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German Pages 132 Year 2021
Recht und Politik
Beiheft 5
Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik
Recht politikwissenschaftlich erforschen Herausgegeben von Verena Frick, Oliver W. Lembcke, Matthias Lemke und Sebastian Wolf
Duncker & Humblot · Berlin
Recht politikwissenschaftlich erforschen
Recht und Politik Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik
Begründet von Dr. jur. h. c. Rudolf Wassermann (1925–2008) Redaktion: Hendrik Wassermann (verantwortlich) Heiko Holste Robert Chr. van Ooyen
Beiheft 5
Recht politikwissenschaftlich erforschen Herausgegeben von Verena Frick Oliver W. Lembcke Matthias Lemke Sebastian Wolf
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2567-0603 ISBN 978-3-428-18220-6 (Print) ISBN 978-3-428-58220-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhalt Einleitung Matthias Lemke/Sebastian Wolf Recht politikwissenschaftlich erforschen. Ein Werkstattbericht aus dem Arbeitskreis „Politik und Recht“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft Verena Frick/Oliver W. Lembcke
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I. PHÄNOMENE DER POLITISIERUNG DES RECHTS Hinter Peking, aber locker vor Pjöngjang. Das deutsche Riesenparlament und die überfällige Reform des deutschen Wahlrechts Oliver W. Lembcke/Frank Heber
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Politik und Recht: Reloaded Roland Lhotta
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Politisches Urteil und Exekutivexpansion Daniel Kuchler
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II. PERSPEKTIVEN DER BUNDESVERFASSUNGSGERICHTSFORSCHUNG Der Stärkeindex als ein „Framework of Analysis“ für die empirische Verfassungsgerichtsforschung Oliver W. Lembcke/Kálmán Pócza
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Bundesverfassungsgerichtsforschung und Rechtssoziologie Christian Boulanger
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Bundesverfassungsgericht und Wirkungsforschung: Ergebnisse und Forschungsfragen Thomas Gawron/Ralf Rogowski
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Die „Kruzifix-Entscheidung“ – eine Panne der Karlsruher Entscheidungsorganisation? Uwe Kranenpohl
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„Spiel“ statt „Dialog“ der Gerichte: Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte aus modelltheoretischer Perspektive Sebastian Wolf
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III. VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT IM SPANNUNGSFELD VON AUTORITARISMUS, POPULISMUS UND TERRORISMUS Rechtspluralismus als Chance für die Rechtsstaatlichkeit? Der Einfluss des kolumbianischen Verfassungsgerichtes auf die Ausgestaltung der indigenen Rechtsautonomie 100 Sarah Schmid
Inhalt Populistische Parteien und Verfassungsgerichte. Zu den Spezifika eines grundlegenden Spannungsverhältnisses Giovanni de Ghantuz Cubbe
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Wer entscheidet, wo und für wen die Verfassung gilt? – Guantánamo und der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten Annette Förster
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Autorinnen und Autoren
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Einleitung Von Matthias Lemke, Lübeck und Sebastian Wolf, Berlin
I. Die Erforschung von Politik und Recht als Daueraufgabe Ein Teil der nachfolgenden Beiträge geht auf den 27. Kongress der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) zurück. Dieser fand vom 25. bis 27. September 2018 an der Johann-Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main statt. Die betreffenden Beiträge repräsentieren einige der Vorträge, die in Kooperation mit dem DVPW-Arbeitskreis „Politik und Recht“ zustande gekommen sind. Der andere Teil der Beiträge hat seinen Ursprung in einem Workshop des Arbeitskreises zur Bundesverfassungsgerichtsforschung, der am 28. und 29. März 2018 an der Universität Erfurt stattfand. Die hier zusammengestellten Analysen dokumentieren nicht nur die Vielfalt der Themen, die sich aus einer zunehmend integrierten statt separierten Betrachtung von Politik- und Rechtswissenschaft ergeben. Sie bezeugen auch die lebendige Debatte, die der Arbeitskreis „Politik und Recht“ angestoßen hat, sowie die Resonanz, die sie erfährt. Die Erforschung des komplexen Verhältnisses von Politik und Recht kann als eine disziplinübergreifende Daueraufgabe bezeichnet werden. In ihrem „Werkstattbericht“ erläutern Verena Frick und Oliver W. Lembcke im Anschluss an diese Einleitung unter anderem Zielsetzung, Arbeitsweise und Schwerpunkte des Arbeitskreises „Politik und Recht“. Die Herausgeberin und die Herausgeber des vorliegenden Beihefts haben die verschiedenen Beiträge in drei thematische Gruppen eingeteilt. Im Folgenden geben wir einen kurzen Überblick über deren wesentliche Inhalte.1
II. Phänomene der Politisierung des Rechts Die Beiträge des ersten Teils beschäftigen sich unter anderem damit, wie bestimmte Aspekte des Wahlrechts, der Gewaltenteilung und des Verhältnisses von Wissenschaftsdisziplinen von Politisierungs- bzw. Entpolitisierungsprozessen betroffen sind. Zunächst untersuchen Oliver W. Lembcke und Frank Heber die potentiellen Auswirkungen eines Gesetzentwurfs von drei Oppositionsfraktionen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. In Folge des Einbringens des Entwurfes geht die mittlerweile über 1
Für die Erstellung des folgenden Überblicks (Abschnitte II. bis IV.) haben wir zum Teil explizit die Texte der von den Autorinnen und Autoren jeweils verfassten Abstracts verwendet.
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zehnjährige Odyssee um eine Reform des Bundestagswahlrechts in ein neues Kapitel. Es wird, so die Einschätzung der beiden Autoren, trotz drängendem Reformdruck wohl nicht das letzte sein, und auch an Reformvorschlägen aus Wissenschaft und Politik zur Schadensbegrenzung mangelt es nicht. Der Beitrag bietet ein alternatives Modell an, das nicht nur das Problem der Überhangmandate minimieren, sondern auch die lokale Demokratie zu stärken sucht. Der nachfolgende Aufsatz von Roland Lhotta geht der Frage nach, wie das disziplinäre Verhältnis von Politik und Recht beschaffen ist – und wie es sein könnte. Bislang sind Berührungspunkte so selten wie unsystematisch. Begreift man das Recht jedoch als grundsätzlich akteursabhängig und als in ständiger Emergenz begriffen, dann erscheint eine Bezugnahme auf das Politische als offenkundig: es sind die Hervorbringungen von Recht, die es an die Politik binden. Situative Interpretation von Alltagsgeschehen und die darauf aufsetzende Ableitung handlungsleitender, kollektiv verbindlicher Regeln als permanenter Prozess im demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat legen somit, wenn nicht eine Verschränkung, so doch eine beständige Überlappung von Politik- und Rechtswissenschaft nahe. Schließlich analysiert Daniel Kuchler den Umstand, wonach sich in der gegenwärtigen Politik eine Tendenz weg von partizipativen Elementen und hin zu einer „Expertokratie“ feststellen lasse. Wir sind mit Problemen konfrontiert, die nicht durch partizipative Prozesse, sondern in beträchtlichem Umfang durch die Exekutive bearbeitet werden. Hierbei werden politische Fragen der öffentlichen Debatte entzogen und entpolitisiert. Hannah Arendts Politikbegriff betone dagegen den Zusammenhang von politischem Handeln, politischer Debatte und politischem Urteil und verdeutliche die Tragweite einer übermäßigen Exekutivexpansion.
III. Perspektiven der Bundesverfassungsgerichtsforschung Der zweite Teil des Beihefts versammelt interdisziplinäre Analysen, die sich im Schwerpunkt mit dem Bundesverfassungsgericht, aber auch mit anderen (Verfassungs‐) Gerichten und grundsätzlichen Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Recht befassen. Oliver W. Lembcke und Kálmán Pócza stellen in ihrem Beitrag das JUDICON-Projekt vor. Es zielt auf eine methodisch angeleitete Analyse verfassungsgerichtlicher Rechtsprechungspraxis mit dem Ziel, ein möglichst differenziertes Bild der Rechtsprechungspraxis der jeweiligen Verfassungsgerichte zu gewinnen. Um den Vergleich zwischen den Verfassungsgerichten zu ermöglichen, beschränkt sich das JUDICON-Projekt auf einen spezifischen Fokus, nämlich auf die Analyse der Beziehung zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit einerseits und der Gesetzgebung andererseits; eine Beziehung, die mit folgendem Erkenntnisinteresse untersucht wird: Wie stark trachten Verfassungsgerichte danach, den politischen Handlungsspielraum des Gesetzgebers durch ihre Entscheidungen einzuschränken? Welcher Instrumente innerhalb ihrer Rechtsprechung bedienen sie sich dafür? Und wie lässt sich die Stärke verfassungsgerichtlicher Entscheidungen messen?
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Einleitung
Im Anschluss fragt Christian Boulanger, welches spezifisch rechtssoziologische Wissen von einer interdisziplinär aufgestellten Verfassungsgerichtsforschung rezipiert werden sollte. Anhand der Rekonstruktion dreier Debatten aus der politikwissenschaftlichen Verfassungsgerichtsforschung illustriert der Beitrag, was die Rechtssoziologie zu den jeweils behandelten Fragen beitragen kann. Im Ergebnis erweisen sich nach Ansicht des Autors zwei Leistungen dabei als besonders hervorhebenswert: die Fähigkeit zur Beschreibung des umkämpften juristischen Feldes sowie die Möglichkeit der Integration empirischer Daten. Thomas Gawron und Ralf Rogowski widmen sich sodann der Wirkungsforschung und damit einem der Kerngebiete der Rechtssoziologie. Das von ihnen vorgestellte Forschungsprojekt „Wirkungsforschung“ stellt den sogenannten Implementationsansatz in den Vordergrund. Es analysiert Implementationsstrukturen des Bundesverfassungsgerichts und differenziert Adressatenfelder und arenenspezifische, organisatorische Umsetzer. Entsprechend der modifizierten Dreistufen-Hypothese von Podgorecki können Forschungsfragen auf der Programmebene, der Implementationsprozesse und bei Adressaten des Bundesverfassungsgerichts formuliert und zur Evaluationsforschung geöffnet werden. Mit Blick auf die sogenannte „Kruzifix-Entscheidung“ analysiert Uwe Kranenpohl Routinen, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat, um seinen großen Arbeitsanfall zu bewältigen und sachgerechte Entscheidungen zu fällen. Üblicherweise sorgen diese Routinen für eine effiziente Verfahrenserledigung, gute Entscheidungsqualität und hohe Akzeptanz der Entscheidungen. Die Analyse der „Kruzifix-Entscheidung“, in der diese Mechanismen ausnahmsweise nicht zur Wirkung kamen, eröffnet eine Perspektive auf ihre Bedeutung im Gerichtsalltag. Sebastian Wolf argumentiert zum Abschluss des zweiten Teils in seinem Beitrag, dass eine spieltheoretische Betrachtung des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte einen größeren analytischen Mehrwert biete als der vage Erklärungsansatz des „Dialogs der Gerichte“. Sieht man die beiden Gerichte in einem wiederholten Gefangenendilemma, so lässt sich gut erklären, weshalb es bisher nicht zu einem fundamentalen Konflikt kam.
IV. Verfassungsgerichtsbarkeit im Spannungsfeld von Autoritarismus, Populismus und Terrorismus Der letzte Teil des Beihefts weitet mit seinen Beiträgen den Blick der Verfassungsgerichtsanalyse auf aktuelle Phänomene wie Rechtspluralismus in heterogenen Gesellschaften, populistische Parteien und Terrorismusbekämpfung an den Grenzen des Rechtsstaats. Sarah Schmid beschäftigt sich mit Rechtspluralismus in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Am Beispiel Kolumbiens analysiert sie, inwieweit und unter welchen Rahmenbedingungen Rechtspluralismus zu einer Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in Räumen begrenzter Staatlichkeit beitragen kann. In Kolumbien leisten Rechtsetzung und Rechtsprechung der Ureinwohner innerhalb der indigenen Reservate Recht und Politik, Beiheft 5
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einen Beitrag zur Verbesserung der rechtsstaatlichen Qualität. Gleichwohl zeigt die Fallstudie auch auf, welche anspruchsvollen Prämissen erfüllt sein müssen, damit eine rechtspluralistische Konstellation einen funktionalen Charakter aufweist: Dies gilt sowohl mit Blick auf die erforderliche Funktionalität der nichtstaatlichen Rechtsordnung selbst als auch mit Blick auf die Regulierungsleistung, die ein fragiler Staat selbst in diesem Kontext noch erbringen muss. Rechtspluralismus ist folglich kein „Allheilmittel“ für schwache Rechtsstaatlichkeit in Räumen begrenzter Staatlichkeit, sondern entfaltet seine positiven Effekte nur in ausgewählten Konstellationen. Giovanni de Ghantuz Cubbe nimmt das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen Populismus und Konstitutionalismus in den Blick, das in der wissenschaftlichen Literatur schon öfters diskutiert wurde. Seltener finden sich aber theoretische Überlegungen, welche die vielfältigen Kontakt- und Friktionspunkte zwischen populistischen Parteien und den Strukturen und Institutionen der konstitutionellen Demokratie eingehend beachten. Der Beitrag zielt darauf ab, eine Systematik zu entwickeln, mit deren Hilfe die Interaktion zwischen populistischen Parteien und Verfassungsgerichten sowie die Widerstandsfähigkeit von Verfassungsgerichten gegenüber populistischen Angriffen untersucht werden können. Annette Förster wirft schließlich einen Blick zurück auf die US-amerikanische Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001. Während die Bush-Administration im „Krieg gegen den Terror“ mit dem Gefangenenlager auf Guantánamo einen Ort geschaffen hat, an dem Inhaftierte weder den Schutz der in der Verfassung verbrieften Rechte, noch den des humanitären Völkerrechts genießen sollten, erachtete der Oberste Gerichtshof sowohl die Verfassung als auch die Genfer Konventionen als relevant und verbindlich im Umgang mit den Gefangenen. Wie sind die Entscheidungen des Gerichts mit Blick auf die Guantánamo-Fälle zu werten? Erfüllt das Gericht seine Funktion im gewaltenteiligen System? Wer entscheidet, wo und für wen die Verfassung gilt? Eine Analyse relevanter Gesetze, Verordnungen und Supreme Court-Urteile, die nach dem 11. September 2001 in die beiden Amtszeiten unter Präsident George W. Bush fallen, zeigt, dass die Bush-Administration mit Unterstützung des Kongresses einen weitestgehend ihrer Entscheidungsgewalt unterworfenen Raum aufrechterhalten hat und die Macht des Gerichtes zum Schutz und zur Durchsetzung der Verfassung beschränkte.
V. Ausblick In seinem Überblicksbeitrag zum state of the art kritisiert Lhotta die Fokussierung auf Verfassungsgerichte einerseits und Recht als Steuerungsinstrument andererseits als wissenschaftliche Engführung bei der Erforschung von Politik und Recht. Die hier versammelten Studien machen allerdings deutlich, dass gerade der erstgenannte Bereich die politikwissenschaftliche Rechtsforschung noch immer in erheblichem Umfang prägt. Abgesehen von Kuchler beschäftigen sich sämtliche Autorinnen und Autoren des vorliegenden Beihefts zumindest indirekt mit verfassungsgerichtlichen Einflüssen. So
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Einleitung
hat etwa das Bundesverfassungsgericht einen nicht unwesentlichen Anteil an dem von Lembcke und Heber diskutierten Wahlrechtsdilemma. Der von Lembcke und Pócza präsentierte Vorschlag zum Vergleich der Stärke von Verfassungsgerichten basiert auch auf Ansätzen der vergleichenden Politikwissenschaft. In den Beiträgen über das Bundesverfassungsgericht von Boulanger sowie Gawron und Rogowski kann man Plädoyers für eine stärkere Berücksichtigung der Rechtssoziologie in der politikwissenschaftlichen Rechtsforschung sehen. Die Studien von Kranenpohl und Wolf zeigen exemplarisch, wie eine politikwissenschaftlich orientierte Verfassungsgerichtsforschung die rechtswissenschaftliche Perspektive ergänzen kann: zum einen mit Untersuchungen zum organisatorischen und prozessualen Innenleben von Gerichten, zum anderen mit sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen wie der Spieltheorie zum gerichtlichen Entscheidungsverhalten. Schmid stellt die aktive Rolle des kolumbianischen Verfassungsgerichts als positiv heraus, weil die Politik sich als unfähig oder unwillig erwiesen hat, verschiedene innerstaatliche Rechtssysteme funktional voneinander abzugrenzen. Demgegenüber zeigt sich in Försters Analyse, dass selbst ein so altes und starkes Gericht wie der US Supreme Court nur über einen begrenzten Spielraum verfügt, wenn sich ihm Exekutive und Legislative hartnäckig widersetzen. In diesem Zusammenhang erinnert der Beitrag von de Ghantuz Cubbe schließlich daran, dass und wie Verfassungsgerichte politisch instrumentalisiert werden können. Auch hier wird wieder der Sinn einer interdisziplinären Perspektive deutlich. Zu Beginn dieser Einleitung ist bereits der Begriff der Resonanz gefallen. Gerade in wissenschaftlichen Kontexten ist Resonanz von immenser Bedeutung – denn sie zeigt nicht nur die Nachwirkung einer Idee oder eines Textes an. Vielmehr kommt in ihr der Umstand zum Ausdruck, dass über eine Idee oder einen Text konstruktiv gestritten wurde und wird. Insofern ist Resonanz nie abgeschlossen. Sie ist der Dialog, der Austausch, das immer wieder neue Abwägen von Argumenten, das innerhalb und auch zwischen den Disziplinen – etwa der Politik- und Rechtswissenschaft – ein kreatives Voranschreiten ermöglicht. Durch den Abdruck der vorliegenden Beiträge in einem Beiheft der Zeitschrift für Recht und Politik haben deren Herausgeber an eben diesem kreativen Voranschreiten maßgeblichen Anteil. Hierfür gebührt ihnen unser herzlicher Dank.
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Recht politikwissenschaftlich erforschen Ein Werkstattbericht aus dem Arbeitskreis „Politik und Recht“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft Von Verena Frick, Göttingen und Oliver W. Lembcke, Bochum
I. Anliegen des Arbeitskreises Der Arbeitskreis „Politik und Recht“ widmet sich der Erforschung des Rechts in integrativer Absicht. Er will all jene Kolleginnen und Kollegen ansprechen, die sich in diesem weiten Themenfeld engagieren und forschen. Für sie soll der Arbeitskreis ein organisatorisches Dach innerhalb der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) bieten. Die Aufgabe der Integration beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Organisation. Wir verstehen den Arbeitskreis überdies als ein Forum, in dem das Recht in sämtlichen Ausprägungen und Kontexten sowie mit all seinen Wirkungen und Akteuren aus einer politikwissenschaftlichen, gleichwohl interdisziplinär informierten und interessierten Perspektive zum Gegenstand der Forschung gemacht werden kann. Der gesamte Produktions- und Implementationszyklus des Rechts ist dabei von Interesse: Von der Rechtsetzung über die Rechtsprechung bis zur Kontrolle und Evaluation der Rechtsanwendung.1 Dass diesem Anliegen auch ein tatsächlicher Bedarf entspricht, zeigt die Entwicklung, die der Arbeitskreis genommen hat: Im Jahr 2013 zunächst als Themengruppe gegründet, ist er mit Beschluss des DVPW-Vorstands vom März 2017 zum Arbeitskreis erstarkt. In den vergangenen sieben Jahren haben bisher rund zwanzig Tagungen, Workshops und Kongresspanels stattgefunden, die entweder in Eigenregie oder in Kooperation mit anderen Sektionen und Arbeitskreisen innerhalb und außerhalb der DVPW durchgeführt wurden.2 Dass das Themenfeld „Politik und Recht“ ein ausge-
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Nachzulesen ist diese Zielsetzung auf der vor zwei Jahren eingerichteten Website, die vom Arbeitskreis selbst unterhalten und von Dr. Christian Boulanger dankenswerterweise betreut wird. Die Website findet sich unter der Adresse: https://politik-und-recht.net/. Sechs Tagungsbände dokumentieren einen Großteil dieser Veranstaltungen. Siehe im Überblick hierzu: Anter/Frick (Hrsg.), Politik, Recht und Religion, 2019; Hein/Petersen/ von Steinsdorff (Hrsg.), Die Grenzen der Verfassung, 2018; Frick/Lembcke/Lhotta (Hrsg.), Politik und Recht, 2017; Förster/Lemke (Hrsg.), Die Grenzen der Demokratie, 2017; Rehder/
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sprochenes Querschnittsthema ist, spiegelt sich auch in der interdisziplinären und vor allem intradisziplinären Struktur der Mitglieder. Einige sind in der politischen Theorie und Ideengeschichte, andere im Bereich des politischen Systems, des Vergleichs, der Verwaltungsforschung oder der Policy-Analyse beheimatet. In interdisziplinärer Hinsicht hat der Arbeitskreis insbesondere das Gespräch mit der Rechtswissenschaft gesucht. So wurden bisher rund ein Drittel der Beiträge auf den vergangenen Veranstaltungen von Vertreterinnen und Vertretern der Jurisprudenz beigesteuert. Angesichts des Zuwachses an Studien, die sich im Themenfeld „Politik und Recht“ verorten lassen, war die Gründung des Arbeitskreises als Initialzündungen gedacht, um dieses Querschnittsthema als einen inter- und intradisziplinären Forschungskontext eigener Art innerhalb der deutschen Politikwissenschaft sichtbar(er) werden zu lassen. Ein Eigengewicht hatten zuvor bereits die Themen „Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit“ erlangt, nicht zuletzt auch durch die Europaforschung induziert. Mittlerweile aber lässt sich die Forschung darauf nicht mehr reduzieren. Vielmehr umfasst sie eine Vielzahl politikwissenschaftlicher Ansätze, die eigenständig zahlreiche Verknüpfungen zu den benachbarten Disziplinen wie der Rechtswissenschaft, Verfassungsgeschichte, Rechtssoziologie oder Rechtstheorie herstellen und damit zum angloamerikanischen state of the art aufschließen, der gleichwohl nach wie vor eine erheblich ausdifferenziertere Forschungslandschaft repräsentiert. Einen Überblick unter dem programmatischen Titel „Law and Politics“ bieten u. a. das Oxford Handbook3 sowie das gleichnamige voluminöses Werk von Whittington aus der Routledge Reihe „Critical Concepts in Political Science“4. Diesen Werken lässt sich entnehmen, welche Bedeutung die Tradition des legal realism für eine genuin sozialwissenschaftliche Perspektive auf das Recht besessen hat und noch immer besitzt,5 deren Einfluss sich nicht zuletzt darin zeigt, dass ein legalism – ein rechtswissenschaftliches Denken, das die Kategorien des Sozialen und Politischen ausschließt – anders als in Deutschland im anglo-amerikanischen Forschungskontext nachhaltig verhindert wurde. Entsprechend langsam und mühevoll war der Prozess im deutschsprachigen Raum, Gerichte überhaupt als maßgebliche politische Akteure anzuerkennen – während die Sektion „Law & Courts“ im Rahmen der American Political Science Association (APSA) bald ihr vierzigjähriges Bestehen feiern kann. Sie ist damit allerdings nur die jüngere Schwester der Law and Society Association (LSA), die ihrerseits rund zwanzig Jahre früher gegründet wurde und seitdem maßgebliche Beiträge zur gesellschaftlichen Funktion, den Voraussetzungen und Wirkungen des Rechts bei-
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Schneider (Hrsg.), Gerichtsverbünde, Grundrechte und Politikfelder in Europa, 2016; Wolf (Hrsg.), State Size Matters, 2016. Siehe Whittington/Kelemen/Caldeira (Hrsg.), The Oxford Handbook of Law and Politics, 2008; außerdem Cane/Tushnet (Hrsg.), The Oxford Handbook of Legal Studies, 2005 sowie Rosenfeld/Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, 2012. Whittington, Law and Politics, 2012. Fisher/Horwitz/Reed (Hrsg.), American Legal Realism, 1993; Schlegel, American Legal Realism and Empirical Social Science, 1995.
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steuert. Nachdem es in den achtziger Jahren so schien, als ob die Rechtssoziologie in Deutschland langsam aber sicher ausgetrocknet werden würde, sucht man auch hier Anschluss, um die Alltagsdimension des Rechts wiederzugewinnen, den „common place of law“6, und damit zugleich die Dimensionen der Emergenz, der Akteure und Adressaten. Ausdruck dieser Bestrebung sind der 2001 gegründete Berliner Arbeitskreis für Rechtsoziologie (BAR) sowie die Wiederbelebung der Vereinigung für Rechtssoziologie, ablesbar an der Umbenennung in Vereinigung für Recht und Gesellschaft (VRuG) 2010. Zweck dieser organisatorischen Bemühungen ist die Öffnung zur empirischen Analyse des Rechts und deren theoretische und methodische Anleitung,7 von der die politikwissenschaftliche Forschung zum Recht nur profitieren kann – und profitiert hat.
II. Recht als Gegenstand der Politikwissenschaft Eine Hauptaufgabe des Arbeitskreises besteht nach wie vor darin, eine eigenständige politikwissenschaftliche Perspektive auf das Recht anzubieten, die einerseits hinreichend offen für den integrativen Anspruch gegenüber der „community“ ist, die keinen Mangel an Vielfalt hinsichtlich der Theorien, Methoden und Gegenstände besitzt, andererseits ausreichend bestimmt ist, um dem Anspruch eines eigenständigen wissenschaftlichen Forums gerecht zu werden, das sich von anderen Foren durch die Expertise im Umgang mit dem Schnittfeld von Politik und Recht unterscheidet. Eine solche eigenständige, gleichwohl integrative Perspektive zu entwickeln, war das Ziel der ersten Tagungen in Jena und Hamburg (beide im Jahr 2013).8 Die Ergebnisse lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen: (1) Eigenart des Rechts als Steuerungsmedium: Recht als zentrales Steuerungsmedium des modernen Staates dient politisch-gesellschaftlichen Akteuren als Referenzrahmen und Rechtfertigung für ihr Handeln. Es ist zugleich ein bevorzugtes Objekt zur Durchsetzung ihrer Interessen. Damit hat das Recht zwei Seiten: Zum einen ist es konstitutiv und handlungsanleitend für die adressierten Akteure, zum anderen wird es durch die Akteure gestaltet, verändert und angepasst. Dies macht die Beantwortung der Frage, welche Rolle das Recht eigentlich spielt und was daran „politisch“ ist, ausgesprochen schwierig. Aus Sicht der empirischen Politikwissenschaft ist das Recht ein Set von Regeln für das Handeln von Akteuren in einem institutionellen Umfeld sowie für ihre Interaktionen. Es beinhaltet zudem normative Leitideen von Politik, die durch die Institutionen eines politischen Systems und die darin handelnden Akteure aktualisiert, reformuliert und befolgt werden. Recht wird hervorgebracht, angewendet, konkretisiert und verändert von Akteuren in verschiedenen Rollen (z. B. Richtern, Klägern, An6 7 8 14
Ewick/Silbey, The Common Place of Law, 1998. Zum Forschungsstand in diesem Feld: Cane/Kritzer (Hrsg.), The Oxford Handbook of Empirical Legal Research, 2012; Halliday/Schmidt, Conducting Law and Society Research, 2009. Ketelhut, ZPTh 2013, S. 297 ff. Recht und Politik, Beiheft 5
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wälten, Parlamentariern usw.). Viele dieser Akteure üben diese Funktionen als Mitglieder von Institutionen aus, die wiederum konstitutiv für ihr Handeln sind und dieses präjudizieren, einschränken oder erst ermöglichen. (2) Interpretationsbedürftigkeit des Rechts: Einen zentralen Ausgangspunkt der Forschung über das Zusammenspiel von Politik und Recht stellt die These dar, dass das Recht interpretationsbedürftig und in allen Phasen der Rechtsproduktion und Rechtsimplementation entsprechend umstritten ist. Nur mit der Annahme, dass das Recht nicht selbsterklärend ist, sondern relevante Handlungs- und Entscheidungsspielräume offen lässt, ist es plausibel, von rechtsbezogenem Handeln als im engeren Sinne politischem Handeln zu sprechen. Die Interpretationsbedürftigkeit verweist dabei auf die besondere Existenzweise des Rechts, auf seinen Sollenscharakter, und damit auf die für die Rechtswelt konstitutive Konstruktivität jedes Sollens. Da Recht nicht self-executing ist, hängt sowohl seine Existenz als auch sein Funktionieren von Interpretationsakten ab. Aber was bedeutet Interpretation in diesem Zusammenhang eigentlich? Und welche Eigenart kennzeichnet die Interpretation des Rechts? Die Frage nach den Akteuren, Instrumenten und Folgen der Rechtsinterpretation hat sich in diesem Kontext auch mit der Rolle der Rechtswissenschaft auseinanderzusetzen, die als Jurisprudenz die Rechtspraxis maßgeblich gestaltet und über die Dogmatik und Methoden nachhaltig das Verhältnis zur Politik bestimmt.9 So entspricht es zweifellos nach wie vor dem Selbstverständnis – zumindest eines Großteils – der juristischen Methodenlehre, dass sich juristische Methoden als Rationalisierungsinstrumente begreifen lassen, die zur Auflösung von Interpretationskonflikten und damit zur Herstellung von Rechtsklarheit beitragen. Un(ter)bestimmt bleibt hingegen die intradisziplinäre Wirkung, mit der sich die Konflikte über die Auswahl und Anwendung der Methoden selbst (die dadurch ihrerseits zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden können) eindämmen lassen. (3) Sinnstiftung durch Rechtsadressaten: Die zentrale Herausforderung besteht darin, eine hinreichend komplexe Vorstellung zu entwickeln, was „Recht“ eigentlich ist und was seine Funktionslogiken sowie institutionellen Eigenschaften sind. Dazu hat die Fokussierung auf Verfassungsgerichte als politische Akteure wichtige Beiträge geliefert, und zwar in dem Maße, indem es ihr gelungen ist, den institutionellen Charakter des Rechts zu erfassen und offenzulegen, dass die Interpretationen des Rechts durch die Regeladressaten keineswegs determiniert oder durch den Text einer Norm verbindlich programmiert sind. Vielmehr liegt in jeder Interpretation ein Element der Wahl, das ein Verständnis von Compliance als bloßer Regelbefolgung gegenüber einem „Rechtsbefehl“ unterkomplex erscheinen lässt. Allein die Ambiguität von Sprache als Medium der Regelartikulation und Regelinterpretation sowie der bei Rechtsnormen notorischen Unvollständigkeit und Unbestimmtheit macht Interpretation für alle Rechtsadressaten 9
Siehe dazu Frick, Die Staatsrechtslehre im Streit um ihren Gegenstand. Die Staats- und Verfassungsdebatten seit 1979, Tübingen 2018; Lembcke/Frick, in: Voigt (Hrsg.), Handbuch Staat I, 2018, 129.
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zu einer allfälligen Tätigkeit, in der Regeln mit vorgefundenen Situationen abgeglichen werden, um ihnen jeweils Sinn abzugewinnen, der handlungsanleitend wirkt und damit zur jeweils individuellen Verwirklichung und Konkretisierung des Rechts beiträgt. Das heißt zweierlei: Erstens liegt die entscheidende Instanz für das Gelingen von Regeln nicht in den Regeln selbst, sondern in ihren Adressaten; zweitens ist die „Programmierung“ einer gesollten Handlung bei den Regeladressaten eine unterkomplexe und damit unrealistische Annahme. Soll das Recht „als sinngebende Schnittstelle von Ideen und Verhaltensstrukturierungen“10 fungieren können, ist es auf – i. d. R. sprachlich basierte – Vorgänge der (interpretativen) Sinnstiftung durch die Rechtsadressaten angewiesen, die wiederum voraussetzungsvoll und kontextabhängig sind. In dieser Hinsicht liegen gerade in den ethnographischen bzw. ethnomethodologisch angelegten Forschungen der Law & Society-Richtung bislang noch nicht politikwissenschaftlich rezipierte Möglichkeiten, kontext- und akteursspezifische Funktionsbedingungen von Recht (im Alltag) zu entschlüsseln und auf ihre politische Relevanz im Kontext von Politik und Recht zu befragen.
III. Aktuelle Forschungsperspektiven Das Recht als selbstverständlichen Gegenstand der (deutschen) Politikwissenschaft zu betrachten war und ist keine Selbstverständlichkeit. Disziplingeschichtliche Hypotheken haben sich ebenso als hinderlich erwiesen wie die wachsende Ausdifferenzierung innerhalb der Politikwissenschaft, die sie begleitende Entfremdung zwischen empirischen und normativen Ansätzen sowie die Relativierung des Staates und seiner Institutionen als Forschungsgegenstand.11 Zusammengenommen haben diese Faktoren nicht unerheblich zu einer Marginalisierung des Rechts in der Politikwissenschaft beigetragen mit der Folge, dass das Recht den Rechtswissenschaften noch bis in die 1990er Jahre überlassen war, ehe dann die politikwissenschaftliche Gerichtsforschung begonnen hat, mächtige Gerichte wie das BVerfG12 oder den EuGH13 als politische Akteure in den Blick zu nehmen – nicht zuletzt getragen von einem institutionellen Verständnis der Verfassung als Medium politischer Sinnstiftung.14 Inspiriert wurde die deutsche Forschung hierbei von den wegweisenden Studien, die u. a. Shapiro,15 Stone
10 Kaiser, in: Brodocz/Schaal (Hrsg.), Politische Theorien der Gegenwart II, 2011, S. 263. 11 Frick/Lembcke/Lhotta, (Fn. 2), S. 19. 12 Lhotta, ZPol 2002, S. 1073 ff.; Lembcke, Über das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts, 2006; Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007; Hönnige, Verfassungsgericht, Regierung, Opposition, 2007; Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010; Wrase/ Boulanger (Hrsg.), Die Politik des Verfassungsrechts, 2013; Möllers/van Ooyen (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015. 13 Höreth, Die Selbstautorisierung des Agenten, 2008. 14 Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, 2002. 15 Shapiro, Courts, 1986; ders., Who Guards the Guardians, 1988.
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Sweet16 und Weiler17 vorgelegt haben, sowie von zahlreichen Fachdiskursen innerhalb der US-amerikanischen Politikwissenschaft, der bis auf weiteres die Rolle des Impulsgebers in diesem Forschungsfeld zufällt und deren bleibendes Verdienst es ist, dass (Verfassungs-)Gerichte mittlerweile als relevante Variable moderner Governance wahrgenommen werden, die über Arenen, Verfahren und Handlungsräume politischer Akteure am Maßstab des Rechts entscheiden, politische Interaktionsformen managen und damit auch Policies zu beeinflussen vermögen. Neben der großen Schwester Gerichtsforschung sind seit den 1990er Jahren auch die Forschungsfelder, die sich den Prozessen der Transnationalisierung und Globalisierung widmen, für den Aufschwung des Forschungsfeldes Politik und Recht im Rahmen der Politikwissenschaft verantwortlich.18 Gleiches gilt für die wachsende Bedeutung hybrider Rechtsinstitutionen und -formen (z. B. Schiedsgerichtsbarkeiten im Rahmen von Freihandelsabkommen) sowie die mit der Konstruktion von Mehrebenenmodellen typischerweise verbundenen Demokratieprobleme, z. B. im Rahmen der europäischen Finanzkrise,19 nebst der fortgesetzten und intensivierten Diskussion um (universale) Geltung und Durchsetzbarkeit von Menschenrechten. Diese Herausforderungen sind nur einige Beispiele dafür, dass das Recht im Bereich des Politischen präsent ist, aber zugleich auch einem Wandel hinsichtlich Funktion, Erscheinung, Wirkung und der tradierten Bindung an den Staat als dessen Durchsetzungs- und Zurechnungsinstanz unterworfen ist.20 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen haben sich im AK Politik und Recht zwei Themenschwerpunkte herausgebildet, die Bundesverfassungsgerichtsforschung, die stets auch eine vergleichende Perspektive besitzt, sowie die Konstitutionalismusforschung, bei der das spannungsreiche Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Zentrum steht. 1. Bundesverfassungsgerichtsforschung Die „global expansion of judicial power“21 und die Rolle der Gerichte als „PolicyMaker“22 (und Policy-Verhinderer) sowie die damit einhergehende Verrechtlichung politischer Prozesse, darunter nicht zuletzt die vom Europäischen Gerichtshof betriebene Integration durch Recht,23 gehören zum Standardrepertoire an Themen, die im 16 Stone Sweet, Governing with Judges, 2000; Shapiro/Stone Sweet, On Law, Politics and Judicialization, 2002. 17 Weiler, JCMS 1993, S. 417 ff.; ders., CPS 1994, S. 510 ff.; ders., in: Slaughter/Stone Sweet/ Weiler (Hrsg.), The European Courts and National Courts, 1998, S. 365 ff. 18 Paulus, EJIL 2000, S. 465 ff.; Franzius, AÖR 2013, S. 204 ff. 19 Scharpf, in: Franzius/Mayer/Neyer (Hrsg.): Grenzen der europäischen Integration: Herausforderung für Recht und Politik, 2014, S. 51 ff.; Streeck, JMEH 2014, S. 299 ff. 20 Eine Kartographie der Aufgabenfelder liefert Lembcke, in: Kirste (Hrsg.), Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften – Innen- und Außenperspektiven, 2016, S. 131 – 151. 21 Tate/Vallinder, The Global Expansion of Judicial Power, 1995. 22 Dahl, Journal of Public Law 1957, S. 279 ff. 23 Schmidt, The European Court of Justice and the Policy Process, 2018. Recht und Politik, Beiheft 5
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AK Politik und Recht ausführlich diskutiert werden. Beispielhaft stehen dafür das Panel „An den Grenzen der Demokratie: Verfassungsgerichte als letzte Hoffnung?“ auf dem 27. Kongress der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft, der vom 25.–28. 09. 2018 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zum Thema „Grenzen der Demokratie“ stattfand, sowie der Workshop vom 28.–29. 03. 2018 an der Universität Erfurt, der den Versuch unternahm, den Stand der „Bundesverfassungsgerichtsforschung“ zu bilanzieren und mit neueren Ansätzen der empirischen Gerichtsforschung zu vermitteln. Diesem Zweck diente auch der Workshop, der Mitte Mai 2019 in Kooperation mit dem Forschungsverbund „Recht im Kontext“ und dem „Forschungsprojekt Leibnitz Linguistic Research into Constitutional Law“ (beide an der HU Berlin angesiedelt) durchgeführt wurde. Veranstaltungen dieser Art sind ein Reflex auf die wachsende Zahl an empirischen Analysen, die sich den spezifischen Produkten gerichtlichen Handelns widmen, dem Text verbindlicher Entscheidungen. Lange Zeit war dieses Feld in der Hand juristischer Auslegungskunst, nun jedoch formieren sich – oftmals computergestützt –produktive Alternativen, die die klassische Hermeneutik nicht zu ersetzen, aber doch zu ergänzen und zu erweitern trachten. Drei wesentliche Bereiche sind hier stellvertretend für das Spektrum dieser vielfältigen Forschungsansätze zu nennen: (1) Policy-Agenda und Positionen: Die politikwissenschaftliche Rezeption der Literatur über den US Supreme Court hat sich vor allem in einer Hinsicht immer wieder als sperrig erwiesen. Die Bestimmung der Policy-Wirkung einer bestimmten Entscheidung lässt sich typischerweise nicht – anders als in der US-amerikanischen Rechtsprechung24 – auf die (ideale) Policy-Position einzelner Richter zurückführen.25 Folglich mangelt es an einer Datengrundlage, die strukturelle Aussagen über die Bewegungen im Policy-Raum ermöglichen. An dieser Stelle setzen Versuche an, den „case space“ ohne Rekurs auf individuelles Entscheidungsverhalten der Richter zu vermessen.26 Dem Aufhellen der Handlungsspielräume und Positionsbestimmung von Gerichten im Policy-Cycle dienen auch die Text-Mining-Verfahren, mit deren Hilfe sich die Herausbildung, Verfestigung oder Veränderung der Agenda von Gerichten nachzeichnen lässt.27 (2) Judizieller Dialog: Die gerade im europäischen Mehrebenensystem zu beobachtende Gerichtsverflechtung wirft bereits seit längerer Zeit die Frage nach der Relevanz des judiziellen Dialogs auf, v. a. innerhalb der Verfassungsgerichtsbarkeit.28 Der Einsatz von 24 Clark/Lauderdale, APSA 2010, S. 871 ff. 25 Kelemen, German Law Journal 14(8) 2013, S. 1345 ff. 26 Arnold/Engst/Gschwend, Scaling Lower Court Opinions (February 1, 2019), abrufbar unter: https://ssrn.com/abstract=3131833. 27 Dyevre/Lampach, The Review of International Organizations 2020, https://doi.org/10.1007/ s11558-020-09391 – 0. 28 Pars pro toto: Arnull, in: Dickson/Eleftheriadis (Hrsg.), Philosophical Foundations of European Union Law, 2012. 18
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Netzwerkanalysen hat sich in diesem Kontext als vielversprechend erwiesen, weil es ihm gelingt, neue Perspektiven zu eröffnen, die sich nicht in der Rekonstruktion von Argumentationsfiguren erschöpfen.29 Da Verfassungsgerichte in besonderer Weise auf die „Kraft des Arguments“ angewiesen sind, versuchen diese nicht selten, eigene Entscheidungen durch Verweise auf die Rechtsprechung anderer (Verfassungs-)Gerichte zu untermauern. Verfassungsgerichte „antworten“ mithin auf gerichtliche Entscheidungen, indem sie die vorgebrachten Argumente übernehmen oder ablehnen – und die eigene Argumentation bietet selbst wiederum die Möglichkeit zur Rezeption und damit zur Fortsetzung eines intergerichtlichen Dialogs. Allerdings sind die Kanäle dieses Dialogs bereits in den einzelnen Rechtsprechungsfeldern auch für den Experten oftmals nur schwer zu überschauen – und für den Laien bleiben diese nahezu undurchdringbar. Hier setzt u. a. das Projekt „European Constitutional Court Network“ (ECCN) an,30 das die Netzwerkanalyse zur Visibilisierung komplexer Beziehungen nutzt, um die vertikalen und horizontalen Referenzstrukturen des judiziellen Dialogs nachzuzeichnen. Dadurch werden nicht nur die Verästelungen der Rechtsprechung anschaulicher; auch die Bedeutung von Argumenten und deren Rezeption wird durch diese Analysetechnik transparenter. Überdies bietet deren Einsatz Aufschluss über die Autorität der Verfassungsgerichte untereinander sowie über den Eigenstand und die Innovationskraft für die nationale Rechtsentwicklung im Mehrebenensystem der EU. (3) Vermessung gerichtlicher Macht: Der dritte Schwerpunkt richtet sich auf die Analyse der Rolle von Verfassungsgerichten im Konzert mit den hauptsächlichen politischen Akteuren. Während die Rechtswissenschaft typischerweise die maßgeblichen Linien dieser besonders politikträchtigen Rechtsprechung dogmatisch beschrieben und bewertet hat, bleiben doch die Fragen zur Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Beziehung zur Politik weitgehend offen. Und die Befunde, die sich für die einzelnen Politikfelder zusammentragen lassen, sind im Vergleich zum Gesamtkorpus oftmals einzelfallbezogen und im Kern impressionistischer Art. Weiterführend ist daher die Anwendung eines Index zur Messung der Stärke verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, der in jüngster Zeit im Kontext des JUDICON-Projekts entwickelt worden ist und der auf diesem Gebiet einen Durchbruch zur empirischen Machtanalyse von Verfassungsgerichten darstellt.31 Erste Ergebnisse liegen für einzelne Verfassungsgerichte vor,32 darunter auch für das Bundesverfassungsgericht.33 Und diese Ergebnisse lassen erwarten, dass eine vergleichende Kartographie für die Verfassungsgerichtsbarkeit im gesamteuropäischen Kontext sowohl für die Nachhaltigkeit der judiziellen Governance als auch für die Rolle als Policy-Maker aufschlussreich sein wird. 29 Siehe hierzu jüngst Coupette, Juristische Netzwerkanalyse, 2019. 30 https://eccn.at/. 31 Pócza/Dobos/Gyulai, German Law Journal 18(6) 2017; Lembcke, in: Reutter (Hrsg.), Landesverfassungsgerichte, 2017, S. 389 ff. 32 Pocza (Hrsg.), Constitutional Politics and the Judiciary, 2018. 33 Lembcke, in: Pocza (Hrsg.), Constitutional Politics and the Judiciary, 2018, S. 61 ff. Recht und Politik, Beiheft 5
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2. Konstitutionalismusforschung Der „turn to constitutionalism“34 ist inzwischen auch in der Politikwissenschaft angekommen. Die Krisenszenarien vom Ende, der Erosion oder dem Sterben der liberalen Demokratie haben die Diskussion um das Verhältnis von Demokratie und Konstitutionalismus neu entfacht. Ausgangspunkt sind dabei einerseits Diagnosen, wonach sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene die Entstehung eines demokratiearmen Global Constitutionalism beobachtet werden kann, der zwar Individualrechte durch nicht-majoritäre Institutionen umfassend schützt, jedoch nur um den Preis einer Schwächung demokratischer Selbstbestimmung.35 Andererseits offenbart der Blick auf autoritäre Systeme, dass eine zumindest rudimentäre Form des Konstitutionalismus auch ohne Demokratie und Gewaltenbegrenzung funktionieren kann.36 Angesichts dessen weicht die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von liberalen Demokratien als legitimatorisches Fundament betrachtete „Gleichursprünglichkeit“ (Habermas) von Konstitutionalismus und Demokratie zunehmend der Erkenntnis, dass die herrschaftsstabilisierende Funktion von Verfassung und Recht sowohl auf internationaler als auch auf nationalstaatlicher Ebene ohne Demokratie zu haben ist. Im Kontext des AK stellte die Tagung zu den Grenzen der Verfassung an der HU Berlin 2016 den Auftakt dar, die das Thema in vier Dimensionen diskutierte, nämlich hinsichtlich Grenzen der Verfassunggebung, Grenzen der Präzision und Effektivität, Grenzen der Legitimität sowie nationaler Grenzen.37 Während dabei staatliche Verfassungen im Vordergrund standen, widmete sich zwei Jahre später eine Tagung an der Uni Erfurt dem Global Constitutionalism und den Herausforderungen demokratischer Ordnungen. Im Mittelpunkt der Tagung stand diesmal die Beobachtung einer weitgehend unpolitischen Entstehung von Ordnungszusammenhängen auf globaler Ebene durch internationale Verrechtlichung und die unbeantwortete Frage ihrer demokratischen Legitimation. Nachdem hier auf suprastaatlicher Ebene die Selbstvergewisserung über den demokratischen Konstitutionalismus angestrengt wurde, wendet sich der Arbeitskreis in einem dritten Schritt der ambivalenten Bedeutung von Konstitutionalismus in nichtdemokratischen Kontexten zu. Mit dem Thema Autocratic Constitutionalism, das 2021 Gegenstand einer Tagung des Arbeitskreises werden soll, wird der Arbeitskreis die (rechts‐)vergleichende Diskussion über Begriff, Bedeutung und Funktionsweise von Verfassungen im Kontext autoritärer Systeme eröffnen. Dabei ist deutlich geworden, dass unser herrschendes Verständnis des Konstitutionalismus selbst blinde Flecken aufweist, die im Moment der Infragestellung deutlich hervortreten. So ist der Blick auf das Verhältnis von Politik und Konstitutionalismus besonders durch das liberale Paradigma der Begrenzung präformiert. Demnach ist es die 34 Stone Sweet, Indiana Journal of Global Legal Studies 2009, S. 621 ff. 35 Frick, in: Anter/Frick (Hrsg.), Politik, Recht und Religion 2019; Frick/Lembcke, in: Hein/ Petersen/von Steinsdorff 2018. 36 Fruhstorfer/Frick, ZfP 2019, S. 384 ff. 37 Hein/Steinsdorff/Petersen (Fn. 2), S. 8. 20
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zentrale Aufgabe der Verfassung, die Politik in Schach zu halten und ihr verbindliche Grenzen zu setzen bzw. sie an objektive Prinzipien und Grundrechte zu binden. Nun liegt die liberaldemokratische Bedeutung der Verfassung unbestrittenermaßen in ihrer Funktion, Schranken der Politik zu setzen und auf diese Weise Grundrechte der Individuen zu gewährleisten. Aber darin erschöpft sie sich nicht. In der Überbetonung rechtlicher Grenzziehungen kommt vielmehr ein reduktionistischer Blick auf den Zusammenhang von Konstitutionalismus und Politik zum Ausdruck. Denn eine der Kernaufgaben der Verfassung besteht darin, die institutionellen Bedingungen zu gewährleisten, unter denen Politik ihre schöpferische Kraft entfalten kann. Auszugehen ist also vielmehr von der ordnungstheoretischen Doppelfunktion des Rechts, nämlich Politik zu begrenzen und zugleich aber überhaupt erst zu ermöglichen. In dieser Perspektive tritt deutlich die politische Grammatik des modernen Rechts selbst hervor, deren Wesen darin besteht, politischer Handlungsmacht Raum zu geben.38 Und dieser „machtbildende Charakter“ (Hermann Heller) des Rechts muss nicht von Vornherein auf demokratische Politik begrenzt sein. Das zeigt sich zugespitzt auf der notorisch um Legitimität ringenden suprastaatlichen Ebene. Hier wird bereits seit längerem ein „growing drift between law and democracy“39 registriert. Gemeint sind damit internationale Konstitutionalisierungsprozesse, die in der Regel eine große juristische Sensibilität und Stringenz aufweisen, deren demokratische Legitimation aber bislang prekär geblieben ist. Die Entwicklung verlaufe „in favour of a liberal model that emphasizes the rule of law over democratic concerns“.40Aus demokratietheoretischer Perspektive ist an der suprastaatlichen Konstitutionalisierung besonders problematisch, dass die für den Aufstieg des modernen Konstitutionalismus wirkmächtige Verbindung von Verfassung und politischer Selbstbestimmung dabei in den Hintergrund tritt. Die Grundidee des modernen Konstitutionalismus ist es, Recht und politische Ordnung auf die politische Selbstbestimmung des pouvoir constituant zu gründen und diese Idee in Gestalt des Verfassungsrechts zu institutionalisieren. Der Konstitutionalismus geht von der Machbarkeit politischer Ordnung aus, Recht und Ordnung werden nicht vorgefunden, sondern beruhen auf aktiver politischer Setzung. Daraus bezieht das Recht seine Autorität und Legitimität. Doch es ist zweifelhaft, ob die Argumentation mit der constituent power allein ein tragfähiger Ansatz ist, die demokratischen Lücken der internationalen Verrechtlichung zu adressieren.41 Wird hier doch die Existenz eines Subjekts behauptet, das über ordnungsstiftende Macht verfügt, ohne selbst einer institutionellen Einhegung zu unterliegen – und damit ein ordnungstheoretisches Paradox aus dem nationalstaatlichen 38 Stephen Holmes hat die Dynamik von Verfassungen als „enabling constraints“ instruktiv beschrieben; vgl. Holmes, in: Rosenfeld/Sajó (Hrsg.) (Fn. 3), S. 193. 39 Dobner, in: Dobner/Loughlin (Hrsg.), The Twilight of Constitutionalism?, S. 142. 40 Krisch, International Journal of Constitutional Law 2016, S. 678. 41 Die Zweifel richten sich u. a. gegen Patberg, Usurpation und Autorisierung, 2018. Recht und Politik, Beiheft 5
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Kontext nur auf die internationale Ebene transferiert. Mögen im nationalen Maßstab die sogenannten Freiheitsrevolutionen Ende des 18. Jahrhunderts noch eine Art Blueprint liefern, bleibt doch auf internationaler Ebene offen, welchen Realitätsgehalt die Figur der constituent power besitzt bzw. besitzen kann. Nichtsdestoweniger ist die Frage nach der konstituierenden Gewalt im Global Constitutionalism nicht obsolet. Demgegenüber erscheint es vielversprechender, nach institutionellen Antworten auf das Problem der Demokratisierung der internationalen Verrechtlichung zu suchen – eine Perspektive, die sich für die politikwissenschaftliche Rechtsforschung wiederholt als erkenntnisaufschließend erwiesen hat. Die Frage nach der constituent power könnte sowohl an analytischer als auch an kritischer Zugkraft gewinnen, würde man die Perspektive verändern und die ordnungsstiftende Kraft nicht dem messianischen Moment des sich erhebenden Volkes überlassen, sondern jenen reformerischen Rupturen innerhalb der konstituierten Institutionen, die das Ziel haben, die etablierten Spielregeln zu verändern. Auf den ersten Blick mag das wie eine neuerliche Usurpation von institutioneller Macht erscheinen. Und in der Tat sind solche Rupturen eine ambivalente Angelegenheit: In ihnen steckt immer auch ein Akt der Selbstermächtigung, der Aneignung nicht-autorisierter öffentlicher Gewalt. Zugleich aber können diese Akte in demokratisierender Weise wirken – und gerade auf solche Rupturen kommt es an. Das ist immer dann der Fall, wenn etablierte Institutionen die intergouvernementalen Spielregeln zugunsten inklusiver, partizipativer und responsiver Akteure zu ändern versuchen. Man denke hier etwa an die EuropaRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Ziel der Stärkung des Parlamentarismus oder an das Phänomen der sogenannten ,strategic litigation‘, also der gezielten Klageführung Einzelner, meist unterstützt durch NGOs oder Interessengruppen, um auf dem Weg gerichtlicher Entscheidungen politische Veränderungen anzustoßen. Hier offenbaren sich politische Mobilisierungspotenziale des Rechts, denen die Rechtswissenschaft weitgehend sprachlos gegenübersteht.
