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German Pages 178 [194] Year 2010
Andreas Wagner Recht – Macht – Öffentlichkeit
Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 8
Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Leipzig Eun-Jeung Lee, Berlin Marcus Llanque, Augsburg Pierpaolo Portinaro, Turin Samuel Salzborn, Gießen Birgit Sauer, Wien Gary S. Schaal, Hamburg Virgilio Alfonso da Silva, São Paulo
Andreas Wagner
Recht – Macht – Öffentlichkeit Elemente demokratischer Staatlichkeit bei Jürgen Habermas und Claude Lefort
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2010
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09704-8 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2010 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Zugleich Dissertation Universität Frankfurt, 2008, D 30 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany
EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt
INHALT 1
Einleitung
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Jürgen Habermas’ Rechtstheorie und die Lebenswelt 2.1 Die Lebenswelt zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive . 2.1.1 Kritische Handlungstheorie und das Problem der Lebenswelt 2.1.2 Sprachphilosophisch gewendeter Lebensweltbegriff . . . . . 2.1.3 Kritik des Sprachidealismus in der Auszeichnung von Lebensweltstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Exkurs: Diskurstheorie und Intransparenz von Sprache und Schrift . 2.2.1 Illokutionäre Bindung vs. dekonstruktive Entbindung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Autonomie der Sprachbereiche? . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Lebenswelt und Demokratietheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Rekapitulation der Sprach- und Gesellschaftstheorie . . . . 2.3.2 Die rechtsinterne Spannung zwischen Faktizität und Geltung 2.3.3 Geltung: Recht und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Faktizität: Macht und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Claude Leforts Demokratietheorie und das Symbolische 3.1 Methodische Überlegungen: Die „Arbeit des Werkes“ . . . 3.1.1 Phänomenologie und sprachliche Bedeutung . . . 3.1.2 Interpretation und Befragung von Texten . . . . . 3.1.3 Die Arbeit der Gesellschaftstheorie . . . . . . . . 3.2 Das Symbolische und das Politische . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Für eine Phänomenologie des „Symbolischen“ . . 3.2.2 Gesellschaftliche Reflexion und Imaginäres . . . . 3.2.3 Politik und die symbolische Dimension der Macht 3.3 Die Demokratie und die Politik . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Der leere Ort der Macht . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Differenz von Macht und Recht . . . . . . . .
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Eine post-phänomenologische Diskurstheorie demokratischer Staatlichkeit 4.1 Komplementarität zwischen Institutionen und Kommunikationen 4.2 Elemente demokratischer Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Differenz und Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
1 EINLEITUNG Demokratie ist weder mit bestimmten Institutionen noch mit einer bestimmten kulturellen Überzeugung einfach identisch. So wichtig frei gewählte Parlamente, Mehrheitsregel und Minderheitenschutz, Grundrechte und freie Märkte einerseits, Solidarität, Toleranz und Gemeinwohlorientierung, gemeinsame Geschichte und gemeinsame Werte, vielleicht gar ein kulturelles Selbstbewusstsein („des Westens“?) oder umgekehrt die Anerkennung von Historizität, Kontingenz und Pluralität gesellschaftlicher Verhältnisse andererseits sein mögen, Demokratie als solche muss gerade in einer Überschneidung dieser Bereiche bestimmt werden. Spätestens seit Hegel hat sich eine Sichtweise formiert, in der der Staat als privilegierter Kristallisationspunkt just des Zusammenhangs von politisch institutionalisiertem und in sozialen Praktiken verkörpertem Sinn erscheint. Und auch wenn wir heute den Begriff des Staates nicht mehr ohne den der Demokratie, sondern ihn sogar von diesem her thematisieren wollen, bleibt doch die Einsicht zentral, dass Staat und Zivilgesellschaft (jeweils im unspezifischeren Sinn der Alltagssprache) gleich-ur-sprüng-liche und a priori aufeinander bezogene Elemente eines Begriffs von Demokratie (wie von Staat im anspruchsvolleren, Hegelschen Sinne) sein müssen: Während die normative Leistung – und so die Legitimität – politischer Institutionen, wie gezeigt werden kann, von ihrer Koppelung an eine lebendige politische Öffentlichkeit abhängt, wird umgekehrt die Konstitution einer solchen politischen Kultur ihrerseits wiederum durch rechtsstaatliche Institutionen wie, im Falle der Demokratie, das Repräsentations-, das Mehrheitsprinzip und die Menschenrechte ermöglicht. Das genaue Verhältnis und die substanziellen Beziehungen zwischen lebensweltlichen und institutionellen Elementen von Demokratie im Besonderen und von Staatlichkeit im Allgemeinen bleiben allerdings noch unklar, oder in einseitigen Analysen unvollständig. Die vorliegende Untersuchung soll dazu beitragen, diesem Mangel abzuhelfen, indem sie einerseits – aus der Perspektive der normativen Demokratietheorie – die Notwendigkeit einer Betrachtung der demokratischen Lebenswelt erweist, andererseits aber in dieser Betrachtung gerade die demokratischen Institutionen zum Gegenstand macht. In der Fluchtlinie der hier angestellten Überlegungen liegt auch die Auseinandersetzung mit einem weiteren Problem: So leiden viele Untersuchungen von Demokratie, und a fortiori von Staatlichkeit, an der begriffsprägenden Übernahme grundsätzlicher Orientierungen und theoretischer Hintergrundüberzeugungen aus der Entstehungsgeschichte der demokratischen Nationalstaaten.1 In der Debatte um die Globalisierung wird dann aus demokratietheoretischer Perspektive mitunter beklagt, dass die Handlungszusammenhänge auf der Ebene des traditionellen, territorial definierten Nationalstaats an Bedeutung und Einfluss verlieren, dass auf globaler Ebene 1
Eine auch an dieser Stelle erwähnenswerte Ausnahme bildet aktuell Niederberger 2009.
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aber kein Äquivalent zu ihrer demokratischen Legitimierung besteht oder gar auch nur möglich ist. Dass auf dieser Ebene und in dieser Größenordnung eine demokratische Legitimierung selbst nicht denkbar sei, wird unter Bezugnahme sowohl auf konkrete Institutionen wie die demokratische Wahl als auch auf zivilgesellschaftliche Zusammenhänge wie eine politische Öffentlichkeit oder eine (mehr oder weniger) homogene politische Kultur angenommen. Dabei wird der begriffliche Gehalt von Demokratie in beiden Zusammenhängen jedoch allzu umstandslos mit den institutionellen und zivilgesellschaftlichen Gegebenheiten identifiziert, die sich in den nationalstaatlichen Gemeinwesen bewährt haben. Hingegen erhalten diese Gegebenheiten in der vorliegenden Untersuchung einen eher exemplarischen Charakter und entfalten einen allgemeineren Zusammenhang von demokratischen Institutionen und Zivilgesellschaft, so dass die künstlichen Engführungen, die in jene Aporie münden, potenziell ausgeräumt werden könnten. Denn eine Reflexion über den genauen Zusammenhang dieser beiden Aspekte von Demokratie, über die Abstraktionsfähigkeit und die zugrunde liegende normative Funktion jener Gegebenheiten könnte, so die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegende Intuition, jene Motive von demokratischer Staatlichkeit (im anspruchsvollen Sinne) herausarbeiten, die auf Ebenen jenseits des Nationalstaats nachgebildet werden müssten, wenn dort demokratische Legitimation generiert werden soll. Dabei hält sich die hier vorgelegte Diskussion allerdings eher im Kontext der traditionellen demokratischen Verhältnisse und Prozeduren, um deren Logik in einer Weise zu profilieren, die sie – mit entsprechender institutioneller Phantasie – auf andere Ebenen und Größenordnungen übertragbar macht. Neben der Rekonstruktion der demokratischen Legitimationslogik, die zur Erklärung von Macht in demokratischen Verhältnissen unverzichtbar ist, werden dabei im Rückgriff auf eine Theorie „des Politischen“ insbesondere jene Momente von Demokratie an Profil gewinnen, die diese als ein politisches System kennzeichnen – womit aber eine Kennzeichnung gemeint ist, die die Unterscheidung von Institutionen und Zivilgesellschaft gerade übersteigt. Demokratie ist nicht verstehbar ohne eine Erklärung der mit ihr verbundenen staatlichen Institutionen; deren Erklärung aber kann nicht alleine institutionentheoretisch erfolgen. In diesem Sinne ist die Klärung des Zusammenhangs von Politik im Allgemeinen und von kulturellem und sprachlichem Sinn von eminentem Interesse für die politische Philosophie im Allgemeinen und für die Demokratietheorie im Besonderen. Dabei darf aus normativer Sicht die Beschreibung der gesellschaftlichen Bedingtheit politischer Praktiken und Institutionen nicht zu einer einem Passivismus Vorschub leistenden Verabsolutierung der „normativen Kraft des Faktischen“ führen. Umgekehrt aber darf eine Ausarbeitung des ambitionierten normativen Sinngehalts und der emanzipatorischen Orientierung demokratischer Handlungsspielräume nicht in einen abstrakten Idealismus münden, der die Eigenlogik von Politik vergisst. Und auch noch die Betonung der Spontaneität und der performativen Kontingenz sprachlich-kultureller Akte schließlich riskiert, in blinden Aktionismus zu verfallen.
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Wenige Vorschläge, diese Spannungsverhältnisse zu explizieren und normativ auszukleiden, sind so beharrlich und scharfsichtig entwickelt worden wie diejenigen von Jürgen Habermas und von Claude Lefort. Diese widmen sich jeweils in grundsätzlicher Weise der Spannung zwischen politischem Handeln und politischen Institutionen einerseits und den Struktur- und Entwicklungsmustern gesellschaftlicher Bedeutungszusammenhänge andererseits. Dabei zeichnet es beide aus, dass sie weder solche Bedeutungszusammenhänge als Rahmenbedingungen des Handelns einfach hinnehmen, ohne sich nach ihrer Reproduktion, Transformation oder Rationalität zu fragen, noch ihre Theorien in einer von jenen Zusammenhängen unabhängigen Sphäre idealer Rationalität anlegen, in der eine demokratische Einrichtung der Politik konstruiert und dann als Maßstab für alle „weltlichen“ Verhältnisse in Anspruch genommen werden könnte. Vielmehr erarbeiten beide jeweils einen Begriff von Legitimität, der sich erst in dieser Spannung denken lässt und der sowohl die demokratische Praxis im engen Sinne als auch ihren kulturellen Kontext kritisch beleuchten kann. Aus diesem Grund widmet sich die vorliegende Untersuchung einer Rekonstruktion und Konfrontation der Positionen dieser beiden Denker. Es wird sich dabei zeigen, dass vor allem die Komplementarität ihrer Ansätze ein angemessenes und weiterführendes Verständnis von demokratischer Staatlichkeit und Politik erlaubt. Inhaltlich fällt dabei ins Auge, dass sie aus unterschiedlichen Richtungen beide auf einen Begriff moderner Politik abzielen, demzufolge diese von sich aus zu einer „Selbst-Demokratisierung“ tendiert. Vor dem Hintergrund der eingangs formulierten Spannung im Demokratiebegriff zeichnen sich beide Autoren aber im Besonderen dadurch aus, dass die in diesem implizierte gleiche Freiheit aller für sie weder in individuellen Dispositionen noch in spezifischen Rechten oder Institutionen als solchen, sondern nur in bestimmten intersubjektiven Strukturen eines kollektiven Interaktionszusammenhangs bestehen kann, in eine auf bestimmte Weise formierte und mehrdimensional zu verstehende Öffentlichkeit einbeschrieben.2 Deren wesentliche Momente wiederum sind – wenn man genau hinsieht – dann neben einer freien und lebendigen Kommunikation freilich doch wieder eine starke Rolle des Rechts und bestimmter staatlicher Institutionen. Eine der wichtigsten Zielsetzungen der vorliegenden Untersuchungen besteht mithin in diesem genauen Hinsehen, in einer Rekonstruktion demokratischer Staatlichkeit, die zeigt, wie deren Elemente sich nur in einem Oszillieren zwischen objektiv-institutioneller und lebensweltlichsymbolischer Dimension in ihrer vollen Bedeutsamkeit erfassen lassen und wie 2
Neben den genannten Gemeinsamkeiten sollen auch wichtige Unterschiede zwischen beiden Autoren in dieser Hinsicht bereits hier benannt werden, etwa bezüglich der Vorstellung, dass die Bürger sich in einem immer noch relativ starken Sinne als Autoren ihrer Rechte verstehen können müssen, oder derjenigen, dass die politische Kommunikation auf einem grundlegenden Konsens aufruht und die konsensuelle Regelung beliebiger partikularer Probleme als immer prinzipiell möglich unterstellen muss. Beide Vorstellungen werden von Habermas verteidigt, von Lefort hingegen abgelehnt. Darin deutet sich schon an, dass die beiden Theorien einen in seinen Konsequenzen sehr ähnlichen Begriff von Demokratie nicht nur auf voneinander unabhängige Weise erarbeiten, sondern dass sie aus der Perspektive der jeweils anderen ob einer zweifelhaften Rationalität ihrer Begründungsmotive nicht einfach zu integrieren sind. Auch zwischen ihnen wird sich, so die These, eine Spannung nicht tilgen lassen.
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sich die Demokratietheorie selbst auf produktive Weise in eine Perspektivenverdoppelung zwischen normativ-geltungsorientierten und soziologisch-sinnorientierten Hinsichten zwingen kann. An diesem Punkt wird jedoch auch deutlich, wie stark dieser avancierte und facettenreiche Demokratiebegriff das politische Phänomen als von lebensweltlichen Zusammenhängen getragen beschreibt, welche ihrerseits stärker als von den beiden Autoren explizit zugestanden wird, dem nationalstaatlichen Kontext verhaftet bleiben, in dem sie sich historisch entwickelt haben. Zwischen den von beiden in Anspruch genommenen Ressourcen der immer lokalen, konkret-partikularen Lebenswelt und den sie transzendierenden universalistischen Entzugs- oder Rationalisierungsmomenten herrscht eine Spannung, die methodisch nicht leicht zu bewältigen ist. Sie verkörpert aber zugleich auch das Potenzial dieser beiden Theorien, auf die Probleme der politischen Situation des beginnenden 21. Jahrhunderts zu antworten, die sich zwischen national- oder einzelstaatlichen Legitimations- und Implementationsmechanismen und globalen Herausforderungen aufspreizen: So geht aus der Untersuchung einerseits hervor, inwiefern die beiden vorgestellten Theorien an eine Tradition staatsorientierten politischen Denkens anschließen, die die resultierenden Politik- und Demokratiebegriffe zunächst als nur schwerlich für eine inter-, supraoder transnationale Koordination von sozialen Interessen und Kräften geeignet erscheinen lassen. Gerade in der Konfrontation der beiden Theorien zeigt sich ihre unwillkürliche Aufnahme der Staatsgebundenheit dieses Erbes: Vor der Folie von Habermas’ Modell der universalistischen demokratischen Deliberation tritt die Gebundenheit des Lefortschen Konzepts des Politischen an Zusammenhänge lokaler Herrschaftsorganisation besonders deutlich hervor. Umgekehrt erscheint vor der Lefortschen Analyse der symbolischen Dimension demokratischer Herrschaft Habermas’ Verweis auf den Bedarf an solidarischer Gesinnung, welche sich irgendwie aus dem gleichsinnigen Bezug auf eine geteilte Geschichte ergeben soll, als in deutlicher Spannung zu jenem Universalismus stehend und insgesamt eher unbeholfen konzeptualisiert. Und auch seine geltungstheoretischen Überlegungen zur Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie oder zum konstitutiven Zusammenhang von Recht und Politik legen auf implizite Weise eine (national-) staatliche Verfassung von Demokratie mindestens nahe. Gegen diesen Hintergrund soll die vorliegende Untersuchung andererseits aber eben auch jene Motive herausarbeiten, welche die als unverzichtbar angenommene Staatlichkeit in ihrem Charakter klären und vielleicht von ihrer nationalstaatlichen Zurichtung abschälen könnten und so das bei den beiden Autoren letztlich doch nationalstaatliche Demokratiemodell womöglich zu transzendieren vermöchten. Als Resultat ergibt sich damit sowohl ein klareres Verständnis des vielschichtigen Zusammenhangs nationalstaatlicher Demokratie als auch eine Sammlung von Motiven, die diesen Zusammenhang mit einer internationalen politischen Ordnung verbinden könnten, welche sich ihrerseits wenigstens teilweise an demokratischen Mechanismen und Kriterien messen ließe. Methodologisch oder theoriestrategisch besteht eines der wichtigsten Anliegen der vorliegenden Untersuchung in der Betonung der Leistungsfähigkeit einer wech-
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selseitigen Ergänzung von Diskurstheorie und Phänomenologie. Jürgen Habermas’ „Überwindung“ des phänomenologischen Paradigmas bei Husserl oder Schütz wirft bei aller berechtigten Kritik wichtige Einsichten über Bord, was sich bis in die Grundannahmen des diskurstheoretischen Kommunikationsmodells reflektiert und etwa an seiner Auseinandersetzung mit Derrida nachvollzogen werden kann. Claude Leforts Phänomenologie des Politischen kann ausgerechnet diese vernachlässigten Aspekte von Kommunikation mobilisieren, um das Verständnis von Politik und Demokratie entscheidend auszubauen, kann jedoch keine Kriterien angeben, an denen sich die normative Vorzugswürdigkeit bestimmter, nämlich demokratischer Verhältnisse explizit ausweisen ließe. Bekanntermaßen bietet hierfür Habermas’ Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats im Rückgang auf die unvermeidlichen idealisierenden Unterstellungen normativer, insbesondere rechtlich kodierter Kommunikationen eine entwickelte Argumentation an; diese Argumentation wiederum, so wird im Folgenden gezeigt, wird in ihrer rationalitäts- und legitimitätstheoretischen Architektur durch die angesprochene Eindimensionalität gerade nicht dementiert, sondern steht weiterhin als normative Ressource zur Verfügung. *** Der erste Teil der vorliegenden Untersuchung soll einerseits anhand der Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats zeigen, dass eine theoretische Analyse von Elementen der Staatlichkeit nicht umhin kommt, weitreichende lebensweltliche Aspekte in ihre Rekonstruktion des politischen Systems mit einzubeziehen. Zugleich soll andererseits gezeigt werden, wie dieser untersuchungsbedürftige Bereich spezielle methodische Probleme aufwirft, denen sich die politische Theorie – im Unterschied vielleicht zu anderen Theoriebereichen, wo kein entsprechender Bedarf festzustellen ist – stellen muss. Dazu wird zunächst die umfassendere gesellschaftsund kommunikationstheoretische Perspektive der Habermas’schen Diskurstheorie umrissen, so dass der Zuschnitt von Objektbereich und Methode seiner Theorie des demokratischen Rechtsstaats verständlich wird. Die Einbeziehung gesellschafts- und sogar sprachtheoretischer Einsichten ermöglicht es Habermas, auf die Herausforderungen der Verselbständigung vieler gesellschaftlicher Funktionssysteme und sogar des politischen Apparats selbst, eine klare, normativ aussagekräftige und tragfähige Antwort zu geben. Aber bereits in der Gesellschafts- und Sprachtheorie lassen sich methodische Probleme aufzeigen, die sich vor allem aus Habermas’ Umgang mit der Thematik der Lebenswelt und ihren Konsequenzen für die Kommunikations-, Handlungs- und Gesellschaftstheorie ergeben. So wird im Folgenden nachvollzogen, wie Habermas den aus der Phänomenologie übernommenen Begriff der Lebenswelt an das pragmatische Kommunikationsmodell anschließt und soziologisch operationalisierbar macht. Dazu bringt er eine (von Sprechern in Alltagssituationen selbst vorgenommene) idealisierende Betrachtung von Kommunikation in Anschlag, in der propositionale Sätze Struktur und materialen Gehalt der Lebenswelt ausmachen – und diese so sektoriell thematisierbar, aus der Teilnehmerperspektive für die rationalisierende Praxis des Umgangs mit ausdifferenzierten kritisierbaren Geltungsansprüche anschlussfähig und aus der wissenschaftlichen Beobachterperspektive objektivierbar
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machen. Dieser Entwicklung gegenüber wird aber einerseits nachgewiesen, wie die in phänomenologischer Perspektive gewonnenen, nicht propositional explizierbaren Momente der Lebenswelt auch in jenen Anschluss noch eingehen und bewusster reflektiert werden müssen. Andererseits werden in einem Exkurs die Habermas’schen Idealisierungen von Kommunikation mit seiner kritischen Reaktion auf die dekonstruktivistischen Betonungen der Uneindeutigkeit von Sprache abgeglichen, die ja analoge Momente im Wesen sprachlicher Kommunikation selbst aufgezeigt haben. Letztlich kann seine Kritik, so wird gezeigt, die Permanenz jener Momente nicht tilgen. Vor diesem Problemhintergrund wird in einem dritten Schritt schließlich die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats daraufhin abgeklopft, welche Rolle die benannten Schwierigkeiten in ihrem besonderen Kontext spielen. Dabei verschränken sich mehrere Zusammenhänge: Der Legitimitätsanspruch des Rechts erzwingt eine Prüfung der Zustimmungsfähigkeit von Gesetzen, die um eine Erwägung der Vernünftigkeit auch der faktischen gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse nicht umhin kann; die Verschwisterung von Recht, Autorität und Macht zwingt zur Entwicklung eines Begriffes kommunikativer Macht, der über den des Konsenses wesentlich hinausreicht; und eine realistische Einschätzung verschiedener Machtkreisläufe zwischen Staat und Öffentlichkeit erfordert eine über die Rechtsbindung des Staates hinausgehende Verlagerung des normativen Schwerpunkts des demokratischen Systems, letztlich ein enormes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit auch und gerade der peripheren Öffentlichkeiten. Die These, die in diesem ersten Teil der Arbeit vorgelegt und an den zuletzt genannten Zusammenhängen plausibilisiert werden soll, ist, dass sich die methodischen Probleme der Kommunikationstheorie hier in materiale Lücken verwandeln: Die normative Besonderheit der Demokratie wird im Ausgang von vertrauten institutionellen Motiven letztlich wesentlich in einer informell verfassten – durchaus nicht auf den nationalstaatlichen Kontext beschränkten – politischen Öffentlichkeit verortet. Die somit für eine normative Theorie demokratischer Staatlichkeit entscheidende öffentliche politische Kommunikation kommt jedoch nur noch in verarmter Weise in den Blick. Die idealisierenden Engführungen in der Konzeptualisierung von (kommunikativen) Alltagspraktiken finden im Kontext der politischen Theorie und auch der Rechtstheorie eine Entsprechung darin, dass bei Habermas an den entscheidenden Argumentationspunkten begriffliche Komplexe eingebaut werden müssen, die nur als opak bezeichnet werden können. Obwohl für die Frage der Übertragbarkeit demokratischer Strukturen auf Ebenen jenseits des traditionellen Nationalstaats die Fokusverschiebung von partikularen institutionellen Arrangements auf Strukturen der öffentlichen Kommunikation einen vielversprechenden Ansatzpunkt bietet und nun gerade diese Strukturen von besonderem Interesse sind, wird ihnen bei Habermas entweder nur eine kurze und eher verwirrende denn erhellende Behandlung zuteil, wie im Fall etwa der „kommunikativen Macht“, oder sie werden bündig aus dem Objektbereich der Untersuchung hinauserklärt, wie im Fall der „entgegenkommenden Lebenswelt“. So muss Habermas in dieser Frage zwischen universellem Anspruch und Theoriezuschnitt einerseits und Zugeständnissen an kom-
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munitaristisch inspirierte Vorbehalte andererseits hin- und hergerissen bleiben. Und einer über den Nationalstaat hinauszielenden demokratietheoretischen Perspektive werden einerseits die vertrauten Elemente institutionalisierter demokratischer Staatlichkeit relativiert, insofern sie als von „Öffentlichkeiten“, „politischen Kulturen“ und „entgegenkommenden Lebenswelten“ abhängig verstanden werden müssen, andererseits aber diejenigen Momente, die diesen primären, aber diffusen Kommunikationszusammenhängen Halt und Substanz geben müssen, nur unzureichend thematisiert. Da die Diskussion der Habermas’schen Rechts- und Demokratietheorie inzwischen einen breiten Raum in der Debatte politischer Philosophie einnimmt,3 wird davon ausgegangen, dass eine gewisse Kenntnis dieser Theorie beim Leser unterstellt werden kann. Zwar wird der zentrale Argumentationsgang durchaus explizit gemacht und mit entsprechenden Verweisen und Textbelegen versehen. Es wird aber keine Präsentation der Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (oder der Theorie des kommunikativen Handelns) im Allgemeinen vorgelegt, sondern eine Rekonstruktion, die sehr stark auf die genannte Fragestellung einer Ergänzungsbedürftigkeit und -fähigkeit dieser Theorie zielt. Es sollen im Querschnitt durch Sprach-, Gesellschafts- und Demokratietheorie die Punkte aufgezeigt werden, an denen eine systematische Vereinseitigung vorliegt, die schließlich im Kontext der Demokratietheorie an bestimmten, unumgänglichen Problemen manifest wird. Es bleibt aber festzuhalten, dass das diskurstheoretische Modell der Demokratie nicht nur ein wegen seiner Kritikwürdigkeit – und auch dieser Begriff lässt sich ja unterschiedlich verstehen – privilegierter Ausgangspunkt, sondern ein integraler Bestandteil der hier vorgeschlagenen zweigleisigen Herangehensweise ist, die mir gerade in dieser expliziten Doppelung und Komplementarität eine besonders starke Erklärungskraft zu besitzen scheint. *** Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der politischen Theorie Claude Leforts, die sich nun geradezu als Antwort auf die Erklärungslücken der Diskurstheorie lesen lässt. Leforts zentrales Anliegen ist eine phänomenologische Explikation der lebensweltlichen Strukturen und Prozesse der Demokratie, also genau der Elemente von Demokratie, die sich bei Habermas als zentral, aber unterbelichtet erwiesen hatten. Leforts Werk nimmt seinen Ausgang von einer Kritik des sowjetischen Totalitarismus, die diesen weniger als despotische Tyrannei über gewaltförmig unterdrückte und propagandistisch hinters Licht geführte Massen versteht, denn als als weitreichenden und weitgehend kohärenten, sozial geteilten Bedeutungszusammenhang, der vermeintlich allein den unterschiedlichen Institutionen Legitimität, aber auch den individuellen Lebensentwürfen Sinn zu verleihen vermag. Nur so lässt sich 3
Vgl. etwa zuletzt Gaus 2009 und die vielfältigen Beiträge in Schaal 2009 oder Niesen / Herborth 2007. Ebenfalls einschlägig: Wingert / Günther 2001; Müller-Doohm 2000; Krawietz / Preyer 2004. Für die ebenfalls weit entwickelte englischsprachige Diskussion vgl. entsprechend Freundlieb / Hudson / Rundell 2004; Schomberg / Baynes 2002; Dews 1999 oder Rosenfeld / Arato 1998.
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sein Charakter als Massenphänomen und seine relative Stabilität erklären, nur so kommen aber auch seine Sollbruchstellen, d. h. Lücken und Widersprüchlichkeiten in den Blick, die letztlich die Grenzen möglicher Unterdrückung markieren.4 Im Kontrast dazu entwickelt Lefort ein Verständnis von Demokratie, das auch diese in erster Linie als einen Sinnzusammenhang sieht. Er untersucht die sozialen Rollen und Überzeugungen, die demokratischen Verhältnissen ihren Sinn geben und ihr Funktionieren ermöglichen, und er fragt, wie sich politische Macht und Autorität im Allgemeinen und im Rahmen demokratischer Verhältnisse im Besonderen konstituieren. Leforts Totalitarismuskritik, die nicht nur in der frankophonen Welt zu den einflussreichsten Positionen in dieser Frage zählt, macht in der genannten Gegenüberstellung demokratischer und totalitärer Systeme übrigens erneut deutlich, wie fruchtbar eine Erweiterung der Analyse politischer Systeme und „Staatsformen“ um die Perspektive lebensweltlicher Betrachtungen ist. Die originelle Leistung Leforts ist so vor allem in der Anwendung einer phänomenologisch inspirierten sprach- oder bedeutungstheoretischen Überzeugung auf eine Untersuchung von Politik zu sehen. Mit großer Sensibilität für die Ambivalenz von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen beschreibt er, wie kommunikativen Akten gleichsam eine „Aura“ von Unbestimmtheit anhaftet – die aber eben doch nicht ganz unbestimmt und leer ist –, und wie diese von ihm so genannte „symbolische“ Dimension von Kommunikationen den Geltungssinn von Identität, Macht und Autorität prägt. Wie gezeigt wird, werden diese dadurch mit einer Geltung versehen, die die aktuellen sozialen und kulturellen Bedingungen – im Vergleich zu Habermas’ idealisierenden kontrafaktischen Unterstellungen – nicht minder transzendiert. Obwohl er keine Kriterien für die Rationalität solcher Verweisungsverhältnisse nennen kann, zeigt Lefort doch, dass moderne, zumal demokratische Politik mit einer in diesem Sinne symbolischen Darstellung von Macht verknüpft ist, die diese – nicht geltungstheoretisch, sondern praktisch – als von einer unbeherrschbaren, pluralen Gesellschaft abhängig und einem uneinholbaren Rechtsanspruch seitens eines jeden ihrer Subjekte verpflichtet offenbart. Wie bereits anklingt, sind für ihn dabei die wichtigsten Motive, also diejenigen Gegenstände, in deren spannungsvoller sozialer Bedeutungskonstitution die für die Demokratie am stärksten prägenden Orientierungen vollzogen werden, ironischerweise ausgerechnet die formalen Institutionen des demokratischen Rechtsstaats, die somit von dieser Seite her wieder ins Spiel kommen: vor allem das Repräsentationssystem mit den wiederkehrenden allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen und der Gesetzesvorbehalt administrativer Machtausübung bzw. die kategorische Garantie der Grund- und Menschenrechte. Hier zeigt sich, warum die Untersuchung nach wie vor als Analyse von Elementen demokratischer Staatlichkeit bezeichnet werden muss. Was die methodische Aufstellung dieses zweiten Teils betrifft, so sind mit dem Lefortschen Versuch einer inhaltlichen Beschreibung jener zugleich bestimmten und 4
Es ist in der Tat bemerkenswert, dass Lefort zu einem frühen Zeitpunkt – in den 1950er Jahren – die überwältigenden selbststabilisierenden Kräfte des kommunistischen Regimes ebenso beschreibt wie seinen Zusammenbruch prognostiziert.
