einen nur menschlichen Anspruch auf Verbindlichkeit begründend. Wir können die Entstehung des heutigen Subjektivismus, der hier sichtbar wird, zunächst bei den sozialen Spitzen der menschlichen Gesellschaften erkennen, von denen er sich ausgebreitet und immer mehr verallgemeinert hat. Ursprünglich war er noch legitimiert von einem grundsätzlichen Auftrag Gottes an die Fürsten, den Adel, die Alten; durch den Willen des konkreten "Amtsträgers" erhielt dieser göttliche Auftrag konkreten Inhalt. Ich erinnere etwa an die Kämpfe des Mittelalters zwischen Kaiser und Papst. Das Ergebnis war die heutige "Säkularisierung" im individuellen Leben wie in der Ausübung der weltlich gewOl'dJenen Ämter, besonders deutlich sichtbar in der "Trennung von Kirche und Staat". Der Subjektivismus sozial "unten" ist also erst sekundär, ist entstanden aus einem Subjektivismus des Heraustretens aus der Ordnung "oben"; vielleicht ist Teiresias ein Beispiel dafür, vielleicht auch Achill mit seinem Groll, also seiner Setzung von Eigenrnacht gegen zweifelhafte Amtsrnacht des Agamemnon. Die einzelnen Stadien der langen und vielfältigen Entwicklung - soweit solche klar genug erkennbar sind - und die Zusammenhänge, aus denen die im ganzen fortschreitende Differenzierung der Ordnungsarten, die wir heute kennen, hervorgegangen ist, können wir hier nicht nachzeichnen. Wichtig ist das Ergebnis, welche Spezifika drei wichtige Ordnungsarten und besonders das Recht immer mehr angenommen haben. Ich beschränke mich aliso ·auf einige wenige: Die Religionen sind zweifellos spiritualisiert, sind - verglichen mit dem Ausgangsstadium - "Hochreligionen" geworden. Die Ethik, soweit sie nicht auf religiöser Basis ruht, sucht rational oder philosophisch Systeme zu entwickeln und zu begründen, die regelmäßig Sozialethik enthalten, d. h. zur Ordnung des Gemeinschaftslebens unmittelbar beitragen wollen. Das nicht unbedingt auf einer dieser beiden als ihren Basen aufbauende, sich von ihnen aber auch - wo sie sozial bedeutsam sind - selten ganz lösende Recht endlich beansprucht als seine sachliche Domäne das gesamte äußere Verhalten des Menschen, soweit es vom Standpunkte der maßgeblich gewordenen Gemeinschaft, d. h. des modernen Staates (den ich hier der Einfachheit halber personifiziere), aus als gemeinschaftswichtig angesehen wird, und beansprucht deshalb auch Verbindlichkeit für 4·

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jedermann in dieser GemeiIllschaft und innerhalb "seines" Territoriums. Religion und Ethik werden demgegenüber zur inneren religiösen oder ethischen "Überzeugung" und als solche "privatisiert", damit gegenüber dem Verbindlichkeitsanspruch des staatlich gesetzten Rechts relativiert: Das "positive" Recht verlangt Gehorsam ohne jede weitere Begründung 'allein deshalb, weil es positives Recht ist. Damit kann ersichtlich den Ordnungsbedürfnissen genügt werden, die eine nicht mehr durch eine religiöse oder ethische Homogenität zusammengehaltene Gesellschaft hat. Hinzu kommt, daß auf zahlreichen Gebieten, für die eine hoch spiritualisierte Religion oder Ethik, insbesondere wenn sie auf die letzte Entscheidung durch das individuelle Gewissen abstellen, kaum noch konkrete und vor allem einheitliche Normen "hergeben", doch Gebote erlassen werden müssen, und daß in der modernen Gesellschaft ständig neue und höchst technische soziale Ordnungsprobleme auftauchen, so daß diese Gesellschaft geradezu nach einer besonderen, einer technisch-rational funktionierenden sozialen Ordnung verlangt. Immanente "Wohlgeordnetheit" der Gemeinschaft bleibt das abstrakte Ziel; was das in concreto heißt, wird vielfältig umkämpft; aber das Hauptmittel zur Bewirkung solcher Ordnung, das "Instrument" hierzu ist das Recht. Als Instrument ist es wertneutral. Die Wertentscheidung Hegt vor allem bei der Rechtsetzung, liegt also im Gesetz (die Auslegung und Anwendung des Rechts lasse ich beiseite). Dieser positivistischen Auffassung des Rechts wird jedoch die prinzipielle, vor allem neukantianische Lehre entgegengehalten, daß das Recht seinen Anspruch auf Verbindlichkeit, also das "rechtliche Sollen", gar nicht anders begründen könne als durch ein'en Rückgriff auf ein anderes, ein höheres Sollen, sei dieses ein ethisches oder ein religiöses Gebot. Allein solche Gebote haben bisher in unserer geistig wie materiell pluralistischen Gemeinschaft allgemeine Anerkennung nicht gefunden; wer aber die Prämissen solcher Gebote - die betreffende Religion oder Ethik - nicht akzeptiert, kann dann auch solche von diesen gelehrten Gebote nicht akzeptieren. Wohl kann man umgekehrt sogar vom rechtspositivistischen Standpunkte aus eine Rücksicht auf religiöse oder ethische Überzeugungen nicht nur praktisch nehmen, sondern auch theoretisch begründen; soweit dies nicht möglich ist, z. B. weil sich zwei solche Überzeugungen mit erheblicher Verbreitung in der Gemeinschaft unversöhnlich gegenüberstehen, kann der Versuch einer "Ausklammerung" dieser Differenz und der von ihr beeinflußten Verhalten der Menschen in der Gemeinschaft gemacht werden und liegt dieser Versuch sogar in der gleichen Zielrichtung, die das positive Recht überhaupt grundsätzlich hat: Soll nämlich "Wohlgeordnetheit" des Lebens in der Gemeinschaft effektiv erreicht werden, so ist das positive Recht selbst darauf angewiesen, wenigstens eine Friedensordnung zu sein.

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Aus dem gleichen Grunde muß sein Inhalt auch die Tendenz verfolgen, hinreichend die Forderungen und Wünsche zu erfüllen, die in dieser konkreten Gemeinschaft - also immanent - an die maßgebliche soziale Ordnung gestellt werden; diese Ordnung muß also Lasten und Erfolge so verteilen, daß das Ergebnis - mindestens - nicht großen Teilen der ihr Unterworfenen absolut unzumutbar erscheint. Man kann also das grundsätzliche Postulat der "Gerechtigkeit" und die einzelnen, aus der Gemeinschaft und ihrer Dynamik selbst hervorgehenden GerechUgkeitspostulate um so weniger praktisch abweisen, je mehr man betont, daß abstrakt gesehen das positive Recht Verbindlichkeit rein um seiner selbst willen verlangt, d. h. daß es nur deshalb Gehorsam fordert, weil es eben positives Recht ist. Man könnte m. E. zeigen, daß "Totalitarismus" gerade dann entsteht, wenn dieser abstrakte Geltungsanspruch des positiven Rechts - um welcher Ziele willen das auch sein mag - absolut gesetzt und verwirklicht wird; denn dann entsteht bei großer Entfernung von denjenigen Gerechtigkeits- und sozialen wie personellen Wert- und Wohlgeordnetheits-Vorstellungen, die innerhalb der betreffenden Gemeinschaft derzeit überwiegen, die Notwendigkeit, die Menschen und sogar ihr Denken immer mehr zu beherrschen; doch will ich damit nicht das Thema der "totalitären" Regime erschöpfen, obwohl diese These die Möglichkeit des Abbaus der "totaHtäl'en" Herrschaft z. B. bei allmählicher Akzeptierung ihrer Ziele impliziert; ich ziehe diese These hier nur als eine Art von Beleg für meine Auffassung heran, daß das Recht aus dem gesamten Kontext, in dem es in der Gemeinschaft steht und wirken soll oder will, verstanden werden kann und sollte und nicht nur als ein streng juristisch in sich geschlossenes Normensystem, wie etwa in Hans Kelsens "reiner Rechtslehre". Von den Vertretern der vorhandenen bedeutenden Theologien und Philosophien wir>d der Rechtspositivismus naturgemäß kritisiert, weil er das Recht von den Geltungsansprüchen eben dieser geistigen Systeme emanzipiere. Richtig ist das nur halb. Denn was der Rechtspositivismus, von dem ich hier spreche und der selbstverständlich nur eine von vielen Spielarten dieser Richtung ist, leugnet, ist die "automatisch" gegebene Herrschaft irgendeines solchen geistigen Systemes über das Recht, und dies gerade deshalb, weil keines von ihnen den Anspruch auf seine Herrschaft über alle in einer pluralistischen Gesellschaft Lebenden rational begründen könnte mit der Folge, daß seine Anerkennung auch denen zugemutet werden dürfte, die nicht bereits Anhänger des geistigen Systems aus anderen Gründen sind. Was hingegen der Rechtspositivismus nicht ausschließt, sind die Bemühungen aller solchen geistigen Systeme um Einfluß auf die Gestaltung des positiven Rechts, genau wie auf alles andere menschliche Tun, auf alles menschliche Verhalten. Was

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die Auseinandersetzung hart macht, ist die große soziale Bedeutung des positiven Rechts: Sie kann einzelnen Menschen oder Gruppen ihre eigene Herrschaft über das Recht und mittels des Rechtes über das soziale Leben der Menschen wünschenswert erscheinen lassen; sie muß besonders dann ein allgemeines Interesse wecken, wenn das positive Recht benutzt wird, um Gebote zu erlassen und durchzusetzen, gegen die erhebliche Bedenken in der Gemeinschaft bestehen. Andererseits steht außer Frage, daß die vollständige Entziehung des positiven Rechts aus dem Bereich der geistigen und sozialen Zusammenhänge, in denen es steht, wie sie von einem Teil der juristischen Positivisten versucht wird, sich nicht aufrecht erhalten läßt. Das Recht steht in diesen kulturellen Zusammenhängen, hat selbst sogar eine wichtige Rolle in ihnen und wird so sehr von ihnen her bestimmt, daß die Theorie des juristischen Positivismus eine zutreffende Beschreibung und wohl auch Erklärung des Rechts nur sein kann, weil sich dieses selbst aus jenem Zusammenhängen heraus zu der spezifischen Ordnungsart "positives Recht" entwickelt hat und weiter besteht und wirkt. Daß der homo faber im Recht längst am Werke war, bevor er mit diesem Worte charakterisiert wurde, ist offensichtlich; daß das Recht mit der Te~hnik die "Ambivalenz", die Instrument-Haftigkeit gemeinsam hat, scheint mir des Nachdenkens wert zu sein. Es wäre überhaupt mehr als erstaunlich, wenn die Spannung zwischen den Antworten, die auf die Frage nach dem Sinn des Lebens - des einzelnen wie in der Gemeinschaft - gesucht und gegeben werden, einerseits und den Gegebenheiten und Möglichkeiten, solchen Sinn zu verwirklichen oder auch zu verfehlen, andererseits gerade vor dem Recht halt machen würde, d. h. wenn sie sich gerade im Hinblick auf das Recht rational auflösen ließe. Daß solches positive Recht, dessen Inhalt bestimmten ethischen oder anderen Vorstellungen, Werten, Geboten widerspreche, selbst insoweit "Un-Recht" und also per definitionem nicht mehr verbindlich sei, ist eine Formel, die zwar gut 'eingeht; aber sie kann nur begründet werden, wenn man von einer anderen, und zwar höheren, verbindlichen Ordnung ausgeht, die ihrerseits einer Begründung bedürfte. Keinesfalls also löst diese Formel das entscheidende Problem, nämlich das praktische: die Aufhebung von Verbindlichkeit und Zwang, die das positive Recht für sich beansprucht, durch die Begründung eines höherranglligen Sollens. Der Anspruch auf Verbindlichkeit und der Zwang des positiven Rechts bleiben vielmehr durch solche Formel unverändert, es wird nur der Widerspruch im konkreten Fall gegen sie auf eine Formel gebracht und dem Widersprechenden die Last, sich damit auseinanderzusetzen, belassen; was eine solche Formel leisten kann, ist nur eine Gewissensschärfung gegenüber solchem positivem Recht, das den verbreiteten Wertungen, sittlichen Vorstellungen usw. eindeutig und scharf widerspricht. Doch auch damit bleibt jede solche These noch innerhalb der

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hier grundsätzlich dargelegten kulturell-sozialen Theorie des Rechts, weil ja alle solche "höherrangigen" Gebote oder Vorstellungen ihrerseits kulturell-sozial bestimmt sind: Zwar ist Mord überall in der Welt verboten; aber was "Mord" ist und nicht ist, das hängt in erstaunlichem Umfang von eben jenen kulturell-sozialen "Verhältnissen" ab. Es scheint mir die Weise unserer konkreten menschlichen Existenz selbst zu sein, die das positive Recht produziert und erfordert, die also seine Verselbständigung als eine spezifische Ordnungs art gegenüber Religion und Ethik herbeigeführt, damit zugleich auch die Selbständigkeit und reine Entfaltung von Religion und Ethik erst ermöglicht hat. Diesen Prozeß der Diastase kann man nicht einfach leugnen, ihn muß man aushalten und fruchtbar machen. Rechtsgestaltungist selbst kulturellsoziale Aufgabe, wie Gustav Radbruch mit seiner Lehre von der "Wertverwirklichung" durch Kulturgestaltung richtig erkannt hat. Der "alte Bund", dessen Gesetz - der Dekalog - für unsere Begriffe göttliches und staatliches Gesetz zugleich war, mußte wohl doch aufgelöst werden, um den "neuen Bund" möglich zu machen - wenn dieses Bild erlaubt ist. Man kann hiernach im Bereich unserer von dieser Diastase geformten Kultur schwerlich durch einen Akt der ratio eine neue Art "alten Bundes" herstellen, schon weil er keinesfalls die Reinheit und Spiritualität von Religion und Ethik selbst unberührt ließe. Das Gewissen selbst - in der Auffassung, die wir heute von ihm haben, - hätte keinen Platz mehr. Was allein vorstellbar, wenn auch nicht weiter auszudenken ist, wäre die überwindung der heutigen Diastase in einem weiteren langen, komplexen und konfliktreichen historischen Prozeß. Wollte man hingegen die Trennung von positivem Recht und Religion oder Ethik einfach beseitigen, so käme man heute wohl zwangsläufig zu einem "autoritären" oder "totalitären" Regime. Ein rational noch schwierigeres Problem wird damit erst voll akut: Ist das Recht als positives Gesetzesrecht dann überhaupt noch eine Sollensordnung? Begründet da,s Recht nicht überhaupt nur ein "Müssen", da es doch seine Verbindlichkeit nur noch aus sich selbst beansprucht? Gewiß, von seinem eigenen Geltungsansprucb aus möchte es gern mehr als 'eine Ordnung des "Müssens", möchte es eine Ordnung des "Sollens" sein; denn daß möglichst wenig Prozesse und Vollstreckungsakte von Gerichtsvollziehern usw. nötig sein möchten, ist wohl eine verständlicher Wunsch; es dürfte sogar selbst bei den heutigen Machtmitteln sozial unmöglich sein, Recht nur mit Zwang und Gewalt durchzusetzen. Jedenfalls ist freiwillig erbrachter Gehorsam das weit Erwünschtere. Aber weshaLb sollen denn Du und ich, wa'S ein anderer wilL, daß wir täten? Wie kann fremder Befehl, fremdes Wollen mein Sollen begründen? Hier sehe ich bisher nur eine Lösung, die ich als Hpothese versuche: Wenn Du und ich in dieser Gemeinschaft leben, so müssen wir erkennen, daß das nur mög-

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lich ist, weil die positive Rechtsordnung das Zusammenleben in dieser Gemeinschaft möglich ma'cht, und zwar letzten Endes auf derjenigen Basis, die diese Ordnung dafür vorsieht. Wollen wir also unser Geld verdienen und unser Brot kaufen können, dann ist das nur möglich, weil jene Ordnung existiert und im großen Ganzen auch funktioniert. Wir müssen also wohl anerkennen, daß wir uns selbst widersprechen würden, wenn wir zugleich jene Ordnung als gegeben, verbindlich und wirksam voraussetzen und gleichzeitig dennoch ihre Existenz und Verbindlichkeit prinzipiell bestreiten wollten. Das ist nicht die Erkenntnis eines äußeren Müssens, sondern das Anerkenntnis eines inneren Sollens, ein Gebot der Sachlogik, der "praktischen Vernunft". Daß die gan2Je Frage, die wir hier behandeln, sich erst aus der zuvor erwähnten Diastase von Religion und Ethik einerseits, positivem Recht als spezifischer Ordnungsart andererseits ergibt, daß sie nur so überhaupt möglich ist, ist zu vermuten. Die Antwort ist deshalb auch nur auf der gleichen Ebene möglich. Und sie kann die Möglichkeit grundsätzlicher Widerspruche zwischen den Inhalten der auseinandergetrennten Sollensarten nicht aufheben, sondern nur zu Gunsten einer prinzipiellen Anerkennung der Verbindlichkeit des Rechts für das äußere Verhalten zum Zwecke der Erhaltung des äußeren Daseins beantworten. Diese Antwort läßt also jene Antithese bestehen, damit auch den Kampf um das "richtige"Recht. Ob die hier versuchte Antwort überhaupt zutrifft, bedarf noch der Prüfung; ich gebe sie nur mit Vorbehalt. Alle anderen Antworten, die bisher aufgetaucht sind, scheinen mir unzureichend, ja bereits widerlegt zu sein. Diese Antwort aber war die des Sokrates und vielleicht sogar ein Stück der eigenen Entscheidung Christi auf Gethsemane, wo sie allerdings zugleich hinausging über die Gesetzlichkeit des "alten Bundes" und der Grundstein des "neuen Bundes" wurde, ja wenn ich das richtig sehe - dies nur werden konnte, weil sie als eigenes inneres Sollen akzeptierte, was - wenn nur äußerlich gemußt und als gemußt nur passiv erlitten - jener Grundstein nicht hätte werden können. Das wurde sie erst als actio in der passio.

IH. Zu dem so verstandenen "Recht" gehört also der Begriff "Gesetz". Wir fragen nach dem Sachzusammenhang, in dem das "Gesetz" innerhalb des Rechts steht. Ist das Recht ein Instrument zur sozialen Ordnung einer Gemeinschaft, die wir heute als "Staat" bezeichnen, so ist das Gesetz sein wichtigster Teil, also ebenfalls Instrument. Beides, daß überhaupt das Gesetz eine Rolle spielt und daß es die wichtigste überhaupt ist im Recht - nämlich vermeintlich sogar die einzige, weil "Recht" und "Gesetz"

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vermeintlich zusammenfallen - zeigt die übliche Definition: "Gesetz ist jeder Rechtssatz". "Rechtssatz" wird hier verstanden als Gebot (oder Verbot oder Erlaubnis) mit allgemeiner Geltung. Da nun jeder Satz, der sich in irgend einem Gesetz findet, entweder unmittelbar ein solches Gebot enthält oder doch sich ergänzend auf ein solches bezieht (etwa als eine "Legaldefinition"), wären hiernach "Recht" und "Gesetz" synonyma. Man nennt diesen Begriff des Gesetzes üblicherweise den Begriff "im materiellen Sinn", also Gesetz der Sache (und nicht nur der Form) nach. Doch es bestehen schon an dieser Stelle Bedenken! Ist eine richterliche Entscheidung, ich will sogar sagen: eine richterliche FehLentscheidung, die aber rechtskräftig geworden ist, kein Rechtssatz? Zwar ein individualisierter, denn er gilt nur für den Fall, der da entschieden worden ist. Aber für den gilt er wirklich, und sogar jetzt aLLein, gilt nämlich nicht mehr der allgemeine Rechtssatz z. B. des Strafgesetzbuchs; denn dieser allgemeine Satz, der sa.gt, daß ein Dieb bestraft wird, besagt doch zugleich, daß nur jemand, der wirklich ein Dieb war, bestraft wird. X war kein Dieb, aber er wird trotzdem bestraft, weil der Richter sich geirrt hat und sein Fehlurteil rechtskräftig geworden ist. Das Urteil wäre kein - individualisierter - Rechtssatz, obgleich es sogar stärker ist als der - generelle - Rechtssatz des Strafgesetzbuchs? Hier erw'eist sich doch wohl jener Begriff des Rechtssatzes als zu eng, weil er den Richterspruch nicht mitumfaßt. Sollen wir den Begriff des Rechtssatres also erweitern, so daß er auch das Richterurteil mitumfaßte? Man kann so verfahren; es fragt sich, ob das sinnvoll ist. Da zeigt sich folgendes: Jene Definition darf nicht als absolut, d. h. als allseitig abgrenzend betrachtet werden; sie steht in einem bestimmten Zusammenhang, in dem sie nur gelten darf. Sie gilt also nur relativ auf das, was der Rest dieses Zusammenhangs besagt, und den zeigt die Gegendefinition, die Definition des "Gesetzes im formellen Sinn": Ein Gesetz im formellen Sinn ist jeder nach den Regeln der Verfassung - bei uns von der Volksvertretung - gefaßte Beschluß, der als "Gesetz" bezeichnet und auch im übrigen formell behandelt wird, so wie es diese Verfassung vorschreibt. Das könnte z. B. eine Kriegserklärung sein, wenn die Verfassung dafür einen Beschluß in dieser Form verlangte, oder der feierliche Beschluß "X hat sich um das Vaterland verdient gemacht!". Die Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Gesetz ist also das Primäre, und auch jene Definition des Gesetzes im materiellen Sinn gehört in diesen Zusammenhang einer bestimmten Verfassung und hatte sogar u. a. die hochpolitische, von ihren Vertretern vielleicht oft nicht erkannte, aber gebilligte Bedeutung, das Resultat des preußischen Heereskonflikts von 1862-1866, nämlich die Nicht-Bindung der Regierung des Königs an die Bewilligung des Haushalts durch die Volks-

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vertretung verfassungsrechtlich zu untermauern; sie war objektiv eine promonarchische Kampftheorie, für die die Bedeutung einer wissenschaftLichen Erkenntnis beansprucht wurde; war ,sie das wirklich, dann war sie es jedenfalls nicht über den Bereich derjenigen Verfassung hinaus, in der - vielleicht - jene Nicht-Bindung wirklich galt, eine Besonderheit der preußisch-deutschen Verfassungsgeschichte, die zeigt, daß die Inhalte der Rechtsgesetze von Entscheidungen abhängen, für die sOZJ~ale und politische Machtlagen bedeutsam sind. Was uns heute interessiert, ist aber, daß der Begriff des Gesetzes im materiellen Sinne nur einen bestimmten Abgrenzungszweck hat, daß nämlich von ihm das Gesetz im formellen Sinn unterscltieden werden könne. Gesetz im ersten Sinne ist eben jeder Rechtssatz, auch der nicht förmliche; aber viele Gesetze fallen unter beide Begriffe, weil sie erstens "Rechtssätze" enthalten und zweitens als Gesetze in aller Form beschlossen und auch im übrigen behandelt worden sind. Dem Beschluß der Volksvertretung war nämlich - seitdem es moderne Verfassungen gibt - üblicherweise jeder "Eingriff in Freiheit und Eigentum" des Bürgers vorbehalten. Das beruhte umgekehrt auf dem Einfluß, den der frühe Liberalismus innerhalb der preußisch-deutschen konstitutionellen Monarchie gehabt hat, in der die Exekutive dem Monarchen vorbehalten war; hierfür war also die Gewaltenteilungslehre bedeutsam geworden. Bei einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung aber und in einem Staate, der nicht mehr nur von liberalen Vorstellungen beherrscht wird, und wohl auch nicht beherrscht werden kann, stimmt dieser enge "Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes" nicht mehr; wir haben deshalb heute eine Ausweitung dieses Vorbehalts, die - aus anderen Gründen, nämlich eher aus einer Schwäche des frühen Liberalismus in Preußen - schon in der preußischen Verfassung von 1850 vorgebildet war, wie Richard Thoma einmal gezeigt hat; aber das wurde in der Prax·is z.unächst nicht erkannt und zugunsten des Vorbehalts förmlicher Gesetze für alle "Eingriffe in Freiheit und Eigentum" verlassen. Das kann ich heute nicht im einzelnen darlegen; es ist eine nicht immer einfache Aufgabe der Auslegung von Verfassung und Gesetz, wofür es des förmlichen Beschlusses der Volksvertretung bedarf, damit eine gültige, also verbindliche Rechtsnorm zustande komme. Auch wenn also jene Definition des Gesetzes im materiellen Sinn keine absolute Geltung hat und als "Definition" im strengen Sinn sogar angezweifelt werden kann, könnte sie doch eine ganz andere Bedeutung haben: Der Zusatz "im materiellen Sinn" ist ja kein zufälliger; diese Formel soll ja die treffende Wiedergabe dessen sein, worum es sich beim Gesetz "der Sache nach" handelt, und implizite auch besagen, daß dazu der Richterspruch ebenso wie beispielsweise der Tarifvertrag, der private Vertrag, die Vereinssatzung usw. nicht gehöre. Warum nicht?

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Da der Richterspruch nur für den entschiedenen Einzelfall das wirklich maßgebliche Recht "setze", fehle ihm das, worauf jene Definition so nebenher abstellt, die Geltung für jedermann. "Rechtssatz" ist also für diese Definition nur eine allgemeine Norm des Verhaltens. Wir könnten also in der Definition selbst das Wort "Rechtssatz" ersetzen durch die Worte "allgemeine Verhaltensnorm rechtlichen Charakters" und bekämen: "Gesetz im materiellen Sinn ist jede allgemeine Verhaltensnorm rechtlichen Charakters". Das wäre eine ausgezeichnete Formulierung für unsere heutigen Zwecke: Der Sache nach ist Gesetz jede allgemeine Verhaltensnorm rechtlichen Charakters. Den Richterspruch können wir herauslassen, weil er nur die äußere Form der V erwirklichung des Gesetzesgebotes betrifft, die um der Möglichkeit menschlichen Irrtums willen verbindlich für die Betroffenen bleiben soll, sogar wenn sie falsch ist. Wir hätten es also heute nur zu tun mit dem Gesetz als der "Summe" aller allgemeinen Verhaltensnormen rechtlicher Art. Aber da stoßen wir auf neue Probleme; denn was bedeutet hier die "Allgemeinheit" der Geltung? Das müßte definiert werden, und keine der bisherigen Definitionen reicht wirklich aus. Es gibt doch viele Gesetze, die keineswegs für "jedermann" gelten, und manchmal sogar solche, die überhaupt nur für einen eng begrenzten Kreis von Adressaten Geltung haben, einen Kreis, den jeder, der Bescheid weiß, sogar mit Namen nennen könnte, und in den ein anderer nicht einmal unter irgendwelchen besonderen Bedingungen eintreten kann. Hingegen gelten Nicht-Gesetze rechtlich oft für sehr viele, manchmal für Millionen: Tarifverträge, Satzungen des Fußballbundes. Ich will diese Phänomene heute beiseite lassen, weil sie unseren Gedankengang zu sehr erschweren würden, hier auch noch vieles grundlegend ungeklärt ist. Wir befinden uns ersichtlich noch nicht auf der letztmöglichen Stufe der Rechtstheorie und können sie heute auch nicht erreichen, weil wir unmöglich hier Theorien zu speziellen Rechtsphänomenen nebenher entwickeln und dann in unsere generelle Rechtstheorie einbauen können. Ich bleibe deshalb bei der zuletzt erreichten Feststellung: Das Gesetz ist die "Summe" aller allgemeinen Verhaltensnormen rechtlicher Art. Da muß ich das Wort "Summe" gegen Mißverständnisse sichern . .,Summe" ist in der Tat ein zu vager Ausdruck. Da wird nämlich nicht addiert; vielmehr müssen die Inhalte zahlloser einzelner Normen, die sich teilweise überschneiden, einander widersprechen, die Unklarheiten, Lücken und Ungereimtheiten aufweisen, so verstanden werden, daß eine Harmonie ihrer Gesamtheit erzielt wird, die sog. "Einheit der Rechtsordnung". Wie das gemacht wird, ist hier nicht die Frage, weil wir alle Probleme der Auslegung des Rechtsgesetzes beiseite lassen

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müssen. Ist die Form für unseren materiellen Gesetzesbegriff an sich gleichgültig, so fallen darunter vor allem folgende: die förmlichen, von der Volksvertretung beschlossenen Gesetze, die Rechtsverordnungen, zu deren Erlaß die Exekutive, also die Regierung befugt war; die Statuten von Kommunen, anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts; altes Recht aus vorkonstitutioneller Zeit, etwa monarchische Erlasse, Kabinettsordres, soweit noch gültig; das Gewohnheitsrecht; die völkerrechtlichen Verträge, soweit sie innerstaatliche Gebote usw. an "jedermann" enthalten. IV.

Von der Gemeinschaft her gesehen, sind also die Gesetze die umfassende und maßgebliche Ordnungsart, ergibt sich aus ihnen die "geltende", d. h. gegenüber allen Normativitäten anderer Art maßgebliche Ordnung des sozialen Lebens, bewirkt durch die Sollensgebote an die Gesellschaftsmitglieder, deren logische Struktur die ist, daß ein bestimmter "Tatbestand" ein bestimmtes Sollen zur "Rechtsfolge" hat. Der Tatbestand ist durchweg ein in diesem sozialen Leben typisch vorkommender Sachverhalt des Lebens. Dieser kann so formuliert werden, daß darin wieder Rechtssätze vorkommen, auf die nur Bezug genommen wird; aber das ist bloße Frage der technischen Formulierung: Wer eine fremde bewegliche Sache fortnimmt, wird wegen Diebstahls bestraft - da ist Bezug genommen auf diejenigen Rechtssätze, aus denen sich ergibt, was eine "bewegliche Sache" und was eine "fremde" sei, also u. a. auf die Normen über das Eigentum. über das Verhältnis, in dem die rechtlichen Sollensgebote zu den nicht-rechtlichen stehen, also den religiösen, ethischen usw., ist mit solcher rechtsimmanenten Betrachtung, die nur wenig ergänzt wird durch eine relativ simple soziologische Feststellung der prinzipiellen Funktionen des Rechts in der Gemeinschaft, offenbar recht wenig gewonnen. Wie steht es also hiermit? Eine einheitliche Regel für alle Fälle gibt es nicht, und zum Teil besteht auch Streit über die Lösung von Kollisionen. Ich kann nur einige instruktive Teilfragen erörtern: Der eigentliche Gehalt dieser Gesetze ist die Herbeiführung einer Motivation für menschliches Verhalten, einer Motivation, die für ausschlaggebend angesehen wird gegenüber allen etwa sonst bestehenden Normativitäten, Werten, Wünschen, Interessen usw. Das ist immer nur

Der

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in der Weise möglich, daß eine relativ grobe Überlegung über durchschnittliche Motivationskräfte in der konkreten Gesellschaft mit den

dort gegebenen Verhaltenstendenzen angestellt wird. Man kann mühelos auch hinter den Formulierungen unserer Strafgesetze diese Motivationsabsicht erkennen; denn der Satz "Wer x tut, wird mit y bestraft" will, daß die strafbare Handlung unter dieser Drohung unterlassen werde, will nicht und billigt nicht einmal, daß sie stattfinde, wenn sie nur dann auch bestraft werde, ist also gegenüber ihrem Stattfinden gerade nicht gleichgültig. Hätten wir eine Strafdrohung gegen Selbstmordversuch, so wäre offenbar, daß man damit solche Versuche gerade die geglückten und also nicht mehr strafbaren! - vermindern wollte. Bei Mord, Abtreibung, Landesverrat usw. ist das ganz offensichtlich. Sprechen wir zunächst von den Motivationen durch religiös begründete Pflichten und von ihrem Verhältnis zu den Geboten der Gesetze: Oft besteht kein Widerspruch; dem elterlichen Erziehungsrecht mag das religiöse Gebot, Vater und Mutter zu ehren, zugute kommen oder manchmal auch nicht, z. B. weil das Kind atheistisch erzogen worden ist. Das Recht interessiert sich dafür nicht, es ist stärker sozial-zweckmäßig, oft geradezu sozialtechnisch orientiert. Aber der Wert, den es auf die Familie legt, stammt doch wohl (auch) noch aus jenem religiösen Gebot, das freilich seinerseits uralte soziale Erfahrungen der Menschen reflektieren mag. Der religiösen Pflicht, sich auch zu der Religionsgemeinschaft zu "halten", der man rechtlich "angehört", trägt das Gesetz weitgehend Rechnung, indem es vom vollendeten 14. Lebensjahr ab das volle eigene Entscheidungsrecht des Menschen - also auch gegen den Willen der Eltern - anerkennt. Daß das u. U. auch Bedeutung für den Schulbesuch oder mindestens für die Teilnahme am Religionsunterricht bekommen kann, ist wohl klar. Bemerkenswert ist ferner, daß selbst die Religionszugehörigkeit rechtlich, also gesetzlich normiert ist - ein interessantes Beispiel für die hohe Bedeutung der Ordnungsart Recht und damit für die Bedeutung des Gesetzes in einem komplizierten modernen Sozialleben, wenn selbst unsere hochspiritualisierten Religionen insoweit vom positiven Rechte betroffen werden. Religiöse Pflichten, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, erkennt das Grundgesetz ausdrücklich an, ebenso wie andere, nichtreligiöse Gewissensentscheidungen in dieser Frage. Religiöse Eheschließungen werden in Fällen der Not auch durch das Gesetz zugelassen; sie werden als vollgültig angesehen, wenn sie aus Ländern stammen, in denen das die einzige oder doch eine offizielle, staatlich akzeptierte Form der Eheschließung ist.

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Prozessionen oder Wallfahrten, wo beispielsweise Typhus herrscht, würden von der Gesundheitsbehörde verboten werden. Die Feuerwehr würde Durchfahrt auch bei Prozessionen oder Trauerzug beanspruchen, wenn nötig. Religiöse Feiern, bei denen es zu Ekstase käme, Gesundbeten statt ärztlicher Behandlung würden rechtlich mißbilligt, evtl. unterdrückt, ja bestraft, beispielsweise an den Eltern, die ihr Kind sterben, aber nicht operieren lassen. Die Religionsausübung ist zwar grundgesetzlich frei; diese Freiheit scheint sogar absolut zu sein. Ich nehme dennoch an, daß solche Formen, die unserem Kulturkreis fremd sind, mißbilligt, ja unterdrückt würden. Orgiastische Formen, ja Menschenopfer würden mit Berufung auf den "ordre public" als in unserer Kultur unerträglich und deshalb als durch jene Freiheit nicht geschützt angesehen werden. Anspruch auf Freistellung zum Zweck der Teilnahme am Gottesdienst wird im Arbeitsrecht, im Soldaten- und Beamtendienst, für Gefangene usw. anerkannt. Das Ergebnis dieser rohen übersicht ist: Die Gesetze nehmen prinzipiell für sich in Anspruch, daß sie und sie allein entscheidend bestimmen, wie weit sie gelten und wozu wir also definitiv verpflichtet oder berechtigt sind; aber praktisch ist in den Gesetzen mehr und mehr Rücksicht auf andere respektable Sollensvorstellungen genommen worden, die Alltagskonflikte vermeidet. Möglich ist das, weil wir es in der Hauptsache mit nur wenigen Religionen, Konfessionen usw. zu tun haben, deren Gebote großenteils mit den Auffassungen hinreichend homogen sind, die auch die nicht oder die in anderen Religionen usw. Gebundenen unter uns akzeptieren oder hinnehmen können. Das muß nicht immer so harmlos bleiben und ist es auch bisher nicht immer: Ein Richter setzte eine Verhandlung an auf einen der höchsten jüdischen Feiertage, obgleich der Angeklagte und einer seiner beiden Verteidiger Juden waren. Zeugen Jehovas haben Schwierigkeiten mancher Art - die Verwaltungsbehörden würden wohl lieber sagen: sie machen Schwierigkeiten. Speisevorschriften können in Gefangenenanstalten, Samstagsheiligung z. B. durch Adventisten kann in der Bundesbahn oder -post, kann in Zuchthäusern, aber auch bei Terminanberaumung vor Gericht stören. Das staatliche Gesetz wird zumutbare Rücksicht gebieten, aber doch die prinzipielle Entscheidung für sich beanspruchen, nicht der Religion überlassen. Grundlegende Konflikte wären also immerhin möglich. Auch ethische Gebote werden, wenn sie hinreichend allgemein anerkannt sind, von den staatlichen Gesetzen respektiert. Nicht selten verweist das Gesetz sogar auf solche Gebote, inkorporiert sie sich also mit

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dem Inhalt, den sie jeweils als ethische Gebote haben. Das kann zu Schwierigkeiten bei der Ermittlung des Gebotsinhalts führen, wie in jüngster Zeit der vielbeachtete Prozeß Dohrn gezeigt hat, der Fall des Arztes, der Frauen unfruchtbar gemacht hatte. Aber grundsätzlich entlastet solche Bezugnahme der Gesetze auf ethische überzeugungen doch das Gesetz und oft auch den Bürger; die Grenzfälle freilich können schwer zu entscheiden sein. Fraglich ist aber, ob diese Erscheinung ähnlich wie bei der Religion auf einer Respektierung der anderen Sollensordnung und der Gemeinschaften, die ,s1e tragen, beruht, oder ob hier nicht ein größerer "Opportunismus" (oder "Pragmatismus") des staatlichen Gesetzes vorliegt, eben die Erleichterung für dieses Gesetz selbst, die durch jene Inkorporierungen möglich ist: Es macht sich diese Anknüpfungsmöglichkeit zunutze oder Menschen mit diesen überzeugungen machen sich die Staatsgewalt zunutze. Das muß nicht immer so sein, ist aber oft so, wenn sittliche Pflichten zu Rechtspflichten erklärt werden. Bei der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen handelt es sich um einen echten Respekt des Grundgesetzes vor dieser ethischen Haltung, einen Respekt, den die hierfür vorgesehenen Verfahren und Entscheidungen nicht immer ihrerseits zu respektieren scheinen. Manchmal ist das Gesetz nachsichtiger als die "herrschenden" ethischen Vorstellungen und Gebote, manchmal strenger; das erste ist weitaus häufiger. Georg Jellinek hat das Recht als das "ethische Minimum" bezeichnet; doch ist dieses Wort in mancher Hinsicht fragwürdig, mindestens interpretationsbedürftig. Die Gebote der Ethik sind selbst eine zu wenig feste, bestimmbare, einheitliche Größe, wie wir sahen, gar wenn als allgemein anerkannt eine individuelle Gewissensethik gilt. Wo das Gesetz hinter strengeren ethischen Anforderungen zurückbleibt, dürfte das selbst oft zu einer "Erweichung" der Ethik beitragen: Besteht keine Rechtspflicht, Bruder und Schwester in Not zu unterstützen, so wird das schließlich auch kaum noch als ethische Pflicht empfunden; blassere "Solidaritäten" treten an die Stelle unmittelbar akzeptierter Verpflichtungs-Empfindungen. Der ganze moderne Staat rationalisiert und bürokratisiert ja zwischenmenschliche Beziehungen, er "löst ab" in Geldleistungspflichten, die nicht mehr als ethisch betrachtet werden, was z. B. einmal unmittelbare menschliche Hilfspflichten waren. Die moderne Gesellschaft stellt überhaupt zwischenmenschliche Beziehungen technisch-rationaler Art her und ist von den Beziehungen, die früher in einer bäuerlichen Großfamilie bestanden, weit entfernt. Man hat von einem Gegensatz zwischen "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" gesprochen, jene mit menschlicher Wärme, diese mit zweckrationaler Organisationstechnik. Daran ist etwas Zutreffendes; das Arbeitsverhältnis beispielsweise im Großbetrieb ist weitgehend kühl-rationell, etwas ganz

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anderes als teilweise noch im Handwerk und als früher allgemein. Selbst manche sogenannten "Treupflichten", die die Rechtsprechung heute z. B. im Arbeitsverhältnis bejaht, sind mit Geldzahlungen zu befriedigen, d. h. sie bestehen entweder von vorneherein darin oder lassen sich doch weitgehend damit "ablösen". "Unsittliche" Rechtsgeschäfte sind rechtlich nichtig; aber man kann wahrscheinlich eine Typologie aufstellen, die zeigt, daß es nur relativ wenige Arten dieser Geschäfte gibt, die praktisch hierfür in Frage kommen: Wucherische Geschäfte und solche mit konventionell oder rechtlich mißbilligten sexuellen Grundlagen usw. Dabei geraten wir schon an den übergang von Ethik zu den "guten Sitten", die nicht mehr unbedingt auf allgemein anerkannter Ethik beruhen, sondern eher Bräuche sind, die tatsächlich - als rein faktisch - nachweisbar sein müssen, durch den Zusatz "gut" aber noch so etwas wie eine halb-ethische Würdigung erfahren. Im kaufmännischen Verhalten spielen sie eine besondere Rolle, vielleicht aber mehr beim Wettbewerb der Kaufleute untereinander als im Verhältnis zwischen Kaufmann und privaten Kunden; in dieser letzten Hinsicht ist vielleicht erst in der jüngsten Zeit, ist, wenn ich richtig beobachtet habe, sogar erst durch organisierten Druck dieser Kunden als Interessenten ein Wandel festzustellen; auch dem Kunden gegenüber muß sich der Kaufmann wohl heute stärker als früher an "gute Sitten" halten. Nicht deren halb-ethischer Wert war hierfür entscheidend, sondern der organisierte Interessentendruck. Diese ganzen Fragen sind noch relativ wenig erforscht. Man begnügt sich weitgehend mit gängig gewordenen Formulierungen, die vor einer höheren gerichtlichen Instanz Bestand behalten, weil sie anerkannte Formeln geworden sind. Was mir zu fehlen scheint, sind Rechtstatsachenforschungen und deren Auswertung unter Anlegung kritischer theoretischer Maßstäbe, also durch Fragen, die unsere Erkenntnis weiterführen würden. In einer Hinsicht stellt Ethik das staatliche Gesetz vor schwierigere Aufgaben als die Religionen: In der Ethik hat man es mit mehr Subjektivismus und Individualismus zu tun, die religiösen Gebote hingegen konzentrieren sich praktisch auf das, was einige wenige bei uns wichtige Religionen und Konfessionen offiziell vertreten. Hier ist also eine Anpassung des Gesetzes einfacher, zumal dann, wenn religiöse Gebote mehr nur grundsätzlich oder spirituell sind, sich nicht in eindeutigen Verhaltensgeboten konkretisieren, oder wenn Religionen oder Konfessionen Existenznotwendigkeiten des Staates und dessen Gesetze grundsätzlich zu respektieren lehren u. a. m. Welche Probleme aber auftreten, wenn sich Staaten mit ihren Gesetzen von Religionen lösen,

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deren Gebote stark in das tägliche Leben intervenieren, ja dieses weitgehend regeln, das ist der weit erregendere Teil der Ereignisse z. B. in der Türkei gewesen und ist es noch im Iran und in vielen anderen Ländern, nicht einmal die Entwicklung in der Sowjetunion ausgenommen. Daß in äußersten Fällen der offene Konflikt zwischen dem, was die Religion oder das sittliche Gewissen gebieten, und dem Gebote des staatlichen Gesetzes ausbrechen kann, der sich nicht mehr lösen läßt, sondern nur entschieden werden kann, zeigt der Widerstand gegen Hitler. Sehen wir von solchen exzeptionellen Situationen ab, dann bleibt in unserem Zusammenhang eine wichtige Frage: die Frage nach der Verwirklichung von Gerechtigkeit durch das Gesetz. Nicht als ob dies immer -ein religiöses Gebot sei; es gibt auch Religionen, die an "dieser Welt" nicht interessiert sind, und es hat solche Zeiten auch im Christentum gegeben und gibt solche Lehren dort auch heute noch, wenn sie auch bei uns nicht herrschende Lehren sind. Bestehen religiöse Lehren dieser Art, dann werden Staat und Gesetz als eine menschliche Gegebenheit, vielleicht sogar Unvermeidbarkeit erkannt und anerkannt, gleichgültig wie man das begründet und ob es sich um bloße Hinnahme oder um volle Bejahung handelt: Wenigstens gerecht soll das Gesetz sein, wenigstens Gerechtigkeit soll der Gesetzgeber üben, wenn er schon das Gebot der Nächstenliebe nicht übt oder üben kann. Mindestens aber gilt Gerechtigkeit als ethisch geboten, individuell als Tugend, sozialethisch als den anderen Menschen geschuldet. Schon das ist kulturell-sozial bedingt. Aber was nun gerecht sei, das hat sich gewaltig geändert und wird sich weiter ändern. AristoteIes hielt noch die Sklaverei für gerecht, und die Südstaatler in den USA taten das vor 150, ja vor 100 Jahren weitgehend guten Gewissens. Patriarchalische Gerechtigkeit ist eine andere als Gerechtigkeit, die auf Gleichheit und voller Respektierung des anderen als Mensch und sittliche Person beruht. Aber auch diese noch setzt ja mit dem Gebote solcher Respektierung voraus, daß der eine gegenüber dem anderen nicht tut, was er faktisch tun könnte, daß also der eine größere Macht gegenüber dem anderen besitzt, daß m. a. W. die "Verhältnisse" keineswegs auf Gerechtigkeit angelegt, sondern ihrerseits eher "ungerecht" sind. Weitergehende und grundsätzlichere Gerechtigkeitsforderungen verlangen deshalb die Aufhebung schon vieler " Verhältnisse ", aus denen solche größere Macht der einen über die anderen erwachsen könnte. Das tat die französische Revolution gegenüber dem ersten und dem zweiten Stand, das tat und tut die Lehre von Marx. Der Satz "justitia fundamentum regnorum" ist mindestens soweit richtig, als heute jedenfalls ohne eine breite Basis von Überzeugung, daß ein Staat durch seine Gesetze Gerechtigkeit im Sinne von Gleichhe:i.t erstrebe, ja daß er sie zwar nicht nach bestem Können, aber doch 5 Drath

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ausreichend verwirkliche, nicht mehr auszukommen ist. Wenn die evangelischen und katholischen Kirchen Soziallehren aufstellen, dann auch deshalb, weil diese überzeugung allgemein herrscht als eine ethische Grundüberzeugung, die überhaupt eine Staatsgewalt, ja eine konkrete Verfassung erst legitimiert. Worauf aber die Gerechtigkeitspostulate konhet gerichtet sind, das ist höchst verschieden, oft widersprüchlich. Hier sind nur praktische Kompromisse möglich. Forderungen von Interessenten können sogar allgemein "einsichtig" gemacht werden als "gerecht", die es schwerlich sind; denn Gerechtigkeit erstrebt doch wohl eine annähernde Ausgeglichenheit der Last und des Erfolges unter den Gliedern der Gemeinschaft. Während für eine mehr oder minder gerechte Regelung oft zahlreiche verschiedene Möglichkeiten bestehen, kann man offenhar Ungerechtigkeit eindeutiger feststellen. Bei allen Gerechtigkeitsproblemen spielen Interessen, Verbände, Parteien, öffentliche Meinung, Beeinflussungen, kulturelle überzeugungen usw. eine bedeutende Rolle. Wie die Menschen ihre geistigen Systeme immer mehr differenziert haben, indem die Religionen spiritueller wurden und damit entlastet von den Ordnungsaufgaben des täglichen Lebens, indem sich Ethik auf philosophischen Grundlagen entwickelte usw., so wurde Staat und Gesetz säkularer, zweckrationaler. Aber eine volle Widersprüchlichkeit zwischen den religiösen und ethischen Vorstellungen der Menschen und dem Inhalt und den Zielen von Staat und Gesetz führt zu Spannungen, die explosiv werden, zum Machtkampf, zur Revolution oder Unterdrückung. Und umgekehrt: Interessen an staatlicher Gesetzgebung in bestimmter Richtung lassen sich weltanschaulich und ethisch unterbauen oder auch ideologisch verdecken, und auch das findet in der modernen Gesellschaft mit einer gewissen Zwangsläufigkeit statt. Das Gesetz ist damit im besten Fall nur eine ungefähr zumutbare und auskömmliche Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander. Der Maßstab hierfür ist also selbst labiler geworden, er wird durch sozial-kulturelle Möglichkeiten und Vergleiche bestimmt, die selber heute subjektiv wie objektiv variable Größen sind oder variable Größen zugrunde legen. Die bloße Berufung auf Gerechtigkeit ohne konkrete Begründung und konkreten Inhalt ist eine "Leerformel". Das Rechtsgesetz selbst ist damit in die ganze Problematik des menschlichen Zusammenlebens gestellt und kann von sich aus bei nur rechtsimmanenter Betrachtung höchstens an instrumentaler Eignung gewinnen - a}s Instrument aber zu vielerlei sozialen Gestaltungen. Es kommt deshalb auf eine das positive Recht transzendierende Betrachtung an. Diese wird aber selten weiterführen, wenn sie schlicht auf vermeintliche Gewißheiten verweist, die sich für die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens aus Religion, Ethik, Philosophie oder

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dem abstrakten Gerechtigkeitsprinzip ergeben sollen. Die konkreten Antworten auf die Probleme der Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens, die das Gesetz geben muß, lassen sich selten eindeutig aus solchen geistigen Systemen oder abstrakten Prinzipien deduzieren, geschweige, daß das Ergebnis dann wegen solcher Ableitung auch allgemeine Anerkennung fände. Hier stehen vielmehr sehr konkrete Interessen, Wünsche, Tendenzen sehr konkreter Menschen miteinander in einem nicht einmal immer klaren Widerstreit. Hier muß notfalls zwischen ihnen entschieden werden, ist letztlich ein sie volo, sie iubeo nicht zu entbehren. Die konkrete Organisation des Zusammenlebens im Staat, also dessen Verfassung, und in dieser Verfassung vor allem die Besetzung der Gesetzgebungsfunktion hat eine unübersehbare Bedeutung, und die Machtlagen innerhalb von Staat und Gesellschaft sind mit der bloßen Berufung auf ethische Prinzipien, die auch die Ausübung dieser Macht wirksam bänden, selten auszuschalten. Eine vermeintlich idealistische Berufung auf Ideen allein bliebe meistens wirkungslos gegenüber diesen Realitäten, auch in der Gesetzgebung.

V. Ich habe versucht, vom Rechtsgesetz eine Seite zu berichten; mehr als dies ist in einem Vortrag ohnehin unmöglich, denn das Rechtsgesetz steht in Zusammenhängen mit dem Ganzen des individuellen wie sozialen und politischen Lebens, es kann folglich unter unendlich vielen Aspekten und also nie erschöpfend behandelt werden. Von diesem Bericht als Grundlage aus werden sich aber Probleme erörtern lassen, die für diesen Kreis naturwissenschaftlich Arbeitender besonders interessant sind, weil sich Gegenüberstellungen von Rechtsgesetz und Naturgesetz ergeben. Ich versuche, einige solche Punkte zu zeigen. 1. Ursprung der Vorstellungen über das Rechtsgesetz waren wohl die Gebote Gottes. Sie werden auch heute nicht selten als "Bild" zum Verständnis gebraucht. Wie alle Bilder, ist auch dieses zugleich geeignet, die geis.tige Durchdringung zu erschweren; so wenn Gebote der Rechtsgesetze geradezu als "heilig" betrachtet werden, das "Bild" als "Vorbild" dient. Parallelen zu den Geboten Gottes bestehen in folgenden Punkten:

der das die der die die 5·

Gesetzgeber; Gebot; Adressaten des Gebots; Anspruch auf Gehorsam; Voraussetzung der Fehlsamkeit der Adressaten; Zurückführung der Fehlsamkeit auf die Interessen der Adressaten;

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die die die die die

Finalität der Gebote (ihr Einsatz zur Lenkung der Adressaten); originäre (nicht derivative) Begründung des Anspruchs auf Gehorsam; Androhung von Sanktionen bei Ungehorsam; Voraussetzung eines freien Willens der Adressaten; Voraussetzung der Motivierbarkeit des freien Willens durch Interessen einerseits, Gebote andererseits; die Voraussetzung einer Kraft der Adressaten, die Gebote zu vernehmen (also einer - wie auch immer verstandenen - "Vernunft") und ihnen prinzipiell gegen die Interessen zu gehorchen (Vernunft in Erkenntnis und Willen); die Entgegensetzung eines Zustandes des "Wohlgeordnetheit" bei Gehorsam gegen den Zustand der Unordnung ohne die Gebote und den Gehorsam. Es fragt sich, ob das einfach naive Parallelen sind oder Ausdrücke von Erfahrungen, die selbst kulturell-sozial bedingt sein könnten, wie etwa die einer Subjektivität und Individualität, aber auch "Schwäche" "der" Menschen, während es sich evtl. nur um die Menschen handelt, die u. a. von jenen Vorstellungen und Lehren über Gott, sein Verhältnis zu den Menschen, die Natur der Menschen und die Gebote Gottes an sie entscheidend geprägt sind (wenn auch mittlerweile in säkularisierter Weise). 2. Zwischen Naturgesetz und Rechtsgesetz gibt es zahlreiche Punkte, deren Klärung durch Vergleich sich für beide lohnen könnte. Mein Katalog kann schwerlich erschöpfend sein, da sich weitere Punkte im Laufe eines Vergleichs ergeben dürften; er kann aber die Fülle der Fragen zeigen, zwischen denen zum Teil noch Interdependenzen feststellbar sein dürften: Entstehung des Wortes "Naturgesetz" durch Ablehnung einer lex naturae Gottes; der Zusatz "Natur" als bloße übersetzung oder als Unterscheidung von Rechtsgesetz? Was bedeutet "Allgemeinheit" des Naturgesetzes, was "Allgemeinheit" des Rechtsgesetzes? Bedeutet die Voraussetzung einer "Subsumierbarkeit" bei beiden dasselbe? Was ist "Gleichheit" der Fälle, die unter ein Naturgesetz fallen, was ist sie bei einem Rechtsgesetz? Was heißt "Subsumtion" (logischer Vorgang)? Unterscheidung von Seins- und Sollens-Gesetz (von Be-schreibung und Vor-schreibung), demgemäß von Seinswissenschaft und Normwissenschaft. Deskriptive bzw. finale Intention auch dieser Wissenschaften? Beim Naturgesetz Ausklammerung der Frage nach dem Urheber anders beim Rechtsgesetz.