IV. Ausblick Das Recht ist mehrdeutig; es ist ebenso interpretationsoffen wie interpretationsbedürftig. Die Normativität erschließt sich nicht durch Deduktion, sondern durch Interpretation – wodurch die Normativität selbst zum Problem werden kann: Ist das Recht beliebig dehnbar oder nur in bestimmten Grenzen? Und wie stark sind die institutionellen Restriktionspotentiale des Rechts? Fragen wie diese verdeutlichen die Notwendigkeit einer theoriegeleiteten Akteursperspektive, die den Arbeitskreis aller Voraussicht begleiten wird. Im Konzert der unterschiedlichen Theorieparadigmen erscheinen gerade die (neo‐)institutionalistischen Ansätze geeignet, weiterführende Perspektiven zu liefern, weil diese im Vorgang der Interpretation typischerweise ein zentrales Bindeglied zwischen Institutionen im Sinne von Regeln, Frames oder Leitideen und dem (angemessenen) Handeln kollektiver und individueller Akteure sehen. In-
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stitutionen wie das Recht sind konstitutiv für Akteure und ihr Handeln – sie helfen bei der Sinnstiftung und wirken handlungsanleitend, aber nicht determinierend. Der hierfür wichtige Vorgang der Interpretation lässt den Interpreten – lies: Akteuren – immer auch eine gewisse Wahlfreiheit. Diese fällt situativ und akteursspezifisch unterschiedlich aus, je nachdem ob Interpretation stärker institutionell geprägt ist, z. B. durch Präjudizien, Tradition, herrschende Lehre, Leitideen, Narrative, Vorbilder oder auch soziale Herkunft, Prägung und Ausbildung oder ob Interpretation stärker individualistisch durch Präferenzen, Nutzenkalkül, differierende Situationswahrnehmung geprägt ist. Zwischen diesen beiden Polen der institutionellen „embeddedness“ und der individualistischen Prägung von Interpretation entscheiden sich die Disponibilität und Bindungskraft rechtlicher Regeln ebenso wie die Sicherheit oder Unsicherheit von Interpretationen und damit auch die Dynamiken der Rechtswirkung, Rechtsanwendung und Rechtsimplementation. Solche Spielräume „existieren“ jedoch nicht einfach, sondern eröffnen sich durch eine interpretative Selbstermächtigung der Interpreten, die in diesen Fällen zu politischen Akteuren werden. Diese Akte der Selbstermächtigung sind typischerweise umso umstrittener – und dadurch „politischer“ –, je offener sie zutage treten. Denn sie offenbaren etwas, was die Politik allgemein kennzeichnet: dass der Kampf nach den Regeln des Rechts, stets auch ein Kampf ums Recht ist. Dieser Kampf ums Recht gehört in der pluralistischen Demokratie zum Alltag. Denn Recht ist nicht nur Begrenzung, sondern auch Gestaltungsinstrument der Politik. Politische Programme und Inhalte müssen erst im parlamentarischen Verfahren in Gesetze gegossen werden, bevor sie sodann als wiederum rechtliches Handlungsinstrument der Regierung an die Hand gegeben werden. Dass sich im inner- und außerparlamentarischen Verfahren der Rechtsetzung unvermeidlich die politischen Auseinandersetzungen um Inhalte und Programme spiegeln, ist also keine Pathologie, sondern demokratische Normalität. Die Relevanz dieser Einsichten wird sich erweisen im Horizont der nächsten Themen, die der Arbeitskreis bearbeiten wird. Es zeichnet sich ab, dass neben den beiden „Standbeinen“ der Bundesverfassungsgerichts- und Konstitutionalismusforschung eine stärkere Policy-Ausrichtung ansteht, die sich entlang der drei ,M‘ vollziehen könnte: Migration, Minderheiten, Menschenrechte. Den Auftakt dazu bildet im Februar 2021 ein Workshop an der HU Berlin zum Thema „Politik und Recht im Kontext von Asyl und Migration: Interdisziplinäre Perspektiven“. Die politische Ordnung der Migration kann nicht verstanden werden ohne eine Berücksichtigung der Steuerungswirkung des Rechts. Wer wie lange und ausgestattet mit welchen Rechten und Pflichten in einem Zielland verbleiben darf, wird entlang eines komplexen Gesetzeswerks beantwortet. Trotz der Relevanz der Rolle des Rechts und seinen Institutionen bei der Entwicklung und Umsetzung von Asyl- und Migrationspolitik wird das positive Recht weitgehend separat und monodisziplinär behandelt; integrative Ansätze zwischen Sozial- und Rechtswissenschaften sind die Ausnahme. Gerade die Erforschung von Asyl- und Migrationsrecht erfordert aber eine interdisziplinäre Herangehensweise, weil sich schnell wandelnde politische und gesellschaftliche Recht und Politik, Beiheft 5
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Realitäten starken Einfluss auf das Recht nehmen – gewissermaßen ein idealer Startpunkt, um Recht politikwissenschaftlich zu erforschen.
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I. PHÄNOMENE DER POLITISIERUNG DES RECHTS Hinter Peking, aber locker vor Pjöngjang. Das deutsche Riesenparlament und die überfällige Reform des deutschen Wahlrechts* Von Oliver W. Lembcke, Bochum und Frank Heber, Erfurt „Gegen diese Anordnung spricht aber die mitunter ungeheure Vermehrung der Mandate.“ Siegfried Geyerhahn, Student der Rechtswissenschaften, zum Modell der Ausgleichsmandate, Wiener Staatswissenschaftliche Studien 1902
I. Berlins politischer Blähbauch Das Meinungsforschungsinstitut INSA sowie die Website „Mandatsrechner.de“ berechnen regelmäßig auf Grundlage aktueller Umfragen die zu erwartende Anzahl an Sitzen im Bundestag. So prognostizierte etwa INSA Ende vorletzten Jahres einen Bundestag mit 815 Abgeordneten.1 Gesetzlich vorgesehen sind nach § 1 Bundeswahlgesetz lediglich mindestens 598. Schon mit der letzten Bundestagswahl wuchs die Zahl auf 709 (von zuvor 631). Es wäre anzunehmen, dass vor diesem Hintergrund die Reform des Wahlrechts ganz oben auf der politischen Agenda steht. Aber das Gegenteil ist der Fall, wie das Anfang April letzten Jahres bekannt gewordene vorläufige Scheitern eines Reformversuches durch den Bundestag2 und der kürzlich von den Fraktionen der Union und SPD beschlossene Minimalkompromiss belegen. Wo liegt das Problem? Wie so oft führt der Weg zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe. Mit seinem Urteil im Jahr 2008 hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgetragen, das Problem des „negativen Stimmgewichts“ zu beseitigen, und ihn aufgefordert, „das für den Wähler kaum noch nachvollziehbare Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung […] auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen“.3 *
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Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Artikel für verfassungsblog.de (Lembcke/Heber, VerfBlog, 04. 12. 2018, https://verfassungsblog.de/vertagt-verdraengt-verfassungswidrig-wieder-bundestag-sich-um-eine-ueberfaellige-reform-des-wahlrechts-drueckt/ ) und wurde neben einer Reihe inhaltlicher Ergänzungen und Erweiterungen auf den aktuellen Stand der politischen Entwicklungen gebracht. Sieben, Der Westen, 02. 11. 2018, https://www.derwesten.de/politik/bundestagswahl-umfra ge-afd-spd-cdu-merkel-id215708469.html, Abruf am 05. 09. 2019. Vgl. Spiegel online, 03. 04. 2019, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestag-wahl rechtsreform-vorerst-gescheitert-a-1261066.html, Abruf am 05. 09. 2019. BVerfGE 121, 266, 316.
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Duncker & Humblot, Berlin
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Was folgte, war – bei allem Respekt vor dem deutschen Parlament – ein Trauerspiel. Der erste Reparaturversuch, den (letztlich) die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung zu verantworten hatte, verschlimmerte noch das Problem des negativen Stimmgewichts und unternahm nichts gegen das Phänomen der Überhangmandate (…und dabei hatte doch niemand die Absicht, nur Dank Überhang zu regieren…). Erwartungsgemäß kassierte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) diese Reform und stellte zudem klar, dass die Überhangregelung den Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl nicht aufheben dürfe.4 Der Kompromiss, auf den sich anschließend (fast) alle Fraktionen verständigen konnten, brachte die gegenwärtige Lage hervor:5 Seitdem ist das negative Stimmgewicht durch eine Änderung des Berechnungsverfahrens beseitigt; und die Überhangmandate werden voll ausgeglichen. Allerdings kann die Zahl an Ausgleichsmandaten, wie nun geschehen, in die Höhe schießen. Im Ranking der Größe nationaler Parlamente rangiert der Bundestag aktuell auf Platz zwei – hinter der Volksrepublik China. Mit der Reduzierung des Europäischen Parlaments auf 705 Sitze nach Vollzug des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ist der Bundestag dann auch an Straßburg vorbeigezogen. Das Wahlrecht selbst ist vollends unverständlich geworden und von Normenklarheit weit entfernt. Der einschlägige § 6 BWahlG hat mit seinen gut zwei Dutzend Querverweisen, die sich auf sieben Absätze verteilen, eine Gestalt monstro simile erhalten. „Verständlich“, wie es die Verfassungsrichter anmahnen, muss keineswegs „einfach“ bedeuten. Bereits die Kombination aus Mehrheits- und Verhältniswahl, die vom Gericht zu keiner Zeit in Frage gestellt worden ist, bringt unvermeidbar eine gewisse Komplexität mit sich. Entscheidend ist jedoch, ob der Wähler die Wirkungen seiner Stimmabgabe sowie die Zusammensetzung des Ergebnisses nachvollziehen kann. Das negative Stimmgewicht widersprach dieser Anforderung offensichtlich (neben den anderen gravierenden verfassungsrechtlichen Problemen). Aber Gleiches gilt für die gegenwärtige Konstruktion von Überhang und Ausgleich, ist sie doch in ihrer Wirkungslogik inkonsistent.6 Schließlich kann eine Partei, die Stimmen verliert, über die Ausgleichsmandate, die sie für die Überhangmandate einer anderen Partei bekommt, per Saldo ihren Verlust wiedergutmachen oder sogar ein Plus an Sitzen erlangen. Ob die Wählerinnen und Wähler diese Wirkungsweise verstehen können, ist die eine Frage. Ob sie es auch wollen, die zweite. Dagegen spricht, dass auf diese Weise der Sanktionscharakter einer Wahl ausgehöhlt zu werden droht, worauf Jesse und Decker bereits zu Recht hingewiesen haben.7 4 5 6 7
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BVerfGE 131, 316, 316. Seils, http://www.bpb.de/politik/wahlen/bundestagswahlen/163311/das-neue-wahlrecht, Abruf am 05. 09. 2019. Grotz, in: Oppelland (Hrsg.), Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimität und politischer Funktionalität, 2015, S. 65 ff. Vgl. Jesse/Decker, Frankfurter Rundschau, 13. 11. 2017, https://www.fr.de/meinung/verklei nert-endlich-parlament-11003033.html, Abruf am 05. 09. 2019. Recht und Politik, Beiheft 5
Hinter Peking, aber locker vor Pjöngjang
Aber ist Gelassenheit nicht eine politische Tugend, zumal im Wahlrecht? Grundsätzlich ja, in der vorliegenden Frage jedoch nicht, denn das Problem dürfte sich weiter verschärfen. Einen Ansatzpunkt dafür liefert der Parteienforscher Peter Mair. Er hat u. a. auf zwei grundsätzliche Strategien innerhalb der Wählerschaft aufmerksam gemacht: Die einen verfolgen das (instrumentelle) Ziel, die Regierung zu bestimmen, die anderen das (expressive) Ziel, die in ihren Augen programmatisch richtig aufgestellte Partei zu unterstützen.8 In Deutschland wird vor allem seit den neunziger Jahren verstärkt expressiv gewählt, wofür die Verhältniswahl einen Anreiz bietet. Eine Folge davon ist, dass der Grad an Fragmentierung des Parteiensystems zunimmt: Kleine Parteien wachsen, neue Parteien etablieren sich, Volksparteien schrumpfen. Gleichwohl sind es immer noch die (vormaligen) Volksparteien, die nahezu ausnahmslos alle Direktmandate gewinnen,9 und zwar auch deswegen, weil unter den Bedingungen der relativen Mehrheitswahl ein hoher Anreiz für instrumentelle Wahlmotive besteht. Der Verlust von Zweitstimmen – und damit aufgrund der Verhältniswahl auch Sitzanteilen – geht aufgrund des relativen Mehrheitswahlrechts bei den Direktmandaten nicht in vergleichbarem Ausmaß mit einem Verlust von Direktmandaten einher. Diese Asymmetrie zwischen Erst- und Zweitstimme wird sich in absehbarer Zeit nicht grundlegend ändern. Vielmehr steht zu befürchten, dass der Bundestag seinen zweiten Platz im Größen-Ranking der nationalen Parlamente nicht nur verteidigen, sondern mehr noch seinen Vorsprung ausbauen wird. Das größte Problem ist der sogenannte „bayrische Hebel“. Da die CSU nur in Bayern antritt, verursachen ihre Überhangmandate besonders viele, oftmals jeweils über ein Dutzend Ausgleichsmandate.10 Bei einer Betrachtung der Hauptakteure kommt man nicht um die Feststellung herum, dass der Deutsche Bundestag eine überfällige Reform seit mittlerweile über zehn Jahren verschleppt. Seine Unwilligkeit zeugt von einem ausgeprägten Strukturkonservatismus an der Spree, für dessen Erklärung sich leider Gründe aufdrängen, mit denen sich Politik- und Parteienverdrossenheit leicht nähren lässt. Es geht um Ressourcenbeschränkung, die zweifellos auch die „eigenen Leute“ treffen würde. Wer im Bonbonladen Diät machen will, hat es schwer. Wen wundert’s, dass Wolfgang Schäubles im Frühjahr 2018 eingerichtetes und vertraulich tagendes „Konklave“11 ohne Ergebnis die Arbeit beendet hat. Dabei stellte der Bundestagspräsident schon in Aussicht, die Reform könne auch erst bei der übernächsten Wahl in Kraft treten, um den Parlamen-
8 Mair, On Party, Party Systems and Democracy, 2014, S. 584. 9 Wenngleich dieser Entwicklung realpolitisch absolute Grenzen gesetzt sind, da nach aktuellen – wenn auch mit Vorsicht zu genießenden Umfragewerten – eine Reihe von Wahlkreissiegen der Grünen wie auch der AfD zu erwarten wären. 10 Behnke, Katapult-Magazin 6 (2017), https://katapult-magazin.de/de/artikel/artikel/fulltext/ das-explosive-potential-des-aktuellen-wahlsystems/, Abruf am 10. 11. 2019. 11 Vgl. Funk/Pukelsheim, Der Tagesspiegel, 10. 01. 2019, https://www.tagesspiegel.de/politik/ reform-des-wahlrechts-schaeubles-konklave-muss-liefern/23850390.html, Abruf am 10. 11. 2019. Recht und Politik, Beiheft 5
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tariern eine für sie schmerzliche Reform abzuringen.12 Vor dem Hintergrund der anfangs präsentierten Zahlen verbieten sich derartige Überlegungen eigentlich. Sobald das Unglück von 800 (plus) Sitzen über das politische Berlin hereinbricht,13 werden sie den Abgeordneten als das ausgelegt werden, was sie sind: Ausflüchte und Tricksereien. Eine öffentliche Diskussion darüber kann schnell eine verheerende Wirkung für die Parteien zur Folge haben (etwa unter dem Stichwort „Selbstbedienungsmentalität“) – auszunehmen wären davon vermutlich nur (Rechts‐)Populisten, die sich von der Politik- und Parteienunzufriedenheit nähren, auch wenn sie vom gegenwärtigen Zustand genauso profitieren. Mittlerweile formiert sich der Problemdruck von außen, aber ob er ausreicht, um fehlende Reformanreize zu ersetzen, bleibt abzuwarten. Verwandte Politikfelder wie die Parteienfinanzierung und der Länderfinanzausgleich stimmen dabei eher skeptisch. Und ob das Bundesverfassungsgericht, sofern es überhaupt auf dem Klageweg gefragt werden würde, gewillt ist, die verfassungsrechtlichen Daumenschrauben ein weiteres Mal anzuziehen, steht ebenso in den Sternen.
II. Bestehende Reformvorschläge Den Reformvorschlägen aus Politik und Wissenschaft in jüngerer Zeit ist gemein, dass sie versuchen, sich der Problematik des Überhangs auf verschiedener Art und Weise zu entledigen. Eine Bewertung der Qualität jedweder Vorschläge muss anhand ihrer positiven wie negativen Nebenwirkungen erfolgen. Eine glatte Halbierung der Wahlkreiszahl in Verbindung mit Zweier-Wahlkreisen oder eine einfache Verringerung der Anzahl der Wahlkreise,14 wahlweise verbunden mit einer Verschlankung des sperrigen Berechnungsverfahrens,15 sind zwar geeignet, den Überhang signifikant und effektiv zu reduzieren, jedoch ebenso dazu, die Bindung zwischen Wählern und Gewählten erheblich zu schwächen. Denn eine Verringerung der Wahlkreiszahl hat nicht nur eine Reduzierung der Kandidatenzahl zur Folge, sondern im Umkehrschluss auch eine Vergrößerung des Wahlkreisgebiets, wodurch sich zugleich die Zahl an Bürgerinnen und Bürgern pro direkt gewähltem Abgeordneten erhöht. Allen voran im dünn besiedelten Nordosten der Bundesrepublik würden Wahlkreise nahezu absurde Dimensionen annehmen. Bereits jetzt ist der größte Wahlkreis Deutschlands drei Mal so groß wie das Saarland.16 Die grundlegende 12 Vgl. Funk, Der Tagesspiegel, 24. 10. 2018, https://www.tagesspiegel.de/politik/wahlrechtfuer-den-bundestag-auf-dem-weg-zum-riesenparlament/23223708.html, Abruf am 05. 09. 2019. 13 Pukelsheim, ZParl 2019, S. 469 ff. 14 Behnke, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Reform des Bundestagswahlsystems, 2017, S. 162. 15 Pukelsheim, DVBl 2017, S. 153 ff.; Hesse, Spiegel online, 21. 01. 2019, https://www.spiegel.de/ politik/deutschland/wahlrecht-wie-der-bundestag-kleiner-werden-koennte-a-1248504.html, Abruf am 10. 11. 2019; Pukelsheim (Fn. 13), S. 472. 16 Lehmann, Zeit online, 26. 06. 2019, https://www.zeit.de/2019/27/bundestag-abgeordnetekosten-legislaturperiode-parlament, Abruf am 11. 11. 2019. 28
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Funktion der Wahlkreise, die Bürgernähe mindestens eines Teils der Abgeordneten zu gewährleisten, würde ad absurdum geführt. Thomas Oppermanns Variante mit 120 paritätisch zu besetzenden Doppelwahlkreisen17 mag gleichstellungspolitisch gut gemeint sein, macht aber bei der Verhinderung von Überhang gleich wieder eine Rolle rückwärts. Denn das Gros der Wahlkreise würden von Kandidat und Kandidatin der gleichen Partei gewonnen werden – eine Art Siegprämie mit negativer Wirkung in der Überhangproblematik.18 Unbedingt zuzustimmen ist dem FDP-Vertreter Ruppert, dass es bei der Reform um die „Glaubwürdigkeit der repräsentativen Demokratie“19 geht. Ein halbes Jahr nach dem Scheitern der Wahlrechtskommission haben FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt.20 Dieser sieht neben der Reduzierung der Wahlkreiszahl von 299 auf 250 eine Erhöhung der Sollgröße von 598 auf 630 vor, außerdem sollen Überhangmandate zunächst von der betroffenen Partei intern kompensiert, das heißt zulasten von Listenmandaten anderer Landesverbände verrechnet werden. Dieser Vorschlag zeigt, dass die drei Oppositionsparteien von einer bloßen Reduzierung der Wahlkreiszahl allein keine ausreichende Reduzierung des Überhangs erwarten. Gegen den Aspekt der internen Kompensation ist an sich wenig einzuwenden, solange dessen Anwendung im Ausmaß gering bleibt und kein Landesverband einer Partei bei der Mandatsvergabe verwaist. Einen alten Vorschlag der Grünen-Bundestagsfraktion,21 den sich kürzlich die AfDBundestagsfraktion zu eigen gemacht hat,22 greift Hans Meyer auf.23 Zwar bewertet er das Modell von Albert Funk, der die Wahlkreissieger durch parteiinterne Listen der Wahlkreisbesten ersetzen möchte, zutreffend als dysfunktional. Denn dieses Vorhaben schließt zwar Überhang aus, verwandelt jedoch den Wahlkreiswettbewerb in einen parteiinternen Wettbewerb, bei dem überdies lokale Kräfteverhältnisse bestimmten Kandidaten einen Vorteil verschaffen. Darüber hinaus sind irritierende Ergebnisse nicht ausgeschlossen, bei denen der (eigentliche) Wahlkreissieger leer ausgeht, während unterlegene Kandidaten kleiner(er) Parteien dank parteiinternen Vorsprungs den Sitz erhalten. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass Meyer den Vorschlag der Eli17 Jungholt/Oppermann, Welt, 16. 01. 2019, https://www.welt.de/politik/deutschland/artic le187141442/Thomas-Oppermann-Bundestag-muss-kleiner-und-weiblicher-werden.html, Abruf am 10. 11. 2019. 18 Funk, Der Tagesspiegel, 27. 01. 2019, https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestag-undwahlrecht-verlaesslich-kleiner-verlaesslich-weiblicher/23915806.html, Abruf am 10. 11. 2019. 19 Ruppert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06. 10. 2010, https://www.faz.net/aktuell/politik/ staat-und-recht/gastbeitrag-das-wahlrecht-behutsam-aendern-1626819.html, Abruf am 11. 11. 2019. 20 Deutscher Bundestag, Drucksache 19/14672, 6. 11. 2019. 21 Deutscher Bundestag, Drucksache 17/4694, 9. 2. 2011. 22 Vgl. Glaser, https://www.afdbundestag.de/glaser-wer-blockiert-eine-reform-des-wahlrechtszum-deutschen-bundestag, Abruf am 10. 11. 2019. 23 Meyer, AöR 2018, S. 521 ff. Recht und Politik, Beiheft 5
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minierung der schwächsten Direktwahlsieger unterstützt, ist es doch nicht viel mehr als das geringere Übel zum Funkschen Kahlschlag bei der Mehrheitswahl. Meyer bietet zwei Varianten an, die beide jedoch ihre Schwächen haben: Bei der Bundeslösung würde, ähnlich dem Modell der internen Kompensation, den bundesweit schwächsten Wahlkreissiegern bei Überhang ihrer Partei das Mandat verwehrt. Bei der nach Bundesländern getrennten Lösung könnte dagegen Funks Problem auftreten, nämlich dass ein Direktkandidat aufgrund des zu eliminierenden Überhangs leer ausginge, während ein anderer mit geringerem Stimmanteil (in diesem Fall derselben Partei und in einem anderen Bundesland) sein Direktmandat erhält. Rechtlich wohl zumindest in der Variante der Bundeslösung unproblematisch, ist es weit entfernt von jeder politischen Mehrheit. Meyers Anmerkung, es seien am Beispiel der Wahl 2017 lediglich 46 Direktmandate betroffen gewesen (das bedeutet übersetzt, etwa jedes sechste Direktmandat wäre eliminiert worden), erscheint nahezu euphemistisch. Den letztgenannten wie allen ähnlich gearteten Vorschlägen ist gemein, dass sie im Wesentlichen nichts am Abstimmungsmodus, wohl aber am Entscheidungsmodus ändern. Dies würde bedeuten, dass das ursprüngliche, nach heutigem Recht erreichte Ergebnis weiter erkennbar wäre. Folglich wäre bereits am Morgen nach der Wahl aus den Ergebnistabellen in der hiesigen Lokalzeitung abzulesen, wer den Wahlkreis gewonnen hätte. Dieses Defizit gilt es zu vermeiden. Könnte ein Befreiungsschlag durch das Streichen der Erststimme erreicht werden?24 Ein Beweggrund für diesen Reformvorschlag ist die (berechtigte) Auffassung, dass die Personenstimme – allen Beteuerungen der Unionsfraktion und Teilen der SPD zum Trotz – im geltenden Wahlrecht mehr Schein als Sein ist und nur in den wenigsten Fällen reale Auswirkungen im demokratischen Wettstreit entfaltet.25 Eine Erhebung des Instituts Pollytix von 2018, wonach etwa die Hälfte der Bevölkerung weder Erst- noch Zweitstimme richtig zuordnen kann26, scheint dies ebenso zu bestätigen wie eine aktuelle Studie über die (ausbleibende) Nutzung des Stimmensplitting als eine Form expressiven Wählens27. Dieser Umstand ist jedoch eng verknüpft mit dem Entscheidungsmodus der relativen Mehrheit, der Kandidaten der lokal vorherrschenden Partei, wie oben bereits angedeutet, einen erheblichen Vorteil verschafft und den Effekt einer Personenwahl im Ergebnis erheblich mindert. In beiden Fällen, sowohl bei Verringerung der Wahl24 Vgl. Morlok, in: Oppelland (Hrsg.), Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimität und politischer Funktionalität, 2015, S. 102 f.; Decker, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Reform des Bundestagswahlsystems, 2017, S. 97 f.; Behnke, ZParl 2019, S. 630 ff. 25 Schönberger, VerfBlog, 05. 04. 2019, https://verfassungsblog.de/auf-dem-weg-zum-nationalenvolkskongress-warum-die-geschichte-der-personalisierten-verhaeltniswahl-auserzaehlt-ist/, Abruf am 10. 11. 2019. 26 Vgl. Pollytix, http://pollytix.eu/pollytix-umfrage-offenbart-wissensluecken-zum-wahlsystem/, Abruf am 10. 11. 2019. 27 Fürnberg, ZParl 2019, S. 494 ff. 30
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kreiszahl als auch der Zusammenlegung der Stimmen, würde das personale Element weiter ausgehöhlt werden – und mit ihm sowohl die Responsivität der Abgeordneten gegenüber der Wählerschaft im Wahlkreis als auch das Vertrauen der Bürger in „ihre“ Abgeordneten vor Ort. Demgegenüber wird hier die Auffassung vertreten, dass gerade in Zeiten zunehmender öffentlicher Polarisierung der Bindung zwischen Wählern und Gewählten eine besondere Bedeutung zukommen sollte.
III. Die absolute Mehrheitswahl mit integrierter Stichwahl Der Kern des Problems ist bereits angeklungen – die Parteien gewinnen trotz teils erheblicher Stimmverluste „zu viele“ Direktmandate. Doch anstatt die Personenwahl verloren zu geben, sollte sie 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik endlich mit Leben gefüllt werden. Unser Vorschlag besteht deshalb darin, die Wahl in den Wahlkreisen auf Grundlage der Erststimme nach absoluter anstatt relativer Mehrheitswahl durchzuführen. Bekanntlich wählen die Franzosen alle Abgeordneten der Nationalversammlung nach dieser Regel.28 In der romanischen Variante wird dabei ein zweiter Wahlgang erforderlich, in dem sich die Absprachen zwischen den Parteien offenbaren, mit denen die hohe Mehrheitshürde überwunden werden soll. Kleinere Parteien erhalten dadurch eine Chance, ebenfalls Wahlkreise zu gewinnen, weil sie von den größeren Parteien, mit denen sie zuvor zusammen Wahlallianzen geschmiedet haben, als Mehrheitsbeschaffer benötigt und daher gemäß ihrem Anteil kompensiert werden. Auf diese Weise relativiert sich die Konzentration der Direktmandate auf wenige Parteien, der Umfang des Überhangs würde erheblich reduziert. Wer sich näher mit dem französischen Wahlrecht beschäftigt, wird jedoch feststellen, dass es seinerseits nicht frei von einer gewissen Willkür ist, nämlich beim Übergang vom ersten zum zweiten Wahlgang. In Frankreich genügt ein Stimmanteil von 12,5 Prozent, in anderen Systemen, etwa bei vielen Bürgermeister- und Landratswahlen, rücken nur die beiden Bestplatzierten in den zweiten Wahlgang vor. Gerade die Stichwahllösung kann jedoch bei einem breiten Kandidatenfeld und einem knappen Ergebnis im ersten Wahlgang zu einer Verfälschung führen, da möglicherweise ein drittplatzierter Kandidat in der „Endrunde“ noch den Sieg davongetragen hätte. Man könnte das Problem lösen, indem in einer Reihe von Wahlgängen jeweils der schwächste Kandidat gestrichen wird. Diese Lösung wäre allerdings unnötig aufwendig und realitätsfern. Viel einfacher und effektiver ist die Präferenzstimmgebung (auch integrierte Stichwahl genannt). Gängig ist, dass vom Wähler zwei, drei oder mehr Präferenzen vergeben werden können, prinzipiell spricht nichts dagegen, so viele Präferenzen zu vergeben, wie Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl stehen, da vom Wähler nichts anderes als einfaches Ranking verlangt wird. Um die Wahlkreissieger zu bestimmen, werden zunächst nur die Erstpräferenzen ausgezählt, um dann sukzessive die Stimmen der jeweils „schwächsten“ 28 Vgl. Ministère de l’intérieur, https://www.interieur.gouv.fr/fr/Elections/Les-elections-enFrance/Les-modalites-d-elections/Les-differents-modes-de-scrutins, Abruf am 10. 11. 2019. Recht und Politik, Beiheft 5
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Kandidaten auf die jeweils nächste Präferenz zu übertragen, bis eine absolute Mehrheit erreicht ist. Dieses Verfahren würde nicht nur zu einer gleichmäßigeren Verteilung der Direktmandate unter den Parteien mit zudem mäßigendem Effekt für den Überhang führen. Diesen Effekt legt etwa die Empirie der Wahlen zum australischen Repräsentantenhaus nahe, bei denen sich die Verteilung der Direktmandate in der Nähe der Stimmanteile der Parteien bewegt.29 Es hat überdies demokratietheoretische Effekte, die in Zeiten wachsender Polarisierung kaum anders als positiv zu bewerten sind. Denn es begünstigt erfahrungsgemäß „moderate“ Kandidaten innerhalb der verschiedenen Parteien gegenüber all jenen, die mit der Brechstange Politik machen wollen.30 Gleichzeitig würde das personale Element der Erststimme entscheidend gestärkt werden und damit auch der Anreiz für die Kandidaten, auf die Interessen des Wahlvolks einzugehen und sich dem Wahlkampf vor Ort zu stellen. Ein weiterer Reformschritt könnte sich dann auf die Einführung von Bundeslisten konzentrieren – oder, wie unlängst von Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagen und nunmehr von FDP und Linke unterstützt, auf den parteiinternen Ausgleich des Überhangs, was angesichts zu erwartender geringer Fallzahlen keine relevante regionale Verzerrung verursachen dürfte. Gegenüber dem „bayrischen Hebel“ bliebe es jedoch solange wirkungslos, wie die CSU wahlrechtlich von der Schwesterpartei getrennt ist. Zu guter Letzt: Wenn der Bundestag es erst einmal mit einem kleinen Schritt versuchen möchte, die Bedeutung der Wahlkreise und damit die Bindung zwischen Wähler und Abgeordneten zu stärken und zugleich zur Verständlichkeit des Wahlsystems insgesamt beizutragen, dann empfiehlt sich ein Blick in das baden-württembergische Landeswahlrecht: Hier findet sich die Regel, dass die Wahlkreisergebnisse die Reihenfolge der Bewerber auf den Parteilisten bestimmen. Diese über 100 Jahre alte Idee geht auf einen österreichischen Studenten zurück.31 Anders als von Funk gefordert, würden folglich nicht die Direktmandate, sondern die von den Parteien aufgestellten Listen durch diese Wahlkreisbestenlisten ersetzt. Um nicht erneut in die Falle der lokalen Parteidominanzen zu tappen, müssten allerdings das Erststimmen- mit den Zweitstimmenergebnis im Wahlkreis gewichtet werden. Um dem (nicht unberechtigten) Willen der Parteien zur Mitbestimmung über ihr parlamentarisches Personal gerecht zu werden, wäre auch eine Kombination von Wahlkreisbestenlisten und Parteilisten denkbar, die den Kandidaten effektiv ein Auf- oder Absteigen auf den Parteilisten ermöglichen würde.
29 Vgl. etwa Australian Electoral Commission, https://results.aec.gov.au/24310/Website/House Default-24310.htm, https://results.aec.gov.au/24310/Website/HouseStateFirstPrefsByParty24310-NAT.htm, Abruf am 10. 11. 2019. 30 Vgl. etwa Reilly, Nationalism and Ethnic Politics, 2018, S. 201 ff. 31 Geyerhahn, Wiener Staatswissenschaftliche Studien, 1902 (online: https://archive.org/details/ dasproblemderve00geyegoog, Abruf am 10. 11. 2019). Unser Dank für den Hinweis auf dieses frühe Werk zum deutschen Wahlrecht gilt Herrn Professor Friedrich Pukelsheim. 32
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Die hier dargestellte Lösung der absoluten Mehrheitswahl in den Wahlkreisen mit Präferenzstimmen widerlegt die vorherrschende Darstellung, die Überhangsfrage sei nur durch weniger (größere) Wahlkreise oder aber durch Entzug von Direktmandaten zu lösen. Sie präsentiert eine Alternative zur Vermeidung von Überhang, die zugleich Anreize zur verstärkten politischen Auseinandersetzung auf lokaler Ebene bietet und so eine Versachlichung politischer Debatten wie auch eine verstärkte Verantwortlichkeit der Abgeordneten gegenüber ihrem Wahlvolk gewährleistet. Das Modell erhebt keinerlei Anspruch auf Perfektion, versteht sich aber als Verbesserung des Status quo.32 Beim Wahlrecht treffen Mathematik und Macht zusammen. Es ist hoch an der Zeit, dass der Bundestag die stiefmütterliche Behandlung des Wahlrechts einstellt und stattdessen mit Leidenschaft und Augenmaß um eine kreative und belastbare Lösung ringt, die über reine politische Schadensbegrenzung hinausgeht. Zugleich sollte die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und das Wahlrecht als Mittel gegen Politikverdrossenheit ins Feld geführt werden – auch zur Selbstdisziplinierung der Abgeordneten. Der Missstand müsste eigentlich vor der nächsten Bundestagswahl beendet werden – der Kompromiss, den der Koalitionsausschuss Ende August hervorgebracht hat, wird dies nach einhelliger Meinung von Experten nicht leisten. Es wird der noch einzusetzenden Wahlrechtskommission überlassen sein, den Bundestag mit belastbaren Vorschlägen für eine echte Reform des bundesdeutschen Wahlrechts unter Druck zu setzen.
32 Dass der AfD-Vertreter in der Wahlrechts-AG hinter verschlossenen Türen scheinbar theoretische Überlegungen über die Präferenzwahl bemüht hat, sollte für die anderen Parteienvertreter nicht gegen das hier vorgeschlagene Modell sprechen; zumal dann nicht, wenn das Wahlrecht eine entpolarisierende Wirkung entfaltet. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 19/118, S. 14537. Recht und Politik, Beiheft 5
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Politik und Recht: Reloaded Von Roland Lhotta, Hamburg „Anyone can make a legal rule.“1
I. Wahlverwandtschaft, Fernbeziehung oder Gespräch unter Abwesenden? In Goethes Wahlverwandtschaften heißt es einmal: „Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muss es auch gegen andere ein Verhältnis haben.“ Das gilt für die Beziehung von Politik und Recht (P&R) nicht minder. Und da schwierige Beziehungen schon immer Gegenstand eifrigen Schreibens und literarischer Produktion gewesen sind, ist auch zu P&R schon viel zu Papier gebracht worden.2 Denn es ist eine vertrackte Beziehung, in der einerseits beides voneinander abgeschieden sein soll und andererseits doch nicht so recht voneinander abgeschieden sein kann.3 Das Recht ist – zumal im modernen demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat – sowohl politisches Herrschafts- und Steuerungsinstrument,4 „governing institution“5 schlechthin, aber auch Referenzrahmen individuellen und kollektiven (politischen) Handelns sowie dessen Produkt und Objekt, und natürlich Speicher von Leit- und Ordnungsideen einer Gesellschaft,6 somit kulturell zutiefst verwurzelt und geprägt.7 Vor allem aber ist es nicht 1 2 3 4 5 6
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Frank, Law and the Modern Mind, 2009 (originally published 1930 – with a new introduction by Brian B. Bix), S. 297. Der internationale Stand der Forschung ist zusammengefasst in Whittington/Kelemen/Caldeira (Hrsg.), The Oxford Handbook of Law and Politics, 2008. Vgl. nur Grimm, Politik und Recht, in: ders., Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen, 2001, S. 13 ff. Diese Dimension wird besonders deutlich in Cane/Kritzer (Hrsg.), The Oxford Handbook of Empirical Legal Research, 2012. Morgan/Quack, in: Morgan/Campbell/Crouch/Pedersen/Whitley (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Institutional Analysis, 2010, S. 275 ff. Vgl. Hofmann, Zum juristischen Begriff der Institution, in: ders., Recht – Politik – Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, 1986, S. 206 ff.; Zippelius, Verhaltenssteuerung durch Recht und kulturelle Leitideen. Ausgewählte Aufsätze, 2004, sowie Lhotta in: Bäcker/Klatt/Zucca-Soest (Hrsg.), Sprache – Recht – Gesellschaft, 2012, S. 54. Vgl. für einen Überblick zum internationalen Stand der Forschung m.w.N. Mautner, Cornell Law Review 2011, S. 839 ff.; aus der deutschen Literatur Ladeur, Recht – Wissen – Kultur. Die fragmentierte Ordnung, 2015.
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Duncker & Humblot, Berlin
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einfach da, sondern es muss rekurrent hervorgebracht werden. Und zwar nicht nur von denjenigen, denen diese Aufgabe über eine „bestimmte Allokation der Rechtsetzungskompetenz“8 (qua Verfassung etwa) formal zukommt, sondern von allen Bürgerinnen und Bürgern einer Republik. Dies führt zu einer subjektbetonten Reinterpretation des „Spirit of Republican Self-Government“,9 die für die Wechselbeziehung von P&R sowie eine politikwissenschaftliche Perspektive auf das Recht ungebrochen spannend und unter den Auspizien eines flagranten Formwandels des Rechts und seinem Auswandern aus den staatlich-verfassungsrechtlich loziierten demokratischen Prozeduren mehr denn je geboten sein könnte. Die Relation von P&R ist seit jeher ein so komplexes wie spannungsreiches und von Disziplinen wie der Staats(rechts)- und Verfassungslehre, der Ökonomie und (Rechts‐) Soziologie, Psychologie und natürlich der Politikwissenschaft reklamiertes und erforschtes Feld.10 Vieles davon hat zumindest die gegenseitige Wahrnehmung der sich hierfür zuständig fühlenden Disziplinen befördert, namentlich der Politik- und Rechtswissenschaft. Bekenntnisse zum interdisziplinären Dialog waren und sind dabei allerdings oft so wohlfeil wie letztlich fruchtlos. Stattdessen regieren entweder ein gepflegter disziplinärer Dünkel sowie das Bedürfnis, den Selbstand und die exklusive Zuständigkeit als auch Kompetenz der eigenen Disziplin hervorzukehren, um gleichzeitig lang gehegte und liebevoll gepflegte Vorurteile gegenüber der jeweils anderen Disziplin zu perpetuieren. Ebenso häufig fehlt schlicht die Kompetenz, Bereitschaft oder ja, auch die Notwendigkeit, sich auf die Logiken, Methoden und Erkenntnisinteressen der anderen Disziplin einzulassen. Schönbergers kleine Sottise, dass die deutsche Rechtswissenschaft spätestens seit Savigny von der Vorstellung geprägt sei, dass diese Wissenschaft auf irgendeine Weise selbst Recht sei,11 ist da jedenfalls so bedenkenswert wie bezeichnend – und ähnliches lässt sich auch für eine deklaratorisch zwar immer offene, de facto aber autozentrierte Politikwissenschaft sagen. So spricht meines Erachtens viel dafür, dass die klugen Anmerkungen von Ingeborg Maus immer noch zutreffen, mit denen sie dem disziplingeschichtlich begründeten Autonomiebestreben der Politikwissenschaft und ihrem Beharren auf Eigenständigkeit gegenüber der Rechtswissenschaft eine gewisse Perversion attestierte, weil just dies verhinder(t)e, „durch die Beobachtung der Rechtswissenschaft ihre Selbstbeobachtung zu befördern – eine Unterlassung, welche die Politikwissenschaft angesichts der weitgehenden Verrechtlichung aller politischen Sachverhalte, Prozesse und Institutionen sowie der
8 Brunkhorst/Niesen, Das Recht der Republik, 1999, S. 9. 9 Sheehan, James Madison and the Spirit of Republican Self-Government, 2009. 10 Für den Versuch eines kurzen Abrisses der Entwicklung des Forschungsfeldes vgl. Lhotta, in: Nohlen/Grotz (Hrsg.), Kleines Lexikon der Politik, 6. Aufl., 2015, S. 531 ff.; vgl. ansonsten die Beiträge von Scheingold, Spaeth und Shapiro in Whittington/Kelemen/Caldeira (Fn. 2), sowie den exzellenten Band von Maveety (Hrsg.), The Pioneers of Judicial Behavior, 2003. 11 Schönberger, Der „German Approach“: Die deutsche Staatsrechtslehre im Wissenschaftsvergleich, 2015. Recht und Politik, Beiheft 5
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rechtsförmigen Kommunikation zwischen den politischen Institutionen auch zunehmend außerstande setzte, ihre ureigenen Gegenstände noch adäquat zu analysieren.“12 An dieser Vorhaltung ist einiges berechtigt – besonders spannend daran ist aber deren Implikation, dass das Recht sowohl in einer prozeduralen als auch institutionellen Dimension zumindest mittelbar, aber eigentlich auch unmittelbar zu den „ureigenen Gegenständen“ der Politikwissenschaft gehöre. Par bleu! Das ist nichts weniger als völlig zutreffend. Es ist aber bei weitem noch nicht (oder nicht wieder) als selbstverständlich und evident akzeptiert, obwohl das Forschungsfeld „Politik und Recht“ mittlerweile auch in der deutschen Politikwissenschaft verankert und sichtbar ist, wie zwei Sammelbände zum „state of the art“13 und der Umstand dokumentieren, dass es einen AK „Politik und Recht“ unter dem Dach der DVPW gibt, desweiteren eine Publikationsreihe gleichen Namens sowie natürlich das Periodikum „Recht und Politik“. Aber man sollte sich auch nichts vormachen! Denn dafür, dass es bei „Politik und Recht“ oder „Recht und Politik“ (sic!) um die ureigenen Gegenstände der Politikwissenschaft gehen soll, handelt es sich immer noch um ein in der Disziplin erstaunlich marginales Forschungsfeld. Das gilt übrigens trotz des prima facie beeindruckenden quantitativen Outputs auch für den anglo-amerikanischen Bereich, wo sich „Law and Politics“ in Relation zum Mainstream einer um ein vielfaches größeren Disziplin etwa in den USA ebenfalls randständig ausnimmt, auch wenn P&R dort akademisch-institutionell besser verankert, aber eben auch nicht vollständig in die Politikwissenschaft integriert ist und viel stärker über die offenere Schnittstelle des „Public Law“ verhandelt wird (was wiederum disziplingeschichtliche Gründe hat). Wie auch immer: Wenn das Recht nach wie vor ein zentrales Steuerungsmedium in Staat und Gesellschaft ist, das die Handlungen von Akteuren lenkt und anleitet und gleichermaßen von diesen Akteuren erzeugt wird, muss es verwundern, dass P&R ein vergleichsweise immer noch wenig erforschtes und randständiges Problemfeld (geblieben) ist. Könnte es damit zusammenhängen, „dass das Rechtssystem, wie wir es bislang kannten, nicht mehr existiert“?14 Und der Staat auch schon lange nicht mehr das ist, was er mal war und wenn nicht im Verschwinden, so doch in flagrantem Wandel begriffen ist? Womit das Aufeinander-verwiesen-sein von Staat und (Verfassungs‐)Recht erodiert15 und P&R gleichzeitig von weiterer Dissoziation als auch diffuser Konjunktion betroffen sind.16 Sowohl Politik- als auch Rechtswissenschaft haben die widerstreitenden Symptome dieser dystopischen Entwicklung durchaus registriert und thematisiert. Entstaatlichung, hybride Verrechtlichung im Staat und jenseits des Staates, 12 Maus, in: Becker/Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht (PVS-Sonderheft 36), 2006, S. 77. 13 Frick/Lembcke/Lhotta (Hrsg.), Politik und Recht. Umrisse eines politikwissenschaftlichen Forschungsfeldes, 2017, und Becker/Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht (PVS-Sonderheft 36), 2006. 14 Somek, Rechtliches Wissen, 2006, S. 87. 15 Grimm, in: ders., Die Zukunft der Verfassung II, 2012, S. 67 ff. und S. 315 ff. 16 Vgl. Grimm (Fn. 3). 36
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Konstitutionalisierung17 und Überkonstitutionalisierung18 bergen demokratieaverse19 und prächtig wuchernde Keime der Entformalisierung, Fragmentierung, Dezentrierung und Anomie.20 Politikwissenschaftlich spiegelt sich das in der thematischen Konjunktur informalen Regierens, der Post-Demokratie und Governance sowie der Frage nach dem Verbleib der Demokratie und des Souveräns/Bürgers. Rechtswissenschaftlich in der staunenden (und frühen) Kenntnisnahme des informalen Rechts- als auch Verfassungsstaates,21 begleitet von zunehmender Skepsis.22 Das Gleiche gilt für die mit Faszination als auch zunehmender Distanz erfolgende Befassung mit Governance23 – und als Terrain des eher Randständigen erscheint der große und diffuse Komplex des Rechts jenseits von Staatlichkeit, erst recht die no-go-area des nicht-staatlichen Rechts24 und der vom Staat gelösten Konstitutionalisierung.25 Gleichzeitig ist aber zu konstatieren, dass sich der juristische Mainstream darauf kapriziert, die Evasion von Grundlagenfragen zu betreiben und dies durch Anschlussfähigkeit/Praxistauglichkeit in eben jenem Mainstream ersetzt, der in der Zitation und Exegese höchstrichterlicher Urteile einer innerdisziplinär gelebten Zivilreligion im Mantel des Offenbarungsglaubens huldigt.26 Speziell eine sich als praktisch im Sinne von Rechtsanwendung und Dogmatik gebende Rechtswissenschaft externalisiert theoretische Fragen und/oder Grundlagenprobleme sowie Selbstreflexion27 in die sogenannten Grundlagenfächer wie Rechts- und Verfassungstheorie und bedient dadurch einerseits ein „disziplinäres Abschirmungsbedürfnis“28 als auch die Perpetuierung eines „Mikrokosmos“.29
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Höpner, MPIfG-Discussion-Paper 14/8, 2014. Grimm, European Law Journal 2015, S. 460 ff. Grimm (Fn. 18), und Weiler, Jean Monnet Working Paper 10/14, 2014. Lhotta, in: Franzius/Mayer/Neyer (Hrsg.), Grenzen der Europäischen Integration, 2014, S. 93 ff. Vgl. Bohne, Der informale Rechtsstaat, 1981; Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984; Schuppert, Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit: Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis formeller und informeller Institutionen, 2011. Vgl. nur Morlok, in: VVDStRL 62 (2003), S. 37 ff. Vgl. Schuppert, Governance-Forschung: Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2006, als Auftakt der Reihe „Schriften zur Governance-Forschung“. Vgl. Schwarze (Hrsg.), Globalisierung und Entstaatlichung des Rechts, 2008; Jansen/Michaels (Hrsg.), Beyond the State: Rethinking Private Law, 2008; Calliess (Hrsg.), Transnationales Recht. Stand und Perspektiven, 2014. Vgl. Teubner, Verfassungsfragmente: Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, 2012; Kjaer, Constitutionalism in the Global Realm, 2016; Land/Wiener (Hrsg.), Handbook on Global Constitutionalism, 2017. Unübertroffen immer noch die Diagnose und Kritik bei Frank (Fn. 1); ganz ähnlich bis hin zur ironischen Pathologisierung des juristischen Denkens die Kritik bei Somek (Fn. 14). Vgl. aber Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015, und Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007. Somek (Fn. 14), S. 76.