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unbestimmten Aspekte von Demokratie nicht geringe Herausforderungen verbunden, so dass in der vorliegenden Untersuchung einiger Aufwand auf die Darstellung seiner Texttheorie und ihren Zusammenhang mit der politischen Philosophie, vor allem anhand seines opus magnus zu Machiavelli verwandt wird. Dabei gilt es, die Abgrenzung von Psychologismus oder radikaler Kontingenz ebenso deutlich zu machen wie die von einer Theorie der Positivierbarkeit vermeintlich objektiver sozialer oder textueller Sinnzusammenhänge. Die Bemühung um einen allgemeineren Überblick über einige seiner zentralen Motive macht darüber hinaus Sinn, da das Werk Claude Leforts, im krassen Gegensatz zu der im ersten Teil behandelten Diskurstheorie, in der deutschsprachigen Debatte noch kaum präsent ist.5 So werden im zweiten Teil neben den Punkten, die auf die offenen Fragen aus dem ersten Teil antworten, auch die Anknüpfung Leforts an die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys und seine – tatsächlich auch für die Demokratietheorie relevante – Theorie des literarischen oder philosophischen „Werkes“ thematisiert. Dass sowohl Rezeptions- als auch Übersetzungslage des Lefortschen Werkes bislang ungenügend sind, nimmt die vorliegende Arbeit zum Anlass, hier in der Summe umfangreiche Originalpassagen in deutscher Übersetzung vorzulegen. Dass Lefort in seinen Betrachtungen in vielen Fällen auf ganz anderem Wege zu auffällig gleichen Schlussfolgerungen gelangt wie Habermas – etwa was die konstitutive Bedeutung der Strukturen politischer Öffentlichkeit oder die Rechtsförmigkeit von Politik angeht –, mag vielleicht nicht als Beleg für einen der beiden methodischen Ansätze, wohl aber für die Einschlägigkeit jener Elemente demokratischer Governance gelten. Insofern wird aus der Zusammenschau der beiden Ansätze insgesamt ein Argument für die Relevanz einer vitalen politischen Öffentlichkeit und für die Unverzichtbarkeit effektiver und transparenter Rückkoppelungsmechanismen zwischen politischer Öffentlichkeit und dem System rechtlich kodierter Politik gewonnen. Der Staat selbst war und ist dabei immer noch das paradigmatische Beispiel eines solchen Rückkoppelungs-Zusammenhangs. In der Untersuchung der Lefortschen Theorie „des Politischen“ zeigt sich zwar, dass auch dieses insbesondere Institutionen impliziert, die bislang nur im klassischen Staatsmodell denkbar sind. So macht 5
Sie wird in einigen Einführungen knapp besprochen, steht unausgesprochen und vielleicht auch ein wenig verzerrt im Hintergrund stärker rezipierter Theorien und findet sich in der Hauptsache durch einen Sammelband Ulrich Rödels rezipiert. (Vgl. Rödel 1990a; Marchart 1999; Gaus 2004; Marchart 2010.) Im englischen ist die Übersetzungslage ein wenig besser, aber auch dort ist die Sekundärliteratur überschaubar. (Vgl. Howard 1988, Kap. 7; Lindahl 1998; Flynn 2005; Weymans 2005; Näsström 2006; Rummens 2008; Geenens 2008; Erfani 2008; Roermund 2009; Dallmayr 2010 und die Beiträge in Beilharz u. a. 2006.) Selbst im französischsprachigen Raum findet sich nur spärliche Sekundärliteratur. (Vgl. Leydet 1993; Labelle 2003; Molina 2005.) Dies ist allerdings wohl eher den Gepflogenheiten des französischen akademischen Diskurses als einer geringen Bedeutung Leforts geschuldet. Denn entgegen der Behauptung Poltiers (1998, S. 15) müssen so zentrale Persönlichkeiten wie Miguel Abensour, Alain Caillé, Marcel Gauchet, Olivier Mongin, Jacob Rogozinski, Pierre Rosanvallon und auch Pierre Manent und Edgar Morin als von Lefort tief beeinflusst angesehen werden. (Vgl. die Beiträge in Habib / Mouchard 1993.) Habib / Mouchard (ebd., S. 5) weisen jedoch zurecht darauf hin, dass Leforts Einfluss in gewisser Weise tatsächlich „im Verborgenen“ gewirkt hat.
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Lefort zum Beispiel auch den Sinn des Menschenrechtsdiskurses in einer bestimmten Relativierung des Diskurses staatlicher politischer Macht, d. h. aber letztlich immer von dieser abhängig, fest. Vielleicht wird aber durch die gewählte Perspektive eine funktionale Einordnung der erforderlichen Leistungen möglich, die entsprechende Elemente auch in anderen institutionellen Arrangements identifizieren, fördern oder auch fordern kann. Diese Möglichkeit, ihre Voraussetzungen und Schwierigkeiten sollen in einem abschließenden dritten Teil erörtert werden. *** Diese Untersuchung ist aus einer Arbeit hervorgegangen, die 2007 vom Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen wurde. Ich bedanke mich bei allen, die mich in dem langen und oftmals nicht ganz einfachen Prozess begleitet und unterstützt haben: Das fängt an bei der inhaltlichen Zusammenarbeit, für die meinem Betreuer, Matthias Lutz-Bachmann, meinem Zweitgutachter, Thomas M. Schmidt und vielen Freunden und Kollegen Dank gebührt. Von diesen sind besonders Andreas Niederberger und Philipp Schink sowie die Mitglieder des Frankfurter Arbeitskreises für politische Theorie & Philosophie herauszuheben. Für das entgegengebrachte Vertrauen und die Unterstützung möchte ich mich auch beim Franz Steiner Verlag und dem Reihenherausgeber, Rüdiger Voigt, bedanken. Spätestens mit der Geburt unserer beiden Kinder im Verlauf der Promotionsphase haben sich indes ganz neue, andersartige und dringende Herausforderungen eingestellt. Hier haben mir meine Eltern durch ihre regelmäßige engagierte Hilfe vieles erleichtert, wofür ich immer noch sehr dankbar bin. Der größte Dank gebührt aber ohne Zweifel meiner Frau Elke, die Vieles auf sich genommen hat, um es mir zu ermöglichen, den allermeisten Pflichten (und sogar ein paar Neigungen) gerecht zu werden. Ich hoffe, ich kann einiges davon mit dem Abschluss dieser Publikation, vor allem aber in Zukunft zurückgeben. Gewidmet sei dieses Buch schließlich unseren beiden Kindern – Lucia und Robin.
2 JÜRGEN HABERMAS’ RECHTSTHEORIE UND DIE LEBENSWELT Die Diskurstheorie Jürgen Habermas’ ist – unter anderem – ein beeindruckend angelegtes gesellschaftstheoretisches Projekt, dessen Festhalten an einer Berufung auf kritische Rationalitätspotenziale im Kontext einer aufgeklärten, interdisziplinär informierten, „nachmetaphysischen“ Theorie der Gesellschaft eines der wesentlichen Motive ausmacht. Sie unternimmt es insbesondere, dieses Potenzial selbst plausibel zu machen und zu explizieren, welche weitreichenden rationalisierenden Kräfte in bestimmten Verwendungsweisen von Sprache wirksam sind und wie sie von dort bis in vermeintlich entlegene Bereiche gesellschaftlicher Ordnung wirken können. In dieser Perspektive ist es ihr möglich, die gesellschaftstheoretisch zentrale Frage nach der sozialen Integration eines Gemeinwesens zugleich deskriptiv und kritischnormativ zu behandeln. Neben der Analyse gesellschaftlicher Funktionssysteme und Zusammenhänge erlaubt es nämlich die Rekonstruktion eines Rationalitätsmoments im Kern der sprachlichen Kommunikation, und damit im Kern desjenigen Interaktionsmechanismus, der Vergesellschaftung schlechthin erlaubt und prägt, einen vom faktischen Stand der gesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen normativ unabhängigen Standpunkt zu gewinnen, von dem her sich diese beurteilen lassen. Zu einer Beschreibung von Stabilisierungserfordernissen und von Strategien, diese zu bewältigen, tritt so eine zweite Betrachtungsweise hinzu: Nicht nur die immer noch aus der Beobachterperspektive rekonstruierbare quasi-sozialpsychologische Akzeptanz der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Mitglieder der Gesellschaft steht dann im Mittelpunkt des Interesses, sondern die – nur aus der Teilnehmerperspektive vorzunehmende – Auseinandersetzung mit den Gründen für ihre Akzeptabilität.1 In dieser Hinsicht und im Rahmen der Fragen politischer Theorie nimmt die mit Faktizität und Geltung2 vorgelegte Untersuchung eine doppelt wichtige Stellung ein, da sie einerseits die Anlage kritischer Theorie auf der Basis der geschilderten und im Titel eigens exponierten Perspektivenverdoppelung erneut verdeutlicht und da sie andererseits eben als umfangreiche Artikulation einer „Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats“ einen materialen Gehalt etabliert, der für die Weiterentwicklung einer politischen Theorie im Rahmen einer solchen kritischen 1
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Diese Auseinandersetzung ist deshalb nur in einer Teilnehmerrolle möglich, weil das Verständnis der Gründe ein Anerkennen ihres Geltungsanspruchs als Grund und damit ein Einverständnis oder eine Ablehnung erfordert, welche den Theoretiker zu einem zumindest virtuellen Gesprächspartner – zu einem Adressaten und Respondenten der vorgetragenen Gründe – machen. Auch aus einer ganz anderen Veranlassung heraus werden wir uns mit der Schwierigkeit der Zuweisung einer Teilnehmer- oder Beobachterrolle noch ausführlicher beschäftigen; s. u., Kap. 3.1.3: Die Arbeit der Gesellschaftstheorie, S. 102ff. Habermas 1994a.
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2 Jürgen Habermas’ Rechtstheorie und die Lebenswelt
Gesellschaftstheorie reichlich Gelegenheiten zu Anknüpfungen und Auseinandersetzungen bietet. Denn während die Theorie des kommunikativen Handelns3 bereits sehr weitreichende gesellschaftstheoretische Kategorien bereitstellt, wird erst in Faktizität und Geltung gründlich erklärt, inwiefern das Rechtssystem ein besonderes System darstellt und für eine politische Theorie moderner Gesellschaften unverzichtbar ist. Zugleich wird allerdings eine Argumentationslinie nicht mehr weiter verfolgt, die in der Theorie des kommunikativen Handelns noch eine wesentliche Orientierung ausmachte: Die an der Intuition der älteren kritischen Theorie ansetzende Bestrebung, in jeweils festgestellten gesellschaftlichen Verhältnissen nicht nur die rationalisierenden Kräfte, sondern eben auch die dieser Tendenz widerstrebenden oder sie blockierenden Kräfte zu erklären. So verwendete Habermas in der älteren Schrift noch beträchtlichen Aufwand nicht allein darauf, Webers Theorie der gesellschaftlichen Rationalisierung zu aktualisieren, sondern auch darauf, unter Rückgriff auf einen in Anlehnung an Lukács gewonnenen Begriff der „Verständigungsform“ das „Problem der Verdinglichung“ zu reformulieren.4 Im Zuge dieser Bemühungen hat Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns eine Analyse der Lebenswelt vorgelegt, hinter deren Komplexität die entsprechenden Stellungnahmen in Faktizität und Geltung zurückbleiben. Im Folgenden sollen nach einer Rekonstruktion der die Lebenswelt betreffenden Argumente in der Theorie des kommunikativen Handelns solche Stellungnahmen in der jüngeren Arbeit aufgespürt und mit ihnen konfrontiert, beide an dieser Konfrontation weiterentwickelt und Punkte verdeutlicht werden, an denen nur ein systematischer, über den Theorieentwurf beider Arbeiten hinaus reichender Methodenwechsel im Bezug auf Lebenswelt der Theorie weitere Erklärungskraft zuwachsen lässt. 2.1 DIE LEBENSWELT ZWISCHEN TEILNEHMER- UND BEOBACHTERPERSPEKTIVE 2.1.1 Kritische Handlungstheorie und das Problem der Lebenswelt Die Grundlage zur Berufung auf das der Phänomenologie entlehnte Konzept der Lebenswelt wird bereits in der für die weitere Entwicklung der Theorie des kommunikativen Handelns fundamentalen pragmatischen Sprachtheorie Jürgen Habermas’ gelegt. So bindet Habermas die Vermutung diskursiv erzeugter Rationalität zurück an die Tatsache, dass Sprecher mit einer Äußerung nicht nur etwas sagen, sondern auch etwas tun. Sie übernehmen nämlich die Gewähr dafür, die verschiedenen mit ihrer Äußerung erhobenen Geltungsansprüche nötigenfalls mit der richtigen Sorte von Gründen rechtfertigen zu können bzw. dafür, sich auch im Weiteren ihrer Ja- oder Nein-Stellungnahme gemäß zu verhalten.5 Im Anschluss an Austins Sprechakttheo3 4 5
Habermas 1987a; Habermas 1987b. Ebd., S. 275–293. Andererseits ermöglicht umgekehrt die Tatsache, dass im kommunikativen Handeln das Tun der Interaktionsteilnehmer auch als ein Sagen verstanden werden kann, die diskursive Auseinandersetzung mit den „propositionalen Gehalten“ der Handlung, d. h. deren rationalisierende
2.1 Die Lebenswelt zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive
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rie6 macht Habermas also zunächst darauf aufmerksam, dass eine Äußerung einen illokutionären Bestandteil besitzt, der ihr nicht nur einen semantischen, sondern auch einen performativen Sinn verleiht. Nun wird dieser zwar – anders als bei anderen Handlungen – im Sprechakt selbst angezeigt, ist jedoch nur insofern zugänglich, als dieser nicht von einem Beobachter isoliert registriert wird, sondern in der Perspektive eines Teilnehmers verstanden wird, der mit dem Hintergrund der Äußerung vertraut ist: Habermas will nämlich letztlich in einer „pragmatischen Wende“ über Austin hinausgehen, indem er die illokutionäre Komponente (und nicht den Aussagegehalt) mit ihrem innersprachlichen Bezug auf die intersubjektive Rechtfertigungspraxis „zum Sitz einer Rationalität [erklärt], die sich als ein struktureller Zusammenhang zwischen Geltungsbedingungen, darauf bezogenen Geltungsansprüchen und Gründen für deren diskursive Einlösung darstellt.“7 Als solcher Zusammenhang weist die in einzelnen Sprechakten mindestens angelegte Rationalität allerdings weit über den jeweiligen Sprechakt hinaus auf ein Potenzial von Gründen und auf eine intersubjektive Praxis weiterer Sprechakte, die ihm erst seinen Sinn verleihen, ihn erst versteh- und zugleich kritisierbar werden lassen. Damit verkörpert sich eine in Sprache strukturell angelegte Rationalität immer je konkret in einem mit einem ganz bestimmten pragmatischen Sinn (nämlich dem der Begründung) ausgezeichneten, unabschließbaren Netz von Sprechakten, das mit jedem Sprechakt aufgespannt wird. Auf diesen Zusammenhang von einzelnem Sprechakt und sozialer Rechtfertigungspraxis wird allerdings ein problematisierendes Licht geworfen, wenn man in Rechnung stellt, dass die für den Sinn der Äußerung konstitutive Fülle jenes Verweisungszusammenhangs in keiner Kommunikation präsent ist – weder was ihren semantischen, noch auch was den pragmatischen Sinn angeht. Versteht man diesen Sinn nicht mehr nur bedeutungs-, sondern auch handlungstheoretisch, so wird darüber hinaus klar, dass er auf einer Reihe von Unterstellungen beruht, die vorzunehmen die Interaktionsteilnehmer zwar faktisch nicht vermeiden können, die aber von einem Beobachter kaum als in der Regel auch nur annähernd erfüllt angenommen werden können. Die Theorie des verständigungsorientierten Handelns steht damit vor der Herausforderung, zu erklären, wie das faktische Gelingen sprachlicher Verständigung und der darüber laufenden Koordination von Handlungen auf solch einer prekären Grundlage überhaupt erklärt werden kann.
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explizite Bearbeitung. Wie wir noch sehen werden, liegt der Kern des Arguments darin, dass illokutionärer und propositionaler Bestandteil einer Äußerung pragmatisch verwoben sind. Dies bedeutet, dass die pragmatischen Restrukturierungen von Handlungssituationen durch Äußerungen einerseits und die Gehalte des in den Äußerungen Gesagten andererseits wechselseitig aufeinander verweisen und explizit in die Interaktion eingespeist werden. Die theoriearchitektonisch spannende Frage, wie sich Sagen und Tun zueinander verhalten – gibt es Sagen, das kein Tun ist und umgekehrt? Ist das eine eine Sonderform des anderen? usw. – übergehen wir im Rahmen dieser Rekonstruktion zunächst und kommen lediglich an solchen Punkten darauf zu sprechen, wo es für die Thematik der vorliegenden Untersuchung relevant ist. Siehe dazu in erster Linie unten, Kap. 2.2: Exkurs: Diskurstheorie und Intransparenz von Sprache und Schrift, S. 56ff. Austin 1980. Habermas 1992, S. 80. Vgl. auch Habermas 1987a, S. 374–376 und S. 433.
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2 Jürgen Habermas’ Rechtstheorie und die Lebenswelt
Für eine Handlungstheorie lohnt es sich dennoch, dieses Problem zu bearbeiten, denn insofern Sprechakte einen performativen Sinn haben, der sie mit einem Moment intersubjektiver Rationalität verbindet, erscheint es ja sehr attraktiv, sprachlich vermittelten Interaktionen eine besondere Rolle in der Handlungstheorie zuzumessen.8 Im Rahmen der handlungstheoretischen Architektur der Theorie des kommunikativen Handelns werden Sprechakte mit ihrem Bezug zu intersubjektiver Rechtfertigungs-, und das heißt Verständigungspraxis, also als wesentlicher Bestandteil eines bestimmten Handlungstypus vorgestellt. Während Handlungen im Allgemeinen, und die üblicherweise als paradigmatisch angesetzten zweckrationalen Handlungen im Besonderen keine spezielle Affinität zu jener intersubjektiven und rationalisierenden Dimension von Sprechakten haben, kann Habermas einen Handlungstypus bestimmen, bei dem sich dies anders verhält: Kommunikatives Handeln beschreibt ein zweckorientiertes Handeln, das einen Zustand der Welt herbeizuführen beabsichtigt, der sich nur kooperativ, nämlich durch das Einverständnis der Interaktionspartner herbeiführen lässt, und welches zur Erzielung dieses Zweckes die über die illokutionäre Dimension eines Sprechaktes erschlossene intersubjektive Sprach- und Rationalisierungspraxis mobilisiert. *** Kehren wir zurück zum Problem des unbedingt vorauszusetzenden, aber nicht feststellbaren Wissens um den Kontext der Äußerungen: Im Anschluss an die Phänomenologie argumentiert Habermas, dass jede Handlung auf einer langen Reihe von Überzeugungen fußt, die gar nicht alle explizit gewusst werden müssen. Durch die jeweilige Handlungssituation ergibt sich zwar ein jeweils bestimmter Horizont von (mit-)thematisierten Überzeugungen, jedoch müssen und können auch außerhalb jenes Horizonts liegende Gewissheiten angenommen werden, deren mangelnde Gegenwärtigkeit Teil einer speziellen Charakteristik ist, welche eine komplementäre Leistung ermöglicht. Sie bringen sich mit einer fraglosen Vertrautheit zur Geltung, übernehmen die Gewähr für die Gemeinsamkeit der intersubjektiv geteilten Welt und müssen als Totalität verstanden werden, d. h. als intern unauflöslich verknüpfter Zusammenhang, aus dem einzelne Elemente gar nicht thematisierbar sind (ohne dadurch aus dem Zusammenhang komplett herauszufallen und so auch ihren Geltungssinn radikal zu verändern).9 Die Leistung der Lebenswelt erscheint bei näherer Betrachtung durchaus ambivalent: So fungiert sie einerseits als eine Ressource, nämlich als Reservoir von Gewissheiten, durch welche die Akteure in die Lage versetzt werden, sich überhaupt mit einem speziellen Problem – und nicht etwa mit „allem“ – auseinanderzusetzen. Denn nur vor dem Hintergrund einer im großen und ganzen 8
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Und dies gilt in der Folge dann auch für die Gesellschaftstheorie, die sich dafür interessiert, wie sich soziale Ordnung herausbildet. Insofern es auch andere Interaktionsweisen und andere Mechanismen der Ordnungsbildung und -stabilisierung gibt, müsste es dann gelten, deren Rationalität, das Verhältnis der verschiedenen Integrationsmechanismen zueinander und ihr jeweiliges Gewicht zu untersuchen. Offensichtlich ist dies genau das Programm, das Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns bearbeitet. Vgl. Habermas 1987b, S. 198–202.
2.1 Die Lebenswelt zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive
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unproblematischen Lebenswelt können die Akteure sich darauf beschränken, ein einzelnes Problem zu bearbeiten. Darüber hinaus kann die Lebenswelt als intersubjektives Reservoir solcher Gewissheiten die Risiken intersubjektiv divergierender Situationsdeutungen zunächst ausblenden, und sie selbst im Falle einer unumgänglichen kooperativen Neudefinition der Situation enorm abfedern.10 Andererseits stellt die Lebenswelt, da sie „von einem partikularen, jederzeit erweiterungsfähigen kulturellen Wissensvorrat abhängt und mit ihm variiert,“11 auch eine Beschränkung der Optionen für die Akteure dar, die Situation, ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten und sich selbst zu verstehen. Diese Partikularität des lebensweltlichen Sinnzusammenhangs im Ganzen kann – anders als diejenige einzelner Elemente, welche im Lichte einer aktuellen Handlungssituation durchaus als jeweils fragwürdige erkannt, thematisiert und ggf. „umdefiniert“ werden können – aufgrund seiner eigentümlichen „Halbtranszendenz“12 überhaupt nicht durch die Akteure problematisiert werden.13 Darin besteht ja gerade eine Besonderheit der Lebenswelt, dass uns ihre Partikularität nicht in einer Problematisierung zugänglich ist, sondern uns allenfalls in ihrem – von uns nicht in die eigene Regie zu nehmenden – „Zusammenbrechen“ und „Zerfallen“ entgegentritt.14 Dennoch zeichnet sich bereits deutlich die Spannung ab, die zwischen der vermeintlich unreflektierbaren Partikularität der Lebenswelt und der Universalisierungstendenz der kommunikativen Rationalität besteht, welche über die je konkreten Zusammenhänge, in denen sie doch ihren Ausgang nimmt, hinaus schießt.
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Vgl. etwa ebd., S. 188–192. Ebd., S. 202. Ebd., S. 190. Vgl. ebd., S. 191f. Vgl. ebd., S. 198–201. Diese Auffassung müsste allerdings genauer ausgeführt werden, angesichts von relativ bewussten Alteritätserfahrungen, wie sie etwa im Erlernen anderer Sprachen, in der Auslegung literarischer, geschichtswissenschaftlicher oder ethnologischer Eindrücke gemacht werden. Ohne Weiteres könnte allenfalls zugestanden werden, dass in diesen Erfahrungen die Partikularität der eigenen Lebenswelt nur spürbar, nicht aber explizier- und problematisierbar wird. Eine entsprechende Diskussion findet sich etwa in Habermas 1991, S. 209–218. Darauf kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen werden. Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass der Charakter der Lebenswelt immer noch nicht hinreichend geklärt ist: Handlungstheoretisch hatten ja die lebensweltlichen Gewissheiten die Lückenhaftigkeit jeder Vergegenwärtigung des Handlungskontexts kompensieren und so eine koordinierende Interaktion ermöglichen sollen. Diese Spannung zwischen Gegenwart und Entzogenheit bleibt jedoch, wie wir im nächsten Abschnitt noch genauer sehen werden, auch nach der sprachphilosophischen Wende weiter kritisch. Die „grammatische Regelung“ und „sprachliche Organisation“ der lebensweltlichen Bedeutungszusammenhänge erledigt ja nicht das Problem des strukturellen Entzugs des Kontexts, und sie erklärt auch nicht, wie jene Zusammenhänge die Interaktion abstützen, ohne dabei explizit sein zu müssen.
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2 Jürgen Habermas’ Rechtstheorie und die Lebenswelt
2.1.2 Sprachphilosophisch gewendeter Lebensweltbegriff 2.1.2.1 Sprachphilosophische Transformation und Eröffnung der Spezifikationsfähigkeit Im Zuge der von ihm beschworenen sprachphilosophischen Wende unternimmt es Habermas, den (sozial-)phänomenologischen Lebensweltbegriff zu transformieren, indem er diesen nicht mehr nach dem („bewusstseinsphilosophischen“) Modell des impliziten Wissens eines Aktors vorstellt, sondern durch einen kulturell überlieferten und sprachlich organisierten Vorrat an Deutungsmustern repräsentiert [denkt]. Dann braucht die Rede von einem Verweisungszusammenhang, der die Situationsbestandteile untereinander und die Situation mit der Lebenswelt verbindet, nicht mehr im Rahmen einer Phänomenologie und Psychologie der Wahrnehmung erklärt zu werden. Verweisungszusammenhänge lassen sich vielmehr als Bedeutungszusammenhänge begreifen, die zwischen einer gegebenen kommunikativen Äußerung, dem unmittelbaren Kontext und ihrem konnotativen Bedeutungshorizont bestehen. Verweisungszusammenhänge gehen auf grammatisch geregelte Beziehungen zwischen Elementen eines sprachlich organisierten Wissensvorrats zurück.15
Besonders einfach, und dies ist ein zentraler Punkt der vorliegenden Untersuchung, stellen sich aber diese Elemente und ihre Beziehungen dadurch nun noch nicht dar; vielmehr muss in ihrer Analyse die Wiederkehr jener speziellen Charakteristik der Lebenswelt festgestellt werden: Habermas folgt Searle16 in der Beschreibung des den Sinn der einzelnen Sprechakte mitbestimmenden und unverzichtbaren, aber auf ganz eigene Weise unbestimmbaren Hintergrundkontexts von Äußerungen als einer Reihe von Bedingungen, die nicht beliebig problematisiert oder thematisiert werden können, die in ihrer Gänze nur implizit bleiben können, holistisch strukturiert sind und wechselseitig aufeinander verweisen.17 Entsprechend sind die angeführten Argumente zur „Halbtranszendenz“ eigentlich bereits explizit auf den „internen Zusammenhang zwischen Strukturen der Lebenswelt und Strukturen des sprachlichen Weltbildes“18 bezogen. 15 Habermas 1987b, S. 189f. An diversen Punkten setzt sich Habermas von der darin möglicherweise nahegelegten „kulturalistischen“ Sichtweise ab, derzufolge der Vorrat an Deutungsmustern die anderen Strukturmomente der Lebenswelt dominiert oder gar determiniert. Vgl. etwa ebd., Kap. VI.1. Diese Abgrenzung braucht uns nicht eigens zu interessieren, zur Auszeichnung der verschiedenen Strukturmomente siehe auch weiter unten, S. 28. 16 Searle 1982c. 17 Habermas 1987a, S. 449–452. Habermas spricht an dieser Stelle dann doch von Wissen, nicht von Bedingungen oder Sätzen. Um der Radikalität der kommunikationstheoretischen Transformation gerecht zu werden, habe ich diesen Begriffsgebrauch zugunsten einer vielleicht etwas weniger „bewusstseinsphilosophischen“ Rede von Bedingungen abgewandelt, welche m. E. in einem Bedeutungszusammenhang zu suchen sind, der seinerseits als ein Netz aufeinander bezogener kommunikativer Handlungen zu verstehen ist, und entsprechend Bedeutung in verschiedenen Dimensionen – nicht nur der von Deutungsmustern und kulturellem Wissen – besitzt. (Vgl. auch Habermas 1989c, 48f.) Aus dem weiteren Argumentationsverlauf und anderen Zitaten geht m. E. hervor, dass das durchaus der Habermas’schen Intention entspricht. Zur Einführung dieser Erweiterung der formalpragmatischen Sprechaktanalyse um den Bezug auf lebensweltliche Kontexte vgl. Habermas 1989b, S. 550f. 18 Habermas 1987b, S. 190f.
2.1 Die Lebenswelt zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive
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Einerseits eröffnet sich durch dieses Verständnis der Lebenswelt im Sinne eines Bedeutungszusammenhangs von Äußerungen (und weder im Sinne eines psychologisch zu erschließenden impliziten Handlungswissens der Akteure, noch im Sinne eines den Akteuren äußerlichen und von ihnen unabhängigen, sie vielleicht gar determinierenden Systems symbolischer Gebilde19 ) die Möglichkeit einer sozialwissenschaftlichen Fragestellung, die „nicht nur symbolische Gebilde wie sprachliche Äußerungen und Handlungen, sondern zugleich die sprach- und handlungsfähigen Subjekte selber, die im Medium umgangssprachlicher Kommunikation herangebildet werden“,20 thematisieren kann; andererseits bleibt das soziologisch eigentlich interessante Problem, die Partikularität der Lebenswelt, ihre Struktur im Ganzen und deren Dynamik21 so auch nach der kommunikationstheoretischen Reformulierung dieses Begriffs zunächst immer noch unzugänglich für die Theorie: Der bisher erörterte kommunikationstheoretische Begriff der Lebenswelt ist zwar der Bewußtseinsphilosophie entwachsen, liegt aber immer noch auf der gleichen analytischen Ebene wie der transzendentale Lebensweltbegriff der Phänomenologie. Er wird auf dem Wege der Rekonstruktion eines bei kompetenten Sprechern angetroffenen vortheoretischen Wissens gewonnen: aus der Perspektive von Teilnehmern erscheint die Lebenswelt als horizontbildender Kontext von Verständigungsprozessen, der, indem er den Relevanzbereich der jeweils gegebenen Situation begrenzt, der Thematisierung innerhalb dieser Situation entzogen bleibt. Der aus der Teilnehmerperspektive entwickelte kommunikationstheoretische Begriff der Lebenswelt ist nicht unmittelbar für theoretische Zwecke brauchbar, er eignet sich nicht zur Abgrenzung eines sozialwissenschaftlichen Objektbereichs, also derjenigen Region innerhalb der objektiven Welt, die die Gesamtheit der hermeneutisch zugänglichen, im weitesten Sinne historischen oder soziokulturellen Tatsachen bildet.22
Da der Lebensweltbegriff in der Rekonstruktion der Perspektive der Handelnden erarbeitet wurde, und da diese Perspektive einen kognitiven Zugriff auf die Lebenswelt nur jeweils sektoriell vorsieht, bzw. da genau dasjenige als Lebenswelt bezeichnet wird, was jeweils gerade jenseits des aktuellen Situationshorizonts liegt (und nur daraus seine Unbezweifelbarkeit bezieht, die eine handlungsermöglichende Bedingung ist), muss ohnehin mit weiteren Begründungsschritten gerechtfertigt werden, inwiefern ein wissenschaftlich distanzierender Zugriff auf jene „Region innerhalb der objektiven Welt, die die Gesamtheit der hermeneutisch zugänglichen Tatsachen bildet“ dem strukturellen Bruch im Innern dieser Region Rechnung tragen kann. Habermas führt dazu neben der Perspektive der kommunikativ Handelnden die Perspektive von Sprechern ein, die einander Erzählungen präsentieren, narrative Darstellungen dessen, was sich im Kontext ihrer Lebenswelt zuträgt. Die Narration 19 Wie schwierig sich die Distanzierung von letzterem, also von einem von den Akteuren unabhängigen System symbolischer Gebilde, ausnehmen muss, wird uns noch im Zusammenhang mit der Frage der Relevanz der Intentionen von Sprechern für die Bedeutung der Sprechakte, und weiter in der Diskussion der Habermas’schen Abgrenzung von Derridas Dekonstruktion beschäftigen müssen. Siehe unten, S. 32ff, S. 53 und Kap. 2.2: Exkurs: Diskurstheorie und Intransparenz von Sprache und Schrift, S. 56ff. 20 Habermas 1989c, S. 28. 21 Vgl. zu dieser Aufstellung der Habermas’schen Theorie ebd., S. 11–30. 22 Habermas 1987b, S. 205f.