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Beim Naturgesetz Wertfreiheit des Inhalts, beim Rechtsgesetz liegt dem Inhalt eine Wertung und Entscheidung zugrunde (Zusammenhang dieses Punktes mit der deskriptiven Intention des Naturgesetzes, der finalen Intention des Rechtsgesetzes). Erfahrung als Grundlage bei beiden; wissenschaftliche Erfahrung bei Naturgesetzen, vielfach nur grobe Lebenserfahrung bei Rechtsgesetzen (sogar bei Verwendung von Statistik z. B. Kriminalstatistik, Zweifel, ob Mängel des bisherigen Strafrechts "ursächlich" sind für die heutige Kriminalität, ganz abgesehen von der "Dunkelziffer", die bei vielen Delikten besonders groß und kaum vermeidbar ist, z. B. bei Erpressung, Betrug, manchen Sexualdelikten). Bedeutung von Regelhaftigkeit (Statistik) und Experiment bei beiden. Prognose bei beiden; Grad der Zuverlässigkeit (gewagte Prognosen beim Rechtsgesetz oft unvermeidbar, weil künftige Motivationskomplexe zu unberechenbar). übereinstimmung des Zwecks beider: Ermöglichung wenigstens auskömmlicher Erwartungen und dadurch Entlastung des menschlichen Lebens?

Technik und Gesetzgebung verglichen unter dem Gesichtspunkt der Anwendung von Erfahrung (Gesetzgebung als "Sozialteclmik"). Bedeutung neuer Erfahrung bei heiden (beim Naturgesetz Anpassung dieses Gesetzes an das Sein; beim Rechtsgesetz ceteris paribus Anpassung des Seins an die Intention dieses Gesetzes). Enttäuschte Erwartung bei beiden ein Motor der Fortbildung. Was ist "Aufstellung" eines Naturgesetzes, was "Aufstellung" eines Rechtsgesetzes? (Zusammenhang mit deskriptiver bzw. finaler Intention) Kann von einer Erforschung der Vorgänge, die durch das Wort "Motivation" gedeckt werden, für das Rechtsgesetz etwas erwartet werden? Welche Naturwissenschaften kommen in Frage für solche Erforschung? Wie ist der heutige Stand des Wissens in diesem Punkte? (Subatomare Physik, Chemie, Kybernetik, Psychologie der Menschen usw.) Ähnliche Fragen für die Tiersoziologie und die -psychologie. Was würde sich aus solchen Ergebnissen herleiten für die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften? Ist sie abhängig vom Stande der Wissenschaften? Würde Klärung der "Motivation" allein genügen, die Unterscheidung aufzuheben? (Erkenntnis und Freude als geistige Vorgänge, die von Motivation getrennt zu halten sind?)

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Rolle der homo-faber-Vorstellung bei Natur- und Rechtsgesetz (Zusammenhang mit Technik und Gesetzgebung als Anwendung von Erfahrung). Bedeutung des Immanenz-Denkens bei beiden. Was heißt "Geltung" bei beiden? (Zusammenhang mit deskriptiver und finaler Intention). Endlich bestehen die Probleme der Vernünftigkeit und der Wohlgeordnetheit des Rechtsgesetzes im Vergleich zur Vernünftigkeit und Ordnung des Naturgesetzes, ob man beide auf göttliche Ordnung und Vernunft zurückführt oder nicht. Diese Stichworte mögen trotz mancher Interpretationsbedürftigkeit mindestens eine Anschauung von der Komplexität der Fragen geben.

Bemerkungen zur Theorie des Gesetzgebungsstaats * I. Man spricht bei uns - nicht erst seit gestern - von einer "Krise des Gesetzgebungsstaates". Dafür werden vielerlei Argumente angeführt. Unübersehbar, selbst für den Juristen, erst recht für den Bürger, der sich doch gesetzmäßig verhalten soll, sei die Fülle der laufend ergehenden Gesetze und damit die jeweils geltende Rechtsordnung. Statt kodifizierender, für jedermann geltender Dauerregelungen gälten zunehmend "Maßnahme..," oder "Einzelfall-Gesetze", die den Charakter der Rechtsordnung als eines kohärenten Bestandes genereller Normen grundsätzlich fraglich machten. Der Einfluß der Bürokratie, der Parteien und Interessenverbände gefährde die Unabhängigkeit und "Objektivität" der Gesetzgebung. Die Bedeutung der Verordnungen nehme gegenüber dem förmlichen Gesetzesinhalt zu. Die Ausweitung der Justiz werfe die Frage auf, ob wir in einem übergang vom Gesetzgebungs- zu einem Justizstaat stünden. Da die Parlamente vor Gesetzgebungsfleiß nicht mehr zur großen politischen Diskussion kämen, handele es sich um eine noch weitergreifende Wandlung, um eine Krise des Parlamentarismus überhaupt. Hierfür werden zahlreiche weitere Argumente angeführt, die ich nicht aufzuzählen brauche. Diese Problematik ist äußerst komplex, weil sie mitten in die Sozialstruktur der modernen Industriegesellschaft selbst und deren politische Formierung, die Lenkung und Ordnung ihres Ablaufs und ihrer Entwicklung führt. Um so schwerer wird das abschließende Urteil; um so größer ist die Bedeutung, die die Maßstäbe jenes Urteils haben, also die Bilder von einem "funktionierenden" Gesetzgebungsstaat, einem "funktionierenden" Parlamentarismus, ja von der modernen Industriegesellschaft überhaupt. Um so weniger genügen globale Vorstellungen, die wir hiervon haben, selbst wenn sie communis opinio sind. Eine "Gesamtlage" bedarf immer einer kritischen Untersuchung der gesamten Zusammenhänge. Wir besitzen aber keine in dieser Hinsicht befriedigende Theorie vom modernen Staat in der heutigen Gesellschaft, die Ausgangspunkt der Beurteilung dieser komplexen Zusammenhänge sein könnte.

* Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 17 (1965), S. 556 bis 567.

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Bemerkungen zur Theorie des Gesetzgebungsstaats

Zwei verschiedene Möglichkeiten scheinen gegeben, um ein Urteil über die heutige Lage des Gesetzgebungsstaats zu gewinnen; beide werden - mehr oder minder explizit - angewendet.

11. Den einen Weg bietet die politische Soziologie. Hier wären zunächst empirisch die Phänomene selbst exakt zu ermitteln; man kann sie nicht nur registrieren, wie sie sich "von selbst" zu repräsentieren scheinen, weil es schon hier der kritischen Analyse bedarf. Dann wären deren "Ursachen" - genauer: deren Bedingungskonstellationen - zu ergründen, weil von ihnen, von ihrer Dauer und Tragweite die Wirkungen auf die Struktur und das Funktionieren unseres Gesetzgebungsstaates abhängen; es liegt aber auf der Hand, daß dies nicht geschehen kann, ohne daß man ihre Zusammenhänge mit der Struktur und dem Funktionieren unserer ganzen Gesellschaft ermittelt. Ein Urteil darüber, ob hiernach das Bestehen einer Krise des Gesetzgebungsstaates zu bejahen oder zu verneinen sei, setzt schließlich die Angabe und Begründung der Maßstäbe voraus, nach denen bemessen werden soll, was wir als eine "Krise" zu betrachten hätten. Man muß also sagen, welchen Zustand man als "normal" - verstanden im Sinne von "krisenfrei" - ansieht und aus welchen Gründen; hierbei könnte wohl der Vergleich mit ausländischen Verhältnissen sehr nützlich sein. Zu allererst wäre jedenfalls zu klären, welche Störungen im Funktionsablauf, welche Friktionen oder Konflikte von angebbarer Art, Intensität oder Tragweite man zum Maßstab für die Bejahung einer "Krise" nehmen will, denn Konfliktsfreiheit gibt es nicht, wo es besondere soziale "Interessen" gibt. Dann erst hätte man wohl die Elemente für eine fundierte Antwort auf die Frage nach einer Krise des Gesetzgebungsstaates beisammen. Schwierigkeiten und Bedeutung einer solchen Arbeit sind offensichtlich. Man kann sie nicht einmal dann ersparen, wenn die Phänomene so eindeutig wären, daß sich das Urteil scheinbar ebenso eindeutig aufzwänge; denn hier geht es nicht nur um die Vieldeutigkeit des Wortes "Krise", das eine "Anpassungskrise" ebenso wie eine "Krise auf den Tod" und dazwischen jeden Grad von "Gefährdung" bedeuten kann. Vielmehr steht jedes derartige Urteil unter Voraussetzungen; es muß also geklärt werden, welche konkreten Bedingungen als bestehend oder fortbestehend und als entscheidend angesehen werden, und das erfordert immer eine kritische, abwägende Wahl zwischen vielen und keineswegs gleichgerichteten Bedingungskonstellationen. Dies ist um so mehr zu beachten, weil wir es nicht mit einer statischen, sondern mit einer dynamischen Gesellschaft zu tun haben, also Wandlungen aus

Bemerkungen zur Theorie des Gesetzgebungsstaats

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ihrer Struktur, aus ihrem Funktionsablauf selbst hervorgehen. Um so weniger wird man eine offensichtliche Eindeutigkeit der Lage des Gesetzgebungsstaates annehmen können, um so weniger mit allgemeinen Wendungen, begründet auf allgemeine Vorstellungen, ohne präzise, auf subtile Analysen gestützte Begründungen auskommen. 111.

Es scheint aber, daß gerade das Fehlen solcher ausreichender Grundlagen jenes Unbehagen nährt, das dann wenigstens nach seinem eigenen Ausdruck in einem formulierten Urteil strebt. Da es aber ohne jede Begründung dieses Urteils nicht gut geht, wird ein anderer, einfacherer Maßstab gesucht. Dieser zweite Weg soll von einer Art "Phänomenologie" der kritisch betrachteten Erscheinungen möglichst unmittelbar zur Beantwortung der Frage nach der Krise führen. Der Maßstab dieses Urteils ist die staatsrechtliche Normativität, die verfassungsrechtliche Regelung des Gesetzgebungsstaats. Mit der Wahl dieses Weges konzentriert man das Problem von vornherein auf einen bestimmten Staat oder - auf Grund von Verfassungsrechtsvergleichung - auf Staaten verwandten Verfassungstyps. Ich spreche der Einfachheit halber nur von der ersten Eventualität und beschränke mich auf die Bundesrepublik. In der Tat scheint die Staatsrechtswissenschaft ex officio berufen, den unerläßlichen Maßstab für die Antwort auf das Problem zu geben, da sie normative Wissenschaft und für Verfassungsprobleme zuständig ist. Es ist ersichtlich, daß sich mit diesem Wechsel des Maßstabs zugleich das Problem selbst verschiebt, d. h. daß die an Hand des verfassungsrechtlichen Kriteriums vertretene These von einer Krise des Gesetzgebungsstaats eine Diskrepanz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, eventuell eine Verfassungswidrigkeit oder einen Verfassungswandel behaupten würde, die nicht unbedingt auch eine soziale und politische Krise zu indizieren brauchten. Wenn z. B. jene Diskrepanz darauf beruhen würde, daß das Verfassungsrecht an Hand eines imaginären Bildes vom möglichen Verfassungsleben konzipiert ist, wäre wohl nicht einmal von einer Verfassungskrise - hier verstanden nur als Verfassungswidrigkeit oder Verfassungswandel - zu sprechen. Jedenfalls wäre diese durch die Wahl des verfassungsrechtlichen Maßstabs bedingte spezifische Problemlage schon bei der Auswahl und Analyse der Phänomene, dann bei ihrer Wertung unter den verfassungsrechtlich relevanten Gesichtspunkten, die der Erfassung in verfassungsrechtlichen Begriffen voraufgeht, zu beachten und wohl auch kritisch "durchzuhalten".

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Bemerkungen zur Theorie des Gesetzgebungsstaats

Damit erhebt sich die Frage, woraus wir mit innerer Autorität die zugleich detaillierten und komplexen normativen Aussagen - selbst nur über die rechtlich relevanten Gesichtspunkte, erst recht über die Wertung der Phänomene unter diesen Gesichtspunkten - herleiten, die bei Zugrundelegung des verfassungs rechtlichen Kriteriums der Wissenschaft des Staatsrechts abgefordert werden. Gewiß nicht aus dem Text der Verfassung allein, weil dieser unvermeidlich knapp, also der Auslegung bedürftig ist. Solche Auslegung geht immer zurück auf Auffassungen, die außerhalb der Verfassung selbst ihren Ursprung haben. Am Ende führt auch dieser Weg wieder ~u Vorstellungen, die wir uns auf Grund von Anschaulichkeit, die wir dann erst in Begrifflichkeit bringen müssen, von dem funktionierenden Gesetzgebungsstaat in unserer Gesellschaft machen, nun freilich von dem Gesetzgebungsstaat, den die Staatsrechtswissenschaft als den grundgesetzlich gewollten erkennen und anerkennen kann. In jedem Fall aber ist das Bild vom Verfassungsinhalt ein normatives und also dann, wenn es der Verfassungswirklichkeit gegenübergestellt wird, ein betont statisches. Es kann deshalb per definitionern, nämlich als - wenn auch durch Auslegung gewonnener - Inhalt von Rechtsnormen, kaum ohne erhebliche Friktionen zum Maßstab in einer Gesellschaft gemacht werden, deren wesentliches Charakteristikum gerade die Dynamik ihrer eigenen Wandlung ist; denn gerade das Verfassungsleben steht als politisches Leben in der engsten Verbindung zum sozialen Leben überhaupt. Zwar haben wir die staatsrechtliche Figur der Verfassungswandlung zur Verfügung; doch kann der Jurist von ihr nur behutsam Gebrauch machen, wenn er nicht die Normativität der Verfassung selbst gefährden will. Aus dieser Lage erklärt es sich wohl, daß manche der eingangs erwähnten kritischen Stimmen gerade aus dem staatsrechtlichen Lager deutlich ein "Befremdet-Sein" durch die Phänomene erkennen lassen, mit denen sie sich in unseren Zusammenhängen beschäftigen. Das spricht freilich nicht für eine besondere Distanz zu diesen Erscheinungen, sondern eher für einen gewissermaßen beruflich-emotionalen Subjektivismus. Zu mehr als zu der bloßen Aussage, daß jene Phänomene für uns befremdlich, weil letzten Endes mit unseren überkommenen Vorstellungen nicht vereinbar seien, könnte man nur auf Grund einer ausgearbeiteten Verfassungstheorie gelangen, die wir aber höchstens in Ansätzen besitzen. Bis dahin bleibt jedes Urteil in unserer Frage mit Schwächen behaftet, die in einer emotional-apodiktischen Form der Urteilsaussage nicht selten ihren unbewußten Ausdruck suchen und finden. Doch wollen wir dieses Problem hier nicht weiter verfolgen, weil es alsbald in die staatsrechtliche Methologie führt, wo es sich unter anderem Vorzeichen fortsetzt, da wir es mit einem "logisch" nie aufgehenden Gegensatz von Leben und

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Recht, besonders mit der Statik des Verfassungsrechts in einer dynamisch sich wandelnden Wirklichkeit zu tun haben. Denn jedenfalls bleibt alle Theorie der Kritik ausgesetzt, stehen also alle noch nicht einmal zur Theorie erhobenen bloßen Vorstellungen doppelt in der Notwendigkeit, sich selbst durch theoretisches Denken zu klären, ja zunächst wenigstens zur Theorie zu erheben. Liegt aber die Bedeutung des Problems gerade in einem etwaigen Widerspruch zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, wie es bei unseren eingangs erwähnten Phänomenen der Fall sein soll, so wird auch der Staatsrechtier einer Beschäftigung mit den Phänomenen der Wirklichkeit auf Grund einer empirischen Analyse und der durch sie geschaffenen und indizierten Zusammenhänge nicht entgehen können, weil bei uns auch der Jurist in wissenschaftlicher, also theoretischer, kritischer Weise seine überlegungen und Ergebnisse bis hin auf die Beständigkeit ihrer letzten Prämissen zu bedenken hat. Die Arbeit der empirischen Soziologie wird auf diese Weise mindestens als "Provokation" solcher Selbstkritik, wahrscheinlich sogar zur Korrektur der eigenen Vorstellungen, zu ihrer Erhebung in den Rang von Theorie auch für den Staatsrechtier unentbehrlich. Sie liefert ihm nicht nur die exakten Phänomene als den Tatbestand, den er zu beurteilen hat, sondern kann ihn auch davor bewahren helfen, daß er - was wohl besonders nahe liegt - unkritisch einen bestimmten status quo als normativen Maßstab annimmt, ja, durch die ihm vorzüglich übertragene "Auslegung" der Verfassung sogar in Wahrheit als verbindlich setzt. Solches kritisches Denken erspart ihm auch ein weitgehender Konsens der Fachleute nicht, weil die bloße Verbreitung allgemeiner Vorstellungen diese nicht zur kritisch erwogenen Theorie erhebt, ja, weil es sogar zu unseren Erfahrungen gehört, daß altes theoretisches Wissen in Vergessenheit geraten und absinken kann, besonders wenn es durch lange Zeit relativer Problemlosigkeit der fraglichen Zusammenhänge und Vorgänge des Verfassungslebens aus den allgemeinen Vorstellungen verdrängt worden ist. So zeigt sich: Auch der Hinweis auf die verfassungsrechtlich gewollte Gestaltung unseres Gesetzgebungsstaates liefert uns nach allem keinen ohne weiteres an die kritisierten Phänomene anzulegenden Maßstab und also keine ohne weiteres brauchbare Basis für die Antwort auf die Frage nach einer Krise des Gesetzgebungsstaates. Er stellt uns vielmehr erst vor weitere und schwierige Probleme. Ja, im Vorfeld der verfassungsrechtlichen Auslegungen erscheinen wieder die empirischen Daten - in diesem Rahmen juristischer Betrachtung freilich oft nur in Gestalt mehr oder minder unreflektierter Vorstellungen oder Auffassungen statt in der einer kritisch durchgearbeiteten Theorie. Insbesondere drängt sich die Frage auf, ob wir unserer Verfassung vielleicht eine

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Modellvorstellung vom Gesetzgebungsstaat als normativ gewollt auferlegen, die wir - und vielleicht auch manche Väter des Grundgesetzes - an Hand der liberal-konstitutionellen Periode unserer gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Entwicklung gebildet haben. Jede Modellvorstellung wird durch Abstraktionen gewonnen. Werden dabei bewußt oder unbewußt geschichtliche "Erfahrungen" verarbeitet, so entgleitet aus ihnen leicht das, was zu seiner Zeit das Kritische, Umkämpfte, ja Krisenhafte war, weil die Entwicklung inzwischen darüber hinweggegangen ist. Das unvermeidlich abstrakte Modell wird zu einem idealisierenden Modell. Diese Frage hat grundsätzliche Bedeutung: Sie stellt uns vor die fundamentale Problematik der Statik verfassungsrechtlicher Normativität in einer dynamisch sich entwickelnden Gesellschaft. Ein solches Problem kann nicht durch allgemeine Formulierungen, sondern ebenfalls nur durch theoretische Forschungen gelöst werden. Ich will versuchen, zur Klärung heutiger Vorstellungen vom Gesetzgebungsstaat dadurch beizutragen, daß ich das noch fortwirkende liberalkonstitutionelle Verfassungsdenken und die von ihm ausgehende Verfassungsauslegung von abstrakten verfassungsrechtlichen Ideen und Formulierungen zu deren eigentlicher Bedeutung zurückführe. Mir scheint, daß nichts die soziale und politische Rolle moderner Gesetzgebung, nichts die Unentbehrlichkeit des Gesetzgebungsstaats, ja, seine eigene Zugehörigkeit zur Struktur der modernen Gesellschaft selbst so klären könnte wie ein vertieftes Studium der Lehre Montesquieus. Deren heute gängige Betrachtung wird sich dabei als ein geradezu "klassisches" Beispiel derjenigen Auffüllung abstrakter Formulierungen von Verfassungsprinzipien mit unkritischen Vorstellungen erweisen, von der soeben die Rede war. IV.

In unserer Verfassungstheorie wird Montesquieu als der "Vater" der Gewaltenteilungslehre behandelt. Doch begnügen wir uns regelmäßig mit bestimmten Zitaten und interpretierenden Zusammenfassungen, die gängig geworden sind. Was jene Lehre zu ihrer Zeit besagt hat, bleibt weithin verborgen. Hierzu gehört gerade die immense Bedeutung dieser Lehre für die Durchsetzung des Gesetzgebungsstaats. Hinter unserer Betonung der Lehre von einer Trennung der Gewalten im Staat steht die falsche Vorstellung, daß es eine wirkliche Legislative im Frankreich jener Zeit gegeben habe. In Wahrheit trifft dies aber nicht ZlU. Die Bedeutung von Montesquieus Lehre besteht gerade darin, daß sie erst die geistige und politische Vorbereitung effektiver - und in der sich durchringenden neuen Gesellschaft schließlich not-

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wendig permanenter - Gesetzgebung geworden ist. Sie hat den modernen Staat als Gesetzgebungsstaat in Frankreich erst begründen helfen. Nicht in einer bloßen Änderung der Organisation und des Verfahrens von vermeintlich schon längst bestehender Gesetzgebung liegt ihr Inhalt und Einfluß, sondern darin, daß überhaupt institutionalisierte Gesetzgebung als Aufgabe des Staates in der entstehenden neuen Gesellschaft durchgesetzt, der moderne Staat damit überhaupt erst geistig begründet wurde. Unser übliches Mißverständnis erklärt sich meines Erachtens aus einem Eindringen gängiger allgemeiner Vorstellungen vom französischen Absolutismus in die verfassungstheoretische Behandlung. Wir sind in der Vorstellung aufgewachsen, die Renaissancekönige Frankreichs hätten den Absolutismus aufgerichtet, der während der Religionskriege endgültig zum Durchbruch gekommen sei. Kennzeichen des Absolutismus aber sei es, daß der König als Souverän ein unbeschränktes Gesetzgebungsrecht gehabt habe. Vor allem durch Ludwig XIV. sehen wir diese Vorstellungen bestätigt. Während eines Teils seiner Regierungszeit konnte dieser tatsächlich seinen Willen als allgemeines Gesetz durchsetzen, insbesondere die Parlamente des Landes ausschalten, von denen sogleich noch zu reden ist; doch gelang das stets nur, soweit er und seine Gehilfen Macht und Geschick dazu besaßen. Nach seinem Tode war die vermeintlich absolute Monarchie schwächer als zuvor und konnte sich gegen das Land nicht behaupten. Ludwig XIV. hat deshalb den Absolutismus in Frankreich gerade nicht stabilisiert wie einen "rocher de bronce". Auch seinen Nachfolgern gelang es zwar gelegentlich, dem Lande noch Reformen aufzuzwingen. Aber das Werk Turgots beispielsweise, das zunächst in Kraft gesetzt wurde, mußte unter dem Druck vor allem der Parlamente alsbald wieder aufgehoben, Turgot selbst mußte entlassen werden. Frankreich war unter dem Absolutismus trotz aller Ansätze noch weit davon entfernt, ein Einheitsstaat zu sein. Die zentralisierende Tendenz, die vom Lehenswesen ausgegangen war, war weitgehend in bloßer Oberherrschaft steckengeblieben. Die Provinzialstände der Provence etwa versuchten, den König von Frankreich nur insoweit als Herrn anzuerkennen, als er zugleich den Rechtstitel eines Grafen der Provence besaß. Solche Titel des Monarchen waren damals noch wirkliche Rechts- und Machttitel, deren Vereinigung beim Monarchen Frankreich erst zum Königreich zusammenhielt. Vor allem in den Parlamenten der einzelnen Provinzen hatten die regionalen Tendenzen machtvolle Instrumente. In ihnen konzentrierte sich insbesondere der Widerstand des Adels gegen die Krone. In ihnen hatte die regionale Selbstverwaltung ihren Mittelpunkt. Zwar waren sie in der Hauptsache Gerichtsbehörden, aber sie nahmen auch an der "legislativen" Gewalt

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Frankreichs teil. Nach den Theorien der königlichen Ratgeber war zwar der Wille des Königs Gesetz. Sein legislativer Wille wurde jedoch erst dann verbindlich, wenn er in den regionalen Parlamenten als geltendes Gesetz registriert worden war. Die Parlamente nahmen aber in Anspruch, diese königlichen Erlasse auch inhaltlich darauf zu überprüfen, ob sie mit dem geltenden Recht, dem "guten alten Recht und Herkommen", ja sogar mit dem "Wohl des Landes" übereinstimmten. Ohne dessen formelle Rechtsetzungsautorität offen in Zweifel zu ziehen, wendeten sie sich mit "Gegenvorstellungen" an den König und "baten" ihn, von mißbilligten gesetzlichen Regelungen Abstand zu nehmen. Im Ergebnis ist der souveräne Gesetzgebungsanspruch des Königs an der Obstruktion der Parlamente oft und gerade bei grundlegenden Reformen gescheitert. So wurde verhindert, daß Frankreich als einheitlicher Staat konsolidiert, durch Reformen an die Lebensbedingungen einer sich wandelnden Welt angepaßt wurde. In der französischen Revolution ist der Absolutismus nicht wegen seiner Stärke und Gefährlichkeit, sondern wegen seiner Schwäche und Unfähigkeit zu durchgreifenden Reformen, zur Schaffung moderner Rechtseinheit als einer grundlegenden politischen und sozialen Bedingung moderner Gesellschaft - nicht als eines rein geistigen Ideals - gestürzt worden. Das Machtbewußtsein der Könige und ihrer Gehilfen allein erklärt den Kampf der Krone gegen ständische und regionale Vorrechte nicht; wesentlich für ihren Ver~uch, ein souveränes Gesetzgebungsrecht auszubilden, war es, daß eine neue Zeit im Anbruch war, deren soziale und politische Probleme mit den traditionellen Ordnungen des Mittelalters, der ständischen Gesellschaft und des losen Zusammenhangs zahlreicher Herrschaftsbezirke nicht mehr gelöst werden konnten. Ein mittelalterlich verfaßter Staat konnte vor allem der sich verallgemeinernden Verkehrswirtschaft, einer entstehenden bürgerlichen Gesellschaft mit ihren die Grenzen innerfranzösischer Herrschaften sprengenden Handelsinteressen nicht mehr gerecht werden. Es war ja nicht einmal möglich, Getreide aus einer Provinz ohne weiteres in eine andere zu "exportieren". Es mußte eine das ganze französische Territorium umfassende Wirtschaftspolitik durchgesetzt werden. Frankreich konnte nur ein moderner Staat werden, wenn sich eine moderne Gesetzgebung ausbildete, die sich über altes Recht hinwegsetzen und neues Recht statuieren konnte. An diesem Problem ist der französische Absolutismus gescheitert. Auch Verfassungsprinzipien, die uns selbstverständlich geworden sind, waren das nicht immer; sie sollten aber nicht nur rechtsgeschichtlich behandelt werden, wenn man darunter eine geistesgeschichtliche Behandlung versteht. Denn dabei bleibt ihre fundamentale Relation zu der nur in einer rechtssoziologisch fundierten und umfassenden Ge-

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schichtsbetrachtung erfaßbaren Entwicklung von Staat und Gesellschaft verborgen. Für unser Rechtsdenken gilt, daß neues Recht älteres Recht aufhebt: lex posterior derogat legi priori. Der Widerstand der Parlamente Frankreichs gegen die königliche. Gesetzgebung gründete sich noch auf den umgekehrten Satz: das "gute alte" Recht des Landes, Herkommen, Privilegien und Exemptionen galten als unantastbar. Nur die Ordnung einer durch lange Zeit hindurch statisch bleibenden Gesellschaft, in der das Leben in engeren Bereichen gleichförmig abläuft, kann auf einer solchen statischen Stufe verharren. Am Ende muß sie zu einer Zwangsjacke werden, die eventuell revolutionär gesprengt wird. Unser heutiges Prinzip, daß die lex posterior der lex prior derogiert, war also ein revolutionäres Prinzip, das Prinzip der mindestens einmaligen Revolution gegen die Statik einer vergehenden, immer noch traditional festgelegten französischen Gesellschaft. Es ist darüber hinaus das entscheidende Lebensprinzip des modernen Gesetzgebungsstaates überhaupt geworden. Hierin liegt die Bedeutung der Lehren Montesquieus für die Begründung des Gesetzgebungsstaates: Er wollte - das englische Beispiel vor Augen - die Gesetzgebung von der prekären Grundlage in der bloßen jeweiligen Macht des Königs lösen. Eine so fundamentale gesellschaftliche Aufgabe sollte nicht nur ein fragwürdiger Kraftakt des Monarchen sein. In der von ihm beschriebenen englischen Verfassung hat er für das Frankreich seiner Zeit das Modell gezeichnet, in dem die Funktion der Gesetzgebung eine sichere, verfassungsrechtlich institutionalisierte Basis erhält. Die Freiheit, die er erstrebte, war keine abstrakte Freiheit, sondern war die Freiheit zum Durchbruch einer modernen, sich aus sich selbst gestaltenden bürgerlichen Gesellschaft und Wirtschaft, wie Montesquieu sie in England hatte entstehen sehen. Wenn er Gesetze wollte, die den Bedürfnissen dieser aufsteigenden Schichten entsprachen, so mußte solche Gesetzgebung tür das Bürgertum eine Gesetzgebung durch das Bürgertum sein. Deshalb schlug er durch seine Beschreibung der englischen Verhältnisse auch für Frankreich vor, die Gesetzgebungsgewalt vor allem in die Hand des dritten Standes zu legen, diesen selbst in einen Körper umzugestalten, der den englischen Commons entsprach. So hat Montesquieu die Versuche der Könige Frankreichs in grundsätzlicher Weise aufgegriffen und zugleich verwandelt: Er hat das Instrument "Gesetzgebung" in einer für den Durchbruch der neuen Zeit unerläßlichen Weise von der immer prekären Machtfrage im Absolutismus gelöst und zu einer Verfassungseinrichtung erhoben, deren soziales und politisches Fundament in den lebenskräftigen neuen, den

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bürgerlichen Schichten lag. Als "Verfassungsrecht des dritten Standes" war die Gesetzgebung dem bisherigen Spiel der alten Kräfte Frankreichs entzogen. Ich sehe davon ab, hier auszuführen, wie wenig die den bisherigen beiden privilegierten Ständen Frankreichs, die in einen einzigen, dem englischen Oberhaus entsprechenden Körper verwandelt werden sollten, gewährte begrenzte "faculte d'empecher" geeignet war, die moderne "faculte de statuer" der Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft aufzuheben. Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, Montesquieu hätte damit diejenigen Privilegien von Geistlichkeit und Adel schützen wollen, die er in dem Frankreich seiner Zeit vorfand und die gerade die Ursache der Krise Frankreichs geworden waren. Das zu belegen, bedürfte es eines subtilen Nachweises aus anderen Stellen des "Esprit des Lois", besonders aus Buch V, Kap. 4 bis 7, aus dem Inhalt der bestehenden Privilegien und aus der Tragweite, die schon der Verfassungsvors·chlag Montesquieus selbst unmittelbar auf deren Fortbestand in den Verfassungen der einzelnen Provinzen haben mußte. Der fundamentale Vorschlag Montesquieus, die Einführung von Gesetzgebung als gesamtfranzösische Verfassungsinstitution, wurde erst verwirklicht, als es für eine evolutionäre Entwicklung zu spät war, in den Generalständen von 1789. Hier haben die Vertreter des dritten Standes ihr Gesetzgebungsrecht sofort als einzigen Weg aus der Krise erkannt und durchgesetzt; jetzt haben selbst Vertreter der Geistlichkeit und des Adels dies als notwendig begriffen. So selbstverständlich und selbstsicher war diese Ergreifung der Gesetzgebung, daß sogar - oder: gerade - die revolutionären Grundrechte "nur" nach Maßgabe einfacher Gesetze geschaffen wurden. Erst jetzt wurden, nun aber unter revolutionären Vorzeichen, die alten Herrschaften und Provinzen zerschlagen und durch eine Neueinteilung in Departements ersetzt, um jede Rückkehr zu den alten Verfassungszuständen von deren Basis her unmöglich zu machen. Erst jetzt schuf Frankreich die Grundlage für die großen inneren Reformwerke, wie sie in den Kodifikationen Napoleons ihren Abschluß fanden. Immer war es das neue Prinzip, bewußt eine einheitliche und moderne Ordnung durch Gesetzgebung zu schaffen. Montesquieus Lehre hatte die sozialen und politischen Notwendigkeiten einer verfassungsrechtlichen Durchsetzung und Institutionalisierung der Gesetzgebung für Frankreich erkannt, hatte sie geistig vorbereitet. Damit wurde auf dem Kontinent der Gesetzgebungsstaat als ein verschiedenen Ausgestaltungen zugänglicher - Typus institutionalisiert, der das Mittel der Intervention in die gesellschaftlichen Verhältnisse durch Rechtsetzung ausgebildet hat. Es liegt auf der Hand, daß

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ein solcher Typus in einer sich komplizierenden Gesellschaft nicht einfach am Ende seiner Möglichkeiten angekommen ist. Die Verfassungsund Sozialgeschichte, aber auch die spezielle Entwicklung der Gesetzgebungstätigkeit und ihres Verhältnisses zur Rechtsprechung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts - vom Verbot jeder Gesetzesauslegung bis zur richterlichen Rechtsfortbildung, ja Rechtsschöpfung - bestätigt das. Als ein Mann der Aufklärung scheint Montesquieu selbst noch angenommen zu haben, daß man nur ein einziges Mal die inneren Lebensprinzipien der modernen bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates in Gesetze zu fassen brauche; dann würden sie - von etwaigen Korrekturen abgesehen - unverändert fortgelten können, so wie etwa das moderne einheitliche Maß und Gewicht seit der französischen Revolution gelten. Aber es zeigte sich, daß das grundlegendste Lebensprinzip dieser Gesellschaft deren eigene Dynamik war, daß sie selbst aus sich Probleme ihrer Lenkung und Ordnung immer neu und anders stellte und daß es deshalb der permanenten Reformgesetzgebung bedurfte. Die neue Zeit brachte einen anderen, einen voluntaristischen Freiheitsbegriff. Die Menschen lösten sich von Autoritäten oberhalb ihrer eigenen Existenz und begannen, bis in die Entfaltung der Persönlichkeit hin ihre Lebensordnungen frei zu gestalten. Aus dem nur einmaligen, wenn auch fundamentalen Durchbruch der neuen Gesellschaft mittels der Gesetzgebung wurde deren unablässige Verwendung zur Erhaltung und Fortbildung dieser Gesellschaft. Die neue Verfassungsinstitution bewährte sich auch an dieser unvorhergesehenen Aufgabe, ebenso wie das neue, mit ihr untrennbar verknüpfte Verfassungsprinzip vom Vorrang der lex posterior, das an dieser Aufgabe erst seine heutige Bedeutung erhielt: das Recht war der neuen Rechtsetzung nicht nur zugänglich, sondern geradezu ständig bedürftig. Der moderne Staat wurde zum permanenten " Gesetzgebungsstaat" . Weil die gesellschaftliche Wandlung ihren modernen, dynamischen Charakter annahm, wurde das moderne Recht selbst eine dynamisierte Ordnung, deren ständige Änderung erst diejenige "Stabilität" der Gesellschaft erzeugt, die in keiner "Statik" mehr gegeben ist. So hat sich der moderne Gesetzgebungsstaat gebildet als ein Staat ständiger Gesetzgebung, derer die moderne Gesellschaft als eine dynamische Gesellschaft bedarf, die auf Grund ihrer Dynamik nicht in einem stabilen Zustand steht, sondern nur in einem labilen Zustand der "Einheit mit sich selbst" gebracht werden, nur in einem solchen "Zustand" bestehen kann. Das fundamentale Organisationsmittel des modernen, des positiven Rechts ermöglicht es, durch ständige Gesetzgebung das soziale und politische Leben zu koordinieren und das Verhalten der Menschen zu organisieren mit dem Ziel, eine Ordnung zu schaffen, die sich ohne solche ge6 Drath

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zielte Maßnahmen, also von selbst, durch den bloßen Ablauf des Lebensprozesses in ihr, nicht mehr einstellen würde. Der Erfolg, der in der Schaffung der tief verwurzelten Verfassungsinstitution "Gesetzgebung" liegt, ist so vollkommen, das Resultat ist uns so unentbehrlich und selbstverständlich geworden, daß wir über ihm den Vorgang seines Werdens und die Zusammenhänge seines Seins geradezu aus dem Bewußtsein verlieren konnten. Nichts könnte besser als diese Tatsache bestätigen: der Gesetzgebungsstaat gehört selbst zur Struktur der modernen Gesellschaft.

V. Ohne die Erkenntnis, daß schon die Verfechtung des Gesetzgebungsstaats durch Montesquieu, dann seine Realisierung durch die französische Revolution der - zunächst noch angenommenen einmaligen Dynamik der Gesellschaft nicht entgegenstand, sondern umgekehrt von ihr geradezu getragen war, ohne die in der Soziologie wie in der Nationalökonomie heute längst Gemeingut gewordene Erkenntnis, daß das Lebensprinzip der modernen Gesellschaft in der Dynamik liegt, bleibt jede - auch jede verfassungsrechtliche - Theorie vom Gesetzgebungsstaat "freischwebend" , ohne ausreichenden Bezug auf die Realität. Bleibt sie in solcher Abstraktion, so ist sie selbst jedem willkürlichen Gedanken zugänglich, verlockt sie dazu, den Begriff Gesetzgebungsstaat aufzufüllen mit Vorstellungen, die z. B. einer bestimmten Epoche der Vergangenheit entsprechen mögen, vielleicht auch diese noch idealisieren. Es wird schwerlich die Normativität des juristischen Denkens und jeder Verfassung allein sein, die dafür verantwortlich ist, daß dies dennoch geschieht. Statt den Komplex von Verfassungsnormen, der unseren modernen Gesetzgebungsstaat rechtlich normiert, mit historischen Elementen oder gar nur mit allzu abstrakten Vorstellungen davon aufzufüllen, wäre es die Aufgabe auch einer juristischen Theorie vom Gesetzgebungsstaat, den sozialen Sinn dieser Verfassungsinstitution zu ergründen. Dann wären die Bedingungen zu erforschen, die es erlauben, diesen Sinn zu bewahren auch unter den Verhältnissen einer dynamisch sich wandelnden Welt. So wird auch für den VerfassungsrechtIer, der bei uns rechts- und verfassungssoziologische Forschung gern als rechtsfremd zu betrachten pflegt, solche Forschung am Ende der Erfüllung seiner eigenen Aufgabe als Diener des Verfassungsrechtes nützen. Unter der These von einer "Krise" des Gesetzgebungsstaates verstehe ich deshalb als wichtigstes eine Herausforderung an unsere eigene Erkenntnisfähigkeit, so wie Montesquieu in seiner Zeit zum ersten Male das Problem des Gesetzgebungsstaats als solche Herausforderung verstanden hat: Er sah sein Problem in die gesamte, die politische, die soziale und die geistige Situation seiner Zeit gestellt. So erst

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konnte er die Institutionalisierung der Gesetzgebung als unerläßlich erkennen. Seine konkreten Verfassungsvorschläge sind die sozial- und verfassungstechnische Lösung, die sich aus dieser umfassenden Betrachtung erst ergab. Können wir annehmen, daß wir selbst in unserer Zeit eines geradezu dynamischen sozialen Wandels in aller Unbefangenheit ohne ähnlich umfassende und tiefgreifende Reflektion auf unsere Realitäten auskämen?

Zur Soziallehre und Rechtslehre vom Staat ihren Gebieten und Methoden * Wenn ich richtig sehe, so ist die Methodik der Staatslehre kaum wieder grundsätzlich behandelt worden, seitdem Hermann Heller im Jahr 1929 im Archiv des öffentlichen Rechts (N. F. Bd. 16 S. 321 ff.) seinen Aufsatz "Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart" veröffentlicht und sich 1934 in seiner "Staatslehre" (8.30 ff., bes. S. 37 ff.) in eingehenden Ausführungen zur Staatslehre als Wirklichkeitswissenschaft im Sinn von Hans Freyer (Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, 1930) und - im Grundsatz - von Max Weber (Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922, S. 146 ff., bes. S. 170) bekannt hat. M. W. haben sich seitdem nur Franz W. Jerusalem (Der Staat, 193.5) und Hans Nawiasky (Allgemeine Staatslehre, 1945) wieder eingehender mit der Methodik beschäftigt. Der erste steht gleichfalls prinzipiell auf sozialwissenschaftlicher Basis (a.a.O. S. 13 ff. und passim), der zweite kennt neben einer Rechts- und einer Ideenlehre vom Staat auch eine Soziallehre (S. 2 ff. und passim). Inzwischen ist uns die Political Science der Angloamerikaner begegnet; aber da wir im allgemeinen von ihren Arbeiten noch keine ausreichende Kenntnis besitzen, haben wir auch eine eigene Stellung zu ihren Methoden noch kaum einnehmen können. Dies jedoch scheint festzustehen: die Political Science zeigt, daß Staatslehre in den angelsächsischen Ländern mindestens weitgehend als Sozialwissenschaft im Sinn einer Wirklichkeitswissenschaft betrieben wird. Auch die deutsche Soziologie hat sich, z. B. in den Arbeiten von Ludwig Gumplowicz, Franz Oppenheimer und Max Weber, längst schon mit der Funktion des Staats in der menschlichen Gesellschaft, mit seiner Struktur als gesellschaftlicher Verband usw. beschäftigt und ihre Methode als fruchtbar für die wissenschaftliche Erkenntnis des heutigen Staats erwiesen. Der Soziologe, nicht der Jurist Max Weber hielt, als er 1920 starb, seine letzte Vorlesung sogar über "Allgemeine Staatslehre und Politik", und zwar in jenem Semester zum ersten Mal und ohne sie beenden zu können. Auch andere Zweige der Sozialwissenschaft, nicht nur die Sozialpsychologie, sondern auch die Finanzwissenschaft, die Konjunkturtheorie u. a. m. sind für das Verständnis des modernen Staats und seiner Problematik

* Rechtsprobleme in Staat und Kirche. Festgabe für Rudolf Smend, Göttingen 1952, S. 41-58.

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immer notwendiger geworden. Bietet uns doch die frühere deutsche "Allgemeine Staatslehre" manchmal kaum die Grundlagen für die Behandlung vieler Fragen, die uns heute beschäftigen1 • Es kommt nicht darauf an, hier zu untersuchen, wie weit es sich dabei um neue Probleme handelt oder wie weit das Blickfeld von vornherein enger begrenzt war, als wir es heute für richtig halten, weil uns auch der Staat und seine Tätigkeit in einem viel breiteren Umfang und viel grundsätzlicher problematisch geworden sind: noch weniger wäre es sinnvoll, heute rückwärts schauend zu kritisieren, daß etwa schon vom damaligen Standpunkt aus manches allzu unproblematisch betrachtet, also positivistisch als selbstverständlich hingenommen worden sei. Bemerkenswert bleibt: Schon bei Georg Jellinek steht neben der "Staatsrechtslehre" die "soziale Staatslehre" (a.a.O. 3. Aufl. S. 11 ff.). Wir kennen neben der "Allgemeinen Staatslehre" traditionell in Deutschland noch "Staatswissenschaft" und "Politik", die den Staat jedenfalls nicht juristisch, sondern mehr oder minder auch sozialwissenschaftlich behandeln. Neben unseren Lehrbüchern über Allgemeine Staatslehre stehen entsprechende Handwörterbücher der Staatswissenschaften und der Politik. Hans Nawiasky hat (a.a.O. S. 5 f.) darauf hingewiesen, daß auch die Artikel "Staat" in den Handwörterbüchern der Staatswissenschaften, der Rechtswissenschaft und der Soziologie von Richard Thoma, Otto Koellreutter und Hermann Heller die Staatslehre primär sozialwissenschaftlich behandeln. All dies zeigt, daß Staatslehre als Teil der Sozialwissenschaft längst praktisch bewährt ist. Ich könnte noch hinzufügen, daß auch manche staatstheoretischen und selbst staatsrechtlichen Monographien usw. in mehr oder minder großem Umfang sozialwissenschaftliche Methoden und Argumentationen anwenden oder von sozialwissenschaftlicher Basis ausgehen. Von den erwähnten abgesehen, ist aber m. W. eine umfassende Staatslehre mit der Grundauffassung, daß Staatslehre Sozialwissenschaft und nur dieses sei, in Deutschland bisher noch nicht geschrieben worden. Erst in ihr würde sich die prinzipielle Bedeutung der Zugehörigkeit der Staatslehre zur Sozialwissenschaft bewähren müssen bei der Abgrenzung des Gebiets, bei der Stellung der Probleme, bei der Beschränkung auf die sozialwissenschaftliche Methodik ihrer Bearbeitung und in der Fruchtbarkeit ihrer Ergebnisse für die Beschreibung 1 Nicht selten stoßen wir bei der Lektüre manches Zeitschriftenaufsatzes, keineswegs nur in wissenschaftlichen Zeitschriften, ja sogar manches Zeitungsartikels von einigem Niveau über staatliche und gesellschaftliche Probleme auf Fragen, zu denen unsere Allgemeine Staatslehre nichts oder nur wenig zu sagen weiß. Irre ich mich nicht, so kommt in der immer noch führenden "Allgemeinen Staatslehre" von Georg JeZlinek (1. Auf!. 1900, 3. Auf!. 1919) z. B. der Begriff "Imperialismus" nicht vor, obwohl diese Staatslehre im Zeitalter des Imperialismus selbst geschrieben worden ist.

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und Erklärung des Staats, seiner Organisation und Wirksamkeit, ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen Voraussetzungen und Kräften usw. Hier bietet nun das Recht die größten Schwierigkeiten: Die Einheit und Reinheit sozialwissenschaftlicher Methodik kann ja unmöglich dadurch gewahrt werden, daß eine sozialwissenschaftliche Staatslehre die Probleme des Rechts ausklammert und einer gesonderten Rechtslehre vom Staat überweist; denn es kommt darauf an, daß die Fragen, die uns wesentlich sind, nicht nur überhaupt, sondern auch in dem Zusammenhang beantwortet werden, in dem sie sich der wissenschaftlichen Betrachtung stellen, und das Recht ist selbstverständlich ein viel zu bedeutsamer Faktor der staatlichen Wirklichkeit, als daß ohne seine Betrachtung überhaupt noch eine umfassende Behandlung des Staats möglich wäre, die doch die Aufgabe der Theorie vom Staat sein muß. Das würde nicht nur das Arbeitsgebiet unangebracht verengern, sondern der Staat würde auch auf dem restlichen Arbeitsgebiet nicht mehr adäquat erfaßt und verstanden werden. Für eine sozialwissenschaftliche Staatslehre ergibt sich also die Frage, wie das Recht, d. h. die Rechtsordnung nach Struktur und Funktion, ihre Bildung, Weiterentwicklung, Anwendung und Durchsetzung, ihr Funktionsapparat usw. und mindestens auch ihre politisch bedeutsamen Inhalte im Rahmen einer ausschließlich sozialwissenschaftlichen Staatslehre und mit ausschließlich sozialwissenschaftlicher Methode zu erfassen sind. Was in diesem Rahmen und mit dieser Methode nicht erfaßt werden muß oder kann, würde in den Bereich des Staatsrechts, evtl. des vergleichenden Staatsrechts gehören. Grundsätzlich käme es darauf an, daß dabei für die Staatslehre nicht die sozialwissenschaftliche, für die Rechtslehre nicht die rechtswissenschaftliche Methode preisgegeben und aus dem einen Gebiet nicht in das andere übergegriffen, aber auch kein Problem in dem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben würde, in dem es sich stellt. Das bedeutet insoweit eine übereinstimmung mit Kelsen2 , als jede Zwei-Seiten-Auffassung des Staats abgelehnt wird. Dagegen wird der "Identifikation" des Staats mit der Rechtsordnung und insbesondere der Gleichsetzung der "beiden" Staatsbegriffe auf der Basis des Rechtsbegriffs vom Staat im Sinn Kelsens und der Reinen Rechtslehre nicht gefolgt. Die "Identifikation" der "beiden" Staatsbegriffe geht vielmehr in die entgegengesetzte Richtung: primär ist der sozialwissenschaftliche Begriff vom Staat, sekundär und an dem primären orientiert ist der juristische. Primär ist der Staat Sozialgebilde und Gegenstand der Staatslehre, sekundär und an dem primären Gebilde orientiert ist die Rechtsordnung und ihr Funktionsapparat. 2

Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 2. Aufl. 1928.

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Dieser Standpunkt soll hier nicht im einzelnen gegenüber der Reinen Rechtslehre vertreten werden. Es soll vielmehr versucht werden, die Durchführbarkeit dieser These und ihre Fruchtbarkeit nach zwei Richtungen darzulegen. Es soll umrissen werden, wie die Staatslehre als Sozialwissenschaft und die Wissenschaft vom Staatsrecht voneinander abgegrenzt, wie dabei insbesondere das Recht als einer der sozial wirksamen Faktoren im Rahmen der Staatslehre behandelt werden kann, wie aber auch umgekehrt sozialwissenschaftliche Erwägungen zu Elementen der Rechtsordnung in Setzung und vor allem Anwendung werden, wie sogar - an einigen Beispielen aufgezeigt - rechtliche Begriffsbildungen gegenüber den sozialwissenschaftlichen nur relativ selbständig, Rechtsbegriffe ohne Hinblick auf die zugrundeliegenden sozialwissenschaftlichen Begriffe nicht voll verständlich sind. Gesellschaftliche Gebilde und Verbände sind oft und werden noch verrechtlicht, d. h. aus der Sphäre des rechtlich nicht geregelten gesellschaftlichen Lebens rechtlich eingefangen. Das gilt beispielsweise von der Geschlechts- und Familiengemeinschaft und besonders deutlich von vielen bürgerlichen Verbänden, wie der später bürgerlich-rechtlichen "Gesellschaft". Für den Staat ist freilich vor allem durch Kelsen die These aufgestellt worden, daß er nicht außerrechtlich gedacht werden könne, sondern durch das Recht erst konstituiert werde; Staat ist hiernach Rechtsordnung und nicht mehr als dies. Ob diese These historisch vertretbar ist, muß dahingestellt bleiben, weil eine solche Erörterung im wesentlichen auf rein begriffliche Fragen hinausliefe; von Kelsen wird seine eigene These daher auch im systematischen Sinn verstanden, weil eine Reine Rechtslehre auch den Staat nur als Rechtsordnung erfassen kann. Alle rechtlich geordneten Gebilde und Verbände bleiben jedoch realiter soziale Gebilde und Verbände, also auch der Staat; auch das rechtlich normierte soziale Leben ist und bleibt soziales Leben. Die rechtliche Ordnung solcher Gebilde und Verbände bildet keineswegs nur als rechtliche Teilordnung eine Sinneinheit mit der gesamten Rechtsordnung, ebenso wenig wie ihre außerrechtliche TeiLordnung in einer zwar weniger systematischen, deshalb jedoch nicht minder realen Einheit nur mit der außerrechtlichen Gesamt-Sozialordnung steht. Vielmehr: ebenso wie die gesamte Rechtsordnung eine Sinneinheit mit der gesamten außerrechtlichen Sozialordnung, die sinnvolle Einheit der "Rechts- und S07Jialordnung" bildet, ebenso bildet auch die Teilrechtsordnung einzelner Gebilde und Verbände mit deren außerrechtlicher Sozialordnung eine sinnvolle Einheit, ein "Sinngebilde objektiven Geistes". Ihm liegt eine reale Einheit des gesellschaftlichen Gebildes oder Verbandes zugrunde, die die "Sinneinheit" überhaupt erst ermöglicht, aber auch umgekehrt fordert, die also auch der rechtlichen Ordnung erst Sinn verleiht, nämlich den "Sinnzusammenhang" der Ordnung zu

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dem, was geordnet wird. Nur kraft dieses Sinnzusammenhangs kann die reale Einheit des Gebildes oder Verbandes - wenn auch vielleicht durch das Recht modifiziert - erhalten bleiben, andererseits aber auch das Recht überhaupt auf diese soziale Realität sinnvoll angewendet werden3 • Rechtliche Ordnung gesellschaftlicher Gebilde und gesellschaftlichen Verhaltens ist also je nur eine Ergänzung und Sicherung, möglicherweise auch eine Modifikation der außerrechtlichen Ordnung, und selbst "Form"-Vorschriften und -Begriffe sind hiervon nicht frei. Wer also Staatsordnung nur als Rechtsordnung sieht, ist in Gefahr, nur die Sinneinheit mit der übrigen Rechtsordnung, aber nicht die Sinneinheit mit der außerrechtlichen Ordnung zu berücksichtigen, damit aber die Einheit der Gesamtordnung des Staats zu verlieren, da nicht wohl davon ausgegangen werden kann, daß gerade die staatliche Ordnung sich als rechtliche erschöpfe. Damit wäre zwangsläufig auch verbunden, daß die Einheit des Erkenntnisobjekts "Staat" zerrissen würde, weil der Sinnzusammenhang der Gesamtordnung nur mit der Totalität des geordneten Verbandes besteht. Wer also die Staatsordnung nur als Staatsrecht kennt und wissenschaftlich bearbeitet, kann nicht die volle Ordnung und nicht das ganze Objekt erkennen, muß scheitern oder Verzerrungen seiner Fragen und Ergebnisse hinnehmen, wenn er nicht verdeckte Anleihen außerhalb der staatsrechtlichen Ordnung aufnehmen will. Wer neben der Rechtsordnung des Staats auch die außerrechtliche Ordnung sieht und deshalb die Gesamtordnung, d. h. die rechtliche und außerrechtliche, in ihrer Bezüglichkeit aufeinander und in ihrer Verwobenheit ineinander zum Gegenstand seiner Untersuchung machen will, wird erkennen müssen, daß in der Realität eine rechtlich isolierte Ordnung überhaupt nicht existiert, daß sie sich mit den anderen Elementen der realen Gesamtordnung erst zu dieser integriert, erst als Gesamtordnung ihre Ordnungsfunktion erfüllt. Für ihn kann dann das rechtliche "Ordnungselement" im Rahmen einer homogenen, d. h. aber ausschließlich sozialwissenschaftlichen Staatslehre grundsätzlich nur dieselbe Rolle spielen wie die anderen Ordnungselemente, in denen das reale Gebilde "Staat" sich formiert und betätigt. Das bedeutet keineswegs, daß die Eigengesetzlichkeiten der Moral, der Sitte, des Rechts usw. preisgegeben, sondern daß sie vorausgesetzt werden, vorausgesetzt in ihrer Existenz und je ihrer spezifischen Wirksamkeit, begrenzt aber auch durch ihren aus der Einheit der verschiedenen Ordnungselemente sich ergebenden Existenz- und Wirkungszusammenhang. Eine Staatslehre als Soziallehre vom Staat kann selbstverständlich an der Existenz und Wirksamkeit der Ordnungselemente weder an sich noch an ihrer 3 Diese Sinneinheit und dieser Sinnzusammenhang werden besonders deutlieh bei aller nicht nur formalen Rechtsvergleiehung.