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II. Beobachtung und Selbstbeobachtung: Auf der Suche nach dem verlorenen Subjekt von Politik und Recht Unter diesen Auspizien gewinnt man den Eindruck, dass Politik- und Rechtswissenschaft nicht nur stark selbstreferentiell sind, sondern unter der Ägide eines szientistischen Ideals der Quantifizierung (Politikwissenschaft) bzw. des (neo‐)positivistischen Ideals der Anwendungs- und Praxistauglichkeit (Rechtswissenschaft) ihre Grundlagenfragen aus dem Blick verlieren.30 Wenn dies so wäre, würde die Heilserwartung einer Beobachtung zwecks Selbstbeobachtung dann aber in die merkwürdige Aporie führen, dass man sich gegenseitig dabei beobachtet, wie ein vermeintliches Proprium der jeweils anderen Disziplin verschwindet, ohne je existiert zu haben – eine zutiefst ironische Situation, in der nach wie vor ein Proprium sowohl des Rechts als auch der Politik reklamiert und „abgeschirmt“ würde, das es gar nicht gibt oder auf einer Fiktion beruht, was dann wiederum nur zu einem Dialog unter Abwesenden führen kann. Ein solches Proprium würde die Beantwortung der Fragen „Was ist Recht“ und „Was ist Politik“ voraussetzen, um sodann festzulegen, wem eigentlich „Recht“ und demgegenüber (?) die „Politik“ gehören und wer oder was eigentlich das Subjekt des Rechts31 und der Politik32 wäre. Aber das ist weder einfach noch jemals wirklich befriedigend beantwortet worden. Schon allein deswegen, weil das Recht (mindestens) zwei Seiten hat: Zum einen ist es konstitutiv und handlungsanleitend für die adressierten Akteure, zum anderen wird es durch die Akteure gestaltet, verändert und angepasst – im Spannungsfeld zwischen Akteur und Recht fungiert es als unabhängige und abhängige Variable gleichzeitig. Dies macht die Beantwortung der Frage, welche Rolle das Recht eigentlich spielt und was daran „politisch“ ist, ausgesprochen schwierig. Recht wird hervorgebracht, angewendet, konkretisiert und verändert von Individuen/Akteuren in verschiedensten (professionellen und nicht professionellen) Rollen, z. B. durch Richter, Kläger, Parlamentarier, Kläger, Angeklagte, Anwälte usw.). Viele dieser Akteure tun dies als Mitglieder von Institutionen/Strukturen, die wiederum konstitutiv für diese Akteure sind und ihr (angemessenes) Handeln präjudizieren, kanalisieren, einschränken oder aber auch erst ermöglichen. Die Politikwissenschaft tut sich schwer, dieser 29 Vgl. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos. Bausteine zu einer Soziologie und Theorie der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts, 2013. 30 Vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie: mit juristischer Methodenlehre, 10. Aufl., 2018. 31 Somek, Wissen des Rechts, 2018. 32 Diese Frage ist grundlegend – und Arbeiten, die sie adressieren, gehören derzeit zu den interessantesten, weil sie ein Problem anschneiden, das nicht nur für die Krise vieler Demokratien mitverantwortlich ist, sondern das Verhältnis von Politik und Recht mittelbar zutiefst beeinflusst – vgl. Rosanvallon, Die gute Regierung, 2018; ders., Die Gegen-Demokratie: Politik im Zeitalter des Misstrauens, 2017; Urbinati, Representative Democracy: Principles and Genealogy, 2008; dies., Democracy Disfigured: Opinion, Truth and the People, 2014; dies., Me The People. How Populism Transforms Democracy, 2019; Kleger, Demokratisches Regieren: Bürgersouveränität, Repräsentation und Legitimation, 2018. 38
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empirischen Komplexität des Rechts gerecht zu werden und hat bis heute keine hinreichend komplexe und differenzierte Vorstellung davon entwickelt, was das „Recht“ eigentlich ist und was seine Funktionslogiken sowie institutionellen Eigenschaften sind. Sie behilft sich deshalb in der Befassung mit Recht und Politik oft mit einer Engführung: Der Fokussierung auf Verfassungsgerichte als politische Akteure oder auf das Recht als Steuerungsinstrument politischer Mehrheiten und Ergebnis politischer Prozesse. Eine umfassendere Vorstellung vom Recht als Institution, für Akteure konstitutiver und handlungsanleitender Kontext oder auch als situativ und individuell wie kollektiv immer wieder hervorzubringende Regel bzw. Handlungsanleitung wird dagegen nicht oder nur ansatzweise entwickelt. Wenn aber die quantitative Zunahme des Rechts an massive Entrechtlichungstendenzen gekoppelt ist, die nicht zuletzt im Formwandel des Rechts liegen und zu einer weitreichenden „Folgenlosigkeit demokratischer Willensbildungsprozesse“ führen,33 dann ist dies ein grundstürzender Vorgang, der „ureigenste Gegenstände“ beider Disziplinen betrifft und direkt ins Herz von P&R zielt. Enter the Law! Wenn man als Politikwissenschaftler über das Recht forschen möchte, ist es sicher nicht schädlich zu rezipieren, was die Rechtswissenschaften über ihr Sujet wissen und schreiben. Das ist so banal wie zutreffend. Wissenssoziologisch steckt darin aber auch eine Fußangel. Denn bereits im disziplinär perpetuierten Rechtsdenken steckt eine zutiefst politische Funktion.34 Das haben nicht nur die Vertreter des Legal Realism35 schon gewusst, sondern auch Law & Society36 und Critical Legal Studies37 – im rechtlichen Wissen bzw. dem, was als gewusst ausgegeben wird, spiegeln sich Idiosynkrasien und epistemische Verhärtungen, disziplinäre Zwänge und professionspolitische Deformationen – juristisch „anständige Gelehrsamkeit nötigt zur krampfhaften Konstruktion“.38 Und wenn dies zur Folge hat, dass es letztlich immer auch um eine „methodische Welterzeugung“39 geht, dann ist eine gewisse Vorsicht geboten und die politikwissenschaftliche Beobachtung der Rechtswissenschaft zwecks Optimierung der Selbstbeobachtung vielleicht nicht durchweg empfehlenswert, es sei denn, man macht
33 Maus (Fn. 12), S. 79. 34 Vgl. Somek, Rechtssystem und Republik: Über die politische Funktion des systematischen Rechtsdenkens, 1992. 35 Vgl. Fisher III/Horwitz/Reed, American Legal Realism, 1993; Duxbury, Patterns of American Jurisprudence, 1997. 36 Vgl. Halliday/Schmidt, Conducting Law and Society Research, 2009; Abel, The Law and Society Reader, 1995. 37 Kairys, The Politics of Law. A Progressive Critique, 3. Aufl., 1998; Minda, Postmodern Legal Movements. Law and Jurisprudence at Century’s End, 1995, S. 83 ff. 38 Somek, Rechtliches Wissen, 2006, S. 65. 39 Somek (Fn. 38), S. 56. Recht und Politik, Beiheft 5
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die disziplinäre Welterzeugung selbst zum Gegenstand politikwissenschaftlicher Analyse.40 Im Folgenden möchte ich einen Weg aufzeigen, der P&R anders und ohne nutzlose Debatten über ein wie auch immer geartetes „Proprium“ einer Disziplin oder „der Politik“ oder „des Rechts“ verortet. Dem liegt eine „ontological choice“41 und damit auch eine epistemologische Grundannahme voraus. Sie lautet vereinfacht, dass Recht per se akteursabhängig und letzthin in ständiger Emergenz begriffen ist. Es ist nicht einfach da, etwa als verbindliches und zu befolgendes Regelsystem, sondern es muss latent hervorgebracht werden42 – und zwar auch jenseits der dafür vorgesehenen formalen Verfahren, die ohnehin zunehmend an Bedeutung verlieren. Die Akte wiederum, mit denen es hervorgebracht wird, sind politisch in einem ganz spezifischen Sinne und konstitutiv für das Recht als auch die Akteure, die es hervorbringen.43 Damit geht es um nicht weniger als das Problem und die Herausforderung, „den demokratisch-theoretischen Ort und die Zeit zu bestimmen, an dem in einer freiheitlichen Gesellschaft (civil society) das Recht entsteht. Die Antwort lautet mit Recht: täglich und überall.“44 Und in diesem „täglich und überall“ geht es u. a. darum, „auf welche Weise und aufgrund welcher Autorisierungen Recht gesetzt und unter welchen Bedingungen und von welchen Instanzen dieses Recht implementiert wird“.45 Und es geht auch darum, „als Recht herzustellen, was man als Recht ausgeben kann, selbst wenn es zunächst so aussehen mag, als ob das geltende Recht dem entgegenstünde“.46 Gerade ein „Recht der Politik“47, als das insbesondere (aber nicht nur) das Verfassungsrecht fungiert, ist solchen Deutungs- und Interpretationskämpfen ausgesetzt.48 Immer geht es im Recht auf die eine oder andere Weise um die Entdeckung, Konstruktion, Etablierung und Durch-
40 Vgl. für einen solchen Ansatz Rehder, Rechtsprechung als Politik, 2011, sowie als frühes Beispiel Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status Quo, 2. Aufl., 1977, S. 281 ff. 41 Hay, in: Goodin (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Science, 2011, S. 460 ff. 42 Vgl. Tamanaha, A General Jurisprudence of Law and Society, 2006. 43 Die dialektische Verwobenheit und wechselseitig konstitutive (kulturell geprägte) Relation von Institutionen und Akteuren im Staat und im Recht hat Herrmann Heller in seiner Staatslehre (1930) immer wieder betont. 44 Stolleis, Staatsrechtslehre und Politik (Heidelberger Universitätsreden 12), 1996, S. 22 f.; vgl. auch Lhotta, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Verfassungs-Kultur, 2016, S. 83 ff. 45 Maus (Fn. 12), 2006, S. 81. 46 Somek (Fn. 38), S. 34. 47 Morlok, DVBl. 2017, S. 995 ff. 48 Vgl. Fisher, Constitutional Dialogues. Interpretation as Political Process, 1988; Gillman, The Constitution Besieged. The Rise and Demise of Lochner Era Police Powers Jurisprudence, 1993; Ackerman, We the People 1, 1993; ders., We the People 2, 1998; Whittington, Constitutional Construction: Divided Powers and Constitutional Meaning, 2001; ders., Political Foundations of Judicial Supremacy: The Presidency, the Supreme Court, and Constitutional Leadership in U.S. History, 2009; Brodocz, Die Macht der Judikative, 2009, S. 98 ff. 40
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setzung von Handlungsmöglichkeiten in spezifischen situativen Kontexten, woraus wiederum der Zustand latenter Emergenz des Rechts resultiert.49
III. Emergenz von Recht: Interpretation und Sinnstiftung als politischer Akt Die regelnde, steuernde und konstitutive Wirkung des institutionellen Komplexes „Recht“ entfaltet sich durch situationsspezifische Prozesse der Sinnstiftung, die letzthin auf der Subjektebene ablaufen. (Rechtliche) Regeln und Normen sind nicht „selfexecuting“. Sie müssen als anerkennungswürdig, angemessen und sinnstiftend für das Handeln in einer spezifischen Situation gelten. Die situationsspezifsche Generierung von Sinn beruht darauf, dass Regeln von den Rechts- und Politiksubjekten einer „res publica“ interpretiert werden. Diese Interpretationen sind nicht determiniert oder durch eine Norm (oder ihren Text) verbindlich programmiert. Vielmehr liegt in jeder Interpretation ein Element der Wahl, das ein Verständnis von „compliance“ als bloßer Regelbefolgung gegenüber einem „Rechtsbefehl“ unterkomplex erscheinen lässt. Allein die situativen Kontingenzen und die Ambiguität von Sprache als Medium der Regelartikulation und -interpretation sowie die bei Rechtsnormen notorische Unvollständigkeit und Unbestimmtheit machen Interpretation für alle Rechtsadressaten und gleichzeitig „Rechts-Hervorbringer“ zu einer allfälligen Tätigkeit, in der Regeln mit vorgefundenen Situationen abgeglichen werden, um ihnen jeweils einen Sinn abzugewinnen, der handlungsanleitend wirkt und damit zur jeweils individuellen Verwirklichung und Konkretisierung des Rechts beiträgt.50 Das heißt zweierlei: 1. Die entscheidende Instanz für das Gelingen von Regeln liegt nicht in den Regeln selbst, sondern in ihren Adressaten und der Art, wie sie situativ eine Regel durch Interpretation jeweils neu wirksam werden lassen, um „angemessen“ zu handeln; 2. die „Programmierung“ einer gesollten Handlung bei den Regeladressaten ist eine unrealistische Annahme. Soll das Recht „als sinngebende Schnittstelle von Ideen und Verhaltensstrukturierungen“ (A. Kaiser) fungieren, ist es auf – in der Regel v. a. sprachlich basierte – Vorgänge der (interpretativen) Sinnstiftung durch die Rechtsadressaten angewiesen, die damit gleichzeitig Rechtserzeuger in jeweils spezifischen Kontexten sind.51 Das aber führt direkt zu einem verbindenden Element von Politik und Recht, dem „spirit of republican self-government“52, der im Subjekt von Politik und Recht – den Bürgerinnen und Bürgern loziiert ist. Nicht als „Geist“, sondern als ubiquitäre Tätigkeit der Rechtshervorbringung, somit aber auch als Selbst-Konstitution und Selbstwahr49 Was auch für die Verfassung gilt – vgl. unter Rekurs auf Smend und Häberle die Ausführungen bei Lhotta (Fn. 44), S. 93 ff. 50 Hierzu m.w.N. Lhotta (Fn. 6), S. 45 ff. 51 Vgl. Conley/O’Barr, Rules versus Relationships. The Ethnography of Legal Discourse, 1990; dies., Just Words. Law, Language and Power, 2. Auf., 2005; Ewick/Silbey, The Common Place of Law: Stories from Everyday Life, 1998. 52 Sheehan, James Madison and the Spirit of Republican Self-Government, 2009. Recht und Politik, Beiheft 5
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nehmung sowie reziproke Anerkennung von Individuen mit Rechten und Pflichten in einer institutionellen Matrix (Taylor) letztlich kultureller Natur, denn: Durch „Recht als Kultur wird auch ein bestimmtes Verhältnis der Individuen zur Welt begründet […] Das Recht ist deshalb eher ein Set von Institutionen, durch die die Gesellschaft die Anschlussfähigkeit ihrer sozialen Formen der Koordination beobachtet.“53 Dies kann durch einen Blick auf das politikwissenschaftliche Institutionenverständnis (insbesondere des normativ-soziologischen und konstruktivistischen Institutionalismus) verdeutlicht werden. Institutionen sind hiernach „a relatively enduring collection of rules and organized practices, embedded in structures of meaning and resources that are relatively invariant in the face of turnover of individuals and relatively resilient to the idiosyncratic preferences and expectations of individuals and changing external circumstances“.54 Das bedeutet indessen nicht, dass Individuen und ihr Handeln deterministisch durch den institutionellen Kontext „programmiert“ werden (so funktioniert auch Recht nicht). Vielmehr spielt die Subjektebene auch hier eine wichtige Rolle: „Individuals are important in the normative institutionalist model and still ultimately they must make choices within institutions, but those choices are largely conditioned by their membership in a number of political institutions. In this view the structure-agency problem is resolved through the individual accepting and interpreting the values of institutions.“55 Das eröffnet einen spannenden Blick auf das institutionelle Design rechtsstaatlicher Demokratien und auf die sich überlagernden und überschneidenden Arenen von P&R sowie die wechselseitig konstitutiven Prozesse zwischen Individuen, institutionellem Kontext und (politisch-rechtlicher) Gemeinschaft.56 Handlungsanleitende Sinnstiftung erfolgt in einem komplexen Zusammenspiel von Akteuren und Institutionen, dessen Kontingenz und Konflikthaftigkeit durch die institutionellen layers einer Republik gewaltenteilig und ‐verschränkend aufgenommen wird und somit nicht auf der Logik hermetischer und exklusiver Sphären von P&R beruhen kann: „Modern democracies are changing inventories of meanings, identities, and accounts distributed over a population and woven into social and political relationships. They exhibit conflict among institutionalized rules and rule regimes, institutional pluralism, and hybrid organizations. Democratic, political institutions seem to be based on layers of partly ambiguous, inconsistent, changing, and competing ideals and beliefs, rather than on coherent stable doctrines. Different actors adopt different identities and learn different rules at different times as the varieties of their histories are coded into the varieties of their institutions.“57 53 Ladeur (Fn. 7), S. 55. 54 March/Olsen, in: Rhodes/Binder/Rockman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Institutions, 2006, S. 3. 55 Peters, Institutional Theory in Political Science. The „New Institutionalism“, 2. Aufl., 2005, S. 43 (Hervorhebungen des Verf.). 56 Olsen, Annual Review of Political Science 2008, S. 30. 57 March/Olsen, Democratic Governance, 1995, S. 173 f. 42
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All diese sich historisch verändernden Bestandteile der „kognitiven Infrastruktur“ und der „sozialen Epistemologie“ einer Gesellschaft werden „auch durch den Rechtsdiskurs prozessiert, der eine Vielzahl von Anschlüssen innerhalb der Selbstwahrnehmung der Individuen als (verantwortliche) Personen“ gewährleistet und stabilisiert.58 Dies ist durchaus als ein Zustand der „Verfasstheit“ beschreibbar: „Eine Gesellschaft ist verfasst, wenn sie sich in geeigneten institutionellen Formen und in normativ geleiteten Prozessen der Anpassung, des Widerstands und der Selbstkorrektur ständig mit sich selbst konfrontiert.“59 Diese Prozesse der Anpassung, des Widerstands und der Selbstkorrektur sind Sinnstiftungsprozesse, die nicht in hermetisch voneinander abgeriegelten Sphären, Arenen, Institutionen, Lebenswelten etc. ablaufen, sondern einem „institutionalisierten Zwang zur Kommunikation und zur Reflexion“ unterliegen: „Zur Verwirklichung ihrer Ziele und zur Wahrung ihrer sozialen Anschluss- und Kooperationsfähigkeit sind Individuen und Gruppen genötigt, sich auf Kommunikationsprozesse einzulassen.“60 Die vielleicht wichtigste und genuin politische Tätigkeit aller Bürger in dieser kulturell geprägten institutionellen Matrix der „Verfasstheit“ ist auch hier die Interpretation, also der Abgleich von Situation und handlungsanleitenden Regeln. Die ubiquitäre Tätigkeit der situativen Regelinterpretation und Sinnstiftung wird damit zu einem Kernelement des „Politischen“61, von dem die Möglichkeit von Recht, seinen Funktionen und seiner latenten Emergenz und Präsenz abhängt – und davon wiederum „angemessenes“ Handeln.62 Als Bedeutungssystem und sinnstiftende Schnittstelle von Ideen und Verhal-tensstrukturierungen63 entsteht und funktioniert das Recht also, wenn es „durch Erlebnis, Erfahrung, Praktiken und Interpretation repräsentiert und vergegenwärtigt werden kann“64 – und das geschieht nicht zuletzt in genuin politischen Kommunikationsprozessen im Medium der Sprache ( ja, auch der Rechtssprache!) und öffentlichen Diskursen um Deutungs- und Interpretationshoheiten.65 Dann aber kann es keine impermeablen Sphären oder Arenen des Rechts und der Politik geben, sondern eher mehr oder weniger zueinander durchlässige „arenas of citizenship“,66 in denen reflexive und dialektische Kommunikations- und Interpretationsprozesse stattfinden, die der 58 59 60 61
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Ladeur (Fn. 7), S. 48. Preuß, Zum Begriff der Verfassung: Die Ordnung des Politischen, 1994, S. 99. Preuß (Fn. 59), S. 156. March/Olsen, in: Derlien/Gerhardt/Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. FS für Renate Mayntz, 1994, S. 267; vgl. auch dies., Rediscovering Institutions. The Organizational Basis of Politics, 1989, S. 39. March/Olsen, in: Moran/Rein/Goodin (Hrsg.), The Oxford Handbook of Public Policy, 2006, S. 694. Kaiser, in: Brodocz/Schaal (Hrsg.), Politische Theorien der Gegenwart II. Eine Einführung, 2. Aufl., 2006, S. 323. Vorländer, in: ders. (Hrsg), Integration durch Verfassung, 2002, S. 20. Vgl. mit weiteren Nachweisen Lhotta (Fn. 6), S. 52 ff. Michelman, Yale Law Journal 1988, S. 1493 ff.
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Konstitution und gleichzeitig der (multiplen) Repräsentation individueller Subjekte sowie „layers“ des politischen Systems und „ihrer“ Regeln dienen. Dies ist jenes „täglich und überall“ des Rechts, das dann im besten Fall als eine „integrative Institution“67 fungiert, weil sowohl Subjekt als auch Objekt von Politik und Recht unauflösbar und rekurrent in einen dialektischen Prozess der Herstellung der „res publica“ involviert sind68 – deren Essential das Recht ist, welches immer wieder durch seine Subjekte politisch hervorgebracht wird. Unter den für Staat, Recht und Demokratie teilweise dystopischen Einflüssen der Moderne, die u. a. die „bestimmte Allokation der Rechtssetzungskompetenz“ übergehen, erodieren oder ersetzen, ist die Besinnung gerade auf dieses „täglich und überall“ vielleicht nicht die schlechteste Möglichkeit, „ureigene Gegenstände“ von Politik- und Rechtswissenschaft nicht aus dem Blick zu verlieren.
67 March/Olsen 1989 (Fn. 61), S. 124 ff.; dies. 1994 (Fn. 61), S. 262 ff. 68 Hierzu Lhotta, in: Lembcke/Ritzi/Schaal (Hrsg.), Zeitgenössische Demokratietheorie, Bd. 2: Empirische Demokratietheorien, 2016, S. 134 ff., sowie die bezwingenden Interpretationen bei Sheehan (Fn. 52), und Urbinati (Fn. 32). 44
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Politisches Urteil und Exekutivexpansion Von Daniel Kuchler, Berlin1
I. Arendts Urteilsbegriff Arendts normatives Politikverständnis betont das gemeinsame Handeln von Bürgerinnen,2 die damit einhergehende öffentliche Debatte und politisches Urteilen, das überhaupt erst durch eine mit politischem Handeln verbundene Debatte möglich wird. Dies bedeutet einerseits die Forderung einer weitreichenden Politisierung eigentlich öffentlicher Angelegenheiten. Andererseits baut partizipative Politik auf rechtlichen und daher entpolitisierten Voraussetzungen auf. Die Betonung des Zusammenhangs von politischem Handeln, politischer Debatte und politischem Urteil verdeutlicht die Tragweite einer über solche Voraussetzungen hinausgehenden Exekutivexpansion. Arendt begreift Politik als eine Kombination von politischem Handeln und politischer Rede einerseits und politischem Urteilen andererseits. Dabei lehnt sie einen Politikbegriff ab, der Handeln oder Rede einer Elite vorbehalten würde. Dies ist entscheidend, denn die Begrenzung eines der beiden Teilaspekte würde bedeuten, dass auch der andere unmöglich würde: da Urteilen für Arendt an Teilhabe an der Gemeinschaft gebunden ist muss die Bürgerin politisch handeln, um auch politisch urteilen zu können. Insofern politisches Urteilen andersherum politisches Handeln vorbereitet, kann es ohne Urteil kein politisches Handeln geben. Wenn nun politische Partizipation der Bürgerinnen von ihrer Fähigkeit zu urteilen abhängt, muss in Demokratien für die Bürgerinnen die Möglichkeit zum politischen Urteil gegeben sein. Für Arendt bedeutet politische Freiheit, zu der eigenen weitere Perspektiven hinzuziehen zu können: eine Sache politisch zu betrachten bedeutet also „die Sachen wirklich von verschiedenen Seiten zu sehen“.3 Diese Perspektiven unterscheiden sich von Bürgerin zu Bürgerin: jedes Objekt erscheint jedem Subjekt unterschiedlich. Eine platonische Wahrheit (ἀλήθεια) hinter den Erscheinungen ist unverfügbar;4 vielmehr wird 1
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Ich möchte den Teilnehmerinnen des DVPW-Kongress-Panels „Normalisierung der Grenzüberschreitung“ – und hier besonders Dr. habil. Matthias Lemke und Dr. Annette Förster – für die anregenden Diskussionen danken. Ich verwende hier ein generisches Femininum. Männliche und diverse Formen sind dabei immer mitgedacht. Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, 4. Aufl., 2010, S. 96 ff. Arendt, The Human Condition, 1998, S. 50. Vgl. ebd., S. 199.
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erscheinende Realität von Jeder aus ihrer Perspektive wahrgenommen. Im Gegensatz zu d’Entrèves Position5 ist dann das Arendtsche Subjekt weder privilegiert noch objektivunvoreingenommen. Vielmehr stellt Politik das Medium dar, durch welches wir Realität in ihren Perspektiven wahrnehmen können. Insofern sollten wir Arendts scheinbar widersprüchliche Wahlsprüche λέγειν τὰ εὄ ντα – zu sagen was ist – und δοκει μοι – es erscheint mir – gemeinsam denken: „das zu sagen, von welchem ich gute Gründe habe zu glauben, dass es sei, weil es mir so erscheint.“ Da für Arendt objektive Realität nicht greifbar ist, liegt in der Multiperspektivität ein Vorteil, da die Perspektiven Anderer zu der eigenen hinzugezogen werden können und diese ergänzen.6 Ein vollständigeres Bild hängt von Austausch in Debatten ab, in der wir die Pluralität der Perspektiven nutzbar machen und ein Objekt aus mehr als nur der jeweils eigenen Perspektive betrachten. Dies ermöglicht einen „shared common sense“.7 Dabei garantiert gerade die Abwesenheit von Wahrheitsansprüchen die Pluralität von Perspektiven, die Debatte über diese Perspektiven und den darauf aufbauenden Handlungsoptionen – und damit Politik.8 Da es nur durch Politik möglich ist, die Welt zu beurteilen, ist Verständnis nur als gleiches Mitglied der pluralen Bürgerschaft möglich. Indem sie sich von anderen unterscheidende Perspektiven in die Debatte einbringen, werden nicht nur die Unterschiede zwischen den Perspektiven der Bürgerinnen offenbar, sondern auch ihre politische Gleichheit hergestellt. Der Arendtsche Pluralitätsbegriff bringt also Gleichheit und Differenz zusammen:9 durch die Debatte wird unterschiedlichen Perspektiven gleiche Gültigkeit zugewiesen.10 Arendt spricht hier vom „Licht der Öffentlichkeit“11 – einer Umkehrung von Heideggers Behauptung, dass die Öffentlichkeit Alles verdunkle.12 Im Licht der Öffentlichkeit erscheinen Perspektiven und Bürgerinnen können von Ihrem Verstand öffentlichen Gebrauch machen.13 Indem politische Rede und Debatte also die Vereinzelung der Menschen durchbricht, sie als gleiche Bürgerinnen
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d’Entrèves, in: Villa (Hrsg.), The Cambridge Companion to Arendt, 2000, S. 251. Arendt (Fn. 3), S. 51 f.; Arendt, in: dies., Between Past and Future, 2006, S. 51. Arendt (Fn. 4), S. XIII. Die Debatte ist dabei fest in Tatsachenwahrheiten verankert: Während unsere Perspektiven auf ein Objekt sich unterscheiden und wir dieses Objekt deshalb unterschiedlich interpretieren, muss doch klar sein, dass wir von demselben Objekt sprechen. Vgl. Arendt, in: dies., Between Past and Future, 1977, S. 14; Arendt, in: dies., Between Past and Future, 2006, S. 227, 234. Arendt (Fn. 4), S. 175 f. Arendt (Fn. 4), S. 4; vgl. Arendt (Fn. 3), S. 96. Arendt, in: dies., Men in Dark Times, 1955, S. 74. Heidegger, Sein und Zeit, 2006, S. 127. Arendt, Lectures on Kant’s Political Philosophy, 1989, S. 39.
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überhaupt erst konstituiert und Zeugnis der Vielzahl ihrer Perspektiven gibt, wird sie Bedingung republikanischer Freiheit.14 Für Arendt sind Urteilen und politisches Handeln somit wechselseitig aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Urteilen ermöglicht es uns erstens, uns in der uns umgebenden sozialen Welt als dem durch andere Perspektiven geschaffenen Kontext zu verorten und somit eine Beziehung zur Welt als Kontext zu etablieren.15 Nur durch das Urteilen als der Berücksichtigung sowohl der eigenen Position einerseits als auch des Kontextes der politischen Gemeinschaft und anderer Positionen andererseits sind wir in der Lage den Bezug zu Anderen herzustellen, der für gemeinsames politisches Handeln notwendige Voraussetzung ist. Zweitens ist Urteilen performativ: durch das Herstellen interpretativer Verbindungen zwischen ansonsten isolierten Ereignissen wird eine narrative Kohärenz hergestellt,16 die Arendt Storytelling nennt. Der Kontext der politischen Gemeinschaft, auf dem zukünftige Urteile basieren wird so fortgeschrieben. Urteilen als Storytelling ist also eine Verbindung von Urteilen zu Politik: der Bürger-als-Urteilender kehrt als Storyteller zur politischen Debatte zurück und schlägt eine Interpretation gegenwärtiger Ereignisse vor. Dies setzt die Debatte fort und ermöglicht politisches Handeln auf Grundlage dieser Interpretation. Drittens ist die Beurteilung eines politischen Ereignisses weniger ein Endpunkt zum Abschluss der Handlung als vielmehr ein Mittler zwischen der einen und der anderen Handlung. Insofern zieht politisches Handeln Urteilen nach sich, setzt dieses aber auch voraus. Für Arendt ist also ohne Teilnahme an politischer Debatte Urteilen unmöglich. Andersherum bedarf Politik selbst der Urteile, damit überhaupt eine Debatte und gemeinsames Handeln entstehen kann.17 Dies bedeutet, dass es bei Arendt keine kategorische Unterscheidung zwischen politisch Handelndem und urteilendem Beobachter gibt. Diese Verbindung von Politik, Debatte und politischem Urteil wird in der Sekundärliteratur allerdings oft bestritten.18 Hierzu wird oft auf das Arendts Diogenes Laertius-Zitat aus Life of the Mind Bezug genommen (beispielsweise durch Bernstein19): „Life […] is like a festival; just as some come to the festival to compete, […] the best people come as spectators [theatai], […]“.20
14 Zerilli, Aesthetic Judgment and the Public Sphere in the Thought of Hannah Arendt, ÖZG 2004, S. 79; vgl. Arendt, in: dies., Between Past and Future, 1968, S. 143 ff. 15 Arendt, in: dies., Essays in Understanding, 1994, S. 323; Arendt (Fn. 6), S. 51. 16 Arendt (Fn. 4), 97; Arendt (Fn. 8). 17 Arendt (Fn. 3), S. 19. 18 Beiner, in: Arendt, Lectures on Kant’s Political Philosophy, 1992, S. 139; Beiner, PSC 1997, S. 30; Kohn, in: Villa (Hrsg.), The Cambridge Companion to Hannah Arendt, 2000, S. 124; Wellmer, in: May/Kohn (Hrsg.), Hannah Arendt. Twenty Years Later, 1997, S. 33. 19 Bernstein, in: ders. (Hrsg.), Philosophical Profiles, 1986, S. 235. 20 Arendt, The Life of the Mind, Bd. 1: Thinking, 1981, S. 93. Recht und Politik, Beiheft 5
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Arendt deutet hier an, dass „withdrawal from direct Involvement to a standpoint outside the game […] is not only a condition for judging, […] but also the condition for understanding the meaning of the play“.21 Dies bedeutet allerdings nicht, dass Urteilen ex post uns mit einem privilegierten Zugang zu ἀλήθεια ausstatten würde. Vielmehr gehört die „final arbitration“ in die source domain der Metapher (das Sportereignis) und nicht in die target domain (Politik): die Schiedsrichterentscheidung im Sport ist kein Akt philosophischer Wahrheitsfindung, sondern ein Richterspruch, der auch irren kann. Ein Urteil ex post gibt uns also keinen Archimedischen Standpunkt. Arendt deutet genau dies an, wenn sie erwähnt, dass Zuschauerin und Handelnde beide – wenn auch auf unterschiedliche Weise – auf δοκει μοι angewiesen seien.22 Die Interpretation durch die Beobachterin ist also standpunktabhängig. Arendts Lesart von Diogenes Laertius wird in der folgenden Passage klarer: „[…] The spectator’s verdict, while impartial and freed from the interests of gain or fame, is not independent of the views of others. On the contrary, according to Kant, an ,enlarged mentality’ has to take them into account.“23 Der Rückzug von direkter Beteiligung ist nicht der Versuch einen Archimedischen Standpunkt zu erreichen, sondern bedeutet nur die Abwesenheit parteiischer und persönlicher Interessen. Es gibt also keinen Unterschied zwischen Handelnder und Zuschauerin. In anderen Worten: das beste Urteil über ein Sportereignis kommt oft von einer Sportlerin. Die beste Urteilende einer Handlung ist jemand, die selbst auch Handelnde ist. In Arendts Werk gibt es dann – abweichend von Kant, aber in Übereinstimmung mit Aristoteles – eine Identität von Handelnder und Zuschauender.24 Urteilen bedeutet also sowohl retrospektives Urteilen als der Bewertung des Handelns Anderer, als auch prospektives Entscheiden über eigene zukünftige Handlungen im bereits bestehenden Kontext anderer Perspektiven, Urteile und Handlungen.25 Warum die Betonung einer personellen Einheit von Urteilender und Handelnder zentral für Arendts politische Theorie ist, wird klar, wenn Arendt Platon vorwirft durch die Trennung von Kontemplation und Handeln Herrschaft rechtfertigen zu wollen. Dies wird besonders an Arendts Diskussion einer platonischen Metapher klar:26 hier setzt Platon die herrschenden Philosophinnen mit Hirten und die Bürgerinnen mit Schafen gleich. Die Metapher macht Bürgerinnen und Philosophinnen zu „two altogether different categories of beings“:27 Schafe sind nun mal ihrer Natur gemäß keine 21 22 23 24 25 26 27
Arendt (Fn. 20), S. 94. Arendt (Fn. 20), S. 94. Arendt (Fn. 20), S. 94. Arendt, The Life of the Mind, Bd. 2: Willing, 1981, S. 271; Arendt (Fn. 13), S. 63, 75. Marshall, Political Theory 2010, S. 376 ff. Vgl. Arendt, in: dies., Between Past and Future, 2006, S. 108. Arendt (Fn. 26), S. 108.
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guten Hirtinnen und Hirtinnen keine gute Herde. Da es eine der platonischen Definitionen des „Guten“ ist, Jede ihrer Natur gemäß zu behandeln, bleiben die Bürgerinnen vom politischen Handeln ausgeschlossen. Die Bürgerinnen werden passiv, können nicht mehr urteilen und überlassen das (pseudo‐)politische Handeln einer Elitenkaste, den Philosophinnen. Eine solche Trennung zwischen Herrschern und Beherrschten – beziehungsweise zwischen Handelnden und vom Handeln ausgeschlossenen – lehnt Arendt ab,28 da diese Trennung Politik von einem Handeln und Debattieren unter Gleichen zu einer Herrschaftsbeziehung reduziere und damit die Bürgerinnen in ein zum Handeln und Urteilen unfähiges „Sklavenvolk“ verwandele.29 Hier wird klar: für Arendt ist nicht der Politik-Output entscheidend, sondern Politik hat einen Selbstwert, an dem die Bürgerinnen nur teilhaben können, wenn sie gleichermaßen zu Debatte und Urteilen befähigt bleiben.30
II. Politisierung und Depolitisierung Die obige Diskussion politischen Urteilens legt eine Forderung relativ umfassender Politisierung nahe, also der Einbeziehung möglichst vieler potentiell öffentlicher Themen in die politische Debatte. Im nun Folgenden will ich aber ein dialektisches Verhältnis zwischen Politisierung und Depolitisierung vorschlagen. In diesem Sinne können durch depolitisierende Maßnahmen wie beispielsweise Dekontestation31 Fragen öffentlichen Lebens entpolitisiert werden. Zum Beispiel kann Ideologie bestimmte kulturelle Aspekte als natürlich und so auch den Status Quo oder eine bestimmte policy als inkontestabel erscheinen lassen und somit die politische Bearbeitung von Fragen verhindern. Sehr ähnlich stellt auch eine Verfassung ein grundlegendes Gesetz dar, das nicht einfach in der Alltagspolitik geändert werden kann. Es setzt dadurch den Rahmen, in dem Alltagspolitik überhaupt stattfinden kann, aber begrenzt diese dadurch auch. Der rechtliche Rahmen depolitisiert also institutionell. Dies kann durchaus positiv sein, da Gesetze den Rahmen bereitstellen, in dem institutionelle Politik stattfinden kann: unter normalen Bedingungen muss sich im demokratischen Rechtsstaat niemand das Recht auf freie Meinungsäußerung jedes Mal neu erkämpfen, wenn sie einen Debattenbeitrag abgeben will. Eine solche begrenzte Depolitisierung ist also notwendig, damit eine dauerhafte politische Sphäre überhaupt erst möglich wird. Es ist daher sinnvoll, einen begrenzten Bereich des öffentlichen Lebens zu depolitisieren. Die
28 Arendt (Fn. 4), S. 195 f., 220 ff., 233 ff. 29 Arendt, in: dies., Die Verborgene Tradition, 1976, S. 75 ff. 30 Arendt, in: dies., Men in Dark Times, 1968, S. 147; vgl. Arendt, American Political Science Association Annual Meeting, 1960, S. 9. 31 Freeden, Ideology. A Very Short Introduction, 2003, S. 54. Recht und Politik, Beiheft 5
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Grenzen dieses Bereichs sind durch das Kriterium festgelegt, dass durch diese Depolitisierung politische Kultur und öffentliches Leben sichergestellt werden. Andererseits sieht Wolin gerade in solcher Depolitisierung das Ende politischer Partizipation: diese „kind of institutionalization has the effect of reducing democracy to a system while taming its politics by process. […] It is a design for administration rather than democracy.“32 Legalisierung und Konstitutionalisierung tragen aus der Perspektive der Dialektik von Politisierung und Depolitisierung also ein Janus-Gesicht: Einerseits wirken Legalisierung und Konstitutionalisierung selbst depolitisierend, andererseits stellen sie die Chance dar, demokratische und rechtstaatliche Errungenschaften dauerhaft zu sichern. Wir könnten also sagen, dass politisches Handeln, indem es durch Handlung seine eigenen Grenzen definiert und somit institutionalisiert, zumindest idealerweise eine Art institutional residue zurücklässt, auf welches zukünftiges politisches Handeln aufbauen kann. Dieses entsteht, wenn durch politisches Handeln eben solche Bedingungen, die zukünftiges politisches Handeln möglich machen, erfolgreich dekontestiert werden. Aus dieser Perspektive ist beispielsweise das gesetzliche Festschreiben der gleichen Berechtigung zur Politik für alle Menschen institutional residue – also etwas, das politisch erkämpft wurde, nun aber gesetzlich garantiert wird. Depolitisierung ist also unter bestimmten Voraussetzungen eine Vorbedingung für politisches Handeln. Da sie sowohl zukünftiges politisches Handeln ermöglichen oder vereinfachen kann, aber eben auch Themen aus dem öffentlichen Raum verbannen kann, die politisch und kontestabel bleiben sollten, ist Depolitisierung an sich weder positiv noch negativ. Andersherum können durch politisches Handeln, wenn sich die Akteure ihrer Kompetenz-Kompetenz bewusst werden, depolitisierte Bereiche wieder politisiert werden. Dieses in Frage stellen der Depolitisierung wurde von Rancière als der eigentlich politische Moment beschrieben.33 Institutional residue ermöglicht aber politisches Handeln auch in diesem Moment des Rancièrschen Widerstands, in dem depolitisierte Normen konfrontativ in Frage gestellt werden, denn selbst dieser Widerstand fällt leichter, wenn – dank eines institutional residue – die Beteiligten nicht mit Willkür- oder gar Kapitalstrafen rechnen müssen. Eine republikanische politische Theorie darf aber depolitisierenden Mechanismen nicht blind gegenüber stehen: Depolitisierende Verrechtlichung kann einerseits Hintergrund für politisches Handeln sein. Wenn allerdings andererseits die damit einhergehende Depolitisierung politischem Handeln und Urteilen nicht mehr dienlich ist, sondern zum Hindernis wird, stellt sich im Gegenzug die Forderung radikaler Politisierung.