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2 Jürgen Habermas’ Rechtstheorie und die Lebenswelt
macht darauf aufmerksam, dass sprachliches Handeln nicht nur der Koordination von Handlungen dient, sondern auch der Objektivierung der Zugehörigkeit von Sprecher und Hörer zur jeweiligen Lebenswelt, der Beschreibung von Zuständen und Ereignissen in der Welt, der Sequenzialisierung von Interaktionen usw.23 Nun stellt sich zwar die Bezugnahme der Akteure auf die Lebenswelt in den Erzählungen immer noch als eine auf jeweils einzelne Elemente dar, nicht auf die Lebenswelt im Ganzen; die „Grammatik“ dieser Bezugnahmen weist jedoch darauf hin, dass die Anschlussfähigkeit der einzelnen Elemente an andere Erzählungen und an die Lebenswelt im Ganzen in der Narration reflektiert sind. Sie kann uns so darüber belehren, dass es einen Modus des Sprachhandelns gibt, in dem die Sprecher in ihren Bezugnahmen auf einzelne Begebenheiten einen kognitiv zugänglichen intersubjektiven Rahmen voraussetzen und in Anschlag bringen, der der Lebenswelt im Ganzen entspricht. Damit ist, so Habermas, die Lebenswelt hinter dem Rücken der Akteure hervorgeholt, nicht mehr prinzipiell ihrer Einsicht entzogen und kann vielleicht in gewissem Maße über eine Analyse grundlegender Sprachfunktionen erschlossen werden.24 Jedenfalls stellt sie sich als ein unübersichtliches Reservoir von sprachlich strukturierten Gewissheiten, Normen und Kompetenzen dar, die zwar in der Regel und im Großen und Ganzen unausgesprochen bleiben, im Einzelnen jedoch, je nach Handlungssituation „beliebig thematisierungsfähig“, d. h. durchaus subjektiv anzueignen sind und den Akteuren in ihren Orientierungs- und Konstruktionsleistungen als Mittel zur Verfügung stehen.25 Die Grammatik von Narrationen transformiert also die Transzendenz der Lebenswelt von einer strukturellen Alterität, wie sie die Grammatik der Handlungssituation noch vorsah, in eine nurmehr je momentane und nur sektorielle Nicht-Thematisierung.26
23 Vgl. Habermas 1987b, S. 206f. 24 Vgl. ebd., S. 206–209. Anders als Habermas dort erklärt, scheint mir übrigens diese Analyse keine bloße „Umarbeitung“ des im Anschluss an Danto (1974) gewonnenen narrativen Lebensweltkonzepts, sondern eine konstruktive Leistung eigenen Rechts zu sein. 25 Vgl. Habermas 1989a, S. 589–593. 26 Wie wir noch sehen werden, ist dieses Motiv allerdings wiederum mit eigenen Engpässen verbunden. So kann sich Habermas mit dem Wechsel zur narrativen Perspektive nicht mehr darauf berufen, dass die Interaktionsteilnehmer um des Erfolgs ihrer kommunikativen Handlungskoordination willen eine Eindeutigkeit und Transparenz des Systems sprachlicher Bedeutungen unterstellen müssen. Und damit ergibt sich die Frage, ob nicht gerade in dem Moment, in dem eine Objektivierung und diskursive Aneignung der Lebenswelt in Reichweite rückt, doch wieder eine stärkere Transzendenz der Lebenswelt im Sinne eines unkontrollierbaren, undurchsichtigen weltlichen Korrelats der subjektiv-intentionalen Operationen Einzug hält. Die aus einer phänomenologisch-ontologischen Perspektive inspirierten Zweifel, denen zufolge die Operationen „immer schon“ in der Welt verortet sind, und diese sich durch jene immer nur tentativ und regional bekräftigen und explizieren lässt, aber zugleich als sinnvolles, sinnstiftendes „Außen“ einen Überschuss und sogar eine gewisse Gewalt über die (narrativen) Interpretations-, Orientierungs- und Konstruktionsleistungen hat, dieser Zweifel ist noch nicht ausgeräumt. Die Habermas’sche Auseinandersetzung mit der Rolle der Rhetorik führt genau in dieses Problem zurück; vgl. u., Kap. 2.2: Exkurs: Diskurstheorie und Intransparenz von Sprache und Schrift, S. 56ff.
2.1 Die Lebenswelt zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive
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2.1.2.2 Formalpragmatik und Genese von Lebensweltstrukturen An diesem Punkt einer Eröffnung der detaillierten Analyse von Lebensweltstrukturen verweist Habermas auf seine zuvor geleistete Mead-Rekonstruktion. Die damit angesprochene (onto- und phylo-)genetische Argumentation, in der neben George Herbert Mead auch Émile Durkheim diskutiert wird, mag, wie so viele Ursprungserzählungen, eine gewisse Skepsis wecken, welche sich aus Vorbehalten gegenüber Naturalismus und Geschichtsphilosphie speist. Jedoch täuscht diese Skepsis darüber hinweg, dass jene Vorbehalte vielleicht ins Leere gehen, dass nämlich die Hauptlast der Begründung von Habermas’ Begriff der propositional ausdifferenzierten Sprache getragen wird. Sieht man sich die Argumentation genau an, so zeichnet Habermas in ihrem Verlauf drei Momente – den intersubjektiv-reflexiven Handlungscharakter, die dezentrierende Perspektivenstruktur und die Sonderrolle assertorischer Sätze – jener hochentwickelten Sprache aus, die er aus einer formalpragmatischen Analyse im Anschluss an Mead und Austin gewinnt. Der Durchgang durch die Entwicklungsgeschichte menschlicher Kommunikations- und Interaktionsformen im Anschluss an Mead und Durkheim dient dann eher dazu, gleichsam Fleisch an dieses Gerippe zu bringen, die Struktur-Momente der Sprache zu materiellen Struktur-Elementen der Lebenswelt auszubauen. Entsprechend kann die Besprechung Meads eingeordnet werden:27 Zwar verfüge dieser über einen kommunikationstheoretischen Begriffsapparat, was sich z. B. darin äußere, dass seine Wiedergabe von Individuierungsleistungen sich nicht, wie bei Durkheim, von der Gesellschaft ab- und dem Leib zuwenden muss, sondern sprachund d. h. sozial-zentriert bleiben kann.28 Allerdings habe er „der propositionalen Struktur der Sprache keine Aufmerksamkeit geschenkt“,29 und so übersehen müssen, dass sich in ihr drei sprachimplizite Weltbezüge ausdifferenzieren, denen drei verschiedene Geltungsansprüche entsprechen. Erst deren theoretische Würdigung wird der mehrdimensionalen Rationalität der kommunikativen Reproduktion der Lebenswelt gerecht. Mead habe sich auf die Begriffe der sozialen Rolle und der Identität konzentriert,30 dort aber letztlich ein „sozialpsychologisches“31 Vorgehen wählen müssen. Den bindenden Charakter der normativen und sozialisatorischen Leistungen der Sprache könne Mead so nur nach dem Muster der Internalisierung, nicht aber nach dem der rational motivierten Zustimmung erklären. Dazu bedürfte es nämlich eines Begriffes davon, wie die Verhandlung ausdifferenzierter Geltungsansprüche mit einer argumentativen Rechtfertigungspraxis verknüpft ist, und inwiefern auch die Geltungsansprüche des expressiven und des normativen Sprachgebrauchs wahrheitsanalog, d. h. diskutabel und konsensfähig, nur in bestimmten Hinsichten und nur mit Gründen zurückweisbar sind.32 27 28 29 30 31 32
Habermas bezieht sich vor allem auf Mead 1969. Vgl. Habermas 1987b, S. 93–95. Ebd., S. 48. Ebd., S. 47. Ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 45f.
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2 Jürgen Habermas’ Rechtstheorie und die Lebenswelt
Interessanterweise – oder zwangsläufig – bleibt das ansonsten komplementäre Argument Émile Durkheims nach Habermas’ Verständnis in dieser Frage an einer entsprechenden Stelle stecken.33 Zwar habe Durkheim das Verdienst, die „vorsprachliche“ symbolische Natur des Kollektivbewusstseins und damit die Geltungsquelle des Normbewusstseins expliziert zu haben, für die Erklärung des von ihm ganz richtig konstatierten historischen Wandels von religiösem Symbolismus über mythische hin zu modernen Weltbildern fehle ihm allerdings das begriffliche Instrumentarium. So müsse er erstens übersehen, wie sich innerhalb des kollektiven Interaktionsrepertoires mit der Herausbildung von Objektwahrnehmung und teleologischem (gar strategischem) Handeln ein Bereich profanen Alltagshandelns und von korrespondierenden „Aussage- und Absichtssätzen“ ausdifferenziert, der den Bedarf an Bindungsenergien und gesellschaftlicher Handlungskoordination erhöht und zugleich nicht selbst decken kann, der insofern einen davon unterschiedenen sakralen Bereich ernötigt, in dem auf rituelle Weise ein normativer Konsens gesichert werden kann.34 Dass Durkheim diesen systematischen Grund für die von ihm ja dennoch richtig erkannte und untersuchte Entwicklung der „Autorität des Heiligen“ nicht sehe, sei zu verschmerzen. Schwerer wiege da, dass er zweitens nicht begreifen könne, wie sich in jenem profanen Bereich der Alltagskommunikation und des Alltagshandelns die Kommunikationsmuster weiter rationalisieren (die Geltungsansprüche der drei kommunikativen Grundmodi differenzieren sich aus), was auch die religiöse Kommunikation unter Druck setzt. Sobald nämlich der sakrale Bereich nicht nur aus kultischen Handlungen, sondern auch aus Institutionen besteht, die dem rituell etablierten normativen Grundkonsens bei wachsender gesellschaftlicher Komplexität in vielfältige Bereiche hinein Wirksamkeit verleihen, muss ein legitimatorischer „Transmissionsriemen“ zwischen Kult und Institutionen einerseits, zwischen Institutionen und Situationen des Alltagshandelns andererseits etabliert werden, der des letzteren wegen an die inzwischen differenzierte Alltagssprache angeschlossen werden muss. Als solcher fungieren, wie Durkheim richtig feststelle, die differenzierten Weltbilder. Durch deren sprachliche Artikulation müssen an ihnen allerdings die – bereits virtuell konkurrierenden – Momente der Form eines intersubjektiv anerkannten Wissens mitsamt der darin beschlossenen Normativität einerseits und der Explikation einer in ritueller Praxis, also anderweitig konstituierten und gegenwärtigen Autorität andererseits unterschieden werden.35 Drittens schließlich fehle Durkheim der Blick dafür, dass sich über den verbindlichen Charakter des intersubjektiv geteilten Wissens hinaus in dessen kommunikativer Produktion eine normative Geltungsbasis etabliert, die auf dem rational motivierten normativen Einverständnis der Betroffenen beruht. Vergegenwärtigt man sich hingegen mit Habermas die „allgemeinen Strukturen sprachlicher Verständigung“, so erhellen sich nicht nur die komplementären blinden Flecken der beiden besprochenen Klassiker, sondern die Diskussion kann der an ihren jeweiligen Antworten haftenden „Metaphorik“ entkleidet werden.36 Kann man 33 34 35 36
Der Text, der im Vordergrund der Habermas’schen Rekonstruktion steht ist Durkheim 1981. Vgl. Habermas 1987b, S. 86f. Vgl. ebd., S. 89f. Ebd., S. 95 bzw. 97ff.
2.1 Die Lebenswelt zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive
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nämlich voraussetzen, dass die Sprache die Entwicklungsstufe grammatischer Rede erreicht hat, d. h. dass sie als unabhängige, jeweils einzeln bestreitbare Komponenten einer jeden Sprechhandlung den propositionalen, den illokutionären und den expressiven Gehalt ausdifferenziert hat, so sieht man, dass „die aus der Verhaltensforschung bekannten vorsprachlichen Korrelate“37 der Handlungs-Weltbezüge sich im Rahmen dieses Modells als Zusammenhänge von Sprechakten unter jeweils bestimmten Hinsichten formulieren lassen: Wahrnehmungen und Vorstellungen nehmen ebenso wie das adaptive Verhalten propositionale Struktur an. Die rituell erzeugte Solidarität, die Verpflichtungen gegenüber dem Kollektiv werden aufgespalten in die intersubjektive Anerkennung bestehender Normen einerseits, in normenkonforme Handlungsmotive andererseits. Die spontan auftretenden leibgebundenen Expressionen verlieren, wenn sie durch sprachliche Äußerungen ersetzt oder durch sie interpretiert werden, ihre Unwillkürlichkeit.38
Die Strukturanalyse assertorischer und überhaupt propositional strukturierter Sätze wird also im Hinblick auf die Herausbildung einer Entsprechung zu vorsprachlichen Kognitionen gebündelt, die intersubjektive Pragmatik normativer Sprechhandlungen im Hinblick auf die Herausbildung einer Entsprechung zu vorsprachlich wirksamen Obligationen und die Semantik expressiver Sprechakte bzw. des Systems der Personalpronomina im Hinblick auf die Herausbildung einer Entsprechung einer vorsprachlich zu verstehenden Subjektivität. In dieser Bündelung ergibt sich die Möglichkeit, Zusammenhänge von Sprechakten unter Konzentration auf jeweils eines dieser Momente als weltliches Korrelat von Interaktionszusammenhängen zu verstehen. Habermas führt diesen Gedanken näher aus und kommt auf weitere Aspekte zu sprechen: a) Zunächst demonstriert er, in welcher Weise dem assertorischen Modus eine privilegierte Stellung zukommt.39 Der Kern dieses Privilegs beruht auf dem per37 Ebd., S. 99. 38 Ebd., S. 99. Vgl. dazu auch das „Gedankenexperiment“ ebd., S. 135–139: a) Aus praktischem Wissen und den kognitiven, normativen und expressiven Erfahrungsgehalten der Alltagspraxis kann sich ein propositional strukturierter Korpus überlieferten, überlieferungsfähigen und -bedüftigen kulturellen Wissens konstituieren, da mit der sprachlichen Erschließung jenes praktischen Wissens und jener Erfahrungsgehalte deren semantischer Gehalt einer Übersetzung in propositionale Form bzw. in die Form der Proposition eines assertorischen Satzes offen steht. b) Mit den illokutionären Kräften der Sprache konstituiert sich zweitens ein Geltungsbegriff, der unabhängig von demjenigen der „paläosymbolisch“ verankerten Autorität des Heiligen funktioniert und den Sprechern so auch eine normative Distanzierung von der Tradition und die Konstruktion von Institutionen, die ihre Verbindlichkeit der diskursiv hergestellten rational motivierten Anerkennung verdanken, erlaubt. c) Schließlich stellt das System der Personalpronomina einen Einsatzpunkt für einen der Sprache eigentümlichen Mechanismus der Herausbildung von Persönlichkeitsstrukturen dar. Es bezieht sich nämlich in zwei einander überlagernden Bedeutungen auf „das in Subjektausdrücken der performativen Sätze auftretende Personalpronomen der ersten Person“ (ebd., S. 138), so dass die kommunikativ Handelnden sich als Mitglied einer sozialen Gruppe verstehen können, in der ihnen jeweils (nur) ganz bestimmte Rollen verfügbar sind, und zugleich als Sprecher, die sich in expressiver Einstellung auf Momente einer davon verschiedenen, nur je ihnen privilegiert zugänglichen Innenwelt beziehen (Vgl. dazu auch ebd., S. 92–94). 39 Ebd., S. 101–103.
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spektivenwechselnd erlernten System der kommunikativen Rollen von erster, zweiter und dritter Person – dieses System erlaubt es nämlich nach Habermas, über die pragmatischen Voraussetzungen von nicht-assertorischen Sprechakten auf diejenigen von assertorischen Sprechakten desselben semantischen Gehalts zu schließen, und somit aus einem Verständnis von illokutionären und expressiven Sprechhandlungskomponenten ein Verständnis objektiver (inter- oder intra-subjektiver) Gegebenheiten zu konstruieren (welches in einem assertorischen Satz ausgedrückt werden kann). In diesem Sinne ist die „propositional ausdifferenzierte Sprache [. . .] so eingerichtet, daß alles, was sich überhaupt sagen lässt, auch in assertorischer Form gesagt werden kann.“40 Einen Satz zu verstehen heißt eben auch, zu verstehen, unter welchen Bedingungen der Satz in der Perspektive der ersten und der dritten Person bzw. als assertorischer Satz, geäußert werden kann.41 Um die Erfahrungen herum, die Sprecher und Hörer mit der natürlichen Welt, mit der Gesellschaft und mit ihrer jeweils eigenen Subjektivität machen, und mit dem Verständnis der Sprechhandlungen, in denen sich diese Erfahrungen äußern, unauflöslich verbunden, bildet sich so ein Vorrat mindestens impliziter assertorischer Sätze, die den semantischen Gehalt aller dieser Erfahrungen konservieren. Zugleich können diese Sätze sich aber aus der Verklammerung mit den illokutionären und expressiven Sprechhandlungskomponenten (und den damit verbundenen anspruchsvollen Auflagen an Sprecher und Hörer) lösen und sich als kulturelles Wissen unabhängig von der Verwobenheit in die kommunikative Alltagspraxis tradieren.42 b) Die formalpragmatische Perspektive ermöglicht es, aus der illokutionären Kraft der Sprechakte einen Begriff kritisierbarer Geltungsansprüche zu entwickeln: Die besondere illokutionäre Kraft des Sprechaktangebots beruht, so kann gezeigt werden, nicht nur auf der durch die Handlung angesprochenen Konvention, d. h. auf dem vorgängig konsentierten normativen Kontext der Sprechhandlung, sondern ganz wesentlich auch darauf, dass die Akzeptanz des Sprechakts durch den Hörer vom Sprecher beansprucht wird. In diesem Sinne vollziehen die Kommunikationspartner mit einem Sprechakt nicht nur eine konventionell definierte Handlung, sondern sie eröffnen ein besonderes, intersubjektives Verhältnis zum propositionalen Gehalt des Sprechakts selbst. Wird der mit konstativen Äußerungen verbundene Anspruch 40 Habermas 1987b, S. 103. 41 Vgl. dazu z.B. Habermas 1987a, S. 420–423. Habermas hebt hervor, dass es für die bedeutungskonservierende Transformation der nicht-assertorischen Sprechhandlungskomponenten (also nicht-assertorische illokutionäre und expressive Komponenten) in die Proposition eines assertorischen Sprechakts „wichtig [ist], daß die illokutionären und expressiven Bestandteile schon propositional durchstrukturiert sind.“ (Habermas 1987b, S. 103) Offenbar, so müsste das Argument lauten, lassen sich die mit diesen Bestandteilen verknüpften pragmatischen Voraussetzungen nur insoweit sicher feststellen, wie diese Bedingung vorliegt. Wir kommen darauf zurück. Habermas geht aber davon aus, dass diese Voraussetzung in der Tat unproblematisch als erfüllt anzunehmen sei, da sich ja „performative und expressive Sätze [. . .] nach dem Schema der Zusammensetzung von Ausdrücken für Gegenstände und Prädikate, die Gegenständen zuoder abgesprochen werden, analysieren [lassen].“ (Ebd., S. 103) 42 Natürlich werden sie in kommunikativer Alltagspraxis tradiert, aber ihr Gehalt hat sich, so das Argument, vom Überlieferungsvorgang selber gelöst.
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in diesem Sinne gelesen, dann verbindet sich der Ausdruck einer „Korrespondenz von Satz und Tatsache“ mit dem „Anspruch auf intersubjektive Geltung einer entsprechenden deskriptiven Aussage“,43 und man kann von einem kritisierbaren Geltungsanspruch reden, da der propositionale Gehalt und seine Zustimmungsfähigkeit als eine Behauptung über die Welt objektiver Tatsachen zugleich thematisiert werden. Insofern auch in allen anderen modusspezifischen Fällen der mit der illokutionären Sprechhandlungskomponente erhobene Gültigkeitsanspruch „in Analogie zum Wahrheitsanspruch interpretiert werden kann“,44 welcher seinerseits „nur in der Rolle eines Proponenten, und das heißt mit der Bereitschaft [. . .], ‚p‘ gegen die Einwände von Opponenten zu verteidigen“,45 geäußert werden kann, wird es möglich, die mit den Sprechakten aller Modi verbundenen Ansprüche als Zustimmung beanspruchende und (in je spezifischer Weise) auf Begründungen abzielende, also kritisierbare Geltungsansprüche zu verstehen. In dem Moment, in dem der Sprecher mit seinem Sprechaktangebot in dieser Weise „explizit“46 spezifische Geltungsansprüche erhebt, also die beanspruchte Zustimmungsfähigkeit seiner Äußerung selbst in den Gesprächsverlauf einspeist, wird den Hörern automatisch die Möglichkeit eingeräumt, dieses Angebot abzulehnen – indem sie eben einen der erhobenen Ansprüche zurückweisen. Dann stellt ein explizites Einverständnis, ja a limine selbst ein Ausbleiben von Negationen eine Bestätigung des Sprechakts in allen möglichen Gültigkeitshinsichten (der propositionalen Wahrheit, der normativen Richtigkeit und der subjektiven Wahrhaftigkeit) zugleich dar.47 Und diese mehrdimensionale Bestätigung einer dreistelligen Relation (Sprecher – Hörer – Welt) bedeutet die Übernahme der aus dieser Relation in ihren verschiedenen Hinsichten resultierenden Handlungsverpflichtungen durch die Interaktionsteilnehmer.48 Auf der anderen Seite ist es nun möglich, das Einverständnis mit der Äußerung und die Übernahme der Handlungsverpflichtungen nicht mehr als Internalisierung oder als Zwang (etwa einer symbolischen Autorität) zu verstehen, sondern als bewusste Zustimmung, die durch die angebotenen Gründe, oder zumindest durch das Angebot des Sprechers, Gründe nachzuliefern, rational motiviert ist. In der Verschränkung der illokutionären Kraft von Sprechakten als solchen mit wahrheitsanalogen Geltungsansprüchen wird einerseits deutlich, wie im gelingenden kommunikativen Handeln über die synchrone Anerkennung der diversen Geltungsansprüche die verschiedenen Weltbezüge „in einem Zug“ aktualisiert und die verschiedenen Komponenten des lebensweltlichen 43 44 45 46 47 48
Habermas 1987b, S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 109. Ebd., S. 112. Vgl. ebd., S. 113f. Die Interaktionsteilnehmer haben ja ihre Zustimmung zu denjenigen normativen Verhältnissen signalisiert, in denen die ursprüngliche Äußerung in jeder Hinsicht gültig war. Entsprechend kann von ihnen fortan die Befolgung der durch diese Verhältnisse definierten Normen gefordert werden. Ähnliches gilt für die Anerkennung der Wahrheit der deskriptiven Aussagen, die mit dem ursprünglichen Sprechakt im- oder explizit untrennbar verbunden gewesen sein müssen, und für die Anerkennung derjenigen (eigenen und fremden) „Befindlichkeiten“, die in der Interaktion (verhandelt) und bestätigt wurden.
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Kontexts reproduziert oder auf differenzierte Weise problematisiert werden können; andererseits wird der Verweis auf die mögliche argumentative Rechtfertigung der erhobenen Geltungsansprüche zum Fundament einer rational motivierten Anerkennung normativer Geltungsansprüche (die mit sakraler Autorität und empirischer, durch Anreiz und Abschreckung motivierenden Bindung konkurriert, aber im Rahmen kommunikativen Handelns grundsätzlich nie gänzlich „ausgeschaltet“ werden kann). Zudem fällt mit der strukturellen Abhängigkeit kritisierbarer Geltungsansprüche überhaupt von der Behauptung propositionaler Wahrheit mittels konstativer Sätze eine weitere, geltungstheoretische Privilegierung des Wahrheitsbegriffes gegenüber den Ansprüchen auf normative Gültigkeit und auf expressive Wahrhaftigkeit ins Auge. Es scheint nämlich nicht möglich, zumindest nicht mit den von Habermas angebotenen argumentativen Ressourcen, die Idealisierung der Zustimmungsfähigkeit eines Sprechakts – und damit den Anspruch des Sprechers an die Hörer, das Sprechaktangebot anzunehmen – aus anderen Motiven als dem Begriff der Wahrheit deskriptiver Sätze zu gewinnen. Zwar erfolgt das Argument nur in der Form eines Analogieschlusses, dennoch liegt die Vorstellung der Abhängigkeit der Ansprüche auf normative Richtigkeit und expressive Wahrheit vom Anspruch auf propositionale Wahrheit nahe. Für den Bereich normativer Gültigkeit kann Habermas später auf den Universalisierungstest kantianischer Art verweisen – doch dieser betrifft nur den Bereich des moralisch Verbindlichen, mithin lediglich eine Teilmenge der Geltungsansprüche auf intersubjektive Gültigkeit und normative Verbindlichkeit. Wir kommen darauf noch zurück.49 c) Was die expressiven Sprechakte und den Begriff zurechnungsfähiger, selbstkritischer Subjekte betrifft, kann Habermas auf zwei verschiedene Momente abheben: So sind zunächst nicht nur expressive Sprechakte ein Ausdruck der Innenwelt eines Sprechers, sondern auch der Modus anderer Sprechakte wird als Repräsentation einer Vorstellung/Überzeugung (im Falle der assertorischen Sprechakte), oder eines Wunsches (im Falle etwa einer Bitte oder eines Befehls), einer Absicht (im Falle eines Versprechens) usw. verstanden. In diesem Falle wird eine Assimilation aller Sprechakte an expressive Äußerungen bzw. von Überzeugungen und Verpflichtungen an subjektiv-emotionale Erlebnisse vorgenommen. Damit eröffnet sich allerdings im Gegenzug die Möglichkeit, auch Überzeugungs- und Verpflichtungsgefühle des Sprechers unter der Hinsicht einer möglicherweise fehlenden Objektivität zu betrachten, also in Betracht zu ziehen, dass die beim Sprecher anzunehmende Intention von der im konventionellen Verständnis des jeweiligen Sprechakts gemeinten Intention abweichen kann. Darauf beruht eine Asymmetrie, die für Habermas in der unterschiedlichen Zugänglichkeit der Innenwelt des Sprechers durch die verschiedenen Sprechaktkomponenten zu suchen ist: Während die Enthüllung einer subjektiven Befindlichkeit durch einen wahrhaftigen expressiven Sprechakt den Schluss auf die Disposition des Sprechers zu anderen, nicht-expressiven Sprechakten ermöglicht, so kann doch nicht umgekehrt von konstativen oder regulativen Sprechakten auf die 49 Vgl. unten, S. 40ff.
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faktische Befindlichkeit des Sprechers geschlossen werden.50 Theoriearchitektonisch wichtiger als diese sprachtheoretische Asymmetrie, die mit der von vornherein in Anspruch genommenen „Wahrhaftigkeit“ des expressiven Sprechakts eine genauere Stellungnahme und Konfrontation mit „aufrichtig“ geäußerten regulativen und konstativen Sprechakten erfordern müsste,51 scheint mir das Moment zu sein, mit dem die (zuvor für die Sprecherperspektive anhand des Systems der Personalpronomina demonstrierte) Spannung zwischen Exklusivität der Innenperspektive der ersten Person Singular und der (gesellschaftlichen) Objektivität der aus dieser Perspektive in die der dritten Person Singular transformierten Sätze nun auch aus der Hörer- und Beobachterperspektive formuliert und auf alle Sprechakttypen ausgedehnt wird. Die genannte Asymmetrie ist dann der Ausdruck dessen, dass sich Innen- und Außenwelt in der Selbstwahrnehmung und in der wechselseitigen Zuschreibung bei allen Interaktionsteilnehmern ausdifferenzieren. Genau dieser Mechanismus der Einstellungsübernahme gewinnt aber auch eine ganz neue Dimension, sobald sich die Interaktionspartner an Geltungsansprüchen orientieren: Auch was ihr Selbstverhältnis angeht, objektivieren die Interaktionspartner nicht nur ihre kommunikative Rolle und subjektivieren ihre inneren Zustände und Erlebnisse, sondern sie orientieren ihr Verhalten darüber hinaus an der antizipierten Bestreitung der erhobenen Geltungsansprüche. Indem sie so die Einstellung eines an Geltungsansprüchen orientierten kommunikativen Gegenübers übernehmen, beurteilen sie ihr eigenes Verhalten hinsichtlich seiner Konsistenz und der möglichen Rechtfertigung, also der Kritisierbarkeit der im- und explizit erhobenen Geltungsansprüche – mit anderen Worten, sie nehmen ein reflektiertes selbstkritisches Verhältnis zu sich selbst ein.52
2.1.2.3 Das Problem des Transzendentalismus Wohl aufgrund einer Unzufriedenheit mit seiner quasi-transzendentalphilosophischen Struktur präsentiert Habermas das vorgestellte Argument von vornherein nicht allein sprachimmanent, sondern mit onto- bzw. phylogenetischen Szenarien verwoben, und folgerichtig nimmt er an dieser Stelle die Frage wieder auf, „wie das kommunikative Handeln zwischen dem Fundus gesellschaftlicher Solidarität einerseits, geltenden Normen und persönlichen Identitäten andererseits vermittelt.“53 Da allerdings zur 50 Vgl. Habermas 1987b, S. 104f. 51 In der Form, in der das Argument präsentiert wird, ist zunächst unklar, ob Habermas einfachhin unterschlägt, wie die vermeintlich erschließbare Disposition zu weiteren Sprechakten in einer tatsächlich wahrhaftigen Expression bereits implizit ist, was er für die anderen Sprechakttypen aus kontingenten Gründen nicht in gleicher Weise vorsieht; oder ob er darauf aufmerksam macht, dass der Fokus auf die „Aufrichtigkeit“, mit der man versucht sein könnte, ähnliches für die anderen Sprechakttypen aufzuzeigen, eine Transformation jener anderen Sprechakttypen darstellt, die eben gerade deren expressives Moment herauskehrt, dass dieses mithin immer noch der einzig mögliche Zugang zu Befindlichkeiten und Dispositionen des Sprechers bleibt. 52 Vgl. Habermas 1987b, S. 115–117. 53 Ebd., S. 118.
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Identifikation der lebensweltlichen Strukturen kein Beobachtungsstandpunkt außerhalb der Lebenswelt des Forschers selbst eingenommen werden kann (und da er auf dem ins Auge gefassten Wege gleich den sozioempirischen Befund mitthematisieren kann), wählt Habermas zur Bearbeitung dieser Frage den Zugang einer Rekonstruktion der Genese der eigenen Lebenswelt und wendet sich erneut den sozialevolutionären Aspekten der Arbeiten Meads und Durkheims zu.54 Bereits in den Überlegungen über die Herausbildung religiöser Weltbilder55 hatte Habermas hervorgehoben, dass der Begriff des kommunikativen Handelns eine Differenzierung zwischen der Gemeinsamkeit des in rituellen Vollzügen reproduzierten normativen Konsenses einerseits und der über Sprechakte hergestellten Intersubjektivität eines geteilten Wissens andererseits ermögliche, und dass sich auf dieser Basis die Verlagerung herrschafts- und ordnungslegitimierender Funktionen von der rituellen Vergegenwärtigung eines Kollektivbewusstseins auf die vergleichsweise rationaleren Begründungsleistungen propositional strukturierter Weltbilder historisch denn auch feststellen lasse. Komplementär zu diesem Argument über die Konstitution einer von den Subjekten explizit und aktiv geteilten Interpretation der gesellschaftlichen Ordnung wird nun Durkheims Forschung über die Genese des modernen Rechts als Beschreibung eines Rationalisierungsprozesses der Pragmatik der Konsensfindungsverfahren selbst gelesen: Demnach ruhen schon archaische Ordnungen auf der Idee eines Konsenses über ein allgemeines Interesse auf. Die diesen Konsens zum Ausdruck bringende, den Institutionen schon immer zugrunde liegende Autorität wird im Modernisierungsprozess jedoch von der Identität des Kollektivs auf eine kommunikativ zu erweisende Gerechtigkeit, einen diskursiv herzustellenden normativen Konsens über das Gemeinwohl umgestellt. Ausschlaggebend ist nicht mehr, was den „Persönlichkeitsstrukturen“ der Gemeinschaft als einer Art Groß-Subjekt immanent ist, sondern was ihr normativ zukommt.56 Allein, auch diese Lesart der Durkheimschen Rechtssoziologie fügt dem zuvor präsentierten Befund keine weitere Begründungskraft hinzu: Es wird nurmehr erneut festgestellt, dass sich mit diskursiv konsentierten normativen Zusammenhängen57 – seien dies gehaltvolle Weltbilder oder formale Verfahrensregeln der Etablierung gesellschaftlicher Normen – faktisch Momente der gesellschaftlichen Integration herausbilden, die aufgrund einer von sakraler Autorität unabhängigen Bindungskraft, aufgrund einer kommunikativ erzeugten und verfügbaren rationalen Motivation der 54 Es ist vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen wohl wichtig, festzuhalten, dass in dieser Arbeitsperspektive die beiden Klassiker nicht allein begriffsgeschichtlich bzw. begriffssystematisch gelesen werden können, sondern einen großen Teil der Begründungslast für die Plausibilisierung der materialen, quasi-empirischen oder diagnostischen Analyse der Strukturen der Lebenswelt tragen müssen. 55 Vgl. Habermas 1987b, S. 88–90. 56 Vgl. ebd., S. 119–126. 57 Hier muss die Rede von der „Diskursivität“ noch in einem bescheidenen Sinne verstanden werden, da hier nicht Verfahrensregeln bezüglich der Kommunikation selber zur Verhandlung stehen; gemeint sind lediglich Interaktionszusammenhänge, die sich durch ihre kommunikative Struktur („grammatischer Rede“) den beschriebenen rationalisierenden Momenten nicht gänzlich entziehen können.