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spezifischen Eigengesetzlichkeit vorübergehen. Sie wird gerade die Eigengesetzlichkeiten nicht einmal übergehen dürfen, so selbstverständlich sie auch auf die wissenschaftliche Ethik, die Rechtswissenschaft, insbesondere die Allgemeine Rechtslehre usw. verweisen kann und muß; denn der Umfang, die Tragweite, die Berechenbarkeit und Prägnanz, die Durchschlagskraft usw. der sozialen Wirksamkeit dieser Ordnungselemente wird durch je ihre Eigengesetzlichkeiten entscheidend bestimmt. Aber im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Staatslehre werden sie nicht eigentlich erforscht, sondern zugrunde gelegt; Objekt solcher Staatslehre sind sie nur hinsichtlich ihrer Wirklichkeit und Wirksamkeit im Rahmen der Gesamtoronung. Hier und nur so bleibt auch die Einheitlichkeit des Erkenntnisobjekts "Staat" gewahrt. Jedoch wird die Diskursivität unserer Arbeitsweise uns dazu führen, die Eigengesetzlichkeiten der Ordnungselemente, auch des rechtlichen, besonders zu behandeln; auch dies aber nur im Hinblick auf ihre eben dargelegte Bedeutung für die sozialwissenschaftliche Staatslehre. Mit dieser Lehre vom Staat steht es nicht anders als mit der Lehre von anderen sozialen Erscheinungen. Da diese vielfach rechtlich normiert sind, muß jede sozialwissenschaftliche Betrachtung unvollkommen bleiben, sofern sie nicht die Bedeutung der rechtlichen Normierung, ihre soziale Wirklichkeit und Wirksamkeit in Rechnung stellt. Wer z. B. über die Ehe eine umfassende, nicht nur eine Teiluntersuchung anstellen will, muß sie sozialwissenschaftlich anstellen und dabei die soziale Wirksamkeit der rechtlichen wie der außerrechtlichen Normen über die Ehe voll berücksichtigen. Die "soziale Wirksamkeit" des Rechts erschöpft sich hier nicht in der juristischen Geltung, sondern meint die soziale "Chance", die erfüllte für die Vergangenheit und die erwartete für die Zukunft, gleichgültig, ob sie auf Befolgung oder auf Durchsetzung der Norm beruht; gleichgültig, ob durch "Bürger" oder durch Staatsorgane (das Reichskriminalpolizeigesetz vom 21. 7.1922, RGBl. I S. 593, war hierfür nur ein Beispiel besonderer Art). Dazu gehört das umfassende Sich-Verhalten auf Grund der Normen und zu den Normen, einschließlich ihrer etwaigen Wirkungen auf die anderen Ordnungselemente: Tradition, Sitte, Sittlichkeit, religiöse Vorstellungen und Gebote usw. Es geht also für die sozialwissenschaftliche Staatslehre nicht um Inhalt und Einheit der "Rechtsordnung" an sich, sondern um ihre grundsätzliche gesellschaftliche Funktion. Ohne Rechtssoziologie im einzelnen zu werden, muß die Staatslehre als Sozialwissenschaft die Rechtsordnung, nicht nur -im dogmatischen Sinn begriffen, als sozial wirksamen Faktor verstehen. Sie muß sie erkennen als eine besondere Art der Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse und des gesellschaftlichen Verhaltens, vor allem als weitgehend rationalisierend, Vorausberechenbarkeit und

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Rechtssicherheit begründend. Die weitgehende Monopolisierung der Rechtsordnung durch den Staat verlangt also ihre ganz besondere Würdigung und Erklärung gerade in einer sozialwissenschaftlichen Staatslehre. Soweit gesellschaftliches Leben rechtlich normiert wird, wird es diesen Normen, den Institutionen und Organen, die sie handhaben, aber auch den Eigengesetzlichkeiten des Rechtssystems und der Rechtswissenschaft überantwortet. Diese überantwortung kann jedoch nie eine völlige Auslieferung sein, nie ein völliges "Auferlegen" bedeuten, sondern immer nur ein relatives, dem gegenüber die anderen gesellschaftlichen Ordnungselemente und das tatsächliche Verhalten derMenschen dazu nie völlig unwirksam bleiben. Auch Rechtsanwendung und -auslegung, auch Rechtswissenschaft hat selbst einen gesellschaftlichen Standort\ ist - wie schon Montesquieu und Savigny festgestellt haben - selbst eine soziale Funktion und als solche Gegenstand der Staatslehre. Zu der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens, die Gegenstand der Wirklichkeitswissenschaft Staatslehre ist, gehört auch das Recht, und ZJWar grundsätzlich im ganzen und bei jedem Teilproblem der Staatslehre, das Recht als sozialer Wirkungsfaktor. Es handelt sich also bei dieser Staatslehre nicht um eine "Soziallehre" und eine "Rechtslehre" vom Staat, nicht um zwei Seiten derselben Sache, sondern um eine und dieselbe Sache von einer, nämlich der - umfassenden - sozialwissenschaftlichen Seite gesehen. Dabei kann allerdings die soziale Wirksamkeit des Rechts dadurch deutlich gemacht werden, daß versucht wird, festzustellen, wie sich soziale Verhältnisse ohne bestimmte Teile des rechtlichen Ordnungselements mutmaßlich gestaltet hätten oder gestalten würden; dieser Vorgang findet bei aller neuen Rechtsetzung oft nur instinktiv statt und hat sich bei der Aufhebung des Eherechts in der Sowjetunion und der nachfolgenden rechtlichen Normierung des hierauf eingetretenen gesellschaftlichen Zustands besonders deutlich abgespieW. Dies ist aber nur eine besondere überlegung, um festzustellen, wie rechtliche Ordnung das gesellschaftliche Leben organisieren, beschränken, z. T. auch auf neue Wege und evtl. sogar zu neuen Zielen führen, Entwicklungen abbremsen (z. B. durch Konzessionssystem für Presse, Aktiengesellschaften usw.) oder beschleunigen kann. Mit diesem Hinweis haben wir, ohne in diesem Versuch die eine Seite unseres Problems irgend erschöpfen zu wollen, bereits die Bedeutung sozialwissenschaftlicher Erwägungen und sozialer Tatsachen für die , Veränderungen dieses Standorts in der Entwicklung können unberücksichtigt bleiben, solange kein Anlaß besteht, in der konkreten gesellschaftlichen Lage, über und für die die Staatslehre handelt, auch nur Tendenzen zur Veränderung anzunehmen. S Rene König, Materialien zur Soziologie der Familie, Bern 1946, S. 132. Vgl. auch die besonderen schwedischen Maßnahmen, König, a.a.O., S. 165 ff.

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Rechtsetzung angedeutet. Aber auch die sonstige Rechtsbildung ohne Änderung des gesetzten Rechts - im Gerichts- und Verwaltungsgebrauch usw. - orientiert sich ständig an sozialen Tatsachen und Erwägungen darüber, die nur oft die wissenschaftliche Klarheit nicht erreichen. Ohne Berücksichtigung der sozialen Zusammenhänge, d. h. wenn sie "rein" juristisch bleiben wollen, werden Rechtsauslegung und -anwendung sehr oft und besonders in bedeutsamen Angelegenheiten, vor allem bei gesellschaftlicher Weiterentwicklung, zu nicht adäquaten Ergebnissen kommen. Die Rechtsordnung ist an zahlreichen Stellen mit dem gesellschaftlichen Leben und mit gesellschaftlichen Wertungen sogar ausdrücklich verzahnt. Dies gilt nicht nur für bekannte Begriffe, wie: wichtiger Kündigungsgrund, unbillige Härte, Treu und Glauben, Billigkeit, Unzumutbarkeit, Gerechtigkeit, kurz für alle Verweise auf herrschende gesellschaftliche Auffassungen, die ja keine abstrakten sind, sondern erst im konkreten Einzelfall gemäß seinem gesellschaftlichen Untergrund ihren realen Inhalt erhalten und entfalten. Es gilt ebenso für den Bedeutungswandel der Begriffe und der Normen auf Grund sozialer Wandlungen, auch solcher nichtgeistiger Art (z. B. beim Betriebsrisiko und bei der ganzen Entwicklung eines Arbeitsrechts). Es gilt ferner für jede Entscheidung vom gesellschaftlichen Ergebnis, d. h. von den Wirkungen auf gesellschaftliches Leben her, die nicht "unmöglich gewollt" sein können. Die Rechtsordnung ist also nicht nur Normierung eines gesellschaftlichen Substrats, das sie typisiert; sie bleibt auch nicht nur in ihrer Fortbildung diesem Substrat verhaftet, sondern sie orientiert sich auch zu jedem Zeitpunkt selbst inhaltlich an diesem Substrat; die Norm erhält ihre volle Bedeutung erst von dem sozialen Tatbestand her, auf den sie sich bezieht. Sie wird durch grundlegende gesellschaftliche Änderungen sogar ebenso grundlegend betroffen (Revolutionen). Für das Staatsrecht, seine Auslegung und Anwendung, ist die Abhängigkeit von gesellschaftlichen, von politischen Gegebenheiten besonders offenkundig und längst erkannt. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich auch der Geltungsgrund der Rechtsordnung selbst, so daß die Frage nach einem letzten rechtlichen Geltungsgrund alles Rechts, einschließlich der - real oder hypothetisch vorgestellten - "Grundnorm", sinnlos ist. Daß sich aus dieser Auffassung möglicherweise eine fruchtbare Fragestellung für eine sozialwissenschaftlich orientierte Rechtswissenschaft ergeben könnte, ist denkbar, soll hier aber nicht erörtert werden. Die Gefahr einer Soziologisierung der Rechtsdogmatik und Allgemeinen Rechtslehre braucht damit jedenfalls nicht verbunden zu sein. Ist Staatslehre Sozialwissenschaft und läßt sich diese Auffassung durchführen in sinnvoller Abgrenzung von (sozialwissenschaftlicher)

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Staatslehre und (juristischem) Staatsrecht, ohne daß sinnvolle Zusammenhänge auseinander gerissen werden oder das eine oder andere Gewalt erleidet, so muß für diese sozialwissenschaftliche Staatslehre auch die Methodik .gelten, die für die Sozialwissenschaften entwickelt und weiter zu entwickeln ist. Gilt somit für die Staatslehre auch die idealtypische Begriffsbildung der Sozialwissenschaft, so muß diese auch eine Ausgangsbedeutung für das auf solcher Staatslehre beruhende Staatsrecht und seine Begriffsbildung haben. Die idealtypische Begriffsbildung wird hier verstanden im Sinn Max Webers, der den "Typus" Georg Jellineks (in der 1. AufL seiner Allgemeinen Staatslehre aus dem Jahre 1900) fortgeführt hat (der oben zitierte Aufsatz ist erstmals 1904 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschienen), den Hans Freyer (a.a.O. S. 148 ff.) und Hermann Heller (Staatslehre, 1934, S. 61) weiterentwickelt haben, Hermann Heller vor allem in einem Hinübergreifen über die Begrenzung der idealtypischen Begriffsbildung bei Max Weber auf "Sinn"-Gebilde, sinnhaftes Verhalten usw. Auf die Bedeutung des Idealtypus für die Staatslehre haben schon Hermann Heller (a.a.O. S. 61 ff.) und Franz W. Jerusalem (a.a.O. S. 37 ff.) hingewiesen; auch Leibholz verwendet ihn (Das Wesen der Repräsentation, 1929 S. 142) gelegentlich unter Zuerkennung einer grundsätzlichen Bedeutung. Beispiele idealtypischer Begriffsbildung für die Staatslehre sind in der Literatur bereits expressis verbis behandelt; ich nenne nur folgende: Georg Jellinek (a.a.O. S.39) bezeichnet den Bundesstaatsbegriff und seine fortschreitende Klärung anhand der sozialen Realitäten (USA, Schweiz, Deutsches Reich) als idealtypisch. Im übrigen aUerdings trifft die Feststellung von Rudolf Smend zu, daß Georg Jellinek seine Typenlehre selbst kaum fruchtbar gemacht hat'. Franz W. Jerusalem (a.a.O. S. 69) leitet den Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Recht aus der verschiedenen sozialen Funktion beider Rechtsgebiete idealtypisch ab. Hans Kelsen (Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 327 ff.) bezeichnet Autokratie und Demokratie, Monarchie und Republik als Idealtypen, wenngleich nicht zu verkennen ist, daß ein "Idealtypus" im Rahmen einer rein normativ gedachten Staatslehre etwas anderes bedeuten muß als in der Sozialwissenschaft. Kelsen, der den Staat als Rechtsordnung versteht, stößt in dieser Hinsicht also auf besondere Schwierigkeiten, weil er einerseits "streng juristisch" (Vorrede zur "Allgemeinen Staatslehre") vorgehen und doch den Staat von Anfang an als "Objekt sozialwissenschaftlicher Betrachtung" begreifen, "Staatslehre als Soziologie" betreiben will (a.a.O. S. 3 f.). e Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S.l Anm.2. Die von Smend weiter vermißte strenge erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Typenlehre kann an dieser Stelle nicht untersucht werden; hierfür wird auf die erwähnten Darlegungen Max Webers usw. verwiesen.

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Aber auch das Begriffspaar Bundesstaat und Staatenbund ist ein Beispiel idealtypischer Begriffsbildung: Diese Begriffe werden auf bestimmte soziale Gebilde angewendet, die ohne Rücksicht auf rechtliche Folgen vorerst politisch gewollt, d. h. sozial gestaltet werden, um dann zunächst eine politische Interpretation 2U erfahren, die in der begrifflichen Bezeichnung des konkreten Gebildes ihren letzten Ausdruck findet 7 • Da dieser staatstheoretische Begriff zugleich auch ein Rechtsbegriff ist, d. h. in der Rechtswissenschaft eine bestimmte Verwendung findet, wird gewöhnlich durchaus erkannt, daß die politische Wirklichkeit u. U. diesen Rechtsbegriff nicht voll erfüllt, weil gewisse Einschläge des Gegenbegriffs, Übergangsformen oder Einsprengsel aus dem Gegenbegriff vorhanden sind; scheinbar "begriffswidrig" kennen auch Staatenbünde Aufsicht und Bundesexekution, also Intervention in innere Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten, gewähren seine Akte scheinbar "begriffswidrig" auch den einzelnen Angehörigen dieser Mitgliedstaaten unmittelbar Rechte und Pflichten u. a. m. Evtl. wird aus diesen Gründen eine eindeutige Bezeichnung überhaupt als unmöglich befunden oder ein Teil der Wissenschaft steht auf dem einen, ein anderer Teil auf dem anderen Standpunkt. Eine Erklärung findet diese begriffliche Unsicherheit jedoch erst dadurch, daß beide Begriffe als idealtypisch erkannt werden, d. h. als u. U. niemals rein verwirklicht, so daß in der sozialen Realität oft nur festgestellt werden kann, daß die Ansatzpunkte oder Tendenzen nach der einen begrifflichen Seite stärker sind als nach der anderen. Das Beispiel lehrt zugleich, daß dann, wenn die gesamte in Frage kommende soziale Wirklichkeit von einem Begriffspaar oder einer Begriffstrias voll erfaßt wird oder werden soll, so daß der eine Begriff zugleich den Gegenbegriff zu dem oder den anderen darstellt, regelmäßig eine idealtypische Begriffsbildung vorliegen wird, wie das bei den oben erwähnten Begriffspaaren Jerusalems und Kelsens bereits hervortritt. Die soziale Wirklichkeit läßt sich in solchen Gegensatzbegriffen eben nur erfassen, wenn diese als idealtypisch gesteigert verstanden werden. Ein weiteres Beispiel bildet die Gewaltenteilung im Sinn der Dreiteilungslehre, deren Vollständigkeit und Richtigkeit, auch was eine "Regierungsgewalt" als vierte Gewalt anbetrifft, hier nicht untersucht werden soll, von der also unterstellt wird, daß sie die Staatstätigkeit erschöpfend aufteile: Jede der drei Gewalten ist als soziale Funktion idealtypisch erfaßt. Sie wird nicht nur auf Grund der idealtypischen Funktion verstanden, sondern auch legitimiert, insbesondere die richterliche Funktion durch die idealtyische Bindung an das Gesetz. Deren 7 Charakteristisch Bismarcks (von Heinrich Triepel, Zur Vorgeschichte der Norddeutschen Bundesverfassung, in Festschr. f. otto Gierke, l!Hl, S.60l, mitgeteilte) Äußerungen über das Staatenbundsproblem aus seinen Putbuser Diktaten.

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Legitimierungskraft reicht so weit, daß sie auch die Stellen geringerer Bindung des Richters in der Regel mitträgt, so daß auch die aus freiem richterlichem Ermessen getroffene einzelne Entscheidung noch als durch die grundsätzliche, idealtypische Funktion des Richters, durch die auf sie zugeschnittene Organisation, prinzipielle Haltung des Richters 8 und verfahrensrechtliche Regelung getragen und damit legitimiert erscheint. Demgegenüber ist Verwaltung als Funktion, d. h. materiell verstanden, idealtypisch unmittelbare Verwirklichung gesellschaftlicher Zwecke, die durch die Rechtsordnung nicht unbedingt gesetzt, sondern z. T. nur zugelassen zu sein brauchen, allerdings eine Verwirklichung mit rechtlich mindestens zugelassenen, wenn nicht sogar gebotenen Mitteln und in evtl. rechtlich geregeltem Verfahren. Nicht die organisatorische Trennung, nicht die Unabhängigkeit des Richters und die Abhängigkeit des Verwaltungsbeamten von Weisungen führt also zur Teilung dieser beiden Formen der "Gesetzesvollziehung", wie Kelsen (Justiz und Verwaltung, 1929) angenommen hat, sondern die idealtypische Funktion begründet die organisatorische Trennung und verschiedene Gestaltung. Daß dabei für den Nur-Juristen systematisch unbefriedigende und jedenfalls nicht erklärliche, aLso störende "übergänge" stattfinden, nicht etwa nur durch Zuweisung einwandfreier "materieller" Verwaltung an die Gerichte und umgekehrt, sondern auch bei einer sozialwissenschaftlichen Würdigung gewisser einzelner richterlicher oder Verwaltungsgeschäfte, ist bekannt und findet eben durch die Erkenntnis des nur idealtypischen Charakters der Gewaltenteilungslehre seine Erklärung. Dies umso mehr, als auch bei diesem Beispiel jede Mindererfüllung des einen Idealtypus wegen der beanspruchten Vollständigkeit der Gewaltendreiteilung zwangsläufig eine Mehrerfüllung eines anderen Idealtypus darstellen muß. Hierher gehörtz. B., daß die Ehescheidung durch den Richter heute, sozialwissenschaftlich betrachtet, in der überzahl der Fälle nur der actus contrarius zur Eheschließung durch den Standesbeamten ist, nämlich Registrierung des übereinstimmenden Ehescheidungswillens und formale autoritative Verkündung der Ehescheidung'. Die Funktion der Rechtsetzung, die im materiellen Gesetzesbegriff eindeutig auf sozialwissenschaftlicher Grundlage erfaßt wird, wie übrige:ns auch der formelle Vorbehalt des Gesetzes nur sozialwissenschaftlich begründet werden kann, ist bisher schon regelmäßig sozialwissenschaftlich verstanden und erklärt worden, nicht zuletzt 8 übrigens ein evidentes Beispiel für die Sinneinheit zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Ordnungselementen im Sinn unserer früheren Ausführungen. 9 Daß auch rechtlich geordnete staatliche Verfahren, wie die Rechtsprechung, ihre soziale Bedeutung völlig wandeln können, zeigt u. a. die römische in iure cessio, bei der die richterliche "Entscheidung" des Prozesses sozialwissenschaftlich zur Registrierung der privaten Eigentumsübertragung, der Prozeß zum Scheinprozeß geworden ist.

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durch Anwendung sozialwissenschaftlichen Verstehens auf vergangene Geschichtsperioden. Sie erfährt durch Erörterung des Problems der Ermächtigungsgesetzgebung gerade jetzt eine Behandlung, die wiederum nur aus der neuesten sozialen Entwicklung verstanden und erklärt werden kann. Vor allem ist die Souveränität des Staats nach innen und außen nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch heute noch sozialwissenschaftlich zu verstehen und zu erklären. Dieser Begriff ist ein idealtypischer und damit ein in der Wirklichkeit u. U. nie rein gegebener. Carl Schmitt's Theorie von der Anwendbarkeit dieses Begriffs nur auf Fälle absoluter realer Souveränität bedeutet ein Mißverständnis eben dieser grundlegenden Tatsache. Kein Staat braucht wirklich in diesem Sinn absolut souverän zu sein und ist es wahrscheinlich heute. Hier liegt einfach ein rückwärts gewandter Blick auf die nationalstaatlich organisierten Weltmächte um 1914 vor und auf die damalige historische Situation sowie auf die Freiheit der Entscheidung über die ultima ratio, die diese Staaten damals in Anspruch nahmen und wohl auch praktizierten. In diesem Sinn ist diese Lehre wissenschaftlich reaktionär, verstanden ganz ohne Hinsicht auf ihren Inhalt und seine konkrete Bedeutung oder Wirksamkeit in der Zeit, in der sie vertreten wurde, und danach. Dabei liegt eine Verrechtlichung eines sozialwissenschaftlichen Begriffs vor, jedoch nicht verstanden als adäquate übernahme in die Rechtslehre, sondern als nur-juristische Auffassung eines sozialwissenschaftlichen Begriffs, wobei sein Charakter als Idealtypus verkannt wird. Richtig war es anzuerkennen, daß dieser sozialwissenschaftliche Begriff auch für die rechtliche Erfassung und das rechtliche Verständnis der Staaten bedeutsam geworden und in diesem Sinn verrechtlicht worden ist10 ; aber er durfte damit auch als Rechtsbegriff nicht seinen ursprünglichen Charakter verlieren, der darin besteht, etwas in voller Reinheit, d. h. eben: idealtypisch auszudrücken, was in der Wirklichkeit nicht rein gegeben zu sein braucht. Es wurde also bei Carl Schmitt aus 10 Georg Jellinek behandelt die Souveränität bemerkenswerter Weise unter der "Allgemeinen Rechtslehre des Staates", nicht unter der "Allgemeinen Soziallehre des Staates". Indessen knüpft auch der Rechtsbegriff "Souveränität" erst an die politische, d. h. soziale Funktion des souveränen Verbandes an; es handelt sich keineswegs nur um das rechtliche Übergeordnet-Sein und das rechtliche Niemand-über-Sich-Haben, sondern dieses ist nur aus der sozialen Funktion und Situation des souveränen Staates zu verstehen (vgl. hierzu Jerusalem, a.a.O. S. 219). Daß die Gebilde der politischen Wirklichkeit. deren Erfassung als Staaten - trotz Fortfalls ihrer Souveränität nach Errichtung der Bundesstaaten - die Lehre Georg Jellineks von der Ursprünglichkeit der Staatsgewalt als dem Wesensmerkmal dienen sollte, von Anfang an als rechtlich organisierte Gebilde in den Bundesstaat eingingen und daß dieser selbst von Anfang an ein rechtsgeordnetes Gebilde war, schließt den Charakter als primäres Gebilde der politischen, d. h. sozialen Wirklichkeit nicht aus; denn auch die rechtsgeordnete Wirklichkeit bleibt soziale Wirklichkeit und ist als solche primär sozialwissenschaftlich zu erfassen.

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dem Idealtypus ein "idealer Typus", er wurde zu einer Sollensnorm, während er ein Erkenntnismittel zur geistigen Bewältigung der Wirklichkeit ist. Er kann und soll zwar auch dazu dien€n, zu klären, ob er von einem konkreten Staat in der Wirklichkeit mehr oder minder erfüllt ist; aber eine Sollensnorm, und sei es nur die Forderung nach möglichst weitgehender Erfüllung, kann nicht hieraus begrifflich hergeleitet, sond€rn kann nur auf Grund einer wiss€nschaftlich nicht beweisbaren eigenen Wertentscheidung aufgestellt werden. Bei Carl Schmitt liegt diese Wertentscheidung eindeutig vor, und zwar anscheinend auf Grund der für ihn idealen Lage der Weltmächte um 1914 und ihrer relativen Aufrechterhaltung für einige Staaten nach dem ersten Weltkrieg. Ist die Souveränität auch heute noch die idealtypische richtige Wesenserfassung des Staats, so ergeben sich daraus Folgerungen für den Inhalt des Staatsbegriffs und für die heutige Wesenserklärung des Staats: Es muß dann der Souveränitätsbegriff von der sozialen Funktion des Staats, von seiner Besonderheit als gesellschaftlicher Verband hergeleitet werden. Das war auch eine Absicht von Carl Schmitt und ist im wesentlichen geleistet worden von Hermann Heller. Der Staat als politischer Verband erfüllt in der Gesellschaft die Funktion der höchsten Entscheidung, die notwendig eine Entscheidungseinheit (in gesellschaftlich relevanter Weise) sein muß, und der Behauptung dieser so gestalteten Gesellschaft, ihres Schutzes nach innen und außen. Das Verständnis der Souveränität erwächst nur aus der Einsicht in ihre Bedingtheit durch die jeweiligen sozialen Verhältnisse, Kräfte usw., ja es setzt solche Bedingtheit für einen Idealtypus geradezu begrifflich voraus; daß es auch realiter so ist, spricht für die Richtigkeit dieser Auffassung. Ist die Souveränität, als Idealtypus verstanden, auch heute der Wesensbegriff des Staats, so ist Georg Jellineks noch herrschende Lehre von der Ursprünglichkeit der Staatsgewalt als dem Wesensmerkmal des Staats nicht etwa falsch; sie beseitigt auch nicht die frühere Souveränitätslehre, sondern paßt sie an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse an. Sie ist eine Modifikation. Wenn sie den Idealtypus Souveränität nicht aufhebt, muß sie folglich selbst innerhalb des idealtypischen Charakters dieses Begriffs verbleiben, wenn unsere Ausführungen richtig sind. Sie verbleibt in der Tat in ihm, denn "Ursprünglichkeit der Staatsgewalt" bedeutet nichts anderes als die virtuelle Fähigkeit eines Gebildes, souverän zu werden, sobald der übergelagerte Verband, der diesem Gebilde die idealtypisch verstandene Souveränität derzeit " vorenthält", di€s nicht mehr tut. Wenn man den Begriff der Souveränität idealtypisch versteht, so wird er als Wesensmerkmal des Staats

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von Georg J ellinek nicht einmal selbst modifiziert, sondern es wird nur seine Anwendung eben als Idealtypus klargestellt. "Ursprüngliche Staatsgewalt" haben, bedeutet nichts anderes, als jederzeit bei Fortfall des derzeitigen Souveräns selbst nach innen und außen souverän werden zu können. In diesem Sinn hat Walter Jellinek (Verfassung und Verwaltung des Reichs und der Länder, 1926, S.21) im Grundsatz durchaus das richtige Anwendungsbeispiel für die Lehre seines Vaters entwickelt: Man denke sich den souveränen Gesamtstaat fort und frage, welche in ihm bisher befindlichen Gebilde nunmehr zur - idealtypisch verstandenen - Souveränität mehr oder minder von selbst erwachsen. Dabei handelt es sich um einen rein gedanklichen "Test"; denn in der Wirklichkeit können auch Verbände, die keine urspüngliche Staatsgewalt besitzen und nicht einmal so organisiert sind, daß sie zu staatlicher Willensbildung genügend disponiert wären, sich u. U. sehr rasch als Staaten organisieren und eigene Staatsgewalt begründen. Das zeigt das Beispiel einzelner preußischer Provinzen nach dem Zusammenbruch, das zeigen auch die von Georg Jellinek (a.a.O. S. 743 f.) aufgeführten Beispiele Kanada und Australien. Dann aber ist auch das Erwachsen in Souveränität hiermit in der Wirklichkeit u. U. uno actu verbunden. In der Wirklichkeit dürften sich also nach Fortfall des bisherigen souveränen Staats auch die höchsten Verwaltungsbezirke ohne Staatscharakter als nunmehr souveräne Staaten etablieren, weil sie immerhin Ansatzpunkte zu eigener Handlungsfähigkeit bieten. Es kommt also für die reale politische Entwicklung weniger auf die theoretische Unterscheidung als darauf an, ob der nichtsouveräne Verband oder Verbandsteil in seiner bisherigen Struktur genügend Ansatzpunkte zum Eintritt in die Souveränität besitzt. Auch das ist keine nur rechtliche, sondern eine auch in außerrechtlichen und deshalb nur sozialwissenschaftlich erfaßbaren Realitäten begründete Disposition. Bei dem Versuch, in einer ersten Skizze zu umreißen, wie Staatslehre als reine Sozialwissenschaft möglich ist und wie sich in sie das Recht, die Struktur und Funktion der Rechtsordnung, die Organisation der Rechtsauslegung und -anwendung mit allen ihren Eigengesetzlichkeiten einfügen, wie sich der Staat selbst in seiner rechtlichen Erfassung zum primär sozialwissenschaftlichen Staatsbegriff verhält, ergab sich, daß niemand anderes als Georg Jellinek diese Aufgabe bereits ebenso, wie hier geschehen, erfaßt hat. Ich spreche hier nicht von seiner Durchführung einer rein sozialwissenschaftlichen Staatslehre im einzelnen; denn es sind sehr verschiedene Meinungen darüber möglich, was im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Staatslehre zu berücksichtigen ist und was nicht, von denen die eine so berechtigt sein mag wie die andere; ich spreche nicht davon, wie weit es Georg Jellinek gelungen ist, eine einheitliche sozialwissenschaftliche Staatslehre im einzelnen überzeu7 Drath

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gend und fruchtbar durchzuführenl l . Ich spreche allein von Georg Jellineks grundsätzlicher Auffassung, nicht minder aber auch davon, daß diese bisher verkannt worden ist. Unter der überschrift "Der Staat als Rechtsbegriff" sagt Georg Jellinek (a.a.O. S. 163): "Die juristische Erkenntnis des Staates will daher nicht sein reales Wesen erfassen, sondern den Staat juristisch denkbar machen, d. h. einen Begriff auffinden, in dem alle rechtlichen Eigenschaften des Staates widerspruchslos zu denken sind. Die Erkenntnis des realen Daseins des Staates muß diesem Begriff des Staates zugrunde gelegt, darf ihm aber nicht gleichgestellt werden." Das bedeutet nichts anderes, als was wir oben gesagt haben: Die Erf.assung des "realen Wesens" des Staats ist nicht durch juristische Arbeit, sondern nur durch sozialwissenschaftliche möglich. Der so gewonnene sozialwissenschaftliche Staatsbegriff muß von dem juristischen als Ausgangsbegriff hingenommen und nur im juristisch-technischen Sinn systematisch eingeordnet, "denkbar gemacht" werden. Wenn Nawiasky (a.a.O. S. 153) Jellinek vorwirft, daß er mit diesem juristischen Staatsbegriff "die Beziehung auf den gesellschaftlichen Tatbestand mit voller Absicht abgelehnt" habe, so verkennt er, daß dieser juristische Staatsbegriff den sozialwissenschaftlichen in sich verarbeitet hat und durch ihn die Beziehung zu den gesellschaftlichen Realitäten voll aufrecht erhält. Hierfür spielt es nicht einmal eine Rolle, daß sogar die Definition des juristischen Staatsbegriffs bei Jellinek das noch erkennen läßt, sondern ist es allein ausschlaggebend, daß eben dieser juristische Begriff dem sozialwissenschaftlichen ausdrücklich "nicht gleichgestellt", sondern daß der letzte dem ersten "zugrunde gelegt" ist. Bei dieser Sachlage ist das Mißverständnis, als ob Georg Jellinek grundsätzlich eine dualistische Staatslehre, bestehend aus Soziallehre und Rechtslehre vom Staat, basierend auf je einem von dem anderen verschiedenen Staatsbegriff, vertreten habe, ist jeder Gedanke an eine "ZweiSeiten-Theorie" bei Jellinek (Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 2. Auf!. 1928, S. 114 ff. und Allgemeine Staatslehre S. 6 f. und 375) nicht gerechtfertigt. Mag Georg Jellinek durch einen Vergleich, auf den sich Kelsen m. E. allzu sehr stützt (Staatsbegriff S. 116), mag er auch durch eine Formulierung wie die von der "Doppelnatur des Staates" (a.a.O. S.50)12 und mag er durch manches 11 Vgl. hierzu die Kritik von Smend (Fn.6) und unsere Bemerkungen über den Standort von Georg Jellineks Souveränitätslehre in der Allgemeinen Rechts- und nicht in der Allgemeinen Soziallehre vom Staat. 12 Dieses Wort gebraucht Jellinek unter der überschrift "Die juristische Methode in der Staatslehre" zur Klarstellung der Methode des Staatsrechts. In diesem Zusammenhang konnte der Hinwies darauf, daß der Staat sich nicht im Recht erschöpfe, sondern - sogar primär - Sozialgebilde sei, grundsätzlich nur angebracht sein. Die überscharfe Formulierung dieses Sachverhalts dient bei Georg Jellinek aber unmittelbar der Begründung der

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andere (z. B. durch die Behandlung der Souveränität in der Staatsrechtslehre) selbst Ansatzpunkte zu solch~r Mißdeutung geg~ben haben, so hat er doch grundsätzlich keine dualistische, sondern eine monistische, eine sozialwissenschaftliche Staatslehre im Sinn der hier vertretenen Auffassung im Auge gehabt und durchführen wollen. Erscheint so die Lehre von der "Doppelnatur" des Staats und die ihr entsprechende Zweiteilung der Staatslehre in Soziallehre und Rechtslehre vom Staat als unnötig und . mißleitend, so gilt das erste auch von der durch Hans Nawiasky (a.a.O. S. 2 ff. und passim) vertretenen Auffassung von der Dreiteilung der Staatslehre in Soziallehre, Rechtslehre und Ideenlehre vom Staat, der bei ihm ein dritter, der "ideologische" Staatsbegriff entspricht, auf den sich seine Ideenlehre bezieht. Auch die sozialen, sittlichen oder religiösen Vorstellungen, Normen und Wertungen jeder Art sind soziale, nämlich geistige Realitäten und als solche soziale Wirkungsfaktoren. Auch ihr Hineinwirken in die Rechtsordnung und deren Modifikation hierdurch ist ein sozialer Vorgang, der grundsätzlich sozialwissenschaftlicher Betrachtung unterliegt, während der materielle Inhalt solcher Wirkungen im einzelnen rechtswissenschaftlich durch Rechtsauslegung und -anwendung oder im übrigen rechtssoziologisch ermittelt wird. Sinn und Idee werden also von einer Staatslehre als Sozialwissenschaft keineswegs ausgeklammert, im Gegenteil. Nawiaskys Dreiteilung der Staatslehre wird als Teilung nicht benötigt, ohne daß der Anteil der Ideen für die soziale Staatslehre deshalb verlorenginge. Es handelt sich beim Vorstehend~n nicht nur um einen Versuch, Gebiet und Methode d~r Staatslehre als Sozialwissenschaft zu skizzieren, vor allem in der Abgrenzung von der Staatsrechtslehre und sonstigen Rechtswissenschaft, sondern auch um den erneuten Versuch, hinter den Rechtsbegriffen die soziale Wirklichkeit und ihre großenteils nur idealtypisch-begriffliche Erfaßbarkeit sichtbar zu machen und die hierdurch bedingte mehr oder minder weitgehende Basierung rechtswissenschaftlicher Begriffsbildung auf der idealtypischen sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung zu erklären. Damit wird auch für die Rechtsauslegung und -anwendung die oft wohl mit schlechtem Gewissen stattfindende, evtl. sogar unbewußte oder verleugnete Anlehnung an sozialwissenschaftliche Begriffe, der Blick: auf die sozialen Verhältnisse, Wirkungen usw. als berechtigt, ja als notwendig erkannt; es wird nicht entschuldigt eine vermeintliche Freiheit vor allem des Richters von absoluter BinAusschließlichkeit der juristischen Methode für das Staatsrecht (a.a.O. S. 50 f.: "Für das Staatsrecht gilt aber nur die juristische Methode"). Hiermit sowie mit der etwaigen Gründung einer These von der "Doppelnatur" des Staats auf die Antithese Macht - Recht (Kelsen, Staatslehre S. 6) können wir uns an dieser Stelle nicht eingehender auseinandersetzen. 7*

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dung an die nur juristisch erfaßte Nonn mit deren Unzulänglichkeiten und mit einer dadurch bedingten tatsächlichen Notwendigkeit, die Unbestimmtheiten einer so verstandenen Nonn zu ergänzen durch einen Blick auf in der Gesellschaft vorgegebene Tatsachen oder Verhältnisse, sondern es wird die Unmöglichkeit, Rechtsauslegung und -anwendung mit ausschließlich juristischen Methoden zu treiben, auch als wissenschaftlich erfordert begründet, nämlich aus der Sinneinheit, in der das rechtliche Ordnungselement mit den anderen Ordnungselementen steht, und aus dem Sinnzusammenhang zwischen dieser Gesamtordnung und der sozialen Wirklichkeit, auf die diese Gesamtordnung sich bezieht. Auch für diesen Versuch gilt aber, wie niemand mehr als dem Verfasser bewußt sein kann, was Rudolf Smend am Ende des Vorworts zu seiner Schrift "Verfassung und Verfassungsrecht" sagt: "Das Ganze kann zunächst in vieler Hinsicht mehr nur eine Skizze, ein Arbeitsprogramm sein".

Staatstheorie oder politische Philosophie?* Wir besitzen keine umfassende Theorie des modernen Staates nach dem heutigen Stand der Probleme und des Wissens. Schon seit Jahrzehnten ist die Rede von einer Krise der deutschen "allgemeinen Staatslehre"; sie beruht nicht nur auf dem unerledigten Streit mit der "reinen Rechtslehre" über Zuständigkeiten und Zusammenhänge wissenschaftlicher Disziplinen und damit auch über die Methodenfrage, sondern mehr noch auf einer Stagnation in der Sache selbst. Das Wiedererwachen der "politischen Wissenschaft" in Deutschland hat hieran wenig geändert, weil diese Disziplin über Machtprobleme und andere Einzelheiten oder Aspekte hinaus noch nicht zu einer umfassenden Theorie des Ganzen des Staates gelangt ist, ohne die sie aber selbst am Ende ihre Teilprobleme kaum befriedigend erforschbar finden wird. Schon erhebt sich aber die Forderung nach einer "politischen Philosophie"; diese wird zunächst mehr grundsätzlich als eine Notwendigkeit empfunden, ihre Durchführung zeichnet sich noch wenig ab; doch wird offenbar erwartet, damit könne eine Mangellage behoben, könnten vielleicht sogar der Staatstheorie ihre Probleme gestellt werden. Insgesamt zeigt sich, daß die traditionellen Ansätze der Staatstheorie kaum weiter verfolgt werden, daß neue Ansätze der politischen Wissenschaft den Staat als Ganzes bisher aussparen und daß neueste Ansätze bei einer politischen Philosophie gesucht werden. Man mag diese Lage als eine solche der Orientierungslosigkeit beklagen - sinnvoller ist es, fruchtbare Möglichkeiten zu suchen, die in ihr liegen.

I. 1. Das Wort "Staat" ist bei uns jedem geläufig, jeder besitzt also Vorstellungen vom Staate. Doch fällt es jedem schwer, sie zusammenfassend zu formulieren. Schon die bloße Frage, was dieser vielberedete Staat, von dem so viel einzelnes so bestimmt erwartet, an dem so viel einzelnes festgestellt oder beurteilt wird, als Ganzes "sei", weckt Verwunderung, und die Antwort lautet oft, daß man sie sich bisher selbst noch nicht vorgelegt habe; man hilft sich mit Umschreibungen, mit Beispielen aus allbekannter Wirksamkeit des Staates, mit Benennung von

* Die Philosophie und die Wissenschaften. Simon Moser zum 65. Geburtstag. Meisenheim am Glan 1966, S. 287-300.

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Organen und ihren Aufgaben zur Veranschaulichung usw. Die deutliche Verlegenheit in der Sache steht in bemerkenswertem Gegensatz zu der Selbstverständlichkeit und Häufigkeit, mit der wir alle das Wort "Staat" gebrauchen und uns damit in der Regel auch zu verständigen vermögen. Aber selbst die Fachleute, die Theoretiker des Staates, sind vorsichtig in abstrakten Aussagen darüber, was der Staat selbst "sei". Auch ihnen scheint - ähnlich wie den Männern der politischen Wissenschaft - die Auskunft über das "Wesen" des Staates nicht gerade fundamental zu sein für Auskünfte über seine Einzelheiten, z. B. über seine vielseitigen Wirksamkeiten, seinen Wandel, seine Organisation usw. Das liegt nun schwerlich an grundsätzlicher Zurückhaltung gegenüber "Wesens"-Erkenntnissen und -Aussagen, die ja wegen ihrer philosophischen und erkenntnistheoretischen Implikationen grundsätzlich umstritten sind. Wir sehen davon ab, wie weit diese Problematik heute schon allgemein in den Wissenschaften, auch in der Staatstheorie bekannt ist; jedenfalls halten die Staatstheoretiker "Wesens"-Definitionen an sich für möglich und sogar für erstrebenswert. Traditionsgemäß wird bei uns die "allgemeine Staatslehre" von Juristen betrieben, die bei ihrer juristischen Arbeit ständig Definitionen brauchen und deshalb geradezu ex officio als ein wichtiges Ziel aller wissenschaftlichen Arbeit ansehen, auch dort, wo es sich nicht um rechtlich gesetzte, also normativ bestimmte Begriffe, sondern um Erkenntnisbegriffe handelt. Müssen Juristen den Staat auch für die Rechtsordnung denkbar machen, so zwingt sich ihnen eine Definition des Staates geradezu auf und können politische Herrschaftsformen, die ihr nicht entsprechen, höchstens aus praktischen Gründen und vermittels einer Rechtsfiktion - etwa im Völkerrecht - den von der Rechtsdefinition erfaßten Staaten gleichgestellt werden. Deshalb werden auch ohne jene grundsätzlichen Bedenken ältere "Wesens"-Definitionen des Staates erörtert, beispielsweise die bekanntesten, die von Georg Jellinek stammen; wenn man sie selbst verwendet, so bestehen Einwendungen allenfalls gegen ihren Inhalt, nicht aber gegen ihre philosophische und erkenntnistheoretische Möglichkeit. Die Schwierigkeiten bei der präzisen Formulierung dessen, was der Staat "sei", scheinen also nur in der konkreten Aufgabe zu liegen, das "Wesen" gerade des Staates richtig zu erfassen, also im Objekte der Staatstheorie selbst. 2. Im formalen Aufbau von "Wesens"-Definitionen dient regelmäßig ein Substantiv als Oberbegriff, während ein Adjektiv oder an seiner Stelle eine Apposition, auch ein Relativsatz, die differentia specifica angibt. Jellinek hat entsprechend seiner Auffassung vom Methodendualismus bei der Erkenntnis des Staates zwei solche Definitionen aufgestellt, eine sozial- und eine rechtswissenschaftliche, die bis auf die

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beiderseitigen Oberbegriffe wörtlich übereinstimmen und als inhaltlich kongruent angesehen werden müssen. Die erste lautet, der Staat sei "die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen", die zweite, er sei "die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Körperschaft seßhafter Menschen". Hier ist die "Verbandseinheit" oder die "Körperschaft" seßhafter Menschen der Oberbegriff, ist die "Ausgerüstetheit" mit ursprünglicher Herrscherrnacht die Eigenschaft, die differentia specifica des Staates im Vergleiche zu den anderen Verbandseinheiten oder Körperschaften. Selbstverständlich sind alle Definitionen mehr oder minder zusammengedrängte Kurzformein, die in einem breiten wissenschaftlichen Kontext stehen, auf den sie verweisen und aus dem sie u. U. Wort für Wort erst verständlich werden. So steht es jedenfalls bei den bei den Definitionen Jellineks. Das ist ohne weiteres verständlich bei seiner rechtswissenschaftlichen Definition, denn diese soll den Staat in den ganzen Komplex abstrakter Normen hineinstellen, der die modernen Rechtsordnungen ausmacht und von dem die dogmatische Rechtswissenschaft handeJt1; sie muß hierauf verweisen und sich in dieser Verweisung geradezu erschöpfen. Nicht so die sozialwissenschaftliche Definition! Hier geht es Jellinek gerade um die soziale Wirklichkeit des Staates. Hier läge es also nahe, den Wirklichkeitsgehalt der definitorischen Aussagen durchgängig ebenso stark zum Ausdruck zu bringen wie bei der plastischen Formulierung von den "seßhaften Menschen"; weshalb dann die Blässe im übrigen, die von jener für Jellinek wichtigen sozialen Wirklichkeit geradezu ablenkt? Da Jellinek einen Methodendualismus für die Erkenntnisse des Staates vertrat, mußte er mit den beiden Methoden zu einander entsprechenden Ergebnissen kommen; der Staat mußte sich - wenn es "Wesens"-Erkenntnis gibt - für die sozialwissenschaftliche Theorie als genau dasselbe Objekt erweisen wie für die rechtswissenschaftliche. Daß das der Fall sei, konnte kaum glücklicher erkennbar werden, als indem die beiden Definitionen wörtlich übereinstimmten abgesehen nur von dem beiderseitigen Oberbegriff, der (sozialwissenschaftlichen) "Verbandseinheit" einerseits, der (juristischen) "Körperschaft" andererseits. Stand aus sachlichen Gründen fest, daß die rechtswissenschaftliche Definition nur in Gestalt einer Verweisung formuliert werden kann, so mußte Jellinek aus praktischen Gründen in Konsequenz seines Methodendualismus die "gleiche" Gestalt auch für die sozialwissenschaftliche Definition wählen. 1 Ich sehe davon ab, daß diese Definition Jellineks auch für ältere politische Herrschaftsformen gelten soll, die unsere heutige abstrakte Rechtsordnung noch nicht kannten, daß sie also insoweit inhaltlich angezweifelt werden kann; das würde z. B. die Zulässigkeit des Rechtsbegriffes "Körperschaft" für jene älteren politischen Herrschaftsformen betreffen.

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Bei dieser aber sprachen alle Gründe, die in der sozialwissenschaftlichen Seite der Sache selbst liegen, für das Gegenteil; Jellineks Absicht, die Wirklichkeit des sozialen Lebens zu erfassen, konnte deshalb in dieser Definition nicht mehr zum Ausdruck kommen. Diese Wirklichkeit besitzt von Hause aus keinerlei Abstraktheit, sondern ist umgekehrt immer ein konkretes Leben konkreter Menschen, bestehend aus einer Fülle von Akten menschlichen Verhaltens, hat "Geschichtlichkeit" nicht nur in den verschiedenen Staaten, sondern in jedem einzelnen Augenblick und in jeder einzelnen Lage, in der ein Mensch handelt. Von solchem sozialen Leben müssen erst einmal auf Grund eines erkenntnistheoretisch komplizierten Prozesses der Analyse, der Selektion und der Synthese abstrakte Aussagen gemacht werden. Diese haben als Aussagen der Erkenntnis von Vorgängen der Wirklichkeit gänzlich andere Struktur als Aussagen, die im Rahmen eines normativen Systems für abstrakte Sollensnormen abstrakte Tatbestände definieren. Werden jene Aussagen dann in einer Definition zusammeng,efaßt, so ist diese nicht nur durch einen höheren Grad der Abstraktion von ihrem ursprünglichen Objekte getrennt, sondern durch jenen vorgeschalteten besonderen, ganz andersartigen "Abstraktions"-Vorgang erst vermittelt. Wird das in der Formulierung der Definition unterdrückt, so ist diese ohne sachlichen Grund ihrer Aufhellung aus dem Kontext der dazugehörigen Theorie in ganz anderer Weise bedürftig als die rechtswissenschaftliche Definition. 3. Dann aber fragt sich um so mehr: Die übereinstimmung des Ergebnisses der beiden Theorien in den beiderseitigen Definitionen ist nur dann echt, wenn die Verweisungen auf die beiderseitigen Kontexte, die sozialwissenschaftliche Theorie einerseits, die rechtswissenschaftliche andererseits, echt sind. Sie können es nur dann sein, wenn diese beiderseitigen Kontexte selbst einander voll entsprechen. Ob das in Jellineks Lehre der Fall ist, wird damit zum eigentlichen Problem seines MethodenduaZismus selbst. Man würde Jellinek nicht gerecht, wenn man suchen wollte, ob auch nur bei den wichtigsten Punkten seines Werkes (z. B. bei seiner Souveränitätslehre) die sozialwissenschaftliche Theorie einerseits, die rechtswissenschaftliche anderereits einander durchgehend entsprechen; denn das hieße, die allseitige vollkommene Abrundung verlangen. Wichtiger ist die grundsätzliche Frage, wie sich das in einer Fülle einzelner Akte menschlichen Verhaltens bestehende "soziale Leben" und das abstrakte "Recht" zueinander verhalten. Die Frage wäre selbst vereinfacht, wenn man sich mit dem dem Juristen in der Regel genügenden Hinweis begnügen wollte, daß alles konkrete Verhalten "abstrakten Normen unterworfen" sei. Denn abgesehen davon, daß dies gerade der Erklärung be-dürfte, fragt sich, ob wirklich das "soziale Leben"in dieser Weise von

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der abstrakten Rechtsordnung nur "eingefangen" wird, ob nicht vielleicht sogar umgekehrt die rechtliche Organisation, soweit sie "effektiv" ist, und das soziale Leben in seinen Lebensformen eine Einheit sind, weil etwa dieses Leben in der Realität von vornherein rechtlich konstituiert, nur als ein rechtlich konstituiertes überhaupt real "ist", so daß wir die Trennung von Sein und Sollen, die wir um der anderen Struktur der Seins- und der Sollenssätze willen vornehmen, in der Realität des sozialen Lebens nicht wiederfänden. Jellineks beide Definitionen deuten über dieses reale Verhältnis von "sozialem Leben" und "Recht" kaum etwas an. Wir wollen hier jedoch nicht näher fragen, welche Auffassung Jellinek selbst in seiner Theorie explizit oder implizit vertritt. Denn jedenfalls zeigt das Verhältnis der beiden Definitionen zueinander, zu dem uns die Frage nach der Ursache jener Blässe der sozialwissenschaftlichen Definition geführt hat, daß sich hinter diesem Verhältnis bedeutende staatstheoretische Probleme verbergen. Sie können ihrerseits nur mit sozialwissenschaftlichen Methoden erforscht werden, weil die Rechtsordnung selbst ein soziales Phänomen darstellt; hingegen ist das Verhältnis von sozialem Leben und Recht mit rechtswissenschaftlicher Methode - es sei denn wieder mit rechtssoziologischer - nicht erfaßbar, wie es "ist", sondern nur wie es rechtsnormativ sein soll und wie es als einem solchen Sollen zugänglich selbstverständlich vorausgesetzt wird. Die Frage aber, ob diese Voraussetzung stimmt und wie das soziale Leben also beschaffen ist, daß es solche Zugänglichkeit für das rechtliche Sollen "besitzt", wäre für die nichtsoziologische Rechtswissenschaft in jener ebenso selbstverständlich gemachten wie für diese Disziplin selbst dunklen Prämisse ausgeklammert und wäre allein sozialwissenschaftlich erforschbar . Die Blässe der sozialwissenschaftlichen Definition Jellineks wird damit erst recht auffällig, weil gerade diese Definition und der sozialwissenschaftliche Kontext, auf den sie verweist, die praktische Möglichkeit von Rechtsordnung, d. h. den Sinn ihrer Existenz, überhaupt erst begründen müßte. Die Sozialwissenschaften hätten damit selbst eine fundamentale Voraussetzung für die Existenz von Rechtsnormativität und auch von Rechtsdogmatik als einer sinnvollen wissenschaftlichen Disziplin zu erforschen. Trifft das zu, so wäre der Methodendualismus Jellineks selbst problematisch, weil der "Soziallehre vom Staate" ein übergewicht über die "Rechtslehre vom Staate" zukommt. Denn es liegt ersichtlich sogar im Interesse mindestens einer rechtsdogmatischen allgemeinen Rechtstheorie, daß auf die Kontexte dieser sozialwissenschaftlichen Definition - gleichgültig ob bei Jellinek selbst ausgeführt oder impliziert - weiter eingegangen, daß das "soziale

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Leben" gründlich geklärt wird, weil sich nur so die Möglichkeit von "Recht" im sozialen Leben überhaupt begründen läßt. 4. Hier istzunäcnst die Herrschermacht des Staates bemerkenswert. Sie wird von Jellinek formuliert als eine abstrakte Potenz des Staates, als eine bloße Wirkungsmächtigkeit. Diese Herrschermacht hat oder besitzt der Staat nicht einfach, sondern er ist nach Jellineks Definition mit ihr "ausgerüstet"; ihr liegt also ein Vorgang der Ausrüstung zugrunde, der nur in Akten von Menschen bestehen kann. So verweist uns die scheinbare Eigenschaft des Subjektes Staat, diese Herrschermacht zu besitzen, durch das Wort "ausgerüstet" in Jellineks Definition auf Vorgänge, d. h. auf Akte ganz anderer Subjekte, die er in seiner Theorie auch ausdrücklich ausführt. Damit werden diese Subjekte und wird der Vorgang der Ausrüstung, werden seine Voraussetzungen und wird sein "Sinn und Zweck" zum Problem. Wir gehen hier nur dem letzten weiter nach, kommen aber später (s. unter 7.) auf den Vorgang und die Subjekte der Ausrüstung zurück. Der Sinn und Zweck dieser Ausrüstung erschöpft sich nicht darin, daß der Staat jene abstrakte Eigenschaft nur hat, und also in etwas Statischem, sondern muß dahin gehen, daß ,er von ihr Gebrauch macht; nicht auf seine Wirkungsmächtigkeit - also seine bloßen Möglichkeiten -, sondern auf die real von ihm geschaffenen und zu schaffenden Wirkungen kommt es auch für Jellinek an. Diese Wirkungen liegen im Zusammenleben der "seßhaften Menschen" selbst als einer "Verbandseinheit" ; sie zielen ab auf dieses Leben, sie sollen seinen Gegebenheiten und seinen einer solchen Einwirkung zugänglichen oder bedürftigen Problemen genügen, und sie können das nur, wenn sie ständig ausgeübt werden, jeweils in dem Maße, das dieses Leben selbst "ergibt" - darin liegt der Sinn und Zweck jener Ausrüstung. Die blasse Formulierung Jellineks, in der der Besitz der Herrschermacht beinahe statisch als Eigenschaft des Staates aufzutreten scheint, verweist also auf diesen sozialwissenschaftlichen Kontext, offenbart uns damit das "Wesen" des Staates, wie es Jellinek erkennt: ein realer Wirkungsfaktor im Zusammenleben zu sein, in diesem eine ständige aktive Funktion auszuüben. So tritt neben den Vorgang der Ausrüstung des Staates mit Herrschermacht und seine Problematik der weitere Vorgang der ständigen realen Ausübung dieser Herrschermacht im Zusammenleben der Menschen als ein nicht minder wichtiges Problem der Staatstheorie, auf das die sozialwissenschaftliche "Wesens"-Definition Jellineks uns verweist, obwohl sie selbst es eher verdeckt als aufdeckt. 5. Damit wird nun auch verständlich, daß wir in der Staatstheorie wie in der politischen Wissenschaft seit längerem zahlreichen Unter-

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suchungen gerade über Probleme der realen Wirksamkeit des Staates, über deren Organisation und Wirksamkeitsbedingungen, ihre Beeinflussungen, ihr Zustandekommen usw. begegnen. Wenn in ihnen Definitionen und Aussagen über das "Wesen" des Staates als eines Ganzen, wie die Jellineks, kaum eine Rolle spielen, so dürfte das gerade auf der festgestellten geringen unmittelbaren Aussagekraft über das Ganze des sozialen Lebens der Verbandseinheit Staat beruhen, die zu der Annahme führt, daß daraus für die Lösung jener konkreten Probleme nicht viel zu gewinnen sei, also auf der Annahme ihres nur geringen heuristischen Wertes. Daß wir in jenen Disziplinen aber auch kaum mehr umfassende Theorien über das "Wesen" des Staates als eines Wirkungsfaktors im menschlichen Zusammenleben finden, daß dieses "Wesen" vielmehr meistens stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt wird, ist damit noch nicht erklärt (s. unter 8 a. E.). Die Frage, ob auf diese Weise eine volle Erkenntnis von Einzelheiten der staatlichen Wirksamkeit überhaupt gewonnen werden kann, weil das scheinbar Selbstverständliche doch der Klärung und Präzisierung bedürftig sein könnte, bleibt offen. Erst recht bleibt offen, ob von einem "Wesen" des Staates überhaupt gesprochen werden kann, das darin bestünde, eine bestimmte Funktion im sozialen Leben zu "haben", ob es sich nicht vielmehr darum handelt, daß wir einen relativ selbständigen, d. h. abgrenzbaren und relativ folgerichtigen Ablauf konkreten Verhaltens von Menschen wahrnehmen, von den einzelnen Verhaltensakten abstrahierend also zu einem gedachten, fest abgegrenzten und organisierten Sonderverhalten gelangen, dem wir eine mit dieser seiner Organisation mehr oder minder rational intendierte objektive Funktion zuschreiben, und daß wir diese dann "dem Staate" als einem gedachten objektiven Träger dieser Funktion zurechnen. 6. Gegen die Aussagekraft der sozialwissenschaftlichen "Wesens"Definition Jellineks erhebt sich ein weiteres Bedenken, das nicht mehr die differentia specifica des Staates - seine Ausgerüstetheit mit ursprünglicher Herrschermacllt -, sondern den Oberbegriff betrifft, die "Verbandseinheit", unter den der Staat gebracht wird. Was ist eine " Verbandseinheit"? Diese Einheiten sind Einheiten von Menschen und schon seit prähistorischen Zeiten der Urfamilien oder Urhorden nicht von Natur, sondern selbst nur noch historisch-sozial begründet. Ihre Existenz kann nicht unkritisch als etwas ein für allemal Gegebenes betrachtet werden, sondern bedarf selbst der Erklärung. Dabei zeigt sich zunächst, daß sie eine "Einheit" nur sein können, wenn und soweit diese von Menschen im historischen und sozialen Prozeß bewirkt ist.