32 Wolin, Politics and Vision, 2004, S. 601 ff. 33 Rancière, Theory & Event 2001, Nr. 3, S. 1 ff.; Rancière, Angelaki. Journal of the Theoretical Humanities 2004, Nr. 3, S. 3 ff.; Rancière, Dis-agreement. Politics and Philosophy, 2009; Rancière, in: Agamben u. a. (Hrsg.), Democracy in What State, 2010, S. 76 ff. 50
Recht und Politik, Beiheft 5
Politisches Urteil und Exekutivexpansion
III. Exekutivexpansion als übermäßige Depolitisierung Eine solche Entwicklung, die die Dialektik von Politisierung und Depolitisierung aus dem Tritt bringen könnte, ist die Übernahme von exekutiven Funktionen durch transnationale Institutionen. Da transnationale Institutionen den Grenzen, die durch nationalstaatliche Institutionen gesetzt werden, oft nicht in derselben Weise unterliegen wie nationalstaatliche Exekutivakteure selbst, stellen transnationale Institutionen eine Möglichkeit für Exekutivakteure dar diese Grenzen zu umgehen.34 Um mit dem daraus resultierenden Legitimitätsverlust umzugehen,35 schlägt Habermas36 auf Kants Föderalismusgedanken37 aufbauend eine Konstitutionalisierung der Republiken vor: die höchste, supranationale Ebene würde darin auf die grundlegenden Funktionen der Sicherung von Frieden und Menschenrechten beschränkt sein.38 Die mittlere Ebene würde dabei ungefähr dem Status Quo der internationalen Politik entsprechen, in dem Staaten als Akteure miteinander verhandeln. In diesem Modell weicht Habermas nicht von seinen nicht-idealen Modellen politischer Beteiligung ab, die er in Faktizität und Geltung vorgeschlagen hatte:39 dem Belagerungsmodell, in dem die Öffentlichkeit dauerhaft außerhalb des politischen Zentrums bleibt und die Regierung bei Bedarf von außen unter Druck setzt, und dem Schleusenmodell, in dem es formalisierte „Kanäle“ zum Input in das politische System gibt. In beiden Fällen bleibt politische Entscheidungsfindung und damit politische Debatte und politisches Urteilen oft Eliten überlassen, während die Bürgerinnen die Möglichkeit haben post-hoc zu protestieren (Belagerungsmodell) beziehungsweise durch Petition Input zu geben (Schleusenmodell). Da sein Modell globaler Konstitutionalisierung auf seinen nationalstaatlichen Modellen aufbaut, scheint Habermas damit zufrieden zu sein, Entscheidungsprozesse in internationalen Verhandlungen transparent zu gestalten und Feedback-Schleifen für die Bürgerinnen einzubauen.40 Dies stellt zwar einen gewissen Grad an Zugang zum internationalen politischen System sicher, aber die Rolle der Öffentlichkeit bliebe auch hier eine, die von außen zusieht anstatt aktiv in der Entscheidungsfindung mitzuwirken: eine Debatte ohne politische Konsequenz ist dann keine politische Debatte und 34 Dieser Abschnitt sollte dabei nicht als eine – ohnehin unmögliche – Rückkehr zu nationalstaatlichen Strukturen gelesen werden, sondern vielmehr als ein Plädoyer für eine andere, demokratischere Globalisierung: schließlich eröffnen transnationale und internationale Institutionen auch Möglichkeiten für Partizipation. 35 Habermas, in: ders., Die postnationale Konstellation, 1998, S. 107 ff., 121; Habermas, in: ders., Der gespaltene Westen, 2004, S. 128. 36 Habermas (Fn. 35), S. 134 f. 37 Kant, in: ders., Werke in sechs Bänden, 6. Aufl., Bd. 6, 2005, BA 28 – 39, hier: S. 208 ff. 38 Vgl. außerdem Habermas (Fn. 35), S. 164, und Kant (Fn. 37), BA 35, hier: S. 211. 39 Habermas, in: ders., Faktizität und Geltung, 4. Aufl., 1998, S. 622 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl., 1998, S. 427 ff. 40 Habermas (Fn. 35), S. 166 f. Recht und Politik, Beiheft 5
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Daniel Kuchler
bildet keine Grundlage für politisches Urteilen. Internationale Politik bleibt dann hauptsächlich professionellen Eliten überlassen, die durch formaldemokratische Prozesse ausgewählt werden.41 Habermas’ Modell will nun keine Lösung für die Demokratisierung – und damit auch Politisierung – internationaler Beziehungen anbieten. Internationale Beziehungen können also Legitimität nicht aus der Ermöglichung politischer Partizipation schöpfen. Stattdessen schlägt Habermas vor, dass Legitimität aus nationalen demokratischen Prozessen hergeleitet werden solle. Als Folge könne, da nur der Nationalstaat politische Partizipation garantieren könne, auch nur ein begrenzter Souveränitätstransfer auf Institutionen jenseits des Nationalstaats stattfinden.42 Da internationale Institutionen sich auf nationalstaatliche Legitimität berufen müssen, können sie – Habermas’ Modell folgend – nur so lange als legitim angesehen werden, wie die supranationale Ebene internationaler Organisation sich entsprechend dem Modell auf das Bewahren des Weltfriedens und der Menschenrechte beschränkt und die mittlere Ebene nur dem Verhandeln internationaler Verträge dient, welche wiederum nationalstaatlicher Bestätigung bedürfen. Allerdings ist eine Expansion der supranationalen Ebene wahrscheinlich. Da internationale Regime Skaleneffekte produzieren, können die Transaktionskosten für zukünftige Abkommen innerhalb ihres Rahmens gesenkt werden.43 Daher ist es ökonomisch rational, dass internationale Institutionen ihre Kompetenzen erweitern. Hinzu kommt, dass bürokratische Organisationen aus institutionellem Selbstinteresse zu „Imperialismus“ neigen, also der Ausweitung ihres Budgets, Personals und Zuständigkeitsbereichs.44 Dies würde eine Bedrohung durch eine globale „Expertokratie“ bedeuten.45 Wenn also die mittleren und oberen Ebenen internationaler Politik aufhören nur ermöglichend für die ursprüngliche Legitimationsquelle – die nationalstaatlich basierte Politik – zu wirken, sondern beginnen eigenständig zu handeln, stellt dies die Legitimität des gesamten Konstrukts in Frage. Wenn darüber hinaus internationale Politik nationalstaatliche demokratische Prozesse untergräbt und damit depolitisierend wirkt, untergräbt sie damit ihre eigene Legitimitätsquelle. Aus der Perspektive der Urteilskraft der Bürgerinnen ist Habermas’ Lösung sowieso unzureichend: bereits auf der nationalstaatlichen Ebene offenbaren sich aufgrund der Delegation politischer Entscheidung Partizipationsdefizite, die übermäßig depolitisierend wirken. Wenn nun aber internationale mittlere und obere Ebenen ihre exekutiven Kompetenzen ausbauen, ohne gleichzeitig Möglichkeiten direkter politischer 41 Habermas (Fn. 35), S. 156; Habermas (Fn. 35), S. 127. 42 Habermas (Fn. 35), S. 137 ff. 43 Keohane, After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy, 2005, S. 90. 44 Allison/Zelikow, Essence of Decision: Explaining the Cuban Missile Crisis, 2. Aufl., 1999, S. 181. 45 Habermas, in: ders., Die Normalität einer Berliner Republik, 1995, S. 142 f. 52
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Politisches Urteil und Exekutivexpansion
Partizipation auf derselben Ebene zu schaffen, bedeutet dies, dass die Möglichkeit der Bürgerinnen, politisch zu urteilen, untergraben wird.
IV. Schlussfolgerungen In der gegenwärtigen Politik lässt sich eine Tendenz weg von partizipativen Elementen und hin zu einer „Expertokratie“ feststellen: wir sehen uns mit Problemstellungen konfrontiert, deren Bearbeitung statt durch partizipative Prozesse durch Exekutiven durchgeführt wird. Hierbei werden eigentlich politische Fragen der öffentlichen Debatte entzogen, administrativ geregelt und damit entpolitisiert. Politisches Handeln wird durch eine Balance zwischen Politisierung und Depolitisierung erst möglich. Besonders mit Blick auf Arendts Begriff der Urteilskraft wurde klar, dass die mit einer übermäßigen Expansion der Exekutive verbundene übermäßige Depolitisierung problematisch ist: werden Bürgern politische Entscheidungen entzogen und Debatten nicht geführt, untergräbt dies die Fähigkeit der Bürger politisch zu urteilen. Das drohende Resultat ist politische Apathie gegenüber einer reinen Elitendemokratie.
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II. PERSPEKTIVEN DER BUNDESVERFASSUNGSGERICHTSFORSCHUNG Der Stärkeindex als ein „Framework of Analysis“ für die empirische Verfassungsgerichtsforschung Von Oliver W. Lembcke, Bochum und Kálmán Pócza, Budapest
I. Forschungsperspektive Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat einen immensen Bedeutungszuwachs im globalen Maßstab erfahren.1 Dazu haben die demokratischen Transformationsprozesse von 1989/1990 in Mittel- und Osteuropa maßgeblich beigetragen, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Performanzprofilen: Einige der Verfassungsgerichte sind in diesen Transitions- und Konsolidierungsprozessen kaum in Erscheinung getreten, während andere sich zu den zentralen politischen Akteuren im Rahmen der jungen demokratischen Ordnungen entwickelt haben. Die Literatur hat dieser Entwicklung Rechnung getragen und dabei sowohl die Institutionalisierung als auch die Wirkungen auf die verschiedenen Politikfelder analysiert und kommentiert.2 Mangelware sind hingegen empirische Analysen auf Grundlage einer kohärenten methodischen Anleitung,3 weshalb es auch nicht gelungen ist, die verschiedenen Elemente, die eine mehr oder minder starke Verfassungsgerichtsbarkeit ausmachen,4 über Narrationen hinaus einer strukturellen Analyse zu unterziehen.
1
2
3 4
Stone Sweet, Governing with Judges. Constitutional Politics in Europe, 2000; Hirschl, Towards Juristocracy. The Origins and Consequences of the New Constitutionalism, 2004; Ginsburg, in: Whittington/Caldeira/Kelemen (Hrsg.), The Oxford Handbook of Law and Politics, 2008, S. 81 ff. Sadurski (Hrsg.), Constitutional Justice East and West, 2002; Sadurski, Rights Before Courts. A Study of Constitutional Courts in Postcommunist States of Central and Eastern Europe, 2014; Luchterhandt/Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, 2 Bde., 2007; Schwartz, The Struggle for Constitutional Justice in Post-Communist Europe, 2000; Procházka, Mission Accomplished. On Founding Constitutional Adjudication in Central Europe, 2009. Anders Bricker, Visions of Judicial Review. A Comparative Examination of Courts and Policy in Democracies, 2016. Gardbaum, Duke Journal of Comparative & International Law 2018, S. 1 ff.
Recht und Politik, Beiheft 5 (2020), 54 – 62
Duncker & Humblot, Berlin
Der Stärkeindex als ein „Framework of Analysis“
Das JUDICON-Projekt setzt hier ein und möchte zur methodengeleiteten Analyse der verfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis beitragen.5 So wird zum einen angestrebt, ein möglichst differenziertes Bild über die Rechtsprechungspraxis der jeweiligen Gerichte zu gewinnen, wobei sich das JUDICON-Projekt zunächst einmal auf die Region Mittel- und Osteuropa konzentriert hat.6 Zum anderen sollen allgemeine Aussagen über die Performanz und Stärke von Verfassungsgerichten aufgestellt und überprüft werden. Um den Vergleich zwischen den Verfassungsgerichten zu ermöglichen, beschränkt sich das Projekt auf einen spezifischen Fokus, nämlich auf die Analyse der Beziehung zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit einerseits und der Gesetzgebung andererseits; eine Beziehung, die mit folgendem Erkenntnisinteresse untersucht wird: Wie stark trachten Verfassungsgerichte danach, den politischen Handlungsspielraum des Gesetzgebers durch ihre Entscheidungen einzuschränken? Welcher Instrumente innerhalb ihrer Rechtsprechung bedienen sie sich dafür? Und wie lässt sich die Stärke verfassungsgerichtlicher Entscheidungen messen?
II. Framework Seinen Ausgangspunkt nimmt der Ansatz bei der Dekomposition verfassungsgerichtlicher Entscheidungen.7 Im Unterschied zu bisherigen Ansätzen dient als Beobachtungseinheit die Anordnung innerhalb einer Entscheidung, die ihrerseits mehrere Anordnungen enthalten kann. In der Praxis der Verfassungsgerichte zeigen sich hier bereits im Ländervergleich erhebliche Unterschiede.8 Diese Unterschiede zu identifizieren und ihre Bedeutung zu analysieren, steht im Zentrum des hier vorgeschlagenen Frameworks. Danach lassen sich verfassungsgerichtliche Entscheidungen in drei grundsätzliche Komponenten zerlegen: – Die erste und zugleich wichtigste Komponente, der Tenor, ist operativer Art, denn er enthält die unmittelbare Regelungsanweisung; – die zweite Komponente formuliert weitergehende Vorgaben, die sich darauf richten, wie die Verfassungswidrigkeit ggf. zu korrigieren oder ihr vorzubeugen sei; 5
6
7 8
Die weiteren Ausführungen stützen sich auf andernorts veröffentlichte Aufsätze; zu den methodischen Aspekten vgl. insbesondere Pócza/Dobos/Gyulai, German Law Journal 2017, S. 1557 ff.; Pócza/Dobos, in: Pócza (Hrsg.), Constitutional Politics and the Judiciary: Decisionmaking in Central and Eastern Europe, 2018, S. 8 ff., sowie Lembcke/Pócza, in: Reutter (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat, 2019 [im Erscheinen]. Während das Pilotprojekt an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften war (https:// judicon.tk.mta.hu), wurde seine Fortsetzung an der Nationalen Universität für öffentlichen Dienst gestartet; weitere Informationen finden sich unter: https://judiconeu.uni-nke.hu; Pócza, in: ders. (Hrsg.), Constitutional Politics and the Judiciary: Decision-making in Central and Eastern Europe, 2018, S. 1 ff. Pócza/Dobos/Gyulai (Fn. 5); Lembcke, in: Reutter (Hrsg.), Landesverfassungsgerichte. Entwicklung – Aufbau – Funktionen, 2017, S. 389 ff. Pócza/Dobos (Fn. 5), S. 8 ff.
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Oliver W. Lembcke und Kálmán Pócza
– schließlich findet sich überdies typischerweise auch eine Begründungskomponente, die eine eigene Relevanz für die Befriedungswirkung gerichtlicher Entscheidungen besitzt, weil sie, über Dogmatik vermittelt, eine erhebliche Bedeutung für die Rationalität und damit für die Qualität der Entscheidung besitzt. Da sich das JUDICON-Projekt jedoch auf die Stärke verfassungsgerichtlicher Entscheidungen konzentriert und hierbei vor allem die Beschränkung des Handlungsspielraums des Gesetzgebers in den Blick fasst, tritt auf Basis dieser Forschungsperspektive die Qualität der Begründung in den Hintergrund. Denn Vielfalt und Stärke der Anordnungen hängen vor allem von den Vorgaben, d. h. von den beiden ersten Komponenten ab.
III. Anordnungen – erste Dimension Eine Entscheidung des Verfassungsgerichts kann mehrere Anordnungen enthalten und bezieht sich auf den Urteilstenor und die darin enthaltene Feststellung, ob die Klagen und Anträge für verfassungsmäßig/verfassungswidrig erklärt wurden. Der Tenor gibt überdies Auskunft über die Art der Anordnung; folgende Typen lassen sich unterscheiden: Tabelle 1 Anordnungen (1)
(2)
Zurückweisung legislatives oder Versäumnis Ablehnung
(3)
(4)
prozedurale Verfassungswidrigkeit
verfassungssubstantielle konforme In- Verfassungsterpretation widrigkeit
(5)
(6) abstrakte Verfassungsinterpretation
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Pócza/Dobos (Fn. 5), S. 13.
(1) Zurückweisung und Ablehnung: Anträge werden abgelehnt, sofern das Gesetz in vollem Einklang mit der Verfassung steht. Sie können aber auch ohne inhaltliche Prüfung wegen Unzulässigkeit zurückgewiesen werden. (2) Verfassungswidrigkeit aufgrund gesetzgeberischen Unterlassens: Verfassungswidrigkeit kann nicht nur durch die Aktivität des Gesetzgebers, sondern auch durch gesetzgeberisches Unterlassen entstehen. Solche „Gesetzeslücken“ können entweder durch Untätigkeit oder infolge mangelhafter bzw. unvollständiger Gesetzgebung entstehen. In beiden Fällen beschränkt sich das Gericht jedoch darauf, an den Gesetzgeber zu appellieren, den verfassungswidrigen Zustand zu beheben („Appellentscheidung“). (3) Prozedurale Verfassungswidrigkeit: Der Typus der prozeduralen Verfassungswidrigkeit bezieht sich auf Normen, die wegen eines verfahrensrechtlichen Fehlers im Gesetzgebungsprozess annulliert werden. Gegenstand ist mithin die Feststellung eines Verfahrensfehlers (und nicht eines „Fehlers“ bezogen auf den Norminhalt), so dass für den Gesetzgeber die Möglichkeit besteht, ein Gesetz gleichen Inhalts – aber im Einklang mit dem dafür vorgesehenen Verfahren – noch einmal zu verabschieden. Darin 56
Recht und Politik, Beiheft 5
Der Stärkeindex als ein „Framework of Analysis“
besteht der Lackmustest. Erfolgt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit aufgrund der Verletzung von Rechtsstaatsprinzipien (z. B. Bestimmtheitsgrundsatz, Rückwirkungsverbot etc.), gehören diese Fälle zur materiellen Verfassungswidrigkeit. Zwar ist in solchen Fällen auch eine formale Seite der Norm betroffen, aber mit der Folge, dass diese nicht inhaltsgleich wieder in den Gesetzgebungsprozess eingespeist werden kann. Das ist anders beim Typus der prozeduralen Verfassungswidrigkeit, zu dem Fälle wie die Verletzung der verfahrensrechtlichen Vorschriften der Gesetzgebung, der Verletzung des Prinzips der Hierarchie der Rechtsquellen, die Unterlassung der vorgeschriebenen Konsultation im Gesetzgebungsprozess oder das Versäumnis einer inhaltlichen Debatte im Gesetzgebungsverfahren gehören. (4) Verfassungskonforme Interpretation des Gesetzes: Dieser Typus ermöglicht es dem Gericht, den Handlungsspielraum des Gesetzgebers auch im Falle einer Ablehnung des Antrags einzuschränken, und zwar erstens durch eine verfassungskonforme Interpretation des Gesetzes und/oder zweitens durch Festlegung verfassungsrechtlicher Anforderungen (entweder für die Gerichte oder für den Gesetzgeber). Verfassungsrechtliche Anforderungen im Tenor der Entscheidung können ein Gesetz erheblich beeinflussen, ohne es zu annullieren. Indem das Gericht Richtlinien oder Weisungen erteilt, ergänzt es den Wortlaut des Gesetzes und wird dadurch selbst zu einem positiv gestaltenden Rechtssetzer. Dieses Instrument ist ambivalent, weil das Gericht entweder vorsichtig, zurückhaltend oder dezidiert machtvoll auftreten kann – mit entsprechender Wirkung auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers. (5) Materielle Verfassungswidrigkeit: Die Feststellung einer materiellen Verfassungswidrigkeit schränkt den Spielraum des Gesetzgebers nachhaltig ein, weil seiner Gestaltungsmacht inhaltliche Schranken gezogen werden. Während beim gesetzgeberischen Unterlassen das Gericht die Politik zum Handeln auffordert, bei einer verfassungskonformen Auslegung der Gesetzgeber weitgehend „geschont“ werden soll und die prozedurale Verfassungswidrigkeit die Option, ein inhaltsgleiches Gesetz zu erlassen, nicht ausschließt, verändert die substantielle Verfassungswidrigkeit den Status quo innerhalb eines Rechtsgebiets, mitunter sogar in drastischer Art und Weise. (6) Abstrakte Verfassungsinterpretation: Das schärfste Schwert, das einem Verfassungsgericht zur Verfügung steht, ist die abstrakte Verfassungsinterpretation. Hier tritt das Gericht nicht nur als Gesetzgeber auf, sondern als Verfassungsgeber (pouvoir constituant), weil es den Verfassungstext durch eigene Interpretation verändert, etwa durch Ergänzung oder Erweiterung.9
9
Stone Sweet, in: Rosenfeld/Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, 2012, S. 826.
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IV. Reichweite – zweite Dimension Anordnungen des Verfassungsgerichts unterscheiden sich nach ihrer Reichweite, d. h. in dem Ausmaß, in dem sie sich auf die in Frage stehende Rechtsmaterie bzw. auf den Rechtssatz beziehen: Gesetz, einzelne Norm, Teilregelung innerhalb einer Norm. Eine vollständige Annullierung, die de facto selten ist, bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ein Gesetz in toto vom Verfassungsgericht aufgehoben wird. Üblicher ist es, dass nur bestimmte Teile außer Kraft gesetzt werden. Tabelle 2 Reichweite (1)
(2)
(3)
qualitative partielle Annullierung
quantitative partielle Annullierung
komplette Annullierung
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Pócza/Dobos (Fn. 5), S. 13.
Zudem sollte zwischen qualitativ-partieller und quantitativ-partieller Annullierung unterschieden werden: Die qualitativ-partielle Annullierung, verstanden als eine Art negative Anordnung, meint, dass das Verfassungsgericht das Gesetz oder einen Teil des Gesetzes nur insoweit für verfassungswidrig erklärt, als die Norm verfassungswidrig ausgelegt werden kann. Mithin ist nach Lesart des Gerichts auch eine andere Auslegung derselben Norm oder des gleichen Gesetzgebungsakts denkbar, die mit der Verfassung in Einklang steht. Zur Behebung des verfassungswidrigen Zustandes drängt sich daher typischerweise für den Gesetzgeber eine ziemlich einfache Lösung auf. Er muss im Grunde nur mit gesetzgeberischen Mitteln die verfassungswidrige Auslegungsvariante ausschließen. Im Gegensatz dazu bedeutet die quantitativ-partielle Annullierung, dass nicht nur eine bestimmte Auslegung der Norm, sondern sämtliche Normen verfassungswidrig sind – mit der Folge, dass das Verfassungsgericht diesen Teil des Gesetzes insgesamt für nichtig erklärt.
V. Temporaler Effekt – dritte Dimension Verfassungsgerichtliche Anordnungen treffen überdies Aussagen über die Zeitstruktur der Verfassungswidrigkeit, die ihrerseits Auswirkungen auf den Gesetzgeber hat: So gewähren Anordnungen, die die Behebung der Verfassungswidrigkeit pro futuro vorschreiben, dem Gesetzgeber eine Übergangszeit. Tabelle 3 Temporaler Effekt (1)
(2)
(2)
pro futuro
ex nunc
ex tunc
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Pócza/Dobos (Fn. 5), S. 13.
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Recht und Politik, Beiheft 5
Der Stärkeindex als ein „Framework of Analysis“
Die Entscheidung des Gerichts mag eine politische oder rechtliche Zäsur zur Folge haben; diese wirkt sich jedoch nicht unmittelbar auf die Gesetzgebung aus, sondern belässt den politischen Akteuren Zeit. Dies ist bei Anordnungen ex nunc nicht der Fall und noch weniger bei der radikalsten Form, in der das Gericht die Norm von Anfang an für „nichtig“ erklärt (ex tunc). Während eine Anordnung ex nunc unmittelbar in Kraft tritt und dem Gesetzgeber keinen Spielraum gewährt, hebt eine Anordnung ex tunc eine Norm rückwirkend auf.
VI. Anweisungen – vierte Dimension Sofern Verfassungsgerichte nicht darauf verzichten, dem Gesetzgeber Anweisungen zur Regelung von verfassungswidrigen Zuständen vorzugeben, haben die Richterinnen und Richter einen relativ großen Spielraum: Sie können Empfehlungen aussprechen oder Hinweise geben, verfassungsrechtliche Anforderungen oder Leitlinien formulieren; sie können überdies antizipieren, welche Art von Gesetzgebungsakten sich in Zukunft als verfassungswidrig erweisen könnte; und sie können konkrete(re) Anweisungen geben, was der Gesetzgeber bei der Neuregelung (in jedem Fall) zu beachten hat – und sei es nur, um einer neuerlichen Verfassungswidrigkeit vorzubeugen. Tabelle 4 Anweisungen (1)
(2)
(3)
(4)
keine Anweisung
unverbindliche Hinweise
Hinweise in den Leitsätzen
verbindliche Anweisung
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Pócza/Dobos (Fn. 5), S. 13.
Da die Vorschriften je nach ihrer Verbindlichkeit variieren, ist es sinnvoll, vier Kategorien zu unterscheiden, die die Vielfalt der Vorschriften widerspiegeln: Anweisungen, die im Tenor einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung enthalten sind, haben einen eindeutigen rechtsverbindlichen Charakter und sind, funktional betrachtet, ein Äquivalent zu einer verfassungskonformen Auslegung des Gesetzes. Im Gegensatz dazu stehen Hinweise, die ihrem Sinn nach eine Regelungsvorgabe darstellen, sich aber ausschließlich in der Begründung finden. Handelt es sich nur um ein obiter dictum oder sind die Gründe durch einen formelhaften Verweis doch als Teil des Tenors zu begreifen? De facto darf man davon ausgehen, dass solche Hinweise sehr wohl von den politischen Akteuren gelesen und berücksichtigt werden (was nicht bedeutet, dass man ihnen auch folgt). Dies gilt umso mehr, sofern sich solche Hinweise an hervorgehobener Stelle der Entscheidung finden, etwa den Leitsätzen. In solchen Fällen erheben sie einen größeren normativen Anspruch, verglichen mit jenen Hinweisen in der Begründung, aber einen geringeren als jene, die ihren Platz im Tenor der Entscheidung gefunden haben.
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Oliver W. Lembcke und Kálmán Pócza
VII. Stärke gerichtlicher Verfügungen Um die Stärke der gerichtlichen Anordnungen messen zu können, müssen die oben dargestellten Elemente zueinander in Beziehung gesetzt und gewichtet werden. Dabei sind folgende Prinzipien zu beachten.10 Erste Dimension: Die Skala der Anordnungen ist relativ umfangreich und reicht von der Ablehnung des Antrags aus formalen Gründen bis zu Regelungsanordnungen, in denen das Verfassungsgericht selbst zur verfassunggebenden Gewalt erstarkt. Anhand der bereits vorgenommenen Unterscheidungen lässt sich die Gewichtung der Stärke wie folgt vornehmen: (1) Eine Zurückweisung oder Ablehnung beschränkt den Spielraum des Gesetzgebers nicht [0,00]. (2) Die Feststellung einer Verfassungswidrigkeit aufgrund gesetzgeberischen Unterlassens appelliert nur an den Gesetzgeber, eine neue Regelung zu erlassen oder ein Gesetz zu ergänzen, sie macht dafür aber keine weitergehenden inhaltlich verbindlichen Vorgaben [+0,50]. (3) Eine prozedurale Verfassungswidrigkeit annulliert die gesetzliche Regelung aufgrund eines Verfahrensfehlers, schreibt jedoch im Falle der Fehlerbeseitigung qua neuerlicher gesetzlicher Regelung keine inhaltlichen Änderungen vor [+1,00]. (4) Die verfassungskonforme Interpretation des Gesetzes beschränkt den Handlungsspielraum des Gesetzgebers stärker als im Falle einer prozeduralen Verfassungswidrigkeit, da das Verfassungsgericht den Inhalt der gesetzlichen Regelung entweder ergänzt oder verändert, das inkriminierte Gesetz aber ansonsten schont [+2,00]. (5) Stellt das Gericht eine materielle Verfassungswidrigkeit fest, muss die gesetzliche Regelung annulliert werden. Diese Anordnung greift stärker in den gesetzgeberischen Handlungsspielraum ein als die vorangegangenen Formen, weshalb sie auch stärker gewichtet werden muss. Die Regel muss daher lauten, dass die schwächste Kombination der substantiellen Verfassungswidrigkeit – d. h. mit einer Reichweite (2. Dimension), die sich nur auf eine qualitativ-partielle Änderung beschränkt, die nur eine pro futuro Wirkung entfalten soll (3. Dimension) und keine weitere Regelungsanweisungen (4. Dimension) vorsieht – immer noch schwerer wiegen sollte als die stärkste Form der prozeduralen Verfassungswidrigkeit, die eine komplette Annullierung der angegriffenen Norm ex tunc nebst weitere inhaltlicher Regelungsanweisungen vorsieht [+6,00]. (6) Verglichen mit den anderen Anordnungen gilt die abstrakte Verfassungsinterpretation als stärkste Einschränkung des Gesetzgebers. Aus diesem Grund ist die abstrakte Verfassungsinterpretation mindestens grundsätzlich so stark zu gewichten wie die stärkste Form der materiellen Verfassungswidrigkeit, d. h. eine vollständige Aufhebung der Norm ex tunc, angereichert durch verbindliche inhaltliche Vorgaben zur Regelung durch den Gesetzgeber [+10,00]. Diese Stärke ist jedoch nur in jenen Fällen gegeben, in 10 Zu den Regeln der Gewichtung der einzelnen Elemente vgl. Pócza/Dobos (Fn. 5), S. 21 ff. 60
Recht und Politik, Beiheft 5
Der Stärkeindex als ein „Framework of Analysis“
denen die abstrakte Verfassungsinterpretation die Gesetzgebung auch tatsächlich einschränkt. Sehr wohl möglich sind auch Entscheidungen, mit denen der Spielraum des Parlaments gegenüber anderen politischen Akteuren erweitert wird. Daher ist aus der Perspektive des Gesetzgebers zwingend zwischen einer einschränkenden und einer nicht-einschränkenden abstrakten Verfassungsinterpretation zu unterscheiden, die im Einzelfall bewertet werden muss [+10,00 bzw. 0,00]. Tabelle 5 Gewichtung – erste Dimension (Anordnungen) Zurückweisung legislatives oder Versäumnis Ablehnung
prozedurale Verfassungswidrigkeit
verfassungssubstantielle konforme In- Verfassungsterpretation widrigkeit
abstrakte Verfassungsinterpretation
0,00
+1,00
+2,00
+10,00
+0,50
+6,00
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Pócza/Dobos (Fn. 5), S. 22.
Zweite und dritte Dimension – Reichweite und temporaler Effekt: Die Frage, ob das Verfassungsgericht das ganze Gesetz für nichtig erklärt (komplette Annullierung), bestimmte Normen oder Teilregulierungen (quantitativ-partielle Annullierung) oder lediglich bestimmte Interpretationen einer Rechtsbestimmung (qualitative Teilaufhebung) für verfassungswidrig hält, stellt einen geringeren Eingriff dar als die Anordnung, soweit diese inhaltliche Vorgaben macht. Dieser Umstand ist im Rahmen der Gewichtung zu beachten, und zwar sowohl mit Blick auf die Anordnung als auch auf die Anweisung. So wird die qualitative-partielle Annullierung als schwächste Form [0,00] gewichtet, die quantitative partielle Annullierung als mittlerer Bereich [+0,50] und die vollständige Nichtigerklärung als stärkste Form [+1,00] betrachtet. Dieselben Überlegungen treffen auf den temporalen Effekt zu, dessen drei Kategorien daher ebenso entsprechend zu gewichten sind. Tabelle 6 Gewichtung – zweite und dritte Dimension Reichweite
qualitative partielle Annullierung
quantitative partielle Annullierung
Temporaler Effekt pro futuro ex nunc Stärke 0,00 +0,50 Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Pócza/Dobos (Fn. 5), S. 22.
komplette Annullierung ex tunc +1,00
Vierte Dimension – Anweisung: Da Verfassungsgerichte die Gesetzgebung in gewissem Umfang durch die Festlegung verbindlicher Regelungsvorgaben ersetzen können, besitzt dieses vierte Element – analog zur verfassungskonformen Interpretation des Gesetzes – inhaltliche Wirkung, die sich in der Gewichtung widerzuspiegeln hat. Je nach Ort innerhalb der Anordnung steigt der Grad an Verbindlichkeit: Hinweise in der Begründung können, müssen aber nicht vom Gesetzgeber als verbindlich verstanden
Recht und Politik, Beiheft 5
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Oliver W. Lembcke und Kálmán Pócza
werden [+1,00]; das trifft auch auf jene Anweisungen zu, die sich im Leitsatz finden, mit denen jedoch seitens des Verfassungsgerichts eine größere Relevanz signalisiert wird [+1,50]. Verbindlichkeit erlangen die Anweisungen im und durch den Tenor, weshalb sie im Effekt einer verfassungskonformen Entscheidung gleichzustellen sind [+2,00]. Tabelle 7 Gewichtung – vierte Dimension (Anweisungen) keine unverbindliche Hinweise verbindliche Anweisung Hinweise in den Leitsätzen Anweisung 0,00 +1,00 +1,50 +2,00 Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Pócza/Dobos (Fn. 5), S. 22.
VIII. Ausblick Es liegt auf der Hand, dass der Begriff „Stärke“ einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung wie ein „Fremdkörper“ im Kontext einer juristischen Terminologie wirkt. Er bringt jedoch das Vorhaben auf den Begriff, das im Zentrum des JUDICON-Projekts steht: Es geht darum, ein Messkonzept zu entwickeln, das Antworten auf die Frage ermöglicht, wie „stark“ Verfassungsgerichte den gesetzgeberischen Spielraum einschränken. Während verfassungsgerichtliche Entscheidungen stets verbindlich für die Politik sind, können sie die legislativen Optionen in unterschiedlichem Ausmaß einschränken. Werden vom Gericht etwa nur Verfahrensfehler moniert, könnte der Gesetzgeber sein politisches Programm neuerlich und unverändert in Gesetzesform erlassen. In den anderen Fällen, in denen materielle Aspekte vom Gericht als verfassungswidrig beanstandet werden, müsste das Gesetzesvorhaben auch in inhaltlicher Hinsicht eine Veränderung erfahren, um vor den Augen der Richter Bestand zu haben – eine vergleichsweise „stärkere“ Beschränkung des gesetzgeberischen Handlungsspielraums. Deutlich wird an diesen Hinweisen, dass der Ansatz nicht intendiert, die Effekte einer gerichtlichen Entscheidung zu messen. Der Begriff „Stärke“, wie er in diesem Forschungsprojekt verwendet wird, ist mit dem „Punch“ beim Boxen vergleichbar. Es geht hier zunächst einmal darum, die Wucht des Schlags zu ermessen – und nicht darum, welchen Effekt der Schlag auf den anderen Boxer besitzt. Aus dieser Perspektive heraus betrachtet, lässt sich etwa am Beispiel der Rechtsprechung des BVerfG innerhalb der letzten 25 Jahre erkennen, dass die Verfassungsrichter zweifellos eine Reihe von Gelegenheiten wahrgenommen haben, um starke Entscheidungen zu treffen, ohne jedoch eine solche Machtausübung zu verstetigen,11 so wie es beispielsweise der Verfassungsgerichtshof Ungarns in den neunziger Jahren versucht hat.12 11 Lembcke, in: Pócza (Hrsg.), Constitutional Politics and the Judiciary: Decision-making in Central and Eastern Europe, 2018, S. 61 ff. 12 Lembcke/Boulanger, in: Toth (Hrsg.), Constitution for a Disunited Nation. Hungary’s New Fundamental Law, 2012, S. 269 ff. 62
Recht und Politik, Beiheft 5
Bundesverfassungsgerichtsforschung und Rechtssoziologie Von Christian Boulanger, Berlin1
I. Konvergenz politikwissenschaftlicher und rechtssoziologischer Forschung Die Rechtssoziologie ist nach ihrem eigenen Anspruch „die Wirklichkeitswissenschaft vom Recht“2. Sie will das „Sein“ des Rechts und dessen Wechselwirkungen mit der Gesellschaft beschreiben und erklären.3 Obwohl Gerichte ein zentrales Forschungsobjekt der Rechtssoziologie darstellen, hat das Bundesverfassungsgericht bisher sehr wenig Aufmerksamkeit erfahren.4 Der Hauptimpuls zur empirischen Erforschung des Verfassungsgerichts kam aus der Politikwissenschaft, die das Gericht zwar erst relativ spät für sich entdeckt hat,5 aber seitdem umso intensiver bearbeitet.6 1 2 3 4
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Ich danke Theresa Merkens für die Mithilfe bei der Recherche für diesen Text. Rehbinder, Rechtssoziologie, 8. Aufl., 2014, S. 1. Baer, Rechtssoziologie, 3. Aufl., 2017; Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 6. Aufl., 2013; Röhl, Rechtssoziologie, 1987. So finden sich etwa in der „Zeitschrift für Rechtssoziologie“, die den Stand der deutschsprachigen Forschung im Fach abbildet, im Zeitraum 1981 – 2019 sechs Artikel, die sich auf der Grundlage rechtssoziologischer Theorie mit dem Gericht befassen: Schaal, ZfRSoz 2000, S. 419 ff.; Bornemann, ZfRSoz 2007, S. 75 ff.; Kranenpohl, ZfRSoz 2009, S. 135 ff.; Deters/ Krämer, ZfRSoz 2011, S. 7 ff.; Gawron/Rogowski, ZfRSoz 1996, S. 177 ff.; Brodocz, ZfRSoz 2003, S. 183 ff. Auch außerhalb der Zeitschrift findet sich nur wenig systematische rechtssoziologische Forschung zum Gericht; dabei sind insbesondere die Beiträge von Erhard Blankenburg, Thomas Gawron und Ralf Rogowski zu nennen. Blankenburg/Treiber, in: Hassemer (Hrsg.), Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 9 ff.; Blankenburg/Treiber, JZ 1982, S. 543 ff.; Blankenburg, in: Machura/Ulbrich (Hrsg.), Recht – Gesellschaft – Kommunikation, 2003, S. 64 ff.; Rogowski/Gawron, Constitutional Courts in Comparison, 2016; Gawron/Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007. Zu Blankenburg siehe auch Bryde, in: Brand/Strempel (Hrsg.), Soziologie des Rechts, 1999, S. 47 ff. van Ooyen/Möllers, in: dies. (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 9 ff.; Herrmann, in: Schrenk/Soldner (Hrsg.), Analyse demokratischer Regierungssysteme, 2010, S. 401 ff.; van Ooyen, RuP 2017, S. 120 ff. Einen Überblick bieten van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, sowie Herrmann, (Fn. 5), S. 401 ff.
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Duncker & Humblot, Berlin
Christian Boulanger
Wie ist dieses Missverhältnis zu erklären? Ein Faktor könnte sein, dass die Rechtssoziologie traditionell stark mit zivilrechtlichen, insbesondere arbeitsrechtlichen Fragen verbunden war, bevor erst in letzter Zeit Vertreter*innen des öffentlichen Rechts in den Vordergrund rückten.7 Entscheidender ist aber wohl, worauf der Rechtssoziologe und Verfassungsrichter Brun-Otto Bryde aufmerksam gemacht hat. Die rechtssoziologische Erforschung wird – so Bryde – eigentlich dadurch erleichtert, dass die Fallstudien viel besser dokumentiert sind als die der auch viel schwieriger zugänglich ordentlichen Gerichte; sowie dass „außerjuristische Faktoren der Rechtsentwicklung“ in der Verfassungsrechtsprechung viel greifbarer sind als in unterverfassungsrechtlichen Rechtsstreitigkeiten. Erschwerend sei dagegen, „daß sich rechtssoziologische Generalisierungen über Richter, Gerichte oder Rechtskultur auf sie nur bedingt übertragen lassen, aber auch umgekehrt Erkenntnisse über Verfassungsgerichte nicht ohne weiteres in allgemeine Theorien über das Verhältnis von Recht und Gesellschaft integriert werden können.“8 Das Gericht ist stärker in das politische System eingebunden als andere Gerichte. Es hat weniger und öffentlich sichtbareres Personal. Durch den großen Anteil von Hochschullehrer*innen und auch Politiker*innen unterscheiden sich Verfassungsrichter und -richterinnen auch erheblich von der üblichen sozialen Gruppe der Berufsrichterinnen und -richter. Verfassungsgerichtsurteile entscheiden vor allem „Hard Cases“9 und sie sind in den meisten Fällen abschließend. Dies steht in starkem Kontrast zu den Instanzgerichten, die ähnliche Sachverhalte immer wieder und relativ gleichförmig entscheiden und damit die oftmals dem formalen Recht zugeschriebene „Rechtssicherheit“ erst herstellen. Wie Bryde feststellt, wurde die disziplinenübergreifende Bearbeitung des Rechts (die Verfassungsgerichtsforschung eingeschlossen) lange durch die „Zersplitterung in kleine bis kleinste Gruppen (Rechtssoziologie, Kriminologie, Verwaltungslehre, Rechtspolitologie, Rechtspsychologie usw.) empfindlich geschwächt“.10 Diese Fragmentierung hat vor allem historisch-institutionelle Gründe und wird erst langsam überwunden. In den letzten Jahren konvergieren die Forschungsbemühungen von politikwissenschaftlicher und rechtssoziologischer Seite.11 Allerdings ist auch diese Form interdisziplinärer Zusammenarbeit nicht einfach eine Frage des guten Willens, sondern wird von einer Reihe sachfremder Faktoren behindert wie etwa fachspezifische institutionelle Strukturen, Themenkonjunkturen sowie Karriere- und oder Drittmittelopportunitäten in den einzelnen beteiligten Disziplinen. Die Rechtssoziologie ist ein anschaulicher Fall 7 Interessanterweise wurden viele juristische Rechtssoziolog*innen in das Bundesverfassungsgericht gewählt. Wenn man die Mitgliedschaft in der Vereinigung für Rechtssoziologie zum Kriterium macht, sind es die Richter*innen Hassemer, Hoffmann-Riem, Grimm, Limbach, Bryde und Baer. 8 Bryde (Fn. 4), S. 502. 9 Dworkin, Harvard L. Rev. 1975, S. 1057 ff. 10 Bryde (Fn. 4), S. 409. 11 Sichtbar etwa in der interdisziplinären Zusammensetzung des Arbeitskreises Politik und Recht der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. 64
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hierfür: vom Namen her ist die Rechtssoziologie „der Teil der Soziologie, welcher sich mit dem Rechtswesen beschäftigt“,12 und damit eine Soziologie, „die als empirischtheoretische Wissenschaft betrieben wird“.13 Dies steht in offensichtlichem Widerspruch zur Tatsache, dass es in der Soziologie in Deutschland keine eigenen RechtssoziologieLehrstühle gibt und die Rechtssoziologie vor allem an juristischen Fakultäten gelehrt wird, dort aber nur im „Nebenberuf“. In der Rechtswissenschaft ist eine rechtssoziologische Spezialisierung für die akademische Karriere nicht förderlich; es bestehen auch sonst wenig Anreize für die Investition von Forschungsenergie (d. h. konkret: Zeit und Geld) in die Verfolgung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen.14 Nicht überraschend ist die Perspektive der Jurist*innen an der Rechtssoziologie vorwiegend die des Konsumenten, nicht Produzenten empirischer Forschung: die Rechtssoziologie soll zu „besserem Recht“ beitragen, indem sie die Rechtsanwender*innen über die soziologischen Grundlagen des Rechts aufklärt und empirisches Datenmaterial für die juristische, d. h. normative Argumentation liefert. Diese Art von „Rechtstatsachenforschung“ ist schwer anschlussfähig an sozialwissenschaftliche Debatten.15 Welches spezifisch rechtssoziologische Wissen sollte von einer interdisziplinär aufgestellten Verfassungsgerichtsforschung rezipiert werden?16 Dabei geht es zum einen darum, Forschungsenergien effizient einzusetzen und andererseits zu vermeiden, dass Themen und Theorien als neu präsentiert werden, die in der Rechtssoziologie schon lange diskutiert werden. Gleichzeitig muss beachtet werden, dass sich die Rechtssoziologie über die Zeit stark verändert hat. In den 1970ern trat sie in vielen Fällen mit dem Duktus einer Aufdeckung der „wahren“ Verhältnisse des Rechts in Erscheinung und brachte sich damit in scharfen Gegensatz zu dem damals noch überwiegend konservativen Personal in den juristischen Fakultäten.17 Dieser konfrontative Ansatz war strategisch, aber auch inhaltlich unfruchtbar. Strategisch, weil er bei den Juristen für eine Abwehrhaltung gesorgt hat, die bis heute nachwirkt. Aber auch inhaltlich wird die scharfe Entgegensetzung von „Recht“ und „Wirklichkeit“ weder der Empirie noch – zumindest heute – dem Stand der juristischen Selbstreflektion gerecht. Die vielzitierte Kontrastierung von „Law in the Books“ vs. „Law in Action“ (Pound)18 bzw. die zwischen dem „lebenden Recht“ (Ehrlich)19 und einer „leblos“ imaginierten Rechtsmaterie ist anschaulich, verleitet aber zur Vernachlässigung der Wirkmächtigkeit des formalen 12 Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 4. Aufl., 2007, S. 2. 13 Opp, Soziologie im Recht, 1973, S. 15. 14 Zur institutionellen Lage der Rechtssoziologie siehe etwa Machura, Int. J. L. in Context 2012, S. 506 ff. 15 Machura, ZfRSoz 2001, S. 293 ff. 16 Siehe auch Voigt, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 69 ff. 17 Vgl. Wrase, ZfRSoz 2006, S. 289 ff. 18 Pound, Am. L. Rev. 1910, S. 12 ff. 19 Vgl. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1967; Raiser, Das lebende Recht, 1999. Recht und Politik, Beiheft 5
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Rechts und der juristischen Argumentation.20 Gerade die Verflechtungen zwischen Normen, Rechtsdiskurs, Rechtspraxis und gesellschaftlicher „Wirklichkeit“ des Rechts stehen im Blickpunkt der heutigen Rechtssoziologie. Das umfasst auch ein neues Interesse für die empirische Erforschung der Rechtsdogmatik.21 Im Folgenden sollen beispielhaft drei Debatten in der politikwissenschaftlichen Verfassungsgerichtsforschung darauf abgeklopft werden, was die Rechtssoziologie zu den behandelten Fragen beitragen kann.
II. Rolle und Funktion von Verfassungsgerichten Die Debatte um die Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit, sowie darüber, welches Verhalten Verfassungsgerichte in wichtigen Einzelfragen an den Tag legen sollten, füllt ganze Bibliotheken. Sie scheint aber, da es um eine normative Fragen geht, zunächst eher zur Rechtsphilosophie, Rechtsdogmatik und politischen Theorie zu gehören, weniger zur Rechtssoziologie oder zur empirischen Politikwissenschaft. Tatsächlich aber ist diese Debatte ein wichtiger Untersuchungsgegenstand empirischer, auch rechtssoziologischer Studien. Einerseits, weil aus empirischer Sicht Legitimitätszuschreibungen immer kontextabhängig sind. Verallgemeinerte Aussagen zur Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit, die ohne die Analyse der tatsächlichen Performanz und der politischen und sozialen Umwelt von Verfassungsgerichten auskommen, haben nur geringe Plausibilität.22 Andererseits ist die Debatte über das Für und Wider von verfassungsrichterlichem Aktivismus selbst Datenmaterial für die Frage der empirischen Legitimität, d. h. der Akzeptanz und Autorität der Verfassungsgerichtsbarkeit. Oftmals wird diese Fragestellung in der Literatur mit der Frage nach der „Rolle“ und/ oder „Funktion“ von Verfassungsgerichten umrissen.23 Die Begriffsverwendung ist meist vage und schwankt zwischen der empirischen Beschreibung der Position und des Verhaltens eines Gerichts in einem raumzeitlich konkret bestimmbaren politischen System und der Zuschreibung von Aufgaben und „richtigem“ Entscheidungsverhalten auf der Grundlage von Kompetenzen oder normativen Politiktheorien über das Verhältnis zwischen Rechtsstaat und Demokratie. Meiner Ansicht nach lohnt es sich, über den Alltagssprachgebrauch hinaus der spezifisch soziologischen Begriffsverwendung und -geschichte beider Begriffen nachzugehen.24 Der Begriff der „Rolle“ verweist über seinen theatralischen Ursprung auf eine Konfiguration von Darstellern, Skripts und 20 So Rottleuthner, ZfRSoz 1982, S. 82 ff.; Schulz-Schaeffer, ZfRSoz 2004, S. 141 ff. 21 Boulanger, in: Boulanger/Rosenstock/Singelnstein (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung, 2019, S. 173 ff. 22 Siehe etwa Hilbink, Maryland L. Rev. 2006, S. 15 ff., oder Roux, The politico-legal dynamics of judicial review, 2018. 23 Als ein Beispiel von vielen Kneip, ZfP 2013, S. 72 ff. 24 Siehe ausführlich Boulanger, in: Wrase/Boulanger (Hrsg.), Die Politik des Verfassungsrechts, 2013, S. 67 ff. 66
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Publikum. Dies lenkt den Blick darauf, dass sich Verfassungsgerichte mit ihren Urteilen an verschiedene Teilöffentlichkeiten wenden, die unterschiedliche Vorstellungen von dem aufzuführenden Skript haben.25 Der Funktionsbegriff wird insbesondere bei Luhmann thematisiert, im Zusammenhang mit funktionalen Äquivalenzen, d. h. Leistungen eines Systems, die so, aber auch anders erbracht werden können.26 Diese Perspektive ermöglicht einerseits, systematisch und methodisch kontrolliert danach zu fragen, welche Leistungen eine Institution mit dem Namen „Verfassungsgericht“ in einem politischen System erbringt, die über die in der Verfassung festgelegten Aufgaben hinausgehen. Eine funktionale Analyse beantwortet keine Kausalitätsfragen. Insbesondere ist die zugeschriebene Funktion einer Institution nicht automatisch Ursache oder Motivation für ihr Entstehen. Sie weitet aber den komparativen Blick über die Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus auf andere Institutionen oder Praxen, die ähnliche Aufgaben übernehmen. Auf der anderen Seite lässt sich fragen, ob die Funktionen eines Verfassungsgerichts in Ländern, die über keines verfügen, auf andere Weise ersetzt werden.27
III. Judicial Behavior Eine zweite große Debatte betrifft die Frage, wie das Verhalten von Verfassungsrichter*innen zu erklären ist. Am prominentesten und längsten ist die Kontroverse um das „Puzzle of Judicial Behavior“28 in der U.S.-amerikanischen Politikwissenschaft ausgetragen worden. Diese zeigt sich im Zuge der „behavioristischen Revolution“ in der Disziplin und in der Tradition des Legal Realism grundsätzlich skeptisch gegenüber Positionen, die das Entscheidungsverhalten von Richter*innen mit „rechtlichen Faktoren“ erklären.29 Stattdessen bestimmen je nach Theorierichtung ideologische bzw. rational-strategische Variablen das Ergebnis individueller und kollektiver Rechtsprechung.30 Die an der Empirie amerikanischer Gerichte entwickelte Theorie ist auch auf das Bundesverfassungsgericht übertragen worden.31 Dies wurde – auch unter Hinweis auf die vom Supreme Court grundsätzlich unterschiedliche Struktur des Gerichts –
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In der Rechtspolitologie wird von „Arenen“ gesprochen, vgl. Voigt (Fn. 16), S. 69 ff. Luhmann, Soziale Systeme, 2010. Siehe etwa Blankenburg (Fn. 4), S. 64 ff. Baum, The Puzzle of Judicial Behavior, 2009. Vgl Clayton, in: Clayton/Gillman (Hrsg.), Supreme-Court Decision-Making, 1999, S. 15 ff.; Gillman, Law & Soc. Inq. 2001, S. 465 ff. 30 Einen Überblick bieten Howard/Randazzo (Hrsg.), Routledge Handbook of Judicial Behavior, 2018. Siehe auch den Literaturüberblick bei Hönnige, Verfassungsgericht, Regierung und Opposition, 2007, S. 34 ff.; Lembcke, in: Wrase/Boulanger (Hrsg.), Die Politik des Verfassungsrechts, 2013, S. 38 ff. 31 Siehe Vanberg, The Politics of Constitutional Review in Germany, 2004; Hönnige (Fn. 30).