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Interaktionspartner funktionieren. Auf die Frage, wie und warum diese Momente jener sakralen Autorität „überlegen“ sein sollten, oder warum sie sie gar (nach und nach) ablösen sollten, bleiben als Antwort nur zwei spärlich erörterte Motive: diskursiv vermittelte institutionelle Zusammenhänge bieten ein dem einfachen religiösen Symbolismus weit überlegenes Potenzial zur Komplexitätssteigerung und damit zur normativen Integration auch stärker differenzierter Gesellschaften; und diskursiv vermittelte ordnungsrelevante Zusammenhänge bleiben mit dem kommunikativen Handeln der pragmatischen Alltagspraxis und mit dessen rationalisierenden Auflagen unauflösbar verbunden und müssen sich auf die besprochenen kommunikativen Bindungswirkungen abstellen.58 Gestehen wir dies zu, so bleiben jedoch noch immer Fragen danach, ob sich weitere ordnungsrelevante Kräfte neben denen der kommunikativen Rationalisierung und der Tendenz zu wachsender Konsentierung / Universalisierung – gerade im kommunikativen Handeln – generieren und durchhalten. Habermas begegnet diesem Zweifel mit einer Einbeziehung der Systemtheorie, doch wie wir noch genauer sehen werden, lassen sich vor allem in hermeneutischer Perspektive (im weitesten Sinne) an Handlungswissen und normativer Autorität Momente feststellen, die die Rationalisierung der Strukturkomponenten der Lebenswelt unbeschadet überstehen und sich vielleicht sogar bruchlos auch im Rahmen diskursiver Zusammenhänge reproduzieren können. Wie genau diese Momente funktionieren, worauf sie aufruhen und welche möglicherweise ebenfalls rationalisierenden Tendenzen sie zeitigen, ist jedoch in der Habermas’schen Theorie nicht theoretisierbar. Damit fehlt dieser aber natürlich auch jede Möglichkeit zur Bestimmung des (historisch dynamischen) Verhältnisses zwischen diesen und jenen Momenten. Belastbar ist streng genommen bislang nur die auf immer noch quasitranszendentale Weise aufgewiesene Möglichkeit zu einer Transformation der Weltbezüge im sprachlichen Handeln, d. h. die Möglichkeit der Emergenz entsprechend „rationalisierter“ (lebens-)weltlicher Korrelate (kulturelles Wissen, normative Verbindlichkeit auf der Basis kritisierbarer Geltungsansprüche und zurechnungsfähige, selbstkritische Subjekte) und die Möglichkeit der Reproduktion ihres hermeneutischen Sinns durch das kommunikative Handeln, eine Möglichkeit die, wie Habermas zeigen kann, mit der propositional und modal differenzierten Sprache in die Welt kommt. Selbst sprachintern ist damit aber noch keine hinreichende Bedingung, oder wenigstens eine notwendige, und sei es kontrafaktische, Unterstellung der „objektiven“ Realität jener „rationalisierten“ Korrelate angezeigt; ein Sprechakt ist – so lange wir uns auf der Ebene der bisherigen Analyse halten – für das Verständnis seines propositionalen, illokutionären und expressiven Gehalts nicht strukturell auf einen für die Sprecher und Hörer verfügbaren Korpus kulturellen Wissens angewiesen, genauso wenig wie auf die Geltung konsensuell bzw. diskursiv legitimierter Institutionen oder auf selbstkritische reflektierte Persönlichkeiten 58 In dieser Formulierung sollen sich sowohl die zunehmende legitimatorische Rolle von Weltbildern als auch die zunehmende Integration über mehr oder weniger konsentierte Verfahren erfasst sein.
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von Sprechern und Hörern.59 Die sozialtheoretische Frage der „Partikularität und Dynamik der Lebenswelt“60 , die Frage, ob eine solchermaßen strukturierte Lebenswelt tatsächlich vorliegt, oder auch welche (tatsächlich vorliegenden) Kräfte sie produzieren sollten, ist damit noch immer nicht ernsthaft angegangen. Zwar mag die Frage ihrer realen Herausbildung ein Problem der Empirie sein, jedoch ist die Frage, welches nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingungen für ihre Herausbildung sein könnten, mithin welche Kräfte und welche Ressourcen die Realisierung der von Habermas angezeigten Möglichkeiten – u. U. auch gegen konkurrierende Kräfte – befördern könnten, unumgehbar, wenn ein handlungs- und sozialtheoretisch fruchtbares Lebensweltkonzept erarbeitet werden soll. Nimmt man sich jedoch noch einmal das methodische Problem vor, an dem wir oben61 in die Rekonstruktion der „lebensweltlichen Korrelate“ von Weltbezügen des kommunikativen Handelns eingestiegen sind, nämlich die Tatsache, dass sich der Lebensweltbegriff zunächst „nicht zur Abgrenzung eines sozialwissenschaftlichen Objektbereichs“ geeignet hat,62 so sehen wir, dass wir wenigstens ein Stück weiter gekommen sind: Aus dem undifferenzierten Lebensweltbegriff haben sich die „strukturellen Komponenten“ kulturelles Wissen, verbindliche (tendenziell konsentierte) Normen und Persönlichkeitsstrukturen zurechnungsfähiger Subjekte herauskristallisiert. Mit anderen Worten haben sich die vorgefundenen oder vorausgesetzten Korrelate des praktischen Wissens über die Welt, der intersubjektiven Normensysteme und der Individualität der einzelnen Handelnden in ihrer kommunikationstheoretischen Durcharbeitung als Ressourcen herausgestellt, die in jeweils einer funktionalen Dimension des kommunikativen Handelns explizit mobilisiert, bearbeitet und reproduziert werden können. Zwar ist die Distinktion der Lebensweltkomponenten eine Konsequenz aus der analytischen Konzentration auf jeweils eine einzelne Funktion des kommunikativen Handelns ist, als deren Resultat sie nämlich identifiziert werden können. Zugleich ist jedoch klar, dass kommunikatives Handeln und Lebenswelt praktisch nie in einer solchen analytischen Differenziertheit auftreten – ja, dass mit dem Zweifel an einer solchen Analysierbarkeit der Sprache auch die Grenzen und 59 Habermas weist immer wieder darauf hin, dass die idealisierenden, kontrafaktischen Unterstellungen notwendigerweise von Sprechern vorgenommen werden müssen, wenn sie ihre Situationsdeutungen und Handlungspläne auf der Basis eines rational motivierten Einverständnisses koordinieren wollen. Doch mit diesen Unterstellungen ist nicht die Annahme einer rationalisierten Lebenswelt im beschriebenen Sinne gemeint, sondern die gemeinsame Orientierung an kritisierbaren Geltungsansprüchen. Inwiefern genau müssen die erhobenen Geltungsansprüche als kritisierbar verstanden werden bzw. inwiefern müssen sie dazu in ausdifferenzierter Form vorliegen? Ist das zum Verständnis eines Sprechakts nötige Kontextwissen notwendigerweise eines, das die Form kulturellen, propositionalen Wissens hat? Und gewiss scheint die Unterstellung der Zurechnungsfähigkeit von Subjekten an der Sprecher- und Hörerposition unumgänglich. Müssen diese Subjekte aber auch als reflexiv selbstkritisch angenommen werden? Solche und ähnliche Fragen bleiben innerhalb der pragmatischen Sprachtheorie offen. 60 Habermas 1989c, S. 11–30. 61 Vgl. oben, S. 17. 62 Habermas 1987b, S. 206.
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die Eindeutigkeit der strukturellen Differenzierung der Lebenswelt selbst ungewiss werden. Praktisch wird man wohl immerhin von einem Amalgam jeweils unterschiedlich relevanter Momente im kommunikativen Handeln ausgehen können, so dass die Rationalisierung, die in der diskursiven Arbeit an kritisierbaren Geltungsansprüchen angelegt ist, durchaus auch in der Praxis einen Angriffspunkt hat. So steht die Lebenswelt in der Tat grundsätzlich einer kommunikativen Rationalisierung offen, welche sie in einen kulturell tradierten Haushalt von Interpretationen der Welt, in ein Netz von intersubjektiv besprochenen und als legitim affirmierten Normen oder in ein Muster von Persönlichkeitsstrukturen überführen könnte, das Reflexivität, Fähigkeit zur Selbstkritik und zur Perspektivenübernahme, also die Disposition zu verantwortungsvollem Handeln im Kontext intersubjektiver Normen zu wesentlichen Merkmalen zurechnungsfähiger Akteure machen würde. Diese Konzepte beschreiben nun immerhin eher abgrenzbare, der Sozialwissenschaft hermeneutisch zugängliche Regionen innerhalb der objektiven Welt.63 Wir haben somit in erster Linie ein „begriffliches Skelett“ bzw. Analysehinsichten gewonnen. Die sozialtheoretische Analyse selbst aber, zu deren Aufgabe auch die Auslotung der „vor-rationalen“ weltlichen Korrelate sozialen Handelns und die Frage nach der Vollständigkeit ihrer Erschließung durch die von Habermas beschriebenen Explikations- und Rationalisierungspotenziale gehören, diese Analyse ist noch nicht geleistet. Kehren wir damit zu dem Punkt zurück, an dem uns Habermas nach der Rechtfertigung der kognitiven Bezugnahme auf Lebenswelt überhaupt auf die Diskussion Meads zurückverwies, die wir uns soeben vergegenwärtigt haben: Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der Tradition und der Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität; unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunikatives Handeln der Ausbildung von personalen Identitäten. Die symbolischen Strukturen der Lebenswelt reproduzieren sich auf dem Wege der Kontinuierung von gültigem Wissen, der Stabilisierung von Gruppensolidarität und der Heranbildung zurechnungsfähiger Aktoren. [. . .] Diesen Vorgängen der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation entsprechen die strukturellen Komponenten der Lebenswelt Kultur, Gesellschaft und Person. Kultur nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in der Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen. Gesellschaft nenne ich die legitimen Ordnungen, über die die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten.64
63 Möglicherweise bilden sie in ihrer Überlappung tatsächlich „die Gesamtheit der hermeneutisch zugänglichen, im weitesten Sinne historischen oder soziokulturellen Tatsachen“. (ebd., S. 206) Um dies mit Bestimmtheit zu beurteilen, reichen allerdings die Argumente nicht aus – so wäre z. B. genauer zu untersuchen, wie die systematische Herleitung der „vorsprachlichen Korrelate“ funktioniert und ob sie Anhaltspunkte dafür bietet, dass die genannten Komponenten wirklich die Gesamtheit der historischen und soziokulturellen Tatsachen erschöpfen. 64 Ebd., S. 208f.
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2.1.3 Kritik des Sprachidealismus in der Auszeichnung von Lebensweltstrukturen Der vorgestellte Entwurf einer in die soziologisch zugänglichen strukturellen Komponenten von kulturellem Wissen (in der Form eines mindestens virtuellen, mehr oder weniger disponiblen Korpus assertorischer Sätze), legitimer Ordnung (in der Form von Normen und Institutionen, deren Geltung mindestens virtuell diskursiv hergestellt ist und deren Verbindlichkeit sich den in dieser Herstellung aktivierten rationalisierenden und integrierenden Kräften verdankt) und individuellen Persönlichkeitsstrukturen (in der Form mindestens virtuell zurechnungsfähiger und zurechnender, selbstkritischer, verantwortungsvoll handelnder und sprechender Subjekte) differenzierbaren Lebenswelt, der den konstitutiven Kontext gesellschaftlicher Handlungen erschöpfend abzubilden meint, soll nun einer Kritik unterzogen werden. Die unzureichende Tragweite dieses Entwurfs wird dabei weniger an einer weiteren, von Habermas womöglich vergessenen „strukturellen Komponente“ als an der Eindimensionalität der Problematisierung der vorgeschlagenen Komponenten festgemacht. In allen beschriebenen Auszeichnungen der Lebenswelt, so das Argument, werden durch die Fokussierung auf das Modell der propositional ausdifferenzierten Sprache, durch die Privilegierung der assertorischen Sätze und durch die Fiktion der Transparenz der involvierten Intentionen Momente in den Lebensweltkomponenten unsichtbar gemacht, die einerseits die Befragung und das Verständnis der entsprechenden soziologisch vorgefundenen Komplexe stark modifizieren müssten, und die sich andererseits, und anders als Habermas dies offenbar für möglich hält, im Innern des kommunikativen Alltagshandelns, und zwar selbst in dessen idealisierter Form, zur Geltung bringen und reproduzieren. Insofern dies zutrifft, ist festzustellen, dass bestimmte Motive, die die Phänomenologie in der Bearbeitung der Lebenswelt-Thematik durch eine Reihe von theoretischen und methodischen Kunstgriffen zu handhaben gedachte, welche Habermas zufolge letztendlich nichts daran zu ändern vermochten, dass Husserl und seine Nachfolger den lebensweltlichen Verweisungszusammenhang nur „im Rahmen einer Phänomenologie und Psychologie der Wahrnehmung“65 erklären konnten, dass diese Motive also doch erneut auftauchen, nachdem sie durch Habermas’ sprachphilosophische Wende vermeintlich erledigt waren. Da Habermas sein Argument im Übrigen nicht nur sprachtheoretisch, sondern auch in einer sozio-historischen Diskussion durchgeführt hat, wird auch die Kritik entsprechend anzulegen sein: Die sprachtheoretischen Vorbehalte sind durch eine Revision der „Versprachlichung des Sakralen“ zu flankieren. Ein erster Eindruck der Bedenken, die im Folgenden entfaltet werden sollen, lässt sich gewinnen, wenn man sich vergegenwärtigt, mit welcher Unbekümmertheit Habermas die von ihm „paläosymbolisch“ genannten, und selbst noch die „symbolischen“ Verhältnisse, Kräfte und Dynamiken als „vorsprachliche“ qualifiziert und sie prinzipiell von den Verhältnissen abschneidet, wie sie in seiner Version der „ausdifferenzierten Sprache“ thematisiert werden. Habermas verwendet, wie gesehen, gewiss einige Mühen darauf, zu zeigen, wie die ersteren an die letzteren anschlussfähig sind. Dass jedoch auch der „ausdifferenzierten Sprache“ symbolische 65 Habermas 1987b, S. 189. Vgl. auch Habermas 1989c, S. 38–59.
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oder gar „paläosymbolische“ Momente zu eigen sein könnten, scheint er nicht in Erwägung ziehen zu wollen. 2.1.3.1 ad a) Kultureller Wissensvorrat Wie wir gesehen haben, argumentiert Habermas für die Möglichkeit (und das historische Faktum) einer Überführung der semantischen Gehalte von Sprechakten in die Form eines kontextneutral tradierbaren kulturellen Wissens.66 Dies geschieht durch den Aufweis der Konversionsfähigkeit semantischer Gehalte im Rahmen der propositional ausdifferenzierten Sprache unter Rückgriff auf die Qualitäten des assertorischen Modus. Diese Qualitäten sind von sehr verschiedener Gestalt: das Vermögen, alles überhaupt Sagbare auszudrücken; die Möglichkeit der Thematisierung in der Perspektive der dritten Person, somit eine Objektivierung des Gehalts, die wiederum die Möglichkeit einer Tradierung eröffnet, die von den illokutionären Aspekten und den Rollen von Sprechern und Hörern weitestgehend ablösbar ist; und der Zwang, den Aussagegehalt in der Rolle eines Proponenten vorzubringen, der unmittelbar die Bereitschaft übernimmt, diesen gegen Einwände zu verteidigen. Die propositional ausdifferenzierte Sprache ist so eingerichtet, daß alles, was sich überhaupt sagen läßt, auch in assertorischer Form gesagt werden kann. So können auch jene Erfahrungen, die ein Sprecher in normenkonformer Einstellung mit der Gesellschaft, oder in expressiver Einstellung mit der jeweils eigenen Subjektivität macht, an assertorisch ausgedrücktes Wissen, das aus dem objektivierenden Umgang mit der äußeren Natur stammt, assimiliert werden. Dieses praktische Wissen löst sich, wenn es in die kulturelle Überlieferung eingeht, aus der Verklammerung mit den illokutionären oder expressiven Sprechhandlungskomponenten, mit denen es in der kommunikativen Alltagspraxis verwoben ist. Dort [i. e. in der kulturellen Überlieferung, A. W.] wird es unter der Kategorie von Wissen gespeichert.67
Dies kann nur funktionieren, weil und insofern in der propositional ausdifferenzierten Sprache sowohl der Modus eines Satzes als auch sein lokutionärer Gehalt in der Form einer Subjekt-Prädikat-Aussage ausgedrückt werden können.68 Wie aber bereits oben angedeutet wurde,69 lässt sich der semantische Gehalt einer Äußerung weder dem Modus noch dem propositionalen Bestandteil nach notwendigerweise 66 Gewiss sieht Habermas nicht vor, alle Sprechakte in den Korpus kulturellen Wissens einfließen zu lassen. Das Argument des unabschließbaren Kontexts, das im Folgenden diskutiert werden soll, würde der Tendenz nach allerdings dafür sprechen, in der Tat jede beliebige Äußerung so zu behandeln, als ob ihre Inklusion in diesen Korpus nicht definitiv auszuschließen wäre. Für die sozialtheoretische Fragestellung, die es ja auch mit Mengen- und Trägheitseffekten zu tun hat, scheint jedenfalls die Konzentration auf solche Sprechakte durchaus sinnvoll, denen zweifelsfrei Funktionen der (Re-)produktion von Weltbildern, Handlungsnormen und Persönlichkeitsstrukturen zugesprochen werden können. 67 Habermas 1987b, S. 103. Vgl. auch ebd., S. 135. 68 „[D]er semantische Gehalt eines beliebigen illokutionären oder expressiven Sprechaktbestandteils [kann] mit Hilfe eines deskriptiven Satzes ausgedrückt werden.“ (Ebd., S. 102) „Performative und expressive Sätze lassen sich nach dem Schema der Zusammensetzung von Ausdrücken für Gegenstände und Prädikate, die Gegenständen zu- oder abgesprochen werden, analysieren.“ (Ebd., S. 103) 69 Vgl. oben, S. 16.
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dingfest machen, da er auf einen unabschließbaren Kontext verweist. John Searle, der von Habermas selbst in Anspruch genommen wird, bespricht ausführlich die Fälle indirekter Sprechakte und metaphorischer Rede, die darauf aufmerksam machen, dass der Modus bzw. der semantische Gehalt eines Sprechakts nur vor der Folie von Hintergrundinformationen verständlich sind, die der Äußerung selbst nicht innewohnen.70 Für assertorische ebenso wie für expressive und normative Sätze ist es demnach nicht möglich, diese Informationen vollständig mit anzugeben – erstens, weil es unbestimmt viele sind, und zweitens, weil jede solche Angabe erneut weitere Hintergrundinformationen voraussetzen muss.71 Während Searle diesem unabschließbaren Aufrufen von Hintergrundbedingungen in der Bemühung um die wörtliche Bedeutung von Äußerungen noch eine Äußerungsbedeutung, eine Intention des Sprechers gegenüber stellt, die ebenso kontextverwiesen ist, deren Zusammenhang mit der wörtlichen Bedeutung der Äußerung aber die ganze Dynamik hinreichend stabilisieren zu können scheint,72 geht Jacques Derrida noch einen Schritt weiter und argumentiert dafür, dass das Moment des Kontexts nicht nur seines „Umfangs“ wegen „nicht in endlich vielen Propositionen dargestellt werden kann,“73 sondern strukturell, als gleichsam „Unbewusstes“, unterminierendes Anderes einem intentionalen Zugriff unzugänglich ist – und im selben Zug nicht mehr als bloßes „Umfeld“ der Äußerung verstanden werden kann, sondern ihr wesentlich immanent ist.74 Derrida weist darauf hin, dass die Möglichkeit von Missverständnissen, ebenso wie die von Metaphorik, Ironie und Fiktion, und ebenso wie die des „normalen“ Sprachgebrauchs in der einem jeden Zeichen einbeschriebenen Iterabilität eröffnet wird; dass diese Iterabilität aber nicht bloße Wiederholbarkeit, sondern eben Mutationsfähigkeit umfasst; und dass die Mutationen – als virtuelle – der „ursprünglichen“ Zeichenverwendung bereits einbeschrieben sind, ohne dass sie ihr wahrhaft gegenwärtig sein könnten. Die Äußerung gelangt als ein Zeichen in die Welt, über dessen weiteres „Schicksal“ der Sprecher keine Verfügung hat. Das Zeichen kann von anderen Kommunikationspartnern und in 70 Vgl. Searle 1982a; Searle 1982b. In Searle 1982c wird die Diskussion dann auch unter Absehung von „uneigentlichem“ Sprachgebrauch durchgeführt, anhand von Beispielen, die „anscheinend günstige Beispiele für die Auffassung abgeben, wörtliche Bedeutung sei kontextfrei“. (Ebd., S. 143) 71 Vgl. etwa ebd., S. 148, 150f. Searle schließt zwar nicht aus, dass es theoretisch möglich wäre, „eine Gesamtmenge von Annahmen [anzugeben], die von der semantischen Analyse einzelner Sätze unabhängig wäre, uns aber wohl zusammengenommen erlauben würde, die wörtliche Bedeutung der Sätze anzuwenden.“ (Ebd., S. 152f) Und mit dem Begriff des Weltbildes liegt die Annahme des Zugriffs auf eine solche Gesamtmenge vielleicht auch nahe. Allein, das Weltbild soll ja in der soziogenetischen Perspektive, die uns vorgeschlagen wurde, erst durch die Übersetzung der semantischen Gehalte in den assertorischen Modus konstituiert werden, eine Übersetzung, zu der wir aber bereits die Spezifikation aller notwendigen Hintergrundannahmen in Anspruch nehmen können müssten. 72 Vgl. ebd., S. 153–159. 73 Habermas 1989a, S. 590f. Vgl. Searle 1982c, S. 149–153 und Derrida 1972, S. 44–47. 74 Vgl. ebd.; Derrida 1990; Derrida 1967. In gewissem Sinne verschließt sich Habermas diesem Argument gar nicht, wenn er die notwendigen Unterstellungen des kommunikativen Handelns bespricht. Wir kommen darauf noch ausführlich zu sprechen.
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anderen Kontexten benutzt werden. Dabei verändert es zwar seinen Sinn, aber genau diese Veränderbarkeit ist im Sinn der „ursprünglichen“ Äußerung bereits enthalten. Die Konsequenz dieses Sprachkonzepts ist es, die Vorstellung von der „Ursprünglichkeit“ selbst aufzulösen bzw. den Ursprung als einen intern vielfältigen, sich selbst aufschiebenden aufzuzeigen. Gleiches gilt für die Vorstellung des Kontexts: In dem Moment, in dem die Äußerung an keinem Zentrum mehr festgemacht werden kann, und die Zugehörigkeit von Zeichen und Kontext nicht mehr entscheidbar bzw. eine Frage des Aufschubs ist, verliert die Rede vom Kontext selbst ihre Pertinenz. „Die Zeit und der Ort des andermal (the other time) bearbeiten und verändern schon, at once, umgehend, das erste Mal, den Anhieb, das at once“,75 aber eben nicht so, dass es sich in der Form eines assertorischen Satzes auf den Punkt bringen ließe. Ein damit zusammenhängendes Argument Derridas übersetzt die Zweifel aus einem strikt semantischen in einen pragmatischen Zusammenhang und bricht die Eindeutigkeit von Illokutionen auf, und zwar so, dass ein bestimmter Sprechakt zwar nicht als irgendein beliebiger verstanden werden kann, er gleichwohl aber dieser bestimmte und doch genau so gut, vielleicht sogar zugleich, ein bestimmter anderer sein kann. Die Offenheit eines solchen Sprechakts, dessen Modus unentscheidbar ist, und der so wesentlich eine Beziehung zur praktischen Verantwortung der „Gesprächspartner“ herstellt,76 kann nicht ohne Verluste in der Proposition eines dritten, assertorischen Sprechakts wiedergegeben werden, nämlich genau ohne Verlust der „überfordernden“ Inanspruchnahme der Gesprächspartner.77 Diese Überlegungen mögen genügen, um zu plausibilisieren, dass wir nicht davon ausgehen können, dass unsere Sprache tatsächlich als im Habermas’schen Sinne propositional ausdifferenzierte vorliegt, dass vielmehr mit einem Sprechakt auch und ganz besonders auf dem Niveau entwickelter und differenzierter Sprachen ein Feld von Bedeutungen eröffnet und aktualisiert wird, und dass sich weder dieses Feld noch die Bewegung der Eröffnung und Aktualisierung selbst in einem assertorischen Satz erschöpfend konservieren lassen. So müssen der kommunikativen Alltagspraxis auch kognitive, normative und expressive Dimensionen zugeschrieben werden, die sich nicht in der Form kulturellen Wissens tradieren lassen. Allerdings muss wohl ggf. noch genauer untersucht werden, in welcher Form sie sich reproduzieren bzw. ob und in welcher Form die Praxis der Tradierung kulturellen Wissens selbst an der Reproduktion dieser Dimensionen teilhat. *** 75 „Le temps et le lieu de l’autre fois (the other time) travaillent et altèrent déjà, at once, aussi sec, la première fois, le premier coup et l’at once. Tels sont les vices qui m’intéressent: l’autre fois dans la première fois d’un coup, at once.“ (Derrida 1990, S. 120f) 76 Ein Beispiel, das einschlägig sein dürfte, ist das der (letztendlich nicht gemachten, sondern lediglich besprochenen) Ankündigung Derridas, er würde Searles Werk Sprechakte These für These kritisieren – eine Ankündigung, die als Versprechen und als Drohung verstanden werden könnte und müsste. Vgl. ebd., S. 141f. 77 Eine Variante dieses Arguments biegt sich auf den Status des philosophischen Textes zurück, dessen Performanz komplizierter ist als der Geltungsanspruch, den der Autor damit verbinden mag. Vgl. ebd., S. 87–91.