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Nun handelt es sich bei dieser Einheit nicht um eine bloße Summe der seßhaften Menschen, sondern um eine mehr oder minder weitgehende Einheit ihres tatsächlichen Lebensvollzuges, also ihres realen Verhaltens, um eine Akt-Einheit besonderer Art. Damit erhebt sich die Frage nach den Wirkungsbedingungen und den Motivationen, die diese Akt-Einheit des Verhaltens der Menschen schaffen. Auch hier stehen also hinter den vordergründigen einfachen "Gegebenheiten" in Wahrheit komplexe Vorgänge. Die nächste Frage richtet sich dann auf deren Wirkungskraft oder -dauer: Haben die Vorgänge, d. h. die Akte von Menschen, um die es sich hier handelt, ein für allemal die Verbandseinheit begründet, wie wir es in der Geschichte von den "Staatengründungen" erfahren? Muß sie nicht vom Verhalten der Menschen ständig reproduziert werden? Auch hier steht ständige Aktion hinter der scheinbaren Statik einer Gegebenheit, die die "Wesens"-Definition Jellineks auszudrücken scheint. Wie aber ist dann das Verhältnis aller "Staatengründungen" zu diesem ständig erforderlichen Reproduktionsprozeß im Akt-Verhalten der von jenen "Gründungen" - auch in späteren Generationen noch - Betroffenen zu erklären? Werden damit nicht schon die Staatsgründungen selbst als komplexe Vorgänge erkennbar, die nur bei Zuhilfenahme sozialwissenschaftlicher Forschung geklärt werden können, keinesfalls aber durch eine den relativ straffen und formalisierten Gründungsakten der Neuzeit entnommene Vorstellung von Politik allein bereits erklärt werden? Wenn wir die Frage nach dem Verhältnis von Staatsgründung und -reproduktion nicht als "bloße Machtfrage" selbst simplifizieren wollen, so müssen wir wohl feststellen: Die im einmal bestehenden (uns hier primär interessierenden) Staate verbundenen Menschen sind ersichtlich als vom "Bestehen" des Staates Betroffene passiv und als dieses "Bestehen" Reproduzierende zugleich aktiv. Das ist dann kein Widerspruch in sich selbst, wenn wir erkennen: Alles Verhalten von Menschen ist ein Verhalten in gegebenen Lagen, die bestimmte Erwartungen bei bestimmten Verhalten möglich machen oder fördern, andere hemmen oder ausschließen; zu den "Lagen" gehört vor allem die bisherige geschichtlich gewordene Existenz des konkreten Staates selbst und seine reale Wirksamkeit. Indem die Menschen hierzu sich verhalten, können sie zugleich vom Staat passiv Betroffene und ihn aktiv Reproduzierende sein. Wieder stoßen wir auf ebenso tiefe wie umfassende, der sozialwissenschaftlichen Analyse bedürftige Probleme, denn auch das Wort vom plebiscite de tous les jours ist keine Antwort, sondern muß "hinterfragt" werden. 7. Damit wird der zuvor (s. unter 4.) behandelte Vorgang der Ausrüstung mit Herrschermacht auch als ein ständiger Vorgang erkenn-

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bar: Die Ausrüstung ist in der Gründung wie in der ständigen Reproduktion der Verbandseinheit als einer mit jener Herrschermacht ausgerüsteten Einheit selbst beschlossen. Es sind dieselben Wirkungsbedingungen und Motivationen, sogar dieselben konkreten Akte des Verhaltens, die die Einheit des Verbandes ständig neu reproduzieren und uno actu mit jener Herrschermacht ständig neu ausrüsten, d. h. die die ständigen "Herrschaftsakte" des Staates ständig erst zu herrschaftlichen werden lassen: oboedientia facit imperantem. Die oboedientia liegt im ständigen realen Verhalten der Menschen zu den Herrschaftsakten selbst, so verschieden es auch im übrigen in den verschiedenen Lagen ist, auf die jene Herrschaftsakte des verschiedensten Inhalts sich beziehen. Noch indem wir die Wirksamkeit des Staates in alle unsere Erwartungen als Bedingungen unseres eigenen Verhaltens wie dessen aller unserer Partner als eine schlichte Gegebenheit einbeziehen, nehmen wir teil an seiner Reproduktion. Unser gesamtes soziales Verhalten konstituiert in der modernen Gesellschaft eine mehr oder minder weitgehend vermittelte Einheit des unmittelbaren Lebensvollzuges aller am sozialen Leben beteiligten Menschen; und immer gehören zu den gegebenen Lagen, in denen wir uns verhalten, auch die bisherige Existenz und die ständigen Herrschaftsakte des Staates selbst; denn kein Akt unseres realen Lebensvollzugs ist möglich, an dem nicht die bisherige Existenz und Wirksamkeit des Staates die Ausgangslage, die künftige Existenz und Wirksamkeit des Staates die Erwartungslage mitbestimmte. Der bloße Vollzug unseres sozialen Lebens durch die Akte unseres sozialen Verhaltens ist selbst schon die Reproduktion der Verbandseinheit als einer mit Herrschermacht ausgerüsteten.

In einem logischen Sinn muß zwar die Begründung der Verbandseinheit ihrer Ausrüstung mit jener Herrschermacht und muß diese der Wirksamkeit dieser herrschaftsmächtigen Verbandseinheit im Zusammenleben der Menschen voraufgehen. Inwiefern dieser logischen Abfolge auch die langdauemde historische Ausprägung des Staates und die späteren Akte formeller, organisierter Staatsgründungen entsprachen, kann hier unerörtert bleiben, da es uns auf den bestehenden Staat ankommt. In diesem ist es gerade die Wirksamkeit des Staates durch seine Herrschaftsakte seLbst, die in agendo erst die Reproduktion der Verbandseinheit als Akteinheit der verbundenen Menschen ständig neu in Gang bringt und damit uno actu auch die ebenso ständige Reproduktion ihrer Ausrüstung mit Herrschermacht; in jedem einzelnen Herrschaftsakt liegt also ein Versuch von Herrschaftsausübung, in dem Gelingen ein Akt der Ausrüstung. Aber dieses Gelingen hängt real nicht von einer abstrakt-freien Entscheidung der Menschen ab, sondern von ihrer freien Entscheidung in der jeweils gegebenen

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Lage, also von der Bedeutung, die die Bedingungskomplexe (die "Lagen" immer darstellen) für sie und ihre Motivationen haben. Zu diesen Komplexen gehört stets auch die Existenz und die generelle Wirksamkeit des Staates sowie die konkrete Wirksamkeit, um die es sich im Einzelfall handelt, also die Erwartungslage, in der die Menschen sich auch hiernach befinden. Sie werden z. B. im einzelnen und Konkreten ungehorsam sein gegenüber einem Herrschaftsakt, wenn das Chancen bietet, wie beispielsweise bei kleinen Zolldelikten; sie werden eine andere Partei wählen, wenn die bisherige Regierung ihnen ungeeignet erscheint; sie werden eine andere Verfassung erstreben, wenn sie den Modus der staatlichen Willensbildung zum Zwecke der Herrschaftsausübung grundsätzlich mißbilligen; erscheint ihnen auch dies nicht als ausreichend, so werden sie den bestehenden Staat selbst verneinen, um entweder - wie z. B. nationale Minderheiten - die Errichtung eines eigenen Staates oder den übergang zu einem anderen zu verfolgen oder aber Anarchisten zu werden, die jede staatliche Herrschaft negieren; und sie werden sich in allen diesen Richtungen nicht nur gedanklich, sondern auch in ihrem realen Verhalten je nach ihren Erwartungslagen bewegen. Die Chance, daß der immer wiederholte "Herrschaftsversuch" durch immer wiederholte konkrete Herrschaftsakte immer wieder von neuem gelingt, ist hiernach groß; denn erst in extremen Lagen werden solche Versuche auf einen den bestehenden Staat selbst negierenden und relativ allgemeinen Widerstand stoßen; ja die mutmaßliche Allgemeinheit von Widerstand wird selbst als ein Faktor erkennbar, der die Erwartungslage mitbestimmt, das Ertragen von Diktaturen ebenso wie den Ausbruch von Revolutionen. 8. Diese weitgreifenden Vorgänge und Zusammenhänge waren Jellinek bekannt. Sie sind durch die Verweisung auf den theoretischen Kontext, die seine sozialwissenschaftliche "Wesens"-Definition des Staates enthält, mittelbar auch in dieser selbst dann noch enthalten, wenn Jellinek in seiner sozialwissenschaftlichen Theorie sie nicht explizit ausführt; denn sie können durch eine auf die realen Vorgänge, die hinter den in dieser Definition gebrauchten Begriffen stehen, zurückgehende Analyse erschlossen werden. Eine solche Analyse, die Jellineks Theorie "hinterfragt", wäre geeignet, zu einer umfassenden und kohärenten sozialwissenschaftlichen Staatstheorie zu führen, die den Staat als einen Ausschnitt des sozialen Lebens selbst erfaßt, einen Ausschnitt, den wir nicht willkürlich machen, sondern der sich abzeichnet als eine erkennbare, relativ einheitliche Komponente unseres sozialen Verhaltens, das durch sozial wirksame, vor allem durch rechtlich fixierte Ausgangs- und Erwartungslagen determiniert wird. Indem sich freilich bei der Untersuchung von Einzelproblemen mit deren eigener Komplexität und Tiefe auch die Komplexität und die

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Tiefe der Problematik des Ganzen offenbart, offenbart sich auch die Schwierigkeit jener Aufgabe. Sie erst dürfte das weitgehende Fehlen eigener Reflektionen über das "Wesen" des Staates in der Literatur seit Jellinek (s. unter 5.) erklären; doch wird hierzu auch beigetragen haben, daß die Sozialwissenschaften ihrerseits auf vielen Gebieten bedeutende Ergebnisse und Probleme produziert haben, die in eine solche grundlegende Theorie vom Staate eingebracht werden müssen, die zu ühersehen, geschweige denn zu verarbeiten aber selbst einem einzelnen Fachmann auf diesem Gebiete nicht mehr möglich ist, besonders in unserem Lande, in dem die Staatstheorie traditionell Sache der Juristen war, bis die politische Wissenschaft neu auf den Plan trat, die noch mit ihrer eigenen Konstituierung als Wissenschaft beladen ist. 11. In solcher Situation muß man fragen, ob es möglich ist, aus den sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und Problemkreisen solche von besonderer, auch für den Staat grundlegender Bedeutung in unsere Staatstheorie einzuführen. Wenn hierfür der Oberbegriff "Verband", der Jellinek wohl vor allem wegen der Arbeiten Otto von Gierkes im Rahmen seiner eigenen sozialwissenschaftlichen Definition des Staates genügend Erklärungswert zu besitzen schien, heute nicht mehr unmittelbar geeignet ist, weil er selbst der weiteren Erklärung bedarf, so wäre zu erproben, ob der Begriff und die Erkenntnis der sozialen "Institution" unsere Staatstheorie heute weiterzuführen vermag; die Voraussetzung dafür, daß nämlich auch die "Verbände" zu den sozialen Institutionen gehören, ist jedenfalls gegeben. Im Rahmen dieses Aufsatzes kann diese Frage nur aufgeworfen und können Gründe dafür genannt werden, daß sie zu bejahen ist: Die Theorie der sozialen Institutionen gehört zur Theorie des sozialen Verhaltens der Menschen, auf die nach unseren Feststellungen auch die Staatstheorie zurückgreifen muß. Sie umfaßt damit die Probleme der menschlichen Motivation zu sozialem Verhalten und ihrer nicht abstrakten und also absoluten Freiheit, sondern ihrer Freiheit nach Maßgabe von "Lagen", die sich aus vielfältigen Komponenten zusammensetzen; zu diesen gehören feste Gegebenheiten, z. B. der Natur, aber auch der sozialen Umwelt, Gegebenheiten, die wir teilweise nur hinnehmen oder unter sozialem Druck hinnehmen müssen, teilweise aber auch selbst als Gegebenheiten setzen, weil wir an ihnen nichts ändern, sondern von ihnen ausgehen wollen. Hier ist der Platz der sozialen Normen verschiedener Art, nicht nur der Rechtsordnung, denn in ihnen drückt sich ein Großteil der sozialen Erwartungen an das Verhalten in

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der gegebenen Lage aus, und sie bestimmen die Chancen der verschiedenen für uns konkret in Betracht kommenden Verhaltensweisen mit. Hier ist auch der Platz der sozialen Institutionen. Diese umfassen unser Leben in der societas und also unser soziales Verhalten, auch das Verhalten der anderen uns gegenüber allenthalben; das gesamte soziale Leben spielt sich innerhalb von Institutionen ab, sogar unser biologisch bestimmtes Verhalten ist in Institutionen eingebaut. Sie bestimmen inhaltlich mehr oder minder präzisierte Verhaltensmuster, sog. "Rollen", haben also normativen Gehalt, sind soziale Wirkungsfaktoren, die unsere Erwartungslagen und damit unsere Motivationen weitgehend beeinflussen, indem sie die Chancen des einen oder anderen möglichen Verhaltens determinieren. Zu unseren jeweiligen Motivationskomplexen gehören neben den Faktoren, die uns von außen entgegentreten, auch innere, z. B. Neigungen und Denkweisen. Institutionsgemäße Rollen können uns von außen auferlegt, können aber auch von uns selbst hingenommen, akzeptiert oder voll bejaht ("verinnerlicht", "internalisiert") werden. Der selbstverständliche und häufige Gebrauch des Wortes "Staat" in Deutschland indiziert selbst eine weitgehende grundsätzliche Internalisierung dieser Institution als des besonderen sozialen Wirkungsfaktors, den er darstellt, und der damit für uns selbst gegebenen Rolle des diesen Einwirkungen des Staates ausgesetzten und mit ihnen rechnenden Staatsbürgers und "Untertans". Schon aus diesen Andeutungen dürfte hervorgehen: Eine Theorie der sozialen Institutionen kann Bedeutendes zu der Vertiefung unserer Staatstheorie beitragen, die nach dem heutigen Stande unseres Wissens und der Probleme nötig ist. Sie kann der Staatstheorie für unsere Zeit die Kraft relevanter Aussagen zurückgeben, die ihr anscheinend verlorengegangen ist, weil sie einem Fragebedürfnis nicht mehr genügt, das in anderen Disziplinen aufgegriffen ist und von da aus verstärkt auch der Staatstheorie entgegentritt - falls es nicht sogar ihr gegenüber bereits weitgehend resigniert hat. Durch eine solche Staatstheorie wird auch eine "politische Philosophie" erst möglich, wenn sie nicht reine Kampfideologie werden soll. Ihre eigene Fundierung in einer Theorie der sozialen Institutionen macht die sozialen Interdependenzen feststellbar und erklärbar, in denen wir deshalb unvermeidlich stehen, weil menschliches Leben anders als in einer societas nicht möglich ist - abgesehen davon, daß die moderne societas unser Leben immer mehr und gerade durch den Staat ergreift, daß der Staat heute sogar überall auf der Erde, auch in den "Entwicklungsländern", zu diesem Zwecke des Eingriffs in das menschliche Zusammenleben überhaupt erst instituiert wird. Es würden die

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Realitäten erkennbar, die uns weitgehend zwingen, Elemente unserer Lagen, Bedingungen unseres Verhaltens als objektiv "gegeben", als objektiv bestehende "Verhältnisse" anzusehen und als solche in unsere Erwartungslagen einzukalkulieren, es als a-rational zu betrachten, wenn wir es nicht täten. Damit würde die allgemeine Wirksamkeit einer höchst bemerkenswerten Art sozialer ratio feststellbar, die weitgehend am Erfolg unseres sozialen Verhaltens orientiert ist, mindestens Risiko zu vermeiden strebt, weil wir angesichts unserer sozialen Interdependenzen in effektiven Abhängigkeiten stehen, jedenfalls, "um leben zu können", nicht in ständigen sozialen Reibungen "aufgerieben" werden wollen. So ließe sich erst klären, was real - nicht etwa nur für Rousseau - hinter der "volonte generale" steckt, d. h. wie sich das vielfältige Verhalten der vielen Bürger eines modernen Staates zu seiner ständigen Reproduktion als einer mit Herrschermacht ausgerüsteten Verbandseinheit gleichrichtet. Damit würde das Problem wieder aufgegriffen, das bei der grundsätzlichen Bedeutung der Denkweisen für unsere Motivationen beginnt und sich über die einer spezifischen, am Erfolg orientierten sozialen ratio für das individuelle Verhalten fortsetzt bis zu einer weitgehend allgemeinen Internalisierung des Staates als herrschaftlicher Institution und einer damit gegebenen prinzipiellen Bereitschaft, die konkreten Herrschaftsakte des Staates mindestens hinzunehmen, möglichst gleichfalls zu internalisieren, sie nicht nur als "höhere Gewalt" zu erleiden, also an der Bildung einer" volonte generale" teilzunehmen. Wenn aber internalisierte Normen, Rollen und Institutionen zu "Selbstverständlichkeiten" unseres dadurch bestimmten Verhaltens führen, so ergibt sich das nie nur "aus der Sache selbst", sondern immer erst aus unserer eigenen Stellungnahme zu dieser Sache, d. h. daraus, daß wir unser Denken jener Bestimmung angepaßt haben, soweit diese Bestimmung nicht ohnehin unserem Denken entsprach. "Selbstverständlichkeit" entspringt also immer auch aus unserem mehr oder minder reflektierten Verständnis unseres eigenen Selbst, so daß das Problem der eigenen Entscheidung in eine andere Schicht unseres Gewordenseins zurückverlegt ist. Sollte der "Charakter" des Menschen zu definieren sein als diejenige Denkweise, die mit großer Wahrscheinlichkeit sein Verhalten festlegt, so würde die Internalisierung sozialer Normen, Rollen und Institutionen eine Prägung seines Charakters entweder beinhalten oder aber voraussetzen. Welche Bedeutung das für die Erkenntnis dessen hat, was man "Nationalcharakter" nennt, ist offenbar: Die Wahrnehmung allgemein verbreiteten sozialen Verhaltens, das wir auf eine allgemeine Internalisierung sozialer Normen, Rollen und Institutionen zurückführen müssen, läßt uns auf "Nationalcharakter" schließen. Diese Internalisierungsvorgänge 8 Drath

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und damit die Bedeutung des ganzen Komplexes sozialer Normen, Rollen und Institutionen zu erforschen, ist Aufgabe der Soziologie, der Verhaltensforschung, der Psychologie, der Pädagogik usw. Aber die Anthropologie und die Ethik können an deren Ergebnissen nicht vorübergehen; sie werden ihnen zum eigenen Problem. Finden grundlegende Internalisierungen schon in früher Kindheit, im "Prägealter", statt, wird hier schon die Fähigkeit auch für spätere Internalisierungen festgelegt, 'So ist damit bereits das bestimmende Fundament gegeben einerseits für das sog. "Wir-Gefühl" der Glieder von Gruppen und Teilgruppen, für das Verhältnis von "Individuum und Gemeinschaft" und für "Integration", für jede menschliche Soziabilität und Solidarität, andererseits für eine nicht abstrakte, sondern u. U. sehr konkrete Manipulierbarkeit, die weitgehend von der Person und sozialen Rolle des Manipulierenden abhängig sein könnte. Die Problema tik einer allgemeinen Ethik und des konkreten Ethos der konkreten Gruppe würde neue Aspekte bekommen, nicht minder aber alte Probleme in Rechtsphilosophie, Rechtswissenschaft und Anwendung des Rechts. Die oft festgestellte fundamentale Änderung von Denkweisen ganzer Völker durch eine siegreiche Revolution - besonders im Vergleich zu Völkern, die eine solche Revolution nie "erlebt" haben würde wissenschaftlich erklärbar, und es würden selbst Probleme, die heute weitgehend in Tagespolemik mehr negiert als erörtert werden, wie das einer "sozialistischen Moral", neu zu durchdenken sein. Wenn es zu allem dem eine in Internalisierung begründete Festlegung der Bereitschaft und Fähigkeit gibt, überhaupt neues rationales Wissen in Dingen der societas in sich aufzunehmen, dann werden nicht nur die Institutionen der Demokratie - die "formale" Demokratie -, sondern wird auch deren Internalisierung, wird die demokratische Denkweise und deren Abhängigkeit von Erziehung und Bildung, freilich auch von sozialen "Verhältnissen", ja wird die Aufgabe, einen "Maximalismus" bei der Erzielung einer modernen "Aufklärungs"-Bereitschaft zu vertreten, zu Problemen der politischen Philosophie; Fragen der "geistigen Homogenität", der "Bildung" und der "Modernität" der Denkweisen werden - über den Bereich nur praktisch-politischer Zweckmäßigkeit hinaus - in den der politische Philosophie selbst gezogen. Schließlich wird neben der ehrwürdigen, jahrtausendealten Thematik der Philosophie ihre eigene Sachbezogenheit auf die Realität des Menschseins hie et nune und damit ihre eigene Modernität ihr selber zum Problem. Das abstrakte Freiheitsproblem, das Problem, daß die Freiheit des einen mit der des anderen vereinbart werden muß, ist seit langem gestellt; der politischen Philosophie ist es immer - nicht nur bei Kant und Hegel - darum gegangen, wie diese Vereinbarung hie et nune ausfallen soll, d. h. wie die sozialen Institutionen aussehen und wie sie

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die Rollen der einen und die der anderen bestimmen sollen. Hierzu kann - wenn auch schwerlich mit Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit, so doch in Gestalt antizipierenden Nachdenkens zur geistigen Orientierung - politische Philosophie auch heute nicht kommen ohne Kenntnis der hic et nunc gegebenen "Realitäten" und des Prozesses, in dem sie aus dem Verhalten der Menschen selbst hervorgegangen sind und hervorgehen, also nicht ohne Grundlegung in Theorie.

Der Staat der Industriegesellschaft Entwurf einer sozialwissenschaftlichen Staatstheorie* Wir nehmen den souveränen Staat der Industriegesellschaft als historisch gegebene Tatsache, ohne Rücksicht auf die Umstände seiner Entstehung; wir bilden ein Modell unter dem Gesichtpunkt, welche rationale Funktion der moderne Staat in jener Gesellschaft hat: Jede staatlich organisierte Gruppe lebe autark, ohne Beziehung über ihren Rahmen hinaus. Im Innern gebe es weder Gliedstaaten noch Gemeinden oder andere Körperschaften mit Selbstverwaltung usw. Dieses Modell behandeln wir hier nur nach innen. 1.

Die Industriegesellschaft bedarf eines - auf ihre spezifischen Organisationserfordernisse zugeschnittenen - souveränen Ordnungsfaktors, weil sie ein in hohem Grade nicht "selbstregulierendes" System des Zusammenlebens ist, also ihre Regulierung weitgehend nur von außen, von einem spezifischen, deshalb ihr gegenüber relativ selbständigen Regulierungssystem erfahren kann. Jene Regulierungsbedürftigkeit ergibt sich bei einer Analyse der Industriegesellschaft aus deren strukturell bedingtem Funktionieren, besonders aus dessen Friktionen und Konflikten, aus der Dynamik des Wandels, der zum Funktionieren dieser Gesellschaft gehört. Hier können nur die Ergebnisse solcher Analyse angeführt werden: In der Industriegesellschaft steht jeder in vielen verschiedenen Beziehungen zu anderen; seine individuellen Interessenlagen sind hoch spezialisiert und vielfältig, selbst für jeden Einzelnen oft unausgeglichen. Das ist besonders deutlich in allem, was Arbeitsteilung und Verkehrswirtschaft unmittelbar bewirken; mittelbare Wirkungen beider begründen die sozialen Positionen und Möglichkeiten (Erwartungslagen), reichen bis tief in die persönlichen Beziehungen. Auf das Zustandekommen und den Ablauf unmittelbarer Beziehungen wirken oft nicht nur gleichgerichtete, sondern gegensätzliche Interessen der Partner ein, Störungsfaktoren, die bis zu Konflikten führen, die u. U. von

* Der Staat 5 (1006), S. 27'3-284. Eine ausführlichere Fassung erschien im Evangelischen Staatslexikon, 1. Auf!. 1966, Sp.2114-2149 (Staat).

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ganzen Interessengruppen ausgetragen werden. Dann schaffen auch Markt- und Vertragsfreiheit kaum Ausweichmöglichkeiten. Die Menschen ändern ihre Bedürfnisse, geben sie auf, befriedigen sie auf andere Weise oder anderwärts und nehmen neue an. Jede Wandlung erfordert Anpassungen, jeder Anpassungsakt führt zu weiteren Anpassungen anderer. Mobilität der Bevölkerung und ihrer Denkweise, ihrer Interessennahme verstärkt die Dynamik der Wandlungen. Jeder ist aber abhängig vom erwartungsgemäßen, "normalen" Ablauf zahlloser ihm oft unbekannter, unübersehbarer Beziehungen zwischen Dritten; denn nur dann laufen seine eigenen unmittelbaren Beziehungen erwartungsgemäß, "normal" ab, wenn die Gesamtheit aller, auch der scheinbar ihn nichts angehenden Beziehungen in der Gesellschaft das ganze Beziehungsgeflecht, das sie ausmacht - hinreichend reibungslos verläuft. Diese allgemeine Interdependenz - oft im Bilde eines "Kreislaufs" aller Kommunikation innerhalb der Gruppen beschrieben - ist so empfindlich, daß allgemeine Krisen nur mit einschneidenden Mitteln behoben werden können. Partielle Anpassungskrisen verschiedenen Grades in Wirtschaft, Erziehung, Ausbildung, Wissenschaft, Denkweisen sind alltäglich; sie haben Fernwirkungen. Entgegen der alten liberalen Doktrin bleibt das Ergebnis einer sozialen "Harmonie" aller Interessen aus. Da ihr Dauer-"Zustand" der dynamische Wandel ist, kann diese Gesellschaft ihre ständig erforderliche Anpassung nur durch eine Art "Flucht nach vorn" lösen, d. h. mittels eines "Systems von Aushilfen". Dieses permanente Ausbalancieren muß aber zu einer - generell nicht bestimmbaren - "Auskömmlichkeit" führen als der Grundlage allen Zusammenlebens von Menschen. Ihren Ausdruck findet diese Lage in der Reaktion der Menschen: ihren mannigfachen Versuchen, die Konkurrenz- und Anpassungsfähigkeit, besonders im Berufs- und Wirtschaftsleben, zu steigern, Positionen, besonders auf dem Markt, zu stabilisieren, allenthalben "soziale Sicherheit" und - da Vorgänge und Folgen der eigenen Einwirkung weitgehend entzogen sind - Hilfe verschiedener Art durch den Staat zu erhalten. II. Diese Gesellschaft bedarf nicht nur einer Koordination des Verhaltens der Gruppenglieder, sei es durch direkte Normierung, sei es durch Beeinflussung der Ausgangspositionen und Erwartungsmöglichkeiten ihres "freien" Verhaltens. Ihr dynamischer Wandel erfordert darüber hinaus -anders als in einer statischen, traditional geordneten GesellSchaft - einen auf ihre Regulierungsbedürfnisse zugeschnittenen besonderen Ordnungsfaktor; er muß einerseits ihr gegenüber so selbständig sein, daß er "von außen" auf sie einwirken kann, andererseits

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von ihr möglichst so abhängig, daß er seine Funktion nicht als ein ihr Fremder, gar Feindlicher ausübt. Er muß deshalb so organisiert sein, daß er immer und überall und auf allen Lebensgebieten aktionsfähig ist, befähigt insbesondere, auch gegen den Willen der Betroffenen über die Ordnungsbedürftigkeit sozialer Zusammenhänge und über den Inhalt der Ordnung zu entscheiden und ihn wirksam zu machen, daß er aber dennoch der Gesellschaft nahe steht, aus ihrer eigenen Struktur möglichst hervorgeht. Dafür sind verschiedene Gestaltungen möglich und im Verfassungsrecht gefunden, die hier, wo es um die Gattung Staat geht, nicht im einzelnen interessieren. Jener Ordnungsfaktor ist der von der früheren "bürgerlichen" Gesellschaft instituierte, seither mit der Industriegesellschaft zum "modernen" Staat gewandelte Staat. Die englische Bezeichnung "government" kennzeichnet ihn treffend als Steuerungssystem. Seine Steuerungsfähigkeit - seine innere Souveränität - ist die "ratio" der Existenz des Staates überhaupt. Damit ist das Grundsätzliche über sein Verhältnis zu den gesellschaftlichen Problemen und Kräften gesagt: Die Struktur dieser Gesellschaft selbst erfordert ein Entscheidungszentrum; die "Maßgeblichkeit" seiner Entscheidungen, die überordnung seiner Regulierungskompetenz über die sozialen Mächte und deren Entscheidungen sind nur die Folgerungen hieraus. Der Staat ist zwar relativ getrennt von der Industriegesellschaft, ist anders strukturiert und funktioniert anders. Aber er ist funktional auf die Gesellschaft bezogen; sie machen zusammenwirkend erst die - so gut oder schlecht, wie es der Fall ist - funktionierende Gesamtheit des Lebens in der Industriegesellschaft - die "Gesamtgesellschaft" - aus. Keines der beiden Teilsysteme steht für sich selbst, ist ein aus sich allein erklärbarer Teil jenes Gesamtsystems. Diese Gesellschaft kann als eine "staatsfreie" nicht einmal gedacht werden; alles soziale Verhalten von jedermann geht aus von Lagen, die durch staatliche Wirksamkeit schon mehr oder weniger mitbestimmt sind, und beruht auf Erwartungen, die ohne staatliche Einwirkungen nicht erfüllt würden. Nur bleibt das weitgehend unbewußt, bestätigt mit dieser subjektiven Selbstverständlichkeit das - selbst analytisch kaum trennbare Zusammenwirken von Staat und Gesellschaft. Zwar nimmt die "Gesellschaft" ständig konkrete Regulierungsakte des "Staates" - in einer gewissen Passivität - hin, während dieser das ihr gegenüber aktiv handelnde Teilsystem ist. Aber innere Politik besteht nicht nur darin, das differenzierte soziale Leben zu regulieren, drohenden sozialen Friktionen und Konflikten vorzubeugen, bestehende zu beheben; sie muß nicht minder sicherstellen, daß die Regulierungsakte selbst und ihre Wirkungen sozial akzeptiert werden. Deshalb muß sie sich laufend an den gesellschaftlichen Realitäten orientieren; sie ist zahlreichen

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gesellschaftlichen Aktivitäten nicht nur "ausgesetzt", sondern auf sie geradezu angewiesen. Denn vom sozialen Leben der Gruppe aus gesehen ist es eine Funktionsnotwendigkeit ihres Gesamtsystems, daß der Staat, der soziale Friktionen und Konflikte verhüten oder ausgleichen soll, sie nicht selbst schafft. Der Versuch, den Staat auf das "bonum commune" als "Staatszweck" abstrakt festzulegen, erweist sich als wirkungslos. Deshalb besteht das Ziel der Verfassungsgebung gerade darin, die abstrakte Souveränität des Staates konkret so zu organisieren, daß sie dem konkreten Leben der konkreten Gruppe möglichst angepaßt ist, besteht die Kunst der Politik darin, von diesen Möglichkeiten nach diesen Intentionen der Verfassung Gebrauch ~u machen. Bei der Differenziertheit der Interessen in einer Industriegesellschaft aber muß nahezu jede Entscheidung den einen bevorzugen und den anderen belasten. Nur ausnahmsweise kann - besonders vom rückschauenden Historiker - festgestellt werden, daß eine staatliche Entscheidung unter jedem Gesichtspunkt für eine konkrete Gruppe "verfehlt" gewesen sei. Da dieser Prozeß eines immer nur relativen und vorläufigen Interessen-"Ausgleichs" nie endet, kommt es nicht allein auf die formell aktive Rolle der staatlichen Regulierungsakte gegenüber der Gesellschaft an. Wichtiger ist in dem permanenten Prozeß der sozialen "Umverteilung" die grundsätzliche überzeugung der Gruppenglieder, daß auch ihren Interessen in einer auskömmlichen Weise Rechnung getragen werde. Hiervon hängt es entscheidend ab, wieweit staatliche Regulierungsakte akzeptiert, wenigstens hingenommen werden oder wieweit sie Friktionen oder gar Konflikte schaffen. Ein Indiz für Akzeptierung oder Hinnahme ist die Sprech- und Denkweise, Regulierungsakte, die soeben noch umkämpft waren und deshalb als "politisch" bezeichnet wurden, als zum "sozialen" Leben "gehörig" und "natürlich" zu betrachten, als Bestandteil der "sachlich" gegebenen Ordnung, und damit als "unpolitisch". Als "Integration" bezeichnet man ein Ergebnis der inneren Politik, bei dem sozialpsychologisch eine wenigstens die Fundamente bejahende übereinstimmung der in der Industriegesellschaft lebenden, staatlich organisierten Großgruppe erreicht wird ("Konsensus"). In der Industriegesellschaft kann es aus den oben dargelegten Gründen keine substantielle "Homogenität" der Gruppe geben, wohl aber eine vor allem durch die reale Gestaltung des sozialen Lebens immer wieder zu erzeugende Bejahung der Grundlagen des Zusammenlebens, die selbst über nicht unbedeutende Interessengegensätze, ja über Konflikte hinwegtragen kann. Die soziale Funktion des Staates, die Ausübung seiner Souveränität selbst, schließt es in der Industriegesellschaft aus, aus der Tatsache dieser obersten Regelungskompetenz dogmatisch eine neuabsolutistische Doktrin ("starker"

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Staat) oder aber das politisch-moralische Postulat eines bürokratischen Etatismus (Herrschaft der Fachleute) abzuleiten. Die einseitige Auflösung der Verflechtung von Staat und Gesellschaft zugunsten der souveränen Regelungskompetenz ist jedenfalls mit dem Risiko kaum übersehbarer sozialer Kosten und politischer Friktionen und Konflikte belastet.

III. Die staatlichen Entscheidungen werden stets von relativ wenigen gefällt. Zu ihrer sozialen Wirksamkeit bedarf es des Gehorsams, zunächst in dem weiteren "Herrschaftsapparat" (Verwaltungsstab), dann in der ganzen beherrschten Gruppe. Der Staat ist zwar potentiell "total"; er muß nämlich abstrakt in der Lage sein, alle von ihm selbst als sozial relevant betrachteten Probleme aufzugreifen und zu ordnen; nicht aber ist er "total" in dem Sinne, daß alles soziale Verhalten Tätigkeit von Staatsorganen wäre. Vielmehr motiviert er die Gruppenmitglieder durch Normen zu dem Verhalten, das seinen Ordnungsintentionen entspricht; denn alles soziale Verhalten geht durch ein psychisches Medium. Zahllose soziale Regelmäßigkeiten werden durch Erziehung gelehrt und akzeptiert, schon mit der Sprache; denn die Bedeutungen vieler Wörter umfassen bestimmte Stellungnahmen, Appelle zu einem Denken über das so Bezeichnete und einem dementsprechenden Verhalten; ohne daß es ausdrücklicher Imperative, eines besonderen Drucks oder förmlicher Sanktionen bedarf, werden solche Appelle weitgehend "verinnerlicht" ("internalisiert") und damit im Verhalten wirksam. Viele Regelmäßigkeiten aber werden bewirkt durch mehr oder minder formulierte Imperative allgemeinen oder konkreten Inhalts (Lehren von Werten, Tugenden, allgemeinen Verhaltensprinzipien; exakte Gebote für konkrete Lagen). In jeder Gruppe gibt es ganze Motivationssysteme, die als soziale Ordnungsarten wirken: Recht, Sitte, Brauch, Takt, Etikette, Mode, Ethos, religiöse Gebote u. a. m. Ihre Gebote (Verbote, Zuweisungen von Positionen oder Berechtigungen zur freien Ausübung) können einander widersprechen. Selbst in traditional geordneten Gesellschaften gibt es keine Homogenität des Denkens und Wollens. Bei dem Individualismus und Subjektivismus in der Industriegesellschaft ist es die Funktion des Staates, die hier besonders notwendige maßgebliche Motivation mindestens insoweit zu bewirken, daß ein nach der Struktur dieser Gesellschaft ausreichend widerspruchsfreies Gesamtsystem aller sozial relevanten Motivationen als soziales "Leitsystem" wirksam bleibt. Durchweg sind die strukturell und funktionell für das soziale Leben einer Gruppe typischen Beziehungen so nor-

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miert, daß das Kanzept für das Verhalten der Partner als deren "Rolle" in einer solchen Beziehung aufgefaßt werden kann. Alle für das Verhalten eines Partners geltenden Normen sind also eine Einheit. Es genügt praktisch oft, beiläufige Erfahrungen zu einer nur grundsätzlichen Kenntnis der Rolle (z. B. eines Mieters) und ihrer sozialen Funktion zusammenzuordnen, um auch ohne Kenntnis der einzelnen Normen die Rolle "richtig" zu spielen. Wenn mehrere "Rollen" sich als so konzipiert erweisen, daß sie in einem sozial erwünschten oder zugelassenen Ergebnis konvergieren, also ihre Konvergenz eine mindestens nicht negative soziale Funktion hat, sprechen wir von einer "Institution" (z. B. der Ehe mit den beiden Rollen der Partner und denen der verschiedenen Außenstehenden ihnen gegenüber). Eine Institution ist also stets ein ganzer Normenkomplex, unterteilt in verschiedene Rollen; von ihrer Ordnungswirkung im sozialen Leben gilt das über die Rollen Gesagte: Oft genügt die Kenntnis der Institution für ein rollengemäßes Verhalten (z. B. Arbeitgeber-, Arbeitnehmerpfiichten), selbst wenn dies nicht näher präzisiert ist. Da ihre soziale Funktion meist einsehbar ist und positiv bewertet wird, werden Rollen und Institutionen relativ leicht sozial akzeptiert, auch mit den dazu gehörigen Pflichten; Widerstand dagegen müßte schon einen grundsätzlichen Charakter annehmen, d. h. die Struktur der Gesellschaft, die diese Rolle oder Institution begründet, bedingt oder zuläßt, selbst angreifen. Eine solche soziale Institution ist der moderne Staat, und gerade um der Maßgeblichkeit seiner Entscheidungen, seiner inneren Souveränität willen. Damit wird eine starke grundsätzliche Bereitschaft bewirkt, sich der Motivation durch staatliche Entscheidungen zu fügen. Solche Fügsamkeit bedeutet zugleich "Entlastung": In der Industriegesellschaft hat jeder zahlreiche verschiedene Rollen in Familie, Betrieb, Verein, Partei, Kirche usw.; sein eigenes Verhalten ist dadurch nicht selten widersprüchlich motiviert. Er muß jedoch wissen, welcher Rolle er in welcher Lage folgen soll, und wieweit. Soweit der Staat hierüber maßgeblich entscheidet, befreit er die Gruppenglieder von eigener Verantwortung, erlaubt er jedem Partner ausreichend Sicherheit seiner Erwartungen des Verhaltens des (oder der) anderen und damit überhaupt erst relativ ungestörte soziale Beziehungen. Er leistet, was in der Industriegesellschaft - anders als in der "Ständegesellschaft" Teilgruppen mit ihren besonderen Motivationssystemen oder Rollenbestimmungen nicht leisten können: auskömmliche allgemeine soziale Koordination durch das "Leitsystetn" der Motivationen. Die staatlichen Entscheidungen werden um so leichter sozial akzeptiert, je mehr sie einem einheitlichen und gewohnten Inhalt der anderen Motivationssysteme entsprechen, je mehr der Staat sich also darauf beschränkt, diese zugrunde zu legen, lokale oder schichtenbegrenzte Geltungs-

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bereiche zu erweitern, bloße Prinzipien zu konkretisieren, Widersprüche zu bereinigen u. a. m. Erst wenn der Staat entgegen den wichtigsten wirksamen traditionalen Beständen der anderen Motivationssysteme seine Entscheidungen durchsetzt, nicht schon dann, wenn er von seiner "souveränen Regelungskompetenz" Gebrauch machend bisher "staatsfreie" soziale Lebensverhältnisse ordnend erfaßt, wird er ein sogenannter "totalitärer" Staat. Hiervon abgesehen sind die traditionalen Restbestände, auf denen die staatliche Koordination beruht, in der Industriegesellschaft immer schon vielfältig von staatlicher Ordnung direkt oder indirekt beeinflußt; sie sind keineswegs frei, sind insofern nicht originär-, sondern sekundärtraditional. Sieht man darüber hinweg, so kann man allerdings die staatliche Ordnungs tätigkeit insofern "subsidär" gegenüber den traditionalen Motivationssystemen nennen, als prinzipiell staatlich nur geordnet wird, was hiernach noch ordnungsbedürftig ist, was jedoch in der Industriegesellschaft einen großen Teil des sozialen Leitsystems ausmacht. Demgegenüber drückt das naturrechtliche "Subsidiaritätsprinzip" ein Postulat aus, das mit dem sozialen Bedürfnis nach einer obersten souveränen Koordinationsinstanz nur schwer vereinbar ist. Denn wenn Teilgruppen nach ihren Gesichtspunkten ihre Teilordnungen für auskömmlich halten, so ergibt das noch keine allgemein auskömmliche Gesamtordnung. Aus Teilordnungen werden im Leitsystem eher nur Prinzipien, grundlegende Werthaltungen erhalten bleiben und auch diese oft nur in neuer Interpretation und Anwendung auf die gewandelten Verhältnisse und Bedürfnisse. Die Koordination des sozialen Verhaltens erfordert also eine rationale Tätigkeit des Staates - rational schon in der Prüfung der Ordnungsbedürftigkeit, im Entwurf des erstrebten sozialen Ziels, speziell rational in der Erarbeitung der normativen Mittel, ihrer Abstimmung mit dem übrigen Nornnenbestand, rational auch in der Prüfung ihrer Eignung, aber auch ihrer direkten und indirekten Folgen. Das Produkt dieser "sozialtechnischen" Bemühung kann nur "gesetzt", "positiv" sein, die positive staatliche Rechtsordnung und ihre ebenso rationale positive, d. h. mit Herrschaftsgewalt ausgestattete Anwendung und Durchsetzung. Erst die soziologische Erkenntnis von Staat und Recht eröffnet den Zugang zum Verständnis der positiven Rechtsordnung, ihres Aufbaus und der besonderen Rationalität ihres Funktionierens. IV.

In einer Gesellschaft, die eine besondere, souveräne Institution zu ihrer eigenen Regulierung aufgebaut hat, die nur mit dem Mittel "gewillkürter Satzung" auskömmlich koordiniert werden kann, stellen

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sich die Probleme der Legitimität und der Führung völlig neu. Jede Regulierung gesellschaftlicher Interessen und Konflikte erfordert für ihre Effektivität Macht. Aber Macht beruht nie allein auf Zwang, immer auch auf Anerkennung. In der Industriegesellschaft aber hat sich die Bedeutung von Macht und Anerkennung grundlegend geändert: Die bürgerliche Revolution postulierte einen Bürger, der aktiv an der für alle einheitlichen Aufgabe der Durchsetzung und des Aufbaus dieser Gesellschaft mittels ihres Staates teilnahm, sich aber im übrigen seinen "bürgerlichen" Interessen widmen sollte, da die Staatstätigkeit als sehr begrenzt gedacht wurde. Doch indem diese Revolution in jedem einzelnen Lande sich durchsetzen mußte, schuf sie den "Patrioten", den Bürger eines Nationalstaats. Mit der Industrialisierung wurde das Scheitern der Hoffnung auf soziale Harmonie offenbar, sowohl im Verhältnis zur "Arbeiterklasse" als auch innerhalb des "Bürgertums" selbst. Die Industriegesellschaft ist charakterisiert durch das Fehlen von Interessengleichgewicht, die Notwendigkeit, ihren relativen Ausgleich zur ständigen Aufgabe zu machen. Diese wird durch die Einbeziehung der Arbeiterschaft in den sozialen Ausgleich noch erschwert. Auf wirksamer Geltendmachung von Interessen, besonders durch Verbände, steht eine positive, auf ihrer Vernachlässigung eine negative "soziale Prämie". Wo ständig direkt oder indirekt "umverteilt" wird, ringen alle um ihren Anteil am "Sozialprodukt". Wirksam vertreten werden Interessen nicht mehr nur unmittelbar gegenüber einem anderen, sondern vor allem durch "organisierten" Einfluß auf staatliche Entscheidungen. Ein Erfolg, der so erreicht ist, wird sofort wieder gefährdet, weil der Prozeß solcher Entscheidungen weitergeht. Der Bürger in dieser Gesellschaft ist in erster Linie ein - durch seine wichtigsten Interessen mit anderen verbundener "Interessenbürger". Da es einen erkennbaren objektiven Zustand guter sozialer Ordnung nicht gibt, auch nicht auf der Basis des ökonomisch-technischen Fortschritts oder des Vergleichs mit anderen, bleiben nur subjektive Meinungen und Argumentationen. Aus dieser Lage resultiert die spezifische Problematik: Stand früher die Herrschaft des Fürsten oder Fürstenhauses, weil sie mit sakralen Vorstellungen verbunden war, außer Zweifel, und wurde sie in der Zeit des "Nationalstaats" durch die allgemeine Bejahung der nationalen Existenz und Aufgabe legitimiert, so ist heute für die Legitimität der staatlichen Herrschaft das Urteil über den Erfolg bei der sozialen Ordnung im Inneren entscheidend. Die Staatsgewalt selbst will hieran gemessen werden, wenn sie in Verfassungen und Programmen "Wohlstand für alle", "Wohlfahrtsstaat", "Sozialstaat" verheißt. Das Legitimitätsproblem kann entstehen an wichtigen staat-

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lichen Regulierungsakten, die als einseitige Bevorzugung oder Benachteiligung betrachtet werden, an der Gesamtheit einer "Regierungs-" oder "Mehrheitspolitik", am ganzen konkreten Verfassungszustand, auch an der Existenz eines ganzen Staates (z. B. bei "Minoritätsproblemen"). Umgekehrt kann vom sozialen Effekt her eine zunächst umstrittene Legitimität allgemein begründet werden. Legitimität ist keine objektive "Eigenschaft" des Staates, sondern ein Werturteil der Gruppenglieder, Ausdruck ihres Integrations-"Zustands". Da dieser nicht stabil ist, sondern fortlaufend erzeugt werden muß, wird auch die Legitimität nur bejaht, wenn die Integrierung über einen längeren Zeitraum hinweg im wesentlichen gelungen ist. Ist die Ordnung sozialer Interessen heute die wichtigste Grundlage des Legitimitätsdenkens, so kann dieses schichten- oder klassengebunden sein, so daß im "Klassenstaat" einer tiefen Überzeugung von der Legitimität bei den einen eine ebenso tiefe überzeugung von der Illegitimität bei den anderen gegenüberstehen kann. Kennzeichnend ist, daß die in der Industriegesellschaft utopischen Vorstellungen von einer vollkommenen Integration nicht nur zu Gemeinschaftsideologien ausgebaut, sondern auch mit Verfassungskonstruktionen verbunden werden, die eine allein legitime Staatsgewalt zu konstituieren hätten. Hat der moderne Staat in der Industriegesellschaft eine geradezu instrumentale Funktion, so kann er die aus der Struktur der gegebenen Gesellschaft resultierenden Legitimitätsprobleme nur entweder verdecken oder aber "aufheben", indem er diese Struktur selbst radikal ändert. Aus der Überzeugung von der Illegitimität der bestehenden Herrschaftsorganisation, die bei der gegebenen Sozialstruktur außerstande sei, diese Illegitimität zu beseitigen, entsteht eine "Revolution" - im Gegensatz zu einem bloßen Putsch, Staatsstreich usw. Jeder moderne Staat kennt deshalb auch irgendwelche Schutzmaßnahmen, die nicht nur allgemeinen Staatsschutz, sondern speziell die Ausschaltung der Wirksamkeit von Illegitimitätsvorstellungen bezwecken (politisches Strafrecht, Sonderpolizei, Ausnahmezustand usw.). Aus der Bejahung der Legitimität folgt die prinzipielle Bereitschaft, sich den Regulierungsakten des Staates freiwillig zu fügen, seine Politik nach innen und außen zu billigen, Opfer dafür zu bringen, spontan und aus innerer Verpflichtung mitzuarbeiten. Diese Bereitschaft bezeichnet man als "Loyalität". Wo komplizielte soziale Verhältnisse, insbesondere bei Industrialisierung, die einsichtige Einordnung in eine nur durch komplexe soziale Interdependenz erzielbare soziale Gesamtleistung erfordern, ist ohne Weckung von Legitimitätsüberzeugungen und Loyalität schwer auszukommen. Selbst moderne "Diktaturen", die dem Industrialisierungsprozeß unterworfen sind, suchen mit der Einführung "demokratischer Methoden" nicht nur ein Alibi, son-

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dem einen Faktor zur Erzeugung von Legitimität und Loyalität zu begründen. Der moderne Staat stellt die Gruppenglieder vor eine paradoxe Situation: Sie sind "Interessen"-Bürger und sollen die Staatsgewalt, die ihre Interessen nie voll befriedigen kann, dennoch als legitim bejahen. Diese Paradoxie kann nur auskömmlich ausgeglichen werden, das Gesamtsystem kann nur funktionieren, wenn Institutionen vorhanden sind, die die Interessenlagen einem Klärungsprozeß unterwerfen. Hier spielen vor allem "öffentliche Meinung", soziale Führungsschichten, Parteien und organisierte staatliche Führung eine Rolle. Aus der Gesellschaft kommen vielfältige Kritiken, Anregungen, in denen sich einzelne zu Sprechern anderer, vieler machen. Durch Verbände geschieht das in organisierter Weise, wobei bereits eine gewisse Reduzierung innerer Meinungsverschiedenheiten auf gemeinsame oder zentral wichtige Punkte stattfindet. Eine einheitliche "öffentliche Meinung", vor allem ausgedrückt durch "die Presse", wie in der früheren "bürgerlichen" Gesellschaft, gibt es in der Industriegesellschaft nicht mehr. Hier existiert stattdessen ein öffentlicher "Meinungsmarkt" , auf dem nur in konkreten Fragen von besonderer Bedeutung einheitliche Auffassungen vorkommen, insbesondere wenn einheitliche Interessen vertreten werden. Das Wort Meinungsmarkt darf nicht darüber täuschen, daß es sich keineswegs nur um Angebote bestimmter Meinungen zur freien Annahme, sondern auch um "Meinungsmache" handelt, schon weil die "Konkurrenzangebote" nicht vorliegen, kritischer Vergleich nur wenigen möglich ist. Es bilden sich Stellungen und Funktionen von "opinion leaders" ("Meinungsführern") in entsprechenden Meinungsteilgruppen heraus, während frühere "Führungsschichten" ("Bildung und Besitz") zurückgetreten sind. Weil es sich daher nur um soziale Diskussion, nicht um sozialen "Willen" handelt, ist die förmliche Bildung eines "Staatswillens" unentbehrlich, ein "government by opinion" unmöglich. Die Entscheidung für und gegen bestimmte Regulierungsakte wird vorbereitet durch die politischen "Parteien", die durch ihre Funktion bei der Zusammensetzung der maßgeblichen staatlichen Entscheidungsorgane zur Erarbeitung der mutmaßlich wichtigsten sozialen und politischen Probleme, der dafür bestehenden Lösungsmöglichkeiten und eines mutmaßlich sozial auskömmlichen Entscheidungsvorschlags gezwungen sind. Da ihr Einfluß auf die staatliche Organbildung um so größer ist, je größer ihre Wählerzahl, können sie sich prinzipiell nicht auf die Auffassungen von Interessenverbänden festlegen; ihre Orientierung ist breiter, sie streben danach, möglichst "Volkspartei" ("Integrationspartei") zu werden. Praktisch stehen dem Bürger bei der Wahl andere als die von den Parteien angebotenen Alternativen nicht offen, er muß sich zwischen ihnen

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entscheiden, also von seinen individuellen Interessen eine im einzelnen nicht beschreibbare, mehr oder minder große Distanz nehmen. Nach diesem Konzept eines Klärungsprozesses, bei dem soziale Interessen von selbst zur Einflußnahme auf die Bildung der staatlichen Entscheidungsinstanzen drängen, aber sich jenem Prozeß unterwerfen müssen, der nur an seinem Ende staatlich organisiert ist, findet eine Selektion unter den vielfältigen Meinungen innerhalb der Gruppe statt, darüber hinaus eine erste Klärung der künftigen Politik als der Verwirklichung der anstehenden Aufgaben sozialer Ordnung. Jedoch kann einer Gruppe auch durch diesen Klärungsprozeß nicht mehr an "sozialer Vernunft" zuwachsen, als sie nach der Struktur der Gesellschaft, in der sie lebt und zu der auch ihre - keineswegs nur durch historische Entwicklung bestimmte - politische Bildung und Urteilsfähigkeit gehören, aufzubringen vermag. Hingegen kann umgekehrt ein unzureichendes Funktionieren dieses Klärungsprozesses (handicaps auf dem "Meinungsmarkt", bei der' Gründung und Wirksamkeit von P~rteien, im Wahlrecht usw.) verhindern, daß vorhandene "soziale Vernunft" zur Wirksamkeit kommt. Deshalb gewinnt die politische Führungsrolle, die innerhalb des staatlichen Herrschaftsapparates selbst organisiert ist, in der Industriegesellschaft eine überragende Rolle. Die Notwendigkeit, anstelle einer "Tagespolitik" als eines Systems ständiger bloßer Aushilfen, deren Wirkungen und "soziale Kosten" oft schwer übersehbar, nur schlecht aufeinander abgestimmt sein können, eine zusammenhängende, geplante, wissenschaftsabhängige Politik zu betreiben, wird offensichtlich. Solche "weitsichtige", "realistische" Politik durchzusetzen, d. h. dafür die Mehrheit in den eigentlichen gesetzgebenden Organen zu gewinnen, wird zur politischen "Führungskunst" von Regierung und Regierungschef. Die erkennbare Abhängigkeit der politischen Führung von den "Fachleuten" schafft freilich neue Probleme, vor allem das der Durchsetzung gegen den Rat der Experten, das bisher vor allem aus dem Verhältnis der politischen Führung zu den militärischen Spitzen bekannt ist. Im Wandel von der Rolle und Figur des souveränen Monarchen zu der eines heutigen "Staatsmanns" drückt sich der Wandel vom "Staat" als bloßer politischer Vorstellung in der Zeit des Spätabsolutismus zur modernen Institution "Staat der Industriegesellschaft" , zugleich der Wandel von der Fürstensouveränität zur modernen Staatssouveränität deutlich aus.