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kritisch kommentiert.32 Neuere Ansätze nehmen eine vermittelnde Position ein. Sie anerkennen nicht-rechtliche Faktoren bei der Produktion von Urteilen, halten aber eine analytische Reduktion a priori auf Interessen, Ideologien etc. für eine unangemessene theoretische Engführung.33 Die Vorstellung, dass rechtsrealistische Daten die Normativität des Recht grundsätzlich in Frage stellen, findet sich allerdings weiterhin, ebenso das Erstaunen darüber, dass sich sozialwissenschaftliche Analysen richterlichen Verhaltens so stark von der Selbstbeschreibung von Richterinnen und Richtern unterscheiden.34 Die Rechtssoziologie pflegt ebenfalls das Erbe des Rechtsrealismus, gibt sich aber nicht mit der (recht banalen) Einsicht zufrieden, dass Richter*innnen keine „Paragrafenautomaten“ (Max Weber) sind.35 Sie weiß, dass richterliche „Vorverständnisse“36 in Urteile einfließen und Methodenfragen auch Machtfragen beinhalten,37 dass rechtliche Argumente Urteile (und Gutachten) nicht bedingen, sondern rechtfertigen38 und dass Recht also nicht „gefunden“, sondern performativ erzeugt wird.39 Recht ist in dieser Perspektive kein wahrheitsfähiger Diskurs,40 sondern, je nach theoretischem Blickwinkel, ein Zweckdiskurs mit dem Ziel der Bearbeitung und temporären Ruhigstellung von Konflikten,41 ein kommunikatives System mit der Funktion der Stabilisierung kognitiver Erwartungen42 oder ein Diskurs zur Legitimierung von Machtpositionen.43 Rechtssoziologische Ansätze gehen davon aus, dass sich – geografisch und historisch unterschiedlich – verschiedene Argumentationsmuster herausgebildet haben, die innerhalb des juristischen Feldes als „juristisch“ anerkannt werden.44 Die Frage, warum 32 Vgl. etwa die scharfe Kritik bei Hüller, ZPolWiss 2014, S. 5 ff., dessen Haupteinwand jedoch methodische Fragen betrifft. 33 Etwa: Lembcke (Fn. 30), S. 37 ff.; Rehder, in: Magone (Hrsg.), Routledge Handbook of European Politics, 2014, S. 386 ff.; von Steinsdorff, in: Boulanger/Rosenstock/Singelnstein (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung, 2019, S. 207 ff. Siehe auch Epstein/Knight, Annu. Rev. Polit. Sci. 2013, S. 11 ff. 34 Vgl. Bybee, Annu. Rev. Law. Soc. Sci. 2012, S. 73. 35 Siehe nur Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975. 36 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972. 37 Grimm, in: Horn (Hrsg.), Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, 1982, S. 469 ff. 38 So schon Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929. 39 Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012. 40 Schweitzer, ZfRSoz 2015, S. 201 ff. 41 Shapiro, Courts. A comparative and political analysis, 1981. 42 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993. 43 Benda-Beckmann/Benda-Beckmann/Griffiths, in: Benda-Beckmann/Benda-Beckmann/Griffiths (Hrsg.), The power of law in a transnational world, 2009, S. 1 ff. 44 Wrase, in: Frick/Lembcke/Lhotta (Hrsg.), Politik und Recht: Umrisse eines politikwissenschaftlichen Forschungsfeldes, 2017, S. 63 ff. Zur Rechtskulturforschung siehe Cotterrell, Law, culture and society, 2006. 68
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Richter*innen ihre Tätigkeit nicht „realistisch“ beschreiben, ist daher falsch gestellt. Es geht eher darum, ob die Verwendung rechtlicher Argumentation im konkreten Fall oder auf aggregierter Ebene die Funktion erfüllt, die der Institution zugeschrieben wird. Die Antwort auf die Frage, welchen kausalen Einfluss der Rechtsdiskurs (im Gegensatz zu ideologischen, strategischen oder korrupten Motiven) hat, wird je nach Gericht anders ausfallen. Sie kann nicht von der Theorie vorgegeben sein, sondern muss empirisch ermittelt werden, schon weil es vom konkreten Fall abhängt, welche Bedeutung die verschiedenen Motive bekommen. Das Bundesverfassungsgericht ist sicherlich eines, in dem „rechtliche“ Motive eine stärkere Rolle spielen als etwa im rumänischen oder bulgarischen Verfassungsgericht – soziologisch sehr gut erklärbar mit der spezifischen Konfiguration von Akteur*innen und Institutionen,45 oder systemtheoretisch mit der Frage der Ausdifferenzierung von Recht und Politik.46
IV. Kontext, Input und Output: Einflussfaktoren und Wirkung Ein dritter Themenkomplex, der in der Politikwissenschaft behandelt wird, behandelt die Frage, wie ein Verfassungsgericht mit seiner Umwelt interagiert, diese verändert und von dieser beeinflusst wird. Im Zentrum steht das Verfassungsgericht als abhängige und als unabhängige Variable bei der Analyse von politischen Ursache-Wirkungsbeziehungen. Auf der Input-Seite steht etwa zur Debatte, ob und in welchem Maße das Bundesverfassungsgericht – und Verfassungsgerichte insgesamt – auf die öffentliche Meinung und auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament reagieren.47 Auf der OutputSeite wird etwa darüber diskutiert, ob die Existenz eines Verfassungsgerichts tendenziell dazu führt, dass sich die Politik verrechtlicht und das Recht politisiert, oder ob das Eigeninteresse politischer Akteure dieser Entwicklung natürliche Grenzen setzt.48 Das Ansehen und die Autorität eines Verfassungsgerichts ist immer auch mit dem Inhalt seiner Urteile verbunden, diese wiederum erlangen ihre spezifische Sichtbarkeit und Rezeption nur vor dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext.49 In vergleichender Hinsicht erklärungsbedürftig ist zum Beispiel das anhaltend hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts in der Bevölkerung.50 Großen Einfluss in der deutschen Poli45 Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2010; Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007. 46 Hierzu Hein, Verfassungskonflikte zwischen Politik und Recht in Südosteuropa, 2013. 47 Vanberg (Fn. 31); Sternberg/Gschwend/Wittig/Engst, PVS 2015, S. 570 ff. 48 Siehe Stone Sweet, Governing with judges, 2000, die Kritik bei Brouard/Hönnige, Eur. J. Pol. Res. 2017, S. 529 ff. 49 Siehe Lembcke (Fn. 30), S. 37 ff. Zur Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts in der veröffentlichten Meinung und historischen Kontextanalysen zum Lüth-Urteil siehe Henne/Riedlinger, Das Lüth-Urteil in (rechts‐)historischer Sicht, 2005. 50 Empirische Forschung zum Ansehen des Verfassungsgerichts in der Bevölkerung: Vorländer/ Brodocz, in: Vorländer (Hrsg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, S. 259 ff.; Schaal, ZfRSoz 2000, S. 419 ff. Eine Erklärung versucht Patzelt, in: van Ooyen/ Recht und Politik, Beiheft 5
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tikwissenschaft hatte der Begriff der „Deutungsmacht“,51 der auf die spezifische Form der Machtausübung durch die Interpretationshoheit über „Sinn- und Geltungsressourcen“ rekurriert, in diesem Fall die Verfassung.52 Die Rechtssoziologie kann in mehrfacher Hinsicht Wissen zu diesen Fragenkomplexen beisteuern. Zunächst wird sie – um die alten Weberschen Begriffe zu verwenden – den Blick auf den Einfluss des Rechtstabs und der Rechthonoratioren bei der Prägung und der Wirkung der Verfassungsgerichtsrechtsprechung lenken.53 Das bedeutet zum Beispiel, dass der „Deutungsmacht“ der Verfassungsgerichtsbarkeit dadurch Grenzen gesetzt sind, dass es um eine Konkretisierung von Normen auf einen bestimmten Fall geht, die nach den im juristischen Feld akzeptierten Regeln erfolgen muss. Diese Konkretisierung wird von den juristischen Kolleg*innen kontrolliert und gegebenenfalls kritisiert; sie muss von diesen auch akzeptiert und dann auch in den ordentlichen Gerichten umgesetzt werden.54 Weitere einschlägige Forschungsfragen der Rechtssoziologie betreffen auf der Input-Seite die Forschung zum Rechtsbewusstsein,55 Zugang zum Recht und zur „Rechtsmobilisierung“56 sowie auf der Output-Seite die sogenannte Rechtswirkungsforschung.57 Zur Wirkung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts existieren auch einige bereichsspezifische Studien.58
V. Fazit Wenn man die Zahl der thematisch einschlägigen Publikationen zum Maßstab nimmt, erscheint der Beitrag der Rechtssoziologie zur Verfassungsgerichtsforschung bescheiden. Ich hoffe aber gezeigt zu haben, dass die Rechtssoziologie wichtige Wissensbe-
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Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 313 ff. Vorländer (Hrsg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006. Vorländer, in: ders. (Hrsg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, S. 17. Vgl. Rheinstein, RabelsZ 1970, S. 1 ff. Siehe für den Konflikt zwischen BVerfG und BGH Limbach, in: Mahlmann (Hrsg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit. FS f. Rottleuthner, 2011, S. 221 ff. Siehe den Überblick in Heitzmann, Rechtsbewusstsein in der Demokratie, 2002, S. 2. Siehe Blankenburg, Mobilisierung des Rechts: eine Einführung in die Rechtssoziologie, 1995 sowie auch die Frage, wer Zugang zum begrenzten Kreis der Verfassungsinterpreten hat, hierzu Blankenburg/Treiber, JZ 1982, S. 543 ff., zuletzt auch Hailbronner, Staat 2014, S. 425 ff. Empirisch-vergleichende Forschung, wie sie etwa Epp, The Rights Revolution. Lawyers, Activists, and Supreme Courts in Comparative Perspective, 1998, unternommen hat, existiert aber noch nicht. Cottier/Estermann/Wrase (Hrsg.), Wie wirkt Recht?, 2010; Höland, ZfRSoz 2009, S. 23 ff.; Wrase, in: Boulanger/Rosenstock/Singelnstein (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung, 2019, S. 127 ff. Siehe zum Beispiel Gawron, in: Wrase/Boulanger (Hrsg.), Die Politik des Verfassungsrechts, 2013, S. 216 ff.; Gawron, Bundesverfassungsgericht und Religionsgemeinschaften, 2018; Gawron/Rogowski (Fn. 4). Recht und Politik, Beiheft 5
Bundesverfassungsgerichtsforschung und Rechtssoziologie
stände in eine disziplinübergreifende Forschungsrichtung einbringen kann. Die Rechtssoziologie bietet einen differenzierten Blick auf das Verhältnis zwischen Recht und Politik: Sie nimmt die juristisch-dogmatischen Perspektiven als „Selbstbeschreibung des Rechts“ (Luhmann)59 ernst. Gleichzeitig waren „realistische“ Beschreibungen richterlichen Verhaltens schon immer Teil ihres Theorierepertoires. Ihre Prämisse ist, dass das Recht eine Eigenlogik besitzt, die auf angebbaren sozialen Mechanismen (und nicht etwa ontologischen Eigenschaften „des Rechts“) beruhen. Demnach können Gerichte unter bestimmten Umständen anders funktionieren als „politische“ Institutionen. Zur Verfassungsgerichtsforschung kann die Rechtssoziologie insbesondere ihre Kenntnis des umkämpften „juristischen Feldes“ (Bourdieu)60 beisteuern, aus dem das Personal des Verfassungsgerichts stammt, und an das sich das Gericht in seinen Urteilen immer auch wendet. Außerdem kann sie bereits vorstrukturierte Debatten mit dazugehöriger empirischer Forschung oder theoretischer Diskussion beisteuern, die von der Politikwissenschaft aufgenommen und an die eigenen Theoriediskussionen angedockt werden können.
59 Luhmann (Fn. 42), S. 11. 60 Siehe hierzu Kretschmann (Hrsg.), Das Rechtsdenken Pierre Bourdieus, 2019. Recht und Politik, Beiheft 5
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Bundesverfassungsgericht und Wirkungsforschung: Ergebnisse und Forschungsfragen Von Thomas Gawron, Berlin und Ralf Rogowski, Warwick
I. Wirkungsforschung und Rechtssoziologie Die rechtliche Wirkungsforschung ist eines der Kerngebiete der Rechtssoziologie. Sie berührt ihr zentrales Thema, nämlich die Erforschung der tatsächlichen Rolle des Rechts in der Gesellschaft. Seit den 1960er Jahren hat die rechtssoziologische Wirkungsforschung in Deutschland unter dem Namen der Effektivitätsforschung einen spezifischen Zugang zur Wirksamkeitsfrage entwickelt. Sie war zunächst der Zeit entsprechend politisch ausgerichtet und wollte über Einzelwirkungen hinaus die Wirkungen des Rechts auf die gesellschaftliche Realität untersuchen. Sie war insbesondere an der Frage des Einflusses des Rechts auf den sozialen Wandel interessiert.1 In der neueren Wirkungsforschung zum Recht in Deutschland finden wir Bestrebungen, die rechtssoziologische mit anderen sozialwissenschaftlichen Ansätzen zu verbinden. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das Projekt Wirkungsforschung zum Recht, das verschiedene Forschungsrichtungen zusammenführte.2 Allerdings standen dabei die genuin rechtssoziologischen Fragestellungen nicht mehr im Vordergrund und der Beitrag zur Weiterentwicklung der rechtssoziologischen Herangehensweise muss als gering bezeichnet werden. Diesem Mangel sollte mit dem ersten gemeinsamen Kongress der deutschsprachigen rechtssoziologischen Vereinigungen in Luzern 2008 nachgeholfen werden, der der Frage „Wie wirkt Recht?“ gewidmet war. Allerdings ging es auch hier nicht um die Weiterentwicklung der rechtssoziologischen Tradition, sondern, wie der Untertitel des Kongresses „interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung“ andeutete, bestenfalls um die Hoffnung, dass der 1 2
Rehbinder/Schelsky, Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3, 1972. Siehe die Veröffentlichungen des Projekts Wirkungsforschung zum Recht Hof/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht, Bd. 1, Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999; Hill/Hof (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht, Bd. 2, Verwaltung als Adressat und Akteur, 2000; Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht, Bd. 3, Folgen von Gerichtsentscheidungen, 2001; Karpen/Hof (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht, Bd. 4, Möglichkeiten einer Institutionalisierung der Wirkungskontrolle von Gesetzen, 2003.
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Bundesverfassungsgericht und Wirkungsforschung
Fortschritt der Disziplin Rechtssoziologie aus dem Zwischenbereich der Disziplinen oder durch Import aus anderen Disziplinen erfolgt. Der Beitrag dieser Forschungen3 zur Weiterentwicklung der spezifisch rechtssoziologischen Wirkungsanalyse ist nicht einfach zu bestimmen. Positiv zu vermerken ist in neueren Beiträgen allerdings ein geschärftes Bewusstsein für Methoden.4
II. Gesetzliche und gerichtliche Rechtswirkung Die methodische Fragestellung steht auch im Vordergrund beim Vergleich der Erforschung von gesetzlicher und gerichtlicher Rechtswirkung. Für die deutsche Rechtswirkungsforschung gilt, dass es sich bei dem Recht, das von ihr analysiert wird, vorrangig um Gesetzesrecht handelt.5 Die gerichtliche Wirkung ist weiterhin unterbelichtet. In unseren Forschungen verwenden wir den Implementationsansatz.6 Er impliziert, dass ein Gerichtsurteil Programm ist und Handlungsanweisungen an Implementationsakteure enthält. Implementation wird als ein Prozess verstanden, in dem Implementationsakteure in Arenen mit spezifischen Implementationsstrukturen operieren. Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass es deutliche Unterschiede zwischen der gesetzlichen und gerichtlichen Implementation gibt. Anders als in der Politikwissenschaft, die Ähnlichkeiten der gesetzlichen und der gerichtlichen Implementation betont,7 geht es der rechtssoziologischen Justizforschung um die Unterschiede zwischen dem judiziellen und dem politischen Bereich. Für sie ist Rechtsprechung mehr als Politik8 und Gerichtsurteile sind mehr als judicial policy. Der rechtsoziologische Ansatz 3
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Siehe Wagner (Hrsg.), Kraft Gesetz. Beiträge zur rechtssoziologischen Effektivitätsforschung, 2010, und Hilbert/Rauber (Hrsg.), Warum befolgen wir Recht?, 2019. Siehe auch die Beiträge zur Konferenz des Wissenschaftszentrums Berlin im Frühjahr 2017, insbesondere den informativen Vortrag von Röhl, Stand und Perspektiven der Rechtswirkungsforschung in der Rechtssoziologie, 2017, www.rzsozblog.de, sowie Wrase, in: Boulanger/Rosenstock/Singelnstein (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung, 2019, S. 127 ff. Treiber, in: Wagner (Hrsg.), Kraft Gesetz. Beiträge zur rechtssoziologischen Effektivitätsforschung, 2010, S. 119 ff.; Thiery/Sehring/Muno, in: Estermann (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung. Beiträge zum Kongress „Wie wirkt Recht?“ (Luzern, 2008), 2010, S. 211 ff. Diekmann, Die Befolgung von Gesetzen. Empirische Untersuchung zu einer rechtssoziologischen Theorie, 1980. Siehe Gawron/Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts. Rechtssoziologische Analysen, 2007. Baum, in: Mazmanian/Sabatier (Hrsg.), Effective Policy Implementation, 1981, S. 39 ff.; Baum, in: Gardiner (Hrsg.), Public Law and Public Policy, 1977, S. 127 ff.; Reid, The Western Political Quarterly 1988, S. 509 ff. Exemplarisch die politikwissenschaftliche Analyse in Rehder, Rechtsprechung als Politik. Der Beitrag des Bundesarbeitsgerichts zur Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland, 2011.
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Thomas Gawron und Ralf Rogowski
betont, dass die Nähe zum Gesetzesprogramm eher gering ist, da bei Gerichten die Konfliktlösung im Vordergrund steht und nicht Überlegungen zu langfristigen Wirkungen sowie zum sozialen Wandel. Dies gilt allerdings nicht oder nur in abgeschwächter Form für das Verfassungsgericht. Die Diskussion zur gerichtlichen Wirkung9 leidet weiterhin an einem Mangel an empirischen Erkenntnissen und einem überzeugenden analytischen Rahmen. Hier könnte eine Rückbesinnung auf die Dreistufen-Hypothese von Adam Pogorecki10 hilfreich sein, der Rechtssatz, sozialökonomisches System und Individuen als „Variablen“ zur Untersuchung der Wirksamkeit des Rechts unterscheidet. Dies deckt sich mit unserem Vorschlag, die drei Ebenen Programm, Umsetzungsprozess und Adressaten zu differenzieren und daran anschließend drei Forschungsrichtungen zu unterscheiden: Effektivitäts-, Implementations-, und Evaluationsforschung.11
III. Wirkungsforschung und Bundesverfassungsgericht: Ergebnisse unseres Forschungsprojekts In unserer Forschung steht der Implementationsansatz im Vordergrund. Wir analysieren Implementationsstrukturen des Bundesverfassungsgerichts und differenzieren Adressatenfelder und arenenspezifische, organisatorische Umsetzer. Wir unterscheiden fünf Organisationstypen: Gerichte, Verwaltungen, Parteien/Verbände/Religionsgemeinschaften sowie Private und Unternehmen. 1. Gerichte Wichtigster Adressat der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, zumindest aus statistischer Sicht, ist das Justizsystem.12 Die Beziehungen des Bundesverfassungsgerichts zu anderen Gerichten sind kommunikativ und nicht hierarchisch. Die hohe Zahl der Urteilsverfassungsbeschwerden und die konkreten Normenkontrollverfahren, initiiert durch vorlegende Gerichte, binden das Verfassungsgericht in die Justizsysteme ein. Diese intergerichtliche Kommunikation ist stärker als bei anderen Adressaten rechtlich strukturiert, d. h. der juristische Diskurs steht im Vordergrund der argumentativen Auseinandersetzung und eröffnet den beteiligten Gerichten Interpretationsspielräume.
9 Für Deutschland siehe Blankenburg/Voigt/Gawron/Rogowski (Hrsg.), Implementation von Gerichtsentscheidungen. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 11, 1987; Hof/ Schulte (Fn. 2); Höland, ZfRSoz 2009, S. 23 ff., und Höland, in: Papendorf/Machura/Andenaes (Hrsg.), Understanding law in society – Developments in socio-legal studies, 2011, S. 160 ff. 10 Podgorecki, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, 1967, S. 271 ff. 11 Gawron/Rogowski, ZfRSoz 1996, S. 177 ff. 12 Gawron/Rogowski (Fn. 6), Kapitel 4 (Bundesverfassungsgericht und Justizsystem. Implementation durch intergerichtliche Kommunikation). 74
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Bundesverfassungsgericht und Wirkungsforschung
Zwischen Bundesverfassungsgericht und europäischen Gerichten, aber auch zu anderen Bundesgerichten besteht ein latentes Konkurrenzverhältnis.13 Offene Gegnerschaft der Gerichte zum Bundesverfassungsgericht ist aber selten. Untere Gerichte bevorzugen Strategien des Ausweichens statt des Abweichens, indem sie den Richterspruch restriktiv interpretieren, die vom Gericht selber formulierten Ausnahmeregeln extensiv auslegen, das Verfassungsgericht in einen länger andauernden Dialog hineinziehen oder es schlicht ignorieren. Bekanntere Beispiele von hinhaltendem Widerstand waren Reaktionen von Fachgerichten gegen Verfassungsgerichtsentscheidungen zu Sitzblockaden und „Soldaten-sind-Mörder“.14 Wir heben in unserer Analyse hervor, dass das Bundesverfassungsgericht im Adressatenfeld Justiz Programmierung im Sinne einer Normpräzisierung der für Gerichte besonders wichtigen Prozessrechtsvorschriften betreibt und in Bezug auf Untergerichte zu einer weisenden Spitze wird.15 2. Gesetzgeber/Verfassungsorgane In rechtssoziologischer Sicht fungiert das Bundesverfassungsgericht im politischen System häufig als Schlichter oder Schiedsrichter in Disputen zwischen Verfassungsorganen.16 Allerdings geht es vorrangig um Normenkontrollen und das Gericht überprüft in diesem Rahmen in nicht unerheblichem Umfang Gesetze und andere Rechtsnormen.17 Bei der Umsetzung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Bereich Gesetzgeber ist die in politischen Prozessen nicht unübliche Koalitionsbildung zu beobachten. Durch einen Bündnispartner wird die vor dem Gericht unterlegene Partei zur Beachtung der Entscheidung angehalten.18 Im Rahmen der Machtauseinandersetzungen wird die Befolgung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aber auch von am Prozess nicht beteiligten Dritten kontrolliert, insbesondere durch Medien und (Fach‐)Öffentlichkeit.19 13 Donald Kommers bezeichnet das Verhältnis der Bundesgerichte zum Bundesverfassungsgericht in Fragen der Verfassungsinterpretation als Rivalität und verweist auf den Fall des Bundesfinanzgerichtshofs, in dem dieser öffentlich sein Missfallen über Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts äußerte. Kommers, Judicial Politics in West Germany. A Study of the Federal Constitutional Court, 1976, S. 277. Siehe Gawron/Rogowski (Fn. 6) mit weiteren Literaturhinweisen. 14 Siehe Gawron/Rogowski (Fn. 6) mit weiteren Literaturhinweisen. 15 Gawron/Rogowski (Fn. 6), Kapitel 4. 16 Siehe Boulanger, Hüten, richten, gründen. Rollen der Verfassungsgerichte in der Demokratisierung Deutschlands und Ungarns, Diss. FU Berlin, 2013. 17 Unsere Auszählungen ergaben, dass etwa jedes achte Gesetz Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung geworden ist. Siehe Gawron/Rogowski (Fn. 6), Kapitel 5 (Normenkontrolle und Gesetzgebungsauftrag. Zum Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Bundesgesetzgeber). 18 Dopatka, Das Bundesverfassungsgericht und seine Umwelt. Zur Analyse der Entwicklung des Bundesverfassungsgerichts und der adressatenspezifischen Bezüge seiner Rechtsprechung, 1982, S. 87. 19 Vanberg, in: Ganghof/Manow (Hrsg.), Mechanismen der Politik, 2005, S. 185 ff. Recht und Politik, Beiheft 5
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Entscheidungen des Verfassungsgerichts haben spezifische Wirkungen im politischen System. Wir unterscheiden Nach- und Vorwirkungen. Unmittelbare Nachwirkungen haben Entscheidungen, die Gesetzesänderungen erfordern. Die für die betroffenen Gesetzgebungsmaterien zuständigen Referate der Bundesministerien sind aufgefordert, die entsprechende Gesetzesnovellierung vorzubereiten.20 Mittelbare Nachwirkungen haben Entscheidungen im Rahmen der Rechtsförmlichkeitsprüfungen,21 die vor Eröffnung und während des Gesetzgebungsverfahrens von den Rechts- und Verfassungsreferaten, zunehmend auch vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, vorgenommenen werden. Erstgenannte sind integraler Bestandteil der Ministerialverwaltung und können Verfassungsgerichtsentscheidungen wirkungsvoll zu Gehör bringen und dessen Beachtung sicherstellen. Die Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes adressieren hingegen vorrangig Bundestag und Bundesrat sowie die (Fach‐)Öffentlichkeit. Im Gesetzgebungsverfahren gibt es darüber hinaus Vorwirkungen der Verfassungsgerichtsrechtsprechung. Es findet eine Instrumentalisierung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts statt. In Beratungen der Ausschüsse und in Plenardebatten des Bundestags und Bundesrats ist der Verweis auf Judikate des Gerichts integraler Bestandteil der bundesdeutschen politischen Diskussion. Die wichtigste Vorwirkung entsteht im Gesetzgebungsprozess, wenn zur Unterstützung der eigenen politischen Position auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung und zur Abwehr gegnerischer Positionen mit dem Gang nach Karlsruhe gedroht wird.22 3. Verwaltungen Verwaltungen sind klassische Sekundäradressaten, die in der Regel nur indirekt an verfassungsgerichtlichen Verfahren teilnehmen, aber dennoch für die Implementation der Entscheidungen im Wege der Gesetzesausführung hauptverantwortlich sind. Entscheidungen der Verwaltung kontrolliert das Bundesverfassungsgericht in der Regel nur indirekt. Sie erreichen das Gericht als Beschwerde gegen Entscheidungen der Gerichte für öffentliches Recht (GöR), nämlich den Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichten, selten als Anfragen im Wege eines konkreten Normenkontrollverfahrens.23 Eine spezifische Form der Umsetzung im Adressatenfeld Verwaltung findet sich in der binnenadministrativen Rechts- und Normsetzung. Intentionen des Gerichts werden durch Verordnungen, Richtlinien, Runderlasse oder Rundschreiben von Verwaltungsspitzen kommuniziert. Bekannt sind Handreichungen von Regierungspräsidien 20 Gawron/Rogowski, in: dies. (Hrsg.), Constitutional Courts in Comparison. The U.S. Supreme Court and the German Federal Constitutional Court, 2002, S. 239 ff. 21 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 2. Aufl., 1999. 22 Siehe Beispiele in Beyme, Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, 1997, S. 305 ff., und Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber. Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität, 1984. 23 Siehe Gawron, in: Wrase/Boulanger (Hrsg.), Die Politik des Verfassungsrechts, 2013, S. 216 ff. 76
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Bundesverfassungsgericht und Wirkungsforschung
und städtischen Rechtsämtern, in denen Verwaltungseinheiten Verfassungsgerichtsurteile verwaltungsadäquat mitgeteilt und für deren Aufgaben fachgerecht übersetzt werden. 4. Parteien/Verbände/Religionsgemeinschaften Für die Analyse der Befolgung und Wirksamkeit der Entscheidungen im Adressatenfeld Parteien und Verbände können wir das schon bei den Verfassungsorganstreitigkeiten erwähnte stillschweigende Koalitionsmodell aufgreifen und erweitern. Im Gegensatz zum Adressatenfeld Gesetzgeber müssen sich im multipolar strukturierten Implementationsfeld der Parteien und Verbände allerdings fallweise neue Koalitionen bilden. Eine ungewöhnliche Koalition kam zum Beispiel zwischen Gewerkschaften und christlichen Kirchen bei der Entscheidung des Gerichts zur Adventssonntagsregelung des Ladenöffnungsgesetzes des Landes Berlin zustande.24 Allerdings stößt das Gericht an Grenzen, mit Kollektivparteien zu koalieren. Im Adressatenfeld Parteien, Verbände und Religionsgemeinschaften sind hohe Widerstandspotentiale vorhanden, weil diese als große Organisationen Mitglieder und Ressourcen gegen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mobilisieren können.25 Bekannte Beispiele sind die moral crusades der katholischen Kirche gegen die Entscheidungen zum Kruzifix in der Schule26 und zur Erlaubnis des Schwangerschaftsabbruches.27 Darüber hinaus können Verbände und Parteien Entscheidungen durch eigene Koalitionsbildung unterlaufen. Ein Beispiel für (geheime) Koalitionsbildung stellen koordinierte Praktiken der politischen Parteien dar, die Anordnungen des Verfassungsgerichts zu ihrer Finanzierung zu ignorieren.28 Die klandestinen Verhaltensweisen der Parteien sind bewusste Akte von Umgehung. Sie sind messbar. Kontrolllogiken auf der einen Seite, Systemlogiken der „überwachten“ Parteien auf der anderen Seite wirken gegeneinander. Im Vollzug verfassungsgerichtlicher Direktiven zur Parteifinanzierung sind Parlamentsakteure als selbstbetroffene Parteimitglieder der Versuchung ausgesetzt,
24 BVerfGE 125, 39 ff. Siehe zum Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Religionsgemeinschaften Gawron, Bundesverfassungsgericht und organisierte Interessen. Konstellationen von Mobilisierung, Entscheidung und Implementation, 2018, S. 44 ff. 25 Gawron/Schäfer, in: Kielmannsegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme. PVSSonderband 7, 1976, S. 217 ff. 26 Massing, PVS 1995, S. 719 ff.; Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, 1998; Schaal, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 261 ff. 27 Siehe Lamprecht, Ich gehe bis nach Karlsruhe. Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 156 ff. 28 Boyken, Die neue Parteifinanzierung. Entscheidungsprozeßanalyse und Wirkungskontrolle, 1998. Recht und Politik, Beiheft 5
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sich selber zu begünstigen.29 Als wichtigste Kontrolleure in diesem policy-Feld sind hier die (Medien‐)Öffentlichkeit und die mehrfach von den jeweiligen Bundespräsidenten einberufenen Sachverständigen-Kommissionen anzusetzen. 5. Private Befolgungs- und Abnahmebereitschaft von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts durch Bürger und Wirtschaftssubjekte werden oft unter dem Begriff der Akzeptanz diskutiert. Juristen weisen dabei auf die Autoritätsanerkenntnis des Urteilsspruches durch die Prozessparteien hin30 und werden von Sozialwissenschaftlern31 mit dem Hinweis auf die symbolische Wirkung der Urteile des Bundesverfassungsgerichts und dessen Deutungsmacht32 unterstützt. Die Akzeptanz der Entscheidungen das Bundesverfassungsgericht ist von seiner hohen Autorität als Institution beeinflusst.33 Bei der Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts als Institution muss allerdings von einer Mehrstufigkeit in der Legitimation ausgegangen werden: Geht es um die Institution als solche, ist Konformität mit seiner richtenden Tätigkeit aufgrund hoher Autoritätsanerkenntnis festzustellen. Geht es um die Legitimation von Einzelentscheidungen,34 sind unterschiedliche Formen von Akzeptanz bzw. Ablehnung beobachtbar: Von einer inhaltlichen Akzeptanz, die eine getroffene Gerichtsentscheidung für richtig erachtet und mit ihr übereinstimmt, ist eine formale Akzeptanz35 zu unterscheiden, die zu Gehorsam auch gegenüber unbefriedigenden oder als falsch empfundenen Entscheidungen des Gerichts führt.36
29 Schneider, in: Grimm/Maihofer (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S. 327 ff. 30 Siehe z. B. Würtenberger, in: Guggengenberger/Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998, S. 57 ff. 31 Siehe schon Blankenburg/Treiber, JZ 1982, S. 543 ff. (hier S. 549), die von einer hohen „Befolgungsrate“ beim BVerfG sprechen, ohne allerdings Vorschläge zur empirischen Verifizierung zu offerieren. 32 Schaal/Lancaster/Struwe, in: Wrase/Boulanger (Hrsg.), Die Politik des Verfassungsrechts, 2013, S. 187 ff. (hier S. 190) und Vorländer, in: ders. (Hrsg.), Die Deutungsmacht, 2006, S. 9 ff. 33 Lembcke, Hüter der Verfassung. Eine institutionentheoretische Studie zur Autorität des Bundesverfassungsgerichts, 2007. 34 Siehe zur Zweistufigkeit der Legitimation Rogowski, in: Voigt (Hrsg.), Verrechtlichung, 1980, S. 251 ff. 35 Diese Unterscheidung trifft Benda, Zur gesellschaftlichen Akzeptanz verwaltungs- und verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, DÖV 1983, S. 305 ff. 36 Limbach, „Im Namen des Volkes“. Macht und Verantwortung der Richter, 1999, S. 176. 78
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Bundesverfassungsgericht und Wirkungsforschung
IV. Wirkungsforschung und Bundesverfassungsgericht: Forschungsfragen Entsprechend der von uns modifizierten Dreistufen-Hypothese von Podgorecki können Forschungsfragen auf der Programmebene, der Implementationsprozesse und bei Adressaten des Bundesverfassungsgerichts formuliert und zur Evaluationsforschung geöffnet werden. Auf der Programmebene ist die Folgenabschätzung ein immer noch weitgehend empirisch unerforschtes Feld. Es ist immer noch wenig bekannt, inwieweit das Bundesverfassungsgericht in seinen Beratungen Folgen antizipiert und abschätzt.37 Hier kann die Wirkungsforschung zur an der Systemtheorie angelehnten Evaluationsforschung werden, indem reflexive Wirkungen im selbstreferentiellem Entscheiden des Verfassungsgerichts erforscht werden.38 Hier gibt es ein reiches Feld für empirische Inhaltsanalysen, z. B. zur Praxis und Bedeutung von Urteilsketten, aber auch für praktische Wirkungsforschung als Entscheidungspraxis begleitende Evaluation von judicial policy des Bundesverfassungsgerichts, analog der Institutionalisierung von Gesetzesevaluation.39 Weiterhin ist der Zusammenhang von Mobilisierung und Implementation nach wie vor ein Bereich, in dem viele Forschungsfragen offen sind. Hier sind Verfahrenstypen und Parteikonstellationen ebenso zu berücksichtigen wie spezifische Umsetzungsakteure (z. B. (Fach‐)Medien und Öffentlichkeit). Ein in Deutschland im Gegensatz zu den USA noch neues Feld ist die strategische Prozessführung40 und ihr Einfluss auf die Abnahme des Urteils ist eine spannende offene Forschungsfrage. Die zweite Ebene der Implementation von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts weist einige Besonderheiten im Vergleich mit Implementationsbedingungen in anderen Gerichten auf. Das Bundesverfassungsgericht besitzt keine eigene Vollstreckungsbehörde in Gestalt eines Gerichtsvollziehers. Dies ist ein wichtiger Grund, warum das Bundesverfassungsgericht darauf angewiesen ist, schon bei seiner Programmsetzung auf die Implementation einzuwirken; und es hat über die Jahre eine erstaunliche Flexibilität bei der Tenorierung seiner Entscheidungen erreicht. Neben der Nichtig- und Unvereinbarkeits-Erklärung sind Appell-Entscheidungen, Gesetzgebungs- und Beobachtungs-Aufträge sowie die Feststellung einer „noch verfassungsrechtlich unbedenklichen“ Rechtslage, die allerdings eine verfassungskonforme Auslegung verlangt, zu nennen. Die flexible Tenorierung ist in unserer Interpretation auf Implementation ausgerichtet. Auch hier fehlt die systematische Untersuchung des Einflusses der Tenorierung auf die Implementation. 37 Siehe erste Ansätze in Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts, 2010, S. 367 ff. 38 Rogowski, in: Wrase/Boulanger (Hrsg.), Die Politik des Verfassungsrechts, 2013, S. 123 ff. 39 Karpen/Hof (Fn. 2). 40 Siehe zu strategischer Prozessführung Hahn, ZfRSoz 2019, S. 5 ff. Recht und Politik, Beiheft 5
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Die „Kruzifix-Entscheidung“ – eine Panne der Karlsruher Entscheidungsorganisation? Von Uwe Kranenpohl, Nürnberg
I. Einleitung Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten verstärkte Aufmerksamkeit durch die Politikwissenschaft erfahren.1 Im Zuge dieser Forschung ist es gelungen, ein wenig mehr Licht in die Umstände der Karlsruher „Entscheidungsherstellung“ zu werfen. Diese ist von zwei Spannungsverhältnissen geprägt: Zum einen erfordert die starke Belastung des BVerfG eine strikte Arbeitsteilung, wobei die Senate aber zugleich den Anspruch erheben, zentrale Entscheidungen als Kollektivorgan unter Beteiligung aller Richterinnen und Richter zu treffen. Zum anderen sind angesichts der Unschärfe verfassungsrechtlicher Bestimmungen mitunter „kreative“ Problemlösungen von Nöten, während zur Sicherung der Rechtssicherheit, aber auch der Folgebereitschaft der Entscheidungsunterworfenen Entscheidungen berechenbar sein sollten.2 In seiner fast siebzigjährigen Existenz hat das BVerfG eine Reihe von Routinen entwickelt, um innerhalb dieser Spannungsfelder seine Aufgabe effizient, konfliktarm und unspektakulär zu erfüllen. Aber auch die Analyse der wenigen Ausnahmefälle vermag einen Blick auf die Alltagsroutinen zu werfen, wenn diese unter der Fragestellung untersucht werden, was im konkreten Fall ausnahmsweise nicht funktioniert hat. Unter dieser Perspektive wird hier die „Kruzifix-Entscheidung“3 betrachtet, die auch nach zweieinhalb Jahrzehnten als Paradebespiel für die stets prekäre Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gilt.4
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Z. B. Lembcke, Hüter der Verfassung. Eine institutionentheoretische Studie zur Autorität des Bundesverfassungsgerichts, 2007; Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, 2009; van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015. Kranenpohl (Fn. 1), S. 494 ff. BVerfGE 93, 1. Brugger/Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, 1998.
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Duncker & Humblot, Berlin
Die „Kruzifix-Entscheidung“
II. Der Fall Gegenstand der Verfassungsbeschwerde war die rechtliche Verpflichtung zur Anbringung eines Kreuzes nach § 13 I 3 der Volksschulordnung (VSO) in allen bayerischen Volksschulen. Die sich zur anthroposophischen Weltanschauung bekennenden Eltern dreier schulpflichtiger Kinder wandten sich gegen diese Bestimmung. Es liefe ihrer Weltanschauung zuwider, wenn ihre Kinder unter einem Kruzifix als Darstellung eines „sterbenden männlichen Körpers“ lernen müssten. Auch die von der Schulverwaltung zwischenzeitlich vorgenommenen Modifikationen (Ersatz des Kruzifix durch ein Kreuz und dessen Anbringung neben der Tür statt an der Stirnseite des Klassenzimmers) änderten nichts an der Tatsache, dass durch diese Symbole im Sinne des Christentums auf ihre Kinder eingewirkt werde. Damit sei ihre und ihrer Kinder Religionsfreiheit (Art. 4 I GG) sowie ihr Elternrecht (Art. 6 I GG) verletzt.5 Der Erste Senat des BVerfG folgte in seiner Entscheidung mit fünf zu drei Stimmen der Auffassung der Beschwerdeführenden, diese seien durch die staatliche Anordnung zur Anbringung von Kreuzen in Volksschulen in ihrer negativen Religionsfreiheit verletzt, und entschieden, die entsprechende Bestimmung der VSO sei mit dem GG unvereinbar. Drei Richterinnen und Richter gaben ein Sondervotum ab.6 Daneben verfasste die Richterin Evelyn Haas noch ein weiteres Sondervotum zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde.7 Nach Bekanntgabe der Entscheidung durch die Pressestelle am 10. August 1995 brach in der Öffentlichkeit ein Sturm der Entrüstung los. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber kritisierte sie nach einer Kabinettssitzung deutlich: „Wir respektieren das Urteil [sic!], können es aber innerlich und inhaltlich nicht akzeptieren.“8 Die Proteste kulminierten einige Tage später in einer Protestkundgebung auf dem Münchner Marienplatz mit 25.000 Teilnehmern – darunter neben Stoiber der Münchner Kardinal Friedrich Wetter und der evangelische Landesbischof Hermann von Loewenich.9 In der Folge litt das Ansehen des BVerfG in der Öffentlichkeit.10
III. Das gerichtsinterne Entscheidungsverfahren des BVerfG In den Grundzügen gestaltet sich das Karlsruher Entscheidungsverfahren in Senatssachen folgendermaßen:
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BVerfGE 93, 1, 2. BVerfGE 93, 1, 25. BVerfGE 93, 1, 34. Zit. n. Stiller, SZ, 13. 09. 1995, S. 57. Glees, SZ, 25. 09. 1995, S. 33. Köcher, FAZ, 25. 10. 1995, S. 5. Vgl. zur Umfrage kritisch: Goldschmidt, KJ 1996, S. 106 ff.; Limbach, Die Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, 1997, S. 17 ff.
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Uwe Kranenpohl
– Zunächst wird der eingehende Antrag durch Mitarbeiter der Gerichtsverwaltung gesichtet. – Daraufhin machen die Präsidialräte einen Vorschlag, welchem Berichterstatter der Vorgang nach der Geschäftsverteilung des BVerfG und der beiden Senate zuzuordnen ist. – Aufgrund dieses Vorschlags teilt der Senatsvorsitzende den Vorgang dem zuständigen Berichterstatter und seinem Dezernat zu (§ 20 II BVerfGGO). Innerhalb des Dezernats wird der Fall zunächst bearbeitet. – Das Dezernat erstellt zur Vorbereitung der Senatsberatung ein Votum, welches nicht nur einen Tenorierungsvorschlag, sondern auch ausführliche Informationen zur Begründung enthält und dem umfangreiche Materialien beigegeben sind (§ 23 I BVerfGGO). – Aufgrund dieser Materialien tritt der Senat in die Entscheidungsberatung ein, und verhandelt – mitunter auch mehrmals – über den Fall und fällt schließlich eine Entscheidung. – Manche Verfahrensarten sehen auch eine mündliche Verhandlung vor; in vielen Fällen verzichten die Beteiligten aber auf eine mündliche Verhandlung. Andererseits kann der Senat aber auch von sich aus eine mündliche Verhandlung ansetzen: Etwa um zusätzliche Informationen zu erhalten oder auch um die Öffentlichkeit auf eine Entscheidung vorzubereiten. – Auf der Grundlage der Entscheidungsberatung erstellt das Dezernat einen Entscheidungsentwurf, der wiederum allen Senatsmitgliedern zugestellt wird. – In der folgenden Leseberatung überarbeitet und verabschiedet der Senat den Entscheidungstext. – Schließlich wird die Entscheidung in geeigneter Form durch das BVerfG verkündet. Ein Schlüsselbegriff zur Analyse von Routineentscheidungen sind standard operation procedures (SOPs).11 In der Verfassungsrechtsprechung bedeutet dies, dass ein Problem anhand spezifischer Merkmale, die selbstverständlich durch Routineverfahren „abgeprüft“ werden, einer Fallgruppe zugeordnet und dann untersucht wird, ob für diese Fallgruppe eine „gefestigte Rechtsprechung“ existiert.12 Die Vorteile, die SOPs bieten, liegen auf der Hand: Sie reduzieren Komplexität und sind – sofern tatsächlich ein Routinefall vorliegt – geeignet, in effizienter Weise akzeptable Ergebnisse zu produzieren. Im BVerfG bedeutet dies auch die Einordnung in die bestehende Rechtsprechung, nicht zuletzt um Rechtssicherheit zu gewährleisten.13 Dieser Vorteil ist aber auch Gefahrenquelle, da SOPs darauf ausgerichtet sind, nach Merkmalen von Routinefällen zu suchen und damit die Wahrscheinlichkeit steigt, genau diese Merkmale auch zu „entdecken“.
11 Allison, APSR 1969, S. 700 ff. 12 Hassemer, JZ 2008, S. 9 f. 13 Kranenpohl (Fn. 1), S. 303 ff. 82
Recht und Politik, Beiheft 5
Die „Kruzifix-Entscheidung“
IV. Einordnung in die einschlägige Rechtsprechung durch die Senatsmehrheit In welche Entscheidungslinien der Fall nach Auffassung der Senatsmehrheit einzuordnen sei, lässt sich aus den Verweisen im Entscheidungstext rekonstruieren. Er bezieht sich auf insgesamt achtzehn zuvor ergangene Entscheidungen.14 Lässt man jene Verweise außer Acht, die sich lediglich auf prozessrechtliche Aspekte beschränken (wie z. B. auf BVerfGE 65, 1) rekurriert die Entscheidung auf dreizehn zuvor ergangene Judikate (sowie auf ein weiteres im Sondervotum).15 Diese Entscheidungen erschließen das Problem unter vier Perspektiven: der negativen Religionsfreiheit (1.), der positiven Religionsfreiheit von Individuen oder kleinen Gemeinschaften (2.), des Spannungsverhältnisses von Schulpflicht und religiöser Prägung der Schule (3.) sowie des Spannungsfelds von Elternrecht und staatlichem Bildungsauftrag (4.). 1. Negative Religionsfreiheit Die Senatsmehrheit stellt die Entscheidung sehr deutlich in die bisherige Linie des Senats zur negativen Religionsfreiheit. Die Prüfung durch den Berichterstatter ergab offensichtlich, dass die Frage der verbindlichen Anbringung eines christlichen Symbols in einer öffentlichen Schule angesichts der Schulpflicht wie eine Anbringung in einem amtlichen Gebäude zu behandeln sei. Für dieses Problem lag nach Einschätzung des Berichterstatters mit der Entscheidung zum Kreuz im Gerichtssaal16 von 1973 eine Präzedenzentscheidung vor, die als gefestigte Rechtsprechung des BVerfG anzusehen17 und als weithin unstrittig eingeschätzt wird.18 Anders als bei den auch in der „KruzifixEntscheidung“ zitierten Judikaten zur Kirchenbausteuerpflicht und zur Kirchenmitgliedschaft19 definiert „Kreuz im Gerichtssaal“ die negative Religionsfreiheit aber nicht nur als Freiheit von Verpflichtungen gegenüber Religionsgemeinschaften, sondern auch als Recht von religiösen Bekundungen – auch durch die bloße Anbringung von Symbolen – unbehelligt zu bleiben. Bemerkenswerterweise hatte der Senat noch in seiner Entscheidung zum Schulgebet 1979 betont, dass Schülern (und ihren Eltern) im Rahmen der Schule die negative
14 Nachweise entsprechend der Datenbank „Deutschsprachiges Fallrecht“ (DFR), http://www. servat.unibe.ch/dfr/bv093001.html, Abruf am 06. 09. 2019. Die Sondervoten verweisen noch auf zwei weitere. 15 Außerdem verweist das Sondervotum auch auf die ablehnende Entscheidung des Senats zum Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im betrachteten Verfahren (BVerfGE 85, 94). 16 BVerfGE 35, 366. 17 So zumindest Massing, PVS 1995, S. 724. 18 So auch die Aussage eines beteiligten Richters. Vgl. Kranenpohl (Fn. 1), S. 350. 19 BVerfGE 30, 415; BVerfGE 19, 206. Recht und Politik, Beiheft 5
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Religionsfreiheit zustehe, dieser aber schon dann genüge getan werde, wenn „sie frei und ohne Zwänge über die Teilnahme am Gebet entscheiden können“.20 2. Positive Religionsfreiheit Betrachtet man die Entscheidungsverweise unter der Perspektive der positiven Religionsfreiheit, so ist bemerkenswert, dass diese sich fast ausnahmslos auf die Glaubensfreiheit von Individuen oder kleineren Gemeinschaften beziehen. Dies gilt für zwei einschlägige Entscheidungen des Ersten Senats,21 aber auch für die beiden Eidespflichtentscheidungen des Zweiten Senats.22 Insofern betonen die herangezogenen Entscheidungen insbesondere den Charakter der positiven Religionsfreiheit als Minderheitenrecht und gerade nicht das Recht einer Mehrheit auf unbeeinträchtigte Ausübung ihrer positiven Religionsfreiheit ungeachtet der negativen Religionsfreiheit von Minderheiten oder sogar Einzelnen.23 3. Schulpflicht und religiöse Prägung der Schule Hinsichtlich der Frage, inwieweit die staatliche Schule angesichts der bestehenden Schulpflicht religiös geprägt sein darf, betonen die beiden zeitgleich 1975 ergangenen Entscheidungen zur christlichen Prägung der staatlichen Schulen,24 dass der Gesetzgeber „das im Schulwesen unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen ,negativer‘ und ,positiver‘ Religionsfreiheit nach dem Prinzip der ,Konkordanz‘ […] zu lösen“ habe. Zu dieser Zeit betonte der Erste Senat aber noch, dass „die Ausschaltung aller weltanschaulich-religiösen Bezüge […] die bestehenden weltanschaulichen Spannungen und Gegensätze nicht neutralisieren [würde], sondern diejenigen Eltern in ihrer Glaubensfreiheit benachteiligen [würde], die eine christliche Erziehung ihrer Kinder wünschen“. Insofern könne „sich der Einzelne nicht uneingeschränkt auf das Freiheitsrecht aus Art. 4 GG berufen“. Die positive Religionsfreiheit einer Mehrheit vermag sich damit aber allein in den schulpolitischen Entscheidungen des Landesgesetzgebers auszudrücken, „den religiös-weltanschaulichen Charakter der öffentlichen Schulen zu bestimmen“.25
20 BVerfGE 52, 223. Bezeichnenderweise nimmt diese Entscheidung nicht auf „Kreuz im Gerichtssaal“ Bezug. 21 BVerfGE 19, 1 (Neuapostolische Kirche); BVerfGE 32, 98 (Gesundbeter). 22 BVerfGE 33, 23; BVerfGE 79, 69. 23 Die ebenfalls zitierte „Rumpelkammer-Entscheidung‘“ (BVerfGE 24, 236) bezieht sich zwar auf eine Großkirche, betrifft aber die Abgrenzung religiös-karitativer und wirtschaftlicher Betätigung. 24 BVerfGE 41, 29; BVerfGE 41, 65. 25 BVerfGE 41, 29, 29 und 49 f. 84
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Die „Kruzifix-Entscheidung“
In der schon zitierten Entscheidung zum Schulgebet betonte der Senat 1979 allerdings dann die unverzichtbare Freiwilligkeit religiöser Aktivitäten in staatlichen Schulen, also die negative Religionsfreiheit.26 Offenkundig bewertet die Senatsmehrheit in der „Kruzifix-Entscheidung“ die herzustellende Konkordanz aber anders als der Senat zwanzig Jahre zuvor und gibt der negativen Religionsfreiheit den Ausschlag. 4. Elternrecht und staatlicher Bildungsauftrag Schließlich macht der Rekurs des Senats auf Entscheidungen zu den Grenzen des Elternrechts angesichts des staatlichen Bildungsauftrags der Schulen deutlich, dass dieses im nicht weltanschaulichen Bereich regelmäßig gegenüber dem Gestaltungswillen des Gesetzgebers zurücktritt27 – und eben nicht wie die Aspekte der Religionsfreiheit in Ausgleich gebracht werden muss. Dies verdeutlicht nochmals den besonderen Status, den die Senatsmehrheit der Religionsfreiheit zuschreibt.