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In den von Habermas vorgebrachten materialen Analysen der Transformation unterschiedlicher Erfahrungsgehalte in die Form propositional strukturierten kulturellen Wissens sollte sich dann wohl zeigen lassen, ob und wie der Überschuss vorzustellen ist, der daraus resultiert, dass diese Erfahrungsgehalte immer in je konkreten Situationen erworben werden, welche in Verweisungszusammenhänge eingebettet sind, die ihrerseits nicht vollends in die Form propositional strukturierten Wissens gebracht werden können. Es sollte sich zeigen lassen, wie ein solcher Überschuss – wie überhaupt auch schon die Rede von Erfahrungsgehalten – auf eine Weise zu formulieren wäre, die der sprachtheoretischen Wende Rechnung trägt, und die nicht ins bewusstseinstheoretische oder gar psychologische abgleitet. Und es sollte sich zeigen lassen, wie dieser Überschuss sich zur Konstitution eines Korpus kulturellen Wissens verhält. Welches „Material“ unterliegt nun also in Habermas’ Darstellung der „Versprachlichung des Sakralen“ jener Übertragung in den assertorischen Modus?: Die modal undifferenzierten Erfahrungsgehalte der Alltagspraxis einerseits und die der eigens inszenierten individuellen wie kollektiven Selbstverständigung im Ritual andererseits, die ebenfalls jeweils zugleich kognitive, normative und expressive Geltung beanspruchen. Habermas weist darauf hin, dass Durkheim in späteren Werken zu der Einsicht gelangt, dass die „sakralen Grundlagen der Normativität“ nicht in den religiösen Glaubensinhalten zu suchen sind, die bereits mehr oder weniger propositional vorstrukturiert sind, sich jedenfalls einer Aneignung im Rahmen eines Korpus kulturellen Wissens unproblematisch anbieten, sondern in der gemeinsamen Praxis selbst: Mit Zeremonien dieser Art wird nichts dargestellt: sie sind vielmehr der exemplarisch wiederholte Vollzug eines damit zugleich erneuerten Konsenses, dessen Inhalte eigentümlich selbstbezüglich sind. Es handelt sich um Variationen ein und desselben Themas, eben der Anwesenheit des Heiligen; und dieses wiederum ist nur die Form, unter der das Kollektiv „seine Einheit und Persönlichkeit“ erfährt. Weil das normative Grundeinverständnis, das sich im gemeinsamen Handeln ausdrückt, die Identität der Gruppe zugleich herstellt und erhält, ist die Tatsache des gelingenden Konsenses zugleich dessen wesentlicher Inhalt.78
Gegenüber dem auf dieser „Entwicklungsstufe“ bereits abgesonderten profanen Lebensbereich, in dem sich praktisches Wissen eigenen Rechts im kognitiv fruchtbaren objektivierenden Umgang mit manipulierbaren Gegenständen entwickelt, ist der mit der rituellen Praxis verbundene sakrale Bereich nötig, um den noch nicht abgegoltenen Bedürfnissen der Handlungskoordinierung und der Selbstverständigung – und vielleicht noch anderen – zu begegnen.79 Er ermöglicht und repräsentiert einen 78 Habermas 1987b, S. 85. 79 Zur Erinnerung: Aus einer modal undifferenzierten Signalkommunikation und einem letztlich auf Instinktresiduen gestützten Verhaltensprogramm haben sich, dem Szenario zufolge, als ein erster Schritt der Sprachentwicklung propositionale Bestandteile, die dann die Form von Aussage- und Absichtssätzen annehmen, und als ein erster Schritt der kognitiven Entwicklung eine objektivierende Wahrnehmung manipulierbarer Gegenstände und eine damit zusammenhängende Kompetenz zu teleologischem Handeln herausgebildet. Damit werden die individuellen Handlungen komplexer und beginnen, im Rahmen doppelter Kontingenz zu funktionieren; und
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Symbolismus, der als normativer Grundkonsens die Verhaltensdispositionen und Antriebsenergien kommunikativ kanalisiert. So sehr im Übrigen das Wesen des sakralen Bereichs in der gemeinsamen Praxis besteht, so wenig lässt sich diese jedoch vom Medium der religiösen Symbole trennen. Diese gewährleisten und offenbaren geradezu die Gemeinsamkeit der Praxis. Habermas zitiert Durkheim: Drückt man die soziale Einheit in einer materiellen Form aus, so wird sie für alle fühlbar [. . . D]as Wappen ist nicht nur ein bequemes Mittel, um das Gefühl zu verdeutlichen, das die Gemeinschaft von sich hat; es dient auch dazu, um dieses Gefühl hervorzurufen: es ist dessen konstitutives Element. Denn jedes individuelle Bewußtsein ist in sich verschlossen; es kann mit dem Bewußtsein der anderen nur mit Hilfe von Zeichen kommunizieren, in denen sich ihre Innenzustände ausdrücken. Damit dieser Verkehr auch zu einer Kommunion wird, d. h. zu einer Verschmelzung aller Einzelgefühle zu einem Gemeingefühl, müssen die Zeichen, die sie ausdrücken, selbst wieder in einem einzigen und alleinigen Zeichen verschmelzen. Beim Erscheinen dieser Verschmelzung fühlen die Individuen, daß sie im Einklang stehen und eine moralische Einheit bilden. Stoßen sie denselben Schrei aus, sprechen sie dasselbe Wort und machen sie dieselben Gesten in bezug auf denselben Gegenstand, dann sind sie und fühlen sie sich im Einklang.80
Ersichtlich sollen die religiösen Symbole als materielle Katalysatoren einer gemeinschaftlichen Praxis und eines dadurch gestifteten Gemeingefühls vorgestellt werden, und ihr semantischer Gehalt entspricht lediglich der im gleichzeitigen Vollzug der Praxis gegenwärtigen „Tatsache des gelingenden Konsenses“. Religiöse Symbole in diesem Sinne sind sie also nur dann, wenn sie in bestimmten Praxiszusammenhängen stehen; werden sie aus ihnen herausgenommen, so verwandelt sich ihr semantischer Sinn. Berichtet man von einem Gegenstand, in bezug auf den alle dasselbe Wort und denselben Schrei ausstoßen, so stößt man selbst offensichtlich diesen Schrei bereits nicht mehr aus – und für diejenigen, die diesen Bericht erstatten wie für diejenigen, die ihn hören, vergegenwärtigt das Zeichen gerade nicht mehr den Einklang eines Gemeingefühls. Auch der Bericht selbst kann dies nicht leisten, zumindest insofern er in der Form kulturellen Wissens auftritt. Als Wissen hat er zwar bereits möglicherweise mehr oder weniger starke emotionale und motivationale Effekte, allerdings geht ihm die starke sozialintegrative Kraft der Manifestation der Gemeinschaft selbst ab.81 Diese Beschreibung steht sicherlich im Einklang mit Thesen der Entzauberung damit wiederum steigt der Bedarf an Handlungskoordinierung und wechselseitiger Bindung der Akteure, den allerdings die Aussage- und Absichtssätze gerade nicht zu befriedigen vermögen. Die dem Szenario nach noch immer verbleibende signalsprachliche Kommunikation kann, eben weil sie modal undifferenziert ist und Handlungsdispositionen stark präformiert, diesen Bedarf bedienen und wird nach und nach zu einem paläosymbolisch funktionierenden sakralen Bereich ausgebildet. Vgl. ebd., S. 86f. 80 Durkheim 1981, S. 315, zitiert nach Habermas 1987b, S. 87f. 81 Als Symbol kann ein Bericht hingegen sehr wohl eine konstitutive Funktion für die Identität einer Gesellschaft haben – dann aber eben dank der Praxiszusammenhänge in denen er geäußert und rezipiert wird. (Man denke etwa an die im Januar 1979 in Deutschland ausgestrahlte vierteilige Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß, oder noch stärker an Claude Lanzmanns Film Shoah von 1985, an Solschenizyns Archipel Gulag oder, aktueller und leichteren Mutes, an Sönke Wortmanns Film Deutschland. Ein Sommermärchen von 2006, dessen symbolischer Charakter auch darin zum Ausdruck kommt, bzw. reflexiv instrumentalisiert wird, wenn er
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der Welt, sollte allerdings ein problematisches Licht auf die Herausbildung religiöser Weltbilder und eben auch auf die Konstituierung kulturellen Wissens werfen. In Habermas’ Gedankenexperiment82 wird die „paläosymbolische“, quasi-vorsprachliche Natur des religiösen Symbolismus zunächst noch einmal bestätigt, es ist jedoch zugleich festzustellen, dass dieser Charakter sich mit der Rede von Religion als eines begrifflichen Zusammenhangs nicht recht verträgt: Die Religion erschöpft sich [in dem Szenario des Gedankenexperiments] darin, eine bestehende rituelle Praxis in Begriffen des Heiligen auszulegen; ohne streng kognitive Gehalte hat sie noch nicht den Charakter eines Weltbildes angenommen. Im Sinne eines kulturellen Determinismus sichert sie die Einheit des Kollektivs und unterdrückt weitgehend Konflikte, die aus Machtbeziehungen und ökonomischen Interessen entstehen könnten. Diese kontrafaktischen Annahmen bestimmen einen Zustand der sozialen Integration, für den die Sprache nur minimale Bedeutung hat.83
Habermas macht mit Recht darauf aufmerksam, dass, sobald die differenzierende Transformation durch die Entbindung der in der Sprache angelegten Potenziale wirksam wird, an der Herausbildung eines kulturellen Wissenskorpus zwei Momente unterschieden werden können: Alles, was sich überhaupt sagen läßt, kann auch in assertorischer Form ausgedrückt werden. An diesem Grundzug der Sprache kann man sich klar machen, was ein Anschluß religiöser Weltbilder ans kommunikative Handeln bedeutet. Das Hintergrundwissen geht in die Situationsdefinitionen zielgerichtet handelnder, ihre Zusammenarbeit konsensuell regelnder Aktoren ein; und das Weltbild speichert die Ergebnisse solcher Interpretationsleistungen. Da die semantischen Gehalte sakraler und profaner Herkunft im Medium der Sprache frei fluktuieren, kommt es zu einer Fusion der Bedeutungen; die moralisch-praktischen und die expressiven Inhalte verbinden sich mit den kognitiv-instrumentellen in der Form kulturellen Wissens. An diesem Vorgang lassen sich zwei Aspekte trennen. Zum einen können die normativen und expressiven Erfahrungsgehalte, die aus dem Bereich der rituellen Vergewisserung der kollektiven Identität stammen, in Form von Propositionen ausgedrückt und als kulturelles Wissen gespeichert werden; das macht aus der Religion erst eine kommunikativ fortsetzungsbedürftige kulturelle Überlieferung. Zum anderen muß sich das sakrale Wissen mit dem Profanwissen aus dem Bereich des instrumentellen Handelns und gesellschaftlicher Kooperation verbinden; das macht aus der Religion erst ein Totalität beanspruchendes Weltbild.84
Während das eine Moment die Rückführung des auf der vorherigen Stufe auseinandergetretenen „Wissens“, d. h. der propositionalen Gehalte aus dem profanen und aus dem sakralen Bereich (sofern dieser denn solche Gehalte hat) in einen zusammenhängenden, dann auf seine Konsistenz und seine Kohärenz hin optimierbaren Korpus, 2010 in einem Fernsehwerbespot für Autos zitiert wird.) So wie das kommunikative Handeln die Differenzierung zwischen der Gemeinsamkeit eines geteilten Wissens und der Normativität sakral gestützter Normen ermöglicht, so ermöglicht die symbolische Praxis die Differenzierung zwischen koordinierungswirksam geteiltem Wissen und gesellschaftlicher Solidarität. 82 Habermas entwirft das Szenario einer vollkommen integrierten Gesellschaft, die über keine ausdifferenzierte Sprache verfügt, um dann zu überlegen, welche Veränderungen sich in dem Moment einstellen müssten, wo eine solche Sprache in die Gesellschaft eingeführt wird. Vgl. Habermas 1987b, S. 132f. 83 Ebd., S. 133. 84 Ebd., S. 135.
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eben in ein „Weltbild“, beschreibt, betrifft das erstgenannte Moment unser Problem, die Transformierbarkeit aller semantischen Gehalte in assertorische Form, ganz wesentlich. Entweder man versteht nun nämlich den semantischen Gehalt der religiösen Symbole in einem engen Sinn, d. h. als den von vornherein quasi-propositionalen Bestandteil; dann scheint der Ausdruck dieser Gehalte in Form von Propositionen bruchlos möglich; dann ist aber zugleich klar, dass der „Clou“ der religiösen Symbole nicht in diesem eng verstandenen semantischen Gehalt liegt, und dass es von zu vernachlässigender Relevanz ist, ob er in der Form des Wissens in ein propositional strukturiertes Weltbild integriert wird. Oder aber man versteht den semantischen Gehalt der Symbole wie oben angeregt in einem weiteren Sinne, nämlich als mit der vollzogenen „Kommunion“ unauflöslich verwoben; dann liegt mit ihm aber vielleicht eine Form von Erfahrungsgehalten vor, deren Transformation in die Form des aus assertorischen Sätzen konstituierten Wissens trotz ihrer symbolischen Verfasstheit eben nicht ohne Weiteres möglich ist. Greift man nun auch noch auf die Argumente Derridas zurück, so wird man bereits das Durkheimsche Szenario der rituellen Praxis reformulieren müssen: In dieser wären die Individuen durch die Verknüpfung ihrer Identität mit einem Zeichenzusammenhang in Anspruch genommen, der ihnen durch die gemeinschaftliche Veranstaltung der bezeichnenden Praxis umso gegenwärtiger und gemeinsamer scheint, der jedoch als Zeichenzusammenhang bereits darauf verweist, dass alle seine Elemente eine Geschichte unabhängig vom Ereignis der „Kommunion“ haben. Diese – je immer noch ausstehende – Geschichte affiziert unmittelbar und auch in ihrer Zukünftigkeit das Wesen der Elemente, des Zeichenzusammenhangs, der Individuen und des „Kollektivs“. Derrida mag Schwierigkeiten haben, zu erklären, wie diese fragile Praxis, die aufgeschobenen Identitäten usw. in einem sozial mehr oder weniger stabil integrierten Interaktionszusammenhang zusammengeschlossen erscheinen können.85 Er kann uns allerdings helfen, zu erklären, wie die in einem solchen Zusammenhang befindlichen Elemente und Individuen überhaupt eine Offenheit für ihre eigene Transformation aufweisen können. Denn das Wesentliche an der Praxis des rituellen Symbolismus wäre nun bereits nicht mehr die Gegenwart einer handfesten kollektiven Identität, sondern die beanspruchte Verknüpfung von 85 Er könnte allerdings, vermutlich ohne dass man ihn eines Fehlers überführen könnte, zeigen, dass die Integration dieses Zusammenhangs nur Schein sei, dass er sich einer soziologischen Vereinseitigung verdanke und in Wirklichkeit aus einem differenten Spiel heterogener und jeweils nicht ganz greifbarer Momente bestehe. So viel soziologische Vereinseitigung muss aber dann doch erlaubt sein, mögen wir ihm entgegenhalten, die darauf aufruhende theoretische Praxis scheint uns unaufgebbar. Habermas geht im Übrigen die Frage, wie sich Gemeinschaft auf der Basis kontrafaktischer Unterstellungen integriert, im Rahmen seiner Theorie durchaus offensiv an. Auch Derridas (in erster Linie) sprachtheoretisch motivierter Skepsis könnte im Rahmen von Untersuchungen über die Kohäsionskräfte von Institutionen, „Systemen“ oder kurz: der Welt ein der differierenden Kraft der Sprache entgegenwirkendes Potenzial gegenüber gestellt werden. Der wesentliche Punkt ist nur, dass man sich dabei nicht auf ein idealisierendes Bild diskursiver Prozesse beschränken darf. Im Anschluss an die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys sowie an eine der vorliegenden Arbeit verwandte Würdigung der Habermas’schen Theorie entwickelt A. Niederberger dieses Argument. Vgl. Niederberger 2007, insb. Kap. IV.
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individuellen und kollektiven Identitäten mit den „Spuren“ einer Zeichenpraxis, welche in einem speziellen Arrangement ihren Ausgang genommen haben mag, welche in diesem aber keinesfalls einzufangen ist, und welche ihre „Wesensbestimmung“, ihren Sinn, von jedem besonderen, und eben auch – dies gegen Searle – vom ursprünglichen Arrangement abkoppeln kann.86 Wollen wir dennoch sagen, dass die Tradierung bestimmter Gehalte kulturellen Wissens eine funktional äquivalente Fortsetzung jener rituellen Zeichenpraxis ist, dann ist klar, dass sich die funktionale Äquivalenz nicht allein im „propositionalen Gehalt“ dieses Wissens konzentriert denken lässt. Der semantische Sinn kulturellen Wissens ist ebenso wenig in dessen propositionalen Gehalten „konserviert“ wie der semantische Gehalt des religiösen Symbolismus, nämlich die Identität des Kollektivs, in der rituellen Praxis gegenwärtig ist. Das aber ruft eine Analyse des kulturellen Wissens auf, die dessen Gehalte in der Hermeneutik seiner Propositionen ebenso sehr wie in einer Hermeneutik seiner Produktions- und Reproduktionspraxis ausmacht.87 *** Das historisch-spekulative Szenario müsste also vermutlich so aussehen, dass sich mit dem Einzug der ausdifferenzierten Sprache tatsächlich ein Korpus propositional und assertorisch strukturierten kulturellen Wissens bildet, in den sehr wohl Gehalte aus profanen und sakralen Verständigungsprozessen eingehen. Zugleich wird aber davon auszugehen sein, dass in der Verschiebung der integrierenden, d. h. der legitimatorischen und selbstverständigungs-relevanten Leistungen auf diesen Korpus wichtige identitäts- und solidaritätsstiftende bzw. handlungskoordinierende Interaktionsmuster keinen Eingang in die expliziten kulturellen Wissens- und Interpretationsbestände finden. In diesem Sinne finden sich für sie keine Übersetzungen in der Form neu konstituierter Begründungspotenziale im Rahmen jenes Wissens. Ob aber die Leistungen jener Interaktionsmuster einfachhin entfallen, oder ob sie sich in Interaktionsmustern, 86 Derridas eigene einschlägige Untersuchung in diesem Zusammenhang dürfte sein: Derrida 1992. 87 Für den speziellen Fall der von ihm diagnostizierten „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch systemische Imperative entwirft Habermas sogar eine solche Forschungsperspektive: So nimmt er Zwänge an, die „sich gleichsam in den Poren des kommunikativen Handelns verstecken. Daraus entsteht eine strukturelle Gewalt, die sich, ohne als solche manifest zu werden, der Form der Intersubjektivität möglicher Verständigung bemächtigt. Strukturelle Gewalt wird über eine systematische Einschränkung der Kommunikation ausgeübt; sie wird in den formalen Bedingungen des kommunikativen Handelns so verankert, daß für die Kommunikationsteilnehmer der Zusammenhang von objektiver, sozialer und subjektiver Welt in typischer Weise präjudiziert ist. Für dieses relative Apriori der Verständigung möchte ich in Analogie zum Erkenntnisapriori der Gegenstandsform (Lukács) den Begriff der Verständigungsform einführen. [. . .] Nach dem Paradigmenwechsel, den die Kommunikationstheorie vollzogen hat, können die formalen Eigenschaften der Intersubjektivität möglicher Verständigung den Platz der Bedingungen der Objektivität möglicher Erfahrung einnehmen. Verständigungsformen stellen jeweils einen Kompromiß zwischen den allgemeinen Strukturen verständigungsorientierten Handelns und den innerhalb einer gegebenen Lebenswelt thematisch nicht verfügbaren Reproduktionszwängen dar.“ (Habermas 1987b, S. 278f) Dieses Problem betrifft nicht allein die Spannung zwischen systemisch organisierter materieller Reproduktion und kommunikativ strukturierter sozialer Integration, sondern auch eine dieser Integration interne Spannung.
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die übrigens von der Reproduktion des kulturellen Wissens unabhängig genausogut wie mit ihr verbunden sein können, ob sie sich also neben den Begründungsleistungen, die mit der Erklärungskraft des explizierbaren kulturellen Wissens verbunden sind, weiter durchhalten und reproduzieren, ist eine empirische Frage. Keine empirische Angelegenheit ist jedoch die Feststellung einer Integrations-Leerstelle dieses Wissens, die – in einem weiteren Sinne als dem der Habermas’schen „grammatischen Rede“ – sprachlich konstituiert ist und ggf. besetzt werden könnte, und die doch außerhalb des propositional strukturierten, in einer Menge assertorischer Sätze formulierbaren kulturellen Wissens bleiben muss. Keine empirische Angelegenheit ist ebenso das Beharren darauf, dass die eigentlich sinnstiftende Dimension der sprachlichen Praxis in einem weiten Sinne nicht mit ihrem propositionalen Gehalt verwechselt werden darf, in der rituellen Praxis genauso wenig wie in der kulturellen Überlieferungspraxis. Zugleich wird es, da es, wenn wir Derrida in diesem Punkt folgen, keine objektive Einschätzung des Sinnes eines Sprechakts geben kann, kein Kriterium geben, anhand dessen sich die beiden Bereiche, der des „rationalisierten“ kulturellen Wissens und seiner Reproduktion einerseits und der der symbolischen Autoritätsund Identitätsstiftung andererseits scheiden ließen, oder welches es ermöglichen würde, Sprechakte jeweils dem einen oder dem anderen Bereich zuzuweisen.88 Zwar lässt sich annehmen, dass der Reproduktion des Korpus kulturellen Wissens, insofern dieser propositional strukturiert und als eine Menge assertorischer Sätze verfasst ist, ein Moment der Explikation und Rationalisierung einbeschrieben ist. Dass dieses sich selbst rationalisierende Wissen jedoch zunehmend die Begründungslast für die gesellschaftliche Ordnung übernimmt, ist damit noch nicht erwiesen. Schließlich haben die „archaischen Weltbilder“ die bestehende Ordnung eher ausgelegt denn begründet, und es müsste erklärt werden, in welchem – strukturellen – Moment und auf welche Weise den Weltbildern oder dem kulturellen Wissen jene neue Funktion erwächst.89 Und es ist nicht anzunehmen, dass sich die Entwicklung der sozial- und subjektintegrativen Rolle des kulturellen Wissens im Rahmen einer Herangehensweise beleuchten ließe, welche andere Prozesse der sprachlichen Integration, und eben auch die Dynamik des Verhältnisses der unterschiedlichen Prozesse zueinander gar nicht thematisieren kann.90 88 Diese Situation macht, wie wir noch weiter sehen werden, eine hermeneutische (oder vielleicht dekonstruktive?) Arbeit im Rahmen der Diagnose gesellschaftlicher Verhältnisse erforderlich. 89 Natürlich lassen sich die Habermas’schen Thesen mit den zitierten soziologisch-historischen Arbeiten belegen: „Die strukturellen Aspekte der Entwicklung religiöser Weltbilder, die Durkheim und Weber, einander ergänzend, skizzieren, lassen sich damit erklären, daß sich die Geltungsbasis der Überlieferung vom rituellen aufs kommunikative Handeln verlagert.“ (Habermas 1987b, S. 136) Dies, die nurmehr konstatierte Verlagerung selbst, ist es jedoch, was die Sozialtheorie eigentlich erklären können sollte. 90 Das Bestehen auf der Hermeneutik meint in diesem Zusammenhang weniger eine Festlegung auf eine bestimmte, mehr oder weniger eng umschriebene Theorie- und Methodentradition als vielmehr die Absage an die Vorstellung, ausgerechnet mit der Systemtheorie verfüge man bereits über ein Instrumentarium, mit dem man diese Integration neben derjenigen, die sich in der Analyse propositional ausdifferenzierter Sprache erschließen lässt, analysieren kann. Die hier angesprochenen Lücken entziehen sich dieser wie jener gleichermaßen.
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Angesichts des Beharrens auf jener, auf bestimmte Weise unzugänglichen Quelle gesellschaftlicher Solidarität und individueller wie kollektiver Identität muss gegen eine zu starke Gewichtung derselben allerdings nicht nur die empirische Frage der tatsächlichen Besetzung jener Position in Betracht gezogen werden – vielleicht spielt sie ja in einer gegebenen gesellschaftlichen Situation faktisch gar keine große Rolle –, sondern vor allem, das ist ja Habermas’ zweiter Punkt, dass mit der ausdifferenzierten Sprache in der Tat eine zweite, mitunter konkurrierende Quelle von Normativität erwächst. Die Bedeutung der „Autorität des Heiligen“ – von der wir nun aber immerhin annehmen müssen, dass sie sich im Prozess der Modernisierung nicht gänzlich transformiert und in ihrem ursprünglichen Charakter verliert –, also ob, in welchem Maße und in welchem Sinne sich die Funktion der Legitimierung gesellschaftlicher Ordnung auf die Begründungsleistungen des kulturellen Wissens transferieren, hängt ja wesentlich auch von der Wirkungsweise, der Leistungsfähigkeit und Legitimationskraft der Bindungskräfte dieser Sprache ab.
2.1.3.2 ad b) Geltungskonkurrenz zwischen illokutionären Kräften und Autorität des Heiligen Habermas’ Argument, dass sich mit kritisierbaren Geltungsansprüchen und mit den illokutionären Kräften der Sprache ein neuartiges, emanzipatorisches Bindungspotenzial konstituiere, soll in diesen Überlegungen im Grunde gar nicht in Zweifel gezogen werden. Es sollen lediglich die beiden im aktuellen Zusammenhang zentralen Merkmale dieses Potenzials genauer betrachtet werden: Einerseits verweise die Bindungskraft diskursiver Sprechakte auf die intersubjektive Rechtfertigungspraxis und den darin angezielten und als möglichen einbeschriebenen Konsens, andererseits wirke dieser Verweis und die damit einhergehende rational motivierte Bindung der Akteure unabhängig von der Autorität der Überlieferung. So soll die überlieferte gesellschaftliche Ordnung grundsätzlich auch normativ infrage gestellt und auf der Basis der rational motivierten Zustimmung der Gesellschaftsmitglieder umgearbeitet werden können. Dass die in diesem Sinne irrationale Autorität des Heiligen nun aber nicht im religiösen Weltbild wurzelt, insofern dieses als ein kulturell überliefertes Wissen verstanden wird, dass sie sich diesem möglicherweise nurmehr mitteilt, während sie sich in einem Symbolismus konstituiert und erhält, der zunächst gar nichts Religiöses mehr an sich haben muss, verkompliziert die Vorstellung einer Abkehr von dieser Autorität. Und während die Frage des Umfangs eines Transfers von Legitimationsleistungen auf Mechanismen, die auf den illokutionären Bindungskräften einerseits, auf dem Explikationspotenzial des ausdifferenzierten kulturellen Wissens andererseits aufruhen, eine eher empirische Frage ist, gilt es doch grundsätzlich festzustellen, ob der genannte Verweis auf die intersubjektive Rechtfertigungspraxis tatsächlich die angenommene Unabhängigkeit von jener „symbolischen Autorität“ gewährleisten kann, und ob die rationale Zustimmungsfähigkeit der nachmetaphysischen Prozeduren ihr funktional äquivalent ist.
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Kehren wir zunächst noch einmal auf die Privilegierung der assertorischen Sätze zurück, die ja geltungstheoretisch den willkommenen Effekt hatte, Geltungsfragen eines jeden Modus an die Frage der Wahrheit anzuschließen und so jedem Obskurantismus, Relativismus, Nihilismus und Dezisionismus ein gewichtiges Gegenüber zu installieren. Wie wir oben angeschnitten haben,91 verdankt sich die Übernahme der Gewähr für die normative Richtigkeit und für die expressive Wahrhaftigkeit einer Äußerung durch den Sprecher einer Analogie zu seiner Bereitschaft, die Wahrheit der propositionalen Komponente eines assertorischen Satzes gegen Einwände zu verteidigen. Um die theoriestrategische Bedeutung jenes Privilegs zu erhellen, sei zunächst daran erinnert, dass in der Begründung der Sprechakttheorie Austins Besprechung einer möglichen Sonderrolle konstativer Äußerungen92 zu dem Ergebnis kam, dass es sich bei dieser Sonderrolle nicht um eine spezielle Qualität der „Idee der Wahrheit“ handeln kann,93 sondern dass sie besser verstanden werden sollte als quantitative Besonderheit in einem Kontinuum von pragmatischen Fokussierungen: What then finally is left of the distinction of the performative and constative utterance? Really we may say that what we had in mind here was this: (a) With the constative utterance, we abstract from the illocutionary (let alone the perlocutionary) aspects of the speech-act, and we concentrate on the locutionary:94 moreover, we use an over-simplified notion of correspondence with the facts – over-simplified because essentially it brings in the illocutionary aspect.95
Da Habermas auch seine Gewährsmänner Mead und Durkheim als Proponenten einer ursprünglichen Normgeltung, von der umgekehrt die Wahrheitsgeltung abhängig wäre, präsentiert,96 und sich so mit der relativen Privilegierung der konstativen Sätze gegen die ihm wichtigen pragmatisch argumentierenden Ansätze stellt, wollen wir uns die zentralen Passagen erneut vor Augen führen:97 Wohl können sich die Interaktionsteilnehmer, sobald sie sich überhaupt in einer grammatischen Sprache verständigen, in verschiedener Weise auf die Geltung von Normen berufen [. . .]. Die Kritisierbarkeit von Handlungen mit Bezug auf geltende Normen setzt aber noch keineswegs die Möglichkeit voraus, die Geltung der zugrundeliegenden Normen selbst zu bestreiten. 91 Vgl. S. 22. 92 Vgl. Austin 1980, S. 133–147. 93 „It is essential to realize that ‚true‘ and ‚false‘, like ‚free‘ and ‚unfree‘, do not stand for anything simple at all; but only for a general dimesion of being a right or proper thing to say as opposed to a wrong thing, in these circumstances, to this audience, for these purposes and with these intentions.“ (Ebd., S. 145) 94 Und die Bestreitung des Wahrheitsanspruchs wird zwar durch die illokutionäre Verortung des Sprechaktes ermöglicht, konzentriert sich jedoch genau in diesem Sinne auf den lokutionären Aspekt. 95 Austin 1980, S. 145f. Mit dem letzten Gedanken verweist Austin darauf, dass die Korrespondenz implizit doch immer nur als „rough“ oder „good enough“ behauptet wird, und zwar in Abhängigkeit vom pragmatischen Kontext der Äußerung. Eines von Austins Beispielen ist die konstative Äußerung „France is hexagonal“. (Ebd., S. 143) 96 Vgl. Habermas 1987b, S. 109. 97 Tatsächlich wähnt sich Habermas von einer solchen Privilegierung weit entfernt. Entsprechend kritisiert er sie als der traditionellen – im Sinne von überkommenen – Philosophie zugehörig. Vgl. etwa Habermas 1988, S. 166 oder 180. Umso sorgfältiger soll hier nachgewiesen werden, in welchem Sinne doch auch bei ihm eine solche Privilegierung festzustellen ist.
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Interessanterweise verhält es sich mit dem strukturell analogen Satz (9) [„es ist der Fall (ist wahr), daß p.“] anders. (9) versteht man nicht, wenn man nicht weiß, daß ein Sprecher diesen Satz nur in der Rolle eines Proponenten, und das heißt mit der Bereitschaft übernehmen kann, „p“ gegen die Einwände von Opponenten zu verteidigen. [. . .] Wenn deskriptive Aussagen in modalisierter Form auftreten, und wenn die illokutionären Bestandteile konstativer Sprechhandlungen wie in (9) thematisiert werden, bietet es sich an, die Wahrheit in struktureller Analogie zu einem bereits verfügbaren Begriff der Normgeltung zu interpretieren. Eine solche Hypothese legen Mead und Durkheim nahe – der eine, weil er ohnehin damit rechnet, daß sich der Begriff der objektiven Welt auf dem Wege der Desozialisierung der Dingwahrnehmung bildet, der andere, weil er die kontrafaktischen Bestimmungen einer gegenüber Raum und Zeit neutralisierten Wahrheitsgeltung auf die im Begriff des Sakralen liegende Kraft der Idealisierung zurückführt. [. . .] Freilich kann die Idee der Wahrheit dem Begriff der Normgeltung nur die Bestimmung der zeitenthobenen Unpersönlichkeit eines idealisierten Einverständnisses, einer auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft bezogenen Intersubjektivität entlehnen. Dieses Moment der „Harmonie der Geister“ wird dem anderen Moment einer „Harmonie mit der Natur der Sache“ hinzugefügt. Die Autorität, die hinter der Erkenntnis steht, fällt ja nicht mit der moralischen Autorität zusammen, die hinter Normen steht. Der Wahrheitsbegriff verbindet vielmehr die Objektivität der Erfahrung mit dem Anspruch auf intersubjektive Geltung einer entsprechenden deskriptiven Aussage, die Vorstellung der Korrespondenz von Sätzen und Tatsachen mit dem Begriff eines idealisierten Konsenses. Erst aus dieser Verbindung geht der Begriff eines kritisierbaren Geltungsanspruchs hervor. In dem Maße wie die in Paläosymbolen verwurzelte Normgeltung ihrerseits in Analogie zum Wahrheitsanspruch interpretiert werden kann, wandelt sich auch das Verständnis von normativen Sätzen wie (8) [„Es ist geboten, daß h in S.“]. Gebote können dann als Äußerungen verstanden werden, mit denen der Sprecher gegenüber Angehörigen der sozialen Gruppe einen bestreitbaren Geltungsanspruch erhebt und nicht nur einen Anspruch auf die Normenkonformität einer Sprechhandlung, welcher die Geltung der autorisierenden Norm selbst unberührt läßt.98
Was die Spezifikation des mit dem lokutionären Aspekt verbundenen Wahrheitsanspruchs, der hier durchgängig als Korrespondenz von Sätzen und Tatsachen ausgegeben wird, angeht, so sind die angeführten Passagen, ebenso wie die Theorie des kommunikativen Handelns im Ganzen noch unterbestimmt – und es handelt sich ja dabei auch um eine Frage, die im Kontext der Diskurstheorie bis in jüngste Zeit noch diskutiert wird.99 Der Begriff des kritisierbaren Geltungsanspruchs allerdings geht aus der Verbindung von Objektivitäts- und Intersubjektivitäts-Anspruch hervor, und während sich diese Momente nur in der wechselseitigen Analogie von Normund Wahrheitsgeltung erhellen lassen, so ist es doch das Privileg des Wahrheitsbegriffs und der assertorischen Sätze, den Ort für ihre Verbindung abzugeben. Dann und soweit ist die Auszeichnung des assertorischen Modus in diesem Sinne gerechtfertigt, ob sie allerdings die eingangs artikulierten Hoffnungen erfüllen kann – auch Fragen der normativen Richtigkeit und der expressiven Wahrheit jedem Obskurantismus, Relativismus, Nihilismus und Dezisionismus gegenüber an die Perspektive einer Objektivität zu binden –, ist eher fraglicher geworden. Es ist ja noch unklar, was „Objektivität“ in diesem Zusammenhang überhaupt heißen soll. Vielleicht waren jene Hoffnungen aber auch überzogen formuliert. Darauf wird im Kontext der politischen Konkretion unserer Thematik noch zurückzukommen sein. 98 Habermas 1987b, S. 109–112. 99 Vgl. etwa Habermas 1999 und diverse Aufsätze im ersten Teil von Wingert / Günther 2001.