Grund und Grenzen der Verhindlichkeit des Rechts I. Zusammenfassung der gleichnamigen Schrift durch den Herausgeber Draths Schrift über "Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts, Prolegomena zur Untersuchung des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit" ist im Jahre 1963 als Heft 272/273 der Reihe Recht und Staat im Verlag Mohr (Siebeck), Tübingen, erschienen und dort noch erhältlich. Ihre Gedankenfolge ist für seine sozio-kulturelle Theorie des Staats und des Rechts derart grundlegend und wesentlich, daß ich es für geboten halte, an dieser Stelle wenigstens den Inhaltsbericht meiner Rezensionsabhandlung über diese Schrift aus der Juristenzeitung 1965, S. 329-331, zum Abdruck zu bringen. "Die dem Gedenken an Hermann Heller gewidmete Schrift ist die erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser auf entsprechende Einladung vor dem Institut für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften in Moskau gehalten hat. In einem ersten Teil wird der Problemstand der allgemeinen Rechtstheorie in der Bundesrepublik Deutschland zu den beiden Fragen nach dem Grund der Verbindlichkeit des positiven Rechts und nach dem Verhältnis des positiven Rechts zur Gerechtigkeit auf Grund der wissenschaftlichen Diskussion behandelt, die bei uns nach 1945 zwischen den Vertretern des Naturrechts, der Rechtsphilosophie und des Positivismus geführt worden ist, heute aber nach der Meinung des Verfassers zu einem gewissen Stillstand gekommen ist. Und dies zwangsläufig, weil weder Versicherungen der Leistungsfähigkeit z. B. des Naturrechts auf der einen Seite, noch Nachweise von "Beliebigkeiten" bei der Entwicklung von Naturrechtssätzen in der Geschichte auf der anderen Seite grundsätzliche theoretische Standpunkte zu verändern vermögen, zumal die verschiedenen Richtungen im Grunde schon vorher mit ihren verschiedenen Antworten auf die aktuellen Probleme geradezu bereitstanden. "Die eigentlichen Probleme sind geblieben" (S.24). Deshalb sucht der Verfasser einen Ansatz zur Lösung der Probleme an anderer Stelle: Er möchte mit einer gesellschaftlich-kulturellen Theorie des Rechts diejenigen Thesen der Rechtsphilosophie, der Na-

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turrechtslehre, aber auch des Positivismus "aufheben" (in der zweiten Bedeutung dieses Wortes), die, von möglichst unmittelbar einsichtigen Ausgangspunkten aus, rational bestätigt werden. Es folgt eine kurze Darstellung dieser rechtssoziologischen Methode, die schon Georg Jellinek, Max Weber und Hermann Heller ang€wendet hab€n, um die spezifische Verbindlichkeit des Rechts aus seinem sozialen Sinn und Zweck zu verstehen und zu begründen, weil das positive Recht ein Produkt der sozial-kulturellen Entwicklung der Menschen, d. h. der menschlichen Gesellschaft ist. "Nur die Erfahrung kann das positive Recht in den realen Zusammenhängen sehen, aus denen es entstanden ist, beibehalten wird und wirkt" (S.25). Auf diesem Weg glaubt der Verfasser zeigen zu können, "ob, an welcher Stelle und aus welchen Zusammenhängen wir dabei auf das Problem der Gerechtigkeit und auf das von Grenzen der Verbindlichkeit des positiven Rechts stoßen, mit anderen Worten nicht nur, ob diese beiden Probleme mit denen des positiven Rechts selbst bereits verbunden sind, sondern auch in aller Präzision, welcher Art diese Verbindung ist. Schon hieraus könnten Folgerungen für die Lösung dieser beiden Probleme zu gewinnen sein, die jedenfalls rational kontrollierbar wären, nicht nur als innerhalb eines gedanklichen Systems ,logisch', sondern als durch die Wirklichkeit des menschlichen Lebens und des Rechts in diesem Leben selbst real begründet - mit einem freilich vieldeutigen Wort: als nicht-spekulativ" (H€rvorhebung von mir). Entsprechend dieser Methode werden im zweiten Teil der Schrift 25 Thesen mit "ausgesprochen typisierendem Inhalt" aufgestellt, die sich auf den Geltungsgrund und die Grenzen der Verbindlichkeit des positiven Rechts als eines Typs sozialer Ordnung, nicht aber einer konkreten Rechtsordnung beziehen. Es kann nicht der Zweck· einer kurzen Besprechung sein, diese 25 Thesen im einzelnen zu analysieren und kritisch zu beleuchten. Sie sind m. E. als der schon längst fällig gewesene Versuch zu werten, die sowohl in der "kapitalistischen" als auch in der "kommunistischen" Rechtstheorie übliche Schwarz-Weiß-Malerei zweier einander diametral entgegengesetzter Grundauffassungen vom Recht als nicht in der Sache selbst liegend, sondern als ideologisch bedingt zu entlarven und auf soziologischem Weg einen einheitlichen Nenner für diejenige soziale Ordnung zu gewinnen, die innerhalb aller entwickelten Gesellschaften und auch im Zusammenleben der Staaten als spezifische Ordnungsart "Recht" gegenüber anderen sozialen Ordnungen den Charakter verloren hat, traditional zu sein, und statt dessen die Eignung und den Charakter eines Instruments gewonnen· hat. "Eine dynamische Gesellschaft erzeugt immer wieder neue Verhältnisse und Probleme, die die fortlaufende Erzeugung immer neuer Sollens-Normen und damit eine neue, instrumentale

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Ordnungsart erfordern" (These 12). "Weil der Ordnungsart ,Recht' aus ihrer grundsätzlichen Rolle in der dynamischen Gesellschaft die Aufgabe der fortlaufenden Gestaltung dieser Gesellschaft zufällt, kann das Recht - im Gegensatz zu den stabilen, traditionellen Ordnungsarten - als die poLitische Ordnungsart bezeiclmet werden" (These 13). Die bei stabilen Ordnungsarten unbezweifelte Gleichung: bestehende Ordnung = "richtige", "gute" Ordnung kann beim Recht keinen Bestand haben. Sie wird zerstört, denn es ist theoretisch evident und praktisch unausbleiblich, daß der Inhalt von Geboten des Rechts ebensowohl "richtig" wie "willkürlich" sein kann (Ambivalenz des Instruments "Recht" ...). Die auf der rechten Seite der Gleichung befindliche Größe muß bei der Ordnungsart "Recht" von ihrem Platze weichen und einen anderen beziehen, der außerhalb dieser Gleichung für sich allein steht. Auf dem neuen ... Platz kann die Vorstellung der "richtigen" Ordnung sich erst als eine neue Kategorie "Gerechtigkeit" entfalten, kann sie erst zur vollen prinzipiellen Klarheit kommen. Der Tod des Sokrates erhält hierdurch seine Bedeutung: Das Recht, das "richtig" wäre, gilt nicht, und das geltende Recht ist nicht "richtig"; während bei Antigone die alte Ordnung die "richtige" war, ist sie bei Sokrates die "falsche"; während bei Antigone die neue Ordnung gilt, gilt bei Sokrates die alte. Beide unterliegen der "falschen", aber geltenden Ordnung (These 18). "Die Entfaltung der Kategorie ,Gerechtigkeit' vollzieht sich gegenüber dem konkreten Inhalt der konkreten positiven Rechtsordnung: Sie erscheint in Gestalt konkreter Gerechtigkeitspostulate. Diese sind antithetisch zum konkreten Recht" (These 19). Dieser antithetische Charakter der Kategorie "Gerechtigkeit" gegenüber der Ordnungsart "Recht" hindert nicht, daß konkrete Gerechtigkeitspostulate im konkreten positiven Recht erfüllt werden. Nur punktuell, aber nicht prinzipiell gilt dann wieder die Gleichung: bestehende (positive) Ordnung = "richtige" oder "gute" Ordnung (These 20). Der immer erneuten Produktion von Recht entspricht eine immer erneute Produktion von Gerechtigkeitspostulaten; beide sind der dynamischen Gesellschaft immanent (These 22). Gerechtigkeitspostulate stützen sich auf letzte Prinzipien, die man als Grundsätze der bestehenden konkreten Kultur bezeichnen könnte. Die Bedeutung der konkreten Kultur für die Geltung des Rechts zeigt sich beispielsweise bei dem Prinzip des ordre public im internationalen Privatrecht. Sie führt vielfach zur Garantie von Grundrechten in Verfassungen. Sie ist die eigentliche ratio für das Selbstbestimmungsrecht der Völker (These 25). Im dritten Teil der Schrift versucht der Verfasser, die Tatsachen zu klären, die in jeder allgemeinen Rechtstheorie ihren Platz finden 9 Drath

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und die - mindestens der Tendenz nach - deren alleiniges Ausgangsmaterial darstellen sollten. Die geeignete Methode auch hierfür ist die soziologische, weil es sich um soziale Tatsachen handelt. "Dieser Versuch wäre schon dadurch gerechtfertigt, daß beim heutigen Stand unserer allgemeinen Rechtstheorie, wenn überhaupt etwas, so nur ein neuer Anfang weiterhelfen kann, der keine der Prämissen der an der bisherigen Diskussion beteiligten Richtungen zugrunde legt, sondern der es erlaubt, jene Prämissen selbst zu prüfen und ggf. so zu formulieren oder zu korrigieren, daß sie als Subkonstruktion der erweisbaren Tatsachen oder als theoretische Grundlage für möglichst befriedigende gedankliche Lösungen der kulturell-sozialen Probleme des Rechts geeignet sind" (S.39). Unter diesem Gesichtswinkel werden die beiden soziologischen Untermauerungen des Rechtspositivismus - die Anerkennungs- und die Machttheorie, die einander zu widersprechen scheinen - als Idealtypisierungen der beiden extremen Realisierungsmöglichkeiten des Rechts und zugleich als bloße "Momente" dieser Realisierung erkennbar, die einander in der Wirklichkeit des sozialen Lebens nicht ausschließen, sondern einander ergänzen und wechselseitig bedingen. Weder Macht noch Anerkennung fehlen in der Wirklichkeit je ganz. Sie sind zwei dialektisch ineinander- und zusammenwirkende Faktoren. Das rechtliche Sollen, der Geltungsgrund des Rechts selbst, erscheint hervorgegangen aus einer sozialen Notwendigkeit, aus einem Müssen der Gesellschaft. Nur in dem Rahmen, der hiernach sozial vorbestimmt ist, scheint dem Verfasser eine selbständige juristische Normativität der Rechtsgeltung im grundsätzlichen wie im einzelnen möglich zu sein. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung erweisen die Subsidarität der Ordnungsart positives Recht gegenüber anderen Ordnungsarten, weil das Recht ganz prinzipiell auf die sozialen Realitäten abgestimmt und kein "freischwebendes", auch in seinen Fundamenten "an sich" betrachtbares Gebilde ist. Seine Fundamente reichen prinzipiell und im einzelnen in die sozialen Realitäten hinab. Das positive Recht kann als autark nur fingiert werden. Auch das Verhältnis, in dem Rechtsetzung und Rechtsprechung in einer Rechtsordnung zueinander stehen, wird von sozialen Realitäten vorbestimmt. Schließlich wird auch die Auslegung des positiven Rechts vorab nach sozial-kulturellen Gegebenheiten entweder rechtlich positiviert, monopolisiert oder der sozialen Klärung durch Diskussion der Literatur und Praxis überlassen. Die Möglichkeit einer "reinen" Rechtslehre gar für alle Zeiten und Verhältnisse wird zweifelhaft, weil die "Geltung" des positiven Rechts für jede Rechtsordnung verschieden ausgestaltet sein kann. Auch die Geschichte der Lehrmeinungen ist nicht "reine" Geistesgeschichte der juristischen normativen Theorie, sondern zugleich selbst eine Ge-

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schichte der immer neuen Gestaltung der sozialen Rolle des Rechts und der Rechtsprechung in der je konkreten Gesellschaft und für diese. Schließlich nimmt der Verfasser zum Autonomieproblem der Rechtsphilosophie kritisch Stellung unter dem Gesichtspunkt, daß die Geltung des positiven Rechts zurückgeführt werden kann auf ein Gebot, das sich aus der Struktur des menschlichen Seins selbst als eines gesellschaftlichen und deshalb geordneten Seins ergibt. Was vom Standpunkt der Gesellschaft aus der Geltungsgrund des Rechts ist, erscheint vom Standpunkt der Gesellschaftsmitglieder aus als Geltungsanspruch. "Wir sollen prinzipiell rechtlich, was wir regelmäßig letztlich müßten" (S.47). Das Autonomieproblem wird nach der Meinung des Verfassers von außen an das positive Recht herangetragen, während es selbst sein Sollen autoritativ in Anspruch nimmt. Der letztlich vorgesehene Rechtszwang zeige, daß das Autonomieproblem als solches für das positive Recht selbst nicht existiert; erst ein sozial relevanter Umfang von Ungehorsam wird für jede Rechtsordnung beachtenswert. Auch für die Lösung des Autonomieproblems schlägt der Verfasser den Weg über die sozial-kulturellen Tatsachen ein. Zum Ausgangspunkt der Untersuchung nimmt er die rational einsichtigen Tatsachen, mit denen sich ein autonomes Individuum auseinandersetzen muß, wenn es den Geltungsanspruch des positiven Rechts vor seiner Autonomie erwägt. Da allein auf die Rationalität abgestellt wird, setzt Verfasser das autonome Individuum als ein "vernünftiges", wobei "Vernunft" als entscheidende Bestimmbarkeit durch die ratio verstanden wird. Dieser Standpunkt schließt eine Argumentation gegen eine autonome Entscheidung aus, die das Gewissen begründen könnte. Vermag eine Gewissensentscheidung, welche die Verbindlichkeit säkularer Sollens-Ordnungen überhaupt leugnet, im konkreten Fall eine höchst respektable Haltung oder auch, unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten philosophischen Systems gesehen, logisch begründet zu sein, so trägt sie doch den rational erweislichen Realitäten nicht Rechnung, mit denen sich das autonome Individuum auseinandersetzen muß, wenn es sich mit dem prinzipiellen Geltungsanspruch des positiven Rechts befaßt. Diese rational erweislichen Realitäten zeigen, daß das Ganze der Gesellschaft und das Tun und Lassen eines jeden Individuums in ihr eine relative Einheit von Beziehungen zueinander darstellen, die sich in einem geordneten Verhalten der Menschen zueinander bilden und abspielen müssen. Der Verfasser setzt das Verhalten in der Gesellschaft dem Verhalten im Verkehr gleich und meint, daß der öffentliche Verkehr auf den Straßen nur eines der Beispiele für unseren Verkehr in der Gesellschaft überhaupt sei. (Nicht ohne Grund verweisen berühmte Generalklauseln des BGB auf die "Verkehrssitte".) Das "Leben in Ge-

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seIlschaft" ist nicht nur räumlich in ihr, sondern es besteht selbst in den Beziehungen, die die Glieder untereinander haben und ständig in ganz verschiedener Weise und mit ganz verschiedenem Inhalt aufnehmen, betätigen, beendigen oder latent fortbestehen lassen und wieder aufgreifen. "Ohne die hohe Wahrscheinlichkeit, daß in einer bestimmten Lage andere - bestimmte oder unbestimmte - Glieder der Gesellschaft, mit denen ich in soziale Berührung komme oder kommen könnte, sich in bestimmter Weise verhalten, ist kein Leben von Menschen in Gesellschaft, ist kaum ein vorübergehender Rückzug aus der Aktualität der gesellschaftlichen Beziehungen möglich. Die Unvermeidlichkeit ist so zwingend, daß die Vernunft ihre Anerkennung als Tatsache gebietet" (S.53). Das positive Recht mit seiner spezifischen Verbindlichkeit erfüllt prinzipiell die Aufgabe, jene hohe Wahrscheinlichkeit zu begründen, bildet also die notwendige Bedingung dafür, was man nicht nur im Straßenverkehrsrecht den "Vertrauensgrundsatz" nennt. Das positive Recht ist somit prinzipiell auf Grund der sozialkulturellen Entwicklung, aus der es entstanden ist und fortbesteht, unvermeidlich und für die Gesellschaft sowie für ihre Glieder existenznotwendig. Zwar kann eine Vermutung für die Angemessenheit jeder konkreten Rechtsordnung an die Bedürfnisse der betreffenden Gesellschaft aus der Erfahrung nicht begründet werden. Aber das gesellschaftliche Leben ist regelmäßig auf die bestehende Rechtsordnung eingespielt und durch diese so weit geordnet, daß es im großen und ganzen einigermaßen funktioniert, und daß offensichtlich die allgemeine Negierung der Verbindlichkeit dieser Rechtsordnung die größere soziale Störung darstellen würde, ohne daß damit die Erreichung einer angemessenen Ordnung gewährleistet wäre. Da das Bestehen und der Geltungsanspruch einer objektiven Sozialordnung aus der Sachlogik des sozialen Lebens heraus als existenznotwendig für die Gesellschaft und ihre Glieder erkannt sind, können sie nach der Meinung des Verfassers auch vor der Autonomie des Individuums als gerechtfertigt gelten. Autonomie ist nicht identisch mit der Fähigkeit zu nur logischem Verhalten, sondern zu sachgerechtem Verhalten, so wie Rationalität sich nicht in bloßer Logik erschöpft, sondern darüber hinaus "verständiges" Denken umfaßt. Die Annahme einer Autonomie, die zu verstehen wäre als Freiheit zu subjektiv gewolltem Verhalten in der Gesellschaft, würde auf einer ganzen Reihe von Irrationalitäten beruhen, die der Verfasser im einzelnen aufzählt und nachweist. Das Gebot der ratio als des sachgerechten Denkens und das Gebot des Prinzips der Vermeidung des Selbstwiderspruchs zwingen dazu, die Verbindlichkeit der objektiven Ordnung des Soziallebens prinzipiell anzuerkennen, sie in den eigenen Willen prinzipiell aufzunehmen und so den Geltungsanspruch der gesell-

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schaftlichen Ordnung prinzipiell zu akzeptieren (S. 59). Das autonome Individuum wird, wie man sieht, vor sein eigenes reales Verhalten und Tun, fort von einer davon gelösten und deshalb willkürlichen nurintellektuellen These gestellt. Für das autonome Individuum wird das Zuended~nken des eigenen wirklichen Tuns und Lassens zum Orientierungsprinzip, während für den Rechtspositivismus das Zuendedenken der Möglichkeiten und Implikationen des eigenen positivistischen Ausgangspunktes, nicht die Beachtung einer naturrechtlichen Antiposition, zum Prinzip erklärt wird. Bei beiden handelt es sich um je ihre eigene (immanente) Wirklichkeitsstruktur, die sie - jeder für sich selbst vor die unabweisbare Notwendigkeit stellt, die Aufgabe des Ausgleichs zwischen Gesellschaft und Individuum in sich selber aufzunehmen. Von diesem rationalen Gebot der Anerkennung seines Geltungsanspruchs wird auch der "Zwangscharakter" des positiven Rechts umfaßt. Rechtszwang ist durch die Notwendigkeit, den Zustand des Geordnetseins der Gesellschaft nicht nur durch Gebote anzustreben, sondern effektiv herbeizuführen, prinzipiell begründet. "Er ist aus der Sachlogik des Lebens in Gesellschaft selbst rational gerechtfertigt - auch vor der ratio des autonomen Individuums" (S. 60)". 11. Nachtrag vom Verfasser Als Nachtrag Draths zu seinen Diskussionen in der Moskauer Akademie der Wissenschaften muß ein Beitrag mit dem Titel "Der Einfluß des Denkens über Recht und Gerechtigkeit auf das öffentliche Bewußtsein im Westen und im Osten" angesehen werden, den er im Jahre 1966 auf einem "Wissenschaftlichen Kolloquium über Fragen des übergangs in die Weltordnung des Atomzeitalters" in München vorgelegt hat und der bisher nur als Manuskript vervielfältigt war.

I. Der lange weltpolitische Gegensatz zwischen Ost und West hat zu einer weitgehenden Konfrontation auch des Denkens über Recht und Gerechtigkeit geführt: "Staaten der Unfreiheit" oder "Unrechtsstaaten" werden die Staaten des Ostens im Westen oft genannt - "Ausbeuterstaaten" oder "imperialistische" Staaten umgekehrt die Staaten des Westens im Osten. Der wechselseitige Vorwurf oder Verdacht der "Aggressivität" will nicht leicht schwinden. Soweit solche Formulierungen ersichtlich als Kampfparolen gegen die andere Seite und zugleich zur Festigung der eigenen Reihen dienen, habe ich sie heute nicht zu untersuchen; das gehört zwar zum Gesamtthema unseres Kolloquiums, wäre

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aber nur ein Beispiel für die Bildung, den Gebrauch und die soziale und politische Wirkung von "Stereotypen", von denen wir schon heute vormittag als einem allgemeinen sozialpsychologischen Phänomen gehört haben. Wichtig ist hingegen, daß diese kämpferischen Auffassungen längst auch in das wissenschaftliche Denken übernommen worden sind, bei uns z. B. in manche "Totalitarismus"-Theorien, die doch als wissenschaftliche Theorien der nur kritischen Analyse - ohne Werturteile - zu dienen prätendieren. Solche Kampfpositionen haben sogar in der Theorie eine ältere Fundierung oder Fundierbarkeit schon vorgefunden. Dies gilt eindeutig für die sozialwissenschaftliche Theorie des Ostens, zu der eine Lehre von der Ausbeutungs- und Unterdrükkungsfunktion jedes Staates und seines Rechts und von der besonderen Aggressivität und der Tendenz zu besonderer, zu "faschistischer" Unterdrückung im Stadium des Imperialismus gehört. Es gilt aber (in freilich vielfältiger oder vieldeutiger Weise) auch für manche unter den Theorien des Westens über Staat, Recht und Gerechtigkeit: sie erfüllen - auch wenn sie subjektiv nicht so gemeint sind - doch objektiv die Funktion von Konfrontationstheorien wie jene des Ostens, wenn sie z. B. Staat und Recht aus Ideen begründen, die mit konkreten "westlichen" Wertvorstellungen gekoppelt sind. Manche unserer Autoren vertreten sogar bewußt den Standpunkt, es sei notwendig, dem Osten in der gleichen Weise zu begegnen, wie er sich dem Westen gegenüber verhalte. Andere halten die Entwicklung von Konfrontationstheorien auch im Westen und für den Westen aus dem Gegenstande selbst, dem Thema Recht und Gerechtigkeit heraus für ganz unvermeidlich; denn diese bei den seien viel zu wichtig, als daß man bei ihrer Behandlung nicht prinzipiell "Stellung nehmen" müsse. Dieses Wort "Stellung nehmen", dessen Herkunft aus eindeutigen Konfrontationslagen unverkennbar ist, gibt diesen Standpunkt plastisch und adäquat wieder. Nun wird niemand diesen Ausgangspunkt, die Bedeutung von Recht und Gerechtigkeit und damit auch von aller Theorie über diese beiden, leicht unterschätzen, da sie unmittelbar die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens betreffen, also alle menschlichen "Verhältnisse" und alles, was wir in ihnen tun und lassen oder was wir aus ihnen selbst machen, damit also letztlich die gesamte Existenz der Menschen in der societas. Man kann aber wohl die Richtigkeit des Schlusses aus dieser praktischen Bedeutung des Gegenstandes auf die Unumgänglichkeit einer wertenden Stellungnahme auch für wissenschaftliche Behandlungen in Zweifel ziehen. Dabei muß man freilich differenzieren: Es kann außerordentlich fruchtbar sein, wenn man seine eigene theoretische Klarheit durch die Auseinandersetzung mit einer anderen, gegnerischen Theorie in kritischer, d. h. in wissenschaftlicher Weise gewinnen kann. Aber die mo-

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derne Wissenschaftstheorie zeigt uns, daß es sich bei aller Theorie immer nur um mögliche Aspekte der sozialen Wirklichkeit handelt, die wir nicht beweisen, sondern nur zur Gewinnung eines unter vielen möglichen Zugängen zu einer unter vielen möglichen Einsichten in diese Wirklichkeit vorschlagen können. Wer lebt, muß zwar Stellung nehmen und tut das auch praktisch immer, ja tagtäglich. Wer aber Wissenschaft betreibt, muß in ihr seine wertende Stellungnahme zurückstellen. Das müßte sich dann, wenn das Thema solche praktische Bedeutung hat, wie es bei einer Theorie von Recht und Gerechtigkeit unstreitig der Fall ist, sogar besonders bewähren! Die Höhe einer Kultur und ihrer Leistungen, einsch!. derer der Wissenschaft, erweist sich nicht durch Beteuerungen, sondern durch ihre Verwirklichung, so wie das Werk für den Künstler spricht; die Verwirklichung wird sogar oft eher gefährdet als gefördert durch Elogen, die man sich selbst spendet. Es hat also seinen guten Sinn, wenn sogar rein sprachlich jede Emphase als unwissenschaftlich gilt; aber damit ist mehr gemeint, nämlich daß wir zwar zum Denken und Weiterdenken über den Bestand des schon Gedachten hinaus immer "e-moviert", also "motiviert", d. h. emotional ver anlaßt werden, daß aber der Inhalt unseres wissenschaftlichen Denkens selbst - und nicht nur dessen sprachliche Formulierung - von Emotionen frei bleiben soll. Emotional ist nicht nur jede ausdrückliche und bewußte Wertung, sondern jede Wertung überhaupt, die unbewußte nicht minder als die bewußte. Eine der wichtigsten unbewußten Wertungen beruht darauf, daß uns das eine bekannt und vertraut, eine Selbstverständlichkeit geworden ist, das andere unbekannt, neu und fremd. So wie Bekanntes leicht die Billigung als etwas Selbstverständliches findet, findet Unbekanntes, Fremdes leicht die Mißbilligung als zugleich Befremdliches. Dies gilt besonders dann, wenn es als eine Antithese zum uns Bekannten und Selbstverständlichen betrachtet wird, gar von vornherein sich selbst betrachtet und bezeichnet. Dann erscheint die Konfrontation schon hierdurch "von selbst" gegeben, werden leicht zu allen Werten, die man als diejenigen der eigenen Verhältnisse, Institutionen, Denkweisen, Ordnungen erlebt, die entgegengesetzten Unwerte auf der anderen Seite gefunden, werden aus dem Erlebnis dieses Gegensatzes die eigenen Werte - nicht nur ihre abstrakte RangsteIlung, sondern auch ihre konkrete Realisierung - überhöht, werden umgekehrt leicht die Werte der Gegenseite unterschätzt in ihrem Rang wie in ihrer Verwirklichung, werden Gefahren oder Unwerte der eigenen "Verhältnisse" großzügiger betrachtet, solche bei der Gegenseite betont usw. Das ist leicht zu belegen: Bei Konfrontationslagen ist unser Urteil mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in den Wissenschaften, z. B. in der Geschichtswissenschaft (aber keineswegs nur in ihr), anders, wenn wir in

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dieser Weise an der beurteilten Lage selbst beteiligt sind, als wenn wir als Unbeteiligte darüber sprechen und schreiben. Ja, sogar dem Grade unserer Beteiligung korrelieren die Gefahr und der Grad emotionaler Befangenheit in der Lage, die als Konfrontationslage erlebt wird. So wird auch wissenschaftliche Analyse und theoretische Erfassung ihrer Ergebnisse leicht zu einer Verteidigungs- oder Rechtfertigungsideologie einerseits und Angriffsideologie andererseits. Auch Wissenschaftlern trübt sich also durch innere und äußere Beteiligung an der Lage, in der und zu der sie sprechen, der kritische wissenschaftliche Blick oder fließen sogar Formulierungen in die Feder, die auf Rechtfertigung oder Angriff hinauslaufen. Die Erfahrung, daß nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern die Geschichte aller Sozialwissenschaften von solchen Phänomenen und ihren Korrekturen aus größerer Distanz wimmelt, genügt zur Vermeidung solcher wissenschaftlicher Mängel nicht. Auch damit, daß man auf Grund der bloßen Konvention jedem Wissenschaftler Distanzierung von der eigenen Beteiligung an einer Lage, in der sein Thema steht, abverlangt, ist es nicht getan. Die Aufgabe des Wissenschaftlers selbst, seinen Gegenstand zu "beschreiben" und zu "erklären", scheint ihn auf die Basis einer communis opinio gerade in einer allgemein als solche erlebten Konfrontationslage zu zwingen: Schon die "Beschreibung", erst recht die "Erklärung" muß ihren Gegenstand in einer freilich in der Wissenschaftstheorie noch wenig geklärten Weise "verständlich" machen für diejenigen, die als die Adressaten im wissenschaftlichen Dialog gedacht werden. Diese müssen also nicht nur den behandelten Gegenstand, sondern wenn er - wie bei allen sozialwissenschaftlichen Gegenständen - Menschen betrifft, auch sich selbst in jener Beschreibung und Erklärung wiederfinden, wiedererkennen können. Deshalb gehören Anknüpfungen und Einfluß auf das bisherige "Selbstverständnis" wohl untrennbar zur "Beschreibung" und "Erklärung" sozialwissenschaftlicher Gegenstände. Das bisherige Verständnis des Gegenstandes und das bisherige Selbstverständnis des Lesers und Hörers bestimmen weitgehend die Möglichkeiten und Grenzen der Verständigung, die auch in den Wissenschaften eine Kommunikation bleibt, selbst wenn eine Theorie sich auf unsere eigenen Verhältnisse beschränkt, bestimmt also eine Konfrontationslage gegenüber dem Osten, die gar als eine Bedrohung empfunden wird, die im allgemeinen Bewußtsein tief verwurzelt und über die Grenzen dessen, was uns bewußt ist, hinaus geistig wirksam ist, weitgehend auch die Möglichkeiten und Grenzen des Verständnisses sozialwissenschaftlicher Theorie. Hier wirken wahrscheinlich die von der Sozialpsychologie festgestellten Bedürfnisse nach Orientierungsgewißheit als eine unbewußte Abwehr von Fremdem, bisher nicht Gedachtem, die bisherige eigene geistige

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Orientierung scheinbar Erschütterndem, kurz allem, was von der communis opinio abweicht. Ungetrübte übereinstimmung mit den anderen hingegen betrachtet man leicht als eine Garantie auch der Richtigkeit derjenigen geistigen Orientierungen, die als die "Gegebenen" nicht nur im Sinne ihrer faktischen Existenz, sondern ihrer Richtigkeit - also in dem zweiten Sinne dieses Wortes "das Gegebene" - erscheinen. Das zeigt sich oft, wenn ganz neue Theorien auftreten: sie werden dann, wenn sie in Konfrontationslagen der communis opinio nicht genügen, leicht als befremdlich, also falsch, ja als "Verrat" betrachtet. Bekanntlich sind auch Wissenschaftler gegen Erschütterungen herrschender Auffassungen, der communis opinio doctorum, nur graduell unempfindlicher als "jedermann" gegen Erschütterungen einer allgemeinen communis opinio, die Bestandteil der eigenen geistigen Orientierung in als geradezu vital angesehenen Fragen und Lagen wirksam ist. Jede sozialwissenschaftliche Beschreibung und Erklärung, die diese Lage nicht genügend berücksichtigt, wird es schwer haben, als verständlich, ja überhaupt als verständig zu erscheinen und so zu derjenigen Erkenntnis beizutragen, die sie gerade fördern will. Das ist kein nur "taktisches" Problem, etwa wie die bekannte Frage "Wie sage ich es meinem Kinde?". Denn es geht nicht nur darum, daß neue Erkenntnis keineswegs vorweg als Befreiung von bisheriger Begrenzung der Sicht erlebt wird, die begrüßt würde, sondern in solchen Dingen und Lagen, wie die hier erörterten, eher als eine Gefährdung, die es möglichst abzuwehren gilt. Vielmehr scheint Theorie über Recht und Gerechtigkeit unvermeidlich schon dadurch, daß sie beschreibt und erklärt, entweder rechtfertigen oder aber in Zweifel ziehen zu müssen, was sie beschreibt und erklärt, dadurch nämlich, daß sie ihr Objekt entweder als problemlos oder aber als problemvoll behandelt und aus welchen Gründen und wie weit problemvoll, vor allem dadurch, worin sie seine Problematik sieht. In unserem Falle ist das bei dem Gegenstande "Gerechtigkeit" offensichtlich; bei dem Gegenstande "Recht" liegt es aber deshalb nicht anders, weil auch die bestehenden Vorstellungen vom Recht selbst zu den Konstituentien jedes sozialen Lebens gehören, dieses also insoweit selbst verändert wird, als man jene Vorstellungen verändert. Viele bedrängt vielleicht diese Tatsache nicht, wahrscheinlich am wenigsten die, die sagen könnten, sie hätten das immer schon gewußt und deshalb gewarnt: kritische Theorie gegenüber den eigenen "Verhältnissen" sei durchaus unangebracht, weil sie nur die eigene Position in der gegebenen Konfrontationslage schwäche. Dieser Standpunkt würde nun freilich zu einer völligen Erstarrung führen und wird schon des·· halb kaum große ausdrückliche Zustimmung finden. Es gibt aber andere Auffassungen, die weniger simpel ausgedrückt und begründet werden,

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jedoch im Ergebnis - der Rechtfertigung von Angriffs- und Verteidigungsideologie im wissenschaftlichen Gewande - nicht weit entfernt bleiben. Ich verneine solche Positionen aus zwei Gründen: 1. Den ersten Grund betrachtet man bei uns als einen Grund der

Wissenschaftlichkeit selbst. Die Wissenschaften haben nicht die Aufgabe, politische Ziele zu verfolgen oder politische Zustände zu rechtfertigen, sie haben Erkenntnis um der Erkenntnis willen zu erstreben. Dies gilt bei uns als selbstverständliche Auffassung, sobald man abstrakt hierüber spricht; steht es aber ebenso selbstverständlich in der Praxis? Betrachtet man die erwähnten Konfrontationstheorien, dann erscheint diese Auffassung gar so selbstverständlich nicht mehr; denn sonst würde es "unmöglich" sein, sich nicht nach ihr zu richten - es würde evtl. den Autor selbst, jedenfalls aber seine Arbeit als eine wissenschaftliche "unmöglich machen". In der Tat ist jene Auffassung von der Wissenschaft auch keineswegs selbstverständlich! Sie ist selbst eine politische und soziale Position (also Thesis), ist also nicht wertungsfrei. Sie ist unter klar erkennbaren sozialen und politischen Bedingungen gewachsen, die überhaupt erst zur Ausbildung einer "Wissenschaft als Selbstzweck" - genauer: zum Zwecke der "reinen", nämlich möglichst unbeschränkten Erkenntnis, also ohne Rücksicht auch auf die möglichen Ergebnisse, auf deren Erwünschtheit oder Unerwünschtheit - geführt haben. Diese Position ist "richtig" nur, solange solche Bedingungen fortexistieren und man es bejaht, daß sie erhalten bleiben sollen. Zur Begründung dieser Position genügt nicht, daß wir aus erkenntnistheoretischen Gründen wissenschaftliche Aussagen nur auf einem begrenzten Gebiet oder in begrenztem Rahmen machen können, also Aussagen mit dem Anspruch auf intersubjektive Akzeptierbarkeit, Aussagen, die einerseits konfirmiert, andererseits falsifiziert werden können; denn auch wenn das erkenntnistheoretisch feststeht, bleibt es eine Entscheidung, manchmal eine solche der bloßen Zweckmäßigkeit, manchmal der Moral, ob jemand sich auf Aussagen wissenschaftlichen Charakters beschränken will oder nicht. Man nimmt meistens an, es handle sich um eine nur individuelle "Moral". Das ist nicht der Fall! Es geht vielmehr um eine soziale und politische Moral, eine Moral, die selbst zu den fundamentalen Konstitutions- und Funktionsprinzipien unserer eigenen geistigen, sozialen und politischen Welt, unserer eigenen Kultur gehört. Sie ist in ihr m. E. unaufgebbar, weil unser individuelles, soziales und politisches Leben, unsere ganze Kultur so organisiert sind, daß sie ohne dieses Prinzip unvorstellbar verändert, in ihrem Funktionieren gestört würden. Um das zu belegen, genügt es nicht, darauf hinzuweisen, daß wir alle das einmal praktisch erlebt haben. Dieses

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Argument würde nur den überzeugen, der diese Periode unserer jüngsten Geschichte ähnlich beurteilt. Jedem anderen müßte man den Dekompositions- und Defunktionalisierungsprozeß erst evident machen, der gerade durch die Preisgabe jener wissenschaftlichen Moral in unserer Kultur eintreten würde, müßte man zeigen, aus welchen funktionalen Zusammenhängen "Wissenschaft als Selbstzweck" gerade in den Sozialwissenschaften ein konstituierendes, ein "existentielles" Element unserer Kultur ist. Nun kann ich diese Analyse unseres heutigen sozialen und politischen Lebens und seiner Funktionsbedingungen und -zusammenhänge nicht en passant hier vornehmen. Ich muß mich also auf die unbelegte These beschränken, daß Wissenschaftlichkeit in dem oben beschriebenen Sinn für uns eine unaufgebbare Funktion besitzt, daß wir unsere eigene Kultur destruieren, wenn wir sie aufgeben, und daß das so auch dann bliebe, wenn es etwa im Osten grundlegend anders stünde. Wer sie aus diesem letzten Grunde bei uns aufgeben wollte, hätte sich bereits "gleichgeschaltet" und wäre im Begriffe, uns alle "gleichzuschalten". Er käme zu seiner Beteuerung unserer eigenen kulturellen Werte gegenüber dem Osten just in dem Augenblick, in dem er jenen tragenden Wert unserer eigenen Kultur preisgäbe. Hier wird eine tiefere soziale und politische Verantwortung erkennbar als die, die aus einer Angst vor Beunruhigung entspringt. Denn nur für das unkritische Bewußtsein ist die Zweckfreiheit der Wissenschaft zu einem gewissen "Wert an sich" geworden und hat er sich von seiner fundamentalen Zugehörigkeit zu unserer Kultur gelöst. Diese Erkenntnis ist wichtig; sie führt mich zum zweiten Grunde meiner Ablehnung von Angriffs- oder Verteidigungsideologie in wissenschaftlichem Gewand, der durch die Radizierung der Zweckfreiheit der Wissenschaft auf jene Verantwortung für unsere Kultur bereits vorbereitet ist: 2. Soziale Verantwortung ist nicht mehr begrenzbar auf unseren eigenen Kulturbereich, etwa den der Bundesrepublik, den des Westens oder des "Abendlandes". Sie umfaßt heute über jene Bereiche hinaus evident die Verpflichtung, eine gegebene Konfrontation zwischen West und Ost nicht durch Konfrontationsideologie zu verschärfen. Das will mir als eine der wichtigsten unter allen möglichen Verantwortungen erscheinen, die uns heute auferlegt sind, weil sonst die Möglichkeit jeder Zukunft von Menschen hüben wie drüben im wörtlichen Sinne auf's "Spiel" gesetzt wird: Wer die Konfrontationslage verschärft, spielt heute real mit der Zukunft der Menschheit. Die aus der ganzen bisherigen Geschichte hinlänglich bekannte Begründung hierfür, wenn erst einmal aus solchem Spiele Ernst geworden ist, daß der andere angefangen habe und man selbst

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Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts sich nur zur Wehr setze, hat immer beiden Seiten zur bequemen Verfügung gestanden, hat nie geschehenes Unheil wirklich erklärt, geschweige denn ungeschehen gemacht. Selbst wenn wir unterstellen wollten, daß der Osten diese Verantwortung nicht akzeptiere und praktiziere, wäre unsere eigene Verantwortung dadurch nicht aufgehoben, sondern nur erhöht, bliebe ihre Erfüllung der nur desto wichtigere Dienst, den wir als den Beitrag unserer eigenen Kultur, die sich nicht selbst aufgeben kann, zur Kultur der Menschheit und also vorweg zu ihrer Fortexistenz zu leisten hätten. Gerade, wer sich nicht selbst aufgeben will, indem er nach außen "die Hände hochhebt", sollte wenigstens konsequent sein und sich nicht selbst dadurch aufgeben wollen, daß er nach innen seine fundamentalen kulturellen Prinzipien und Werte verläßt, sich in dieser Hinsicht selbst "gleichschaltet", die Konfrontation steigert und so die gerade nach seiner eigenen Ansicht bestehende, jederzeit aus unbekanntem Anlaß und sogar aus "Zufall" aktualisierbare Gefahr eines Untergangs von außen noch vergrößert, bei dem er dann nicht einmal mehr "die Hände hochheben" könnte.

Von diesen beiden Gesichtspunkten aus, der Verantwortung für unsere eigene Kultur und der umfassenderen Verantwortung für das Schicksal der Menschheit bei der heutigen Konfrontationslage und bei den Mitteln, zu deren Anwendung es bei einem Kriege kommen würde, finde ich erst eine Antwort auf die bedrängende Frage, ob man die Vorstellungen über das Recht und die Gerechtigkeit, die ebenfalls zu den Konstituentien unseres sozialen Lebens gehören, durch neue Theorie verändern darf, ohne dabei die Gefahr heraufzubeschwören, die viele bei uns deshalb annehmen, weil damit eine "Erweichung" gegenüber dem Osten verbunden sei. Ich führe das im folgenden aus, weil es ein Beispiel dafür ist, was moderne Sozialwissenschaft zur Klärung von Positionen durch Theorie und Begriffe beitragen kann, wie ich selbst sie auf meinem Arbeitsgebiete in Moskau unternommen habe: Die Sozialpsychologie weiß, daß die modernen Groß gruppen, die in den Staaten organisiert sind, ein "Wir-Gefühl" entwickeln, das immer mit einer Vorstellung von besonderen Werten der eigenen Gruppe verbunden ist, Werten, die gerade von ihr und in einer - mit dem abstrakten Werte selbst oft ganz identifizierten - konkreten Weise nur von ihr getragen und realisiert würden. "Besonderheit" dieser Werte bedeutet per definitionem "in Abhebung von, ja in mehr oder minder ausgesprochenem Gegensatz zu" anderen ähnlich organisierten Großgruppen und den Werten, die diese bejahen und die man von außen evtl. sogar als Unwerte, jedenfalls als Abweichungen von den eigenen Werten ansieht. Die Entwicklung der Nationalstaaten ist durch eine

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Tendenz zu einer ausgesprochenen Gegensätzlichkeit dieser Wertungen gekennzeichnet, wie wir wissen; diese hat beispielsweise erst die allgemeine Wehrpflicht und die "Volkskriege" der Neuzeit möglich gemacht. Hieran waren auch die Unterschiede der inneren sozialen Ordnungen mitbeteiligt, das Interesse an der "nationalen Selbstbestimmung", wie die Geschichte Europas seit 1789 zeigt. Diese Ordnung wurde selbst zu einern sozialen Wert, auf den sich das "Wir-Gefühl" erstreckte. Hier dürfte die Stelle sein, an der speziell die Vorstellungen vorn Recht und der Gerechtigkeit zu Konstituentien der staatlich organisierten Großgruppen geworden sind. Es handelt sich bei ihnen wie bei manchen anderen Vorstellungen um Elemente des "allgemeinen Bewußtseins", also der Auffassung, die man sich von realen Gegebenheiten macht, einer wertenden Beurteilung und Stellungnahme, die zu einern mehr oder minder entscheidenden Stück der komplexen Motivationen unseres realen Verhaltens wird. Diese einmal gebildete Auffassung, dieses "allgemeine Bewußtsein" ist selbst eine empirisch feststellbare Gegebenheit, aber keine unabänderliche; ihr jeweiliger Inhalt ist nicht per se schon existenznotwendig. Wir haben das in jüngster Zeit an unserem Verhältnis zum früheren " Erbfeind " Frankreich erlebt. Wir erleben es heute in Anfängen bei der weitgreifenden "Entspannungspolitik" in Europa und der Welt. Bereitschaft zur Änderung der realen Verhaltensweisen gegenüber "den anderen" ändert auch jene Auffassungen und umgekehrt: mit einer Veränderung jener Auffassungen tritt auch eine Bereitschaft zu neuen Verhaltensweisen ein. Wer gegen eine Änderung unserer Theorien über Recht und Gerechtigkeit die Gefahr einer "Erweichung" gegenüber dem Osten geltend macht, stellt sich nicht nur gegen einen Abbau der bestehenden Konfrontationslage. Er denkt in einer Kategorie "geistige Rüstung", wiederholt auf geistigem Gebiet das, was wir aus der Abrüstungsproblematik kennen: der Abbau auf beiden Seiten müßte die beiderseitige relative Stärke in jedem Stadium des Prozesses gewährleisten, und wird so zum Dogmatiker, der den Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis abbrechen will aus politischen Zweckrnäßigkeiten. Er sollte wenigstens wissen, daß er aus solchen Gründen zur wissenschaftlichen Unaufrichtigkeit bereit ist, ja sie zum Postulate an andere erhebt. Doch lassen wir auch dies einmal beiseite! Dann käme es darauf an, ob wirklich eine Gefahr des Zerfalls innerer geistiger Geschlossenheit durch neue Theorie über Recht und Gerechtigkeit in Ost und West besteht. Ich schätze sie erheblich geringer ein, und zwar in Ost und in West, als diejenigen, die bei uns eine "Erweichung" gegenüber dem Osten dadurch befürchten. Ich erwarte vielmehr von einer gegenseitigen Klärung eher einen Beitrag zum gegenseitigen besseren Verständnis, das zu einern Abbau der bisherigen Konfrontationslage im realen gegenseitigen Verhalten beitragen kann, soweit diese auf Urteilen des stets nur vagen, also unzuver-

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lässigen "allgemeinen Bewußtseins" über Recht und Gerechtigkeit hüben und drüben beruht. Daß das im konkreten Fall, von dem ich spreche, auch von dem Inhalt der Theorie über Recht und Gerechtigkeit und von den Partnern der Diskussion abhängt, will ich nur am Rande bemerken. Trifft dies alles zu, dann kann es also für mich nur die Entscheidung geben, die durch die beiden erwähnten Verantwortlichkeiten bestimmt ist. II.

Nun war es nicht ursprünglich die überlegung der hier dargelegten Zusammenhänge, die mich zu dem konkreten Versuch einer wissenschaftlichen Diskussion über Probleme von Recht und Gerechtigkeit im Rahmen der Moskauer Akademie der Wissenschaften veranlaßt hatte, von der ich später berichten will. Ausgangspunkt war vielmehr ursprünglich der Versuch, dieses Thema zunächst für mich selbst wissenschaftlich zu klären, um bei uns eine Diskussion, die in zwei unvereinbaren Positionen - hie "juristischer Positivismus", hie "Naturrechtslehre" - erstarrt war, überhaupt erst wieder möglich zu machen. Als ich dann die Einladung der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften zu einem Vortrag erhielt, habe ich dieses Thema angeboten, weil ich meine Arbeit soweit abgeschlossen hatte, daß ich über sie berichten konnte. Mein erster Irrtum war, daß man mein Thema "Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts" akzeptieren würde, weil man an einem Bericht über den Stand jener Diskussion in der Bundesrepublik interessiert sei, also aus rein informatorischem Bedürfnis. Es zeigte sich aber, daß man solche Information nicht brauchte, weil man in Moskau diese Diskussion ebenso kannte wie ich selbst. Mein zweiter Irrtum war, daß man meine eigenen Thesen, die diese Diskussion weiterführen sollten, indem sie den Disputanten bei uns selbst wieder die Möglichkeit einer gemeinsamen, von beiden Seiten unbestrittenen Basis ihrer Diskussion zeigten, in Moskau für Nonsens erklären würde, weil sie mit den sowjetischen Thesen und Prämissen unverträglich seien und man in diesen - ähnlich dogmatisch wie bei uns oft - eine ganz andere, eine innerlich gewisse, folglich auch undiskutierbare Position zu haben glaubte, und daß man jeden "verreißen" würde, dessen Thesen sich nicht mindestens in diese eigene sowjetische Positi'On reibungslos einfügen, letzten Endes zu ihr selbst hinführen würden. Es zeigte sich aber, daß - um es kurz zu sagen - eine wissenschaftliche Diskussion stattfand, wie sie besser nicht sein konnte. Damit bin ich zum zweiten Teil dessen gelangt, was ich sagen will.