V. Der Entscheidungstenor Bemerkenswert – und zudem ein Bruch mit „Kreuz im Gerichtssaal“ war die Reichweite der Entscheidung: Denn 1973 hatte der Erste Senat lediglich entschieden, die negative Religionsfreiheit gebiete, die Gerichtsverfahren des Betroffenen nicht „unter dem Kreuz“ stattfinden zu lassen. Die Beanstandung einer allgemeinen Anordnung zur Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen durch den Beschwerdeführer hielt der Senat damals für unzulässig, da diese „noch nicht unmittelbar in die Rechtssphäre des einzelnen Staatsbürgers“ eingreife.28 Die Senatsmehrheit begnügte sich aber nicht damit, die negative Religionsfreiheit lediglich im konkreten Einzelfall durchzusetzen, sondern sie stellte die Unvereinbarkeit der entsprechenden Norm der VSO mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit fest. Auch insofern ist festzuhalten, dass die Senatsmehrheit die Rechtsprechung des BVerfG nicht fortschrieb, sondern gegenüber den zuvor ergangenen Entscheidungen die Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers deutlich einschränkte.
VI. Die Argumentationslinie der Senatsminderheit Die Analyse der von der Senatsmehrheit angelegten Argumentationslinien zeigt, dass diese in der „Kruzifix-Entscheidung“ die bisherige Rechtsprechung des BVerfG deutlich modifizierte. Inwieweit die in der Abstimmung unterlegenen Richterinnen und Richter dies mittrugen, lässt sich nicht vollständig aufklären. Hinweise gibt allerdings
26 BVerfGE 52, 223. 27 BVerfGE 34, 165; BVerfGE 47, 64. 28 BVerfGE 35, 366, 372. Recht und Politik, Beiheft 5
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das Sondervotum.29 Dieses rekurriert auf die Frage des Spannungsverhältnisses von Schulpflicht und religiöser Prägung der Schule und betont, dass „der Staat auch durch das Bereithalten sinnfälliger Wertsymbole, die in dem betreffenden Bundesland verbreiteter Übung entsprechen, einen organisatorischen Rahmen schaffen [darf], in dem sich zugleich die bei einem großen Teil der Schüler und ihrer Eltern vorhandenen religiösen Überzeugungen entfalten können“. Insofern sei es unzulässig, die Frage – wie die Senatsmehrheit – primär unter dem Gebot der negativen Religionsfreiheit zu betrachten: „Dagegen fällt die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen, die das Grundrecht eines Prozessbeteiligten aus Art. 4 I GG verletzen kann, in den Bereich ursprünglicher staatlicher Hoheitsfunktionen und unterliegt daher anderen verfassungsrechtlichen Bindungen als die Anbringung von Kreuzen in den Klassenräumen staatlicher Schulen.“30 Zudem sei gerade im Bereich des Schulrechts ein weiter Gestaltungsspielraum der Länder zu beachten, wie schon in der „Konkordats-Entscheidung“31 konstatiert. Dieser Linie schlossen sich auch einige Vertreter der Staatsrechtslehre an.32 Ungeachtet der Frage, ob man die Argumentation der Senatsminderheit, dass die Schule ein besonderer Bereich staatlichen Handelns sei, der durch „sinnfällige Wertsymbole“ geprägt sein könne und in dem die negative Religionsfreiheit gegebenenfalls zurücktrete, letztendlich für überzeugend hält, ist festzuhalten, dass sie sich in den Bahnen der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG bewegte.
VII. Missachtung von Routinen zur Bearbeitung möglicher Akzeptanzprobleme? Angesichts der unterschiedlichen Auffassungen im Ersten Senat und der Tatsache, dass die Senatsmehrheit die Rechtsprechung des BVerfG zur religiösen Prägung der Schule deutlich modifizieren wollte, überrascht es, dass Berichterstatter und Senatsmehrheit offenbar davon ausgingen, es handle sich bei „Kruzifix“ um eine Entscheidung, die hinsichtlich ihrer Vermittlung auf die für „Alltagsfälle“ übliche Weise behandelt werden könne. Denn in einer ganzen Reihe von Aspekten war der Fall gerade nicht alltäglich. 1. Gesellschaftliche Auffassungen zur Religionsfreiheit Wie schon gezeigt, ging es für die Senatsmehrheit um die Frage, ob die Anbringung christlicher Symbole in amtlichen Räumen die durch Art. 4 I GG geschützte Glaubensfreiheit zu verletzen vermag. Für dieses Problem lag nach ihrer Einschätzung „Kreuz im Gerichtssaal“ eine Präzedenzentscheidung vor. Dabei bildete die Senatsmehrheit drei Analogien: 29 30 31 32 86
BVerfGE 93, 1, 25. BVerfGE 93, 1, 30. BVerfGE 6, 309. Isensee, ZRP 1996, S. 10 ff.; Renck, ZRP 1996, S. 16 ff. Recht und Politik, Beiheft 5
Die „Kruzifix-Entscheidung“
– Sie ging davon aus, dass die negative Religionsfreiheit eines Angehörigen der israelitischen Kultusgemeinde mit jener von Anhängern der anthroposophischen Weltanschauung gleichzusetzen sei. – Sie setzte die Betroffenheit eines erwachsenen Anwalts und die schulpflichtiger Kinder (bzw. der stellvertretend für sie handelnden Eltern) gleich. – Schließlich parallelisierte sie die Verhandlungssituation in einem Gerichtssaal mit dem Bildungs- und Erziehungsprozess in einem Grundschulklassenzimmer. Es soll hier gar nicht um die Frage der rechtlichen Vertretbarkeit – oder sogar Richtigkeit – dieser Argumentation gehen (auch wenn mir zumindest die erste Analogie unzweifelhaft korrekt erscheint). Es ist aber empirisch festzustellen, dass zumindest einige dieser Analogiebildungen für einen beträchtlichen Teil der Öffentlichkeit – und offenkundig auch die dissentierenden Senatsmitglieder – nicht so „selbstverständlich“ waren, dass diese die Argumentation der Senatsmehrheit einfach hinnehmen wollten. Dies trifft sich mit der Einschätzung von Rainer Wahl, „der Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates [sei] der am wenigsten bekannte, der am wenigsten verinnerlichte und am wenigsten akzeptierte Grundsatz des Grundgesetzes. Hier klaffen Verfassung und Empfinden der Bürger weiter als irgendwo sonst auseinander“.33 2. Normverwerfung statt Einzelfallentscheidung mit Präzedenzwirkung In der Entscheidung nahm die Senatsmehrheit mit der unbeschränkten Ausdehnung der negativen Religionsfreiheit auch auf die Schule eine Modifikation der Rechtsprechung vor. Zugleich dehnte sie aber auch deren Reichweite aus, indem nicht mehr nur das konkrete religiöse Symbol in einer konkreten Situation, sondern die generelle Anordnung zur Anbringung von religiösen Symbolen als mit dem Grundgesetz unvereinbar verworfen wurde. Möglicherweise wäre die „Kruzifix-Entscheidung“ auf weniger Widerstand getroffen, wenn sich die Senatsmehrheit auf die Durchsetzung der negativen Religionsfreiheit im konkreten Fall beschränkt hätte. Durch den Präzedenzcharakter hätte die Entscheidung letztlich auch allgemeine Wirkung erzeugt. 3. Verfahrensgestaltung Angesichts des deutlichen Wandels in der Rechtsprechung und auch der senatsinternen Kontroversen erscheint es überraschend, dass der Erste Senat in dieser Sache keine mündliche Verhandlung durchführte. Gerade wenn das BVerfG unter Umständen damit rechnen muss, dass eine Entscheidung auf kein ungeteiltes Verständnis stößt, setzt es das Instrument der mündlichen Verhandlung mitunter ein, um die Öffentlichkeit auf bestimmte Entscheidungen vorzubereiten oder diese für spezifische Probleme zu sensibilisieren. Gerade in diesem Fall waren aber Akzeptanzprobleme zu erwarten, so dass dieser nicht „routinemäßig“ ohne mündliche Verhandlung geführt 33 Wahl, in: Guggenberger/Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998, S. 92. Recht und Politik, Beiheft 5
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hätte werden sollen. Zudem kam der Senat im vorausgehenden Verfahren um den Erlass einer Einstweiligen Anordnung dem Begehren der Beschwerdeführenden, die Kreuze entfernen zu lassen, nicht nach34 – insofern konnten Beobachter kaum mit einer grundlegenden Änderung der Rechtsprechung rechnen. Bezeichnenderweise sahen es auch Beteiligte in der Rückschau als Fehler an, dass – wohl auch um die Beschwerdeführer zu schützen – auf eine mündliche Verhandlung verzichtet wurde.35 4. Externe Kommunikation Schließlich ergab sich noch ein Problem aus der Mitte der 1990er Jahre noch wenig professionalisierten Pressearbeit des BVerfG. Die „Verlautbarungen der Pressestelle“ wurden damals noch von den mit einer Fülle anderer Aufgaben betrauten Präsidialräten gemeinsam mit den Dezernaten der Berichterstatter verfasst;36 von den Beteiligten konnte also nicht unbedingt erwartet werden, dass sie alle möglichen Aspekte der Medienberichterstattung im Blick hatten.37 Fatalerweise wurde die Entscheidung auch noch am 10. August 1995, also mitten in der Urlaubszeit, publiziert, so dass die Institution auch nicht voll handlungsfähig war, als der „Sturm der Entrüstung“38 losbrach.
VIII. „Lernprozesse“ Wie hat das BVerfG auf die Krise Mitte der 1990er Jahre reagiert? Sind möglicherweise neue Routinen entwickelt worden? Schon in den beiden folgenden Jahren sah sich der Erste Senat wieder mit einer Auseinandersetzung um das Verhältnis von Religion und Schule konfrontiert. Das Land Brandenburg führte das Unterrichtsfach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ (LER) ein, womit aus Sicht von Kritikern der schulische Religionsunterricht gefährdet wurde. Das BVerfG löste den Konflikt, indem es einen „Schlichtungsvorschlag“ machte, dem die Prozessbeteiligten zustimmten.39 Der Senat vermied also die Streitfrage im Lichte seiner bisherigen Rechtsprechungslinien zu bewerten und eine Entscheidung zu fällen. Eine andere brisante Entscheidung hatte der Zweite Senat mit der „Kopftuch-Entscheidung“ 2003 zu fällen.40 Wie der Erste Senat bei der LER-Frage enthielt sich die Mehrheit des Zweiten Senats aber einer Entscheidung in der Sache, sondern argu34 BVerfGE 85, 94. 35 Kranenpohl (Fn. 1), S. 307 f. 36 Die Pressemitteilung findet sich unter http://archiv.jura.uni-saarland.de/Entscheidungen/ Bundesgerichte/kruzifix.html, Abruf am 06. 09. 2019. 37 Kranenpohl (Fn. 1), S. 261 ff. 38 Kerscher, SZ, 28. 08. 1995, S. 3. 39 BVerfGE 104, 305. 40 BVerfGE 108, 282. 88
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Die „Kruzifix-Entscheidung“
mentierte im Anschluss an die „Kalkar-Entscheidung“,41 dass eine Regelung, die Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuchs untersage, eine eindeutige gesetzliche Grundlage erfordere, die im konkreten Fall nicht vorliege. Der Landesgesetzgeber könne aber selbstverständlich eine solche Regelung erlassen, wobei er aber „der Glaubensfreiheit der Lehrer wie auch der betroffenen Schüler, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität in angemessener Weise Rechnung zu tragen“ habe.42 Angesichts der üblichen Verfahrensdauer spielte der Senat damit letztlich „auf Zeit“. Als organisatorisches „Lernergebnis“ ist insbesondere die Einrichtung der Pressestelle zu nennen, die 1996 erfolgte und seither die Medienarbeit des BVerfG koordiniert. Zudem scheint die Überzeugung, das Instrument der mündlichen Verhandlung für strategische Kommunikationspolitik einzusetzen, gestiegen zu sein.43 Das BVerfG hat also vor allem seine SOPs für den Bereich der Kommunikation gegenüber den 1990er Jahren optimiert. Inwieweit dies auch für die internen Entscheidungsprozesse der Fall ist, muss hier offenbleiben.
41 BVerfGE 49, 59. 42 BVerfGE 108, 282, 309. 43 Kranenpohl (Fn. 1), S. 261, 307 f. Recht und Politik, Beiheft 5
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„Spiel“ statt „Dialog“ der Gerichte: Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte aus modelltheoretischer Perspektive Von Sebastian Wolf, Berlin1
I. Einleitung Das Verhältnis zwischen den obersten Gerichten miteinander verbundener Rechtsordnungen verläuft häufig nicht reibungslos.2 Wenn zwei solche Gerichte grundsätzlich vom Vorrang ihrer jeweiligen Rechtsordnung ausgehen und ihnen faktisch eine Kompetenz-Kompetenz zur Bestimmung von deren Reichweite zukommt, sind Kontroversen fast schon abzusehen: „Such conflicts are in principle non-resolvable as two different claims of hierarchy co-exist“.3 Im „Dreiecksverhältnis zwischen den nationalen Rechtssystemen, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der unionsrechtlichen Rechtsordnung“4 kann es relativ leicht zu solch problematischen Konstellationen kommen aufgrund des „hierarchisch unabgestimmten Nebeneinander[s] von BVerfG einerseits und EGMR/EuGH andererseits“.5 Während im EU-Mehrebenensystem der supranationale (Anwendungs‐)Vorrang des Unionsrechts und dessen Direktwirkung6 zumindest auf dem Papier die Lage etwas vereinfacht, ist die Situation im EMRK-Kontext komplexer bzw. unklarer. Die Europäische Menschenrechtskonvention hat mittlerweile „a significant presence within national legal orders“.7 Sie steht als an sich „subsidiäres Rechtsinstrument“8 in der
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Der Autor dankt Marten Breuer für wertvolle Hinweise. Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008. Madsen, in: Breuer (Hrsg.), Principled Resistance to ECtHR Judgments – A New Paradigm?, 2019, S. 39. Wildhaber, EuGRZ 2005, S. 689. Breuer, DVBl. 2017, S. 198. BVerfG steht im Folgenden als Abkürzung für Bundesverfassungsgericht, EGMR für Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte und EuGH für Gerichtshof der Europäischen Union. Vgl. Sadurski, HRLR 2009, S. 441. Keller/Stone Sweet, in: dies. (Hrsg.), A Europe of Rights, 2008, S. 710. Wildhaber (Fn. 4), S. 689.
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Duncker & Humblot, Berlin
„Spiel“ statt „Dialog“ der Gerichte
Normenhierarchie formal unter dem Grundgesetz,9 dennoch ist Deutschland prinzipiell völkerrechtlich verpflichtet, sämtliche Anforderungen aus der EMRK – die sich insbesondere aus Urteilen des EGMR erschließen – zu befolgen.10 Trotz dieser nicht eben einfachen Ausgangslage und verschiedener spannungsgeladener Gerichtsurteile kam es bislang nicht zu fundamentalen Konflikten zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR.11 Lässt sich das mitunter holprige, aber bisher weitgehend unfallfreie Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR auf einen konstruktiven Dialog der Gerichte zurückführen? Der vorliegende rechtspolitologische Beitrag12 argumentiert, dass eine spieltheoretische Betrachtung des Untersuchungsgegenstands einen größeren analytischen Mehrwert bietet als der Erklärungsansatz des Dialogs der Gerichte. Dafür werden zunächst einige zentrale Merkmale der jeweiligen Ansätze skizziert und bewertet (II.). Der darauffolgende Abschnitt erörtert vor allem die spieltheoretische Frage, ob das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR eher als Abschreckungsoder Gefangenendilemma modelliert werden sollte (III.). Abschließend wird auf das Phänomen wiederholter Interaktionen zwischen den beiden Gerichten und mögliche Folgen für das strategische Verhalten eingegangen (IV.). Hier lässt sich u. a. eine plausible Erklärung für das geringe Ausmaß an massiven Konflikten zwischen dem Karlsruher und dem Straßburger Gericht ableiten.
II. Spiel oder Dialog zwischen Karlsruhe und Straßburg? Das Bild des Dialogs zwischen den obersten nationalen Gerichten einerseits und dem EuGH13 bzw. EGMR14 andererseits wird seit einigen Jahren öfters bemüht. Sein analytischer Nutzen erscheint jedoch gering oder unscharf.15 Der Dialog-Ansatz enthält meist empirische und normative Elemente.16 Was den deskriptiv-empirischen Aspekt anbelangt, so reagieren Bundesverfassungsgericht und EGMR natürlich irgendwie aufeinander, indem sie insbesondere die Rechtsprechung der anderen Institution interpretieren und bei ihrem Vorgehen mehr oder weniger deutlich berücksichtigen. Mit dem Dialog-Ansatz (allein) wird aber aus kausalanalytischer Sicht kaum deutlich,
9 Sauer, in: Breuer (Hrsg.), Principled Resistance to ECtHR Judgments – A New Paradigm?, 2019, S. 58. 10 Breuer, in: ders. (Hrsg.), Principled Resistance to ECtHR Judgments – A New Paradigm?, 2019, S. 5. 11 Sauer (Fn. 9), S. 56. 12 „Rechtspolitologie“ wird hier in einem weiten interdisziplinären Sinne verstanden wie etwa bei van Ooyen, RuP 2017, S. 120. 13 Verweise etwa bei Dyevre, LSE Law, Society and Economy Working Papers 2/2013, S. 6. 14 Beispiele bei Breuer (Fn. 10), S. 323 ff., und Peters, GLJ 2012, S. 757 ff. 15 Dyevre (Fn. 13), S. 4, 6. 16 Dyevre (Fn. 13), S. 6. Recht und Politik, Beiheft 5
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warum welches Gericht wann in welcher Form handelt.17 Hinsichtlich des normativen Elements kann von einer kooperativen oder verständnisorientierten Kommunikation, die das Wort „Dialog“ in der Regel impliziert,18 zwischen den Gerichten – wenn überhaupt – höchstens mit Einschränkungen die Rede sein.19 Der vage Dialog-Ansatz vermag zudem kaum zu erklären, weshalb Bundesverfassungsgericht und EGMR in der Realität tatsächlich kooperativ und verständnisorientiert miteinander umgehen sollten.20 Während bei der Dialog-Metapher meist ein konstruktiver Austausch zum beiderseitigen Vorteil mitschwingt, kann ein Spiel je nachdem zwei (Teil‐)Gewinner, einen Gewinner und einen Verlierer oder zwei (Teil‐)Verlierer haben. Die Spieltheorie als „interaktive Mehrpersonenentscheidungstheorie“21 verspricht mehr Erklärungskraft als der Dialog-Ansatz, auch wenn sie freilich kein allumfassendes sozialwissenschaftliches Modell zur Analyse des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR zur Verfügung stellt. Sie basiert grundsätzlich auf der Verhaltenshypothese der individuellen Nutzenmaximierung.22 Eine spieltheoretische Modellierung erscheint nicht zuletzt deshalb angebracht, weil „judges must anticipate the social response elicited by their own behaviour“.23 Die Politikwissenschaft hat Erfahrung darin, Verfassungsgerichte und internationale Quasi-Verfassungsgerichte24 aus verschiedenen Blickwinkeln als politische Akteure zu betrachten.25 Bei der spieltheoretischen Berücksichtigung von institutionellen Settings und Akteursinteressen können Gerichte mit anderen politischen Akteuren wie etwa Regierungen nicht völlig gleichgesetzt werden, da sie als Institutionen der Judikative gewissen – oft schwer abgrenz- und messbaren – Restriktionen unterliegen. So müssen sie „remain, for instance, minimally faithful to both substantive legal doctrine and the methodological constraints imposed by legal reasoning“.26 Beim Dialog oder Spiel der Gerichte handelt es sich zunächst einmal um Interaktionen zwischen gerichtsförmigen Institutionen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten. Hierbei 17 18 19 20 21 22 23 24
Dyevre (Fn. 13), S. 6. Breuer (Fn. 10), S. 25; Peters (Fn. 14), S. 771. Dyevre (Fn. 13), S. 6 mit weiteren Nachweisen. Dyevre (Fn. 13), S. 6 f. Amann/Helbach, Spieltheorie für Dummies, 2012, S. 30. Amann/Helbach (Fn. 21), S. 84. Dyevre (Fn. 13), S. 10. Zum EGMR als (Quasi‐)Verfassungsgericht siehe etwa Sadurski (Fn. 6), S. 448; Stone Sweet/ Keller, in: Keller/Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights, 2008, S. 7, 13. 25 Frick/Lembcke/Lhotta, in: dies. (Hrsg.), Politik und Recht. Umrisse eines politikwissenschaftlichen Forschungsfeldes, 2017, S. 34. 26 Mattli/Slaughter, IO 1995, S. 186, in der Auseinandersetzung mit Garrett, IO 1995, S. 171 ff., in dessen Rational Choice-Ansatz der EuGH als ein von rechtlichen Bindungen weitgehend freier politischer Akteur erscheint. 92
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sind Bundesverfassungsgericht und EGMR nie der „first mover“; allerdings ist das Karlsruher Gericht stets vor dem Straßburger Gerichtshof am Zug. Ein grundrechtsrelevanter Fall wird praktisch immer zunächst von unteren Gerichtsinstanzen verhandelt. Erkennt ein solches Gericht einen Grundrechtsverstoß – auf der Grundlage der EMRK oder nicht – und beendet es das Verfahren, so kommt der Fall in der Regel nicht vor das Bundesverfassungsgericht. Von einem Dialog zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR kann hier nicht die Rede sein, von einem Spiel (oder mehreren Spielen) im Mehrebenen-Menschenrechtsregime dagegen unter einem bestimmten Blickwinkel schon, denn für die Implementation der EMRK sind die nationalen (Instanz‐)Gerichte von erheblicher Bedeutung.27 Kommt ein Streitfall nach der Ausschöpfung des Instanzenzugs vor das Bundesverfassungsgericht, entsteht nicht automatisch ein Dialog mit dem EGMR, denn auch das Karlsruher Gericht kann der Beschwerde natürlich mit oder ohne gebührende Berücksichtigung der EMRK stattgeben. Erst wenn das Bundesverfassungsgericht einen Grundrechtsverstoß verneint, erscheint es sinnvoll, von einem Dialogangebot an den EGMR sprechen.28 Als Spiel kann diese Situation hingegen in jedem Fall modelliert werden, denn das Bundesverfassungsgericht muss eine (institutionenstrategische) Entscheidung treffen. Zieht der Beschwerdeführer weiter nach Straßburg, ergeben sich erneut grundsätzlich zwei Optionen. Der EGMR kann entweder in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keinen Verstoß gegen die EMRK erkennen und greift damit das Dialogangebot – verstanden als eine Art Gesprächsfaden – nicht auf, ohne dass es damit aus rechtssystematischer Perspektive zu einer problematischen Situation kommt. Alternativ ist eine Verurteilung Deutschlands durch den EGMR möglich. Das lässt sich als eine Erwiderung des Dialogangebots oder eine Fortsetzung des Dialogs bzw. Spiels interpretieren. Dialog oder Spiel gehen in eine zweite Runde, denn nach Ansicht des EGMR muss die deutsche Rechtssituation geändert werden. Die zweite Runde geht früher oder später häufig von einem ähnlich gelagerten Streitfall aus. Auch hier sind nicht sofort und vielleicht nie Interaktionen zwischen Karlsruhe und Straßburg zu beobachten. Es kommt vielmehr erneut zu sequentiellen Gerichtsentscheidungen ( jeweils als Spiele interpretierbar), die unter Umständen wieder den Instanzenweg durchlaufen. Aus der Dialog-Perspektive mit ihrem Fokus auf die BVerfG-EGMR-Beziehung wird hier solange geschwiegen, bis der einschlägige Fall vor das Bundesverfassungsgericht gelangt. Der spieltheoretische Blickwinkel fragt hingegen bereits nach einer möglichen Verhaltens- bzw. Strategieänderung der unterinstanzlichen Gerichte durch das EGMRUrteil. Orientieren sich die Instanzgerichte an der Leitentscheidung aus Straßburg, kommt der Streitfall möglicherweise erst gar nicht bis nach Karlsruhe. Geben sie dem Kläger 27 Zum Umgang der deutschen (Instanz‐)Gerichte mit der EGMR-Rechtsprechung siehe die Beispiele bei Sauer (Fn. 9), S. 55 ff. 28 Breuer, VerfBlog, 14. 06. 2018, https://verfassungsblog.de/karlsruhe-und-das-beamtenstreik verbot-dialogangebot-mit-dolch-im-gewande/, Abruf am 02. 10. 2019. Recht und Politik, Beiheft 5
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hingegen nicht Recht, ist das Bundesverfassungsgericht in Runde 2 am Zug. Es kann diesmal zugunsten des Beschwerdeführers urteilen. Selbst wenn seine Entscheidung dabei von der Rechtsprechung des EGMR abweicht, würde man hier wohl grundsätzlich von einem „gelungenen“ Dialog zwischen Karlsruhe und Straßburg sprechen.29 Alternativ kann das Bundesverfassungsgericht unter Berücksichtigung des einschlägigen EGMR-Urteils eine Grundrechtsverletzung verneinen und den Dialog damit fortsetzen. Der EGMR hat dann die Möglichkeit, sich der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts im Ergebnis anzuschließen (auch das wäre ein „gelungener“ Dialog) oder erneut im Rahmen einer Verurteilung eine aus seiner Sicht EMRK-adäquate Anpassung der deutschen Rechtslage zu fordern. Darin könnte man einen „vorerst gescheiterten“ Dialog sehen. Ein „endgültig gescheiterter“ Dialog läge wohl erst dann vor, wenn das Bundesverfassungsgericht die Umsetzung eines EGMR-Urteils aus verfassungsrechtlichen Gründen kategorisch ausschlösse.30 Aus dem eben skizzierten Überblick sequentieller gerichtlicher Interaktionen, die man auch in einem Spielbaum mit Ursprung, Entscheidungs- und Endknoten abbilden könnte,31 wird der oben erwähnte geringe kausalanalytische Nutzen des Dialog-Ansatzes recht deutlich. Dieser kann (allein) kaum erklären, weshalb Bundesverfassungsgericht und EGMR wann in welcher Form handeln. Die Spieltheorie bietet dagegen jenseits der eher unscharfen Dialog-Perspektive und des juristisch „enge[n] ,Glasperlenspiel[s]‘ der Dogmatik“32 einfache und nachvollziehbare sozialwissenschaftliche Modellannahmen, die im Folgenden näher erörtert werden.
III. BVerfG und EGMR: Abschreckungs- oder Gefangenendilemma? Zur Modellierung juristischer Entscheidungssituationen ist die Spieltheorie schön öfters herangezogen worden.33 Das trifft für die in diesem Beitrag betrachtete intergerichtliche Konfliktkonstellation im europäischen System des Mehrebenen-Grundrechtsschutzes allerdings nicht zu. Arthur Dyevres spieltheoretischer Studie zum Verhältnis zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht kann im Folgenden in verschiedener – allerdings nicht in jeder – Hinsicht gefolgt werden. Dyevre geht unter anderem von folgenden Prämissen aus: „we assume (a) that courts want to expand – or at least preserve – their jurisdiction and (b) that whenever one court expands its jurisdiction, it normally does so at the other’s expense“.34 Eine dritte zentrale Prämisse lautet: „judges prefer jurisdictional loss to constitutional crisis“.35 29 30 31 32 33 34 35 94
Vgl. Sauer (Fn. 9), S. 83. Vgl. Breuer (Fn. 10), S. 25. Vgl. Amann/Helbach (Fn. 21), S. 86. van Ooyen (Fn. 12), S. 120. Grundlegend etwa Baird/Gertner/Picker, Game Theory and the Law, 1994. Dyevre (Fn. 13), S. 13. Dyevre (Fn. 13), S. 15. Recht und Politik, Beiheft 5
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In Dyevres Studie haben die zwei interagierenden obersten Gerichte – wie bei einfachen spieltheoretischen Modellen üblich – jeweils zwei Handlungsoptionen: „judicial defiance“ und „judicial restraint“.36 Mit der ersten Handlungsoption ist beim europäischen Gericht ein auf eine Expansion seiner Jurisdiktion zielendes Verhalten gemeint und beim nationalen Gericht eine Nichtanerkennung oder -befolgung entsprechender europäischer Gerichtsurteile. Judicial restraint steht für richterliche Zurückhaltung, insbesondere die Beachtung der jeweiligen Zuständigkeitsgrenzen. Dyevre skizziert folgende Präferenzhierarchie der Gerichte: Eine Verfassungskrise stellt für beide Gerichte das schlechteste Szenario dar (Auszahlungswert 0). Sie kommt zustande, wenn sowohl das nationale Gericht als auch das europäische Gericht für judicial defiance optieren. Das beste Szenario (Wert 3) für ein Gericht liegt dann vor, wenn es sich aktivistisch verhält und das andere Gericht zurückhaltend. Im umgekehrten Fall handelt es sich um das zweitschlechteste Szenario für ein Gericht (Wert 1). Das zweitbeste Szenario für beide Gerichte ist schließlich beiderseitiger judicial restraint (Wert 2). Die entsprechenden – gegenüber Dyevres ursprünglichem Modell vereinfacht dargestellten – Auszahlungen von 0 bis 3 sind in Tabelle 1 in jeder Zelle an erster Stelle aufgeführt. Dieses spieltheoretische Szenario entspricht dem „Falke-/Taube“-Spiel, für das auch die Bezeichnungen „Feigling“ oder „Chicken“ geläufig sind.37 Im Folgenden wird der Begriff „Abschreckungsdilemma“ verwendet, weil das Modell schon häufig zur Simulation von Abschreckungsszenarien, etwa im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg, herangezogen wurde.38 Für den hier interessierenden Untersuchungsgegenstand scheint allerdings das bekanntere „Gefangenendilemma“ das passendere spieltheoretische Modell zu sein. Dafür sprechen mehrere Gründe. Im EMRK-Kontext hat zumindest schon das russische Verfassungsgericht unter Beweis gestellt, dass oberste nationale Gerichte im Unterschied zu Dyevres Prämisse nicht immer judicial restraint einer (Quasi‐)Verfassungskrise vorziehen.39 Zudem haben „all constitutional courts […] taken pains to stress that it is the national Constitution that ultimately regulates the relationship between the domestic legal order and the Convention system“.40 Umgekehrt wird der EGMR nicht zuletzt aus institutionellem Eigeninteresse wohl nie darauf verzichten, die Beachtung der EMRK durch alle nationalen Institutionen einzufordern. Die Präferenzhierarchie der Gerichte stellt sich somit teilweise anders dar als in Dyevres Modell. Es gibt in dem hier als realistischer angesehenen Gefangenendilemma kein schlimmstes Krisenszenario der wechselseitigen Maximalschädigung wie in Dyevres Abschreckungsdilemma. Ein beiderseitiges aktivistisches (nicht-kooperatives) Verhalten – für das hier beim EGMR die üblichere Bezeichnung „judicial activism“ und beim Bundesverfassungsgericht der Ausdruck „judicial defiance“ in Anlehnung an Dyevre 36 37 38 39 40
Dyevre (Fn. 13), S. 15. Amann/Helbach (Fn. 21), S. 83. Dyevre (Fn. 13), S. 17. Breuer (Fn. 10), S. 333. Keller/Stone Sweet (Fn. 7), S. 688.
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gewählt wurde – ist für beide Gerichte die zweitschlechteste Lösung (Auszahlungswert 1). Ein solches Verhalten oder dessen Androhung führt zu einem spannungsgeladenen und unsicheren Verhältnis zwischen den Gerichten, aber zu keiner fundamentalen konstitutionellen Krise, die das Mehrebenen-Menschenrechtsregime kollabieren lässt. Als schlechtestes Szenario für ein Gericht (Wert 0) erscheint vielmehr eigene Zurückhaltung bei einem aktivistischen Verhalten des anderen Gerichts. Die jeweils zwei besten Szenarien für die Gerichte entsprechen dem oben besprochenen Abschreckungsdilemma. In Tabelle 1 finden sich die Auszahlungswerte für das Gefangenendilemma in jeder Zelle an zweiter Stelle in Klammern. Tabelle 1 Das Verhältnis Bundesverfassungsgericht/EGMR als Abschreckungs-(und Gefangenen)dilemma Bundesverfassungsgericht Judicial defiance Judicial restraint Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
0 (1) 0 (1) 3 (3) Judicial restraint 1 (0) Judicial activism
1 (0) 3 (3) 2 (2) 2 (2)
Quelle: eigene Darstellung.
Bei einem einzigen Spiel wäre nicht-kooperatives Verhalten (also judicial activism/ defiance) die dominante Strategie im Gefangenendilemma der beiden Gerichte.41 Jedes Gericht könnte so das aus seiner Sicht schlechteste Szenario sicher verhindern und vielleicht sogar das bestmögliche Ergebnis erzielen. Dabei würde kooperatives Verhalten ( judicial restraint auf beiden Seiten) zu einem höheren Gesamtnutzen und zu einem stabileren Mehrebenen-Menschenrechtsregime führen. Das Gefangenendilemma ist eben „ein Beispiel für den möglichen Unterschied zwischen individueller und kollektiver Rationalität“.42 In der Realität haben Bundesverfassungsgericht und EGMR aber natürlich nicht nur ein einziges Mal, sondern immer wieder miteinander zu tun.43 Mögliche Konsequenzen wiederholter Spiele im höchstgerichtlichen Gefangendilemma des europäischen Menschenrechtsschutzes werden abschließend diskutiert.
41 Vgl. Amann/Helbach (Fn. 21), S. 99. 42 Amann/Helbach (Fn. 21), S. 80. 43 Vgl. Dyevre (Fn. 13), S. 22. 96
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IV. Schlussbetrachtung Bundesverfassungsgericht und EGMR sind trotz ihres Konkurrenzverhältnisses – „a sort of on-going turf war between institutions over legal territorial delineations and power“44 – aufeinander angewiesen. Der Straßburger Gerichtshof braucht das Bundesverfassungsgericht, damit die Vorgaben der EMRK in Deutschland zur Not auch gegen unterinstanzliche Gerichte wie beispielsweise im Görgülü-Fall45 durchgesetzt werden. Eine Akzeptanz der EGMR-Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht stärkt die Legitimation des EMRK-Systems. Die Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts kann unter Umständen als potentielle Ressource gegen andere nationale Akteure dienen. Schließlich nimmt das Bundesverfassungsgericht für den überlasteten EGMR auch eine wichtige Abschirm- und Filterfunktion wahr. Das Bundesverfassungsgericht seinerseits kann sich einen fundamentalen Konflikt mit dem EGMR kaum leisten; ein solcher wäre mit der vielbeschworenen Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes46 kaum zu vereinbaren. Das EMRK-Regime wird zudem von allen maßgeblichen politischen Akteuren in Deutschland geschätzt. Schlussendlich kann die EGMR-Rechtsprechung für das Bundesverfassungsgericht eine potentielle Ressource in innerstaatlichen Auseinandersetzungen, etwa mit unteren Gerichtsinstanzen, darstellen. Dies alles spricht für ein kooperatives Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR, das in einem Gefangenendilemma allerdings wie oben skizziert nicht leicht herzustellen ist. Hier hilft aus spieltheoretischer Sicht der Umstand, dass die beiden Gerichte immer wieder interagieren. Sie können sich leicht ausrechnen, dass sie in wiederholten Spielen mit judicial activism und judicial defiance auf Dauer kollektiv schlechter fahren als mit richterlicher Zurückhaltung.47 Es empfiehlt sich folglich eine grundsätzlich kooperative Strategie, die aber dafür Sorge tragen muss, dass judicial restraint nicht einseitig ausgenutzt wird. Die in der Spieltheorie entwickelte „Tit-forTat“-Strategie beginnt dementsprechend sequentielle Spiele kooperativ; sie „bestraft, aber verzeiht auch sofort wieder und gibt die Möglichkeit, Kooperation zu lernen“.48 Dieser strategische Ansatz hat sich in Experimenten als erfolgreich erwiesen.49 Die tatsächliche Interaktion zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR lässt sich mit der „Tit-for-Tat“-Strategie recht gut interpretieren. Als „first mover“ in diesem Zweierverhältnis beginnt das Karlsruher Gericht praktisch immer – entgegen der dominanten Strategie im einmaligen Gefangendilemma – mit einem grundsätzlich ko44 45 46 47 48 49
Madsen (Fn. 3), S. 40. Breuer (Fn. 10), S. 26. Peters (Fn. 14), S. 766; Sauer (Fn. 9), S. 59. Vgl. Dyevre (Fn. 13), S. 23. Amann/Helbach, (Fn. 21), S. 181. Amann/Helbach (Fn. 21), S. 290.
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operativen Zug. Judicial defiance läge nur dann eindeutig vor, wenn das Bundesverfassungsgericht die Umsetzung einer (potentiellen) EGMR-Verurteilung kategorisch ausschließen würde. Um den Straßburger Gerichtshof aber von aktivistischem Verhalten abzuhalten und judicial restraint einzufordern, erscheint eine gewisse Drohhaltung zumindest von Zeit zu Zeit angebracht.50 Eine solche Strategie hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder gezeigt, nicht nur in „Görgülü“. So hat es beispielsweise im Urteil zum Beamtenstreikrecht trotz ausgiebiger Beschäftigung mit der einschlägigen EGMR-Rechtsprechung am Rande auf die im Notfall zu schützende Verfassungsidentität des Grundgesetzes verwiesen; Marten Breuer hat dies „Dialogangebot mit Dolch im Gewande“ genannt.51 Aus spieltheoretischer Sicht kann man ein solches Verhalten als „Tit-for-Tat“-Strategie deuten, die „Eigennutzen bestraft und Kooperation belohnt“.52 Reagiert der EGMR entsprechend zurückhaltend – indem er etwa das Subsidiaritätsprinzip betont –,53 so entsteht langfristig ein kooperatives Mehrebenen-Menschenrechtsregime (siehe Tabelle 2). Tabelle 2 Das Verhältnis Bundesverfassungsgericht/EGMR als (unendlich oft) wiederholtes Gefangenendilemma Bundesverfassungsgericht
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Judicial activism
Judicial restraint
Judicial defiance
Judicial restraint
1 Konfrontatives MehrebenenMenschenrechtsregime 1
0 Supranationales Mehrebenen-Menschenrechtsregime 3 2 Kooperatives MehrebenenMenschenrechtsregime 2
3 National segmentiertes Mehrebenen-Menschenrechtsregime 0
Quelle: eigene Darstellung.
Unscharfe Dogmatik kann als Ressource des Bundesverfassungsgerichts gesehen werden, um „seine Rechtsprechung relativ leicht neu auszutarieren“.54 Das Postulieren eines zwingenden Verfassungsvorbehalts, der über die oben skizzierte „kooperative Drohhaltung“ hinausgeht, macht hingegen aus spieltheoretischer Sicht wenig Sinn: Ein solcher klar nicht-kooperativer Zug führt zu einer hohen Selbstbindung des Gerichts. 50 51 52 53 54
Vgl. Dyevre (Fn. 13), S. 30. Breuer (Fn. 28). Amann/Helbach (Fn. 21), S. 290. Madsen (Fn. 3), S. 52. Kranenpohl, in: Frick/Lembcke/Lhotta (Hrsg.), Politik und Recht. Umrisse eines politikwissenschaftlichen Forschungsfeldes, 2017, S. 241.
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Recht und Politik, Beiheft 5
„Spiel“ statt „Dialog“ der Gerichte
Hat der EGMR bereits in einem ähnlich gelagerten Fall eine Verletzung der EMRK festgestellt, bleibt ihm womöglich wenig Entscheidungsspielraum, und die Zeichen stehen auf Konfrontation. Grundsätzlich profitiert der Straßburger Gerichtshof in der Interaktion mit dem Bundesverfassungsgericht aber auch von einer beträchtlichen Interpretationsoffenheit der europäischen Menschenrechte.55 Künftige spieltheoretische Analysen des Mehrebenen-Gerichtssystems in Europa sollten auch die Fach- bzw. Instanzgerichte stärker berücksichtigen. Es spricht einiges dafür, „that domestic high courts have incentives and interests that potentially diverge from those of inferior courts“.56 Die EGMR-Rechtsprechung wird von den deutschen Gerichten mitunter recht unterschiedlich ausgelegt; auch dem Bundesverfassungsgericht gelingt hier nur begrenzt eine Harmonisierung.57 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass manche Fälle nie bis nach Karlsruhe gelangen. Die Urteile des EGMR können insbesondere von den anderen Bundesgerichten gegebenenfalls als Ressource gegen das Bundesverfassungsgericht genutzt werden. Äußern sie Zweifel an der Vereinbarkeit einer deutschen Regelung mit der EMRK, ist dies eine Steilvorlage für die Kläger, im Falle einer Niederlage in Karlsruhe den Straßburger Gerichtshof anzurufen. Die Instanzgerichte können also mitunter „in die Lage versetzt werden, BVerfG und EGMR gegeneinander ,auszuspielen‘“.58
55 Wolf, in: Frick/Lembcke/Lhotta (Hrsg.), Politik und Recht. Umrisse eines politikwissenschaftlichen Forschungsfeldes, 2017, S. 303 ff. 56 Dyevre (Fn. 13), S. 9. 57 Siehe die Beispiele bei Sauer (Fn. 9), S. 55 ff. 58 Breuer (Fn. 5), S. 198. Recht und Politik, Beiheft 5
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III. VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT IM SPANNUNGSFELD VON AUTORITARISMUS, POPULISMUS UND TERRORISMUS Rechtspluralismus als Chance für die Rechtsstaatlichkeit? Der Einfluss des kolumbianischen Verfassungsgerichtes auf die Ausgestaltung der indigenen Rechtsautonomie Von Sarah Schmid, München*
I. Bewertung des Rechtspluralismus im wissenschaftlichen Diskurs Dem Rechtspluralismus, verstanden als „a context in which multiple legal forms exist“1 wohnte lange Zeit ein äußerst schlechter Leumund inne. Ursächlich hierfür war ein staatszentriertes Ideal in den Rechtswissenschaften, das die Rechtsprechung als alleinige Domäne des Staates, innerhalb derer ein einheitlicher, universell gültiger, Rechtsrahmen existiert, begriff. In einer Konstellation des Rechtspluralismus zeigt sich jedoch nicht nur der monopolistische Gestaltungsanspruch des Staates gefährdet, auch eine Einheitlichkeit des Rechtsrahmens kann nicht antizipiert werden.2 Stattdessen manifestiert sich realtypisch oftmals eine ausgeprägte Heterogenität an Rechtsquellen. An die Seite von Normen staatlicher Provenienz tritt vielfach das traditionelle Gewohnheitsrecht. Ergänzend sind gruppenspezifische Rechtsnormen, etwa das Recht religiöser Regime oder transnationale Rechtsnormen mit einem divergierenden Verpflichtungs- und Präzisionsgrad, zu identifizieren.3 Rechtspluralismus wurde vor diesem Hintergrund primär als eine Begrenzung staatlichen Rechts verstanden, die per se problematisch sei, mit der Folge, dass nicht-staatliche Rechtssysteme
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Der vorliegende Beitrag gibt die Bewertung der Autorin wieder und nicht unbedingt die der Hanns-Seidel-Stiftung. Tamanaha, in: Tamanaha (Hrsg.), Legal Pluralism and Development. Scholars and Practitioners in Dialogue, 2013, S. 34. Merry, in: Tamanaha (Hrsg.), Legal Pluralism and Development. Scholars and Practitioners in Dialogue, 2013, S. 70; Twinning, in: Tamanaha (Hrsg.), Legal Pluralism and Development. Scholars and Practitioners in Dialogue, 2013, S. 160. Schuppert, Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informeller Staatlichkeit, 2012, S. 58 ff.; Tamanaha (Fn. 1), S. 38.
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Duncker & Humblot, Berlin
Rechtspluralismus als Chance für die Rechtsstaatlichkeit?
als „disorderly, corrupt […] or even potentially subversive“4 und als Hemmnis für eine funktionale ökonomische und soziale Entwicklung charakterisiert wurden.5 Sukzessive hat sich in den letzten Jahrzehnten allerdings herauskristallisiert, dass Rechtspluralismus kein „unfinished stage of development“6 darstellt. Vielmehr bildet eine Rechtsprechung durch nicht-staatliche Akteure außerhalb der OECD-Welt in Räumen begrenzter Staatlichkeit weltweit immer noch die Norm.7 Diese Persistenz erklären neuere Studien mit den genuinen Stärken nicht-staatlicher Rechtssysteme, aus denen in Räumen begrenzter Staatlichkeit ein Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Staat erwachse. So seien diese oftmals kleinteiligen Strukturen in der Regel tief in lokalen Werteordnungen verwurzelt. Daraus resultiere ein Legitimitätsvorsprung gegenüber staatlichem Recht, das als abstrakt und kulturell fremd wahrgenommen werde.8 Darüber hinaus wiesen diese Systeme durch ihren lokalen Wirkungsgrad auch äußerst geringe Zugangshürden auf. Nicht zuletzt wird auch die Annahme hinterfragt, dass nicht-staatliche Rechtssysteme ursächlich für die Schwäche des Staates in diesem Politikfeld seien und diese auch weiter perpetuierten. Stattdessen werden diese als potenziell funktionale Instrumente gesehen, um die sich aus vielen Quellen speisende Schwäche der zentralen politischen Ordnungsinstanz abzufedern und ein vollständiges Abgleiten in die Anomie zu verhindern.9 Neben diesen positiven Effekten des Rechtspluralismus werden jedoch auch potenzielle Problemfelder identifiziert. Eine Pluralität an Rechtsordnungen erschwere es etwa, Konflikte zwischen Disputanten, die sich mit unterschiedlichen Rechtsordnungen identifizieren, zu lösen, da in diesem Falle potenziell kein einheitlicher normativer Bezugsrahmen existiere. Gerade dieses Charakteristikum, das ein nicht-staatliches Rechtssystem innerhalb seines Adressatenkreises so legitim erscheinen lasse – seine Verwurzelung in lokalen Strukturen und Werteordnungen –, erweist sich in diesem Szenario als Problem. Zudem sei auch festzuhalten, dass manche Normen zwar innerhalb eines spezifischen Personenkreises eine hohe moralische Bindekraft zu ent-
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Faundez, in: Tamanaha (Hrsg.), Legal Pluralism and Development. Scholars and Practitioners in Dialogue, 2013, S. 177. Woodman, in: Tamanaha (Hrsg.), Legal Pluralism and Development. Scholars and Practitioners in Dialogue, 2013, S. 130 f. Tamanaha, (Fn. 1), S. 46. Tamanaha, (Fn. 1), S. 36 ff. Kötter, On-State Justice Institutions: A Matter of Fact and a Matter of Legislation, 2012, S. 5 f., 23 f., Abruf am 14. 08. 2019; Tamanaha (Fn. 1), S. 35, 39; Wolfrum, in: Kötter (Hrsg.), Governance and Limited Statehood. Decision-Making at the Interface of Tradition, Religion and the State, 2015, S. 218 f.; Kinley, in: Tamanaha (Hrsg.), Legal Pluralism and Development. Scholars and Practitioners in Dialogue, 2013, S. 56 f. Tamanaha, in: Kötter (Hrsg.), Governance and Limited Statehood. Decision-Making at the Interface of Tradition, Religion and the State, 2015, S. 9.