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*** Die Verbindlichkeit einer „durch den Diskurs hindurch“ gegangenen Handlungsregel, ihre im Diskurs hergestellte Geltung, beruht jedenfalls darauf, dass der Proponent mit seiner Äußerung die Gewähr dafür übernommen hat, im Zweifelsfalle geeignete Gründe für die intersubjektive Akzeptabilität der Regel anführen zu können; und darauf, dass er auf dieser Grundlage von den Hörern die Zustimmung zu der Regel beanspruchte. Durch diese Inanspruchnahme der Gesprächspartner wurde es nämlich möglich, deren faktische Reaktion als eine („interaktionsfolgenrelevante“) Negation oder Affirmation der verhandelten Regel zu verstehen; und im Lichte des Rechtfertigungs-Angebots (und a fortiori, wenn tatsächlich weitere Gründe diskutiert wurden) lässt sich die Zustimmung der Interaktionspartner als eine rational motivierte verstehen. Die Verbindlichkeit einer diskursiv konsentierten Norm basiert also auf einer rationalen und verbindlichen Zustimmung der Gesprächspartner, und auf ihrer durch die illokutionären Bindungskräfte gewährleisteten Verstetigung. Angesichts dieses Aufrisses stellen sich zwei Fragen – ist er eine angemessene Beschreibung des Konsensfindungsverfahrens; und bedarf die geschilderte Verbindlichkeit weiterer, u. U. relativierender Qualifizierungen? Zunächst ist festzuhalten, dass der sozialtheoretisch eigentlich relevante Fall wohl nicht in der direkten Verhandlung von Normen und Institutionen in der beschriebenen Art und Weise besteht, sondern eher in der unthematischen Mit-Bestätigung und Bekräftigung einer Norm als Hintergrund-Annahme einer anderen Äußerung; allenfalls sollte davon ausgegangen werden, dass die Norm nicht völlig im Rücken der Kommunikationspartner bleiben muss, sondern im semantischen Feld eines normativen Sprechakts im weiteren Sinne in die Interaktion eingeführt wird, wo sie allerdings nur selten explizit gemacht und eigens diskutiert wird. Wenn die infrage stehende Norm in dieser Weise aus dem expliziten Diskurs hinausrückt, das auf der rationalen Verhandlung kritisierbarer Geltungsansprüche basierende Diskursmodell aber beibehalten wird, dann muss der Vorgang offenbar so vorgestellt werden, dass ein Sprecher ein Sprechaktangebot macht, und dabei einen konstativen, normativen oder expressiven Sachverhalt – wenn wir uns for the sake of the argument dem „exklusiv-propositonalen Sprachmodell“ anschließen, in dem der propositionale Anteil einer jeden Äußerung als prädikativer Ausdruck und in diesem Sinne als „Sachverhalt“ verstanden werden können soll – behauptet, und die Zustimmung der Hörer zu diesem Sachverhalt beansprucht. Die uns interessierende Norm ist hier allerdings nicht im propositionalen Sprechaktbestandteil explizit formuliert, sondern eine der Bedingungen, unter der das Sprechaktangebot gültig wäre. Ein Hörer kann zu diesem Sprechaktangebot dann positiv oder negativ Stellung nehmen, wobei eine positive Stellungnahme eben eine Anerkennung der als Gültigkeitsbedingung impliziten Norm bedeutet. Da das Augenmerk ganz im Habermas’schen Geist auf dem Geltungsaspekt der normenrelevanten Kommunikation und auf den unumgänglichen Unterstellungen der Kommunikationsteilnehmer liegt, soll nicht auf eventuelle faktische Unzulänglichkeiten abgehoben werden, also auf Bedingungen der Art, dass etwa die Interaktionspartner in ihrer Zustimmung / Ablehnung unaufrichtig sein oder einfach
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nur unartikulierbare Zweifel haben könnten, dass der Proponent über gar keine weiteren Gründe verfügen oder selber ganz anders motiviert sein könnte, dass die von der Norm Betroffenen an der Interaktion gar nicht teilhaben usw. Die bereits besprochene Unübersichtlichkeit der Bedingungen führt allerdings dazu, dass auch idealerweise nicht von einer Präsenz aller sinnfälligen Bedingungen in der Reaktion auf die Äußerung ausgegangen werden kann. Dann ist aber keiner der Interaktionspartner in der Lage, zu entscheiden, ob die Ja- / Nein-Stellungnahme die im Hintergrund bleibende Norm denn nun bestätigt oder ihr widerstreitet.100 Ob ausgerechnet diese Hintergrund-Bedingung in einer Affirmation des Sprechaktangebots mit-bestätigt wurde, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Die Bedeutungsoffenheit der Sprechakte verhindert es ja geradezu, dass die Gültigkeit der Norm eine notwendige Bedingung der Gültigkeit des verhandelten Sprechakts darstellt. (Ähnlich unmöglich dürfte es sein, festzustellen, ob der Widerspruch zum Sprechaktangebot auch der Geltung ausgerechnet dieser Norm widerspricht.) Und ebenso wie der Sinn der Norm nicht nur durch die propositionale Formulierung der infrage stehenden Handlungsregel, sondern auch durch die unüberschaubare Handlungssituation bestimmt ist, in der die normenrelevante Kommunikation stattfindet, so ist auch der Inanspruchnahme der Interaktionspartner ein Sinn zuzusprechen, der über die Aufforderung zur Zustimmung oder Ablehnung einer Handlungsregel hinausgeht. Die ursprüngliche Handlungssituation bestimmt insofern den Sinn der verhandelten Norm, den Sinn der wechselseitigen Inanspruchnahme der Kommunikationspartner und den Sinn der aus dieser Handlungssituation und ihrer Kommunikation resultierenden Verpflichtung. Und analog zur Unmöglichkeit der Bestimmung der Bedeutung eines Zeichens oder einer Äußerung aufgrund der unzähligen Kontextbedingungen, wie sie uns Searle nahelegte, so ist es auch hier unmöglich, die bestimmenden Faktoren einfach in den propositionalen Gehalt der Handlungsregel oder der Norm aufzunehmen. Das hat Konsequenzen für die Aussicht auf eine rationalisierende Durcharbeitung aller sedimentierten Gehalte der Lebenswelt: Es ist nämlich nicht sicher, ob sich nicht normativ sehr einflussreiche Elemente der Lebenswelt einer propositionalen Formulierung entziehen, damit auf Dauer für eine direkte Thematisierung unzugänglich sind und durch den Ausbau der Menge diskursiv rationalisierten Wissens gar nicht notwendig tangiert werden. Die Analogie zur obigen Diskussion der Bedeutung von Zeichen und Äußerungen lässt sich auch noch weiter treiben: Folgt man nämlich dem weitergehenden Vorschlag Derridas auch im Verständnis der Normgeltung, so kann die „ursprüngliche“ Handlungssituation, so unüberschaubar sie auch praktisch bereits sein mag, als wahrhaftig „unerschöpfliche“ auch idealerweise nicht mehr als absolutes, wenigstens virtuell Halt gebendes Datum begriffen werden. Mit einem in diesem Sinne zugespitzten Verständnis bedeutet auch noch die explizite Affirmation einer Norm nicht einfachhin die Verwandlung einer Norm aus einem umstrittenen oder sonstwie 100 Selbst die Konstruktion eines Beobachterstandpunktes, der die diversen involvierten Hintergrundbedingungen registrieren würde und sie nicht als in der Handlungssituation befangen notwendig in seinem Rücken hat, bürdet diesem so anspruchsvolle Leistungen auf, dass sie wohl kaum eine theoretisch praktikable Perspektive darstellt.
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suspendierten in einen konsentierten und verbindlichen Status, sondern sie besitzt selber einen performativen Sinn, der sich dem Sinn der Norm hinzufügt und ihn dabei verändert – und sie würde dabei zugleich verdeutlichen, dass die Verständigung über und die Handhabung der Norm als zukunfts- und sinn-offener Prozess verstanden werden müssen.101 Weit davon entfernt, ein dezisionistisches oder obskurantistisches Moment einzuführen, macht uns Derrida darauf aufmerksam, dass jede im- oder explizite Thematisierung einer Norm (jedes normative Einverständnis, jedes Urteil, jede Relativierung usw.) Element eines Konstruktionsprozesses ist, der als solcher erst der Norm ihren Sinn verleiht; und er macht darauf aufmerksam, dass dieser Prozess im Ganzen weder den Teilnehmern noch einem eventuellen Beobachter verfügbar ist, sondern sich immer als eine auf ihre eigene Zukunft hin geöffnete Praxis darstellt. Erneut stellt Habermas somit den semantischen Gehalt der verschiedenen Motive (normative Äußerung, Handlungsregel, Zustimmung usw.) transparenter und unproblematischer vor, als es angemessen wäre. Der Sinn eines Sprechaktangebots wird durch den Situationskontext seiner Äußerung und durch die darauf antwortende Äußerung bestimmt, und selbst dadurch nicht hinreichend – und ob das Angebot eine bestimmte Handlungsnorm impliziert, liegt genau so wenig im Ermessen des Autors oder eines soziologischen Beobachters, wie der Charakter der Antwort als einer Ja- oder Nein-Stellungnahme. Es lässt sich nicht definitiv entscheiden, was durch eine Antwort, selbst wenn diese sich wie eine explizite Ja-Stellungnahme ausnimmt, denn nun eigentlich bestätigt wird. Und dies ist kein Problem der Unschärfe eines konzeptuellen Ansatzes, sondern die Folge der wesentlichen Unschärfe der konzeptualisierten Gegenstände. Die Interaktionsteilnehmer tauschen keine Vorschläge und Ja- / Nein-Stellungnahmen mit eindeutigem illokutionären Aspekt und genau umrissenem propositionalen Gehalt aus; die Normen, an die sie sich binden, sind mehr als propositional formulierbare Regeln; die Praxis, auf die verwiesen wird als diejenige, die die Akzeptabilität des Sprechaktangebots weiter erhärten könnte, ist eine jeweils konkrete sozio-historische Rechtfertigungspraxis und nicht die ideale Anführung von ebenso eindeutigen Gründen; die wechselseitige Inanspruchnahme geht immer über die Aufforderung zur Zustimmung zum propositionalen Gehalt hinaus, und dieser Überschuss betrifft den Sinn der Inanspruchnahme und des Sprechaktangebots, den Sinn der Norm selbst. ***
Betrachten wir die Besprechung der materialen Analysen durch Habermas in dieser Frage, sehen wir uns mit der folgenden, in gewisser Weise überraschenden These konfrontiert: Die Entzauberung und Entmächtigung des sakralen Bereichs vollzieht sich auf dem Wege einer Versprachlichung des rituell gesicherten normativen Grundeinverständnisses; und damit geht die Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotenitials einher. Die
101 Ähnliches gilt natürlich auch für die unter Umständen zur Rechtfertigung der Norm angeführten Gründe.
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Aura des Entzückens und Erschreckens, die vom Sakralen ausstrahlt, die bannende Kraft des Heiligen wird zur bindenden Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche zugleich sublimiert und veralltäglicht.102
Bislang hatte die Diskussion ja eigentlich eher nicht an eine Verwandlung der sakralen Autorität selbst denken lassen – es schien vielmehr so, dass diese mit der Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotenzials durch eine weitere Quelle von Normativität ergänzt würde, dass die bannende Kraft des Heiligen sich fortan der bindenden Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche gegenüber gesehen hätte (und dass die letztere gesellschaftsevolutionäre und rationalitätstheoretische Vorteile für sich hatte verbuchen können). Um dieser Ambivalenz auf den Grund zu gehen gilt es, sich erneut den Durkheimschen Modellen des Symbolismus einerseits und der Rechtsgenese andererseits zuzuwenden. Dabei wird sich abzeichnen, dass zwischen den beiden Momenten der Einheit und der Allgemeinheit durchaus eine Spannung besteht, welche in der Rekonstruktion durch Habermas vermeintlich unproblematisch integriert und so unzulässig geglättet wird. Wenn wir uns nun also erneut dem sakralen Symbolismus zuwenden, so nicht, wie oben,103 um nach den Möglichkeiten zu fragen, wie sich die damit verbundenen Erfahrungsgehalte ausdrücken und als Ausdrücke verstetigen lassen, sondern um zu fragen, was genau an ihnen das autorisierende, obligatorische Moment ausmacht (und weiterhin dann, wie es sich gesellschaftlichen Normen mitteilt bzw. wie sich diese Mitteilung im Laufe der Rechtsgenese wandelt). Habermas beginnt seine Diskussion der Durkheimschen „Autorität des Heiligen“ mit dem Hinweis auf einen frühen Vortragstext Durkheims, in dem dieser bereits als zwei wesentliche Merkmale der moralischen Obligation einerseits die „Allgemeinheit moralisch normierter Verhaltenserwartungen, die sich an alle Angehörige einer Gemeinschaft richten,“ andererseits den faszinierenden, erschreckend-verheißungsvollen, zwingend-erstrebenswerten Doppelcharakter der moralischen Autorität hervorhebt.104 Diese Merkmale bleiben bei Durkheim wie bei Habermas durch eine Reihe von Entwicklungen hindurch prägend. Während Durkheim jedoch die Selbstlosigkeit des moralisch Handelnden mit der „Bindung an eine wie immer geartete Gruppe“ identifiziere, wirft Habermas bereits den Gedanken der (relativen) Allgemeinheit ein. Doch zunächst sind im Kern der sakralen Autorität die Gedanken von normativem Konsens und kollektiver Identität beinahe zirkulär verwoben: Der obligatorische Charakter der Normen entspringt einem impliziten normativen Konsens, der sich in der Konstellation sakraler Symbole begreifen lassen muss. Diese haben ihre Bedeutung im Rahmen ritueller Handlungen, deren wesentlicher Inhalt wiederum im Gelingen des Konsenses besteht. Die kollektive Identität ist damit die derjenigen Gruppe, in der der normative Konsens gelingt, sie entsteht im Moment des gelingenden Konsenses (und ist nicht die einer vorgängig konstituierten Gruppe, in der dann getestet würde, ob der Konsens gelingt), und der Konsens hat die Feststellung der sozusagen 102 Habermas 1987b, S. 119. 103 S. 34. 104 Habermas 1987b, S. 77f.
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numerischen Identität der Gruppe zum Inhalt (und nicht einen materialen Gehalt, der gleichsam in einem zweiten Schritt als Identifikationspunkt für alle, die zustimmen, dienen könnte).105 Habermas nennt diesen Zusammenhang im Anschluss an Durkheim und in Anspielung auf die mystische Dimension des Vorgangs ausdrücklich eine „kommunikativ [nämlich im gemeinsamen Symbolgebrauch] vollzogene Kommunion“.106 Mit Zeremonien dieser Art wird nichts dargestellt: sie sind vielmehr der exemplarisch wiederholte Vollzug eines damit zugleich erneuerten Konsenses, dessen Inhalte eigentümlich selbstbezüglich sind. Es handelt sich um Variationen ein und desselben Themas, eben der Anwesenheit des Heiligen; und dieses wiederum ist nur die Form, unter der das Kollektiv „seine Einheit und Persönlichkeit“ erfährt. Weil das normative Grundeinverständnis, das sich im gemeinsamen Handeln ausdrückt, die Identität der Gruppe zugleich herstellt und erhält, ist die Tatsache des gelingenden Konsenses zugleich dessen wesentlicher Inhalt. [. . .] Die kollektive Identität hat die Gestalt eines normativen Konsenses, der sich über das Medium religiöser Symbole bildet und in der Semantik des Sakralen auslegt.107
Da die Identität der Gruppe über die gemeinsame Identifikation mit dem Heiligen hergestellt und erneuert wird, ist sie auf eine ganz bestimmte Weise intersubjektiv strukturiert, und diese intersubjektive Produktion soll mit der Benennung als „normativer Konsens“ zum Ausdruck gebracht werden: „Die kollektive Identität bildet sich in Gestalt eines normativen Konsenses“.108 Dabei ist unbedingt festzuhalten, dass es keinen Sinn macht, den „Konsens“ von dem hier die Rede ist, als aggregierte Zustimmung zu einer Proposition verstehen zu wollen. „Konsens“ ist hier eher im buchstäblichen als im geläufigen Sinne zu verstehen: Einerseits ist statt einer Zustimmung zu einer Proposition vielmehr „die Verschmelzung aller Einzelgefühle zu einem Gemeingefühl“109 gemeint, andererseits bilden sich die Parteien, deren Zustimmung nach dem geläufigen Verständnis aggregiert werden könnte, allererst im Konsens – als „Spiegelbild der kollektiven Identität“.110 Hier referiert Habermas natürlich Durkheim. Er selbst artikuliert seine Vorbehalte bezüglich einer auch schon auf dieser Stufe wohl anzunehmenden selbstständigeren Subjektivität allerdings nur im Rahmen der erst durch die grammatische Rede eröffneten Möglichkeiten von Individuierung und Vergesellschaftung; wie die Subjektstrukturen auf der Stufe der „paläosymbolischen“ Kommunikation zu beschreiben wären, ist nicht ganz so klar – sicherlich aber nicht so, dass sie als konsensfähig im geläufigen, anspruchsvollen 105 Schon die Zirkularität des Modells deutet darauf hin, dass die Beobachtung des Konstitutionsvorgangs eine Fiktion ist, dass dieser eine Projektion aus der Gegenwart eines unauflöslichen Zusammenhangs von Normativität und Gruppenidentität ist. Diese Unmöglichkeit des Zugriffs auf den Ursprung wird immer wieder von Claude Lefort thematisiert, dem sich der zweite Teil dieser Arbeit zuwendet. Vgl. unten, S. 105ff. 106 Habermas 1987b, S. 84. 107 Ebd., S. 85f. 108 Ebd., S. 85. 109 Ebd., S. 87f. 110 Ebd., S. 85f.
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Sinne verstanden werden könnten. Wenn so allerdings von einer sehr viel engeren Verwobenheit von individueller und kollektiver Identität ausgegangen werden muss, dann ist auch der Gedanke der Selbstlosigkeit derjenigen, die sich der moralischen Autorität einer (relativen) Allgemeinheit unterwerfen, revisionsbedürftig. Denn statt von einer dezentrierenden Verallgemeinerung sollte eher von einer Art „Umschalten“ auf ein anderes (nämlich kollektives) Selbst im Rahmen einer weiterhin selbst-bezogenen Handlungsorientierung gesprochen werden. Zumindest bedarf es noch weiterer Erläuterung, warum dieses „Umschalten“ in dem hier einschlägigen Handlungskontext, also noch unabhängig von einer propositional ausdifferenzierten Sprache, als „Dezentrierung“ beschrieben werden sollte. Das Interesse richtet sich dann auf das Szenario, in dem ein verbliebener Bereich rituellen Handelns weiterhin für die normative Integration des Gemeinwesens sorgt, aber von einer Alltagspraxis abgekoppelt ist, die primär instrumentell und mittels einer grammatischen Sprache organisiert wird. Die normative Integration dieses Handlungsbereiches wird noch nicht durch den Diskurs, sondern durch für die Akteure nicht disponible Institutionen geleistet. Da nun aber offenbar das Handeln in und im Umgang mit Institutionen nicht selbst rituelles Handeln ist, ist zu fragen, wie sich die Autorität des Heiligen den gesellschaftlichen Institutionen und dem institutionellem Handeln mitteilen kann. Wie wir sahen, fungieren nach Habermas die Weltbilder als Transmissionsriemen, die „zunächst“ die Institutionensysteme explizieren und „später“ eigenständige Rechtfertigungsfunktionen übernehmen.111 Aber schon früh sind Weltbilder – und seien sie auch zunächst noch undifferenziert – unabdingbar, um die Verbindung von Institutionen zu ritueller Praxis herzustellen. Dies leisten sie nicht, indem sie ein differenziertes, auf die jeweilige Institution zugeschnittenes Begründungsmuster zur Verfügung stellen, sondern indem sie einen kosmologischen Zusammenhang der Welt insgesamt herstellen, eine Totalität, „in der alles mit allem korrespondiert“112 und die so die Institutionen mit einer subjektiven Notwendigkeit ausstatten, die sich der (vermeintlich) eindeutigen Verklammerung mit dem basalen „normativen Konsens“ verdankt: „Im Grenzfall fungiert das Weltbild als eine Art Transmissionsriemen, der das religiöse Grundeinverständnis in Energien der gesellschaftlichen Solidarität verwandelt, an die gesellschaftlichen Institutionen weitergibt und diesen moralische Autorität verleiht.“113 Da jedoch auch in diesem Grenzfall das institutionelle Handeln nicht selbst rituell ist, muss festgehalten werden, dass die moralische Autorität, mit der die Institutionen ausgestattet sind, einen anderen Charakter hat als diejenige der sakralen Symbole. Der Transmissionsriemen eines Weltbildes, wie er von Habermas im Anschluss an Weber vorgestellt wird, kann Institutionen mit einer Verpflichtungskraft versorgen, die ein normen- und institutionenkonformes Handeln als selbstverständlich und unbedingt notwendig erscheinen lässt, er bedeutet jedoch bereits den Verlust des Faszinosum – die Institutionen sind verbindlich, aber sie sind keine Orte von Heil und Schrecken. 111 Vgl. Habermas 1987b, S. 88–90. 112 Ebd., S. 89. 113 Ebd., S. 89f.
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An diesem Punkt eröffnet sich eine ganze Reihe von sensiblen Fragen, denn hier treten die Funktion der gesellschaftlichen Ordnung und Handlungskoordinierung und diejenige der Generierung von Autorität, gesellschaftlichem Selbstverständnis und Gemeinsinn auseinander. Erst auf dieser Stufe lässt sich von einem „normativen Grundeinverständnis“ sprechen, das nämlich entsteht, indem und soweit es sich vom „mystischen Grund der Autorität“ abhebt.114 Zugleich lässt sich auch genau hier eine Einfallsmöglichkeit für kommunikative Rationalität ausmachen, denn die Weltbilder reproduzieren sich im Rahmen des kommunikativen Alltagshandelns und bringen dort die Autorität der Institutionen zur Geltung. Wir haben gesehen, wie es Habermas unternimmt, zu zeigen, wie Sprache und kommunikative Rationalität sich dort zur Geltung bringen konnten. Insoweit dies als gelungen gelten kann, wird sich die Autorität, mit der die gesellschaftlichen Institutionen bekleidet sind, tatsächlich transformiert haben. Dann wäre zu untersuchen, ob der Zustrom der Autorität des Heiligen sich durchhält und durch die Einspeisung kommunikativer Rationalität gezähmt oder kanalisiert wird – in diesem Falle fragt sich, ob diese neue Form der Autorität eine Kombination oder nicht doch eine unauflösliche Legierung kommunikativ generierter Geltung und „paläosymbolischer“ Autorität ist –, oder ob er mit der Entzauberung der Welt versiegt, etwa weil es keinen rituellen Handlungszusammenhang mehr gibt – und in diesem Falle stellt sich die Frage der Solidarität, also ob die kommunikativ erzeugte Normativität die alte, identitätsverbürgende Autorität ersetzen kann. Darüber hinaus ist die Frage noch nicht angeschnitten, ob nicht die Institutionen selber eine symbolische Dimension haben und ob sie – in einer zur rituellen Praxis analogen Weise – ihre eigene Autorität produzieren könnten. Um dieser Frage nachzugehen, wird man die Institutionen allerdings auf eine andere Weise thematisieren müssen. In jedem Falle kann man aber zum gegenwärtigen Diskussionsstand noch nicht davon ausgehen, dass sich in der umgangssprachlichen Verleihung der Autorität des Heiligen an gesellschaftliche Institutionen die kommunikative Rationalität so einspeist, dass sie eine Quelle normativer Geltung bereitstellt, welche als Übersetzung der sakralen Autorität diese einerseits rationalisiert und andererseits um ihre volle Reichweite beerbt hätte.115 Der Prozess der Autorisierung von Institutionen und Normen hat zwei untilgbare, aber füreinander immer noch inkommensurable Momente, die beiden Quellen normativer Geltung bleiben disparat, und es ist nicht die Autorität des Heiligen, die einer Transformation unterliegt, sondern die Autorität der Institutionen. Nach diesem Aufriss des „mystischen“ Charakters der archaischen Geltung von 114 Zu einer Vermittlung der Selbständigkeit der mystisch gegründeten Autorität mit der Frage von Begründung, Einverständnis und letztlich Gerechtigkeit, vgl. Derrida 1991. Dort zeigt sich auch in besonderer Weise, wie kompliziert dieser Zusammenhang ist, wenn man das mystische Moment von Autorität nicht einfach unterschlägt. 115 Dies ist letztlich der mehr oder weniger subtile Gang der Habermas’schen Argumentationsstrategie: Sprachtheoretisch einen Begriff normativer Geltung zu etablieren; gesellschaftstheoretisch einen Punkt auszumachen, an dem dieser sich faktisch zur Geltung bringen kann; und klarzumachen, wie er an diesem Punkt die konkurrierenden Modelle von Autorität mitsamt den ihnen eigentümlichen Leistungen und Erklärungspotenzialen integriert bzw. assimiliert.
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Normen wendet sich Habermas einer Untersuchung der Autorität des modernen Rechts zu. Wiederum folgt er dabei Durkheim, der sich nicht mit der HobbesWeberschen Auskunft zufrieden gibt, das moderne Recht beziehe seine Verpflichtungskraft aus der Verinnerlichung der Sanktionsgewalt.116 Ähnlich der früheren Ergänzung der Transzendenz des moralisch Guten durch sein Erstrebenswert-Sein besteht Habermas mit Durkheim darauf, dass der verpflichtende Charakter vertraglicher Regelungen des modernen Rechts auf dessen Legitimität beruht. Schon Durkheim beschreibt die Rechtsprozeduren als äußerliches Kriterium für den Grad der Legitimität einer Norm und identifiziert Legitimität selbst im Anschluss an Rousseau als Allgemeininteresse.117 Habermas weist darauf hin, dass Durkheim auf dieser Grundlage eine „moralische Überlegenheit“118 des demokratischen Prinzips beschreibt, insofern dieses die gemeinsame explizite Reflexion auf das gemeinsame bzw. eben das allgemeine Interesse ins Zentrum rückt. In diesem Sinne entspricht es einer auch soziologisch sichtbaren Entwicklung der Gesellschaften, in welcher diese generell die Orientierung an Vorurteilen sukzessive durch kritische Reflexion überwinden und die Passivität der Gesellschaftsmitglieder im Gang der öffentlichen Angelegenheiten durch eine aktive Einsicht und gar durch ihre kommunikative Teilhabe ersetzen.119 Habermas seinerseits versteht nun diese Autorisierung des modernen Rechts durch seine in diskursiver Verallgemeinerung erzeugte Legitimität (vielleicht etwas übereilt) als authentische Übersetzung der archaischen Autorität des Heiligen: Die bindende Kraft eines sakral begründeten moralischen Einverständnisses kann nur durch ein moralisches Einverständnis ersetzt werden, das in rationaler Form zum Ausdruck bringt, was im Symbolismus des Heiligen immer schon intendiert war: die Allgemeinheit des zugrundeliegenden Interesses.120
Und er sieht, dass diese Übersetzung mit einer wichtigen Verschiebung einhergeht: In dem Maße, wie sich der religiöse Grundkonsens auflöst und die Staatsgewalt ihre sakrale Rückendeckung verliert, kann sich die Einheit des Kollektivs nurmehr als Einheit einer Kommunikationsgemeinschaft, nämlich über einen in der politischen Öffentlichkeit kommunikativ erzielten Konsens herstellen und erhalten.121
Wenn wir das Bild wieder aufnehmen, demzufolge die mehr oder weniger differenzierten Weltbilder einen Transmissionsriemen darstellen, über den gesellschaftliche 116 117 118 119 120 121
Vgl. Habermas 1987b, S. 122f. Vgl. ebd., S. 124f. Ebd., S. 125. Vgl. ebd., S. 125. Ebd., S. 124, meine Hervorhebung – A. W. Ebd., S. 125f, Hervorhebung im Original – A. W. Stellt sich aber die Einheit einer Kommunikationsgemeinschaft tatsächlich immer über einen Konsens her? Der Übergang von der im Diskurs unvermeidlichen kontrafaktischen Unterstellung der Möglichkeit eines Konsenses zur Faktizität eines kommunikativ erzielten Konsenses ist immerhin äußerst heikel. Weiterhin lässt sich, wie wir noch sehen werden, im Anschluss an Claude Lefort eine weitere Dimension der faktischen kommunikativen Konstitution einer (politischen) Gemeinschaft ausmachen. Unter Einbeziehung dieser Dimension lassen sich auch differenzierte Zusammenhänge und Vermittlungsgestalten zwischen ritueller Autorität und diskursiver Legitimität beschreiben. Vgl. unten, Kap. 3: Claude Leforts Demokratietheorie und das Symbolische, S. 89ff.
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Institutionen an sakrale Autorität angeschlossen werden, wobei einerseits der Verlust der Kraft der „transzendenten“ Obligation festzustellen ist, andererseits aber auch das Einschießen einer Legitimierung durch expliziten Konsens und die kommunikativ zugängliche Verklammerung mit gesellschaftlich geteiltem Wissen, dann soll offenbar nach Habermas die Einheit der Konsensgemeinschaft der politischen Kommunikation an die Stelle der Einheit der rituell vereinigten Glaubensgemeinschaft treten.122 Sie kann dort zwar nicht eine „transportablere“ transzendente Obligation produzieren, aber es ergibt sich ein interessanter Effekt: Der Ort des gemeinschaftsbildenden Konsenses ist nun nämlich nicht nur diskursiv produziert und strukturiert, sondern eigentlich gar nicht mehr von den Institutionen unterschieden. Es ist das Handeln in Institutionen selbst, welches zum Kristallisationspunkt eines Konsenses der Staatsbürger wird. Es hat den Anschein, als würde durch diese neue Form der Solidarität sogar die Transmission über Weltbilder überflüssig, und tatsächlich wird die Autorität von modernen Rechtsinstitutionen nicht mehr als auf einer kosmologischen Verklammerung von allem mit allem beruhend, sondern in gewissem Sinne frei stehend verstanden. Im Grunde eröffnet Habermas sich hier die Möglichkeit, die Praxis der Staatsbürger in den rechtlichen Institutionen als eine Praxis zu verstehen, die die Einheit des demokratischen Gemeinwesens vergegenwärtigt. Jedoch wird er meines Erachtens der Schwierigkeit dieser Verschiebung nicht ganz gerecht: Wir hatten gesehen, dass die „Einheit des Kollektivs“ den eigentlichen Grund der moralischen Obligation ausmachte, und dass sie in diesem Zusammenhang als überaus anspruchsvolle „Verschmelzung“ oder „Kommunion“ zu verstehen war. Dass in beiden Fällen vom Konsens die Rede ist, täuscht darüber hinweg, dass dieser Konsens als die „Gestalt“ der kollektiven Identität im früheren Stadium bzw. im ersten Falle gerade nicht als aggregierte Zustimmung eigenständiger Diskurspartner verstanden werden durfte.123 Im modernen Recht hingegen bezieht der Privatvertrag seine bindende Kraft aus der Legalität; aber das Gesetz, das ihm Legalität verleiht, verdankt seinerseits den Anerkennung heischenden, obligatorischen Charakter einem letztlich durch politische Willensbildung legitimierten Rechtssystem. Die Verständigungsleistungen einer Kommunikationsgemeinschaft von Staatsbürgern, deren Worte selbst, sind es, die den bindenden Konsens hervorbringen.124
Anstatt aber an dieser Stelle der Frage nachzuspüren, welche Effekte die politische Willensbildung und die Praxis in den rechtlichen Institutionen über die Legitimierung durch expliziten Konsens hinaus zeitigen, etwa im Sinne der vermeintlich überkommenen symbolischen Imagination der Einheit des Gemeinwesens, und so die neue Qualität der staatsbürgerlichen Solidarität auch nach dieser Seite hin zu beleuchten, bricht Habermas mit dem weniger leistungsfähigen Konzept der Solidarität einer „unter Kooperationszwängen stehenden Kommunikationsgemeinschaft“125 die Auseinandersetzung mit den materialen Analysen Durkheims ab und wendet sich der 122 123 124 125
Vgl. auch ebd., S. 129f. „[D]abei kann es sich freilich nicht um einen erzielten Konsens handeln“. (ebd., S. 85) Ebd., S. 126. Ebd., S. 139.