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IH. Zunächst muß ich mein Problem kurz umreißen: Ersichtlich ist die staatliche Rechtsordnung ein der Tendenz nach in sich kohärentes System von Rechtsnormen. Wir sprechen von einer "Einheit der Rechtsordnung". Die ist nicht immer schon in den Normen, die unsere Gesetze enthalten, einfach gegeben; denn dem Gesetzgeber mag - um nur dies eine zu nennen - mancher Mangel in dem Produkt seiner Arbeit entgehen. Deshalb ist es die Aufgabe derjenigen, die das Recht auszulegen und anzuwenden haben, mit diesen Mängeln dadurch fertig zu werden, daß sie durch ihre Arbeit diejenige innere Kohärenz der Sollensordnung "Recht" herstellen, die der Gesetzgeber nicht vollkommen hat herstellen können. So wird die Rechtsordnung zu einem in sich relativ geschlossenen "System" der Rechtsnormen. Als ein solches System kann und muß das Recht folglich "systematisch" und also rechts-"dogmatisch" behandelt werden. Aber dieses in sich theoretisch relativ geschlossene System "Recht" existiert offensichtlich nicht "an sich" und "für sich", sondern hat einen rationalen Sinn und Zweck, der in demjenigen sozialen "Sein" gesucht werden muß, in dem das Phänomen Recht sich vorfindet. Es ist die Aufgabe einer ganz anderen Wissenschaft vom Recht, dessen soziale Funktion zu klären, die Aufgabe einer sozialwissenschaftlichen allgemeinen Rechtstheorie. Diese kann zeigen: Die Gebote des Rechts sind Sollensgebote für unser soziales Verhalten. Sie werden aufgestellt, um dieses Verhalten zu ordnen und zu stabilisieren, dadurch zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Kooperation mittels Begründung hinreichend zuverlässiger gegenseitiger Erwartungslagen und eigener Verhaltensdispositionen möglich zu machen. Um dieses Funktionierens von sozialem Leben willen treten die Rechtsgebote dem tatsächlichen oder mutmaßlichen "Sein" des Verhaltens der Menschen mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit eines "Sollens" für unser Verhalten gegenüber. Indem jene Verbindlichkeit effektiv gemacht wird, wird soziales Leben in einer differenzierten und komplizierten, obendrein einem ständigen und rapiden sozialen Wandel unterworfenen Gesellschaft überhaupt erst möglich gemacht. Zu diesem sozialen Sinn und Zweck also haben wir die ganzen Veranstaltungen der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und ihrer Durchsetzung der rechtlichen Gebote, ja sogar der juristischen dogmatischen Wissenschaft überhaupt nur. Von den Ordnungsintentionen, die in einer Gesellschaft jeweils maßgebend sind, wird deshalb nicht nur der Inhalt der rechtlichen Gebote abhängen, sondern auch die grundsätzliche Aufgabe der Gesetzgeber einerseits, der Richter anderer- und der Durchsetzungsorgane dritterseits. Auch deren Organisierung, Zusammensetzung und Verfahren, ihre Zu-

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ordnung zueinander und damit die Methodik ihres Vorgehens kann nicht nur, sondern muß mit innerer Zwangsläufigkeit von jener grundsätzlichen sozialen Funktion des Rechts in der Gesellschaft weitgehend bestimmt sein, weil diese Funktion immer unter konkreten Bedingungen und zu konkreten Ordnungszielen ausgeübt wird. Zu den konkreten Bedingungen gehört immer, wieweit auf eine rechtliche Regelung verzichtet werden kann oder nicht, weil etwa das Verhalten der Menschen in mancher Hinsicht ohnehin den intendierten Ordnungszielen entspricht; denn die soziale Ordnungsfunktion speziell des Rechts ist geradezu per definitionem immer subsidiär, d. h. sie besteht nur, soweit ihre Ausübung konkret als sozial unerläßlich gilt. Nicht eine abstrakte Rechtsidee ergibt also alles Entscheidende über das Recht, das in einer sozialwissenschaftlichen allgemeinen Rechtstheorie auszusagen wäre, sondern diese abstrakte soziale Funktion des Rechts unter den konkreten Bedingungen und zu den konkreten sozialen Ordnungszielen. Die übliche Formulierung der Rechtsgebote in einem "Wenn-Dann"-Satz läßt das "Um-Zu", also die Ordnungsintention, die hinter dem in diesem Satz enthaltenen Verhaltensgebot steht, formal nicht in Erscheinung treten und führt dadurch oft zu einer einseitigen, dogmatischen Behandlung des Rechts als vermeintlich allein zulässiger wissenschaftlicher Behandlungsweise; aber schon die Rechtsphilosophie, die eine "Rechtsidee" vertritt, oder die Naturrechtslehre, die z. B. ein bonum commune lehrt, dem die Rechtsordnung zu dienen habe, betonen demgegenüber die soziale Ordnungsintention, die dem Recht zukommt, im Grunde also seine soziale Funktion auch dann noch, wenn sie die Rechtsidee oder das bonum commune inhaltlich spekulativ oder dogmatisch auffüllen mit konkreten Wertentscheidungen und diese als allgemein verbindlich betrachten. Wer also, besonders als Richter, die Rechtsordnung anzuwenden hat und dabei unvermeidlich auslegen muß, der muß im Zweifel nach Ergebnissen streben, die dem sozialen Sinn und Zweck der ganzen Veranstaltung, ihrer sozialen Funktion entsprechen, soweit er damit der Zuordnung der Richtertätigkeit zur Gesetzgebung, die in der konkreten Rechtsordnung grundsätzlich gewählt ist, nicht zuwiderhandelt. Er darf also auch in unserer eigenen Rechtsordnung gar nicht nur diese "an und für sich" ins Auge fassen, sondern muß sich gerade dann, wenn er die eigene Aufgabe der Auslegung nicht umgehen kann (und wenn es sich z. B. nur um die Herstellung innerer Kohärenz aller Rechtsgebote oder die Bestimmung der "sedes materiae", d. h. der für die Entscheidung maßgeblichen Rechtsnorm handelte) auch dahin orientieren, daß das, was dabei als Entscheidung herauskommt, daß also das Ergebnis seines Tuns jenem sozialen Sinn und Zweck genügt. Im Zweifel ist mit allen konkreten Ordnungsgeboten des Rechts immer dasjenige Ordnungsbild intendiert, das der grundsätzlichen sozialen Funktion des Rechts am besten

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entspricht. Tatsächlich zeigt die Judikatur auch immer das Bestreben, mindestens das Gegenteil zu vermeiden, zeigen die Begründungen richterlicher Entscheidungen in verschiedener Weise immer wieder die hier skizzierte Ordnungsintention auch des Richters, verlangen wir besonders von Juristen in der Ausbildung, daß sie bei der Lösung eines " Falles " nicht versäumen, sich "das Ergebnis" ihrer Interpretation des Rechts kritisch anzusehen, " kritisch", d. h. vor allem unter eben jenen Ordnungsgesichtspunkten. Wenn dies aber nach dem Ansatz und auch Inhalt einer sehr bekannten, vielleicht der in der Welt bekanntesten Rechtstheorie, der "reinen Rechtslehre" Hans Kelsens nicht Aufgabe des Richters und der Rechtswissenschaft sein darf, dann liegt hier ein Problem; dann muß man nach den Gründen dafür fragen, wie immer, wenn eine bemerkenswerte These verfochten wird. Da, wo gewissermaßen verboten wird, weiter zu fragen, liegen oft die größten Fragwürdigkeiten. An der inneren Konsequenz dieser Theorie Hans Kelsens ist kaum zu zweifeln. Es fragt sich nur, ob irgend eine konkrete Rechtsordnung dem Ideal entspricht und - bei ihrem grundsätzlich nur subsidiären und also komplementären Charakter im Verhältnis zur übrigen Sozialordnung nicht-rechtlicher Art - entsprechen kann und sogar soll; denn - um ein Bild zu gebrauchen - wir schieben doch über die Vielfalt des sozialen Lebens einen rechtlichen Raster, der die ineinander übergehenden Regenbogenfarben so zerlegt, daß das Grün in ein Gelb oder Blau aufgeteilt wird, daß ein wenig dunkleres Grün als Blau, ein wenig helleres als Gelb behandelt werden muß. Was nun aber den Lebenssachverhalt ein wenig dunkler oder aber heller macht und deshalb zu der Entscheidung "Blau" oder aber "Gelb" führen muß, läßt sich eben wegen der Vielfalt der Lebenssachverhalte gar nicht immer im vorhinein anordnen; ja es würde oft zur "Vergewaltigung" des sozialen Lebens führen, wenn wir es aus der Fülle des Möglichen (und gar der zahllosen Kombinationsmöglichkeiten von vielen Möglichkeiten) von vornherein eindeutig festlegen wollten. Vor allem würde damit der soziale Wandel, der in allen Gesellschaften stattfindet und in der modernen Industriegesellschaft geradezu rapide und sozial unvermeidbar, vielleicht sogar notwendig ist, blockiert oder doch dank einer Interdependenz und Funktionsabhängigkeit allen sozialen Lebens in unübersehbare Richtung und an Stellen gelenkt, die nicht gewollt sind. Sogar dann, wenn wir immer über festumrissene Begriffe verfügten, wäre an der einen Stelle manches doch nur um den Preis einer "Gewaltsamkeit" an der anderen gewonnen. Endlich fragt es sich noch grundsätzlich, womit der Anspruch auf Verbindlichkeit der jeweiligen Rechtsordnung und der jeweiligen richterlichen Entscheidung begründet werden kann, besonders da ihr Inhalt völlig ver10 Drath

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schieden in den verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten usw. ist und wir nach der Lehre Kelsens völlig einer Manipulation des sozialen Lebens durch den jeweiligen Gesetzgeber ausgeliefert wären, die Frage nach jener Verbindlichkeit sogar rechtswissenschaftlich gar nicht geklärt werden könne. Alle diese Fragwürdigkeiten gehen nicht nur den eigentlichen Funktionsapparat des Rechts und dessen Angehörige an, also den Gesetzgeber, die Richter und die Staats- und die Rechtsanwälte, die Rechtstheoretiker und letztlich auch die Vollstreckungsorgane. Sie gehen uns alle an, weil es sich bei der Rechtsordnung um die maßgebliche Ordnung und Lenkung des sozialen Lebens handelt, in dem wir alle nicht nur stehen, sondern von dessen Verlauf wir alle tausendfach abhängen. Diese Probleme sind in Ost und West grundsätzlich dieselben. Ja gerade weil das soziale Leben hüben anders verläuft als drüben, die Rechtsordnung inhaltlich hüben anders gebietet als drüben, besteht die Chance, daß eine allgemeine Rechtstheorie überhaupt erst möglich wird, weil sie nämlich die Verschiedenheiten hüben und drüben erfassen und ihre Probleme in ihren dadurch erst allgemeinen theoretischen Sätzen zusammenfassend beantworten kann. Diese Probleme werden ja nicht dadurch vermeidbar, daß man an dieser Stelle vom Recht auf den Staat ausweicht und schlicht feststellt, daß hüben und drüben die Inhaber der Staatsgewalt verschiedenes tun und erstreben, daß sie jeder ihr inhaltlich so verschiedenes Recht mit ihren Mitteln des staatlichen Zwanges auch bei sich durchzusetzen vermögen und durchsetzen und daß es hierfür drüben andere Mittel gebe als bei uns, etwa das Gebot der Parteilichkeit der Rechtsprechung. Das stimmt alles und macht die Sachlage noch komplexer; aber es gehört zu dem theoretisch erst zu klärenden Sachverhalt, löst keines der zuvor erwähnten Probleme, enthält keinen Funken von Theorie, sondern fordert uns wenn es überhaupt als ein Argument für irgend etwas gebraucht wird - höchstens auf, bruta facta festzustellen, sei es um sie zu tadeln oder zu loben, während Theorie gerade diese facta zu erforschen, die Bedingungen ihrer Entstehung und ihre Wirkungen auf den Prozeß des sozialen Lebens zu klären hätte usw. Nun kann ich hier nicht von den zahlreichen Versuchen berichten, die in der Theorie zur Lösung aller dieser Probleme hüben und drüben gemacht worden sind. Mein eigener Versuch ging dahin, eine Basis für die Lösung dieser theoretischen Probleme zu finden, die selbstverständlich auch praktische Bedeutung haben können, aber doch zunächst einmal theoretisch gelöst - in Gedanken entwickelt und erwogen - werden müssen. Daß diese Basis drüben akzeptiert werden würde oder sollte, war nicht mein ursprünglicher Gedanke gewesen;

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aber sie wurde es schließlich durch den Ablauf der Ereignisse. Ich hatte nicht gedacht, daß das so verlaufen würde, bis ich Vortrag und Diskussionen hinter mir hatte, und nicht ich allein, auch andere, die von dieser Vortragsreise wußten und denen ich ein Urteil über die Lage und die Menschen, mit denen ich es zu tun haben würde, zutrauen mußte. Das Ergebnis des Vortrages meiner Thesen in Moskau war Nachdenklichkeit. Ich hatte diese Thesen übersetzen und vervielfältigen lassen, um sie dort vor meinem Vortrag in mehreren Exemplaren abzuliefern und so eine fruchtbare Diskussion möglich zu machen; denn allzu leicht gibt es Mißverständnisse, wenn viele Zuhörer durch Thesen eines Vortrages überrascht werden und dann ihre Fragen und Einwände beim Zuhören - während der Redner schon weiterspricht - rasch bedenken und vermerken müssen. Ich weiß selbstverständlich, daß es auch fruchtbare Mißverständnisse geben kann; aber darauf soll man nicht spekulieren, sondern das volle Verständnis erleichtern, zumal wenn es darauf ankommt, daß die Zuhörer bei einem bedeutsamen, aber auch komplexen Thema möglichst den ganzen Gedankengang in seiner vollen Tragweite und jeden einzelnen Gedanken in seiner Kohärenz mit den anderen und in seiner Bedeutung für den ganzen Gedankengang zu erkennen vermögen. Der entgegengesetzte Standpunkt, bei einem "Streitgespräch" billig davonzukommen, Mißverständnisse leicht "widerlegen" oder "ausräumen", gewichtige Einwände praktisch unmöglich machen und am Ende "siegen" zu wollen, indem man seinen Gegner unvorbereitet zum "Kampfe" antreten läßt, will mir nicht gefallen in der Wissenschaft, obgleich ich weiß, daß es dergleichen Standpunkte auch gibt. Mir lag daran, die Probleme zur theoretischen Erörterung zu stellen und wenn möglich zu größerer eigener Klarheit zu gelangen, indem ich sie so, wie ich sie sah, und meinen eigenen Lösungsversuch anderen Sachkennern zur Kritik unterbreitete. Ebenso haben sich meine sowjetischen Zuhörer in allen Diskussionen verhalten. Vortrag und Diskussion sind also nicht anders verlaufen, als sie unter Sachkennern hier auch verlaufen wären. Auch eine solche Diskussion kann ungünstigenfalls unfruchtbar sein; deshalb sage ich ausdrücklich: diese war es nicht. Unter Männern und Frauen dieses geistigen Ranges wird dort, das war mein Eindruck, genauso diskutiert wie bei uns. Es wurde ja nicht nur mit mir diskutiert, sondern es ergab sich von selbst, daß auch russische Kollegen untereinander über meine Thesen und das, was dazu zu sagen wäre, diskutierten. All das verlief ungezwungen, war etwas ersichtlich Gewohntes. Kurz. unsere landläufigen Vorstellungen von einer Parteilichkeit, gar einer überwiegenden oder primären Parteilichkeit sowjetischer Wissenschaftler kann ich nach diesem meinem Eindruck nicht bestätigen.

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Es liegt nahe, sich selbst zu fragen, ob etwa der Gast der eigenen stolzen Akademie der Wissenschaften geschont wurde. Ich antworte: auch das, ja! Vielleicht waren die jüngeren Mitarbeiter gebeten worden, nicht mit Fragen oder kritischen Anmerkungen vorzupreschen, wenn sie meinen möchten, damit auf etwas Besonderes hinweisen, eine besonders wichtige Frage oder Kritik vorbringen zu können. Denn jüngere sowjetische Herren haben manchmal auch gegenüber älteren mit Rang und Würden nachdrücklich ihre Meinung verfochten - i.n den Diskussionen mit mir waren sie zurückhaltender, wie mir schien. Vielleicht lag es daran, daß ich vorher gefragt worden war, ob ich mit der Anwesenheit auch der jüngeren Mitarbeiter und also einem Vortrag vor einem größeren Kreis einverstanden sei, daß diese jüngeren Damen und Herren möglicherweise als passive Zuhörer gedacht waren. Wenn Sie wollen, so taten sie damit aber nur das besonders, was die anderen, also die älteren, erfahrenen auch taten: Es war ja insofern keine "normale" Diskussion unter Fachleuten, als es eine Diskussion in einer Akademie der Wissenschaften war, und eine solche ist überall in der Welt ein besonders behutsames Bemühen um ein Problem, das man als ein gemeinsames sieht und gemeinsam zu klären bemüht ist, ein Bemühen, bei dem vorausgesetzt wird, daß Nuancen und Andeutungen genügen, um doch voll verstanden zu werden. Selbstverständlich kann niemand erwarten, daß nach einer noch so gut vorbereiteten Diskussion die Lösungen der Probleme feststehen oder auch nur die vorgeschlagenen Wege zur Lösung endgültig als gangbar und erfolgreich akzeptiert sind. Selbstverständlich werden die Herren des Moskauer Instituts die Probleme weiter kritisch geprüft haben und prüfen, wie ich selbst es auch tue; denn selbstverständlich hört eine wissenschaftliche Diskussion nie auf. Da hatte ich nun etwas ganz anderes versucht, als - vorläufig herausgekommen ist: Ich hatte die deutsche Rechtstheorie einen Schritt weiterbringen wollen, dabei auch die rational erweisbaren, die nicht"spekulativen" Bestandteile noch der verschiedensten deutschen Theorien herauspräparieren und auf einen gemeinsamen Nenner bringen; diese Theorien sind verschieden genug, sie reichen von der katholischen Moralphilosophie, die selbstverständlich ihre theologische Basis hat und auf der die katholische Naturrechtslehre gründet, bis zum extremen Rechtspositivismus, und auf anderen Koordinaten liegen dann oft die Rechtsphilosophien der verschiedensten Richtungen und Schulen. Das, was ihnen an feststellbaren, intersubjektiv überprüfbaren Tatsachen zugrundeliegt oder liegen könnte, war mein Ausgangspunkt. Ihre Sammlung und Analyse hatte ich Schritt für Schritt durchgeführt mit Thesen, die möglichst einsichtig sein sollten, um aus dem "instrumenta-

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len" Charakter der positiven Rechtsordnung, die erfahrungsgemäß zur Realisierung der verschiedensten Ordnungsvorstellungen benutzbar ist und benutzt wird, zu einer rational einsehbaren Begründung der prinzipiellen Verbindlichkeit jeder konkreten Rechtsordnung als einer Bedingung für die Möglichkeit des komplizierten konkreten Soziallebens zu gelangen, für das jede Rechtsordnung gilt. Damit aber kam ich an die Probleme, die sich unabweisbar aus dem instrumentalen Charakter der Rechtsordnung, d. h. aus der Möglichkeit ihres willkürlichen Gebrauches ergeben: Welches ist denn nun die " richtige " Ordnungsvorstellung, die mit Hilfe dieses Instruments anzustreben ist? Meine Auffassung ist, daß gerade jeder Rechtstheoretiker, der - wie Kelsen - das Recht ganz "an und für sich" betrachten will, damit nur umso deutlicher vor dessen instrumentalen Charakter gestellt wird, daß also gerade bei seiner Auffassung sich besonders deutlich und zwingend die Frage stellt: cui bono? cui malo? Ein Hammer ist auch ein Instrument, ist zum Einschlagen von Nägeln vorzüglich geeignet, leider aber auch zum Einschlagen von Köpfen! Daß das letzte mit ihm nicht geschieht, mag "im Sinne des Erfinders" gelegen haben (obwohl ich da historisch nicht völlig sicher bin). Aber keine Rechtsidee oder sonst etwas in der Welt schließt aus, daß dieses Instrument zu den verschiedensten Zwecken gebraucht werden kann. Die Frage nach dem "richtigen" Gebrauch des Rechts, nach dem "richtigen" Recht wird also für den doppelt unabweisbar, der das Recht ganz "an und für sich" betrachten will, weil durch solche Rechtstheorie mit der Brauchbarkeit auch die Mißbrauchbarkeit ganz offengelegt wird. Was ich hierüber für unseren deutschen Hausgebrauch entwikkelt hatte und nur im Anschluß an einen Bericht von der deutschen Nachkriegsdiskussion über diese Frage hatte referieren wollen (als einen Teil der deutschen geistigen Landschaft, die keine erstarrte Landschaft geblieben ist und noch weniger bleiben muß, .weil es die Möglichkeit einer Fortsetzung der Diskussion unter uns gibt, obgleich es bei ihrer bisherigen Festgefahrenheit nicht so scheint), das wurde unversehens zu einer Basis, auf der Fachleute aus Ost und West sich selbst und einander gegenseitig zu klären suchten. Wir sahen uns gemeinsam vor die Unausweichlichkeit der Frage nach der "Richtigkeit" der von der Rechtsordnung erstrebten und zu erstrebenden Ordnung des sozialen Lebens gestellt. An dieser Stelle endigten meine Thesen. Hätte ich gewußt, daß sie in Moskau - jedenfalls vorläufig - für den Gebrauch zwischen Ost und West geeignet befunden werden würden, dann hätte ich vorher noch weiter gearbeitet, vielleicht meine Reise deshalb verschoben. Denn es gibt noch Möglichkeiten, die theoretische Arbeit an dieser Stelle weiterzutreiben, nämlich die funktionale Notwendigkeit wacher

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Kritik an der jeweiligen Rechtsordnung, an ihrem Inhalt wie an ihrem Funktionieren aufzuzeigen, wenn ein befriedetes und befriedigendes soziales Leben erzielt werden soll. Man kann sozialwissenschaftlich die Existenz von Institutionen mit solchen Aufgaben, ein funktionales Zusammenwirken von Zwang und Gehorsam, mancherlei reale Verhaltens- und Denkweisen bei allen Völkern nachweisen, die eine moderne Rechtsordnung kennen. Es lassen sich vermutlich sogar Trends zum Funktionieren, Gefahren von Disfunktionalitäten feststellen, die mit jenen Institutionen, Verfahren, Verhaltensweisen usw. in spezifischer Weise verbunden sind. Und man kann endlich auch die Wirksamkeit des Denkens über die Gerechtigkeit der bestehenden Rechtsordnung zeigen. Hier liegen noch viele ungelöste Aufgaben. Das konnte ich in Moskau nur noch kurz aufzeigen. So konnten wir dort nur gemeinsam feststellen, daß die Wege zur praktischen Lösung dieser Probleme in Ost und West auseinandergehen, nicht nur die bestehenden Rechtsordnungen, sondern auch die maßgeblichen Gerechtigkeits- und Ordnungsvorstellungen verschieden sind. Nur über eines wurden wir uns noch klar: Es bleibt auch dann die Gemeinsamkeit eines letzten Ordnungszieles für beide Seiten verpflichtend: eine noch so sehr der Konkretisation bedürftige und verschiedenen Konkretisationen zugängliche Vorstellung von Humanität. Wir waren uns auch darüber einig, daß es eine heute besonders wichtige Prämisse dafür gibt: daß die Menschheit hüben wie drüben sich überhaupt die Möglichkeit bewahrt, eine Zukunft zu haben, daß wir also nicht im Atom- oder in einem anderen Krieg zusammen untergehen. Bis zu diesem Punkte also konnten wir eine gemeinsame Basis für wissenschaftliche Bemühung finden. Und diese Basis war eine rationale, eine intersubjektiv nicht nur, wie ich gedacht hatte, bei uns in der Bundesrepublik, sondern eine intersubjektiv zwischen Ost und West zumutbare, akzeptierbare. Sicherlich lassen sich auch die Gründe für die Verschiedenheit der Entscheidungen in Ost und West zugunsten der einen oder aber anderen sozialen Ordnung rational weitgehend aufklären, und vielleicht würde solcher Klärung eine ähnliche gemeinsame Bemühung nützlich sein das haben wir nicht mehr untersucht. An eine gemeinsame Arbeit von Historikern und Sozialwissenschaftlern über diese Fragen ist wohl noch lange nicht zu denken. Daraus könnten dann freilich einmal bedeutende Klärungen hervorgehen. Wir waren aber in Moskau schon beiderseits froh, so weit gekommen zu sein. Lassen Sie mich deutlich aussprechen: Es ist nicht ein sicherer Besitz, was sich als Ergebnis einer solchen Diskussion abzeichnet; den gibt es nach der modernen Wissenschaftstheorie überhaupt nur, wenn eine

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These widerlegt ("falsifiziert"), aber nicht, wenn sie vermeintlich positiv "bewiesen" ("verifiziert") ist; denn immer können neue Tatsachen festgestellt oder geltend gemacht werden, die sogar hoch konfirmierte Aussagen umstoßen. Aber es war doch ein erster, tastender Versuch, zu einer gemeinsamen Diskussionsbasis für die Erkenntnis des Rechts und bis hin zur Unausweichlichkeit des Gerechtigkeitsproblems zu gelangen, wo eigene Stellungnahme wertender Art unausweichlich wird. Die Voraussetzung dafür war, daß wir rational im strengen Sinne der Wissenschaftstheorie vorzugehen bemüht waren, also nicht von ausformulierten Standpunkten ausgingen, die oft festgelegte Kampfstandpunkte sind, sondern behutsam Schritt für Schritt von möglichst gesicherter Erfahrung aus. So scheint mir das Absehen und das Abgehen von "Konfrontationstheorie" nicht nur die Voraussetzung dafür zu sein, daß Wissenschaftler es vermeiden, ihrerseits zur Verschärfung ~iner unversehens einmal für alle tödlichen aktuellen Konfrontation beizutragen, sondern darüber hinaus - und das hatte ich so nicht erwartet - sogar die Voraussetzung dafür, daß ein sinnvolles wissenschaftliches Gespräch Wirklichkeit wird. Das wirft eine Frage auf, die heute in den Bereich der philosophischen Anthropologie gehört, ob wir etwa zu uns selbst so lange nicht finden, solange es uns nicht selbst auch mit den Fragen, die heute zwischen Ost und West stehen, bei uns und für uns selbst ernst ist. Nur wer es zuläßt, daß er auch von außen in Frage gestellt wird, weil er weiß, daß alle menschliche Existenz eine eigene und immer riskante Stellungnahme erfordert, riskant in dem Sinne, da sie nicht mehr objektiv begründbar und beweisbar ist, ist vielleicht frei genug, sich einer rationalen Diskussion über wissenschaftliche Fragen zu stellen, die so ideologiegeladen sind, wie es die hier behandelten bisher sind. Das klingt bei uns ungewohnt, weil vielgeistige Inferiorität nur das begreift, was ihr selbst gemäß ist, und sich auch dann, wenn sie von der "frei sich entfaltenden Persönlichkeit" spricht, doch immer nur den Typus Mensch vorzustellen vermag, den sie selbst darstellt. Aber die philosophischen und kulturellen Probleme und die Voraussetzungen für die Erhaltung und Fortentwicklung einer sozialen Kultur sind weitgehend objektiv; sie richten sich nicht nach einer communis opinio, noch weniger nach einer solchen der geistigen Inferiorität. Die Geschichte der Völker ist voll von Beispielen für Fehlurteile der Zeitgenossen über Wandlungen, die ihnen als Gefährdungen erschienen und sich später als Erneuerungen erwiesen. Wir denken zwar in "Zuständen", denen wir Dauer beimessen und oft auch verschaffen möchten; aber wir leben dennoch in Prozessen, in menschlichen Beziehungen, die aus immer neuen Akten des Verhaltens bestehen und deshalb nie nur Wiederholungen von Unverändertem und Unveränderlichem sind. Auch

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Gegnerschaft ist eine Beziehung, die aus solchen Akten besteht und deshalb nichts Unveränderliches ist. IV. Mein Moskauer Thema war kein juristisches in dem engeren Sinn, den dieses Wort bei uns meistens hat, nämlich ein juristisch-dogmatisches; es war ein primär rechtssoziologisches. Ich habe es bereits als "ideologiegeladen" bezeichnet, weil es Fundamente des sozialen und politischen Lebens hüben wie drüben betrifft. Nun leben wir hier in der Vorstellung, daß der Osten auf diesem Gebiete ein geradezu fest vorgeschriebenes und deshalb monolithisches Denken besitze. Ich kann dessen nicht so sicher sein. Allerdings besitzen wir nicht gerade viele Spezialisten, die die geistigen Vorgänge im Osten auf diesen Gebieten der Wissenschaften intensiv verfolgen und deshalb in diesen Dingen urteilsfähiger sind. Wir pflegen zwar "Kulturaustausch" auch mit der Sowjetunion, aber doch überwiegend auf anderen Gebieten als gerade diesem. Ob dafür nicht die eben erwähnte Annahme ursächlich ist, daß wir von der anderen Seite doch nur Wiederholungen uniformierter Auffassungen zu hören bekämen und daß der anderen Seite unsere eigene Arbeit uninteressant sei? Mir scheint diese bei uns verbreitete, vielleicht herrschende Annahme deshalb gar nicht richtig auf die Probe gestellt zu werden; wir machen vielleicht nicht einmal ernste Versuche, den Kulturaustausch auf diese Wissenschaftsgebiete auszudehnen. Was ich hier speziell vom Kulturaustausch sage, wäre wohl nur ein Symptom dafür, daß wir überhaupt die Bedeutung geistiger Kommunikation mit dem Osten, besonders mit der Sowjetunion, auf diesen Wissenschaftsgebieten unterschätzen, also auch soweit sich solche Kommunikation nicht in Vortrags- oder Studienreisen vollzieht. Sozialwissenschaftlicher Kontakt hat vor allem anderen Kontakt einen Vorzug, der in der heutigen Weltlage bedeutsam ist: Er betrifft die fundamentalen Fragen des sozialen und politischen Denkens und Lebens der Völker hüben wie drüben. Arbeit an Problemen dieser Art, die gemeinsam verrichtet werden kann, wäre eines der wichtigen Mittel, zunächst ein gegenseitiges wissenschaftliches Verständnis zu erreichen. Dieses Verständnis könnte bei der allgemeinen sozialen und politischen Bedeutung solcher Probleme und Theorien zu einem Verständnis über die Kreise der Wissenschaftler hinaus führen, wie noch immer alle bedeutende Sozialtheorie auf allen Teilgebieten und in allen speziellen Disziplinen ain Ende in das "Öffentliche Bewußtsein" gedrungen ist. Leben wir in einer verwissenschaftlichten Welt, die der wissenschaftlichen Forschung - keineswegs nur auf naturwissenschaftlichem, technischem und medizinischem Gebiet, wie man oft annimmt

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in noch kaum übersehbarem Umfang zu ihrer eigenen Existenz und Weiterentwicklung bedarf, so wird dieser Prozeß des Eindringens sozialwissenschaftlicher Probleme, Erkenntnisse und Theorien in das öffentliche Bewußtsein wahrscheinlich in Zukunft rapide zunehmen. Die Bedeutung jener Kontakte wird damit wesentlich größer werden. Die Gestaltung des sozialen Lebens mit dem Mittel des staatlich gesetzten Rechts ist hüben wie drüben an Umfang und Intensität in den letzten Jahrzehnten gegenüber der Zeit vor dem 1. Weltkrieg erheblich gestiegen, und nichts spricht dafür, daß dieser Prozeß sich wieder umkehren wird. Sozialgestaltung aber beruht immer auf sozialen Zielvorstellungen, hat also immer auch mit Gerechtigkeitsvorstellungen zu tun. Hier liegen demnach die Aufgaben, bei deren Lösung sich hüben wie drüben die verschiedenen sozialen und politischen Systeme zu bewähren haben werden, die Aufgaben der einzigen Zukunft, die die Menschheit heute überhaupt noch haben kann. Auch deshalb kann die gemeinsame wissenschaftliche Bemühung hieran nicht so sinnlos sein, wie man bei uns weithin anzunehmen scheint. Das öffentliche Bewußtsein selbst bedarf dieser Bemühungen, um zunächst die Kenntnis der anderen Seite und schließlich die Besonnenheit des Urteils über sie zu finden, ohne die jene Zukunft gefährdet ist. Sie kann nur unser eigenes bewußtes Werk sein.

über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und des Rechts*' ** I. Es ist kein Zufall, daß die deutsche Staatstheorie so, wie sie vor allem nach den Arbeiten Otto von Gierkes aus dem Werke Georg Jellineks hervorgegangen war, in eine langdauernde Stagnation geraten ist. Sie war durch die "Allgemeine Staatslehre" Jellineks zu einem vorläufigen Ende geführt worden. Dieser hatte ausgesprochen, daß "das gesamte Leben des Staates nur aus der Totalität des gesellschaftlichen Lebens begriffen werd'en" kann 1 ; weil der Staat in der Wirklichkeit Teil der Totalität des gesellschaftlichen Lebens ist, mußte auch die Staatstheorie in die allgemeine Theorie des sozialen Lebens gestellt sein. Nachdem Jellinek selbst sie auf die Höhe der Wissenschaft seiner Zeit gebracht hatte, hing ihre weitere Entwicklung von der Arbeit an einer allgemeinen Theorie des sozialen Lebens ab. Gewiß hätte die Fortbildung dieser allgemeinen Theorie speziell beim Staate ansetzen können, und wir werden (unter IH.) sehen, daß es dafür Ansatzpunkte genug gab. Aber zunächst besaß Jellineks eigene Lehre eine zu große überzeugungskraft für die damalige Generation in ihren Lebens- und Denkweisen, vor allem auch nach dem damaligen Stande der Wissenschaftstheorie. Wichtig ist nur die Frage, weshalb sie diese überzeugungskraft so lange behalten hat. Hierfür dürften institutionelle Umstände, die Einteilung und Organisation unseres Wissenschaftsbetriebes, bedeutsam gewesen sein. Die Staats theorie war und blieb - vielleicht dank der eigenen staatstheoretischen Leistung des Juristen Jellinek - den Juristen überwiesen. Diese werden zu normativem Denken im Rahmen der Rechtsordnung

* Die moderne Demokratie und ihr Recht. Festschrift für Gerhard Leibholz, Bd.l (Tübingen 1966), S. 35--80. ** Mit diesem Aufsatz werden Thesen fortgeführt, die ich über eine soziokulturelle Theorie des positiven Rechts und des Staates vorgelegt habe. In der Schrift "Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts" (Tübingen 1963) ist die Skizze einer solchen Rechtstheorie entworfen, in dem Artikel "Staat" im "Evangelischen Staatslexikon" (Stuttgart 1966) eine gleiche Betrachtung des modernen Staates unternommen. Im folgenden wird die Durchführung einer kohärenten Theorie von Staat und Recht versucht. (Zu den beiden von Martin Drath angeführten Schriften siehe oben S.127-153 bzw. S. 11&--126. Hrg.). 1 G. JelZinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auf!. 1914, 7. Neudruck 1960, S.96.

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als eines Normensystems erzogen, beschäftigen sich also ex officio nicht mit dem menschlichen "Sein", sondern mit einem menschlichen "Sollen"; sie sind deshalb zu sozialwissenschaftlicher Tatsachenforschung und zu deren Erhebung in Theorie des sozialen Lebens kaum prädestiniert. Ihnen liegt es näher, sozialwissenschaftliche Erkenntnis nur soweit für wichtig zu halten, als sie ihnen Zusammenhänge einigermaßen verständlich macht, in denen das Recht (und allenfalls noch ihre eigene Berufstätigkeit bei dessen Auslegung und Anwendung) steht; sie sind eher bereit, eine solche Erklärung zu akzeptieren, als kritisch in Frage zu stellen und durch eigene Forschungen fortzuführen. Es steht für sie mit der Staatstheorie ähnlich wie mit der Rechtsgeschichte, die immerhin unmittelbar vom Recht handelt: niemand möchte bestreiten, daß sie zur "juristischen Bildung" gehört, aber nur wenige wissen mit ihr etwas anzufangen. So hat Staatstheorie bei diesen ihren institutionell wichtigsten Interessenten nur ein Nebeninteresse gefunden; für dieses begrenzte Erklärungsbedürfnis scheint Jellineks Lehre bis heute ausreichenden Erklärungswert behalten zu haben. Dazu trägt auch die Auffassung von Wissenschaft bei: Man glaubt heute noch weitgehend an die Möglichkeit, durch methodisches Denken oder durch Erfahrung volle zeitlos objektive Wahrheit zu erkennen. Die weitgehende Zustimmung der Fachleute zu Jellineks Lehre schien diese Gewißheit zu garantieren. Im Besitz solcher "Wahrheit" war man weiteren Fragen - über den Stand dieser Lehre hinaus - enthoben. So werden Lehrbestände überliefert und schließlich dogmatisiert und können zum Inhalt einer praktisch-politischen Staatsidee und sogar einer dogmatischen Staatsphilosophie gemacht werden; besonders leicht geschieht das, wenn sie zur Argumentation für oder gegen wichtige konkrete soziale und politische Erscheinungen oder Postulate geeignet sind, die das Denken zur Ausbildung und Anwendung von Wertvorstellungen und zur systematischen Begründung mehr oder minder prinzipieller Stellungnahmen, fester Haltungen herausfordern. Solche Verwandlungen von Theorie in Rechtfertigungsideologie pro vel contra sind ein aus der Geistesgeschichte bekannter Vorgang, bei dem wiederkehrende und einmalige Phänomene, Motive und Interessen sich in immer neuer Weise miteinander verbinden. In einer Periode rapiden gesellschaftlichen Wandels mit bedeutenden sozialen Verschiebungen, die ganze Schichten in ihren grundlegenden Interessen und Positionen berühren und dadurch ihr Denken herausfordern, spielen defensive wie aggressive Rechtfertigungsideologien eine besondere Rolle, sind fast alle Theorien und Begriffe in Gefahr, ideologisiert zu werden. Das geschah schon mit Jellineks Lehre, daß der Staat ein "Verband" sei. Dieser Begriff ist verschiedenen Ausdeutungen zugänglich. Denn

156 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts was hält einen "Verband" zusammen oder konstituiert ihn, worin besteht seine Realität? Dem juristischen Denken konnte - besonders im Falle des deutschen Kaiserreiches - der einmalige Vorgang seiner Gründung genügen. Dieser so gegründete und verfaßte Staat war damit für die Juristen einerseits eine fraglose Gegebenheit des Seins und andererseits ein fundamentales Stück des rechtlich-normativen Sollens, also eine Seins-Gegebenheit, deren Existenz und Betätigung als gegebene Einheit ipso facto die Rechtspflicht begründete, sie zu bewahren und zu schützen, besonders in den sozialen und politischen Konflikten, die sich aus dem rapiden sozialen Wandel ergaben und als Schwächung oder gar Bedrohung gedeutet wurden. Jellineks Satz von der "normativen Kraft des Faktischen" wird in der Tat mißverstanden, wenn man in ihm eine sozialwissenschaftlicheErklärung sucht; unter sozialwissenschaftlichem Gesichtspunkt ist er eher nur die Formulierung eines Problems als eine Antwort. Anders für den Juristen: Er verkennt, daß Jellinek mit dieser Formel auf die Möglichkeit sozialer Prozesse und Vorgänge hinweist, in denen Faktisches aus sozialen Gründen - prinzipiell: aus menschlicher Lebensnotwendigkeit - normativ verbindlich (nicht etwa: als verbindliches Sollen aus jenem Sein logisch ableitbar) wird. Der Jurist sieht sich vielmehr mit jenem Satz Jellineks von dieser sozialwissenschaftlichen Problematik und ihrer Beantwortung freigestellt. Für ihn ist der Staat dank seiner bloßen faktischen Existenz eine Rechtsperson. Mit dieser seiner juristischen Existenz erscheint nicht nur die Frage nach der Realität des Staates beantwortet, sondern - weil der Staat der "Träger" der Rechtsordnung ist - eine verbindliche juristische Grundnorm gegeben, auf die sich die ganze staatlich gesetzte Rechtsordnung und ihre Verbindlichkeit zurückführen läßt. Der Jurist sieht sich geradezu für sein eigentliches (normatives) Denken von einem Grundproblem entlastet, wenn er eine Staatstheorie hat, die geeignet ist, ihm die bestehende staatliche Ordnung als verbindlich aus den breiteren sozialen Zusammenhängen, wie sie Jellinek betonte, zu bestätigen, also zu rechtfertigen. Die Hilfe, die eine Staatstheorie den Juristen leisten kann, scheint hiernach in einer Entlastungsfunktion zu bestehen: sie kann ihnen Probleme "vom Halse halten". Jellineks Staatstheorie bekam und behielt wegen ihrer Eignung hierfür, also als geistige Grundlage des juristischen Positivismus, Bedeutung. Demgegenüber traten die vielfältigen Anregungen zu tieferer sozialwissenschaftlicher Forschung in seinem Werk zurück!: Forschungen, die den "Verbands"-Charakter des Staates, also dessen Realität, näher untersuchen und dabei auf den Prozeß 2 Hierüber habe ich in dem Aufsatz .8taatstheorie oder politische Philosophie? (in: Die Philosophie und die Wissenschaften, Simon Moser zum 65. Geburtstag, Meisenheim 1966) berichtet. (Vgl. oben S. 101-115).

über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts 157 seiner ständigen Konstituierung durch das Verhalten der Verbandsmitglieder, auf den sozialen Wandel und die sozialen und politischen Interessen und Konflikte stoßen, waren für das juristische Denken nicht nur eine unnötige Belastung, sondern sogar feindlich, weil sie ihm die sichere juristische Basis, die es der "normativen Kraft des Faktischen" entnahm, wieder in Frage stellten. Es war ja keineswegs sicher, daß sich aus einer tieferen Analyse dieses Faktischen wieder eine solche Grundnorm würde herleiten lassen, die das Denken der Juristen braucht. Wahrscheinlich hat ein weiteres Moment zur Abschneidung der tieferen Problematik beigetragen: Die Bismarcksche Reichsverfassung war juristisch einer einfachen Abänderungsgesetzgebung zugänglich und ließ damit auch dem sozialen und politischen Wandel einen Weg offen (wenn er auch politisch nur mit Einwilligung der herrschenden politischen Kräfte gangbar war); und wirklich konnte die Politik und Gesetzgebung des Reiches sichtbare Erfolge bei der Ausformung des damaligen deutschen Nationalstaates bürgerlicher Prägung, vor allem auch als Rechtsstaat, verzeichnen. Die frühere liberale Kampfposition der preußischen Richter wurde nach der Reichsgründung deutlich abgebaut; wir finden eine weitgehende Verinnerlichung (Internalisierung) der bestehenden Ordnung, ihren Eingang in die tieferen Schichten des Legitimi tätsdenkens. So verstanden und eklektisch gewendet, wie zuvor dargestellt, konnte die Staatstheorie Jellineks auch in den Schichten von "Bildung und Besitz" allgemein rezipiert werden. Sie hat für mehr als eine Generation der deutschen Bildungsschicht viel bedeutet, hat dieser - vor allem in Verbindung mit deren Geschichtsverständnis und Nationalbewußtsein - den bestehenden Staat mit seiner gegebenen Verfassung, Herrschaftsstruktur und Politik für ihr Erklärungsbedürfnis voll erklärt und gerechtfertigt. Die sozialwissenschaftlichen Probleme, die Jellinek aufgeworfen hatte, traten auf dieser Ebene des "allgemeinen Bewußtseins" erst recht nicht auf, waren wohl schon von der Kenntnis, die man hier von seiner Lehre hatte, großenteils ausgeschlossen. Damit wurde diese Staatstheorie den damaligen "staatstragenden Schichten" dienstbar gegenüber allen, die nicht - genauer: aufgrund der industriellen Proletarisierung nicht mehr - zu diesen Schichten gehörten, aber nach Wiederbeseitigung dieses ihres belasteten sozialen Status nach politischem Einfluß in dem anders zu verfassenden Staate strebten. Wie in der Geschichte immer wieder soziale und politische Theorien, ja Philosophien, so konnte auch die herrschende Staatstheorie Jellineks zu einer Staatstheorie der Herrschenden, zu einer allgemeinen Untermauerung der bestehenden Ordnung in Staat und Ge-

158 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts seIlschaft werden, also zu einer Ideologisierung der konstitutionellen Monarchie der besonderen deutschen Ausprägung, des von ihr bestimmten Staates und der hierdurch weitgehend bestimmten damaligen Gesellschaftsordnung. War einmal aus Jellineks Staatstheorie der soziale und politische geschichtliche Prozeß ausgeklammert, so rechtfertigte sie die Konservierung aller bestehenden Ordnung. Am Schicksal des Werks und am Verlauf des Lebens von Männern wie Hugo Preuss und Max Weber ist nicht nur abzulesen, wie wenig der politische Wandel dem sozialen entsprochen hat, sondern auch, wie gering die geistige Beweglichkeit und Aufnahmebereitschaft innerhalb der deutschen Staatstheorie blieb. Aber Reibungslosigkeit des Denkens ist - obwohl ein Element des Lebensgefühls - nicht gerade ein Kriterium von Wissenschaft, soweit sie nicht die innere Konsistenz einer Theorie erstrebt, sondern auf eine Vermeidung theor,etischer Probleme hinausläuft. Doch zunächst erschien noch als innere Konsistenz wenigstens des speziellen juristischen Denkens über Staat und Recht, was erst dank der Fortentwicklung der allgemeinen Theorie des sozialen Lebens als eine Vermeidung der dadurch aufgeworfenen theoretischen Probleme manifest wurde.

11. Allen diesen traditionellen Auffassungen - der staats- wie der wissensehaftstheoretischen und ihrer praktisch-politischen Verwendung wurden immer mehr die Fundamente entzogen: 1. Gegenüber dem zählebigen früheren Wissenschaftsglauben muß die moderne Wissenschaftstheorie bedeutende Einschränkungen machen: Wir stehen in einem Prozeß ununterbrochener Produktion neuer Erkenntnisse, in dem jedes Ergebnis stets tiefere Fragen aufwirft (also zugleich die Formulierung neuer Probleme darstellt, auch wenn diese selbst noch gar nicht erkannt sind) und fast immer auch die Aufgabe seiner eigenen theoretischen Koordinierung mit Ergebnissen anderer u. U. auf ganz andere Probleme gerichteter - Forschungen stellt. Ferner kann jede sozialwissenschaftliche Theorie als eine Synthese von Aussagen, die durch Analyse des sozialen Lebens gewonnen sind, stets nur das enthalten, was bei dem gewählten Aspekt der Theoriebildung und bei der gewählten Weise des Vorgehens der Erkenntnis überhaupt zugänglich wird; dies ist immer etwas Einseitiges, ist nur ein Ausschnitt oder ein Durchblick, der zwar das Objekt für gewisse Erkenntnisse aufschließt, aber eben damit für andere Erkenntnisse verschließt. Nicht volle und also zeitlos objektive Wahrheit, sondern nur ein mehr oder minder hoher Grad von Konfirmation entsprechend dem jeweiligen

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Stande des Wissens läßt sich nach der heutigen Wissenschaftstheorie erreichen; selbst hochkonfirmierte Erkenntnis kann jeden Tag umgestoßen werden. Damit ist auch die Bedeutung aller Begriffe grundsätzlich neu; sie sagen nicht, was das Objekt "ist" (sind keine Wesensbegriffe), sondern nur, wie es im Rahmen derjenigen Theorie, innerhalb derer ein Begriff steht und ohne die er sinnlos (oder einer Verschiebung seiner Bedeutung unterworfen) wird, betrachtet wird, um einen für die Erkenntnis wichtigen Einblick zu gewinnen; Begriffe sind also nichts anderes als synthetische Kurzfassungen von analytischen Aussagen im Aufbau einer bestimmten Theorie. Schon diese wissenschaftstheoretische Entwicklung entzog der traditionellen deutschen Staatstheorie das Fundament ihrer früher fast allgemeinen "Geltung". 2. Hinzu kam die Erschütterung der früheren Sicherheit des Urteils über den modernen sozialen Wandel und die dadurch entstehenden sozialen und politischen Probleme, kam eine - mehr oder minder bewußt gewordene - Irritierung der eigenen Haltung in den daraus hervorgehenden sozialen und politischen Konflikten. Diese Irritierung war ebenso allgemein wie jene frühere Sicherheit allgemein gewesen war; sie betraf gerade die früheren "staatstragenden Schichten", betraf "Bildung und Besitz", dürfte aber die Juristen besonders betroffen haben. Wenn ich nicht irre, ist sie unter ihnen weit verbreitet, weil es für sie nicht nur um ihre private Haltung, sondern um die geistige und moralische Grundlage ihrer Berufstätigkeit geht. Die juristischen Berufe, vor allem der des Richters, haben eine spezifische soziale Ordnungsfunktion. Der Jurist muß nicht nur nach Beständigkeit und Eindeutigkeit der Rechtsordnung und ihrer Auslegung als eines kohärenten Systems von Sollensnormen, nach Beständigkeit und Eindeutigkeit der Rechtstheorien und -begriffe streben; ihm muß auch dar an liegen, daß sich hieraus mittels einer selbst systematisierten und dogmatisierten Methodik eine Eindeutigkeit und Beständigkeit der Anwendung dieser Rechtsordnung auf die Lebensvorgänge ergibt. In ihr findet der Jurist nicht nur im Einzelfall eine Stütze seiner Entscheidung, sondern vor allem die grundlegende Rechtfertigung seines Tuns. Kelsens reine Rechtslehre ist der Ausdruck dieser Tendenz. Aber diese Sicherheit besitzt der heutige Jurist nicht mehr, ohne die Grunde ihres Verlustes klar zu kennen oder eine neue Sicherheit entstehen zu sehen. So finden wir vor allem beim praktischen Juristen oft neben Stolz auf rechtsschöpferische Leistungen der deutschen Jurisprudenz unvermittelt (und unvereinbar) eine Anklammerung an die alte Vorstellung von der absoluten Unterworfenheit des Richters unter das Gesetz, also eine Ausklammerung der eigenen Entscheidungs- und (damit unvermeidbar) sozialen Gestaltungsfunktion; eine Bestätigung dieser Verd.rängung dürfte der weit verbreitete Wunsch nach Geborgenheit durch Eindeu-

160 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts tigkeit des Gesetzes sein, wie man sie als früher einmal gegeben ansieht. Auf eine Frage nach den Gründen zeigt sich, daß oft nur an der Oberfläche liegende registriert worden sind als beklagenswerte Mängel der heutigen Gesetzgebung, ja des " Gesetzgebungsstaates", als die sie demjenigen erscheinen, der hinnehmen muß, was ihm als anzuwendende Rechtsordnung vorgesetzt wird. Der Ordnungscharakter dieser Rechtsordnung selbst ist vielen Juristen fragwürdig geworden und mit ihm ihre eigene Rolle als Anwender dieser Ordnung. Nun war aber die (vermeintliche) frühere große Eindeutigkeit der positiven Rechtsordnung keineswegs nur in deren Inhalt selbst begründet; das bleibt immer ein Ideal, dessen Erfüllbarkeit um so ferner ist, je komplizierter und variabler die sozialen Beziehungen geworden sind. Ihre frühere scheinbare Eindeutigkeit ergab sich vielmehr weitgehend aus der Selbstverständlichkeit, mit der man auch solche Ergebnisse ihrer Interpretation zur Anwendung bringen konnte, die keineswegs eindeutig abgeleitet waren, wenn nämlich außerrechtliche herrschende Ordnungsvorstellungen es geboten, andere Ordnungsvorstellungen als sozial irrelevant zu vernachlässigen oder gar als den herrschenden widersprechend ml reprimieren. Die Interpretation konnte also damals auf Ergebnisse tendieren, die bestimmten außerrechtlichen Ordnungsvorstellungen entsprachen; denn es gab solche herrschenden Vorstellungen oder Wertungen über das soziale Leben, über die Beziehungen der Menschen, über den vermeintlich objektiven sozialen Wert ihrer Interessen, und sie stimmten auf allen Lebensgebieten hinreichend überein. Sie konnten, weil sie der bestehenden Ordnung zu entsprechen schienen, selbst an Jellineks "normativer Kraft" partizipieren. Heute aber sind die Ordnungsvorstellungen und Wertungen über soziale Probleme weniger gewiß, von pluralistischen oder gar entgegengesetzten Auffassungen bestimmt, so daß der Richter an außerrechtlichen Wertungen und Ordnungsvorstellungen keine eindeutige Orientierung vorfindet. Er muß sie für seine Entscheidungen selbst suchen. Man kann kaum überschätzen, was praktisch-politische Fraglosigkeit bestehender sozialer Strukturen und Schichtungen, was "herrschende Auffassungen" hierüber und über die politische Herrschaftsstruktur der Gesellschaft für die innere Sicherheit der Juristen bedeuten. Daß gerade das Denken der Bildungsschicht sich mit dem berufsmäßigen Denken der Juristen früher weitgehend deckte, hatte diese damals geistig wie moralisch in ihrer amtlichen Tätigkeit bestätigt. Heute besteht zwar wohl eine gewisse übereinstimmung über einige Grundsätze wie Demokratie, Republik und Rechtsstaat; aber das sind relativ vage, mancherlei Interpretationen zulassende Prinzipien, die wenig darüber sagen, was im .konkreten Fall geboten ist. Noch weniger finden wir hinreichend konkrete übereinstimmende Vorstellungen über die soziale Ge-

über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts 161 staltung im einzelnen, also gerade über die sozialen und politischen Ordnungsprobleme, die den Juristen entgegentreten, für deren Lösung ihnen also eine Orientierung an zuverlässigen außerrechtlichen Ordnungsvorstellungen wichtig sein muß, wenn die Rechtsordnung selbst nicht eindeutig ist. Man darf hierin nicht nur eine Suche der Juristen nach einer Rückendeckung sehen; sind sie durch das Fehlen fester Maßstäbe irritiert, so handelt es sich eher um eine Verkennung der "pluralistischen" Gesellschaft und ihrer eigenen Situation und Funktion in ihr. Jedoch ist dieser Charakter der Industriegesellschaft erst seit kurzem erkannt, beginnen wir alle erst, ihn im einzelnen zu durchdenken und uns damit einzurichten, daß keine der früheren Vorstellungen über das soziale Leben und über Staat und Recht in diesem mehr selbstverständlich ist. Für den Richter, der autoritativ über andere zu entscheiden hat, ist das besonders schwer; die spezielle juristische Methodologie kann ihm dabei nicht helfen. Er steht also in einem Dilemma, dessen Zusammenhänge nur wenige tiefer durchschauen. Vielleicht beruht die oft kritisierte, nur pragmatische Absolvierung des Studiums, der Berufsvorbereitung und schließlich der Berufstätigkeit mit auf einem Selbstschutz durch Abwendung von Problemen, die man als drückend empfindet, weil man ihnen ohne genügendes geistiges Rüstzeug gegenübersteht. Heute erst wird offenbar, daß jener Eklektizismus, der aus Jellineks Staatstheorie die "normative Kraft des Faktischen" letzten Endes zur Rechtfertigung aller "bestehenden Verhältnisse" entnahm, aber ihr Hauptthema, nämlich die sozialwissenschaftliche Problematik, ausklammerte, selbst schon eine geistige "Unterdrückung" theoretischer wie realer Probleme war. Jener Satz ist heute weitgehend formelhaft, fast nichtssagend geworden, weil er nicht mehr zur Identifikation mit eindeutigen und konkreten sozialen und politischen Ordnungsvorstellungen, nicht mehr zur Rechtfertigung herrschender Ordnungsvorstellungen benutzt werden kann; daß er zur Orientierung in unserer Gesellschaft nicht genügt, ist evident. Hierfür käme es gerade auf das an, was man an jener Theorie unterdrückt hatte, und auf seine Weiterführung. Aber an der Vertrautheit mit den modernen Sozialwissenschaften und ihren Erkenntnissen fehlt es nicht nur den Juristen, sondern auch der heutigen deutschen Bildungsschicht. Damit fehlt es an den Mitteln, Staat und Recht in ihrer Funktion und in ihren Möglichkeiten in der heutigen Gesellschaft zu erkennen. Das weitgehend emotionale Erlebnis dieser Gesellschaft als einer Gesellschaft "im Umbruch" kennzeichnet weniger diese Gesellschaft im Wandel (der als ein geschichtlicher Vorgang selbst Ausgangslagen hat, die er "wandelt", aber nicht "bricht"); es kennzeichnet eher die Orientierungslosigkeit gegenüber diesem Vor11 Drath