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falten vermögen, gleichzeitig aber mit dem Werteverständnis der Mehrheitsgesellschaft oder menschenrechtlichen Mindeststandards kollidierten.10 Als ambivalentes Phänomen des Rechtspluralismus präsentiert sich schließlich auch das sogenannte „Forum Shopping“, also die Option von Konfliktparteien, zwischen zwei oder mehreren existierenden Rechtssystemen zu wählen. Hier kann auf der einen Seite kritisiert werden, dass einer Rechtsunsicherheit Vorschub geleistet wird, elementare Verfahrensstandards, wie etwa das Verbot einer Doppelbestrafung gefährdet sind und lokale Machtspieler diese institutionellen Doppelungen auch zu ihrem Vorteil nutzen können.11 Auf der anderen Seite attestieren einige Autoren dem „Forum Shopping“ positive Effekte und betrachten es als Wettbewerbsszenario, das in einer qualitativen Verbesserung aller beteiligter Rechtsordnungen kulminieren könne und potenziell auch diskriminierten Bevölkerungsgruppen neue rechtliche Spielräume eröffne.12 Im Rahmen dieses Beitrags soll am Beispiel der indigenen Rechtsautonomie in Kolumbien analysiert werden, ob und unter welchen Umständen rechtspluralistische Konstellationen den Grad an Rechtsstaatlichkeit positiv beeinflussen können. Ein besonderer Fokus liegt auf der Rolle des kolumbianischen Corte Constitucional, um herauszuarbeiten, inwieweit antizipierte Probleme des Rechtspluralismus durch eine geeignete Regulierungsstrategie kompensiert werden können.
II. Die Qualität rechtsstaatlicher Institutionen in Kolumbien Im Rule of Law-Index des World Justice Project belegte Kolumbien 2018 Rang 72 von 113 und befindet sich damit in der Nachbarschaft von Vietnam oder Kirgisistan.13 Dieser Befund überrascht mit Blick auf die Tatsache, dass Kolumbien schon im 18. Jahrhundert als demokratischer Vorreiter Lateinamerikas galt und auch im 20. Jahrhundert von gewaltsamen Machtergreifungen seitens des Militärs weitgehend verschont blieb. Trotz dieser positiven Ausgangsbedingungen entwickelte sich der kolumbianische Rechtsstaat nur zögerlich. Bis weit in die Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachteten die beiden dominierenden politischen Parteien Posten in der Justiz als Morgengabe für ihre Klienten. Während in den urbanen Räumen das Justizsystem als Instrument der Interessensdurchsetzung von Militär, Kirche und den Großgrundbesitzern galt, war es auf dem Land schlichtweg nicht präsent.14 Mit der Intensivierung des 10 Forsyth, Journal of Legal Pluralism 2007, S. 78; Connolly, Connecticut Law Review 2005, S. 240; Gauri, in: Tamanaha (Hrsg.), Legal Pluralism and Development. Scholars and Practitioners in Dialogue, 2013, S. 215. 11 Forsyth (Fn. 10), S. 88; Lund, in: Tamanaha (Hrsg.), Legal Pluralism and Development. Scholars and Practitioners in Dialogue, 2013, S. 203; Woodman (Fn. 5), S. 131. 12 Benton, in: Tamanaha (Hrsg.), Legal Pluralism and Development. Scholars and Practitioners in Dialogue, 2013, S. 25, 30 f.; Connolly (Fn. 10), S. 283 ff. 13 World Justice Project, Rule of Law Index, 2017 – 2018, 2018, S. 3, Abruf am 14. 08. 2019. 14 Hayes, Decolonization in the Constitutional System. Indigenous Rights and Legal Pluralism, 2016, S. 1, Abruf am 25. 08. 2019; Springer, Es gibt hier nichts zu richten: Möglichkeiten und 102
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bewaffneten Konflikts zwischen Staat, sozialrevolutionären Gruppierungen, Paramilitärs und organisierter Kriminalität ab den 1970ern eskalierte schließlich auch der Einsatz von Gewalt gegenüber Vertretern der Judikative.15 Trotz umfassender Reformen in den 1990ern konnten diese Defizite bis heute nicht überwunden werden. So stellen Zugangshürden immer noch ein schwerwiegendes Problem dar. Ein Drittel der kolumbianischen Bevölkerung hat keinen direkten Zugang zum Rechtssystem, insbesondere die Bevölkerung ländlich-peripherer Räume ist von diesem Phänomen betroffen.16 Darüber hinaus erweist sich das Justizsystem als hochgradig überlastet, dies markiert das Ergebnis einer chronischen Unterfinanzierung. Als Resultat bearbeiten Staatsanwälte partiell bis zu 700 oder 900 Fälle gleichzeitig, und der Verfahrensrückstau betrug 2008 noch über zehn Jahre.17 Weit problematischer ist jedoch die geringe Legitimität, die das staatliche Rechtssystem in den Augen der Bevölkerung genießt. Diese liegt zum einen darin begründet, dass Vertreter der Judikative in den Augen der Bevölkerung mehrheitlich als parteiisch, wenn nicht sogar als korrupt, perzipiert werden. Als Resultat wird Schätzungen zufolge nur 30 bis 46 Prozent aller Delikte überhaupt zur Anzeige gebracht.18 Kommt es zu einem Prozess, sehen sich Vertreter der Judikative vielfach mit unzulässigen Formen der Einflussnahme von versuchter Bestechung bis hin zur körperlichen Gewalt und Ermordung konfrontiert, die primär von nicht-staatlichen Akteuren, wie Gruppierungen der organisierten Kriminalität, ausgehen. Dies kulminiert in einem hohen Maß an Straflosigkeit, das je nach Delikt bei 60 bis 90 Prozent liegt. Insbesondere Morde an zivilgesellschaftlichen Aktivisten werden faktisch so gut wie nie erfolgreich strafrechtlich verfolgt.19
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Grenzen des Rechtsstaates in Kolumbien, 2003, S. 40 f., 25. 08. 2019; Helfrich-Bernal, in: Becker (Hrsg.), Rechtsstaat und Demokratie. Theoretische und empirische Studien zum Recht in der Demokratie, 2001, S. 141 f.; Palacios, Between Legitimacy and Violence. A History of Colombia, 1875 – 2002, 2007, S. 170 ff. Restrepo, Colombian Criminal Judiciary in Crisis. Fear and Distrust, 2003, S. 114 f.; Fennelly, Impunity in the Wake of a Conflict, 2013, S. 83, Abruf am 20. 08. 2019; Arjona, Rebelocracy. Social Order in the Colombian Civil War, 2016, S. 183. Fennelly (Fn. 15), S. 87; International Crisis Group, Colombia’s Armed Groups Battle for the Spoils of Peace, 2017, S. 25, Abruf am 13. 08. 2019. Fennelly (Fn. 15), S. 85 f.; Taussig, Law in a lawless Land. Diary of a Limpieza in Colombia, 2003, S. 42; Springer, (Fn. 14), S. 44. Springer (Fn. 14), S. 44; Restrepo, (Fn. 15), S. 123 f.; Cepeda Ulloa, in: Bagley/Rosen (Hrsg.), Colombia’s Political Economy at the Outset of Twenty-First Century. From Uribe to Santos and Beyond, 2015, S. 57; Jäger/Daun/Lambach/Lopera/Maass/Margraf, Die Tragödie Kolumbiens. Staatszerfall, Gewaltmärkte und Drogenökonomie, 2007, S. 134. Inter-American Commission on Human Rights, Guarantees for the Independence of Justice Operators. Towards Strengthening Access to Justice and the Rule of Law in the Americas, 2013, S. 61 f., Abruf am 13. 08. 2019); Special Rapporteur on Independence of Judges and Lawyers, Report of the Special Rapporteur on Independence of Judges and Lawyers. Mission to Colombia, o. J., S. 13 f., Abruf am 13. 08. 2019; Cepeda Ulloa (Fn. 18), S. 55; Foreign and
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III. Genese und Struktur der indigenen Rechtsordnungen in Kolumbien Die indigenen Völker Kolumbiens sind als eine weitgehend im ländlichen Raum lebende Bevölkerungsminderheit überproportional von diesen Defiziten betroffen. Staatliche Rechtsforen sind vor Ort kaum präsent und die Amtssprache bei Gerichtsprozessen ist das Spanische, dessen aber viele nicht mächtig sind. Nicht zuletzt manifestiert sich in der Praxis vielfach eine tiefe Kluft zwischen den geltenden Gesetzesnormen und der indigenen Rechtsauffassung.20 Vor diesem Hintergrund identifizieren indigene soziale Bewegungen traditionelle Formen der Konfliktresolution als konstitutiv für die Bewahrung ihrer Identität und nutzten die verfassungsgebende Versammlung 1991 strategisch geschickt als „Window of Opportunity“. Obgleich sie nur mit zwei Repräsentanten vertreten waren, überzeugten sie eine Mehrheit der Delegierten, eine Rechtsautonomie für die indigenen Gemeinschaften in der Verfassung zu verankern. Seitdem hat die Rechtsprechung des kolumbianischen Corte Constitucional dazu beigetragen, die im Verfassungstext äußerst schwammig definierte Rechtsautonomie in ihrem Wesensgehalt zu präzisieren und zu stärken.21 Indigene Rechtsforen zeigen sich in Kolumbien ihren staatlichen Pendants gegenüber in zweierlei Hinsicht überlegen: Zum einen weisen sie niedrige Zugangshürden auf und zum anderen werden sie von ihrem Adressatenkreis als legitime Strukturen der Konfliktbeilegung perzipiert. Ursächlich hierfür ist zum einen das adaptierte Verfahren: In dessen Zentrum steht das Streben nach einer „möglichst befriedigenden Konfliktlösung“,22 durch die eine Wiederherstellung der aufgrund eines devianten Handelns zuvor gestörten sozialen Harmonie gewährleistet werden soll. Es existiert in der Regel kein funktional differenziertes Rechtssystem. Stattdessen wird die Konfliktbeilegung als kollektive Aufgabe betrachtet, an der alle Mitglieder einer Dorf- oder Stammesgemeinschaft teilhaben. Vor diesem Hintergrund herrscht zwischen Tätern, Opfern und Schlichtern für gewöhnlich nur ein geringes Maß an Distanz. Dies spiegelt sich auch am Prozess der Entscheidungsfindung wider, die auf dem Konsensprinzip basiert, um gemeinschaftsintern die Akzeptanz des Urteils zu sichern.23
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Commonwealth Office, Colombia – in-year update December 2015, 2016, Abruf am 21. 08. 2019); Freedom House, Freedom in the Word, Colombia, 2018, 21. 08. 2019. Kuppe, Stärkung indigener Organisationen in Lateinamerika. Indigene Rechtsprechung und staatliches Recht in Lateinamerika, 2010, S. 14. Cepeda-Espinosa, Washington University Global Studies Law Review 2004, S. 622; HelfrichBernal (Fn. 14), S. 157. Waldmann, Der anomische Staat. Über Recht, öffentliche Sicherheit und Alltag in Lateinamerika, 2001, S. 123. van Cott, Journal of Latin American Studies 2000, S. 215; Kuppe (Fn. 20), S. 18 f.; Hoekema, The Journal of Legal Pluralism and Unofficial Law 2017, S. 70; Helfrich-Bernal (Fn. 14), S. 157. Recht und Politik, Beiheft 5
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Diese informellen, organisch gewachsenen lokalen Strukturen präsentieren sich jedoch nicht nur als äußerst zugänglich, sondern manifestieren auch den Wertekosmos ihrer Zielgruppe. Dieser postuliert, dass Mensch und Natur – letztere personifiziert als Madre Tierra – untrennbar miteinander verbunden sind und sich idealerweise in einem Zustand der Harmonie befinden. Dieses Equilibrium ist jedoch fragil und kann durch deviantes Verhalten – darunter werden Gewalt und Diebstahl, aber auch individuelles moralisches Fehlverhalten oder die Verschwendung natürlicher Ressourcen subsummiert – erschüttert werden. Um das Gleichgewicht wieder ins Lot zu bringen, sind eine gemeinschaftliche Intervention sowie die spirituelle Läuterung des Delinquenten gefordert.24 An dieser Stelle kristallisieren sich deutlich die Sollbruchstellen zwischen dem indigenen und dem staatlichen Rechtsverständnis heraus. Formelle Standards der Rechtsstaatlichkeit, wie die Anwendung abstrakter und allgemeingültiger Normen, präsentieren sich im indigenen Kontext als wenig relevant, auch eine klare Abgrenzung zwischen Rechts- und Sittlichkeitsnormen findet nicht statt. Nichtsdestoweniger sieht Helfrich-Bernal grundsätzlich ein „funktionales Äquivalent zu rechtsstaatlichen Praktiken“25 gegeben. Auch Hoekema charakterisiert indigene Rechtsforen „as a separate but equally valuable and valid part of the now diversified and interculturally organized state legal order and political entity of the country“.26 Hierin spiegelt sich auch die im lateinamerikanischen Raum sukzessive an Bedeutung gewinnende Perspektive27 wider, dass ein staatliches Rechtsmonopol nur auf der Grundlage einer „verletzte[n] Kultur des Anderen“28, sprich der indigenen Gemeinschaften, durchzusetzen sei. Anstatt eine kulturelle Assimilation der Ureinwohner in die Mehrheitsgesellschaft zu forcieren, besteht das Ziel nun darin, dass „the Indian will continue to perpetuate his species and culture“.29 Vor diesem Hintergrund präsentiert sich auch aus Sicht des kolumbianischen Verfassungsgerichtes die indigene Rechtsautonomie nicht nur als pragmatisches Instrument zum Erhalt des Rechtsfriedens in den indigenen Reservaten, sondern auch als grundlegende Voraussetzung für die Bewahrung der kulturellen Identität der Ureinwohner. Gleichwohl zeichnet sich nach 1991 ab, dass die Koexistenz zwischen staatlichem und indigenem Rechtssystem auch Reibungsflächen schafft. So hält etwa Jackson fest, dass 24 Ruíz Morato, Revista Científica General José María Córdova 2016, S. 359; Kuppe (Fn. 20), S. 18 f.; Semper, Die Rechte der indigenen Völker in Kolumbien, 2003, S. 223; van Cott (Fn. 23), S. 221. 25 Helfrich-Bernal (Fn. 14), S. 157. 26 Hoekema (Fn. 23), S. 69. 27 Dies spiegelt auch Kolumbiens Ratifizierung eines Übereinkommens der ILO 1989, das eine Anerkennung von indigenem Gewohnheitsrecht postuliert, wider (Cepeda-Espinosa (Fn. 21), S. 622). 28 Kuppe (Fn. 20), S. 13. 29 Bocarejo, Law & Social Inquiry 2014, S. 348. Recht und Politik, Beiheft 5
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„the liberal notion that indigenous rights are the same as human rights is seriously challenged upon hearing that pueblo authorities, in keeping with their customary laws and newly granted permission to manage their internal affairs, sentence a miscreant to be whipped or put into stocks“.30 Sie rekurriert dabei auf die Existenz von Leibstrafen – dazu zählen etwa der öffentliche Pranger oder die Verabreichung von Stockschlägen –, die in einigen indigenen Gemeinschaften anstelle von Haftstrafen als Sanktionierungsmittel vorgesehen sind. Des Weiteren erfährt auch die kollektivistische Orientierung indigener Rechtsforen, die gemeinschaftliche Kohäsion und Harmonie über individuelle Freiheitsrechte priorisiert, Kritik.31
IV. Regulierung der indigenen Rechtsautonomie durch den Corte Constitucional Die Verfassung von 1991 bleibt eine Antwort darauf schuldig, wie der Zielkonflikt zwischen einer Bewahrung der kulturellen Identität der Ureinwohner auf der einen Seite und der Garantie menschenrechtlicher Standards auf der anderen Seite aufgelöst werden kann. Auch die Legislative zeigt keine Bereitschaft, auf diesem Gebiet gesetzgeberisch tätig zu werden.32 Erst in diesem regulativen Vakuum entwickelt sich der Corte Constitucional zum Machtspieler. Ermöglicht wird dies durch die Tutela, die sich erstmalig in der Konstitution von 1991 findet und strukturelle Parallelen zur deutschen Verfassungsbeschwerde aufweist.33 Nach ihrer Einführung avanciert die Tutela schnell zu einem beliebten Instrument der Zivilgesellschaft, um in diesem Zeitraum persistente Menschenrechtsverstöße von Exekutive und Legislative offen zu legen. Die Tutela eröffnet aber gleichzeitig auch für individuelle Ureinwohner, die elementare Menschen- und Bürgerrechte durch die indigene Gerichtsbarkeit verletzt sehen, einen Weg der Appellation. Im Rahmen eines Tutela-Verfahrens prüft das Gericht, inwieweit der Schutzbereich eines verfassungsmäßig garantierten Rechtes verletzt ist und ob diese Grundrechtsbeschneidung nach Abwägung weiterer Rechtsgüter angemessen ist.34
30 Jackson, UniverSOS: revista de lenguas indigenas y universos culturales 2011, S. 113. 31 Semper (Fn. 24), S.127, 219, 223 f.; van Cott (Fn. 23), S. 215; Cepeda-Espinosa (Fn. 21), S. 624. 32 Constitution of Colombia, 1991, Art. 246; Kuppe (Fn. 20), S. 31 ff.; Hayes (Fn 14), S. 7; Ruíz Morato (Fn. 24), S. 362. 33 Artikel 86 der kolumbianischen Verfassung von 1991 hält erstmalig fest, dass „every person has the right to file a writ of protection before a judge, at any time or place, through a preferential and summary proceeding, for himself/herself or by whomever acts in his/her name for the immediate protection of his/her fundamental constitutional rights when that person fears the latter may be violated by the action or omission of any public authority“ (Constitution of Colombia, 1991, Art. 86). 34 Helfrich-Bernal (Fn. 14), S. 157; Kuppe (Fn. 20), S. 25; van Cott (Fn. 23), S. 217; CepedaEspinosa (Fn. 21), S. 552 ff. 106
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Die Urteile des Corte Constitucional spiegeln dabei die Bemühung wider, „to develop [.] a coexistence of rights of the individual as such, and the rights of the community to be different and to have the support of the State to protect such a difference“.35 Als Position des Gerichts kristallisiert sich in diesem Kontext eine „supremacy of indigenous customary law over ordinary civil laws that conflict with cultural norms, and over legislation that does not protect a constitutional right of the same rank as the right to cultural and ethnic diversity“36 heraus. Faktisch bedeutet dies, dass das Gericht eine menschenrechtliche Schranke definiert. Im Falle der Leibstrafen konstituiert sich diese durch das Untersagen von Folter und dem Verbot einer permanenten körperlichen Schädigung bis hin zum Tod. Weiterhin erlaubt bleibt aber die öffentliche Verabreichung von Schlägen. Hier argumentiert das Gericht zum einen, dass eine permanente gesundheitliche Schädigung nicht zu antizipieren sei. Zum anderen wird festgehalten, dass die Strafe keine punitive Orientierung aufweise, sondern der rituellen Reinigung des Delinquenten, die die Voraussetzung für seine Reintegration in die Gemeinschaft bilde, diene. Anders als beispielsweise die Inhaftierung werde diese Form der Sanktionierung zudem innerhalb des betroffenen Stamms der Paéz als legitim und moralisch richtig definiert.37 Diese Position einer „maximización de la autonomía y minimización de las restricciones a las autoridades de las comunidad“38 bildet fortan den Fixpunkt der Rechtsprechung. Drohen menschenrechtliche Mindeststandards verletzt zu werden, so habe das Gericht einzugreifen, aber auch hier sei das mildeste mögliche Mittel zu adaptieren.39 Diese Rechtsprechung des Corte Constitutional wird grundsätzlich positiv bewertet, auch wenn einzelne Urteile weder innerhalb des Gerichts selbst, noch im politischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs unumstritten sind.40 Unabhängig von der kritischen Würdigung einzelner Urteile ist aber bemerkenswert, wie sich – ermöglicht durch die Tutela – in der Summe eine funktionale Ausprägungsform des Forum Shoppings entwickelt hat, bei der menschenrechtliche Defizite des indigenen Rechtssystems kompensiert werden können, ohne die Rechtsautonomie der Ureinwohner in ihrem Wesensgehalt und Wirkungsgrad unverhältnismäßig zu tangieren. Auch mit Blick auf den Geltungsbereich der Rechtsautonomie reflektiert der Verfassungstext von 1991 einen Minimalkonsens der Delegierten und sieht vor, dass „the authorities of the indigenous (Indian) peoples may exercise their jurisdictional functions within their territorial jurisdiction in accordance with their own laws and pro35 Hayes (Fn. 14), S. 3. 36 van Cott (Fn. 23), S. 217. 37 Cepeda-Espinosa (Fn. 21), S. 624; Kuppe (Fn. 20), S. 29; Landau/Cepeda-Espinosa, Colombian Constitutional Law – Leading Cases 2017, S. 243 ff. 38 Roa Roa, Revista Derecho del Estad 2014, S. 106. 39 van Cott (Fn. 23), S. 218; Cepeda-Espinosa (Fn. 21), S. 623 f. 40 Cepeda-Espinosa (Fn. 21), S. 625; Semper (Fn. 24), S. 127 f.; van Cott (Fn. 23), S. 222 f.; Landau/Cepeda-Espinosa (Fn. 37), S. 249 ff.; Hoekema (Fn. 40), S. 74. Recht und Politik, Beiheft 5
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cedures“.41 Die verfassungsgebende Versammlung delegierte den politisch durchaus heiklen Auftrag, im Rahmen eines einfachen Gesetzes den Geltungsbereich indigener Rechtsprechung präzise zu definieren, an das Parlament. Dort erwies sich – trotz sich mehrfach wandelnder politischer Machtverhältnisse – in den letzten drei Jahrzehnten kein diesbezüglicher Gesetzesentwurf als mehrheitsfähig.42 Einmal mehr blieb es dem Corte Constitucional überlassen, auf der Grundlage von Präzedenzfällen über dieses strittige Sujet zu entscheiden. In Abwesenheit eines eigenständigen, formaljuristischen Rechtsstatus des Indios präsentiert sich insbesondere die Frage, ob alleine die Existenz indigener Wurzeln genüge, um unter die Jurisdiktion der Ureinwohner zu fallen, als äußerst kontrovers.43 Der Corte Constitucional sieht – wie eingangs dargestellt – die Rechtsautonomie als Instrument zur Bewahrung der distinktiven kulturellen Identität der indigenen Gemeinschaften und lehnt es vor diesem Hintergrund ab, eine Zugehörigkeit allein auf der Grundlage biologischer Herkunft zu bejahen. Das Gericht argumentiert, dass im Kontext der indigenen Rechtautonomie nicht der individuelle Indio geschützt werde, sondern „Indians that live with Indians, and as Indians.“44 Als Belege für eine solche kulturelle Identifikation werden beispielsweise die Beherrschung und Alltagsnutzung einer indigenen Sprache, die Teilnahme an konstitutiven Zeremonien eines Stamms und insbesondere auch der Wohnsitz in einem Reservat, einem Resguardo, dessen Ökonomie üblicherweise von einem niedrigen Monetarisierungsgrad und der Persistenz von Gemeinschaftsbesitz geprägt ist, gewertet.45 Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass ein Ureinwohner, der sich in die kolumbianische Mehrheitsgesellschaft assimiliert – also beispielsweise dauerhaft das Reservat verlässt, einer Lohnarbeit nachgeht und sich im Alltag auf Spanisch verständigt –, nicht mehr unter den Geltungsbereich der indigenen Rechtsprechung fällt.46 In der Praxis markiert dies eine deutliche Beschränkung der indigenen Jurisdiktion. An anderer Stelle hat das Gericht diese aber auch gestärkt und in einem Präzedenzfall entschieden, dass auch nicht-Ureinwohner auf Resguardo-Territorium der indigenen Gerichtsbarkeit unterworfen sind.47 In Abwesenheit einer Regulierung durch die kolumbianische Politik hat das Verfassungsgericht summa summarum klare Regeln für die Zuordnung von Ver-
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Constitution of Colombia, 1991, Art. 246. Kuppe (Fn. 20), S. 31 ff.; Hayes (Fn. 14), S. 7; Ruíz Morato (Fn. 24), S. 362. Semper (Fn. 24), S. 46 f. Bocarejo (Fn. 29), S. 348. van Cott (Fn. 23), S. 217; Kuppe (Fn. 20), S. 34. Vallejo Piedrahita, Plurality of Peaces in legal Action. Analyzing constitutional Objections to Military Service in Colombia, 2012, S. 117 f.; Bocarejo (Fn. 29), S. 347 f.; van Cott (Fn. 23), S. 217; Kuppe (Fn. 20), S. 34. 47 Redacción de el País, Corte ordena libertad del líder indígena Feliciano Valencia, 2017, Abruf am 30. 08. 2019.
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Rechtspluralismus als Chance für die Rechtsstaatlichkeit?
antwortlichkeit formuliert und so den Grundstein für eine funktionale Koexistenz der beiden Rechtssysteme gelegt.
V. Rechtspluralismus als „Allerheilmittel“? Mit Blick auf die indigene Rechtsautonomie in Kolumbien erscheint der schlechte Leumund, den der Rechtspluralismus lange Zeit innehatte, obsolet. Organisch gewachsene Strukturen können – so viel wird deutlich –, insbesondere in Räumen beschränkter Staatlichkeit einen funktionalen Beitrag zur Gütererbringung leisten. Gleichzeitig illustriert dieses Beispiel auch, dass es möglich ist, die Problemlagen des Rechtspluralismus durch eine sinnvolle Regulierungsstrategie zu adressieren. Eine uneingeschränkte Übertragbarkeit dieses Modells ist jedoch keinesfalls gegeben. Dies zeigt bereits ein Blick auf weitere existierende rechtspluralistische Konstellationen im kolumbianischen Kontext. Nicht nur die indigenen Gemeinschaften, auch sozialrevolutionäre Guerilla wie die FARC oder paramilitärische Gruppierungen haben in der Vergangenheit in ihren Einflusszonen ein Monopol bei der Rechtssetzung und Rechtsprechung für sich beansprucht. Diese Strukturen waren von tiefgreifenden Menschenrechtsverletzungen geprägt, was sich insbesondere an der Prävalenz der limpieza social – einer „Säuberung“ des Gemeinwesens durch die Hinrichtung von Kleinkriminellen – widerspiegelte.48 Beide Akteure zielten zudem auch auf eine Schwächung des staatlichen Rechtsystems ab. Während die FARC den Staat ersetzen wollten, strebten die Paramilitärs danach, durch Bestechungen, Drohungen oder die Ermordung integrer Staatsdiener das staatliche Rechtssystem von innen auszuhöhlen.49 Die Funktionalität rechtspluralistischer Arrangements scheint folglich auf durchaus sehr anspruchsvollen Prämissen zu basieren: Dazu zählen die Existenz eines organisch gewachsenen Rechtssystems, das innerhalb seines Adressatenkreises eine hohe Legitimität genießt, eine wechselseitige Bereitschaft des staatlichen und des nicht-staatlichen Rechtssystems zur friedlichen Koexistenz sowie die Akzeptanz regulativer Eingriffe durch den Staat, die wiederum nicht unverhältnismäßig ausfallen dürfen.
48 Gutiérrez Sanín, Politics and Society, 2008, S. 16; León, Country of Bullets. Chronicles of War, 2009, S. 30, 66, 83, 92; Arjona (Fn. 15), S. 176 ff.; Taussig (Fn. 17), S. 29, 176; Dudley, Walking Ghosts. Murder and Guerilla Politics in Colombia, 2006, S. 71; Civico, PoLAR 2012, S. 78. 49 Restrepo (Fn. 15), S. 114 f.; Fennelly (Fn. 15), S. 83; Arjona (Fn. 15), S. 183; Dudley (Fn. 48), S. 71; Feldmann/Hinojosa, Terrorism and Political Violence, 2016, S. 52; Civico (Fn. 48), S. 78; Sánchez-Moreno/Farland, There are no Dead here, 2018, S. 2. Recht und Politik, Beiheft 5
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Populistische Parteien und Verfassungsgerichte Zu den Spezifika eines grundlegenden Spannungsverhältnisses Von Giovanni de Ghantuz Cubbe, Dresden
I. Einleitung* Sehr oft wird Populismus als breites, zeitgenössisches Phänomen, manchmal auch als Gespenst diskutiert, das die westlichen Demokratien umtreibt.1 Dazu wird Populismus in einen Zusammenhang mit einer umfangreichen Bewegungs- bzw. Parteienfamilie gerückt, deren Angehörige gemeinsame Attribute haben. Insbesondere profilieren populistische Bewegungen und Parteien eine antagonistische Teilung zwischen einem ,homogenen Volk‘ und einer ,korrupten Elite‘, nehmen Politik als unmittelbaren Ausdruck der volonté générale wahr und vertreten – im Fall des Rechtspopulismus – nativistische und autoritäre Positionen.2 Die Bündelung verschiedener Bewegungen und Parteien zu einer populistischen Familie liefert einen grundlegenden und fruchtbaren analytischen Rahmen. Darüber hinaus bedarf es allerdings eines differenzierten Blicks, um den verschiedenen Erscheinungsformen des Populismus gerecht zu werden und diesen nicht als ein homogenes Phänomen darzustellen.3 Ähnliches gilt für das Verhältnis zwischen Populismus und Konstitutionalismus, dessen wesentliche Eigenschaften und Dynamiken seit Jahren diskutiert werden.4 Zu Recht wird beispielsweise oft betont, dass der Populismus durch seine Akzentuierung des Mehrheitsprinzips bzw. die Vorstellung des Volkes als homogene Entität ein grundlegendes Spannungsverhältnis zum Konstitutionalismus produziert, der durch die Garantie individueller Grundrechte und den Schutz von Minderheiten dagegen mit einer
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Ein herzlicher Dank gilt Christian Wöhst und Kristina Chmelar für ihre Unterstützung. Ionescu/Gellner, Populism: Its Meaning and National Characteristics, 1969; emblematisch ist auch die Rede vom „populist Zeitgeist“: Mudde, GaO 2004, S. 542 ff. Mudde (Fn. 1); Mudde, The Populist Radical Right, 2017; Hawkins/Carlin/Littvay/Kaltwasser (Hrsg.), The Ideational Approach to Populism. Concept, Theory, and Analysis, 2019. Vgl. Heinisch/Mazzoleni, in: Heinisch/Bacha/Mazzeloni (Hrsg.), Political Populism, 2017, S. 105 ff. Vgl. Blokker, in: de la Torre (Hrsg.), Routledge Handbook of Global Populism, 2018; Corrias, ECLR 2016, S. 6 ff.; Corso, JLP 2014, 443 ff.; Halmai, GLJ 2019, S. 296 ff.
Recht und Politik, Beiheft 5 (2020), 110 – 119
Duncker & Humblot, Berlin
Populistische Parteien und Verfassungsgerichte
pluralistischen Vorstellung von Volk einhergeht und die Volkssouveränität begrenzt.5 Seltener finden sich aber theoretische Ausführungen, die gleichermaßen umfassend wie systematisch die vielfältigen Kontakt- und Friktionspunkte zwischen populistischen Parteien und den Strukturen und Institutionen der konstitutionellen Demokratie behandeln und dabei Verfassungsgerichte als Hüter und Wahrer von Verfassungen in den Fokus rücken.6 Vor diesem Hintergrund zielt dieser Beitrag darauf, eine Systematik vorzuschlagen, die die Spezifika im Verhältnis zwischen populistischen Parteien und Verfassungsgerichten zu betrachten und die verschiedenen Modalitäten ihrer Interaktion sowie die Widerstandsfähigkeit von Verfassungsgerichten gegenüber populistischen Angriffen zu untersuchen hilft. Fokussiert wird dabei insbesondere die Autorität von Verfassungsgerichten als Hütern der Verfassungen sowie die Positionierung von populistischen Parteien gegenüber dieser Autorität. Besondere Aufmerksamkeit erhalten (europäische) rechtspopulistische Parteien, welche seit einigen Jahren immer größere Wahlerfolge feiern, eine immer stärkere Konkurrenz zu bereits etablierten Parteien darstellen oder bereits Regierungen bilden (wie im Fall der ungarischen Partei Fidesz unter Viktor Orbán oder der italienischen Lega unter Matteo Salvini 2018) und die durch ihre nativistischen Positionen und Tendenzen zum Autoritarismus eine besondere Gefahr für die konstitutionelle Demokratie darstellen (der vorliegende Beitrag bezieht sich allerdings nicht ausschließlich auf den Rechtspopulismus).
II. Die Autorität von Verfassungsgerichten auf drei Ebenen Zwischen Populismus und Verfassungsgerichten existiert ein unvermeidliches Spannungsverhältnis. Leicht können Populisten Verfassungsgerichte beispielsweise als Teil der korrupten Elite ansehen, die die Volkssouveränität begrenzt. Dazu wird von populistischen Akteuren gerne eine Zentralisierung der Macht in ihren Händen sowie ein absolutes Mehrheitsprinzip gefordert, um den vermeintlich homogenen Volkswillen – auch auf Kosten von Minderheiten – unmittelbar umzusetzen. Verfassungsgerichte, die die Gewaltenteilung gewährleisten und die konstitutionelle Demokratie vor einem möglichen Missbrauch des Mehrheitsprinzips schützen,7 stehen zu dieser politischen Logik im Widerspruch. Deswegen stellen sie für Populisten unnötige Institutionen dar: 5
6
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Mudde, Are Populists Friends or Foes of Constitutionalism?, 2013, https://ora.ox.ac.uk/ objects/uuid:fc657de0-ab0c-4911 – 8d2b-646101599b65/download_file?file_format=pdf& safe_filename=Mudde_0.pdf&type_of_work=General+item, Abruf am 12. 07. 2019. In eine solche Richtung gehen beispielsweise Friedman, The Impact of Populism on Courts, 2019, https://www.fljs.org/sites/www.fljs.org/files/publications/The%20Impact%20of% 20Populism%20on%20Courts.pdf, Abruf am 12. 07. 2019; Arato, in: Landfried (Hrsg.), Judicial Power, 2019, S. 318 ff.; Bugaric, Communist and Post-Communist Studies 2008, S. 191 ff. Vgl. von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, 1992, S. 133 ff.
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Giovanni de Ghantuz Cubbe „By identifying the genuine people’s will with its own, the populist leader or group inevitably sees the intervention of courts as linked to the secret work of an oligarchical enemy […]. Once the will is incarnated, there is no reason to move to higher levels of legitimacy and to alternative procedures to test whether it is a genuine democratic will“.8
Das beschriebene Spannungsverhältnis bietet eine grundlegende analytische Einsicht. Jedoch „there are important differences between contemporary populist forces. Not all of them affect the democratic regime [… and constitutional courts] in the same way“.9 Und auch Verfassungsgerichte reagieren auf populistische Parteien nicht immer in der gleichen Art und Weise. Entsprechend erscheint es sinnvoll, zwischen verschiedenen Modalitäten der komplexen Interaktion zwischen populistischen Parteien und Verfassungsgerichten und verschiedenen Formen der Widerstandsfähigkeit von Verfassungsgerichten gegenüber populistischen Angriffen zu differenzieren. Den Ausgangspunkt bildet hier der Begriff der Autorität, verstanden als bestehendes und sich ohne Gewalt durchsetzendes Recht auf Gehorsam bzw. auf Ausübung von Macht.10 Beginnen wir mit Verfassungsgerichten. Verfassungsgerichte verfügen über eine autoritative Verfassungsdeutungsmacht, mit der sie alle anderen Institutionen an ihre Entscheidungen binden. Damit sind sie die höchsten Interpreten und Hüter der politischen Ordnungsvorstellungen und gesellschaftlichen Leitideen, die in einer Verfassung zusammengefasst sind.11 Ihre Deutungsmacht und Autorität ist mit der Gründungsphase der Verfassung verbunden und wird vom Verfassungsgeber übertragen. Überzeugend findet sich dieser Vorgang bei Hans Vorländer beschrieben: „Die bindende Macht der Verfassung ergibt sich aus dem Transfer von Gründungsgeltung in permanente Geltung. Aber diese Aufdauerstellung von Verfassungsgeltung bedeutet zugleich, dass die Macht des Verfassungsautors in die Autorität des Verfassungsinterpreten übertragen wird […]. Der Autor der Verfassung […] gibt die Verfassung, tritt in der Folge aber nicht mehr – oder aber nur im Gewande des verfassungsändernden Gesetzgebers – in Erscheinung. Die Verfassung, die ihrer ratio nach über die Gründungssituation weit hinausreichende, permanente Geltung und Befolgung beansprucht, überantwortet die fortdauernde Ingeltungsetzung der Verfassung dem Interpreten. […] So ist es Aufgabe der autoritativen Interpretation von Verfassungsgerichten, den ,Sinn‘ einer Verfassung auf Dauer zu stellen und die Ursprungsverfassung an die gewandelten Zeitverhältnisse anzupassen“.12
Jede Autorität ist jedoch von Autoritätsgläubigen abhängig, die sie anerkennen. Anders als Macht kann Autorität keinen Bestand finden, ohne dass andere ihre Überlegenheit
8 Arato, VerfBlog, 25. 04. 2017, https://verfassungsblog.de/populism-and-the-courts/, Abruf am 12. 07. 2019. 9 Kaltwasser, Populism vs. Constitutionalism?, 2013, https://www.fljs.org/files/publications/ Kaltwasser.pdf, Abruf am 12. 07. 2019. 10 Siehe dazu Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken I, 1994; Lembcke, Hüter der Verfassung. Eine institutionentheoretische Studie zur Autorität des Bundesverfassungsgerichts, 2007. 11 Vorländer, in: ders. (Hrsg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, S. 9 ff. 12 Vorländer (Fn. 11), S. 19. 112
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Populistische Parteien und Verfassungsgerichte
freiwillig durch Unterordnung anerkennen.13 So ist auch die besondere, vom Verfassungsgeber übertragene und von der Transition von Gründungsgeltung in permanente Geltung herrührende Autorität der Verfassungsgerichte nicht endgültig gegeben. Sie muss durch Anerkennung immer wieder erworben und in praxi bewiesen werden.14 In Anlehnung an André Brodocz kann dies auf drei Ebenen begünstigt oder behindert werden.15 Die erste Ebene ist die symbolische Ebene. Brodocz spricht dabei von „symbolischen Voraussetzungen“.16 Ob Verfassungsgerichte in ihrer Autorität als Hüter und Verfassungsdeuter anerkannt werden, ist davon abhängig, ob auch die von ihnen zu schützenden und zu interpretierenden gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und Leitideen anerkannt werden. Brodocz erklärt dies mit einer einfachen Herleitung: „Besteht in einer politischen Gemeinschaft über Leitideen und Ordnungsvorstellungen Einigkeit und Gewissheit, dann können Verfassungsgerichte Autorität erlangen, wenn sie als institutionelle Verkörperung dieser Werte in der Gemeinschaft anerkannt werden“.17
Herrscht im Gegenteil Ungewissheit oder Uneinigkeit über die Leitideen und Ordnungsvorstellungen oder stellt sich ein Verfassungsgericht zu diesen in Widerspruch, wird es für das Gericht entsprechend schwierig, seine Autorität als Verkörperung und Hüter der Verfassung zu erwerben und zu beweisen. Die zweite Ebene ist die instrumentelle Ebene. Brodocz spricht an dieser Stelle von „instrumentellen Rahmenbedingungen“, von denen für die vorliegenden Ausführungen besonders die Position der Verfassungsgerichte im Gerichtswesen, die Breite ihrer (Rechtsprechungs‐)Kompetenzen und ihre organisationale Verfasstheit von Belang sind.18 Je höher die Position eines Verfassungsgerichts in einem Gerichtswesen ist, je breiter seine Kompetenzen sind und je kohärenter seine Organisation ausfällt, desto mehr Gelegenheiten und Erfolgsmöglichkeiten hat es, seine Autorität zu erwerben und zu beweisen. Je kleiner dagegen die Rolle und Kompetenzen des Gerichts ausfallen und je instabiler seine Organisation ist, umso geringer sind die Möglichkeiten für die Anerkennung seiner Autorität.