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Rekonstruktion des Formwandels der sozialen Integration sowie derjenigen der Rationalisierung der Lebenswelt in sehr viel allgemeinerer Perspektive, schließlich der Integration über systemische Mechanismen zu. ***
Wir können festhalten, dass nicht nur Habermas’ Vorstellung der Autorisierung von Normen zu einfach ist. Auch die Vorstellung, dass diese Autorisierung dadurch Gewicht gewinnt, dass sich „ursprünglichere“ Momente von Autorität und Geltung darin haben einspeisen lassen, leidet an einer Eindimensionalität, die in der ausschließlichen Konzentration auf die expliziten Gehalte der Diskurse besteht. Neben dem Problem der möglichen Persistenz des Symbolischen und der offenen Frage nach der symbolischen Rolle demokratisch-diskursiver Praxis sind wir auf eine Schwierigkeit gestoßen, die aus dem ungeklärten Verhältnis von Einheit und Allgemeinheit resultiert.126 Diese Schwierigkeit, das Problem des Gewichts von Einheit und Identität im „normativen Konsens“ sowohl der „archaischen“ als auch der „modernen“ Gesellschaften, und das Problem seiner auszulotenden Harmonie mit dem Universalisierungsanspruch der Diskurstheorie wird uns unten als Problem der staatsbürgerlichen Solidarität auch im Rahmen der Diskussionen von Faktizität und Geltung wieder begegnen.127 Was die allgemeinere Frage der Geltungsquelle normativer Ordnungen angeht, ist allerdings auch zu sehen, dass die genannten Argumente die Verbindlichkeit legitimer Normgeltung gar nicht relativieren. Möglicherweise verstärken die ins Feld geführten Momente sie sogar, indem sie sie in weiteren Dimensionen absichern. Was allerdings in der Tat relativiert wird, ist das Vertrauen darin, dass sich der Gehalt einer Norm in einer propositional formulierbaren Handlungsregel wiedergeben lässt, und dass sich ihre Geltung in der Registrierung von Affirmationen und Negationen der 126 Vielleicht ist es sogar möglich, eine damit zusammenhängende Ambivalenz der Komponente „Gesellschaft“ des Habermas’schen Lebensweltkonzepts herauszupräparieren: So wird diese als die unter der Perspektive der sozialen Integration zu beschreibenden Vorgänge von Handlungskoordinierung und von Regelung der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und damit von Sicherung von Solidarität beschrieben. Die soziale Integration der Lebenswelt „sorgt für die Koordinierung von Handlungen über legitim geregelte interpersonale Beziehungen und verstetigt die Identität von Gruppen [. . .]. Dabei bemessen sich die Koordinierung von Handlungen und die Stabilisierung von Gruppenidentitäten an der Solidarität der Angehörigen.“ (Habermas 1987b, S. 213, meine Hervorhebungen – A. W.) Die Frage, ob diese Konjunktion nicht trotz der Habermas’schen Differenzierungsbemühungen (dazu vgl. ebd., S. 212–217) eine komplizierte Heterogenität übersehen lässt, soll hier bis auf Weiteres offen bleiben, sie wird uns später erneut beschäftigen. 127 Andererseits sollte auch explizit benannt werden, womit sich ein Versuch, jener Multidimensionalität Rechnung zu tragen, konfrontieren lassen muss: Mit der Frage nämlich, ob in deren Rahmen nicht auch illegitimen, d. h. nicht konsensfähigen Normen – möglicherweise sogar als Nebeneffekt eines Diskurses im Habermas’schen Sinn – Verbindlichkeit verschafft werden kann bzw. ob es eine Möglichkeit der Beurteilung auch des umfassenderen Geschehens nach rationalen Kriterien geben kann. Das Ausbleiben dieses brisanten Problems in Habermas’ eigener Diskussion heißt aber natürlich nicht, dass es dort auf selbstverständliche Art bereits eine befriedigende Lösung gefunden hätte.
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Betroffenen und ggf. noch der Gründe, die diese für ihre Stellungnahmen anführen, erfassen lässt. Dies führt aber zu Problemen mit dem Vorhaben, eine strukturelle Komponente der Lebenswelt zu entwerfen, die den Kern der sozialen Integration des Gemeinwesens ausmacht und dabei der sozialwissenschaftlichen Forschung offensteht. In diesem Sinne betrifft die Problematisierung der Geltungsgenese von Normen die Gesellschaftstheorie auf wesentlich direktere Art und Weise als die Diskussion von Verständigungsprozessen über Sinn und Bedeutung von Zeichen und Äußerungen im Allgemeinen. Gerade was die Verpflichtungsverhältnisse angeht, die als Kern der Sozialintegration verstanden werden können, kann auf die hermeneutische Verständigung über den Sinn der Verpflichtungen nicht verzichtet werden. Eine Verpflichtung ist ihr Sinn, und wollte man sie unter weitestgehender Reduktion des hermeneutischen Moments in einer empirischen Herangehensweise mit einer faktischen Regelmäßigkeit oder in einer idealistischen Herangehensweise mit einer Norm und ihrer Begründungsfähigkeit selbst engführen, so würde die Rede von Verpflichtungen ihren Sinn verlieren. Die damit angesprochenen Schwierigkeiten, den Sinn von Verpflichtungen und von normativen Institutionen in einer objektivierenden, quasi-positivistischen soziologischen Beobachtung zu erschließen, müssen, so die These dieser Untersuchung, zu einer Revision der von Habermas als soziologisch zulässig erachteten Methoden führen. Dabei ist die gelegentliche Berufung auf Derrida im Übrigen eher ein heuristisches Mittel als der Vorschlag einer Theorie, die diese Revision bereits ins Werk gesetzt hätte. Tatsächlich verbaut die zeichentheoretische Argumentation Derridas vielleicht sogar Anschlusspunkte für eine soziologische Inanspruchnahme der angesonnenen Motive. Ein ähnliches Argument für einen Überschuss über den Objektivismus und Positivismus der Konzentration auf die propositional ausdifferenzierte Sprache – zumindest in ihrer von Habermas vorgeschlagenen Gestalt – findet sich auch etwa bei Maurice Merleau-Ponty. Statt diesem Weg, der angesichts der spärlichen (und sperrigen) systematischen Äußerungen Merleau-Pontys zu diesen Themen sehr diffizil erscheint, an dieser Stelle nachzugehen,128 sei auf das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit verwiesen, in dem die Fortführung der Merleau-Pontyschen Analysen durch Claude Lefort vorgestellt wird.129 2.1.3.3 ad c) Personalpronomina und Individuierung Wenden wir uns der Vollständigkeit halber den entsprechenden Vorbehalten bzgl. der Persönlichkeitsstrukturen zu. Da diese Frage unser eigentliches Thema, das Verhältnis von lebensweltlichen Dimensionen zu den Institutionen der politischen Ordnung jedoch nur vermittelt betrifft – denn die interaktionsrelevanten Aspekte jener Strukturen sind ja nach Habermas ohnehin durch den Filter der Artikulation und Interpretation hindurchgegangen –, und da in dieser Frage die anzubringenden Kritikpunkte die Argumentation insgesamt nur wenig tangieren bzw. sie lediglich in einer weiteren Hinsicht bekräftigen, werden sie hier nur noch sehr kurz angesprochen. 128 Vgl. etwa Merleau-Ponty 2003d. 129 Vgl. unten, Kap. 3: Claude Leforts Demokratietheorie und das Symbolische, S. 89ff.
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Wie wir gesehen haben, besteht die entscheidende Transformation der Persönlichkeitsstrukturen darin, dass durch die grammatische Struktur der Rede eine Instanz zurechnungsfähiger, selbstbewusster und selbstkritischer Subjektivität etabliert wird. In Erfahrungen der wechselseitigen Perspektivenübernahme werden die Kompetenz, Wünsche anderer Personen durch das Erfüllen explizierbarer Verhaltenserwartungen zu befriedigen, und die Kompetenz, eigene Wünsche als auf die objektive und soziale Welt bezogen zu erkennen und mit entsprechenden eigenen Verhaltenserwartungen zu artikulieren, zugleich erworben. Die mit dieser Kompetenz einhergehende Artikulations- und Interpretationsinstanz kann als Katalysator einer Differenzierung von Innen- und Außenwelt verstanden werden. Als Redeposition („das in Subjektausdrücken der performativen Rede auftretende Personalpronomen der ersten Person“130 ) wird sie notwendig in dieser Weise in Anspruch genommen: In ihr überlagern sich die rollenspezifisch festgelegten Verhaltenserwartungen an den Sprecher und die unvorhersehbare, unvertretbare Individualität der Reaktion auf solche Erwartungen.131 So erhalten die „spontan auftretenden leibgebundenen Expressionen“132 einen Rahmen, der ihre Unwillkürlichkeit kompensieren kann und der mit der Ausbildung von Verhaltensdispositionen die Verstetigung und Kontinuität der persönlichen Identität gewährleisten kann. Damit sind Persönlichkeitsstrukturen wie Verhaltensdispositionen, Wünsche usw. symbolisch strukturiert und an die sprachliche Kommunikation angeschlossen. Zudem sind sie bereits reflexiv organisiert, was die Herausbildung nicht nur zurechnungsfähiger und selbstbewusster, sondern auch (selbst-)kritischer und „universalisierungs-kompetenter“ Persönlichkeiten wahrscheinlich erscheinen lässt. Allerdings lässt Habermas die Gelegenheit aus, zu erläutern, wie die „symbolische Strukturierung“ sich nicht in einem kompensatorischen Interpretationsrahmen der subjektiv privilegiert zugänglichen Erlebnisse erschöpft, sondern diese selbst betrifft. Wenn man in Rechnung stellt, dass auch die basalsten Schichten der individuellen Psyche möglicherweise als symbolisch strukturierte verstanden werden können, muss der Status der von Habermas in Anschlag gebrachten Rationalisierungsinstanz überprüft werden, denn dann ist sie keine autonome Instanz, die ein unorganisiertes Material formt, sondern bereits in der intersubjektiven Generierung jenes Materials „verstreut“. Die durch Habermas nahegelegte Vorstellung einer subjektiven Innenwelt, die sich als spannungsreiches Verhältnis von intransparenten Befindlichkeiten und deren symbolischer Bearbeitung darstellt und die sich in expressiven Äußerungen und artikulierten Interessen mitteilt, bleibt letztendlich einem subjektphilosophischen Dualismus verhaftet und unterschätzt die symbolische Strukturiertheit und damit auch die intersubjektive Konstitution der vermeintlich irrationalen körperlichen und psychischen Vorgänge. Ohne im Gegenzug ein selbsttransparentes reflexives Subjekt annehmen zu müssen, kann doch darauf hingewiesen werden, dass auch vor- oder 130 Habermas 1987b, S. 138. 131 Vgl. dazu insg. ebd., S. 66–68, 93f, 138. 132 Ebd., S. 99.
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infra-subjektive Prozesse nicht gänzlich opak sind, sondern sich in einer individuellen Auseinandersetzung mit der als ursprünglich geteilt erfahrenen Welt ergeben, als Wahrnehmungsfelder bzw. in einem zweiten, immer noch infra-subjektiven Schritt als symbolisch strukturierte Muster. Diese erst sind das Material, auf das sich die bewusste, subjektivierende Reflexion richtet, sie sind aber selbst bereits mehr als lediglich „blinde“, unintentionale Reize, kontingente psychische oder neurologische Ereignisse.133 Im Rahmen eines solchen Modells geschieht die Rationalisierung der Persönlichkeitsstrukturen dann nicht als Prozessieren einer zunehmend differenzierten und differenzierenden subjektiven Selbst-Interpretationstätigkeit, sondern in der Bearbeitung der symbolischen und affektiven Potenziale selbst – eine Bearbeitung, die sich, zumindest in einem bescheidenen Sinne, als öffentliche verstehen lässt. Die eingangs genannte Etablierung einer zurechnungsfähigen, selbstbewussten und -kritischen Instanz kann weder als einziger Vorgang der Rationalisierung noch als einziger Effekt einer gesellschaftlichen Entwicklung isoliert werden, sondern muss wiederum von Untersuchungen ihrer eigenen Mehrdimensionalität und solchen der gesellschaftlichen subjektformierenden Kräfte flankiert werden. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass sich die symbolische Strukturierung der Persönlichkeitsmuster, d. h. der Verhaltensdispositionen und -erwartungen auch in den Vorgängen der Einstellungsübernahme niederschlagen muss. Egos Verständnis der von Alter geäußerten Erwartung (nicht aber von deren Autorität) weiß sich in diesem Sinne etwa immer als ein vorläufiges, angreifbares; ebenso sind die individuelle Spontaneität und ihre identitätsgewährleistende „Rahmung“ als unterbestimmte und auf eine offene Zukunft hin entworfene zu verstehen – sowohl externe (Meads „Me“) als auch interne Veränderungen werden als sinn-generierend und -verändernd erwartet. Vor diesem Horizont erscheint auch die Differenzierung zwischen Außenund Innenwelt als zwar notwendig und unvermeidbar, aber doch zugleich im Grunde riskant und fragil. In der Erarbeitung der normativen Grundlagen von Sozialität in der Theorie des kommunikativen Handelns hatte sich für Habermas kommunikative Rationalität als ein starkes normatives Potenzial erwiesen, dessen soziologisch – und eben auch normativ – wichtigste Gefährdung von den verselbständigten gesellschaftlichen Subsystemen bzw. davon ausging, dass deren von kommunikativer Rationalität gelöste Mechanismen der Handlungskoordinierung auch auf andere Handlungsfelder und auf das (kommunikative) Alltagshandeln übergriffen – die Gefahr der „Kolonialisierung der Lebenswelt“.134 Gegenüber der Exposition der Spannung zwischen dieser Gefährdung und den modernitätstheoretischen Errungenschaften der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme blieb die Erarbeitung eines Instrumentariums zurück, das es ermöglichen sollte, die Partikularität einer gesellschaftlichen Lebenswelt trennscharf und kritisch zu analysieren. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass ebenso systematische Spannungen, 133 Vgl. Merleau-Ponty 2003b. 134 Vgl. Habermas 1987b, S. 470ff.
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die zwischen der notwendigen Partikularität und vielleicht ebenso unaufgebbaren partikularisierenden Momenten einerseits und der Universalierungskraft, dem Universalisierungsanspruch der kommunikativen Rationalität andererseits bestehen könnten, unterbelichtet blieben.135 Im Rahmen der Habermas’schen Rechtstheorie gerät allerdings die angesprochene Spannung zwischen Partikularität und Universalismus in einer ganzen Reihe von Motiven in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Bevor wir uns diesem Zusammenhang zuwenden, ist kurz auf die Auseinandersetzung mit Derrida einzugehen, die Habermas explizit angestrengt hat. Dabei sollen ebenfalls die methodischen Schwierigkeiten, die durch die hier vorgenommene Kritik zu Tage getreten sind, rekapituliert werden. Insofern sich diese Schwierigkeiten einerseits mit dem Zweifel daran verbinden, „daß alles, was sich überhaupt sagen lässt, auch in assertorischer Form gesagt werden kann,“136 und insofern andererseits die phänomenologischhandlungstheoretische Perspektive auf lebensweltliche Zusammenhänge durch eine sprachtheoretische Perspektive und das „Alltagskonzept der Lebenswelt“ überholt werden sollte, die nun ihrerseits die sozialtheoretischen Zugriffsmöglichkeiten auf die Lebenswelt strukturieren sollen, erscheint die Thematisierung jener Auseinandersetzung um den positiven oder den entzogenen Charakter von Sprache sehr angebracht. 2.2 EXKURS: DIE DISKURSTHEORIE UND DIE INTRANSPARENZ VON SPRACHE UND SCHRIFT Da Habermas sich der Derridaschen Kritik des „Phonozentrismus“ explizit gewidmet hat, ist es ratsam, sich die entsprechenden Argumente zu vergegenwärtigen. Wie wir gesehen haben, tangiert diese Auseinandersetzung durchaus die generelle These dieser Arbeit, dass nämlich gesellschaftliche Kommunikation von einer Mehrdeutigkeit durchzogen ist, die auch ihre Integrationskraft betrifft und die die Erweiterung des methodischen Instrumentariums, eventuell eine gewisse Relativierung des Geltungsanspruchs der Gesellschaftstheorie erfordert. 2.2.1 Illokutionäre Bindung vs. dekonstruktive Entbindung der Sprache Im philosophischen Diskurs der Moderne konfrontiert sich Habermas mit Derridas Dekonstruktion als einer Radikalisierung der Heideggerschen Rationalitätskritik.137 Dabei entgeht Derrida nach seiner Lesart zwar dem Problem der Suggestion einer fatalistischen Schicksalsergebenheit, wie sie dem Denken Heideggers entspringe,138 135 Es sei etwa an die oben diskutierte Identifikation von Einheit und Allgemeinheit in der Besprechung der Autorität im Übergang von sakraler zu verrechtlichter gesellschaftlicher Ordnung erinnert. Auch das von Habermas angestrebte Programm einer Soziologie als Analyse der Verständigungsformen ist leider unterentwickelt geblieben. (S. o., S. 38) 136 Habermas 1987b, S. 103. 137 Vgl. Habermas 1988, S. 191–247. 138 Vgl. ebd., S. 168f, 214f.
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gerät aber in anderen Hinsichten in dieselben Schwierigkeiten. So stellt er dem rationalistischen Diskurs der Philosophie und der Wissenschaften kein hypostasiertes, sich dem wissenschaftlichen Diskurs entziehendes Sein, wohl aber eine eben solche Ur-Schrift gegenüber.139 Während dieser Schritt zwar nicht mehr in die Philosophie eines einsamen Subjekts, das sein Sein annimmt oder sich im „man“ verliert, oder aber in die einer bloß passiven Andacht eines unvordenklich ersten Seinsgeschickes zurückführt,140 verstellt er jedoch auf immer noch die gleiche Weise einerseits die Würdigung des handgreiflichen lebensweltlichen Hintergrundes und andererseits die produktive Anknüpfung an die ausdifferenzierten Wissenschaften.141 Hier ist weniger interessant, ob die Habermas’sche Interpretation Derridas (oder Heideggers) triftig ist,142 sondern eher, ob die von ihm formulierten Vorbehalte einen Einwand gegen die hier präsentierte Kritik und gegen die geforderte Erweiterung des theoretischen Instrumentariums um „hermeneutische“ Werkzeuge der Lebenswelt- und der Textinterpretation darstellen. Der Kern der entsprechenden Vorwürfe – des Verzichts sowohl auf die Analyse konkreter lebensweltlicher Zusammenhänge als auch auf die wissenschaftliche Diskursivität – besteht m. E. in einem Argument, das die Differenz zwischen semiotischer und pragmatischer Sprachtheorie in Anschlag bringt: Im einen Falle wird die Kommunikation als von der Logik von Zeichensystemen abhängig gedacht (so Habermas’ Derrida), im anderen Falle die Zeichen- und Bedeutungsrelationen als abhängig von den Kommunikationsverhältnissen und -praktiken (so Habermas’ eigene Vorstellung)143 – das erlaubt es, die Kräfte der pragmatischen Sprachverwendung als zu den zeichentheoretischen Entziehungs- und Aufschiebungskräften quer stehend zu begreifen. Vor allem der „Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur“144 macht dieses Motiv deutlich: Habermas spitzt die zeichentheoretische Perspektive auf die Überzeugung zu, die fluiden und indirekten Zeichenrelationen implizierten eine Konstitution von Bedeutung im Diskurs, dergegenüber die Unterscheidung von ernsthafter und ironischer, von metaphorischer und wörtlicher Rede zweitrangig ist. Diese Unterscheidungen seien jener Perspektive zufolge erst im Rahmen einer allgemeineren Theorie diskursiver Bedeutungsproduktion – der Rhetorik – sinnvoll; wohingegen das Interesse und vor allem die angezeigte selbstkritische Reflexion der Philosophie sich in dieser Perspektive auf jene allgemeinere Ebene fokussiere und daher den ernsthaften wörtlichen Modus nicht als paradigmatisch ansehen dürfe. Habermas gesteht die Relevanz einer kreativen, „poetischen“ Funktion der Sprache und die Unsicherheit über die diskursive Bedeutung sprachlicher Zeichen durchaus zu.145 Allerdings bettet er sie in einen 139 140 141 142 143 144 145
Vgl. ebd., S. 210f. So präsentiert Habermas den frühen bzw. den späten Heidegger. Vgl. ebd., S. 177–181. Vgl. ebd., S. 196, 213f. Vgl. dazu u. a. C. Norris 1989; Bohman 1997; Critchley 2000; Bernstein 1991; Hoy 1989. Vgl. Habermas 1988, S. 205. Ebd., S. 219–247. Ebd., S. 235.
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handlungstheoretischen Kontext ein, der ihre Geltung erhellt und es erlaubt, sie einer nüchterneren Sprachfunktion gegenüberzustellen. So ergibt sich für ihn die Möglichkeit, die Unterscheidung von „normalem“ und „parasitärem“ Sprachgebrauch, die er gegen Derrida verteidigen will, auf der Basis einer kategorialen Differenz in den Handlungskontexten der Sprechakte und in den damit verbundenen Auflagen zu erklären und zu bekräftigen: Die „kommunikative“ Sprachfunktion verortet die Sprache nämlich im Zusammenhang kommunikativen Handelns, d. h. in einem Prozess der einverständnisorientierten Handlungskoordinierung.146 Dieser Kontext nötigt den Sprechern / Interaktionsteilnehmern idealisierende Unterstellungen auf, die die Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit der verwendeten Zeichen und des Situationskontextes ausblenden. Austin hat in der illokutionären Bindungskraft sprachlicher Äußerungen einen Mechanismus der Handlungskoordinierung entdeckt, der die normale, in die Alltagspraxis eingelassene Rede anderen Beschränkungen unterwirft als die fiktive Rede, die Simulation und den inneren Monolog. Die Beschränkungen, unter denen illokutionäre Akte eine handlungskoordinierende Kraft entfalten und handlungsrelevante Folgen auslösen, definieren den Bereich der „normalen“ Sprache. Sie lassen sich als diejenigen idealisierenden Unterstellungen analysieren, die wir im kommunikativen Handeln vornehmen müssen.147
Da jene Unterstellungen überdies mit den kritisierbaren Geltungsansprüchen in die soziale Praxis einziehen, fungiert diese als Bewährungstest und sorgt dafür, dass der zeichentheoretisch konstatierte Bedeutungsentzug auch faktisch tatsächlich kompensiert wird. Auf diese Weise verklammert der kommunikative Sprachgebrauch die mit der Sprache einhergehenden, von Hause aus eigentlich äußerst ungewissen Annahmen über Zeichenverwendung und Weltzustände mit einer über illokutionäre Kräfte integrierten Praxis, in der die Reproduktion solcher Annahmen verstetigt wird und in der diese sich zugleich in diversen Weltbezügen bewähren müssen oder modifiziert werden können. Die kommunikative Alltagspraxis, in der sich Aktoren über etwas in der Welt verständigen müssen, steht unter Bewährungszwang, wobei idealisierende Unterstellungen eine solche Bewährung erst möglich machen. Und anhand dieses alltagspraktischen Bewährungszwangs lässt sich mit Austin und Searle der „gewöhnliche“ vom „parasitären“ Sprachgebrauch unterscheiden.148
Handlungs- und gesellschaftstheoretisch kann dieser Sprachgebrauch dann einen Vorrang beanspruchen und muss als der „normale“ oder „gewöhnliche“ bezeichnet werden. Erst mit einer zweifachen Verschiebung – der Befreiung der Akteure aus einem permanenten Handlungsdruck und dem Reflexivwerden der Sprache – tritt ihm 146 Vgl. Habermas 1988, S. 238–240. 147 Ebd., S. 230f. 148 Ebd., S. 234. In Derridas Sinne könnte wiederum entgegengehalten werden, dass die différance als Bedingung der Möglichkeit von Sprache überhaupt ebenso zu den notwendigen Bedingungen der Bewährung einer kommunikativen Alltagspraxis gehört. Die komplizierten Verhältnisse zwischen Sprach- und Handlungstheorie sind hier noch nicht wirklich auseinandergelegt. Für eine entsprechend ausführliche Auseinandersetzung – natürlich vor allem mit der Theorie des kommunikativen Handelns – fehlt hier leider die Gelegenheit.
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ein anderer Gebrauch der Sprache zur Seite, in dem der Sprachverwendung ein anderes Ziel vorschwebt. In diesem anderen, dem „welterschließenden“ Sprachgebrauch gewinnt die „poetische“ Funktion (Jakobson) der Sprache, die „das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen richtet“149 ein besonderes Gewicht. Hier muss die Sprache eher ihre eigene Innovationskraft als die problemorientierten Geltungsansprüche reflektieren, hier kappt sie die illokutionären Bindungskräfte und den Bezug auf die notwendigen idealisierenden Unterstellungen, um in der Erprobung neuer Ausdrucksmöglichkeiten exemplarische Erfahrungen zu manifestieren. Mit anderen Worten, im welterschließenden Gebrauch der Sprache gewinnt „die Erzählwürdigkeit ein Übergewicht über andere Funktionseigenschaften.“150 Sind zusammen mit der Bindung an die illokutionären Kräfte und die intersubjektive Alltagspraxis die Weltbezüge erst einmal suspendiert, ergibt sich ein Raum der Virtualität, in dem die Sprecher und Hörer, die Schreiber und Leser im Ausgang von kreativen, aber unvollständigen Sprechakten entsprechende Aspekte von Welt konstruieren.151 Für Habermas lässt sich also anhand dieser Differenzierung ersehen, dass es, entgegen Derridas Annahme, nicht beliebige Diskurse sind, die den Entzug der Bedeutung als wesentliches Strukturmerkmal aufweisen, dass ganz im Gegenteil insbesondere das normalsprachliche kommunikative Handeln dieses Moment praktisch vollständig kompensiert, während es lediglich in der poetischen Rede strukturbestimmend, d. h. sinnkonstitutiv ist. In dem Maße, wie die poetische, welterschließende Funktion der Sprache Vorrang und strukturbildende Kraft gewinnt, entwindet sich die Sprache nämlich den strukturellen Beschränkungen und kommunikativen Funktionen des Alltags. Der Raum der Fiktion, der sich mit dem Reflexivwerden der sprachlichen Ausdrucksformen öffnet, resultiert aus dem Unwirksamwerden der illokutionären Bindungskräfte und jener Idealisierungen, die einen verständigungsorientierten Sprachgebrauch möglich machen – und damit eine über die intersubjektive Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche laufende Koordinierung von Handlungsplänen. Man kann Derridas Auseinandersetzung mit Austin auch als eine Verleugnung dieses eigensinnig strukturierten Bereichs der kommunikativen Alltagspraxis lesen; ihr entspricht die Verleugnung eines autonomen Reichs der Fiktion.152
Die „autonomen Handlungsbereiche“, so nimmt Habermas an, werden in modernen Gesellschaften gar zu eigenständigen Handlungssystemen, die sich auf jeweils einen der Geltungsansprüche kommunikativen Handelns bzw. auf die Funktion der Welterschließung spezialisieren, ausdifferenziert – zu Wissenschaft, Moral und Recht einerseits, und zum Kunst- und Literaturbetrieb andererseits.153 Und während die Kunstkritik für die Übersetzung der künstlerischen Welterschließung in die Alltagssprache verantwortlich ist, muss sich die Philosophie mit der Übersetzung der 149 Jakobson 1979, S. 92, zitiert nach Habermas 1988, S. 235. 150 Ebd., S. 239. 151 Vgl. ebd., S. 236. (Mit „Unvollständigkeit“ ist hier eben das Ausbleiben der impliziten Ergänzung notwendiger Kontextbedingungen durch die Einbeziehung des Sprechakts in die praktischen Weltbezüge der Interaktionsgemeinschaft gemeint.) 152 Ebd., S. 240. 153 Vgl. ebd., S. 242, 245.
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Erkenntnisse aus Wissenschaft, Moral und Recht befassen. Im einen Fall muss der allein „rhetorisch“ konstituierte Erfahrungsgehalt des Kunstwerkes, im anderen die bloß am kritisierbaren Geltungsanspruch entweder propositionaler Wahrheit oder normativer Richtigkeit orientierte Aussage in die Alltagssprache überführt werden, in welcher sie in ein Bündel von Sprachfunktionen integriert werden. 2.2.2 Autonomie der Sprachbereiche? Während zwar auch die von Habermas postulierte Abkapselung der Expertenkulturen und die Exklusivitäts- oder Monopolisierungsansprüche der „ÜbersetzungsExperten“ fragwürdig sind,154 interessiert hier insbesondere die von Habermas verteidigte Autonomie der Bereiche kommunikativen und poetischen Sprechhandelns, d. h. die unangefochtene Vorrangstellung einer Sprachfunktion und die bloße Indienstnahme der jeweils anderen. Auch die normale Sprache des Alltags ist unausrottbar rhetorisch; aber im Bündel vielfältiger Sprachfunktionen treten hier die rhetorischen Elemente zurück. In den Routinen der Alltagspraxis ist der weltkonstituierende sprachliche Rahmen beinahe erstarrt. Ähnliches gilt für die Spezialsprachen von Wissenschaft und Technik, Recht und Moral, Wirtschaft, Politik usw. Auch sie leben von der Leuchtkraft metaphorischer Redewendungen, aber die keineswegs getilgten rhetorischen Elemente sind gleichsam gezähmt und in Dienst genommen für spezielle Zwecke der Problemlösung.155
Dass die kommunikative Funktion des alltäglichen Sprechhandelns auf die von Habermas betonten Idealisierungen abstellt und ihnen zu praktischer Wirksamkeit verhelfen kann, muss gar nicht bezweifelt werden. Nicht erwiesen ist allerdings, dass die zugegebenermaßen mitlaufende rhetorische Dimension vollständig in ihrer Funktion für die einverständnisorientierte Handlungskoordination aufgeht und nicht – in demselben Vorgang – auch eine Eigenfunktion erfüllen kann. Im Gegenteil, wenn 154 Die Kunstkritik vollbringt „eine Übersetzungsleistung eigener Art. Sie holt den Erfahrungsgehalt des Kunstwerkes in die normale Sprache ein; nur auf diesem mäeutischen Wege kann das Innovationspotential von Kunst und Literatur für Lebensformen und Lebensgeschichten, die sich übers kommunikative Alltagshandeln reproduzieren, entbunden werden. Das schlägt sich dann in der veränderten Zusammensetzung des evaluativen Vokabulars nieder, in einer Renovation von Wertorientierungen und Bedürfnisinterpretationen, die über die Weisen der Wahrnehmung die Tinktur der Lebensweisen verändert.“ (Habermas 1988, S. 244) Die Annahme der Unmöglichkeit einer direkten Einwirkung der Kunsterfahrung auf Vokabularien, Orientierungen und Interpretationen widerspricht offenbar den Erfahrungen all derjenigen, die sich durch ihre Kunstrezeption haben prägen lassen, ohne diesen Vorgang diskursiv zu reflektieren (oder sie disqualifiziert diese Erfahrungen und Prozesse als irrational). Während z. B. Charles Taylors Quellen des Selbst zwar selbst durchaus kunstkritische Züge hat, beschreibt er doch (ex post) einen identitäts-, ja lebensformkonstitutiven Prozess, in dem zwar die Kunst, nicht aber die Kunstkritik besonders prominent ist. (Vgl. Taylor 1996) Wie solche Veränderungen des Vokabulars und der Lebensweise auch in den vermeintlich ausschließlich problemlösungsorientierten wissenschaftlichen und politischen Diskursen nicht nur angeregt, sondern mit-betrieben werden, zeigt am Thema der „sozialen Marktwirtschaft“ detailliert Nonhoff 2006. 155 Habermas 1988, S. 245. Vgl. auch die diversen Hervorhebungen von „vorherrschend“, „Vorrang“ und „Übergewicht“ (ebd., passim).