162 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des staats und Recl1ts gang, die selbst auf traditionelle, unhaltbar gewordene Vorstellungen vom "geordneten" und also "gesunden" sozialen Leben und damit auch vom Staat und Recht in ihm zurückzuführen ist. Was zerbricht, sind die unzulänglich gewordenen traditionellen Ordnungsvorstellungen selbst. Die Hinfälligkeit des Eklektizismus beim Gebrauch von Jellineks Staatstheorie zeigt, daß sie aus den falschen Gründen zur herrschenden Theorie wurde, daß man ihre Größe in der Bestätigung dessen sah, was man selbst immer schon hätte gedacht haben können und gut gebrauchen konnte, nicht aber in den von ihr aufgezeigten fundamentalen Zusammenhängen und Problemen. 3. Die Sozialwissenschaften haben - außerhalb der Staats- und Rechtstheorie - in den letzten beiden Jahrzehnten bedeutende Fortschritte gemacht; sie haben durch Grundlagenforschung die Erkenntnis und ihr Instrumentarium sehr erweitert, haben allgemeine Theorien des Lebens aufgestellt, Modelle und Begriffe, die zu solchen Theorien gehören, gebildet, an der Erfahrung geprüft und der Erforschung des sozialen Lebens zugrundegelegt. Sie sind heute imstande, dieses tiefer als ein Leben in geordneten sozialen Zusammenhängen und die sozialen Ordnungen selbst zu analysieren und in Theorien zu erfassen, die jene Ordnungszusammenhänge als Strukturen der Gesellschaft und das Leben in ihr aus den funktionalen Zusammenhängen verständlich machen, d. h. aus einem (immer nur reibungsvollen) Ineinandergreifen des zwischenmenschlichen Verhaltens. Doch ist das Erkenntnisobjekt "Staat" in Deutschland hiervon bisher recht unberührt geblieben. Durch jene Fortschritte der Sozialwissenschaften ist also die Richtung festgelegt, in der die theoretische Behandlung des Staates zunächst fortzuführen ist. Der vorläufige Endpunkt, den die deutsche sozialwissenschaftliche Staatstheorie mit dem Werke Jellineks erreicht hatte, ist - trotz Max Webers Arbeit - jetzt erst überwunden; wir stehen vor einer neuen theoretischen Problemlage, und sie ist durch die Bedeutung der Sozialwissenschaften für die Staatstheorie gekennzeichnet. Das Erkenntnisobjekt "Recht" ist der Untersuchung unter den neuen sozialwissenschaftlichen Aspekten noch weniger ausgesetzt worden. Daß durch sie bisherige Positionen in der Rechtstheorie als zu einfach, als einseitig oder vorläufig erkannt, andere sogar hinfällig werden, ist zu vermuten; denn das positive Recht in der Hand des Staates ist schwerlich mit alten Positionen und Begriffen weiter befriedigend zu erklären, wenn der Staat selbst im sozialen Leben neu verstanden werden muß. Die Theoretiker des Rechts sollten aber auch an der Not der Praktiker nicht vorübergehen, sondern aus ihr entnehmen, daß jene Erschütterung längst schon eingetreten ist, und zwar an der Stelle, an der sie sich zuerst bemerkbar machen mußte, dort wo das Recht sich

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täglich praktisch zu bewähren hat. Hier ist seit langem zu erkennen, daß die moderne Gesellschaft neue reale Probleme auch für die Stellung und Funktionsweise des Rechts in dieser Gesellschaft geschaffen hat; denn die beruflichen Probleme des Richters - übrigens auch des Gesetzgebers - sind nur der Punkt, an dem sich theoretisch nicht geklärte Funktions- und Ordnungsprobleme der Gesellschaft selbst bemerkbar machen. Wo neue theoretische oder reale soziale Probleme auftreten, gibt es innerhalb unserer Kultur seit langem nur den einen Weg: sie mit geeigneten wissenschaftlichen Mitteln anzugreifen, auch wenn noch nicht zu ermessen ist, ob dabei eine Lösung praktisch-beruflicher Probleme herauskommt und wie sie aussehen könnte, ja ob überhaupt eine Lösung möglich ist, die ähnlich einfach und praktisch entlastend wäre wie die früher aus Jellineks Lehre entnommene. Forschung zur Gewinnung von Einsicht ist immer ein Weg ins Unbekannte. Ich will deshalb nur kurz darauf eingehen, daß man versucht, diesen Problemen zu begegnen, indem man nur um so stärker eine absolute Eigenständigkeit des Rechts, sein Beruhen auf einer "an sich" seienden und also gegebenen Rechtsidee oder seine Ableitbarkeit aus einem Naturrecht betont. Ein guter Teil des heutigen Interesses an Rechtsphilosophie ist auf die erwähnten geistigen und moralischen Orientierungsbedürfnisse zurückzuführen, die besonders seit dem Hitler-Regime für jeden Juristen spürbar geworden sind; dieser Weg - der Weg eines neuen, in diesem Fall idealistischen Positivismus - ist durch die Tradition dieser Philosophie bei uns vorgebahnt. Aber er begegnet der bekannten Schwierigkeit, daß Thesen, die so aufgestellt werden, ihren spekulativen Charakter behalten. Man kann zwischen ihnen und den sozialwissenschaftlichen Problemen und Erkenntnissen oft nur schwer eine Verbindung herstellen. Im Ergebnis wird ein mehr oder minder konkretes, aber subjektiv entworfenes ideales Recht verabsolutiert oder es werden nur allgemeinste Rechtsprinzipien vertreten, die sich weitgehend als Leerformeln erweisen, sobald man mit kritischem Bewußtsein und nicht mit unkritischen Deduktionen oder Identifikationen konkreten Entscheidungsfragen gegenübersteht. Es scheint so, als ob es einen anderen intersubjektiv zumutbaren Weg als den des Ausgehens von der heutigen praktischen Erfahrung mit dem Staat und dem Recht und ihrer kritischen Verarbeitung zu Theorien nicht gebe. Ohne strenge Rücksicht auf die Kriterien intersubjektiver Nachprüfbarkeit: Verifikation-Falsifikation, Operationalität im Sinne der modernen Logik, auf die semantischen Probleme (vor allem auf die strikte Trennung zwischen analytischer und wertender Aussage), ohne begründete Darlegung der Wertungs-, Sinn- und Funktionskriterien hat auch die Rechtsphilosophie keinen Boden unter ihren Füßen3 ; hierauf wird später zurückzukommen sein. 11"

164 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts Handelt es sich bei Staat wie Recht heute um ihre Erforschung als soziale Realitäten, so sind auch für das Recht die Sozialwissenschaften und ihre Methoden die offensichtlich "gegebenen" Disziplinen und Mittel. Sie müssen freilich ihr Objekt in einer besonderen Weise behandeln, nämlich (im Gegensatz zu rechtssoziologischer Einzelforschung) zunächst einmal die fundamentale soziale Realität klären, daß überhaupt ein normatives System "Rechtsordnung" in der heutigen Gestalt existiert; sie müssen also eher diesen grundsätzlichen Ansatz Max Webers weiterverfolgen, als z. B. Unterschiede zwischen Rechtsordnung und "Rechtswirklichkeit" auf einzelnen Gebieten herausarbeiten. Es geht um eine sozialwissenschaftliche allgemeine Rechtstheorie. Sie geriete freilich selbst auf einen Irrweg, wenn sie ihre "Allgemeinheit" in einer Wesenserkenntnis des Rechts für alle Zeiten und Verhältnisse erblicken wollte; auf solche Weise würde sie bald in Abgrenzungs- und Begriffsstreit endigen. Es kommt vielmehr auf eine Analyse der Funktion des Rechts in der heutigen Gesellschaft an. Auf diese Weise werden also Staat und Recht mit ein und derselben Methode erforscht; es wird vermieden, daß schon durch eine Verschiedenheit der Methoden die Resultate der Staats- und der Rechtstheorie auseinanderfallen. Im Gegenteil wird der Erkenntniswert der Theorie erhöht; denn dieser ergibt sich nicht daraus, daß eine Theorie unmittelbar einleuchtet, sondern u. a. aus dem Umfang der Realitäten und Zusammenhänge, die sie kohärent zu -erklären vermag. Im Folgenden kommt es besonders auf die Zusammenhänge von Staat und Recht an. Dabei nehme ich im wesentlichen die strukturell-funktionale Theorie zur Hand, die im Anschluß an Emile Durkheim von Talcott Parsons entwickelt worden ist4 • 3 Hier kann nur auf einige wichtige deutsche Literatur hingewiesen werden: Hans Albert, Der kritische Rationalismus Karl Raimund Poppers, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Vol. XLVI, 1960, H.3, S. 391 ff.; ders., Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften in Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 93. Jg. 1957, S. 60 ff.; ders., Probleme der Wissenschaftslehre in der Sozialforschung in Handbuch der empirischen Sozialforschung, hrsg. von Rene König, Bd. I S. 38 ff., Stuttgart 1962; Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963; ders., Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik in Zeugnisse (Festschrift für Theodor W. Adorno), Frankfurt 1963; Viktor Kraft, Erkenntnislehre, Wien 1960; Karl Popper, Logik der Forschung, 2. erw. Aufl. Tübingen 1966; Wolfgang Stegmüller, Glauben, Wissen und Erkennen in Zeitschrift für philos. Forschung X 1956, S. 509 ff.; Ernst Topitsch, Sozial philosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied 1961; Gerhard Weisser, Politik als System aus normativen Urteilen, Göttingen 1951. 4 Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (hrsg. u. ein gel. von Rene König), 2. Aufl. Neuwied 1965 (französische Originalausgabe: Les Regles de la Methode Sociologique, Presses Universitaires de France, Paris 1895); Talcott Parsons, The Social System, Gleneoe-USA 1951, 5. Aufl. 1964; ders., Strueture and Proeess in Modern Societies, Gleneoe-USA 1960, 3. Auf!. 1964; ders., Beiträge zur soziologischen Theorie (hrsg. von Dietrich Rüsche-

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III. 1. Mein erster Ausgangspunkt für die Staatstheorie ist der Aufbau der Vorstellung "Staat" durch "jedermann".

Meine These ist, daß wir schon hierbei Rudimente desjenigen Vorgehens finden, das in kritischer Weise die moderne sozialwissenschaftliche Theorie zugrunde legt, und daß hier auch schon begrifflich zusammengefaßte Einsichten in soziale Phänomene und in ihre Strukturen und Funktionszusammenhänge greifbar werden, deren Klärung die Staatstheorie über ihren traditionellen Stand hinausführt. Der Staat ist kein Phänomen, das sich unserer Beobachtung unmittelbar darbietet; wir koordinieren vielmehr geistig zahllose Beobachtungen von Einzelphänomenen zu der Vorstellung "Staat". Die erste Frage muß deshalb lauten: Welche Phänomene sind das? Es handelt sich um ein besonderes Verhalten von Menschen oder um die Existenz besonderer Sachen, soweit beides nämlich mit dem Staate "zusammenhängt". Sachen können dies nur, indem sie für Verhalten von Menschen Bedeutung haben; wir können sie im folgenden außer Betracht lassen. Worin besteht der Zusammenhang jenes Verhaltens von Menschen mit dem Staate? Immer geht es zunächst um Zusammenhänge mit (Beziehungen zu) anderen beobachteten oder beobachtbaren Einzelphänomenen (anderem menschlichen Verhalten); aber diese Zusammenhänge sind sehr verschieden, sind komplex und ergeben sich oft nicht "von selbst". So beobachten wir von Kind auf z. B. den Postbriefkasten an der Straßenecke, den Einwurf eines Briefes, oder den Polizeibeamten, der den Straßenverkehr regelt, und die Autofahrer, die sich danach richten, die Feuerwehr und den Unfallwagen. Dabei wird der Zusammenhang des Verhaltens der einen mit dem Verhalten der anderen (des Briefschreibers, der Postbeamten bis hin zum Briefträger, des Empfängers usw.; des Polizeibeamten einerseits, der Passanten andererseits), werden ihre Beziehungen erklärt; es wird einsichtig gemacht, daß diese Verhalten voneinander abweichen und doch dahin zusammenwirkend ineinandergreifen (konvergieren), daß ein bestimmter sozialer Erfolg erzielt wird. Immer wird auch die einzelne Beobachtung verallgemeinert zu einer Regelhaftigkeit und schließlich zu einer ausgeprägten "Rolle". Teilweise kann das Kind die Regelhaftigkeit selbst feststellen, teilweise wird ihm bedeutet, daß das "immer" so sei. Es lernt, selbst mit ihr zu rechnen, d. h. aus mehr oder minder wiederkehrenden und präzisierbaren, also typischen "Erwartungslagen" zu handeln. Diese sind also nicht völlig meyer), Neuwied 1964; vgl. auch Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, Glencoe-USA 1949, 9. Aufl. 1964.

166 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des staats und Rechts offen, sondern teils durch die Natur, teils in sozialer Weise mehr oder minder festgelegt; die frühere Erfahrung, daß das Kind selbst nicht alles darf, was es (physisch) kann, gilt auch für alle anderen Menschen. Denn es existieren Regeln des Verhaltens, die die Menschen befolgen ("Motivation") und die teilweise sogar die Erwachsenen zu befolgen haben. Sie sind abgestellt auf ein Ineinandergreifen (eine Konvergenz) des Verhaltens mehrerer in konvergierenden Rollen zur Erreichung eines bestimmten sozialen Erfolgs. Manche beobachteten Phänomene und ihre Zusammenhänge in rollengemäßem Verhalten werden abstrahierend zusammengefaßt zur Tätigkeit und sozialen Aufgabe "der Post", "der Polizei", "der Schule" usw. oder von bestimmten Behörden oder Ämtern wie "das Gericht", also von "Institutionen", einem Begriff, der eine reale Koordination von Einzelverhalten zu Rollen und mehrerer konvergierender Rollen zur Förderung eines bestimmten sozialen Erfolges ausdrückt. So wird die funktionale Bestimmung der Rollen, ihrer Inhalte und ihrer realen Koordination mit anderen Rollen aus der Institution, aus deren sozialem "Sinn und Zweck" (deren sozialer Funktion) erst verständlich gemacht. Die Belehrungen aus den eigenen Beobachtungen und durch Ältere werden zu weiteren organisatorischen Zusammenfassungen dieser ersten Begriffe (und derjenigen Phänomene, die von ihnen gedeckt sind) fortgeführt, indem erkannt wird, daß mehrere Institutionen zu ganzen "Systemen", z. B. "die Stadt" und schließlich auch "der Staat" koordiniert sein können. Der Staat stellt sich so als ein äußerst komplexer "Zusammenhang von Zusammenhängen" besonderen menschlichen Verhaltens dar. Man kann ihn als ein System bezeichnen unter dem Aspekt, daß er aus Institutionen mit je verschiedenen Rollen "besteht", oder selbst als eine Institution (auf höherer organisatorischer Ebene) unter dem Aspekt, daß auch er eine soziale Funktion "besitzt". Alle diese Zusammenhänge werden zurückgeführt auf ein tatsächlich gegebenes Zusammenwirken von Menschen durch ihr noch so verschiedenes Verhalten, das eine Regelhaftigkeit aufweist, die ein reales Ineinandergreifen (Zusammenwirken) der verschiedenen Menschen durch ihr verschiedenes Verhalten überhaupt erst möglich macht und letztlich durch rationale Koordination unter Sanktionsdruck (Motivation durch Verhaltensnormen) bewirkt und gesichert ist. Dieses Ineinandergreifen muß den Handelnden selbst nicht einmal immer voll bewußt, geschweige denn von ihnen beabsichtigt sein; es tritt auch unabhängig hiervon ("objektiv") ein dank den "sozialen Verhältnissen", d. h. den objektiven Strukturen und Funktionszusammenhängen dieser konkreten Gesellschaft, die ein effektives Zusammenwirken begründen. Dabei wird auch zur Erfahrung, daß derselbe Mensch in verschiedenen Zusammenhängen

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mit (Beziehungen zu) anderen sich jeweils verschieden verhält, daß z. B. der Polizeibeamte auch ein Kunde in einem Geschäft ist usw., daß es also verschiedene und nicht einmal immer subjektiv harmonisierbare Rollen desselben Menschen gibt, und daß das funktionale Zusammenwirken der Menschen immer auf dem koordinierten Spiel der jeweils richtigen, konvergierenden Rollen beruht, von dem folglich der erstrebte soziale Erfolg abhängt. So wird auch die Existenz und soziale Funktion jeglicher Koordination des zwischenmenschlichen Verhaltens erfahren, vor allem die Tatsache, daß nur die Effektivität der Motivation durch soziale Regeln es ermöglicht, daß man sich auf Menschen so verlassen kann, wie man das unvermeidbar muß. Selbst wenn die Vorstellungen und Begriffe "Sollen", "Normen" und besonders "Recht" erst später gebildet werden, sind doch schon Grundlagen dafür in der Erkenntnis einer realen Koordination des zwischenmenschlichen Verhaltens durch Verhaltensregeln und ihrer sozialen Bedeutung gelegt. Dabei tritt der Staat als - für das Verständnis des Kindes in der Regel personifizierter - Schöpfer und Garant eines wichtigen Teils dieser Koordination, tritt seine Funktion als maßgebliches Koordinationszentrum in den Gesichtskreis, indem sich die verschiedenen Rollen und Institutionen, die zum Staate "gehören", als durch diese besondere Koordinationsfunktion charakterisiert und bestimmt erweisen; mit der Vorstellung dieses Koordinationszentrums ist verbunden, daß es mit Regeln irgendwelcher Art auf die Motivation und mit Zwangsmitteln auf deren Effektivität hinwirkt. Insgesamt haben wir es also mit einem allmählichen Aufbau der Vorstellung "Staat" durch "jedermann" zu tun. In ihm werden - bei aller Zufälligkeit, die vor allem den Umfang der einbezogenen Phänomene, aber auch die Konsistenz und Präzision der so erworbenen Kenntnisse und Vorstellungen beherrscht - bereits Elemente derjenigen theoretischen Erkenntnisse vorgeformt, die erst die modemen Sozialwissenschaften für das allgemeine soziale Leben kritisch und systematisch berausgearbeitet haben und die für die Erkenntnis des Staates fruchtbar gemacht werden können: Besondere Rollen werden im gesellschaftlichen Leben gefunden und als dem Staate dank dessen besonderer Organisation zugehörig erfahren, als untereinander verbunden, ja als rational zusammengeordnet erkannt. Ihre Zusammenordnung beruht großenteils auf Rechtsnormen. Nur durch rollengemäßes Verhalten wird ein Zusammenwirken noch so verschiedener Menschen in ihren noch so verschiedenen staatlichen Rollen als Beamte, Richter, Minister, Abgeordnete usw. erzielt. Die Rollen sind in besonderen Institutionen gebündelt - Behörden, Ämtern, ganzen Zweigen der staatlichen Tätigkeit. Diese sind - vom Staat als dem

168 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts organisierten System aller dieser Institutionen her betrachtet - Teilinstitutionen der Institution "Staat", weil sie Teilfunktionen in der sozialen Gesamtfunktion des Staates haben. Das rollengemäße Verhalten der Menschen je im Rahmen dieser besonderen Institutionen konstituiert so mittelbar das Zusammenwirken aller als die "Wirksamkeit des Staates", konstituiert diesen selbst als eine Wirkungseinheit. Seine juristische Erfassung als Rechtsperson, die Zurechnung der Tätigkeit von Organen mit Kompetenzen zum Staat usw. lassen sich erst sozialwissenschaftlich verständlich machen5 • Im Beitrag zu dem rationalen, systematischen Funktionszusammenhang aller staatlichen Wirksamkeit in dem und gegenüber dem sozialen Leben liegt der objektive "Sinn" jedes rollengemäßen Verhaltens innerhalb jener besonderen Institutionen. Besondere Rollen und Institutionen erweisen sich so als Strukturelemente des Staates, und dessen spezifische soziale Funktion selbst wird an den besonderen Teilfunktionen der organisierten Rollen und Institutionen im und gegenüber dem allgemeinen sozialen Leben erkennbar. Die Vorstellung, daß der Staat identisch sei mit diesem "Herrschaftsapparat", hat hier ihren Kern'. Aber mit dem Begriff der Rolle wird auch erfaßbar, daß "jedermann" unter vielen Rollen die des politischen Bürgers hat, also innerhalb und nicht nur unterhalb des Staates steht. Das führt zu einem zweiten, weiteren Staatsbegriff. Dieser selbst erscheint dann nicht mehr als klar abgehobene Antithese zur Gesellschaft, sondern als weitgehend nur analytisch aus der Gesamtheit alles sozialen Verhaltens herauspräparierbar. In diesem weiteren Sinn haben wir es beim Staat nicht mehr nur mit dem Verhaltensausschnitt aus dem allgemeinen sozialen Leben in den besonders organisierten (und zu spezifischen Funktionszusammenhängen eines besonderen Systems koordinierten) Rollen und Institutionen zu tun, sondern mit einem besonderen Aspekt alles sozialen Lebens. Diesen Aspekt nennen wir den politischen. Der Staat ist in diesem weiteren Sinn das Ganze des politischen Lebens. Unter diesem Aspekt ist nicht nur das Zeitunglesen, sondern letztlich sogar das "Privatleben" auch ein politisches Phänomen, können wir in allem sozialen Leben alle Grade und Arten von Zusammenhängen zur organisierten sozialen Koordination feststellen, eine grundlegende Einheit von Staat und Gesellschaft, innerhalb derer auch der staatliche Herrschaftsapparat mit besonderen Rollen und Institutionen steht und wirkt. 5 Es wird aber auch sichtbar, welche Fülle handgreiflichen Materials an Erfahrung umgekehrt Staat und Recht einer allgemeinen Theorie des sozialen Lebens schon halb aufbereitet bieten. 8 Von der historischen Wurzel im Absolutismus sehe ich ab; es fragt sich hier nur, was heute jene Vorstellung trägt.

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Hiermit geht die sozialwissenschaftliche Theorie hinaus über die Vorstellungen, die "jedermann" sich vom Staate bildet; denn dort bleibt die engere Gleichsetzung des Staates mit dem Herrschaftsapparat in der Regel unkoordiniert neben der nur vagen weiteren Staatsvorstellung "wir alle sind der Staat", "Staat und Gesellschaft (oder: Volk) sind eins". Das ist oft nur angelernt oder wird aus einer demokratischen überzeugung thesenartig verfochten, allenfalls unter Berufung auf die grundlegende Bedeutung der Wahlen für die Instituierung des Herrschaftsa ppara tes. Die Bedeutung dieser sozialwissenschaftlichen Erkenntnis ist groß: So erst wird der funktionale Zusammenhang alles sozialen Verhaltens durchschaubar als eine Einheit, als ein (mehr oder minder gut funktionierendes) "System" alles zwischenmenschlichen Verhaltens, das wir "Leben in Gesellschaft" nennen. Hierin ist das Verhalten im (durch besondere organisatorische Koordination von Rollen und Institutionen begründeten) Herrschaftsapparat nur ein Teilsystem. Es wird dadurch erkennbar als eine rationale, sozialtechnische, aber von Ordnungs- und Gestaltungsvorstellungen (politischen Zielen und Prinzipien, welcher Art, welchen Inhalts, welchen Ranges und welcher Adäquatheit zu den gegebenen Bedingungen auch immer) geleitete, "organisierte" kompensatorische Einwirkung zur Herstellung des sozial auskömmlichen, erwünschten Gesamtlebens. Erst in diese breiter greifende Betrachtung fügt sich die relative Einheit des individuellen Gesamtverhaltens von "jedermann" (des Verhaltens in den "privaten" Rollen wie in den besonderen politischen des "Staatsbürgers") ein, ferner die relative Einheit der Orientierungen des Verhaltens in den besonderen politischen Rollen an allgemeinen sozialen Ordnungs- und Gestaltungsvorstellungen und schließlich auch die relative Einheit des persönlichen Denkens (aller Interessennahmen jeder Art bis hin zu Weltanschauungen) und der sozialen und politischen Ordnungs- und Gestaltungsvorstellungen. Sogar die Fragen der Einheit der Person und der Entfremdung müssen als mitbedingt durch das konkrete soziale und politische Leben gesehen werden. Aber auch die Tendenz, bei der sozialen und politischen Gestaltung und Ordnung diesem Denken und den darauf beruhenden Ordnungsintentionen formell organisierte wie informelle Ausdrucksmöglichkeiten zu verschaffen ("Rückkopplungen" zum Herrschaftsapparat), trägt besonderen sozialen Bedingungen Rechnung: Der Zusammenhang der Entstehung und Verbreitung der modernen demokratischen Bestrebungen mit der Entwicklung und Existenzweise des modernen Soziallebens und Staates wird tiefer als nur aus zweckrationalen Bedürfnissen einer hochtechnisierten Produktion oder aus "reiner" Geistesgeschichte verständlich, freilich auch die gegenläufigen Tendenzen zur Einflußnahme auf das Denken der Menschen (bis hin zu seiner Manipulation), der Orientierungsverluste u. a. m.

170 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts Aus der Erforschung aller solcher Zusammenhänge könnten sich sogar selbst Gestaltungs- und Ordnungsprinzipien ergeben, die zunächst als bloße Postulate moralischer oder politischer Art auftreten, aber aus funktionalen Gründen als Existenzbedingungen der modernen Gesellschaft erkannt werden könnten. Weitgehende Klärung solcher Probleme auch für das "allgemeine Bewußtsein" dürfte nämlich selbst eine der Funktionsbedingungen der modernen Gesellschaft sein, weil von ihrer Verbreitung die soziale Rationalität des Verhaltens von "jedermann" in dieser Gesellschaft und ihrem Staate weitgehend abhängt. Im "allgemeinen Bewußtsein" ist nur mehr oder minder vage erkannt und anerkannt, daß die konkreten Aufgaben, die der Herrschaftsapparat zu erfüllen hat, und die Art und Weise, wie er sie zu lösen sucht, von sogenannten "sozialen Verhältnissen abhängen", daß die Möglichkeit bewußter Gestaltung dieser "Verhältnisse" nur relativ ist; man weiß, daß vor allem das Spiel der besonders normierten politischen Rollen des Staatsbürgers von den verschiedenen Positionen und Interessen "jedermanns" im allgemeinen sozialen Leben mitbestimmt wird (bes. bei der Ausübung des Wahlrechts), und daß Stellungnahmen der "öffentlichen Meinung" bis in den Herrschaftapparat hineinwirken. Aber das sind fast platte Allgemeinheiten, die nicht nur der kritischen Erforschung, sondern dann auch der geistigen Koordinierung mit anderen Phänomenen bedürfen und schließlich in einer Theorie von Staat und Recht ihren Platz finden müssen. Solche Klärungen schließen insbesondere eine statische Betrachtung des Verhältnisses von "Individuum und Gruppe", "Gesellschaft und Staat" aus, die der unkritischen Denkweise naheliegt. Sie zeigen, daß wir es nicht mit einem einseitig gerichteten Prozeß der Einwirkung des Staates auf die Gesellschaft zu tun haben, sondern mit einem ständigen Prozeß von Aktion und Reaktion, den man als einen "real-dialektischen" Prozeß in wechselseitigen "Rückkopplungen" bezeichnen kann7 • In diesem Prozeß stehen die sozialen Positionen, die Interessen und ihre Geltendmachung (nicht nur im Spiel der besonderen Staatsbürgerrollen, sondern) im gesamten sozialen Verhalten (und der Erfolg dabei) auf der einen Seite, die soziale und poli7 Am wenigstens "rückgekoppelt" ist wohl ein Besatzungsregime während eines Krieges; ein solches kann als ein Herrschaftsapparat funktionieren, der einseitig auf die Beherrschten einwirkt. Dieses Gegenbeispiel verdeutlicht gut, daß es im staate der modernen Gesellschaft diese Einseitigkeit grundsätzlich nicht gibt, so verschieden die Wechselseitigkeit auch ist. Hier liegen die wichtigsten Probleme sozialwissenschaftlicher Analyse der politischen Freiheit; es geht dabei um die Existenz, das Funktionieren und die Effektivität von Rückkopplungen vom sozialen Leben zum Herrschaftsapparat. Es wäre jedenfalls falsch, "totalitären" Regimen in Industriegesellschaften das Bestehen von Rückkopplungen kurzerhand zu bestreiten; sie existieren auch hier und keineswegs nur in Gestalt von Geheimpolizei. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung der formellen und informellen Rückkopplungen könnte die recht steril gewordene Staatsformenlehre wieder beleben, sogar bedeutungsvoll machen.

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tische Koordination durch alle, nicht nur die besonderen staatlichen Institutionen, Rollen und Normen auf der anderen Seite in einem mehr oder minder antinomischen Verhältnis. Das erfordert eine ständige Stellungnahme von "jedermann" mindestens in den ihn selbst betreffenden jeweiligen konkreten Problemen dieser grundsätzlichen Antinomie. Damit ist keineswegs die Antithese "Staat-Gesellschaft" doch wieder ins Spiel gebracht, weil nämlich alle sozialen Ordnungselemente - nicht nur die staatlichen - in ihrer relativen Kohärenz auf der einen Seite der Antinomie stehen, von ihnen immer nur einzelne konkret antinomisch wirken und auch dies nicht gegenüber "den" sozialen Tendenzen und Interessen, sondern gegenüber konkreten und mehr oder minder partiellen. Ein großer Teil der konkreten Antinomien spielt deshalb innerhalb dessen, was man bei der Antithese "StaatGesellschaft" als "die Gesellschaft" betrachtet. Das Problem realer Integration durch Koordinierung von Menschen mit den verschiedensten Interessen, sozialen Chancen usw. zu einem auskömmlich funktionierenden Zusammenwirken in der Gesamtgesellschaft, der Erzielung des hierfür erforderlichen Konsensus - gegebenenfalls durch staatliche Einwirkung - ist permanent und allgegenwärtig. Es handelt sich nicht um "Integration der Gesellschaft in den Staat", sondern um Integration zur (aus "Staat" und "Gesellschaft" im antithetischen Sinn bestehenden) Gesamtgesellschaft als einem realen System des Zusammenlebens, bei der jene beiden ihren oft angenommenen nur antithetischen "Charakter" verlieren, indem sie aufeinander bezügliche Momente eines "Ganzen" (des Lebens in Gesellschaft) werden, in dem alles Verhalten einen politischen Aspekt besitzen kann. Betrachtet man den Staat im engeren Sinn als den Herrschaftsapparat, so ist er ein "Reglersystem" gegenüber der Gesellschaft als einem nicht "selbstregulierenden" System zwischenmenschlichen Verhaltens, das durch mannigfache "Rückkopplungen" mit dem allgemeinen sozialen Leben verbunden ist und seine Regelungseingriffe an dem orientiert, was ihm an "Information" über Tendenzen, Reibungen, Konflikte, Gefahren der Gesellschaft zufließt. Das ist für manche Erkenntnis durchaus sinnvoll und darf deshalb, weil der Herrschaftsapparat aus der Gesamtgesellschaft herausorganisiert, in ihr also relativ verselbständigt ist, nie ganz vernachlässigt werden. Aber ebensowenig darf man darüber hinweggehen, daß wir es letzten Endes mit einem Gesamtsystem "Leben in Gesellschaft" zu tun haben, in dem alles soziale Leben unter dem politischen Aspekt steht. Denn auch das Verhalten der Menschen im allgemeinen sozialen Leben kennt Reaktionen auf das soziale Verhalten anderer und ist ein Leben in ständigen wechselseitigen Rückkopplungen, die sozialen Wandel bewirken und die soziale Koordination berühren, auch die Koordination durch den Herrschafts-

172 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts apparat, mag diese Tatsache auch meistens erst in "Krisen" handgreiflich und allgemein bewußt werden. Wir haben es also durchaus nicht nur mit Reaktionen auf die Regelungsakte des Staates und mit Aktionen zu tun, die die Tendenz (und oft auch den Effekt) haben, bestimmte Reaktionen des Herschaftsapparates in Gestalt kompensierender Regelungseingriffe hervorzurufen. Vielmehr steht der Herrschaftsapparat in einem fast unübersehbaren Geflecht allumfassender wechselseitiger Rückkopplungen, die jederzeit relevante soziale Ordnungsprobleme schaffen können. Aber auch umgekehrt werden die Koordinierungsakte des Herrschaftsapparates und ihre sozialen Wirkungen großenteils wieder zu "natürlichen" Gegebenheiten des sozialen Lebens. Deshalb muß man für andere Erkenntniszwecke das soziale Gesamtsystem als "Gesamtgesellschaft" und innerhalb ihrer den besonderen politischen Aspekt betrachten und darf dies selbst dann nicht außer Beachtung lassen, wenn man es auf den Herrschaftsapparat speziell abstellt. Denn sogar die fundamentale Organisation und Funktionsweise der politischen Herrschaft als ein nicht mehr persönliches Regiment ist von der Struktur des sozialen Lebens bedingt; Staatsformen sind nie "bloße" Formen8 • Sicherlich wäre es klärend, die Vorstellungen zu untersuchen, die zugrunde liegen, wenn die Angelsachsen das government als Teilsystem des Gesamtsystems "soziales Leben" bezeichnen. Da ich auf eine sozialwissenschaftliche allgemeine Rechtstheorie besonders eingehen werde, braucht hier nur angemerkt zu werden, daß der Betrachtung des Staates im engeren Sinn (als Herrschaftsapparat) die des positiven Rechts als Herrschaftsinstrument korrespondiert, der Betrachtung des Staates im weiteren Sinn (als politischer Aspekt alles sozialen Verhaltens) die des Rechts als eines unter vielen dieses Verhalten (über das Denken der Menschen) motivierenden Faktoren, und zwar dahin motivierend, daß es zu dem konkreten Gesamtsystem "Leben in dieser Gesellschaft" kommt, einem Gesamtsystem, das nur in den Verhaltensakten der Menschen selbst besteht und also einen ständigen Prozeß ausmacht, in dem jegliche individuelle Verhaltenstendenz bereits Einfluß auf das Gesamtsystem, auf sein Funktionieren und auf seine Fortgestaltung auszuüben vermag, sobald sie sozial relevant wird. 2. Mein zweiter Ausgangspunkt für eine sozialwissenschaftlic1ie Staatstheorie sind die Vorstellungen, die mit der Betrachtung von Re8 Ich lasse beiseite, daß auch dieser besondere politische Aspekt dann entfallen kann, wenn im Außenverhältnis von "Staat" zu "Staat" jede innere begriffliche Unterscheidung irrelevant wird, weil sie realiter irrelevant ist, wenn wir nur die effektiven Handlungs- und Wirkungseinheiten betrachten; der allgemeine Sprachgebrauch und die unkritische Denkweise tun dies freilich oft recht unbedenklich.

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volutionen verbunden werden. Ich nehme als Beispiel die französische Revolution, und zwar gleichfalls nur als ein Demonstrationsobjekt, um Begriffe der modernen Theorie und dadurch auch die Theorie selbst, die in ihnen sich ausdrückt, zu bestätigen und ihre Fruchtbarkeit für die Erkenntnis des Staates zu zeigen. Meine Thesen sind: a) An Krisen des sozialen und politischen Lebens wird dessen Bestehen aus funktionalen Zusammenhängen alles zwischenmenschlichen Verhaltens besonders sichtbar, denn gerade diese werden gestört; die Störungsstellen deuten also von selbst auf das hin, was sich sonst erst kritischer Analyse des "normalen" Lebens erschließt. Die Ergebnisse solcher Analyse und die daraus gewonnene Theorie lassen sich an Krisen besonders gut überprüfen. b) Unsere Vorstellungen von der französischen Revolution und deren Darstellung in Begriffen enthalten Ansätze, die in der allgemeinen Theorie des sozialen Lebens kritisch und systematisch ausgebaut sind. c) Mehr noch: Für jede Darstellung jeder Revolution (gleich ob durch Historiker, Staatsrechtler usw. geschrieben, ob in Briefen, Tagebüchern oder Romanen usw. enthalten, ob von Anhängern oder Gegnern stammend, wie umfassend oder partiell und wie "richtig" auch immer in den Beobachtungen fundiert und in deren Zusammenfassung geistig koordiniert, zu welcher Klarheit der Begriffe erhoben) scheinen diese sozialwissenschaftlichen Ansätze unausweichlich zu sein; Unterschiede bestehen nur in dem Grade theoretischer Klärung und Koordinierung der dargestellten Vorgänge und demgemäß in ihrer begrifflichen Erfassung. d) Trifft das zu, dann ist nicht nur Revolutionstheorie, sondern überhaupt Staatstheorie auf soziaLwissenschaftliche Forschung angewiesen. e) Das Exempel der Revolution führt über mein erstes Demonstrationsobjekt (den Ausbau der Vorstellung "Staat" von Kind auf) in einem wichtigen Punkt hinaus: An ihm wird der soziale WandeL sichtbar als ein grundlegendes Faktum alles, besonders aber des neuzeitlichen sozialen und politischen Lebens, zugleich seine komplexen Bedingungen. Das Zurücktreten des sozialen Wandels in der strukturell-funktionalen Analyse von Parson.:; und die damit gegebene Gefahr, daß das System des realen sozialen Lebens als ein statisches und "organisches" ohne Anpassungen und Konflikte mißverstanden werde, haben neuere Autoren mit Recht betont9 • f) Endlich wird die Bedeutung der Ordnungsart "positives Recht" 9 Lewis A. Coser, The Functions of Social Conflict, London 1956; Ral! Dahrendor!, Gesellschaft und Freiheit, München 1961, bes. die Aufsätze Struktur und Funktion. Talcott Parsons und die Entwicklung der soziologischen Theorie; Pfade aus Utopia. Zu einer Neuorientierung der soziologischen Analyse; Die Funktionen sozialer Konflikte; Elemente einer Theorie des sozialen Konflikts; ders., Homo Sociologicus, 5. erw. Aufl. Köln 196·5; H. J. Lieber, Philosophie, Soziologie und Gesellschaft in H. J. Lieber, Philosophie, Soziologie, Gesellschaft, Berlin 1965, S.1 ff.; ders., Soziologie zwischen Fortschritt und Tradition, aaO., S. 23 ff.; ders., Der Erfahrungsbegriff in der empirischen

174 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts gerade an der Revolution deutlich erkennbar; auch in diesem Punkt führt das zweite Demonstrationsobjekt über das erste hinaus. Jede Betrachtung des ancien regime geht von der Frage aus, ob das ein noch funktionierendes System war; damit ist keineswegs ein konfiiktfreies, sondern ein noch auskömmliches Funktionieren gemeint. Die Auskömmlichkeit können wir nur an dem äußeren Verhalten der Menschen ablesen, obgleich ihm innere Einstellungen (mannigfache Wertungen) zugrundeliegen. Worin also äußert sich die "Auflösung" des Systems? Offenbar darin, daß gerade das nicht mehr stattfand, was ein Funktionieren dieses Systems ausgemacht hätte; soziale Beziehungen kamen nicht mehr systemgemäß zustande oder wurden nicht mehr systemgemäß durchgeführt, d. h. die Menschen verhielten sich in jenen Beziehungen nicht mehr systemgemäß; sie spielten ihre alten Rollen in den alten Institutionen nicht mehr. Das war so weit verbreitet, daß es sozial relevant wurde (was es zuvor nicht gewesen war), d. h. das Funktionieren des sozialen Gesamtsystems zerstörte; denn ganze Schichten waren bereit, sich der effektiven Verweigerung des Spiels der alten Rollen anzuschließen. Freilich nicht in jeder einzelnen Rolle, die ein Mensch haben konnte, aber doch in einigen fundamentalen Rollen, vor allem solchen, in denen sich eine grundsätzliche Position (ein politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Status) besonders belastend für die Angehörigen dieser Schichten äußerte, während die Angehörigen anderer Schichten von diesen Belastungen frei waren und bleiben wollten. Der relative - auf die anderen Schichten bezogene - soziale Beitrag des Dritten Standes hatte sich geändert, ebenso die sozialen Beiträge der "priviligierten" Schichten. Daraus vor allem resultierte, daß der dritte Stand das alte Rollenspiel in den alten Institutionen nicht mehr mitzuspielen bereit war 10 ; aber die Privilegierten wollten sich in neue Rollen nicht schicken, obwohl ihre alten Rollen sozial defunktionalisiert und damit ihre Positionen in "bloße" Privilegien verändert waren. So kam es, daß die ganze alte Gesellschaftsordnung, die auf diesen Unterschieden beruhte, immobil (außer Funktion gesetzt) wurde, daß Sieyes in seinem Essai sur les Privileges von 1788 die Einstellung der PriviSozialforschung, aaO., S. 118 ff.; C. WTight Mills, Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied 1963 (Originalausgabe The Sociological Imagination, New York 1959). 10 Was Sieyes in seiner Flugschrift über den Dritten Stand als dessen Kampfthesen und als Analyse des ancien regime formuliert hat, legt (wie alle großen politischen Schriften, z. B. Montesquieus Geist der Gesetze und das Kommunistische Manifest) bereits die Vorstellungen und Gesichtspunkte zugrunde, die erst die modernen Sozialwissenschaften zur ausdrücklichen Theorie des sozialen Lebens erhoben haben. In einer früheren Untersuchung über Montesquieu habe ich diese theoretische Verallgemeinerung selbst noch nicht vornehmen können (Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in Faktoren der Machtbildung, Schriften des Instituts für Politische Wissenschaft Bd. 2, Berlin 1951, S. 99 ff.).

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legierten in aufschlußreicher Formulierung als "antisozial" bezeichnete. Das setzte die Vorstellung einer neuen Gesellschaftsordnung voraus, in der die soziale Kooperation nicht mehr auf jenen Unterscheidungen beruhte, für die also die Idee der Gleichheit eine höchst konkrete und realistische Bedeutung besaß, die Vorstellung einer Gesellschaft mit einer neuen (den sozialen Beiträgen angepaßten) Relation zwischen den Status dieser Schichten. Deutlich erkennbar ist allenthalben (schon in der Bezeichnung als "ancien regime") der Ausgangspunkt: die Betrachtung der Gesamtgesellschaft als ein System realen Zusammenwirkens durch das Verhalten der Menschen. Das Problem der realen Integration des sozialen Lebens war in der alten Gesellschaftsordnung unlösbar geworden, weil das politische Teilsystem innerhalb des sozialen Gesamtsystems, weil der "Staat" - verstanden als Herrschaftsapparat des ancien regime - sich als zu schwach erwiesen hatte, um das Fehlen von Reform- und Kompromißbereitschaft bei den Privilegierten zu überwinden, d. h. das Fehlen der sozialen ratio, auf die privilegierten Status und Rollen wenigstens teilweise zu verzichten, um wieder eine soziale Kooperation zu ermöglichen. Dieses Teilsystem "Staat" ist auch für das ancien regime aus dem sozialen Gesamtsystem analytisch herauslösbar, obwohl in ihm die sozialen (und weitgehend auch wirtschaftlichen) Status und Rollen (die positiv wie die negativ privilegierten) unmittelbare Grundlage der politischen Status, Rollen und Institutionen waren; denn Vertreter der Stände hätten in diesen besonderen Institutionen (in ihren besonderen Rollen als solche Vertreter) zusammenwirken müssen, damit diese funktionierten und so das herrschaftliche Institutions-System "Staat" seine Funktion der neuen Koordinierung des Systems "Gesamtgesellschaft" hätte erfüllen können. Das spezifische politische System funktionierte also in sich nicht mehr, und am wenigsten, wenn es darum ging, es selbst dem sozialen Wandel entsprechend so zu reformieren, daß mit einer neuen sozialen Kooperation seine eigene Lenkungs- und Ordnungsfunktion gegenüber dem sozialen Leben neu begründet würdel1 • Gesetzgeberische Reformen, vor allem der Finanzen, waren so lange hinausgeschoben worden, daß die Funktionsunfähigkeit des politischen Systems durch Staatsbankrott drohte. So kam es zur Einberufung der 11 Für diese Feststellung ist es gleichgültig, ob man als Koordinationsbasis das "gute alte Recht und Herkommen" und damit die Verfassungen der einzelnen Landesteile, zusammengehalten nur durch einige zentrale Institutionen zum Königreiche, ansehen will oder aber den Absolutismus. Nicht die Frage. welche Verfassung rechtlich galt, ist wichtig, sondern die Tatsache, daß keine von beiden mehr effektiv war, d. h. das Verhalten der sozial relevanten Schichten zu einem Zusammenspiel (Kooperation) innerhalb ihrer politischen Institutionen nach den damit bestimmten Rollen und Gegenrollen zu motivieren vermochte.

176 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts Generalstände; daß dabei deren Zusammensetzung geändert wurde, war allein schon eine Änderung dieser Institution und der Rollen in ihr, damit eine Änderung der rechtlichen Verfassung des Landes. Die Proklamation des Dritten Standes zur Nationalrepräsentation bedeutete Rechtsbruch, nämlich die revolutionäre Negierung aller alten Rollen in der alten Institution "Generalstände" (und damit dieser Institution selbst), sowie den Versuch der Schaffung und Usurpierung eigener neuer Rollen und die Offerte entsprechender Rollen auch für die bisher privilegierten Stände in einer neuen Institution innerhalb des politischen Systems, zugleich den Versuch einer Änderung der Institution des Königtums. Damit war sie der Beginn der Etablierung eines ganzen neuen Systems der besonderen politischen Institutionen (einer neuen rechtlichen "Staatsordnung") als des besonderen politischen Lenkungs- und Ordnungssystems, aus dessen Funktionieren der koordinierende Aufbau einer ganzen neuen "Gesellschaftsordnung" hervorgehen sollte, die den neuen Wertvorstellungen entsprang. Die Antithese "Staat/Gesellschaft" erweist sich auch hier als ein fruchtbarer Teilaspekt nur, wenn man erkennt, daß sie sinnvoll nur ist, wenn man den anderen Teilaspekt gleichfalls und als den umfassenderen berücksichtigt: Das komplementäre Verhältnis des politischen Herrschaftssystems "Staat" zum System der "Gesellschaft", ihrer beider funktionale Einheit als Gesamtsystem des menschlichen Lebens "in dieser Gesellschaft" wird an der neuen Ordnung ebenso deutlich wie am Versagen des ancien regime, das diese Einheit nicht mehr herzustellen vermocht hatte. In beiden geschichtlichen Perioden hatte endlich die soziale Ordnungsart "positives Recht" eine hervorragende Bedeutung, die ich hier nur vermerke, beim Scheitern der Reformen vor der Revolution wie beim Aufbau der neuen Ordnung in ihr12 • Diese Hinweise genügen, um zu zeigen, daß jeder Betrachtung der Revolution bereits eine elementare sozialwissenschaftliche Staatstheorie zugrundeliegt. Wir können uns in unserer geistesgeschichtlichen Lage nur in dieser Weise geordnete Vorstellungen über die Revolution machen. Wir besitzen offenbar alle eine - noch so elementare - sozialwissenschaftliche Revolutions- und folglich auch Staatstheorie, sogar dann, wenn wir als Wissenschaftler Anhänger ganz anderer Staatstheorien sind. Dieses erstaunliche Phänomen legt die Frage nahe, ob es sich im letzten Fall um einen Selbstwiderspruch handelt, der nur nicht voll 12 Das habe ich näher ausgeführt in dem Aufsatz Bemerkungen zur Theorie des Gesetzgebungsstaates in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1965, H. 3 S. 556 ff. (vgl. oben S. 71-83).

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bewußt wird, oder ob sozialwissenschaftliche Staatstheorie selbst so breit angelegt und so tief fundiert werden kann (und dann auch muß), daß andere Theorien in ihr "aufgehoben" werden können. Das gilt besonders von der Staatstheorie Hans Kelsens, die als "Gegentheorie" zur sozialwissenschaftlichen Theorie d~s Staates aufgebaut worden ist. Hierüber kann nur eine eing~hendere Untersuchung volle Klarheit schaffen, als im Rahmen dieses Aufsatz~s möglich ist. Ansatzpunkte hierfür werden sich ergeben, wenn ich im folgenden auf Kelsens Rechtstheorie eingehe13 • IV.

Überlegungen über eine sozialwissenschaftliche allgemeine Rechtskönnen an F~ststellungen anknüpfen, die unt~r III. gemacht worden sind. th~orie

Meine Thesen sind: a) Man kann das positive Recht nicht nur "an sich" und also "rechtsimmanent" (als System von Normen) in einer "reinen Rechtslehre" betrachten, sondern auch "rechtstranszendent" , d. h. von dem sozialen "Sinn und Zweck" dieses besonderen Normensystems (von seiner sozialen Funktion) her, und gewinnt dabei Erkenntnisse, die der ersten Betrachtung verschlossen sind. b) Man kann auf diese Weise sogar eine "reine Rechtslehre" an denjenigen Stellen unterbauen, an denen sie mit Axiomen arbeiten muß, weil das positive Recht (seine Existenz wie seine Ausgestaltung) unmöglich "aus sich selbst" erklärt werden kann (was selbstverständlich nicht ausschließt, daß Einzelheiten seiner Ausgestaltung sich als rein immanente Konsequenzen seiner Existenz, als eine spezifische soziale Ordnungsart oder aus anderen sozial bedingten Ausgestaltungen ergeben). c) Sozialwissenschaftliche Rechtstheorie vermag nicht nur die Existenz einer spezifischen Ordnungsart "positives Recht", sondern auch deren konkrete Struktur und weitgehend auch ihre immanenten Funktionsgesetzlichkeiten zu erklären. a) Menschliches Leben ist - von Robinson abgesehen - Zusammenleben mit anderen, also soziales Leben. Es ist deshalb ein Leben in Beziehungen zu anderen, in einem wechselseitig aufeinander bezogenen Rollenspiel, das erst das (nie reibungslose, schon deshalb stets sich wandelnde) System alles zwischenmenschlichen Verhaltens konstituiert. Ein solches Spiel ist in keiner Gesellschaft möglich, wenn nicht jeder 13 Was im Anschluß an die beiden Demonstrationsobjekte (den Aufbau der Vorstellung "Staat" von Kind auf durch "jedermann" und die Betrachtung der Revolution) ausgeführt wurde, muß genügen; vor allem kann hier nicht gezeigt werden, daß sozialwissenschaftliche Staatstheorie auch für die Beziehungen zwischen den Staaten wichtige Erkenntnisse zu liefern vermag.

12 Drath

178 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts Beteiligte weiß, wie er selbst sich zu verhalten und welches Verhalten er von den anderen zu erwarten hat. Erst diese Regelhaftigkeit macht ein dauerndes Zusammenleben in festeren Beziehungen und auch ein hinreichend zuverlässiges Ineinandergreifen des Verhaltens noch so verschiedener Menschen mit sonst noch so verschiedenen Interessen usw. in gelegentlichen, vorübergehenden Beziehungen (bei bloßen Begegnungen) möglich. Regelhaftigkeit ist also Voraussetzung alles menschlichen Lebens, weil dieses bedingt ist durch soziales Verhalten anderer14 • Zur Erzielung des erforderlichen Zusammenspiels in allen sozialen Beziehungen bedarf es beim Menschen, dessen Verhalten weitgehend nicht durch "Instinkte" schon "von Natur" festgelegt ist, der Steuerung durch das Medium "Geist". In diesem müssen also Faktoren ("Denkinhalte") gegeben sein, die jene Regelhaftigkeit des Verhaltens bewirken (geeignete Motivationen); das Denken muß hierauf eingestellt sein oder werden. Das geschieht grundlegend bereits im Erlernen des Denkens über das Ich und das Du im kindlichen Prägealter; offenbar vollzieht sich in jeder Gesellschaft sogar die Persönlichkeitsbildung - vielleicht bis hin zum Bewußtsein der Einheit der eigenen Person - durch das "Finden" der festen eigenen Rollen gegenüber den anderen15 • Es gibt menschliche Gesellschaften mit weitgehend übereinstimmenden (homogenen) Denkinhalten fast jeder Art; unsere Gesellschaft aber ist in dieser Hinsicht hochdifjerenziert. Sie ist ferner hochdifferenziert und damit kompliziert in der Zahl, Art usw. der unmittelbaren und mehr noch der mittelbaren zwischenmenschlichen Beziehungen, auf die unsere Lebensführung angewiesen ist. Das Zustandekommen und der Ablauf von Beziehungen muß erwartungsgemäß sein, auch wenn uns die Partner oft des Näheren "sonst" (d. h. außerhalb dieser konkreten Beziehung) nicht bekannt sein können. Das Leben in dieser Gesellschaft zwingt uns aber auch zu Anpassungen an einen ständigen und rapiden Wandel von "Verhältnissen", der weit über alles hinausgeht, was aus früheren Perioden des sozialen Lebens bekannt ist. In ihr müssen also wenigstens die hierfür entscheidenden Denkinhalte homogen und effektiv genug sein, diejenigen also, die die Einstellung des Denkens erzeugen, ohne die das Geflecht der hier gegebenen Beziehungen nicht hinreichend reibungslos funktionieren kann. In ihr stehen deshalb neben verinnerlichten (internalisierten) Ordnungsvorstellungen, Tugenden, Wertungen, Prinzipien und Normen, die allgemein 14 Allenfalls könnte heute ein bäuerlicher Familienbetrieb in Notzeiten vorübergehend "autark" leben - aber auch er (wie Robinson) nur dank sozial entstandenen Werkzeugen, Kenntnissen usw. 15 Auf die Bedeutung der Anthropologie für die Staats- und allgemeine Rechtstheorie kann hier nicht weiter eingegangen werden.