13 Lembcke (Fn. 10), S. 68; Arendt, Macht und Gewalt, 3. Aufl., 1995. 14 Brodocz in: Vorländer (Hrsg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, S. 95 ff. 15 Brodocz (Fn. 14). 16 Brodocz (Fn. 14), S. 105. 17 Brodocz (Fn. 14), S. 112. 18 Brodocz verknüpft die Bedeutung der instrumentellen Rahmenbedingungen insbesondere mit der Entstehung eines Verfassungsgerichts. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Bedingungen auch für den Fortbestand eines Verfassungsgerichts zentral sind. Erwähnung finden hier nur diejenigen Bedingungen, welche für die Reflexion des Verhältnisses von Populismus und Verfassungsgerichten grundlegend sind. Für die vollständige Auflistung siehe Brodocz (Fn. 14), S. 105 ff. Recht und Politik, Beiheft 5
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Die dritte Ebene ist die praktische Ebene. Die Anerkennung der Autorität von Verfassungsgerichten ist nämlich von den „praktischen Auswirkungen“ ihrer Rechtsprechung abhängig. Dabei interessiert besonders, „welche öffentlichen Rückwirkungen auf [… ein Verfassungsgericht] die eigenen Urteile auslösen“.19 Vereinfacht können wir sagen: Ob bzw. inwiefern Verfassungsgerichte ihre Autorität erwerben oder beweisen können, ist auf der praktischen Ebene davon abhängig, ob die Reaktionen auf die Rechtsprechung positiv oder negativ ausfallen. Als zentrale Bedingungen für eine positive Rückwirkung und für die Anerkennung von Verfassungsgerichten gelten hier ihre Fähigkeit, nach außen zu kommunizieren, ihre Effizienz und Geschwindigkeit bei der Erfüllung ihrer Funktionen sowie ihre Transparenz (beispielsweise in Form einer klaren Urteilsbegründung). Je klarer und transparenter Verfassungsgerichte argumentieren und je effizienter sie arbeiten, desto leichter können sie ihre Autorität behaupten. Je unklarer dagegen die Argumentation und je ineffizienter ihre Arbeit ist, desto schwieriger können sie Autorität erlangen. Gemeinsam mit Brodocz wird hier mittels der eingezogenen Ebenendifferenzierung den symbolischen Voraussetzungen eine herausragende Bedeutung attestiert. Je mehr Einigkeit über gemeinsame Leitideen und Ordnungsvorstellungen in einer politischen Gemeinschaft herrscht und je mehr Anerkennung ein Verfassungsgericht als deren Verkörperung genießt, desto weniger ist es von instrumentellen Rahmenbedingungen und praktischen Auswirkungen seiner Rechtsprechung abhängig. Verfügt ein Verfassungsgericht im Gegenteil über schwache symbolische Voraussetzungen oder steht es gar im Gegensatz zu den gemeinschaftlichen Vorstellungen, bedarf es weit stärkerer instrumenteller Rahmenbedingungen und muss auf die Auswirkungen seiner Rechtsprechung auf seine Autorität besonders achtgeben.20
III. Populistische Parteien und Verfassungsgerichte Nachdem es für das Verständnis der Autoritätserwerbung bzw. -behauptung von Verfassungsgerichten fruchtbar ist, die symbolische, instrumentelle und praktische Dimension separat voneinander zu betrachten, erscheint es sinnvoll, bei der Analyse von populistischen Interventionen die gleichen Ebenen einzuziehen. Das heißt: Populistische Parteien können die Autorität von Verfassungsgerichten auf der symbolischen, instrumentellen und/oder praktischen Ebene beeinflussen, indem sie jene in verschiedener Weise anerkennen oder infrage stellen. Inwiefern ein Verfassungsgericht seine Autorität verteidigen bzw. einem populistischen Angriff widerstehen kann, hängt maßgeblich von den symbolischen Voraussetzungen, instrumentellen Rahmenbedingungen und praktischen Auswirkungen seiner Rechtsprechung ab. 19 An dieser Stelle lenkt Brodocz die Aufmerksamkeit auf den Einfluss von Verfassungsgerichtsentscheidungen auf existierende Autoritäten, deren Position bzw. Machtverhältnis untereinander durch eine Entscheidung modifiziert werden kann. Zu diesem Aspekt siehe Brodocz (Fn. 14), S. 109. 20 Brodocz (Fn. 14), S. 112 ff. 114
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Populistische Parteien und Verfassungsgerichte
1. Populistische Interventionen Auf der symbolischen Ebene tangieren Interventionen von populistischen Parteien die Rolle von Verfassungsgerichten als Hütern der Verfassung und der in ihr zusammengefassten Leitideen und Ordnungsvorstellungen.21 Im für die konstitutionelle Demokratie günstigsten (und seltensten) Fall erkennen populistische Parteien diese Rolle grundsätzlich an oder verzichten darauf, eine Position zu beziehen. Die symbolische Position von Verfassungsgerichten kann von populistischen Parteien aber auch nur fallspezifisch anerkannt werden, wenn sich daraus ein Gewinn für sie ergibt. Exemplarisch kann hier die Klage der Alternative für Deutschland (AfD) gegen die Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) von 2015 genannt werden. Wanka hatte auf der Webseite ihres Ministeriums starke Kritiken an der AfD veröffentlicht und wurde von dieser anschließend bezichtigt, gegen das Neutralitätsgebot für Bundesminister zu verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht gab der Klage statt. In Folge der für die AfD günstigen Entscheidung lobten die Rechtspopulisten die Rolle des Gerichts mehrmals: So kommentierte Alexander Gauland: „Gott sei Dank gibt es noch Richter in Karlsruhe“, während Jörg Meuthen dem Gericht quasi eine pädagogische Rolle zuschrieb, als er meinte: „Das Urteil sollte auch anderen Regierungsmitgliedern eine Lehre sein“.22 Das Bundesverfassungsgericht wurden damit fallspezifisch (und in opportunistischer Weise) von den Populisten als gut funktionierender Hüter der Verfassung anerkannt, seine Autorität als Schutzschild gegen das Fehlverhalten der Regierung gedeutet. Eine Infragestellung findet statt, sobald populistische Parteien die Rolle von Verfassungsgerichten als Hüter der Verfassung leugnen. Dies kann mehr oder weniger radikal ausfallen: weniger, wenn die Infragestellung des Verfassungsgerichts etwa im innerparteilichen Diskurs verbleibt, nur versteckt erfolgt und/oder nur implizit in der Parteirhetorik aufscheint, mehr, wenn populistische Parteien einen expliziten Delegitimierungsversuch unternehmen und Verfassungsgerichte grundsätzlich abwerten. Exemplarisch für den letztgenannten Fall steht Italien. 2008 verabschiedete die Regierung Berlusconi ein Gesetz (das sog. Lodo Alfano), das laufende Strafprozesse gegen Personen aussetzt, die hohe Staatsämter bekleiden. Davon profitierte nicht zuletzt Silvio Berlusconi selbst. 2009 stufte die italienische Corte Costituzionale das Lodo Alfano als verfassungswidrig ein, was zur Folge hatte, dass die Prozesse gegen Berlusconi unmittelbar wiederaufgenommen wurden. Wenig überraschend inszenierte sich Letzterer anschließend als Opfer einer politisierten Justiz, die zu seinen und seiner Regierung Ungunsten Gesetze modifiziert oder kassiert. Mehrere Monate lang stellte der italie21 Obwohl sich populistische Parteien auch ohne besonderen Anlass zur symbolischen Rolle von Verfassungsgerichten äußern können, nutzen sie weit häufiger einzelne Urteile (d. h. die praktische Ebene) als Sprungbrett, um sich auf der symbolischen Ebene zu positionieren. Angesichts dessen wird die hier vorgeschlagene Systematik durch Beispiele konkreter Urteile illustriert. 22 BVerfGE 148, 11; Steffen, Zeit online, 27. 02. 2018, https://www.zeit.de/politik/deutschland/ 2018 - 02/bundesverfassungsgericht-johanna-wanka-afd-urteil, Abruf am 12. 07. 2019. Recht und Politik, Beiheft 5
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nische Ministerpräsident die gesamte Rolle des Verfassungsgerichts als Hüter der Verfassung infrage: Das italienische Verfassungsgericht sei kein „unparteiisches Garantieorgan“, sondern ein politisches „Kampforgan der Linken“, das deswegen seiner grundsätzlichen Funktion nicht gerecht werden könne.23 Die Intervention auf der instrumentellen Ebene kreist um die Position der Verfassungsgerichte im Gerichtswesen, ihre Kompetenzen und ihre organisationale Verfasstheit. Auch in diesem Fall können die Gerichte von populistischen Parteien anerkannt oder infrage gestellt werden. Dabei können populistische Parteien den Kompetenzbereich und die Position eines Verfassungsgerichts entweder grundsätzlich oder fallspezifisch anerkennen, latent einen Schwächungsprozess antreiben und/oder versuchen, mehr oder weniger radikal seine Kompetenzen einzuschränken. Eine radikale Einschränkung der Kompetenzen eines Verfassungsgerichts findet dann statt, wenn regierende populistische Parteien konstitutionelle Reformen umsetzen, die auf eine Umkehrung der instrumentellen Rahmenbedingungen eines Verfassungsgerichts zielen. In diesem Fall geht die Infragestellung mit einer klaren politischen Instrumentalisierung einher. Exemplarisch hierfür steht Ungarn: Unter der rechtspopulistischen Regierung von Viktor Orbán wurde 2011 eine neue Verfassung verabschiedet und durch verschiedene, für das ungarische Verfassungsgericht einschränkende Reformen flankiert. Dadurch verstärkte sich beispielsweise der Einfluss von Orbáns Fidesz auf die Ernennung von Verfassungsrichtern und der Kompetenzbereich der Normenkontrolle wurde limitiert.24 Die instrumentelle Schwächung des Verfassungsgerichts wurde im ungarischen Fall von der rechtspopulistischen Regierung also gegenüber einer symbolischen Delegitimierungsstrategie à la Berlusconi bevorzugt. Anders als Letzterer im oben zitierten Beispiel zielte Orbán nicht darauf, das Verfassungsgericht öffentlichkeitswirksam durch einen direkten symbolischen Angriff zu delegitimieren. Vielmehr ging es ihm darum, das Gericht samt seinem symbolischen Kapital unter Kontrolle zu bekommen. Die letzte Interventionsform ist auf der praktischen Ebene angesiedelt. Hier geht es darum, wie populistische Parteien auf die Rechtsprechung eines Verfassungsgerichts reagieren. Wie bereits für die symbolische und instrumentelle Ebene beschrieben, geschieht dies anerkennend oder infrage stellend. Im Gegenteil allerdings zu den anderen beiden Ebenen kann die Interaktion auf der praktischen Ebene einzelne Urteile betreffen, ohne dass gleich der symbolische Status oder die instrumentellen Bedingungen eines Verfassungsgerichts zum Thema werden. Beispielhaft ist an dieser Stelle wieder Italien, wo es zwischen 2018 und 2019 eine Konfrontation zwischen der Corte Costituzionale und dem Vorsitzenden der rechtspopulistischen Lega und damaligen Innenminister Matteo Salvini gab. Ende 2018 trat das von der Lega geforderte Decreto 23 La Repubblica, 10. 12. 2009, https://www.repubblica.it/politica/2009/12/10/news/il_pre mier_attacca_la_consulta_sono_stanco_delle_ipocrisie-1822153/, Abruf am 12. 07. 2019. 24 Siehe zum Beispiel Kovács/Tóth, ECLR 2011, S. 183 ff.; Lembcke/Boulanger, in: Tóth (Hrsg.), Constitution for a Disunited Nation, 2012, S. 269 ff. 116
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Sicurezza in Kraft, ein restriktives Gesetz über öffentliche Sicherheit und Migration.25 Ein Teil des Gesetzes wurde vom italienischen Verfassungsgericht inzwischen als verfassungswidrig eingestuft, da es die Kompetenzen der kommunalen Institutionen zugunsten des Staates zu stark einschränkte. Im Anschluss an das Urteil verblieb die Auseinandersetzung jedoch auf der Sachebene und tangierte weder die symbolische Rolle noch die Kompetenzen des Verfassungsgerichts. Anders als Berlusconi reagierte Salvini auf den Beschluss mit einer vorsichtigen Strategie. Er hielt seine Kritik am Gerichtsurteil in Grenzen, bezog sie nicht auf die gesamte Rolle des Gerichts und schickt sich – anders als Orbán – (noch) nicht an, eine restriktive Verfassungsgerichtsreform auf den Weg zu bringen. 2. Die Widerstandsfähigkeit von Verfassungsgerichten In Weiterentwicklung der theoretischen Überlegungen von André Brodocz ist es nicht nur möglich, populistische Interventionen systematisch in den Blick zu bekommen. Auch die Widerstandsfähigkeit von Verfassungsgerichten gegenüber populistischen Angriffen im Einzelnen lässt sich so überzeugend studieren. Grundsätzlich gilt dabei Folgendes: Die Autorität von Verfassungsgerichten wird dann erfolgreicher verteidigt, wenn ihre symbolischen Voraussetzungen, instrumentellen Bedingungen und praktischen Auswirkungen dies begünstigen. Wenn Einigkeit über die Leitideen und Ordnungsvorstellungen in einer politischen Gemeinschaft herrscht und das Verfassungsgericht eine große symbolische Anerkennung bzw. ein starkes Vertrauen bei der Öffentlichkeit genießt, ist es für populistische Parteien schwieriger, dessen Autorität zu schaden. Wenn dazu die Position eines Verfassungsgerichts im Gerichtswesen stark ist, seine Kompetenzen breit und seine organisationale Verfasstheit kohärent sind, seine Autorität durch ihre institutionelle Praxis, d. h. ihre Klarheit, Transparenz und Effizienz erworben und bewiesen ist und die Rückwirkungen seiner Rechtsprechung traditionell positiv sind, ist eine populistische Schwächung der Gerichtsautorität deutlich erschwert. Wie bereits erwähnt, spielt die symbolische Dimension eine besondere Rolle:26 Von instrumentellen Rahmenbedingungen und Auswirkungen der Rechtsprechung ist die Verteidigung der Autorität eines Verfassungsgerichts gegenüber populistischen Angriffen weniger abhängig, wenn das Gericht über starke symbolische Voraussetzungen verfügt und als Hüter und Interpret der in der Verfassung zusammengefassten grundlegenden Leitideen und Ordnungsvorstellungen anerkannt wird. Empirisch erforscht wurden die Voraussetzungen der Widerstandsfähigkeit von Verfassungsgerichten gegenüber populistischen Parteien bislang viel zu wenig. Zwar existieren Studien, die das öffentliche Ansehen von Verfassungsgerichten untersuchen und 25 Zur Debatte über die konstitutionelle Legitimität des Decreto Sicurezza siehe die Anmerkungen der Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione (ASGI), https://www.asgi.it/decretoimmigrazione-sicurezza-documenti-asgi/, Abruf am 01. 07. 2019. 26 Brodocz (Fn. 14), S. 112 ff. Recht und Politik, Beiheft 5
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damit ein wichtiges Indiz für die Stärke der Autorität eines Gerichts auf der symbolischen Ebene liefern; regelmäßig wird hierbei auch auf die öffentliche Dimension der gerichtlichen Entscheidungen fokussiert und so auch die praktische Ebene berührt.27 Dazu finden sich auch Forschungen, die auf der instrumentellen Ebene ansetzen und dabei etwa verschiedene Funktionen und Kompetenzen von Verfassungsgerichten, entsprechende Effekte auf das Verhältnis von Politik und Justiz oder deren Position im Gerichtswesen adressieren.28 Der spezifische Nexus von verfassungsgerichtlicher Autorität und populistischen Parteien bleibt hierbei jedoch unberücksichtigt. Eine umfassende Analyse, die die Widerstandsfähigkeit beispielsweise des italienischen Verfassungsgerichts gegenüber den populistischen Interventionen Berlusconis vertieft hätte, existiert nicht. Vielmehr akzentuiert die italienische Literatur das allgemeine Verhältnis von Politik bzw. Berlusconi und Justiz oder die juristischen Entwicklungen um seine Person.29 Die spezifische Rolle der Corte costituzionale sowie die Voraussetzungen der Verteidigung ihrer Autorität gegenüber Berlusconis Rhetorik bleiben im Hintergrund. Was für den italienischen Forschungsstand gilt, gilt ähnlich auch für den deutschen: Die Widerstandsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts gegenüber Angriffen seitens der Alternative für Deutschland stößt kaum auf Interesse. Forschungsanlässe gäbe es dabei durchaus. 2016 nutzte die AfD beispielsweise das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das sogenannte Kopftuchverbot,30 bei dem sich Letzteres gegen ein generalisiertes Kopftuchverbot aussprach, nicht nur dazu, die Entscheidung scharf zu kritisieren (praktische Ebene), sondern auch, um dem Gericht vorzuwerfen, die Werte der deutschen politischen Gemeinschaft nicht zu respektieren und die „Islamisierung Deutschlands“ zu befördern (symbolische Ebene).31 Ob bzw. welche Konsequenzen solche Aussagen auf das öffentliche Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht hatten, ob sie beispielsweise zu öffentlichen Solidaritätsbekundungen oder Misstrauensartikulationen gegenüber dem Gericht führten, ist bis heute nicht erforscht. 27 Vgl. beispielsweise für das Bundesverfassungsgericht Lembcke, Über das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts: Ansichten und Meinungen in der Öffentlichkeit 1951 – 2001, 2006; Vorländer/Brodocz, in: Vorländer (Hrsg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, S. 259 ff.; Vorländer/Schaal, in: Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, 2002, S. 343 ff. Für den US-amerikanischen Supreme Court siehe etwa Giles/Blackstone/Vining, JoP 2008, S. 293 ff. 28 Vgl. beispielsweise von Brünneck (Fn. 7); Hönnige, Verfassungsgericht, Regierung und Opposition: die vergleichende Analyse eines Spannungsdreiecks, 2007; Landfried, in: van Ooyen/ Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 369 ff. 29 Siehe dazu etwa Dallara, MI 2015, S. 59 ff.; Galli, il Mulino 2003, S. 457 ff. 30 BVerfGE 138, 296. 31 AfD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg, Pressemitteilung, 29. 11. 2016, http:// www.afd-fraktion-bw.de/aktuelles/148/Die+Islamisierung+schreitet+voran%3 A+Verfassungs richter+erlauben+Kopftuch+in+Kitas, Abruf am 12. 07. 2019. 118
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Populistische Parteien und Verfassungsgerichte
Angesichts dessen, dass der größte populistische Angriff auf ein europäisches Verfassungsgericht in den vergangenen Jahren in Ungarn erfolgte, existieren diverse Untersuchungen, die die Konsequenzen der restriktiven Reformen für die instrumentellen Rahmenbedingungen ausleuchten. Nur selten sind diese Untersuchungen aber insofern umfassender Natur, als sie auch die symbolische oder praktische Dimension angemessen behandeln.32 Dabei wäre gerade im ungarischen Fall solch eine Forschung von großer Bedeutung: Galt nämlich das Verfassungsgericht Ungarns in den 1990er Jahren als eine zentrale Institution für die Entwicklung des ungarischen Konstitutionalismus und als „das mächtigste und aktivste Exemplar seiner Art in der ganzen Welt“,33 besteht heute kaum ein Zweifel daran, dass diese große symbolische Bedeutung infolge der jüngsten Reformen eine enorme Veränderung erfahren hat bzw. sich das öffentliche Vertrauen gegenüber dem Gericht samt der Anerkennung seiner Autorität gewandelt hat.
IV. Schlusswort Populistische Parteien sind in modernen westlichen Demokratien zunehmend häufig unter den regierenden Kräften oder zählen zu den stärksten Oppositionsparteien. Sie interagieren immer stärker mit anderen politischen und mit juristischen Institutionen. Angesichts ihres gestiegenen Stellenwerts und besonderen Gefahrenpotenzials für konstitutionelle Demokratien erscheint es notwendig, die Spezifika dieser Interaktionen noch detaillierter in den Blick zu nehmen. Ziel dieses Beitrags war es, eine Systematik vorzustellen, die ebendies erleichtert und dabei das grundlegende Spannungsverhältnis zwischen populistischen Parteien und Verfassungsgerichten zu analysieren helfen kann. Die Hoffnung ist, hilfreiche Anregungen für die Stärkung der empirischdifferenzierten Forschung geboten zu haben.
32 Ausnahmen sind teilweise Boulanger, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 911 ff., und Lembcke/Boulanger (Fn. 24). 33 Brunner, FAZ, 30. 06. 1992, S. 12. Recht und Politik, Beiheft 5
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Wer entscheidet, wo und für wen die Verfassung gilt? – Guantánamo und der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten Von Annette Förster, Duisburg-Essen
I. Einleitung Im „Krieg gegen den Terror“ haben die USA mit dem Gefangenenlager auf Guantánamo Bay einen Ort geschaffen, an dem die Inhaftierten weder den Schutz der in der US-amerikanischen Verfassung verbrieften Rechte, noch den des humanitären Völkerrechts genießen sollten. Während die Bush-Administration und der Kongress die Häftlinge jenseits des Geltungsbereiches dieser Rechte und Normen verorteten, erachtete der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten (Supreme Court) sowohl die Verfassung als auch etwa die Genfer Konventionen als relevant und verbindlich im Umgang mit den Gefangenen. Wie sind die Entscheidungen des Supreme Court mit Blick auf die rechtliche Grundlage für das Inhaftierungszentrum und die Haftbedingungen auf Guantánamo zu werten? Erfüllt das Gericht seine Funktion im gewaltenteiligen System der „checks & balances“? Wer entscheidet, wo und für wen die Verfassung gilt? Das Paper analysiert die Abfolge der Gesetze, Verordnungen und Urteile des Supreme Court, die nach dem 11. September 2001 in die beiden Amtszeiten unter Präsident George W. Bush fallen und zeigt, dass die Bush-Administration mit Unterstützung des Kongresses einen weitestgehend ihrer Entscheidungsgewalt unterworfenen Raum geschaffen hat, in der verfassungsmäßige sowie völkerrechtlich garantierte Normen suspendiert wurden. Dieser Raum wurde trotz der Urteile des Obersten Gerichtshofs zugunsten der Gefangenen weitestgehend aufrechterhalten. Die von Regierung und Kongress erlassenen Verordnungen und Gesetze können dabei als Technik verstanden werden, um die Wirkung der Urteile zu beschränken, und damit die Macht des Gerichtes zum Schutz und zur Durchsetzung der Verfassung.
Recht und Politik, Beiheft 5 (2020), 120 – 128
Duncker & Humblot, Berlin
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II. Die (un)rechtliche Grundlage für Guantánamo Die rechtliche Grundlage für die Errichtung des Gefangenenlagers auf Guantánamo besteht aus einer Reihe von Ermächtigungen der Exekutivorgane nach den Anschlägen vom 11. September, deren zentralen Dokumente im Folgenden referiert werden: die Authorization for the Use of Military Force (AUMF), das Memorandum of Notification (MON), die Military Order „Detention, Treatment, and Trial of Certain NonCitizens in the War Against Terrorism“ sowie im Anschluss an diese die Military Commission Order No. 1. Die AUMF vom 14. September 2001 stellt eine weitgehende und weitgehend unbestimmte Ermächtigung des Präsidenten für den Krieg gegen den Terror dar. Der Kongress autorisiert den Präsidenten „to take action to deter and prevent acts of international terrorism“ und „to use all necessary and appropriate force against those nations, organizations, or persons he determines planned, authorized, committed, or aided the terrorist attacks […] in order to prevent any future acts of international terrorism […].“ Grundlage des Auslieferungs-, Inhaftierungs- und Verhörprogramms der CIA ist eine geheime Anordnung des Präsidenten vom 17. September 2001: das MON. Hierin ermächtigt Bush die CIA „to undertake operations designed to capture and detain persons who pose a continuing, serious threat of violence or death to U.S. persons and interests or who are planning terrorist activities“.1 Die CIA erhält weitgehende Befugnisse Personen zu inhaftieren, die faktische Grundlage für die Inhaftierung zu bestimmen und die Dauer der Inhaftierung festzulegen. Bei der Suche nach einem möglichen Standort für eine entsprechende Einrichtung wird ein US Militärstützpunkt außerhalb der USA favorisiert und mit Guantánamo Bay gefunden.2 Die Vorgaben des MON wurden in der Inhaftierungspraxis ausgeweitet. Über manche der Inhaftierten lagen kaum Informationen vor.3 Das MON ist demnach eine geheime Ermächtigung des Geheimdienstes durch den Präsidenten, die willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen jenseits verfassungsrechtlicher und internationaler Standards ermöglicht. Mit der Military Order vom 13. November 2001 erweitert der Präsident seine persönlichen Handlungsbefugnisse sowie die seiner Administration, insbesondere mit Blick auf die Inhaftierung von Terrorverdächtigen. Sollte es eine Verhandlung für die Gefangenen geben, dann vor Militärkommissionen (military commissions), denen die ausschließliche Gerichtsbarkeit zugewiesen wird; den Betroffenen werden Rechtsmittel vor US-amerikanischen- und anderen Gerichten entzogen. Die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards sei in Anbetracht der besonderen Bedrohung in den Verfahren vor den Kommissionen nicht praktikabel. Genauere Ausführungen zu den Verfahren 1 2 3
MON, zitiert nach Senate Select Committee of Intelligence (SSCI), Committee Study of the CIA’s Detention and Interrogation Program. Findings and Conclusions, 2014, S. 11. SSCI (Fn. 1), S. 11 f. SSCI (Fn. 1), S. 13 ff.
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enthält die Military Commission Order No. 1 des Verteidigungsministeriums vom 21. März 2002. Die Kommissionen bestehen aus Militäroffizieren. Das Urteil wird dem Präsidenten oder dem Verteidigungsminister zur Überprüfung vorgelegt. Auf Basis der AUMF hat die Bush-Administration ein System etabliert, in dem Exekutivorgane als Gesetzgeber bzw. Gesetzesinterpret, Strafverfolger, Richter und Vollstrecker fungieren; sie können Individuen nach eigenem Ermessen auf unbestimmte Zeit inhaftieren und vor Militärkommissionen stellen. Verfassungsrechtlich garantierte Normen wie das Recht auf ein faires Verfahren ebenso wie das Prinzip der Gewaltenteilung werden missachtet. Präsidentielle Verordnungen schließen eine Kontrolle durch die Judikative (sowie die Legislative) aus. Während die Verfassung dem Kongress die legislative- und dem Präsidenten die exekutive Gewalt zuschreibt, wird die rechtsprechende Gewalt dem Supreme Court und untergeordneten Gerichten zugewiesen. Da die Verordnungen der Judikative ihre Kompetenzen entziehen, ist zentral, wie die Dritte Gewalt die herausgearbeitete Rechtslage wertet. Klagen von Gefangenen gaben dem Obersten Gerichtshof als letzte Instanz Anlass zu verhandeln, ob die Inhaftierungen Gegenstand der Verfassung und US-amerikanischer Gerichtsbarkeit sind.4
III. Wer entscheidet, wo und für wen die Verfassung gilt? Der Gerichtsbarkeit wird der Schutz der Interessen aller und damit auch der der Minderheit gegenüber demokratischen Mehrheitsinteressen und -willen zugeschrieben.5 Die Zuständigkeit erstreckt sich auf Fälle und alles Recht, das sich aus der Verfassung, den Gesetzen der USA und den von den USA geschlossenen Verträgen ergeben. Die Gerichtsbarkeit schließt Rechtsstreits ein, an denen die USA oder ihre Teilstaaten beteiligt sind, auch mit Blick auf fremde Staaten oder deren Bürger. Der Oberste Gerichtshof fungiert als Appellationsinstanz „both as to Law and Fact, with such Exceptions, and under such Regulations as the Congress shall make“.6 Damit ist das Gericht in letzter Instanz auch für Rechtsstreits zwischen den Gefangenen auf Guantánamo und der US-Regierung zuständig.
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In den rezipierten Fällen war die Richterbank durchweg mit großer Mehrheit – sieben von neun RichterInnen – von republikanischen Präsidenten ernannt worden. Die Entscheidungen des Gerichts waren stets gespalten: 6/3 Stimmen in Rasul v. Bush und Hamdi v. Rumsfeld, 5/3 Stimmen in Hamdan v. Rumsfeld und 5/4 in Boumediene v. Bush. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987, S. 2 ff. Bei den Guantánamo-Gefangenen handelt es sich nicht um eine Minderheit in der Bevölkerung, sondern – von Hamdi abgesehen – um Nichtstaatsbürger, die meist im Ausland festgenommen wurden. Dennoch können sie als dem Mehrheitswillen und willkürlicher Gewalt gegenüber besonders schutzbedürftig verstanden werden. Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, Art. III, Sec. 2. Recht und Politik, Beiheft 5
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1. Der Supreme Court spricht US-Gerichten Jurisdiktion über Guantánamo-Häftlinge zu Im Juni 2004 entschied der Supreme Court zwei Fälle, in denen als „feindliche Kombattanten“ (enemy combatants) auf Guantánamo inhaftierte Personen ihr Recht auf eine unabhängige Haftprüfung (habeas corpus) 7 einforderten: Hamdi v. Rumsfeld und Rasul v. Bush. Während Yaser Esam Hamdi US-amerikanischer Staatsbürger ist, steht hinter Rasul v. Bush ein Sammelantrag von Nichtstaatsbürgern. Die vom Gericht zu klärende Frage war, ob die auf Guantánamo Inhaftierten unter die Jurisdiktion USamerikanischer Gerichte fallen und zivile Gerichte prüfen können, ob die Inhaftierung eine Verletzung der Verfassung oder Gesetze und Verträge der USA darstellt. „We hold that […], due process demands that a citizen held in the United States as an enemy combatant be given a meaningful opportunity to contest the factual basis for that detention before a neutral decisionmaker“.8 Zwar liege die Militärbasis auf Kuba, unterstehe aber der „complete jurisdiction and control“9 der USA und damit auch der US-amerikanischen Gerichtsbarkeit. Die Verfassung gilt demnach dort, wo die USA exklusive Kontrolle und Gerichtsbarkeit ausüben. Anzunehmen, dass ein Bürger seine Inhaftierung nicht anfechten könne, weil ihm die Exekutive dies verweigere, „would turn our system of checks and balances on its head […]. Absent suspension of the writ [of habeas corpus] by Congress, a citizen detained as an enemy combatant is entitled to this process“.10 Neben der Geltung verfassungsrechtlicher Standards stellt das Gericht in der Inhaftierungspraxis also auch eine Kompetenzüberschreitung und damit ein Missverhältnis im gewaltenteiligen System fest. In Rasul v. Bush spricht das Gericht auch Nichtbürgern das Recht zu, ihre Inhaftierung vor einem US-amerikanischen Gericht anzufechten.11 Damit unterstellt der Oberste Gerichtshof das US-Gefangenenlager auf Guantánamo dem Wirkungsbereich der Verfassung und die Gefangenen der US-amerikanischen Gerichtsbarkeit. Dieser Auslegung entgegen versucht die Regierung mit Unterstützung des Kongresses in der Folge den Ausschluss ziviler Gerichte und verfassungsrechtlicher Normen fortzuschreiben. 2. Die Auseinandersetzung der Gewalten Bei der durch den Supreme Court angewiesenen Prüfung der Haftgrundlage einiger Gefangener stellten Amtsgerichte fest, dass viele der Kläger unrechtmäßig inhaftiert worden waren. Das Berufungsgericht für den D.C. Bezirk (Court of Appeals for the D.C. Circuit) entschied als letzte Instanz jedoch jeden Fall, den die Regierung einreichte, im Sinne der Regierung. Auch hatten die Gefangenen oft keinen Zugriff auf Beweise gegen sie und konnten sich nach rechtsstaatlichen Standards nicht angemessen 7 8 9 10 11
Vgl. Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, Art. I Sec. 9.; 28 U.S. Code § 2241 (c)(3). Hamdi v. Rumsfeld, 542 U.S. 507 (2004), Syllabus. Rasul v. Bush, 542 U.S. 466 (2004), Syllabus. Hamdi v. Rumsfeld (Fn. 8), III D. Rasul v. Bush (Fn. 9).
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verteidigen, erhielten teils jedoch Zugang zu zivilen Verteidigern. Die Bedingungen der Gefangennahme und Inhaftierung gelangten an die Öffentlichkeit. „We began to learn that most of the men had done nothing more than be in the wrong place at the wrong time, swept up and sold for substantial bounties to U.S. forces“.12 Jenseits der Gerichtsverfahren suchte die Regierung den geschaffenen, weitestgehend ihrer Willkür unterstehenden Raum, wiederherzustellen. Wenige Tage nach den Supreme Court Urteilen erließ Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz die „Order Establishing Combatant Status Review Tribunal“. Diese Tribunale (CSRTs) sollten der Forderung einer „meaningful opportunity“ zur Anfechtung der Inhaftierung als „enemy combatant“ auf Guantánamo nachkommen. Inhaftierte sollten informiert werden, dass sie ihre Benennung als „enemy combatant“ anfechten können, die Möglichkeit haben von einem persönlichen Vertreter (einem Militäroffizier) unterstützt zu werden und Haftprüfung vor einem US-amerikanischen Gericht zu beantragen. Die CSRTs sollten aus drei Militärs bestehen, die zuvor nicht in den Fall involviert waren. Der Kongress reagierte auf das Urteil, indem er mit dem Detainee Treatment Act 2005 (DTA) den Gefangenen per Gesetz das Recht auf Haftprüfung vor einem unabhängigen US-amerikanischen Gericht entzog: „no court, justice, or judge shall have jurisdiction to hear or consider […] an application for a writ of habeas corpus filed by or on behalf of an alien detained by the Department of Defense at Guantanamo Bay, Cuba.“13 Guantánamo wird außerhalb der USA verortet und feindliche Kombattanten werden nicht als Grundrechtsträger erachtet.14 Die Grundlage für die Inhaftierung soll jährlich im Rahmen der CSRT-Verfahren geprüft werden. Dem Kongress soll jährlich ein Bericht vorgelegt werden. Dem Court of Appeals for the D.C. Circuit wird die ausschließliche Gerichtsbarkeit zugewiesen, dem jedoch lediglich die Überprüfung obliegt, ob die Standards für die CSRTs eingehalten und ob diese mit der Verfassung und den Gesetzen der USA – in dem Maße in dem diese greifen – übereinstimmen; die Entscheidungen der CSRTs selbst werden nicht geprüft.15 Nach den gleichen Regeln soll das Gericht die finalen Entscheidungen der Militärkommissionen nach der aktuell gültigen Military Order prüfen. Über den DTA autorisierte der Kongress die Inhaftierungspraxis und widersprach der Auffassung des Gerichts, dass die Häftlinge auf Guantánamo der Verfassung und US-amerikanischer Gerichtsbarkeit unterstehen. 2006 verhandelte der Supreme Court einen weiteren Guantánamo-Fall: Hamdan v. Rumsfeld. Ein District Court hatte Salim Ahmed Hamdans Inhaftierung für unrechtmäßig erklärt, da Militärkommissionen nur in Rahmen des Kriegsrechts Verbrechen und Verbrecher aburteilen könnten; zu diesem Recht gehörten auch die Genfer 12 Centre for Constitutional Rights, Rasul v. Bush Historic Case, https://ccrjustice.org/home/ what-we-do/our-cases/rasul-v-bush, Abruf am 14. 09. 2019. 13 Detainee Treatment Act (DTA) 2005, Sec. 1005 (e)(1). 14 DTA 2005 (Fn. 13), Sec. 1002 (c). 15 DTA 2005 (Fn. 13), Sec. 1005 (e) (2). 124
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Konventionen. Der Court of Appeals für the D.C. Circuit hob die Entscheidung auf, da die Konventionen nicht rechtlich einklagbar seien.16 Der Supreme Court wiederum entschied die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Verfahren vor Militärkommissionen zugunsten des Klägers: Weder die AUMF noch der DTA autorisierten den Präsidenten im Fall Hamdan eine Militärkommission einzusetzen. Darüber hinaus verstießen die Tribunale gegen den United States Code of Military Justice (UCMJ) und die Genfer Konventionen. Art. 36 des UCMJ beinhalte, dass eine Abweichung von prozeduralen Regeln mit Notwendigkeit begründet werden müsse; die Angabe, dass die Regeln nicht praktikabel seien, sei unzureichend. Die Militärkommissionen verletzten Art. 3 der Genfer Konventionen, der unter anderem eine Inhaftierung nicht „ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmäßig bestellten Gerichtes, das die von den zivilisierten Völkern als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet“ vorsieht; die Tribunale erfüllten diese Standards nicht. Auch verstießen einige Vorgaben der Commission Order No. 1 gegen Völkergewohnheitsrecht. Die Regeln für das Verfahren gegen Hamdan seien daher illegal. Darüber hinaus sei der Straftatbestand der Verschwörung nicht als Verbrechen gegen das Kriegsrecht anerkannt und falle daher nicht in die Zuständigkeit einer Militärkommission. Wie in Folge der ersten beiden Urteile folgte seitens der Regierung und des Kongresses nicht eine entsprechende Anpassung der Inhaftierungsregeln und -praxis. Mit dem Military Commissions Act 2006 (MCA) ermächtigte der Kongress den Präsidenten explizit zum Einsetzen von Militärkommissionen. Hinsichtlich der Genfer Konventionen schreibt der MCA fest, dass „unlawful enemy combatants“ nicht dem Schutz der Konventionen unterstehen; die Interpretation der aus den Konventionen erwachsenden Verpflichtungen unterläge dem Präsidenten.17 Als justizielle Standards geltende Regeln bleiben außer Kraft gesetzt: Hörensagen wird als Beweis zugelassen, unter Umständen auch Aussagen unter Zwang. Geheime Informationen dürfen dem Angeklagten weiterhin vorenthalten werden.18 Eine Berufung ist vor dem durch das Verteidigungsministerium eingesetzten Court of Military Commission Review möglich. Der US Court of Appeals for the D.C. Circuit prüft unter den beschriebenen Bedingungen die finale Entscheidung der Militärkommissionen.19 Mit dem MCA lieferte der Kongress die vom Supreme Court geforderte legislative Ermächtigung der Exekutive zur Einrichtung von Militärkommissionen, wies die Geltung der Genfer Konventionen sowie die Verstöße gegen Völkergewohnheitsrecht zurück und ermöglichte die Aufrechterhaltung der Inhaftierungspraxis. Der DTA und 16 Hamdan v. Rumsfeld, 548 U.S. 557 (2006), Syllabus. 17 MCA 2006, Subchapter I, § 948b und Sec. 6, a (3). 18 Aussagen unter Folter dürften nicht verwendet werden. Allerdings sei die Definition von Folter unklar; Aussagen, die vor dem DTA gemacht wurden, werden zugelassen, wenn „the degree of coercion is disputed“ und sie von den Richtern als „reliable“ und „posessing sufficient probative value“ und „the interest of justice would best be served by admission“ erfüllen. MCA 2006, Subchapter III, § 948r. 19 MCA 2006, Subchapter VI, § 950 g. Recht und Politik, Beiheft 5
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der MCA zielten darauf ab, den exekutiver Gewalt unterstehenden Raum und die darin praktizierte Inhaftierung von Gefangenen jenseits allgemein anerkannter rechtsstaatlicher Standards zu erhalten. Der Judikative wurde ihre Zuständigkeit weitestgehend entzogen und damit auch ihre genuine Funktion in einem gewaltenteiligen, der gegenseitigen Kontrolle unterliegenden politischen System. Seine Auslegung des geltenden Rechts bestätigte der Supreme Court 2008 im Fall Boumediene v. Bush. Das Gericht verhandelte, ob Lakhdar Boumediene und Khaled A. F. Al Odah „have the constitutional privilege of habeas corpus“.20 Wieder entschied der Supreme Court zugunsten der Kläger und erklärt den im MCA 2006 enthaltenen Entzug der Jurisdiktion US-amerikanischer Gerichte für verfassungswidrig. Wolle der Kongress den Gefangenen das in Art. I der Verfassung verankerte habeas corpus-Privileg verweigern, müsse dies im Rahmen der von der Verfassung vorgegebenen Bedingungen unter Berücksichtigung der „Suspension Clause“ geschehen. Die Verfassung sehe eine Aussetzung des Privilegs nur vor, „when in Cases or Rebellion or Invasion the public Safety may require it‘.21 Da die rechtlichen Verfahren „for reviewing detainees’ status are not an adequate and effective substitute for the habeas writ, MCA §7 operates as an unconstitutional suspension of the writ“.22 Das Gericht verwies nicht nur auf die Verfassungswidrigkeit der Verfahren, sondern mahnte abermals eine Kompetenzüberschreitung seitens des Präsidenten und des Kongresses an. „The Constitution grants Congress and the President the power to acquire, dispose of, and govern territory, not the power to decide when and where its terms apply. To hold that the political branches may switch the Constitution on or off at will would lead to a regime in which they, not this Court, say ,what the law is‘.“23
Den Entzug der Gerichtsbarkeit wertete das Gericht erneut als Missachtung der Gewaltenteilung und verwies Präsident und Kongress in ihre verfassungsmäßigen Schranken. Nachdem im vorliegenden Teil die Auseinandersetzung zwischen den Gewalten um die Frage, wo und für wen (verfassungs‐)rechtliche Standards gelten, herausgearbeitet wurde, wird im folgenden Teil untersucht, inwiefern der Supreme Court durch seine Urteile seiner Rolle im System der „checks & balances“ entsprochen hat und ob die Entscheidungen des Gerichtes Wirkung entfalten konnten.
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Boumediene v. Bush, 553 U.S. 723 (2008), Syllabus. Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, Art. I Sec. 9. Boumediene v. Bush (Fn. 20), Syllabus. Boumediene v. Bush (Fn. 20), Syllabus. Recht und Politik, Beiheft 5
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IV. Die Rolle des Supreme Court in den Guantánamo-Fällen Während die Kompetenz des Supreme Court zur Entscheidung der den Fällen zugrundeliegenden Rechtsstreits klar scheint, ist dem Verfassungstext nicht zu entnehmen, ob das Gericht nicht nur den konkreten Streit entscheiden, sondern auch das als verfassungswidrig eingestufte Gesetze verwerfen kann. In seinem Urteil im Fall Marbury v. Madison 1803 räumt das Gericht der Verfassung einen Vorrang vor legislativer Gesetzgebung ein; verfassungswidrige Gesetze werden von der Judikative als nichtig erachtet. Da die Entscheidung des Supreme Court als Präjudiz für folgende richterliche Entscheidungen dient, wirkt die Nichtanwendung meist entsprechend einer Nichtigkeitserklärung.24 Das Gericht übt diese Kompetenz in der Folge aus. Dies wirkt jedoch nur bei Beteiligung US-amerikanischer Gerichte an den Verfahren. Mit Blick auf die Geltung internationalen Rechts schreibt die Verfassung dem Präsidenten die Kompetenz zu, mit der Zustimmung des Senats Verträge zu schließen;25 deren Interpretation fällt im Falle eines Rechtsstreits mit Beteiligung der USA in letzter Instanz aber in den Zuständigkeitsbereich des Supreme Court. Durch das Erlassen neuer Gesetze und Verordnungen konnten Legislative und Exekutive die vom Gericht als verfassungswidrig eingestuften Verfahren, wenn auch in veränderter Form, weiterführen. Entsprechend wurden die in den Urteilen des Supreme Court festgestellten Verstöße gegen die Verfassung und das internationale Recht fortgeschrieben. Mit Fokus auf das Prinzip der Gewaltenteilung ist ein Ausschluss der Judikative von ihrer genuinen Aufgabe Recht zu interpretieren und zu sprechen, per präsidentieller Anordnung oder auch durch die Legislative, als Missachtung dieses Prinzips zu werten. Das gewaltenteilige System der checks & balances ist zwar in der Verfassung nicht explizit benannt, durch die Zuschreibung der Kompetenzen der verschiedenen Gewalten in den ersten drei Artikeln jedoch verankert. Die Position der Regierung, dass Guantánamo formal kein US-amerikanisches Territorium sei und deshalb nicht der Verfassung unterstehe, ist aus Sicht der Gewaltenteilung problematisch, da es der Exekutive so eine unbegrenzte und unkontrollierte Gewaltanwendung ermöglicht. Die USA hatten Kuba die Souveränität über Guantánamo übertragen, im gleichen Zug aber eine Pacht vereinbart, in deren Rahmen den USA die umfassende Kontrolle über das Territorium zukommt. „Our basic charter cannot be contracted away like this. […] Even when the United States acts outside its borders, its powers are not ,absolute and unlimited‘ but are subject ,to such restrictions as are expressed in the Constitution‘“.26 Dies gelte, so der Supreme Court in Boumediene v. Bush, umso mehr mit Blick auf habeas corpus, da dieses Recht ein „indis-
24 Brugger (Fn. 5), S. 6, 20 f.; vgl. Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803). 25 Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, Art. II, Sec. 2. 26 Boumediene v. Bush (Fn. 20), Opinion, IV, B. Recht und Politik, Beiheft 5
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pensable mechanism for monitoring the separation of powers“27 sei und nicht von der Gewalt suspendiert werden dürfe, deren Macht beschränkt und kontrolliert werden solle.28 Der Exekutive oder Legislative die Macht zu geben der Judikative ihre genuine Rolle im gewaltenteiligen System zu entziehen, untergräbt dieses System und setzt zentrale Kontrollmechanismen außer Kraft. Während einige Gefangene in Folge der Supreme Court-Urteile Zugang zur USamerikanischen Gerichtsbarkeit und in Teilen ihre Freilassung erreichten, blieb der exekutiver Gewalt unterstellte Raum auf Guantánamo jenseits verfassungsrechtlicher Standards weitgehend und für viele Häftlinge erhalten. Den Gerichten wird eine geringe Rolle bei den Entlassungen zugeschrieben. „Virtually every release has been the result of executive officials responding to this pressure [durch die Anwälte der Gefangenen und die öffentliche Meinung] – not the work of the courts“.29 Insgesamt wurden 731 Gefangene verlegt oder entlassen, neun starben in Haft, 40 werden weiterhin festgehalten,30 23 von ihnen ohne unabhängiges Gerichtsverfahren in „indefinite Lawof-War Detention“. Diese wurden von der Obama-Administration als „too dangerous to release but too difficult to try“ eingestuft.31 Während der Supreme Court die Geltung der Verfassung für Guantánamo und die dort festgehaltenen Personen festgestellt hat, ist es der Regierung mit Unterstützung durch den Kongress gelungen, einen weitestgehend ihrer Autorität unterstehenden Raum zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Dabei wurden verfassungsrechtliche Standards sowie Prinzipien internationalen Rechts außer Kraft gesetzt und die Gewaltenteilung missachtet. Das Gericht konnte die Übernahme richterlicher Funktionen durch die Exekutive mit Blick auf die Häftlinge nur begrenzt abwehren. Die Fälle und Urteile schafften jedoch zivilen Zugang und öffentliche Aufmerksamkeit für die Situation der Gefangenen und entfalteten politische Wirksamkeit, etwa im – wenn auch gescheiterten – Bestreben Barack Obamas, unter seiner Präsidentschaft das Gefangenenlager zu schließen.
27 Boumediene v. Bush (Fn. 20), Opinion, IV, B. 28 Boumediene v. Bush (Fn. 20), Opinion, IV, B. 29 Cole, The New Yorker, 01. 07. 2015, www.newyorker.com/news/news-desk/with-all-delibe rate-speed-rasul-v-bush-ten-year-later, Abruf am 20. 08. 2019. 30 The New York Times, The Guantánamo Docket, www.nytimes.com/interactive/projects/ guantanamo, Abruf am 20. 08. 2019; Daten zuletzt geändert am 02. 05. 2018. 31 The New York Times (Fn. 30). 128
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Autorinnen und Autoren Boulanger, Christian, Dr., Wissenschaftlicher Koordinator, Recht im Kontext (HU Berlin). Selbstständige Veröffentlichungen: Hüten, richten, gründen: Rollen der Verfassungsgerichte in der Demokratisierung Deutschlands und Ungarns, Berlin: epubli (2013); Interdisziplinäre Rechtsforschung: Eine Einführung in die geistes- und sozialwissenschaftliche Befassung mit dem Recht und seiner Praxis, Wiesbaden: Springer (2019) (hg. mit Julika Rosenstock und Tobias Singelnstein); christian.boulanger@re wi.hu-berlin.de Förster, Annette, Dr., Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität DuisburgEssen. Selbstständige Veröffentlichungen: Die Grenzen der Demokratie. Gegenwartsdiagnosen zwischen Politik und Recht, VS Verlag 2017 (hg. mit Matthias Lemke). Mensch-Tier-Ethik im interdisziplinären Diskurs, Münster: LIT Verlag 2016 (hg. mit Wulf Kellerwessel und Carmen Krämer); Peace, Justice and International Order. Decent Peace in John Rawls’ The Law of Peoples, Palgrave Macmillan 2014. [email protected] Frick, Verena, Dr., Akademische Rätin a.Z. an der Georg-August-Universität Göttingen. Selbstständige Veröffentlichungen: Politik, Recht und Religion, Tübingen: Mohr Siebeck 2019 (hg. mit Andreas Anter); Die Staatsrechtslehre im Streit um ihren Gegenstand. Die Staats- und Verfassungsdebatten seit 1979, Tübingen: Mohr Siebeck 2018; Politik und Recht. Umrisse eines politikwissenschaftlichen Forschungsfelds, Baden-Baden: Nomos 2017 (hg. mit Oliver W. Lembcke und Roland Lhotta); [email protected] Gawron, Thomas, Rechtssoziologe. Selbständige Veröffentlichungen: Bundesverfassungsgericht und Religionsgemeinschaften. Konstellationen von Mobilisierung, Entscheidung und Implementation, Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag; Constitutional Courts in Comparison: The US Supreme Court and the German Federal Constitutional Court, 2. Aufl., New York und Oxford: Berghahn 2016 (hg. Ralf Rogowski); Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichtes. Rechtssoziologische Analysen, Baden-Baden: Nomos 2007; [email protected] Ghantuz Cubbe, Giovanni de, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden. Selbstständige Veröffentlichungen: Iannone, Roberta/Gurashi, Romina mit Iannuzzi, Ilaria/de Ghantuz Cubbe, Giovanni/Sessa, Melissa: Smart Society. A Sociological Perspective on Smart Living, Routledge: 2019; [email protected]
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Duncker & Humblot, Berlin
Autorinnen und Autoren
Heber, Frank, B.A., Student. Studium der Studium der Internationalen Beziehungen, Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften an der Universität Erfurt (2016 – 2020); [email protected] Kranenpohl, Uwe, Prof. Dr. phil. habil., Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. Selbständige Veröffentlichungen: Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts, Wiesbaden: VS-Verlag 2010; Mächtig oder machtlos? Kleine Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949 bis 1994, Opladen / Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999; Konkordanzdemokratie. Ein Demokratietyp der Vergangenheit?, Baden-Baden: Nomos 2012 (hg. mit Stefan Köppl); [email protected] Kuchler, Daniel, Phd, Lecturer FU Berlin. Selbständige Veröffentlichung: A Critique of Arendt’s Concept of Ideology, New Europe College Yearbook 2012 – 2013 (hg. Irina Vainovski-Mihai), Bucharest: New Europe College 2015; [email protected] Lembcke, Oliver W., Dr., Hochschullehrer für Politische Theorie an der Ruhr Universität Bochum. Selbständige Veröffentlichungen: Zeitgenössische Demokratietheorie. 2 Bde., Wiesbaden: VS Verlag 2021 [i.E.]/2016 (hg. mit Claudia Ritzi und Gary S. Schaal); Universitas. Ideen, Individuen und Institutionen in Politik und Wissenschaft. Festschrift für Klaus Dicke, Baden-Baden: Nomos 2019 (hg. mit Manuel Fröhlich und Florian Weber-Stein); Politik und Recht. Umrisse eines politikwissenschaftlichen Forschungsfelds, Baden-Baden: Nomos 2017 (hg. mit Verena Frick und Roland Lhotta); [email protected] Lemke, Matthias, Dr., PD., Regierungsrat, Fachhochschullehrer für Staats- und Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei. Selbständige Veröffentlichungen: Deutschland im Notstand? Politik und Recht während der Corona-Pandemie in Deutschland, Frankfurt (Main) / New York: Campus 2021 (i.E.); New Normality? State of Exception as Contemporary Government Technique, Wiesbaden: Springer VS 2018 (hg. mit Ece Göztepe und Olivier Cahn) (=Sonderband ZPol 28(4)); Demokratie im Ausnahmezustand. Wie Regierungen ihre Macht ausweiten, Frankfurt (Main) / New York: Campus 2017; [email protected] Lhotta, Roland, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft, insbesondere das politische System der Bundesrepublik Deutschland an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Selbstständige Veröffentlichungen (u. a.): Politik und Recht. Umrisse eines politikwissenschaftlichen Forschungsfelds, Baden-Baden: Nomos 2017 (hg. mit Verena Frick und Oliver W. Lembcke); Das Lissabon-Urteil: Staat, Demokratie und europäische Integration im „verfassten politischen Primärraum“ (hg. mit Jörn Ketelhut, Helmar Schöne), Wiesbaden: Springer VS 2013; Die hybride Republik: Die Federalist Papers und die politische Moderne, Baden-Baden: Nomos 2010; [email protected]
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Autorinnen und Autoren
Pócza, Kálmán, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter (Nationale Universität für öffentlichen Dienst / ELKH Zentrum für Sozialwissenschaften). Selbstständige Veröffentlichungen: Parlamentarismus und politische Repräsentation. Carl Schmitt kontextualisiert, Baden-Baden, Nomos, 2014; Verfassunggebung in konsolidierten Demokratien: Neubeginn oder Verfall eines Systems? Baden-Baden: Nomos, 2014 (hg. mit Ellen Bos); How to Measure the Strength of Judicial Decisions: A Methodological Framework, German Law Journal, 2017 (mit Gábor Dobos und Attila Gyulai); Constitutional Politics and the Judiciary: Decision-making in Central and Eastern Europe, New York/ London: Routledge, 2019 (Hg.); [email protected] Rogowski, Ralf, Prof. Dr., Professor für Rechtssoziologie an der University of Warwick (UK). Selbständige Veröffentlichungen: Constitutional Courts in Comparison: The US Supreme Court and the German Federal Constitutional Court, 2. Aufl., New York/ Oxford: Berghahn 2016 (hg. Thomas Gawron); Reflexive Labour Law in The World Society, Cheltenham: Elgar 2013; Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichtes. Rechtssoziologische Analysen, Baden-Baden: Nomos 2007; r.rogowski@warwick. ac.uk Schmid, Sarah, Dr., Referatsleiterin› Verfassung, Europäische Integration und Gesellschaftliche Partizipation, Hanns-Seidel-Stiftung; Selbstständige Veröffentlichungen: Öffentliche Gütererbringung jenseits des Staates in Afghanistan und Kolumbien, Wiesbaden: Springer VS 2019; Aufstieg und Fall westlicher Herrschaft. Zum Grundproblem globaler Politik im Spiegel moderner Klassiker (hg. mit Martin Sebaldt et al.), Wiesbaden: Springer VS 2016; [email protected] Wolf, Sebastian, Prof. Dr., Professor für Sozialwissenschaften an der Medical School Berlin. Selbständige Veröffentlichungen (Auswahl): Eine Governance-Theorie des Kleinstaats, Wiesbaden: Springer VS 2020; Das politische System Deutschlands für Dummies, Weinheim: Wiley-VCH 2018; Korruption, Antikorruptionspolitik und öffentliche Verwaltung. Einführung und europapolitische Bezüge, Wiesbaden: Springer VS 2014; Korruptionsbekämpfung vermitteln. Didaktische, ethische und inhaltliche Aspekte in Lehre, Unterricht und Weiterbildung, Wiesbaden: Springer VS 2018 (hg. mit Peter Graeff); State Size Matters. Politik und Recht im Kontext von Kleinstaatlichkeit und Monarchie, Wiesbaden: Springer VS 2016; [email protected]
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