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"selbstverständlich" geworden sind (Konsensus), als das andere und besonders wichtige Extrem die sozialtechnisch einsetzbaren, ausdrücklich gesetzten und notfalls durch organisierte Sanktionen geschützten Sollensnormen des jederzeit abänderbaren (insgesamt also: hochgradig instrumentalen) positiven Rechts, die ein rein äußeres zwischenmenschliches Verhalten - ohne Rücksicht darauf, was der Adressat sonst denkt - gebieten. Schon damit ist die Ordnungsart "positives Recht" der modernen Gesellschaft geradezu adäquat. Sozial entscheidend ist unter allen Denkinhalten des Adressaten im Falle des positiven Rechts jedenfalls die Effektivität des einen Gedanken des Gehorsams gegenüber den Rechtsgeboten; denn dieser sichert mit der Effektivität der Motivation durch das Rechtsgebot das in diesem vorgesehene soziale Rollenspiel. Er ist besonders notwendig für die moderne Gesellschaft, weil die Rechtsordnung deren rapidem sozialen Wandel Rechnung tragen und also ständigen Änderungen unterworfen werden muß 1B ; das positive Recht erweist sich auch insofern als der Industriegesellschaft adäquat. Selbstverständlich aber verläuft das soziale Leben auch hier um so reibungsloser, je mehr nicht nur die prinzipielle Bereitschaft zum jeweiligen Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung, sondern auch der Inhalt der einzelnen Rechtsgebote verinnerlicht wird (und überhaupt werden kann), der Konsensus sich auch hierauf erstreckt. Grundsätzlich ist dies um so eher möglich, je. mehr der Inhalt der Rechtsgebote den Bedürfnissen und Denkinhalten der Menschen entspricht oder je besser durch sie ein technisch reibungsloser Verlauf des sozialen Lebens gefördert wird. Das Problem der Ordnung des sozialen Lebens durch positive Rechtsetzung ist also nicht die Wahrung der speziell den Juristen bekannten "Einheit der Rechtsordnung", sondern die Wahrung und immer erneute Herstellung einer Einheit der gesamten Gesellschaftsordnung; der Ablauf des sozialen Lebens, wie er sich u. a. unter dem Einfluß auch der Rechtsordnung vollzieht, muß sich als ein möglichst reibungsloses System, als ein faktischer Ordnungs-"Zustand" erweisen17 • In ihn muß jede beabsichtigte Gesetzgebung "hinein16 Vgl. den in Anm. 12 angegebenen Aufsatz. Zu einer "spontanen" Ausbildung, Verfestigung und Einhaltung "herkömmlicher" Ordnungen kann es in der modernen Gesellschaft nicht mehr genügend kommen. Sie wären weitgehend einem "freien" Spiel der Kräfte ausgeliefert, bei dem dieser Gesellschaft der Charakter eines Systems (das durch ein reales, wenn auch reibungsvolles Zusammenwirken, also durch soziale Kooperation gekennzeichnet ist) verloren ginge. Solche und andere Ordnungs arten (Ethik, religiöse Gebote) versagen hier. 17 Bekanntlich wirken Rechtsnormen, die aus einem Lande in ein anderes übernommen werden, dort oft ganz anders. Es betreffen aber auch Normen innerhalb einer Gesellschaft die Menschen je nach ihren Positionen, Schichtenzugehörigkeiten usw. u. U. gänzlich verschieden (die Abwälzung von Steuern durch Preise ist nur eines der bekanntesten Beispiele hierfür); sogar das Eherecht hat für verschiedene Schichten recht verschiedene soziale Be-

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180 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts komponiert" werden. Ihre Abstimmung auf die Denkinhalte und Verhaltenstendenzen ist in der modernen pluralistischen Gesellschaft besonders schwer zu berechnen; es ist kein Zufall, daß hier das Instrument der Demoskopie entwickelt worden ist, aber auch die Manipulierung der Informationen, Meinungen, Werturteile und Verhaltenstendenzen. Weil die sozialen "Verhältnisse" selbst sich rapide wandeln, muß der Inhalt des positiven Rechts nicht nur vollzogenem Wandel, sondern oft schon voraussichtlichen Entwicklungen Rechnung tragen, durch soziale Gestaltung den Wandel selbst steuern. So können erhebliche Spannungen zwischen dem Inhalt der Rechtsgebote und den Denkinhalten und Verhaltenstendenzen oft bedeutender Schichten nicht ausbleiben. Eine ausgesprochene prinzipielle Bereitschaft zur "Modernität" der Denkweise wird existenznotwendig für diese Gesellschaft. Die soziale Friedensfunktion des Rechts besteht nicht mehr nur in der Verhinderung und dem Ersatz von Selbsthilfe, sondern vor allem in der Verschaffung der sozialen Chancen und Mittel zur Erfüllung mannigfacher Bedürfnisse der einen unter Zurücksetzung, ja Belastung der anderen. Ein hohes Maß an "sozialer Einstellung", eine spezifische soziale Kompromißbereitschaft wird notwendig, eine speziell der Industriegesellschaft eigentümliche Art von Konsensus: Es scheint so, als ob nicht Bereitschaft zu sozialem Verzicht, sondern eine ganz spezifische Erwartungschance, die in der Instabilität aller "Verhältnisse" gerade der Industriegesellschaft steckt, die nämlich die ständige Steigerung der Produktivität (des bemerkenswerterweise so genannten "Sozialprodukts") gewährt, die moderne Kompromißbereitschaft und den Konsensus ermöglicht. Die Bereitschaft zur prinzipiellen Einordnung in die bestehende Gesellschaftsordnung und zur Akzeptierung der durch diese zugewiesenen Status und Rollen beruht großenteils auf Chancen, diese Status und Rollen zu verbessern in eine Richtung, die an den Inhabern anderer Status und Rollen schon ablesbar ist. Das sind gänzlich andere Ordnungsvorstellungen als die früher bei uns selbstverständlichen und statischen, die dem Denken der damals Herrschenden entsprachen; von ihnen kann die Verinnerlichung der Rechtsgebote nicht unberührt geblieben sein. Die Möglichkeiten einer Verinnerlichung des Inhalts der einzelnen Rechtsgebote scheinen hiernach sehr differenziert und teilweise sehr gering zu sein. Der sozialen ratio von "jedermann" ist die Gesamtheit der sozialen Verflechtungen und die Bedeutung, die die einzelnen Rechtsgebote und deren Änderungen für andere haben, kaum noch zugänglich; er übersieht vor allem die Zusammenhänge, die ihn als deutung. Schon daraus können reale Probleme entstehen, die der Jurist als "rechtspolitisch" zu bezeichnen pflegt, die aber im präzisen Sinn des Wortes "sozialpolitisch" sind, weil sie das möglichst reibungslose Funktionieren (den Ordnungs-"Zustand") der societas betreffen.

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Normadressaten unmittelbar betreffen; mittelbare Auswirkungen auf ihn selbst erkennt er weitgehend nur dann, wenn sie offen zutage liegen. Um so wichtiger ist in dieser Gesellschaft alles, was eine Verinnerlichung der Rechtsgebote erleichtert. Neben der Bedeutung der schon oben erwähnten Rückkopplungen aus der Gesellschaft zum Herrschaftsapparat, die eine Berechnung der staatlichen Ordnungsrnaßnahmen auf die Denkinhalte, Interessen und Verhaltenstendenzen fördern, dadurch deren soziale Akzeptierung erleichtern können18, kommen hier die in der Struktur der Rechtsordnung selbst liegenden Momente in Betracht: "An sich" scheint die Ordnungsart "positives Recht" auf eine Verinnerlichung und auf den Konsensus überhaupt nicht abzustellen, jedenfalls nicht ausdrücklich und auch praktisch nicht im äußersten Falle der Anwendung von Rechtszwang19 • Eine rechtsimmanente, rein normative Theorie des Rechts weiß deshalb auch wenig hierüber auszusagen; die "Erklärung", daß Rechtsgebote "nicht alles" effektiv zu gebieten vermögen, erscheint gegenüber der hier skizzierten Problematik als fast nichtssagend, jedenfalls nichts erklärend. Aber schon indem wir auch beim Recht von Institutionen ("Rechtsinstituten"), Kompetenzen oder Rechtsbeziehungen usw. sprechen, erkennen wir, daß die einzelnen Rechtsgebote fast nie für sich allein stehen und keinen beliebigen Inhalt haben, sondern zu gewissen relativ übersehbaren Ordnungsstrukturen konvergieren. Auch diese sind nicht beliebig befohlen; aus ihnen baut sich vielmehr die umfassende Gesellschaftsordnung mit auf, in der alles soziale Verhalten zu einem mehr oder minder auskömmlichen System realen Zusammenwirkens der Menschen koordiniert ist. Innerhalb dieser Gesellschaftsordnung bekommen die Teilordnungen der einzelnen sozialtypischen Beziehungen (Institutionen) je ihren besonderen sozialen "Sinn und Zweck". Von diesen ihren funktionalen Zusammenhängen her, die sich als "sachgemäße" Zusammengehörigkeiten letztlich zur relativen Einheit der Gesellschaftsord18 Repräsentativverfassung und Demokratie sind also nicht zufällig "modem" oder aus "reinen" Gerechtigkeitsvorstellungen entstanden. Nicht nur das Wahlrecht, sondern die grundsätzliche Disponibilität der ganzen Verfassungen (die Durchsetzung des pouvoir constituant des Volkes) erleichtert die Akzeptierung derjenigen Rechtsgebote, die verfassungsmäßig erlassen werden. Je schwerer eine Verinnerlichung der unzähligen einzelnen Rechtsgebole und ihrer Änderungen ist, um so fundamentaler müssen die Instanzen und Verfahren verinnerlicht werden (als "legitim" gelten) können,aus denen sie stammen, also die Organisation des Staates. 19 Appelle zur Verinnerlichung in Verfassungen oder in Präambeln einfacher Gesetze sind freilich nicht zu übersehen. Doch formulieren sie nie Bedingungen, von denen deren eigene RechtsverbindZichkeit abhängen soll. Demokratie, bes. das Wahlrecht, enthält neben der Rückkopplungsfunktion auch einen deutlichen Appell zur Verinnerlichung der Verfassung und der verfassungsmäßig zustandekommenden Rechtsgebote.

182 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts nung darstellen ,bestimmt sich also letztlich auch der Inhalt der einzelnen Rechtsgebote: Mehrere Rechtsgebote gehören zunächst zusammen, weil sie eine Rolle konstituieren; aber jede Rolle bezieht sich auf Gegenrollen, konvergiert mit ihnen zu einer sozialen Institution; die Institutionen wiederum konvergieren zu Institutionen höheren Ordnungsgrades20 bis schließlich zur umfassenden Gesellschaftsordnung. Auf allen diesen Stufen ist das positive Recht nicht nur nicht allmächtig, sondern mehr oder minder eingefügt in außerrechtliche Ordnungen und Ordnungsvorstellungen. Der Kenntnis "jedermanns" zugänglich ist zunächst der Zusammenhang der einzelnen ihn selbst betreffenden Rechtsgebote mit seinen eigenen Rollen; aber erst ihre Beziehung zu den entsprechenden Rollen der anderen Menschen (zu den in der Institution konvergierenden Gegenrollen), also eine sehr wirksame soziale Rückkopplung, ergibt die Nützlichkeit oder Notwendigkeit (den sozialen "Sinn und Zweck") der einzelnen Rechtsgebote, macht sie erst akzeptabel; das beste Beispiel hierfür sind die Fälle unmittelbarer Leistung und Gegenleistung (oder der handgreiflichen Notwendigkeit sozialer Gesamtleistungen zur Erreichung eines selbstverständlich erwünschten oder gar notwendigen Erfolgs für alle Beteiligten). Der Inhalt (und eine Auslegung) von Rechtsgeboten erscheint "jedermann" dann als "sachgemäß", wenn die soziale Nützlichkeit oder Notwendigkeit aus diesen Ordnungszusammenhängen aufgrund gegebener Ordnungsvorstellungen einsichtig und deshalb akzeptabel (jedenfalls nicht "befremdlich") ist. Gewiß erleichtert der vielfältige und rapide soziale Wandel eine Akzeptierung neuer positiver Rechtsgebote durch Gewöhnung an die Instabilität aller "Verhältnisse" und durch anderweitige Inanspruchnahme des Interesses, die neuer Wandel in anderen sozialen Beziehungen erzeugt. Grundlegend bleibt aber immer, ob und wie leicht man sich mit dem Inhalt von Rechtsgeboten in seinem eigenen Leben innerhalb der Gesellschaftsordnung "einrichten" kann, und die Bereitschaft hierzu wird von jener Sachgemäßheit mitbestimmt. Es gibt also für "jedermann" - nicht nur für die juristischen Probleme der Rechtsinterpretation - eine "Natur der Sache", die über das einzelne Rechtsgebot hinausgreift und es in diese seine Zusammenhänge stellt; sie ergibt sich nie schon "von Natur"!!, sondern kann nur aus dem funktio20 Zweifellos wird man die Institutionen noch genauer untersuchen und u. U. weiter differenzieren. Einstweilen möchte ich in ihnen Ordnungsstrukturen sehen, die innerhalb einer Gesellschaft im Verhalten der Menschen vorgefunden werden. 21 Selbst die Gestaltung der Ehe ist nur in wenigen Punkten von der Natur vorbestimmt; diese Punkte sind eher nur Bedingungen der Gestaltung als selbst konkrete Gestaltungsinhalte, weil ihre Realisierungen und die wechselseitigen Verhaltensweisen bei ihnen in den nach Zeit und Raum verschiede-

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nalen Sinn- und Zweckzusammenhang der Institution im Ganzen der konkreten Gesellschaftsordnung erschlossen werden. Der Adressat eines Rechtsgebotes kann dessen Inhalt um so leichter akzeptieren und verinnerlichen, je besser er diese Zusammenhänge erkennt. Änderungen an den einzelnen Rechtsgeboten werden von den Adressaten leichter verinnerlicht, falls dabei - was sehr oft der Fall i::;t - der einmal verinnerlichte soziale Sinn und Zweck der Institution erhalten bleibt. Die im Ablauf der zwischenme'nschlichen Beziehungen (durch Rückkopplung) unmittelbar gemachte Erfahrung der Institutionen und die Erkenntnis ihres sozialen Sinnes und Zweckes fördern so mittelbar die Verinnerlichung der einzelnen zu ihnen gehörigen Rechtsgebote, auch von Änderungen an ihnen. Allerdings gibt es verschiedene Grade und Arten der Verinnerlichung. Von der bloßen Hinnahme und Anpassung zur Akzeptierung, dann zur Selbstverständlichkeit und bewußten Bejahung gibt es viele Abstufungen und Einstellungen. Manche Institutionen werden nur sozial technisch (als rein zweckmäßig) betrachtet, so daß sogar ihre Beseitigung reibungslos bleibt, wenn man sich mit ihr einzurichten vermag. Andere sind konkrete Verwirklichungen kultureller Prinzipien (Wertungen) dieser Gesellschaft, gehören zu ihrer "sozialen Kultur". Sie werden, wenn verinnerlicht, geradezu als deduziert aus jenen Prinzipien (Wertungen) angesehen; mit ihrem Fortfall scheinen jene Prinzipien selbst preisgegeben zu werden. Einen äußersten Grad erreicht die Verinnerlichung, wenn der Sinn des eigenen Lebens mit dem Sinn einer Institution in ihrer konkreten Ausgestaltung identifiziert, eine "Zugehörigkeit zur eigenen Person" empfunden wird. Die verbreitete Unfähigkeit zu erkennen, daß alle "Natur der Sache" nie nur Natu'f der fraglichen Sache, sondern deren konkret gestaltete Kultur innerhalb der gesamten sozialen Kultur, daß sie also soziale Einordnung der Sache ist, und daß die Sache immer eine Sache in ihrer sozialen Bedeutung innerhalb dieser Kultur ist, also ein Moment dieser Kultur durch sie bedingt und sie mitkonstituierend - , kennzeichnet für sich allein schon den Grad der Verinnerlichung und wohl auch die Bereitschaft zur Verinnerlichung und also Motivation. Immer handelt es sich also auch beim positiven Recht - entgegen dessen formalem (aus begrenzter, nämlich rein rechtsimmanenter, jurinen Gesellschaften, ja sogar innerhalb einer Gesellschaft nach sozialen Schichten, Konfessionen usw. durchaus verschieden sind. Die konkrete soziale Ausgestaltung wird jedoch bei tiefer Verinnerlichung als vermeintlich zwingend (aus der "Sache" selbst sich unvermeidlich ergebend) erlebt und also objektiviert, evtl. zur "natürlichen Rolle" des Mannes und der Frau erklärt. Das geschieht mehr oder minder auch mit anderen Institutionen und ihrer Gestaltung, wenn sie genügend verinnerlicht sind. Die Verinnerlichung zeigt sich gerade an dieser ihrer "Wirkung".

184 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts stischer Betrachtung als System von Sollensgeboten abgeleitetem) Prinzip - um einen Versuch, die Verbindlichkeit der Normen nicht nur auf das sie volo, sie jubeo des Gesetzgebers (auf die bloße Positivität), sondern möglichst auf eine durch soziale Funktionalität bestimmte Sachgemäßheit des Inhalts zu stützen und diese dem sozialen Verständnis näherzubringen. Weil erst oboedientia imperantem facit, muß das einzelne Rechtsgebot als in sozialen Zusammenhängen stehend erkannt und anerkannt, möglichst verinnerlicht werden können. Das kann gelingen, wenn seine Ordnungsintention aus der Wechselseitigkeit von Rolle und Gegenrolle, aus deren Konvergenz zu Institutionen mit einem sozialen "Sinn und Zweck", also aus ihrem Wirkungszusammenhang innerhalb der sozialen Gesamtordnung und schließlich aus ihrer Einordnung in die soziale Kultur und deren Wertungsgrundlagen (Prinzipien) einsichtig wird2!. Hier finden wir auch die Grundlagen für alle Gerechtigkeitsvorstellungen und -postulate. "Gerecht" ist, was von diesen Zusammenhängen her gerechtfertigt oder geboten erscheint, letztlich als Realisierung der Prinzipien der konkreten sozialen Kultur, die ihrerseits eine oft als absolut angesehene - Verwirklichung von Humanität zu sein beansprucht und als solche verinnerlicht ist. Deshalb gibt es Gerechtigkeitswertungen und -postulate auf verschiedenen Ebenen, rein institutionsimmanente, rechtsordnungsimmanente oder (gesamt-)sozialordnungsimmanente, schließlich auf grundlegende Änderung der bestehenden Rechts- und Sozialordnung bezogene kulturimmanente und humanitäre, je nach der Argumentationsgrundlage, auf die dabei rekurriert wird. Max Weber hatte das positive Recht in seinen sozialen Zusammenhängen betrachtet, in denen wir es vorfinden. Seine Arbeit hierüber ist bei uns wenig fortgesetzt worden; zwar finden wir manche Einzelheiten allenthalben, sogar in der dogmatisch-systematischen, also normativen Rechtswissenschaft, die nicht vermeiden kann, Realitäten des "Seins" wenigstens hinzunehmen (möglichst auch dogmatisch zu verarbeiten), obwohl diese eine normativ-immanente Betrachtung des Rechts - verstanden als reines Normensystem - transzendieren. Aber eine umfassende sozio-kulturelle Grundlegung des positiven Rechts besitzen wir nicht. Eine historisch-genetische Untersuchung über die Herausbildung des positiven Rechts als einer spezifischen Ordnungsart und über die sozialen Bedingungen dieser Ausprägung kann die systematische allgemeine Theorie des heutigen Rechts ergänzen und bestätigen. 22 Jeder erfahrene Richter bedenkt das unwillkürlich bei seinen Entscheidungen, besonders denen aus einer "Natur der Sache", und bei seinen Entscheidungsbegründungen.

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b) Zu den Problemen einer solchen allgemeinen Rechtstheorie gehört es, mit der sozialen Systemgemäßheit des positiven Rechts in der modernen Gesellschaft auch die Systemgemäßheit (die notwendige Zugehörigkeit) einer normativen Rechtswissenschaft, ja einer "reinen Rechtslehre" zu dieser Ordnungsart aufzuzeigen, auch insoweit die Arbeit Max Webers über die heutige rationale Ordnung des Soziallebens fortzusetzen. Beide (normativ-dogmatische Rechtswissenschaft und reine Rechtslehre) sind mitbedingt durch die Struktur und die Funktionsbedingungen dieser spezifischen Ordnungsart selbst. Das läßt sich am besten prüfen durch den Versuch einer sozialwissenschaftlichen Unterbauung des Werkes Hans Kelsens. Ich lege dabei seine "Reine Rechtslehre" in der zuletzt in der 2. Auflage, Wien 1960, vorliegenden Fassung zugrunde, berücksichtige also noch nicht, welche Modifikation hieran er inzwischen vornehmen Will23 • Meine These ist: Jede rechts immanente (also rein normative) Rechtstheorie muß an die Grenzen stoßen, die sich aus ihrer Rechtsimmanenz ergeben, und diese Stellen müssen in ihr selbst sichtbar werden; denn hier muß sie mit Annahmen oder Setzungen arbeiten. An diesen Stellen und in dieser Weise dringt also die soziale Funktion des Rechts in die reine Rechtslehre selbst ein: Soziale Funktionsbedingungen des Rechts (die nur sozialwissenschaftlich erforscht werden können) sind das, was eine r·eine Rechtslehre in ihrem Rahmen als ihre Prämissen setzen muß. Solche Setzungen sind für sie also notwendig und richtig. Kelsen kann als Neukantianer Sollen nur aus Sollen, nicht aus Sein ableiten. Deshalb konstruiert er als logische Prämisse (let~te Denknotwendigkeit) alles positiven Rechts eine hypothetische Grundnorm: Auf die Frage, weshalb das positive Recht verbindlich sei, gibt er zur Antwort, daß wir eine Grundnorm zu denken hätten, die die Verbindlichkeit alles positiven Rechts statuiere, das nach der jeweiligen Verfassung zustande gekommen sei. Kelsen lehnt damit eine inhaltliche Antwort ab und verweist scheinbar auf einen Tautologismus: das positive Recht sei verbindlich, weil wir uns seine Verbindlichkeit denken müßten. Die fundamentale Frage nach dem Verbindlichkeits grund des positiven Rechts wird also mit der These eben dieser Verbindlichkeit beantwortet, die Frage selbst in Wahrheit aus der reinen Rechtslehre hinausge23 Kelsen scheint die Grundnorm preisgeben zu wollen (vgl. Das Naturrecht in der politischen Theorie, hrsg. v. Schmölz, Wien 1963, S. 119 f.; ders., Zum Begriff der Norm in Festschrift für H. C. Nipperdey, MÜllchen-Berlin 1965, S. 57 ff.; ders., Recht und Logik in Forum, Wien, 12. Jg. 1965 H.142, S. 421 ff. und H. 143, S. 495 ff.). Grund dafür ist, daß jedem Sollensgebot ein Wollen des Gebers des Gebots entsprechen müsse; das sei im Falle der Grundnorm nicht möglich, auch nicht vorstellbar. Im folgenden wird ersichtlich werden, weshalb ich den Verzicht auf die Grundnorm innerhalb einer reinen Rechtslehre weder für möglich noch für nötig halte.

186 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts wiesen. Das erscheint mir nicht als ein Fehler seiner Theorie, sondern als unvermeidbar, weil diese streng rechtsimmanent ist und deshalb unmöglich Ableitungen aus einem anderen, rechtstranszendenten Bereich vornehmen kann. Aber die Frage ist auch für Kelsen viel zu wichtig, als daß er sie einfach übergehen würde. Er wendet sich gegen eine "Deduktion" der Verbindlichkeit des positiven Rechts aus einer Rechtsidee ebenso wie (weil sich nach herrschender Logik "Sollen" auf "Sein" nicht zurückführen läßt) gegen ihre soziologische Begründung. In der Tat läßt sich sozialwissenschaftlich nicht mehr sagen, als daß die Existenz faktischer Ordnung Existenzbedingung des menschlichen Lebens in Gesellschaft ist. Bedarf die moderne Gesellschaft zum Funktionieren des Zusammenlebens auch einer expressis verbis formulierten Sollensordnung und des Drucks organisierter, expressis verbis normierter Sanktionen, dann ist Existenzbedingung des hier bestehenden menschlichen Lebens keineswegs nur das Funktionieren dieser Ordnung als ein "Zwangs-"system, vielmehr (nach dem oben unter a) a. E. Gesagten) die Akzeptierung des Verbindlichkeitsanspruchs dieser Sollensordnung und seine praktische (zwar nicht vollkommene, aber) hinreichende Befolgung als gesollt. Nicht in einem logischen, idealen oder absoluten Sinn läßt sich also die Verbindlichkeit des positiven Rechts sozialwissenschaftlich nachweisen, sondern vom menschlichen Zusammenleben her: als dessen Existenzbedingung. Der Verbindlichkeitsanspruch der Sollensordnungen ist nicht willkürlich, sondern sachgemäß und als sachgemäß einsehbar; er ist der Sollensordnung nicht nur immanent - das allein besagt die Grundnorm -, sondern er muß als solcher rational akzeptiert und befolgt werden; das kann sozialwissenschaftliche Erkenntnis der Grundnorm hinzufügenU. Eine sozio-kulturelle Anthropologie könnte dies - entsprechende Ergebnisse ethnologischer und anderer Forschungen vorausgesetzt - dahin erweitern, daß Sollen generell Existenzbedingung, vielleicht sogar Existenz-"bestandteil" des "Seins des Menschen" sei, weil sein Verhalten - im Gegensatz zu Tieren - wenig von der Natur "festgestellt" ist. Uns geht es hier nur um die besondere Sollensart "positives Recht". Ist positives Recht ein Produkt sozialer menschlicher Entwicklung und Gestaltung, also "der Geschichte" des menschlichen Lebens als eines Zusammenlebens, dann kann die Frage nach der Verbindlichkeit dieser Sollensordnung wissenschaftlich25 gar nicht aus anderen Zusammenhängen beantwortet werden als aus denen, die zu diesem Produkte "der Geschichte" und zu seiner Fortexistenz geführt haben. Damit tritt die Näheres habe ich in der in Anm. ** erwähnten Schrift ausgeführt. D. h. wenn wir nicht dem Gang der Geschichte selbst eine geschichtsphilosophische Deutung geben wollen. 24

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Grundnorm - scheinbar ein Tautologismus, der sich jedoch als ein notwendiges Axiom erweist - für das Problem der Verbindlichkeit des positiven Rechts zurück hinter Kelsens eigener Aussage, daß die faktische Befolgung die conditio sine qua non für die Verbindlichkeit der positiven Rechtsgebote sei. Diese Aussage trägt selbst ein Faktum in seine Rechtslehre hinein, das auch von einer rein normativen Theorie schlechterdings nicht geleugnet, aber nur sozialwissenschaftlich analysiert und begründet werden kann: Die tatsächliche Befolgung der Rechtsgebote wird zwar von diesen beansprucht, und das muß in einer Gesellschaft, in der die Vorstellung eines "Sollens" einmal geschichtlich so weitgehend ausgeprägt worden ist, daß die spezifische Ordnungsart "positives Recht" existiert, von den Rechtsunterworfenen als ein Fundament der konkreten menschlichen Existenz auch grundsätzlich bejaht werden; aber sie wird damit nicht von dem geschichtlichen Prozeß freigestellt, in dem alles positive Recht steht; seine Verbindlichkeit ist nicht absolut, kann nicht freigestellt sein von allem sozialen Sein und Werden. Die hypothetische Grundnorm als bloßes Axiom wird also von der conditio sine qua non realistisch, d. h. durch Einführung einer "Seins"-Tatsache unterbaut; aber diese selbst kann sozialwissenschaftlich weiter analysiert und erklärt werden, weil dieser Disziplin das positive Recht als eine soziale Realität, das rechtliche Sollen als sozialer Faktor im modernen Leben in Gesellschaft umfassend zugänglich wird. Die axiomatische Grundnorm ist keine Realität, also auch kein real durch einen Willen gesetztes Sollensgebot. Sie verlangt also nicht, daß man sich eine durch einen Normgeber gewollte, real gültige Norm vorzustellen habe, sondern spricht nur aus, daß die Verhindlichkeit des positiven Rechts für eine "reine Rechtslehre" vorausgesetzt werden muß, und zwar im Rahmen dieser Rechtslehre als ein unerläßliches Axiom (wie auch immer und von wem auch immer sie erlassen sein könnte, da diese Frage für das Axiom - anders als für eine reale Grundnorm - gleichgültig ist). Daß sozialwissenschaftlicher Untersuchung auch die "Willens-"Grundlage dieser Grundnormen zugänglich wird, könnte im Rahmen einer "reinen Rechtslehre" außer Betracht bleiben, wenn nicht dieses Problem an anderer Stelle - bei der effektiven Befolgung als der conditio sine qua non für die Verbindlichkeit der Rechtsgebote - doch unabweisbar auch für eine solche Rechtslehre wieder auftauchte. An dieser Stelle aber genügt dann nicht mehr die These von der conditio sine qua non, sondern nur noch deren volle, d. h. sozialwissenschaftliche Begründung. Die gesuchte Willensgrundlage kann offenbar nur dort gefunden werden, wo die effektive Befolgung (die Erfüllung der conditio sine qua non) "gewollt" wird. c) Selbstverständlich muß sich eine sozialwissenschaftliche Rechtstheorie nicht nur bei der Auseinandersetzung mit einer bestimmten an-

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deren Rechtstheorie, sondern auch sonst bei der Erkenntnis grundlegender Probleme des positiven Rechts bewähren. Sie müßte zu vielen Einzelproblemen Aufschlüsse aus den Strukturen und den Funktionszusammenhängen des sozialen Lebens geben können. Nimmt man z. B. als "Rechtsordnung" das System der geschriebenen Normen (vom Gewohnheitsrecht und "Richterrecht" also abgesehen), dann ist erkennbar, daß diese Rechtsordnung sich im realen Rollen-Verhalten der Menschen nicht unverändert wiederfindet, ja daß sie hierin u. U. erst ihren konkreten Inhalt bekommt. Das gilt nicht nur für sog. Allgemeinbegriffe, die per definitionem einer Ausfüllung (Konkretisation) bedürftig sind; es gilt auch nicht nur deshalb, weil alle Wörter jeder Sprache ihre Bedeutung erst aus dem konkreten Verständnis und Gebrauch durch die Menschen bekommen (und evtl. danach wandeln). Es gilt auch deshalb, weil Rollen und Gegenrollen in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen und sich also aufeinander "einspielen", sogar dann besonders einspielen müssen, wenn das gesetzte Recht dabei Schwierigkeiten bereitet. Das geschieht oft unbewußt und nicht nur im Rahmen des dispositven Rechtes; im öffentlichen Recht gehört hierher besonders das Problem der "Staatspraxis". Auf diese Weise wird ferner erklärlich, daß es einen Wandel des Inhaltes von Rechtsgeboten ohne Änderung ihres Wortlauts gibt. Wenn z. B. Kelsen davon spricht, daß auch der Bürger, der einen Vertrag abschließe und durchführe, damit die Rechtsordnung des BGB "anwende", so scheint das eine reine Schlußfolgerung aus den Zusammenhängen seiner Theorie zu sein; es kann aber sozialwissenschaftlich durchleuchtet und erklärt werden. Wenn Juristen zwischen Rechtsordnung - verstanden als System der geschriebenen Rechtsnormen - und Rechtswirklichkeit unterscheiden, umgekehrt Rechtssoziologen darauf hinweisen, daß die geschriebene Rechtsordnung überhaupt nicht "die" Rechtsordnung sei, daß diese vielmehr nur im "gelebten" oder "durchgesetzten" Recht der Rechtswirklichkeit bestehe, so sind auch diese verschiedenen Positionen für eine sozialwissenschaftliche Rechtstheorie verständlich als Akzentuierungen der einen oder anderen Seite des Verhältnisses von geschriebenem und praktiziertem Recht, die erst aus der sozialen Funktion der Rechtsordnung, ihren Bedingungen und Modalitäten zusammenfassend erkannt werden können. Von hier aus wird der wichtige Einfluß der Judikatur auf die Rechtsordnung durchschaubar und begrundbar, bekommen die Bestimmungen unserer Gerichtsverfassungsgesetze über die "Rechtsfortbildung" einen nicht nur praktischen, gar dezisionistischen Charakter; sie decken nämlich auf, was aus konkreten funktionalen Zusammenhängen sowieso vorgeht, und deshalb dort, wo es besondere Bedeutung hat, bei besonderen Instanzen konzentriert wird. Rechtsfortbildung findet durch alle

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Gerichte statt; obwohl der Richter "über" einen Einzelfall der Vergangenheit entscheidet, prägt er damit regelmäßig auch künftiges Zusammenleben befestigend, konkretisierend, modifizierend. Selbst wenn eine Rechtsquellenlehre, die sich an den politisch begründeten Prinzipien der konstitutionellen Monarchie orientiert hatte, keinen Platz für ein "Richterrecht" besitzt, kann eine Analyse der Funktionsbewegungen des positiven Rechts in der Gesellschaft für das Richter- ebenso wie für das Gewohnheits- oder das durch eindeutigen Rechtsbruch entstandene Revolutionsrecht die gleiche grundsätzliche Verbindlichkeit begründen wie für alles andere positive Recht. Selbst der Rückgriff des Richters auf "Seins-"Verhältnisse bei der Auslegung des rechtlichen Sollens scheinbar geradezu eine Umkehrung seiner Aufgabe und Pflicht - ist dann nicht unbegründet, wenn dieses "Sein" (ein Verhalten von Menschen) sich bei sozialwissenschaftlicher Betrachtung als selbst in einer Ordnung sich abspielend erweist, die als ein Stück der bestehenden Rechtsordnung gedacht werden kann. Volle Eindeutigkeit des Inhalts der Rechtsordnung ist zwar "logisch" gefordert und mag von einer reinen Rechtslehre für den Aufbau ihrer Theorie als gegeben vorausgesetzt werden; aber sie ist ein praktisch unerreichbares Ideal, die Unerreichbarkeit selbst eine "Seins"-Tatsache, die eine reine Rechtslehre aus ihrem Rahmen ausklammern kann, eine sozialwissenschaftliche allgemeine Rechtstheorie jedoch zu erklären vermag. Läßt die juristische Methodologie nach ihrem heutigen Stand mehrere Methoden zu, zwischen denen der Richter wählen, die er auch - mit je verschiedenem Gewicht - miteinander kombinieren kann, so könnte man darin nur einen Effekt des heutigen Standes der Wissenschaftstheorie sehen. Wenn aber selbstverständlich geworden ist, daß der Richter sich sein "Ergebnis" ansehen muß, dann ist hiermit nicht nur eine normative Kontrolle an der Rechtsordnung im übrigen, sondern auch eine Kontrolle an der "Wirkung" gemeint, die die Entscheidung "im sozialen Leben" haben würde. Oft glaubt der Jurist, daß er dabei nur nach "Billigkeit" seiner Entscheidung strebe. Aber was heißt das? Er kontrolliert die zunächst unter Interpretation der Rechtsordnung gewonnene Entscheidung daran, ob das Verhalten, das er hier als rechtlich geboten ansieht, etwa zu erheblichen Reibungen "im sozialen Leben" führen würde. Regelmäßig genügt dafür nicht die Wirkung auf die unmittelbar von der Entscheidung Betroffenen, sondern die "Wirkung auf das soziale Leben", die sich ergibt, wenn man eine Entscheidungsmaxime (einen "Leitsatz") zum allgemeinen Gesetz erhöbe. Das bedeutet also eine Messung am Funktionieren des sozialen Lebens, an "Seins-tc Tatsachen, die damit zum Prüfstein der Richtigkeit der juristischen Entscheidung werden. "Erfahren" ist ein Richter, wenn er nicht nur Erfahrungen mit dem Verhalten der Beteiligten im Prozeßverfahren und

190 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts in der Handhabung der Rechtsordnung - als reines Normensystem besitzt, sondern auch über "Lebensverhältnisse", d. h. über das menschliche Verhalten, die Interessen und Tendenzen in den verschiedensten zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der konkreten Gesellschaft und über ihre Wirkungen auf ein funktionierendes Zusammenleben in ihr, ein Richter, dessen außerrechtliche Ordnungsvorstellungen ebenfalls schon in längerer Praxis entwickelt und korrigiert worden sind. Wenn es auch scheint, als ob die Denkinhalte und Interessen in der pluralistischen Gesellschaft viel zu differenziert und folglich einseitig wären, als daß man einen einheitlichen großen "Zug" finden könnte, der die Entwicklung unserer "sozialen Verhältnisse" und des positiven Rechts und seiner Auslegung durch Theorie und Richterurteil beherrsche, und wenn auch die Philosophie heute kaum einheitliche Aussagen zu machen scheint, so wird doch eine spätere Generation auch unserer Epoche ein solches Signum geben, so wie wir selbst es mit früheren Epochen - etwa der der Aufklärung oder der des Liberalismus, einschließlich ihrer Philosophie - tun, ohne ihnen damit Gewalt anzutun. Ist aller soziale Wandel immer eine Entwicklung von den gegebenen "Verhältnissen" als der Ausgangslage unseres Verhaltens aus, kann man nur deshalb überhaupt von einer bisherigen "Entwicklung" sprechen, weil das sich wandelnde Verhalten immer erneute Modifikationen an Ausgangslagen darstellt, so ist auch unsere Gegenwart geschehende Geschichte, ist der Wandel unseres sozialen Verhaltens einer Erkenntnis nicht von vornherein unzugänglich. Gewiß ist das menschliche Verhalten den natürlichen und sozialen Bedingungen seiner "Verhältnisse" nicht voll unterworfen; aber es gehört zum Verhalten der Menschen, daß sie sich Gedanken zur Orientierung ihres Tuns und Lassens machen. Das Fortbestehen der Herrschaft grundlegender Ideen und Wertungen, die sich bis zur Gegenwart als wirksam erwiesen haben und die in breiten Schichten in Gestalt von Postulaten der sozialen Ordnung und Gerechtigkeit heute noch weiter wirksam sind, wird man mindestens vermutungsweise annehmen dürfen. Als "richtig" werden dann vorzugsweise heute schon die richterlichen Entscheidungen erscheinen, in denen mutmaßlich eine künftige Generation die Ansätze zu einer dann schon vollzogenen Weiterentwicklung unserer Gesellschaftsordnung zur Verwirklichung jener Ideen und Wertungen in weiteren konkreten Beziehungen erblicken wird, so wie wir selbst es mit "großen" richterlichen Entscheidungen aus der Vergangenheit tun. Der Unbefangenheit, mit der wir für die Vergangenheit so verfahren, steht eine bemerkenswerte Befangenheit gegenüber in der Anwendung der gleichen Betrachtung auf die Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft, eine geistige Unfreiheit, die mit der abstrakten Freiheit der menschlichen Entschei-

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dun gen argumentiert, um eine vollständige Unvorhersehbarkeit der ltünftigen Entwicklung zu behaupten. Aber die Menschen handeln geschichtlich nicht aus abstrakter und "vollkommener" Freiheit, sondern in Ausgangslagen und unter konkreten Bedingungen, mit Denkinhalten, die sie zur Orientierung ihres Verhaltens bilden und nicht beliebig wechseln, soweit es sich um große sozio-kulturelle Prinzipien handeWo. Das gilt auch für die Rechtsentwicklung. Und es gilt um so mehr, je umfassender durch sozialwissenschaftliche Forschung ein Realismus der Betrachtung des modernen Soziallebens, eine grundsätzliche Modernität der Denkweise das "allgemeine Bewußtsein" beherrscht. Nicht in der Erhaltung von "Gegebenheiten" einer "bestehenden Ordnung", sondern in der Gestaltung des Wandels liegen die heutigen Ordnungsprobleme; Einzelheiten nicht zu konservieren, sondern aus sozio-kulturellen Prinzipien fortzubilden, wird unvermeidlich. Diese Erkenntnis dürfte erheblich zur Klärung der außerrechtlichen Ordnungsvorstellungen in der Gesellschaft beitragen. Ideologiekritik ist nur ein Teil solcher Klärung, die insgesamt den sozialen Prozeß erleichtern kann. Dies gilt auch für die soziale Funktion der Richter, die bei der Anwendung des positiven Rechts nie von dessen Interpretation und bei der Interpretation nie von der Heranziehung außerrechtlicher Ordnungen und Ordnungsvorstellungen ganz befreit sein können; denn kein noch so sorgfältiger und weiser Gesetzgeber vermöchte einen Raster von Normen zu schaffen, der die eher kontinuierlichen übergänge, die die Fülle des sozialen Verhaltens und der soziale Wandel allenthalben schaffen, unzerlegt, in allen noch so verschiedenen sozialen Beziehungen gleich umfassend einfangen und zu voller sozialer Widerspruchs- und Reibungslosigkeit koordinieren könnte.

V. Schließlich erhebt sich die Frage, was es heißt, daß eine kohärente sozialwissenschaftliche Staats- und allgemeine Rechtstheorie entstehen solL Handelt es sich darum, daß die eine die "Grundlagenwissenschaft" der anderen ist? Da der Staat das positive Recht setzt, scheint er faktisch vor dem Recht zu stehen, scheint Staatstheorie das Primäre zu sein. Vom faktischen "Sein" auszugehen, ist für eine soziaLwissenschaftliche Betrachtung (gleichgültig ob des Staates oder des Rechts) ohnehin rich28

Ein jüngster Ansatz zu solcher Forschung findet sich in dem Aufsatz von

Hans RyjJel Aspekte der Emanzipation des Menschen in Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie, Vol. LU, 1966, H. 1, 1 ff. Auch bei Helmut Coing Natur-

recht als wissenschaftliches Problem in Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M., Bd.3 Jg. 1964 Nr.l (Wiesbaden 1965) finden sich im Rahmen seiner Rechtsphilosophie ähnliche Feststellungen, bes. S. 21 ff.

192 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts tig. Bedenkt man aber, daß der Staat selbst rechtlich (ob geschrieben oder ungeschrieben) organisiert und nur dank dieser Verfaßtheit exi:.. stent ist, so scheint umgekehrt die Rechtstheorie der Staatstheorie logisch voraufzugehen. Soll man nun annehmen, daß dieses logische Verhältnis beider (nur) innerhalb einer normativen Theorie maßgebend sei? Die Problematik gleicht der von der Henne und dem Ei; sie zeigt, daß die Vorstellung von einer Schichtung der Wissenschaften hier fehl am Platze ist27 • Staatstheorie muß dank der Wahl ihres Themas vom Staate ausgehen und das Recht einbeziehen; Rechtstheorie - ob sozialwissenschaftlich oder normativ - muß aus demselben Grund umgekehrt verfahren. Auf diese Weise (und nicht, weil Staatstheorie "Grundlagenwissenschaft" für Rechtstheorie wäre oder umgekehrt) kann eine Kohärenz des Inhalts sogar bei "einseitiger" Themenstellung erzielt werden. Hier aber geht es um die Frage dieser Kohärenz selbst. Wenn weder bei der Behandlung des Staates am Recht vorübergegangen werden kann noch umgekehrt, muß die Kohärenz realiter vorhanden sein, in der Theorie also nur als real vorhanden erfaßt werden. Das ist deshalb der Fall, weil das beide - Staat und Recht - übergreifende das "Leben in Gesellschaft" ist. Daraus ergibt sich die Einheit der sozialwissenschaftlichen Methode bei der Untersuchung beider, also auch bei der Untersuchung der Existenz und des Funktionierens des positiven Rechts als einer Sollens-Ordnung. Das Material für die Beantwortung der Frage müßte schon in dem, was oben über den Staat und das Recht gesagt ist, hinreichend bereit liegen. Die Thesen müssen sich also aus der Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse über den Staat und das Recht ergeben, schon dort begründet sein. Sie werden deshalb hier auch weitgehend so formuliert, jedoch ein wenig fortgeführt: a) Staat und Recht sind der Industriegesellschaft nicht nur systemadäquat, sondern systemimmanent; sie gehören zu dieser Gesamtgesellschaft, nicht nur weil diese als ein System des Zusammenlebens historisch unter und durch Entwicklung von Staat und Recht geworden ist, sondern weil sie als ein solches System auch heute durch Staat und Recht mitkonstituiert wird 28 • b) Die Gründe hierfür 27 Selbst die allgemeinen Sozialwissenschaften sind nicht "Grundlagenwissenschaften" der sozialwissenschaftIichen Staats- und Rechtstheorie. Vielmehr gehören Staat und Recht zu deren eigenem Arbeitsgebiet, keines der bei den ist deren bloßes "Anwendungsgebiet" , wie ich es bisher noch habe zur Vereinfachung erscheinen lassen; denn beide sind für die allgemeinen Sozialwissenschaften so wichtig, daß diese selbst unzureichend zu sein drohen, wenn sie heide nicht einbeziehen. Einstweilen wäre freilich für die Staatswie für die Rechtstheorie schon durch eine bloße Anwendung der bisherigen sozialwissenschaftIichen Erkenntnisse auf beide viel gewonnen. 28 Dabei kann dahinstehen, ob Staat und Recht älter sind; das würde sofort in die Frage nach dem "Wesen" oder dem Ursprung beider führen. Jedenfalls sind Staat wie Recht von heute bereits deutlich unterschieden von dem Staat und dem Recht etwa um 1800. Auch die kommunistische Lehre vom "Ab-

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liegen in spezifischen Kompensationsnotwendigkeiten dieser Gesellschaft: Sie ist kein selbstregulierendes System des Zusammenlebens (schon durch die Arbeitsteilung, durch ihre Komplexität und ihren rapiden Wandel); besondere Kompensationsakte zu ihrer Regulierung sind deshalb nötig. c) Die Regulierung erfolgt großenteils mittels der hochgradig instrumentalen Sollensordnung des positiven Rechts und durch ein besonderes Koordinationszentrum, den Staat. d) "Seins"-Tendenzen des sozialen Lebens eine kompensatorische Sollensordnung gegenüberzustellen vermag nur ein Koordinationszentrum, das diesem "Sein" gegenüber relativ selbständig organisiert, andererseits durch "Rückkopplungen" mit ihm verbunden ist. e) Die Systemimmanenz von Staat und Recht zwingt zu der Einsicht, daß ein Leben in dieser Gesellschaft nur möglich ist, wenn beide Anerkennung finden; ein soziales "Müssen" zwingt zur Akzeptierung beider, einschließlich des Geltungsanspruchs des positiven Rechts als " gesollt". f) Dieses "Müssen" hängt also ab von der Voraussetzung, daß das Leben in dieser konkreten Gesellschaft "bejaht" wird. Aber wer in einer konkreten Gesellschaft lebt, bejaht bereits durch die (praktisch unvermeidbaren) Akte seines eigenen sozialen Verhaltens, die auf die Zukunft gerichtet sind, das Leben und damit auch das Zusammenleben in ihr. g) Die Erkenntnis dieser "Seins-" Tatsachen zwingt zur Anerkennung der rationalen Konsequenzen auch für die eigene Person; ihre Verweigerung ist willkürlich. Doch ist dies ein verbindliches Kriterium nur von bestimmten philosophischen oder anthropologischen Prämissen aus, die möglicherweise selbst zu den Grundlagen unseres geschichtlich gewordenen sozio-kulturellen Lebens gehören. h) Staat und Recht gehören zu einem speziellen Reglersystem innerhalb des Systems der Gesamtgesellschaft: Soziales Verhalten, das nicht "von selbst" zu der Kooperation führt, die ein ausreichend funktionierendes System des Zusammenlebens konstituiert (d. h. das kein "selbstregulierendes" System darstellt), muß in der Weise der Herrschaft (durch Organisierung spezifischer Rollen und Institutionen in einem Herrschaftsapparat) herbeigeführt werden, indem die fehlende Motivation zu jenem Verhalten bewußt instrumental geschaffen wird. i) Erst das so konstituierte Gesamtsystem menschlichen Zusammenlebens ist die sozialwissenschaftlich vorfindliche Realität des heutigen menschlichen Lebens. k) Wir haben es also bei Staat und Recht mit einer Kompensation, einem "Einbau" eines speziellen Reglersystems zu tun, durch das die moderne Gesamtgesellschaft zu einer mittelbaren "Selbst-"regulierung gelangen kann, die unmittelbar aus dem Vollzug des sozialen Lebens selbst nicht hervorgeht. 1) Von "mittelbarer Selbstregulierung" wird man um so mehr sprechen können, je wirksamer sterben" beider kann hier nicht erörtert werden; es genügt, darauf hinzuweisen, daß diese Lehre hierfür eine fundamentale Veränderung der Industriegesellschaft voraussetzt. 13 Drath

194 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts Rückkopplungen von der "Gesellschaft" zum Herrschaftsapparat "Staat" sind, je mehr das "politische Leben" funktional mit der Gesamtheit des sozialen Lebens - bis in die Denkinhalte der Menschen hin - konkordiert, je effektiver also die Herrschaftsfunktion des Staates und der Herrschaftsapparat "vergesellschaftet" sind. Hierzu sind nach allem oben Gesagten nur wenige Erläuterungen notwendig: Die häufige Formulierung, daß "Recht ohne Macht" hilflos sei, klingt allzu formelhaft. Dem positiven Recht ist der Zwang deshalb grundsätzlich immanent, weil er zu seiner eigenen sozialen Funktion "gehört"; diese Ordnungsart muß heute über von einander divergierenden, vielfach einander diametral entgegengesetzten Verhaltenstendenzen eine Koordinierung wenigstens des äußeren Verhaltens und damit ein auskömmliches soziales Zusammenwirken effektiv machen; das ist seine eigene ratio existentiae, zu der Setzung, Entscheidung über Konflikte und Durchsetzung gleichmaßen gehören. Hierzu ist ein besonderer Herrschaftsapparat nötig, der auf seine soziale Effektivität schon grundlegend - in der Verfassung - und im einzelnen durchorganisiert ist und ständig weiter durchorganisiert wird. Aber es ist ein schiefes Bild, das Recht als vorgegeben anzusehen und dann von seinem Bedürfnis nach staatlicher Macht zu sprechen. Ebensogut kann man das Umgekehrte feststellen: In allen Ländern wurde die Ausübung der politischen Herrschaft schließlich auf die Ordnungsart "positives Recht" angewiesen, wurden Elemente der "persönlichen" oder "dynastischen" Herrschaft eliminiert, der Staat selbst mittels des positiven Rechts, vor allem der Verfassung, zu einem neuen politischen System mit spezifischen Institutionen organisiert. Der Vorgang wiederholt sich auch heute noch vielfach, besonders in den "Entwicklungsländern". überall, wo wir es mit "persönlichen" oder "halbpersönlichen" Machthabern zu tun haben und dadurch die Vorstellung eines personifizierten "Interesses der Macht" erleichtert wird, zeigt sich, daß eine moderne Gesellschaft oder die Modernisierung einer älteren Gesellschaftsform auf das Instrument des positiven Rechts nicht verzichten kann, auch dann nicht, wenn der Bereich der reinen Dezisionen aus Gründen einer "Staatsräson" oder sogar aus persönlichen Interessen von Machthabern relativ groß und jedenfalls nicht in der uns gewohnten Weise "rechtsstaatlich" beschränkt ist. Staat und Recht haben sich bisher nach aller Erfahrung als in sich kohärente Funktionselemente eines Reglersystems erwiesen, das selbst ein konstituierendes Element von Gesellschaften darstellt, in denen die oben dargelegten spezifischen Koordinierungsaufgaben zu lösen sind. Selbs,t die verschiedenen Interessen von "Machthabern" schaffen dabei kaum größere

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Unterschiede, die nicht aus Besonderheiten ihrer Lage und Bestrebungen usw. erklärt werden könnten, gleichgültig, ob es sich um eine Offiziersjunta oder um Machthaber im Dienste großer Pläne und Ideen, solche in patriarchalischen Rollen, mit eher instrumental-funktionellem Denken oder mit großer sozialer ratio und hohem sozialen Ethos handelt (gleichgültig auch, ob sie nach Mustern aus "Ost" oder "West" verfahren, die weder einheitliche noch statische Modelle abgeben). Hier liegen allenthalben noch die bedeutendsten Probleme; viele sind in Einzeluntersuchungen behandelt - eine zusammenfassende theoretische Grundlegung von Staat und Recht als Elementen des spezifischen politischen Reglersystems in der Industriegesellschaft, geschweige denn als Elementen "mittelbarer Selbstregulierung" dieser Gesellschaft besitzen wir noch nicht. Hier bestehen neue Möglichkeiten der Weiterführung auch einer weitgehend in Erörterung formaler Konstitutionsprinzipien (oder in Feststellungen, die schon vor Jahrzehnten über das Schicksal z. B. von "Honoratioren-"Demokratie und von Selbstverwaltung usw. getroffen waren) erstarrten Theorie der Demokratie. Diese würde freilich selbst solange nur eine "formale" (selbst bei grundlegender Abkehr von allem obrigkeitlichen Denken und Verfahren) bleiben, als nicht eine neue Durchsichtigkeit des sozialen Lebens erzielt wird, und zwar nicht nur, wie es in der Vergangenheit verlaufen ist und heute verläuft, sondern wie es in die Zukunft hinein gestaltet werden muß, wenn es angesichts der heutigen Bedrohungen eine menschliche Zukunft geben soll.

VI. Die strukturell-funktionale Analyse des Staates (als Herrschaftsapparat) und des positiven Rechts als seines Instrumentes wird denen allzu dürftige, allzu "zergliedernde" Ergebnisse bringen, die größere Anschaulichkeit, einen stärker "substanziellen Charakter" des Staates wünschen oder annehmen (selbst wenn sie nicht einer "Organismus"-Theorie des Staates anhängen), die das positive Recht unter Ideen gestellt sehen möchten oder die eine "Staats"- und eine "Rechtsidee" postulieren. Dogmen und Philosophien mögen manchem als geeigneter erscheinen, den Staat und das Recht zu "erklären". Allein dem kann entgegengehalten werden, daß keinerlei menschlicher "Verband" und keinerlei menschliche Ordnung - nicht einmal die Familie und ihre Ordnung - sozialwissenschaftlich anders als (zumindest auch und vorweg) in analytischer Weise erfaßt werden kann. Dabei zeigen sich immer Strukturen von funktional aufeinander bezogenem Verhalten der Beteiligten, also mehr oder minder feste, geformte Verhaltensweisen. Beim Staat und seinem Recht handelt es sich um einen "Verband" und eine Verbands-

la-

196 über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und Rechts ordnung von besonderer, hochorganisierter "Art". Diese "Art" selbst wird erst erschlossen durch eine strukturell-funktionale Analyse; sie kann sich nicht aus einer "Idee", aus Bildern oder aus einer Annahme "von selbst" ergeben. Sie ist überhaupt nicht "an und für sich", sondern sie ist "relativ", nämlich bezogen auf geschichtlich gewordene Formen und Großgruppen menschlichen Zusammenlebens, mit denen sie selbst ausgeformt worden ist, sie ist bestimmt von einer Funktion in diesem Zusammenleben. Deshalb bedarf jede "immanente" Analyse des Staates als Herrschaftsapparat und des Rechts als seines Instruments immer der Ergänzung und Korrektur durch die Analyse dieser ihrer "äußeren" Zusammenhänge. Erst eine Betrachtung nicht nur des Reglersystems "an sich", sondern des Reglersystems als bezogen auf das zu Regelnde und die in diesem liegenden Regelungsaufgaben kann Staat und Recht voll erklären, erst eine Analyse der "Gesamtgesellschaft", wie sie schon von Georg Jellinek gefordert worden war. Erst dabei ergibt sich etwas zweites: die soziale Bedeutung der konkreten Denkinhalte, die in der Gesamtgesellschaft wie im besonderen Staatsapparat wirksam sind, für die Regelungsfunktion und damit für Staat und Recht. Denn alles menschliche Verhalten und alle Verhaltenstendenzen und -bereitschaften sind durch das konkrete Denken der Menschen mitbestimmt; auch "Ideen" sind (mindestens im Ergebnis, wenn nicht in ihrer Entstehung bereits) Projektionen konkreter Denkinhalte, ohne die sie "Leerformeln" wären. Verfolgt man diese Hypothese gerade im Anschluß an eine strukturell-funktionale Analyse von Staat und Recht als Reglersystem innerhalb der "Gesamtgesellschaft", so zeigt sich, daß diese Analyse uns erst den kritischen, geordneten Zugang zu den konkreten geistigen Problemen des konkreten sozialen Lebens öffnet, ohne deren Lösung die Regelungsfunktion selbst orientierungslos ausgeübt würde.