2.2 Exkurs: Diskurstheorie und Intransparenz von Sprache und Schrift
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wir mit Habermas davon ausgehen, dass in denselben alltagssprachlichen Vorgängen die Handlungskoordination und die (Re-)Produktion der Lebenswelt geleistet werden, dann müsste dort auch ein weltbildendes Moment angenommen werden. Und die Reduktion der holistischen lebensweltlichen Zusammenhänge auf propositional strukturierte Äußerungen bzw. auf die in der Geltunsanalyse solcher Äußerungen auseinandergetretenen strukturellen Komponenten, die damit die grammatische Struktur jener Äußerungen erben, hat weder in der Theorie des kommunikativen Handelns überzeugt, noch wird sie im philosophischen Diskurs der Moderne überhaupt eigentlich thematisiert, so dass der Zusammenhang jenes weltbildenden Moments mit einem weniger transparenten Aspekt der Sprechakte, mit Rhetorik bzw. SchriftStrukturen durchaus nahe liegt. Dass die vermeintlich „normale“ Sprache tatsächlich in keiner besonders auffälligen Rhetorik auftritt, schließt auch keineswegs aus, dass sie ebenfalls ein solches Moment der Welterschließung mit sich führt; die Funktion der Welterschließung ist ja nicht von der Fiktionalität oder der rhetorischen Raffinesse der Äußerungen abhängig. Allgemein gesprochen scheint Habermas die Semantik von Sprache entweder von der pragmatischen Verortung in sozialen Praxiszusammenhängen vollkommen abzulösen und in ein ästhetisches Diskursuniversum zu eskamotieren, oder aber sie durch die Pragmatik restlos zu ersetzen: Eine Sprechhandlung sagt gleichsam explizit, was sie tut, und dabei sagt sie nicht mehr als dass sie es tut. Sicherlich steht die Interpretation des symbolischen und „rhetorischen Bedeutungsüberschuß der literarischen Schichten eines nicht-literarisch auftretenden Textes [, die dort] so etwas wie indirekte Mitteilungen herausliest,“156 nicht nur in gewisser Weise quer zu den Intentionen der Akteure, sondern auch zum Sinn der Handlungsvollzüge, aus denen der Text entnommen ist. Dieser Sinn ergibt sich in der Tat zu einem wesentlichen Anteil aus dem Schicksal, das die geäußerten und implizierten Geltungsansprüche im Verlauf dieser Handlungsvollzüge erfahren. Er ergibt sich aber mitunter auch aus dem lebensweltlichen Hintergrund, aus diffusen Weltbildern und symbolischen Zusammenhängen, die nur über solche Interpretationen zu erhellen sind. (Dabei besteht im Übrigen zunächst kein notwendigerweise sehr enges Verhältnis zwischen der Situation, in der die Theorie den Bedarf einer Klärung jenes Hintergrundes feststellt und der Situation, aus der die Äußerung entnommen wird, deren Interpretation diese Klärung befördert – es ist ja gerade die Interpretation, die den Zusammenhang erst plausibilisiert.) Und wie wir gesehen haben, kann auch die Untersuchung der gesellschaftlichen Integration mittels kommunikativen Handelns an die Grenzen der Leistungsfähigkeit einer Sprache stoßen, die auf die drei, wiederum propositional formulierten Geltungsansprüche der propositionalen Wahrheit, der normativen Richtigkeit und der expressiven Wahrhaftigkeit reduziert wird. In solchen Fällen muss sich die Philosophie oder die Gesellschaftstheorie – gerade um ihrer „Problemlösungspflicht“ und ihrer „universalistischen Fragestellungen“ willen – auch einmal als Interpret von Kommunikationen betätigen, welche von den Beteiligten selbst gar nicht als interpretationsoffene, „poetische“ Kommunikation verstanden 156 Ebd., S. 223.
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werden. (Dies ließe sich übrigens durchaus als ein Aspekt der von Habermas seinerzeit angezielten Analyse von Verständigungsformen verstehen.) Ob der Vortrag einer solchen Interpretation in der „grammatischen Form universalistischer Aussagen“, oder in einer anderen Rhetorik auftritt, der wesentliche Punkt ist in diesem Moment der Versuch, Strukturen und Muster der Lebenswelt aufzuzeigen, die sich nicht einfach identifizieren lassen. Und auch wenn die einzelnen Elemente und Argumente dieses Versuchs mit einem strengeren Geltungsanspruch verbunden sein können, ja um überhaupt von einer Theorie reden zu können, auch verbunden sein müssen – der Versuch der Erschließung der Lebenswelt als solcher ist mit einem relativierten Geltungsanspruch verbunden. Denn weder kann die Theorie einen privilegierten Ort der Einsicht für sich reklamieren, noch kann sie diese ihre eigene Bewegung nach der Art eines Syllogismus formulieren und reflexiv kontrollieren. Streng genommen sind allein die einzelnen Elemente einer solchen textuellen Konstellation falsifizierbar, sie müssen für die Wissenschaftlichkeit der Arbeit sorgen; aber das heißt nicht, dass es diese andere Ebene nicht doch auch gibt.157 Es gilt nun zu sehen, wie sich vor diesem Hintergrund die detaillierte Untersuchung des demokratischen Rechtsstaats darstellt – welche Strukturen der Lebenswelt hier erneut genannt werden, welche Rolle sie einnehmen und in welchen Vermittlungen sie vorgestellt werden. Insbesondere gilt es festzustellen, ob die Einseitigkeit der im Vorigen besprochenen Lebenswelt- und Sprachanalyse erneut auftaucht, und ob damit spezielle Probleme verbunden sind bzw. ob die speziellen Probleme, die im Rahmen der Theorie des demokratischen Rechtsstaats explizit behandelt werden, mit ihr in Verbindung zu bringen sind. 2.3 LEBENSWELT UND DEMOKRATIETHEORIE Mit Faktizität und Geltung158 entwirft Habermas eine Theorie, die darauf antworten können soll, wie das moderne Recht als ein wichtiges und eigentümliches Medium sozialer Integration verstanden werden kann. Diese Eigentümlichkeit wird dabei in einer Perspektive ausgezeichnet, die es vor den Hintergrund der gesellschaftlichen Modernisierung – sowohl im Sinne einer Entschränkung kommunikativer Rationalität als auch im Sinne einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft – rückt und mit den Überlegungen aus der Theorie des kommunikativen Handelns verbindet. „Faktizität“ und „Geltung“ machen in diesem Zusammenhang die Spannung aus, in der die Diskurstheorie die entscheidenden Potenziale lokalisiert: So diskutiert Habermas zu Beginn erneut, wie in einer Analyse der Sprache eine in die Faktizität 157 Vgl. Habermas 1988, S. 246f. In diesem Sinne ist weder die Theorie noch sind die konkreten Situationen kommunikativen Handelns einem „unverfügbaren Geschehen der Texterzeugung fatalistisch ausgeliefert.“ (ebd., S. 241) Das „Negationspotential der Geltungsbasis verständigungsorientierten Handelns“ (ebd., S. 241) kann in der Tat einen hohen Bewährungsdruck auf die Reproduktion der Lebenswelt in ihrer Gänze und in ihren Teilen, sowie auf die Ausbildung theoretischer Argumente ausüben. Aber es kann weder die gesellschaftskonstitutive, sozialintegrative Leistung der Lebenswelt erübrigen noch kann es deren Reproduktion restlos assimilieren. 158 Habermas 1994a.
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der weltlichen Zusammenhänge verwobene idealisierende, jene Zusammenhänge transzendierende Kraft sichtbar gemacht werden kann. Die faktische Sprachpraxis beruht nämlich auf der kompetenten Handhabung von Geltungsansprüchen und idealisierenden Unterstellungen, die die Sprecher vornehmen müssen, die aber zugleich über die jeweilige Sprechsituation, wie weit man deren Kontext auch fassen mag, hinausweisen. An jener Spannung entzünden sich individuelle und gesellschaftliche Lernprozesse, und schließlich ist es das Recht, das aufgrund seiner internen Verbindung der beiden Momente die Bürde der Integration einer komplexen, funktional differenzierten Gesellschaft mindestens in der Form einer „Ausfallbürgschaft“ übernehmen kann. Analog zu dem im Vorigen besprochenen Vorgehen präsentiert Habermas zunächst eine Rekonstruktion der „linguistischen Wende“, die das Verhältnis zwischen Sprachwirklichkeit und Idealisierungen bis in die Idee kritisierbarer Geltungsansprüche verfolgt,159 um dann zu untersuchen, wie sich dieses Verhältnis in verschiedenen Strategien der Reaktion auf die – gesellschaftstheoretisch festgestellte – Schwierigkeit präsentiert, die Stabilität sozialer Integration zu gewährleisten, wenn doch der zentrale Mechanismus der Handlungskoordination auf der prekären Grundlage kontrafaktischer Unterstellungen beruht. In der detaillierten Analyse des modernen Rechts stellt sich dann heraus, dass es nicht nur jene Spannung wirksam reflexiv operationalisieren kann, sondern auch die Möglichkeit einer Antwort auf anders gelagerte Probleme eröffnet, die sich im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung ergeben haben. Da in diesem Argument viele Punkte erneut eine Rolle spielen, die wir oben behandelt haben, versuchen wir es detailliert nachzuvollziehen, um Verschiebungen festzustellen bzw. um uns der anhaltenden Einschlägigkeit der bereits angebrachten Kritik zu vergewissern. 2.3.1 Rekapitulation der Sprach- und Gesellschaftstheorie 2.3.1.1 Transzendenz der Kommunikationssituation von innen Habermas hebt an mit dem Hinweis auf die Fregesche Konfrontation von Gedanken und Vorstellungen:160 Deren Unterscheidung anhand der Tatsache, dass Gedanken dieselben bleiben, auch wenn sie in verschiedenen Situationen zu verschiedenen Zeiten oder gar von verschiedenen Individuen gedacht werden, führt Habermas darauf zurück, dass die Eigenart von Gedanken in ihrer propositionalen Struktur („Sachverhalte oder Tatsachen“)161 begründet liegt, welche unter der Voraussetzung, „daß sprachliche Ausdrücke für verschiedene Benutzer identische Bedeutungen haben,“162 anhand der Struktur von Sätzen verstanden werden kann. Der wesentliche Punkt ist, dass ein Zeichensystem nur dann funktioniert, wenn verschiedene Instanzen eines Zeichentypus als dasselbe Zeichen wiedererkannt werden können. 159 160 161 162
Vgl. ebd., S. 25–37. Vgl. ebd., S. 25–27. Ebd., S. 26. Ebd., S. 26.
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Was einen dargestellten Gedanken als Allgemeines, mit sich Identisches und öffentlich Zugängliches, als etwas gegenüber dem individuellen Bewußtsein Transzendentes, von den je besonderen, episodischen und nur privat zugänglichen, also bewußtseinsimmanenten Vorstellungen unterscheidet, ist die in Sprachzeichen und grammatischen Regeln begründete Idealität. Es sind diese Regeln, die den sprachlichen Ereignissen in phonetischer, syntaktischer und semantischer Hinsicht ihre bestimmte, durch alle Variationen hindurch verstetigte und wiedererkennbare Form verleihen.163
Die Einschlägigkeit des bereits diskutierten Einwands Derridas liegt auf der Hand. Dessen Konzept der Iterabilität weist ja darauf hin, dass nicht nur die Wiederholbarkeit von Zeichen für ihre Verwendung als solche konstitutiv ist, sondern dass darüber hinaus dieselbe Wiederholbarkeit ebensosehr die Unmöglichkeit einer mit sich identischen Bedeutung impliziert. Zwar präzisiert Habermas, dass es sich bei jener Identität lediglich um eine notwendige, ggf. aber auch kontrafaktische Unterstellung der Sprecher handelt („Jedenfalls müssen die Angehörigen einer Sprachgemeinschaft in der Praxis davon ausgehen“),164 jedoch umgeht er damit den Einwand keineswegs. Denn selbst wenn man sich diesseits der Beobachterperspektive und der ethnomethodologischen Mikrosopie hält und sich auf die Wirksamkeit kontrafaktischer Voraussetzungen beruft,165 so liegt doch Derridas Vorbehalt auch just auf dieser Ebene: Die Sprecher müssen neben der Identität der Bedeutung der Ausdrücke, die sie verwenden, zugleich deren Nicht-Identität unterstellen, wenn sie sie als sprachliche Zeichen äußern.166 Der praktischen Wirksamkeit dieser, gleichfalls mitunter kontrafaktischen Unterstellung gälte es ebenfalls nachzuspüren. Andererseits hat Habermas’ Bekräftigung seiner Position durch den Rekurs auf die Erfahrung öffentlich zugänglicher und diskutabler Gedanken eine neue Facette gewonnen und gegenüber Derridas Einwand erneut verdeutlicht, dass dessen Sprachkonzeption sich der Erklärung dieser Erfahrung sperrt. Eine Vermittlung der beiden widerstrebenden Konzepte, die ja jeweils durchaus gute Gründe für sich in Anspruch nehmen können, die sich andererseits aber ebensosehr als jeweils verkürzt kritisieren lassen müssen, ist noch immer nicht gelungen.167 Auf ähnliche Weise kehren weitere Probleme wieder, die wir oben am „positivistischen“, also zu einfach und transparent vorgestellten Sprachmodell festgestellt hatten: Halten wir nur kurz fest, dass Habermas die Identität von Bedeutungen allzu eilig auf explizierbaren grammatischen und, was das Zeichensubstrat angeht, gar 163 164 165 166
Habermas 1994a, S. 27. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 35. In der Terminologie einer klassischen Formulierung dekonstruktiver Einsichten: Die (notwendige) Bedingung der Möglichkeit von Bedeutungsidentität, nämlich die Iterabilität, ist zugleich die (hinreichende) Bedingung für die Unmöglichkeit jener Identität. Vgl. z. B. Gasché 1986, S. 316ff; dazu auch Dews 1995, Kap. 5, 6; Derrida 1996, S. 81f. 167 Die Berufung auf den sprachlich vermittelten, intersubjektiven Charakter von Gedanken, welche dennoch von Sprache und Sätzen im strikten Sinne unterschieden werden können, lässt hingegen den Versuch einer Vermittlung unter Rekurs auf die Phänomenologie Merleau-Pontys besonders naheliegend erscheinen. Dies wird im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit angerissen. Für eine ausführliche Ausarbeitung eines solchen Ansatzes vgl. Niederberger 2007.
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materiellen Invarianzen und Regeln gründen lässt,168 wichtiger ist erneut die Identifizierung der propositionalen Struktur von Sprache (und von Gedanken). Wie wir gesehen haben, entwickelte Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns das Konzept kritisierbarer Geltungsansprüche aus der Verbindung des Anspruchs auf angemessene Wiedergabe eines Sachverhalts in der Welt mit dem Anspruch auf Zustimmung durch den Hörer, einer Verbindung, die den assertorischen Sätzen eigentümlich ist. Und auch hier kommt Habermas über die unmittelbare Verquickung von Darstellung und Beurteilung eines Sachverhalts auf die „zweite Stufe der Idealisierung“169 zu sprechen, nämlich auf die Unbedingtheit der Geltungsansprüche (und wiederum zunächst nur desjenigen auf propositionale Wahrheit). Denn wenn die wiedererkennbaren Zeichen bzw. die Gedanken nicht in beliebiger Form auftreten, sondern jeweils eine Proposition bilden, einen Sachverhalt beschreiben, dann ist der Zeichenzusammenhang oder der Gedanke unmittelbar mit der Frage verbunden, ob die Proposition wahr oder falsch ist, also ob der Sachverhalt tatsächlich besteht oder nicht. Jeder vollständige Gedanke hat als seinen bestimmten Inhalt einen Sachverhalt, der in einem Aussagesatz ausgedrückt werden kann. Aber über den Aussagegehalt oder Inhalt hinaus verlangt jeder Gedanke nach einer weiteren Bestimmung: es fragt sich, ob er wahr oder falsch ist. Denkende und sprechende Subjekte können zu jedem Gedanken mit „Ja“ oder „Nein“ Stellung nehmen; deshalb tritt zum bloßen Haben des Gedankens ein Akt der Beurteilung hinzu. [. . .] Die affirmative Beurteilung eines Gedankens oder der assertorische Sinn eines behaupteten Aussagesatzes bringt mit der Geltung des Urteils oder der Gültigkeit des Satzes ein weiteres Moment von Idealität ins Spiel.170
So wie „zum bloßen Haben des Gedankens“ seine Beurteilung als ein weiterer Akt hinzutritt, so verhält es sich auch mit der Beurteilung einer sprachlichen Äußerung: Obwohl die Äußerung auf die Beurteilung verweist, so ist diese doch nicht in jener bereits enthalten, und die Geltung der Äußerung erschließt sich erst dann vollends, wenn der ganze kommunikative Zusammenhang in den Blick genommen wird. In diesem Sinne besteht ein Sprechakt eben aus der Äußerung und der Ja- / NeinStellungnahme der Kommunikationspartner; und selbst eine einzelne Äußerung wird in ihrem Geltungssinn erst dann verständlich, wenn sie als ein Element eines solchen Zusammenhangs, eben als ein Sprechaktangebot verstanden wird. Anders als die letztlich vergeblichen Versuche, die Bedeutung von Äußerungen anhand der ontologischen Beziehungen zwischen Sätzen oder Ausdrücken und Welt oder Tatsachen 168 Vgl. auch Habermas 1994a, S. 28f, 35. Angesichts der von verschiedensten Seiten, zum Teil auch in Auseinandersetzung mit dem Erbe des Universalienstreits, vorgelegten äußerst komplizierten Überlegungen zu diesem Thema schiene hier zumindest eine ausführlichere Begründung angezeigt. Vgl. etwa die bereits klassischen Theorien wie etwa Cavell 1979, Chap. VII; Eco 1985; Cassirer 1956; oder die bereits angeführte Dekonstruktion Derridas. Aktueller vgl. auch Krämer 2001 und Bertram 2006. 169 Habermas 1994a, S. 36. 170 Ebd., S. 27. Oder: „Der ideale Status, der den Gedanken eine feste, aus dem Strom der Erlebnisse herausgehobene propositionale Struktur verleiht, indem er Begriffen und Urteilen allgemeine, intersubjektiv wiedererkennbare, in diesem Sinne identische Inhalte sichert, verweist von sich aus auf die Idee der Wahrheit.“ (Ebd., S. 28)
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zu analysieren, erlaubt es die Analyse der Verständigungs-Interaktion, den Sinn der Gültigkeit eines Satzes zu erklären. Um das idealisierende Moment jener relativ öffentlichen Beurteilung herauszuheben, diskutiert Habermas das Peircesche Modell einer pragmatischen Kommunikationstheorie, die in der Frage der Wahrheitsgeltung bzw. der Gültigkeit von Sätzen die dreistellige Relation eines Sprechers, der sich mit einem zweiten über etwas in der Welt verständigt, ins Zentrum stellt. Dabei wird deutlich (deutlicher als noch in der Theorie des kommunikativen Handelns), dass für Habermas die mit dem Geltungsanspruch auf propositionale Wahrheit aufgerufene Idealisierung in erster Linie nicht das Verhältnis von erkennendem Subjekt und objektiver Welt betrifft, sondern den Verständigungsprozess selbst: Die Welt als Inbegriff möglicher Tatsachen konstituiert sich nur für eine Interpretationsgemeinschaft, deren Angehörige sich innerhalb einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt miteinander über etwas in der Welt verständigen. „Wirklich“ ist, was sich in wahren Aussagen darstellen läßt, wobei sich „wahr“ wiederum mit Bezugnahme auf den Anspruch erklären läßt, den einer gegenüber Anderen erhebt, indem er eine Aussage behauptet. Mit dem assertorischen Sinn seiner Behauptung erhebt ein Sprecher den kritisierbaren Anspruch auf die Gültigkeit der behaupteten Aussage; und weil niemand über die Möglichkeit eines direkten Zugriffs auf uninterpretierte Geltungsbedingungen verfügt, muß „Gültigkeit“ epistemisch verstanden werden als „Geltung, die sich für uns erweist“.171
Tatsächlich darf zwar im Verständnis des Wahrheitsanspruchs der „Bezug zu etwas von uns Unabhängigem, in diesem Sinne Transzendentem“172 nicht aufgegeben werden. Er kann allerdings mit Peirce umgestellt werden vom Bezug auf eine transzendente, uns äußerliche Realität auf eine „Transzendenz von Innen“, und zwar indem der Begriff der Realität selbst an den Konsens einer Kommunikationsgemeinschaft geknüpft und diese idealisierend aufgeladen wird. Die Vorstellung der „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ ist nun keineswegs mehr so heterogen zu einer aktuell bestehenden Kommunikationssituation, dass sich diese nicht verstehen ließe als ein raumzeitlich lokalisiertes Moment in einem zeitenübergreifenden Lernprozess, der zu jener idealen Kommunikationsgemeinschaft führt bzw. sie konstituiert. Ein solches Verständnis der Kommunikationssituation kennzeichnet und autorisiert einen Wahrheitsanspruch innerhalb der je konkreten Situation und gegenüber den je konkreten Kommunikationspartnern, von denen er sich zugleich unabhängig macht. In diesem Sinne muss es für das Erheben eines solchen Anspruchs notwendigerweise unterstellt werden. Mit dieser Projektion verlagert sich die Spannung zwischen Faktizität und Geltung in Kommunikationsvoraussetzungen, die, auch wenn sie einen idealen und nur annäherungsweise zu erfüllenden Gehalt haben, alle Beteiligten faktisch jedesmal dann machen müssen, wenn sie überhaupt die Wahrheit einer Aussage behaupten oder bestreiten, und für die Rechtfertigung dieses Geltungsanspruches in eine Argumentation eintreten möchten.173
Dieses Fehlen einer prominenten Rolle des speziellen Weltbezugs der assertorischen Sätze erleichtert natürlich die Übertragung der Logik der Wahrheitsansprüche in 171 Habermas 1994a, S. 29. 172 Ebd., S. 30. 173 Ebd., S. 31, vgl. auch ebd., S. 53.
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den Kontext von Alltagskommunikationen und auf andere Geltungsansprüche, und tatsächlich kann die Theorie der Sprechhandlungen dort ganz ähnliche notwendige idealisierende Unterstellungen nachweisen, so Habermas.174 Zugleich ist es aber weiterhin die propositionale Struktur von Sachverhalten – und seien diese normativer oder expressiver Natur –, die die Identifikation von und die Auseinandersetzung mit den Geltungsansprüchen der verschiedenen Modi möglich macht. Insofern bleiben die Geltungsansprüche der normativen Richtigkeit und der expressiven Wahrhaftigkeit zwar nicht direkt von dem der propositionalen Wahrheit abhängig, wohl aber davon, dass sich die mit ihnen verbundenen Inhalte in der Form von Sachverhalten darstellen. Im Übrigen werden die Differenzen in den idealisierenden Unterstellungen zwischen den verschiedenen Geltungsansprüchen leider nicht mehr als angedeutet, so dass eine stärkere Abhängigkeit nicht ausgeschlossen, durch das Vorgehen sogar nahegelegt wird.175 Diese Einsichten wendet Habermas handlungs- und gesellschaftstheoretisch (handlungstheoretisch, insofern sie die Handlungskoordinierung zwischen Individuen betreffen, und gesellschaftstheoretisch, insofern es ihm um gesellschaftsweite Handlungskoordinierung, um Ordnung geht): Wenn nämlich die faktisch handlungskoordinierende Kraft verständigungsorientierten Handelns in den mit jenen idealisierenden Geltungsansprüchen verbundenen illokutionären Kräften besteht (welche einerseits rational motiviert sind, andererseits „interaktionsfolgenrelevante Verpflichtungen“176 implizieren), dann stellt das verständigungsorientierte Handeln einen Mechanismus dar, mit dem die Spannung zwischen kontexttranszendierender Geltung und situationsspezifischer Faktizität in die Handlungskoordinierung, in die Textur gesellschaftlicher Ordnung einzieht. Damit wird die faktische Integration aber in gewissem Sinne problematisch, denn sie funktioniert nur auf der Grundlage hic et nunc verhandelter Geltungsansprüche, für deren Berechtigung jedoch eigentlich die Zustimmung eines ideal erweiterten Auditoriums müsste vorausgesetzt werden können.177 Auch die Geltungsansprüche selbst treten, wie wir gesehen haben, den Interaktionspartnern als konkrete entgegen und entziehen sich zugleich – ihrem Gehalt, nicht nur ihrer ausstehenden Anerkennung und Bestätigung nach. Und selbst Integrationsmechanismen, die nicht auf expliziten Verständigungsprozessen, sondern auf sedimentierten Überzeugungen aufruhen, sind anfällig für die Destabilisierung dieser Überzeugungen durch die Anführung entwertender Gründe.178 Eine Sozialwissenschaft, die sich diese Prekarität erschließen will, muss sich über die Beschreibung 174 Vgl. ebd., S. 32. 175 „Was für die Verständigung innerhalb der Kommunikationsgemeinschaft der Forscher gilt, gilt aber mutatis mutandis auch für alltägliche Kommunikationen.“ (Ebd., S. 31f, meine Hervorhebung – A. W.) Die Differenzen, die Habermas anspricht, betreffen einerseits die Naivität, mit der die Geltungsansprüche in der Alltagskommunikation erhoben werden und andererseits die Tatsache, dass neben dem Anspruch auf propositionale Wahrheit mit den anderen Sprachfunktionen auch die anderen Geltungsansprüche auf subjektive Wahrhaftigkeit und auf normative Richtigkeit ins Spiel kommen. Worin sich diese Ansprüche aber unterscheiden, bleibt ausgeblendet. 176 Ebd., S. 34. 177 Vgl. ebd., S. 36f. 178 Vgl. ebd., S. 54f.
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der faktischen Genese und des faktischen Funktionierens von Ordnungen und Institutionen hinaus für die Frage offenhalten, wie einerseits bestehende Ordnungen und Institutionen als Reaktion auf Geltungsansprüche verstanden werden können, die jeden sozialen Kontext sprengen, und wie andererseits diese Ordnungen und Institutionen selbst solche Geltungsansprüche mit-begründen. Andererseits legt die oben ausgeführte Kritik nahe, darüber hinaus eine Dynamik in der Geltungsdimension selbst zu verfolgen. Wenn nämlich die Geltungsansprüche ihrem Sinn nach nicht eindeutig feststellbar sind, dann kann einerseits ihren „Spuren“ in den vermeintlich peripheren Kommunikationen nachgegangen werden, um den faktisch wirksamen Gehalt der Ansprüche und so ihren Sinn wenigstens möglichst weitgehend auszuloten. Andererseits muss konstatiert werden, dass sich unter Umständen nicht nur die gesellschaftliche Faktizität in Spannung zu einer impliziten Geltung befindet, sondern dass auch diese Geltung ein spannungsreiches Verhältnis zu sich selbst eröffnet, und dass die gesellschaftliche Faktizität sich auch dazu zu verhalten hat. (Man denke in diesem Zusammenhang etwa an den historischen Wandel von „Rechtsparadigmen“, den Habermas selbst ausführlich diskutiert.179 Es ist aber auch geboten, konkrete gesellschaftliche Phänomene wie z. B. die Institutionalisierung einer Tradition von „Verfassungszusätzen“ oder in entgegengesetztem Sinn die Verdrängung der reflexiv gewordenen Moderne durch die Zuwendung zu einem politischen Evangelikalismus und zu fundamentalistischen bzw. geschlossenen Weltbildern, vor diesem Hintergrund zu würdigen.) Damit ist neben der unaufhebbaren Spannung zwischen Faktizität und Geltung die unabschließbare Dynamik (oder die differance) der Geltung selbst ein wichtiger Impulsgeber für die Kritik der faktischen gesellschaftlichen Verhältnisse. Vielleicht fürchtet Habermas, die Ausarbeitung dieser Vorstellung könnte einem Geltungsrelativismus Vorschub leisten, jedenfalls widmet er sich ihr kaum und schlägt statt dessen eine dreischrittige Rekonstruktion von („archaischen“) Institutionen und Recht vor dem Hintergrund der Lebenswelt vor, die in jedem der drei Momente (lediglich) die Spannung zwischen Faktizität und Geltung aufsucht.
179 Vgl. Habermas 1994a, S. 468–515. Habermas verhandelt dort die entsprechende Dynamik allerdings als eine „Dialektik von rechtlicher und faktischer Freiheit“ und legt ein Verständnis nahe, demzufolge die historische Entwicklung verschiedener Rechtsparadigmen als sukzessives Entdecken und Ausbuchstabieren des im Grundsatz möglichst umfangreicher gleicher Freiheiten immer schon impliziten Gehalts gelesen werden muss. In der speziellen Zirkularität der autonomen politischen Ausgestaltung des Systems der Rechte (Vgl. ebd., S. 159–163) spricht er jedoch eine Offenheit an, die sich im nur bedingt hintergehbaren „Projektstatus“ einer Verfassung und in der Verwiesenheit der Rekonstruktion „des“ Systems der Rechte an die historisch vorfindlichen Verfassungs-Auslegungen manifestiert. Führt man sich z. B. die schwierigen Probleme der ethischen und rechtlichen Konsequenzen aus den Fortschritten der Intensivmedizin, der Gen- oder aber auch der Kommunikationstechnik vor Augen, dann sollte klar werden, dass nur schwierig von einem immer schon festgelegten, lediglich zu entdeckenden Gehalt etwa der Zuschreibung von Mitgliedschaftsrechten und Persönlichkeitsstatus ausgegangen werden kann, dass die in einer Hinsicht unkontroversen Regelungen in der nächsten höchst problematisch werden können – nicht weil ihre faktische Implementierung und Institutionalisierung ihrer Geltung nicht entspräche, sondern weil diese Geltung selbst im Begriff ist, sich zu verschieben.
2.3 Lebenswelt und Demokratietheorie
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2.3.1.2 Evolution der Integrationsmechanismen Zunächst weist Habermas darauf hin, dass sich explizite Verständigungsprozesse aller Art vor einem lebensweltlichen Hintergrund abspielen, der das hohe Dissensrisiko bereits in großem Maße kompensiert. Die mit der expliziten Handlungskoordination einhergehende Problematisierung durch die Konfrontation von Geltung und Faktizität „bricht sich in der Alltagspraxis an einem breiten, unerschütterlichen, aus der Tiefe herausragenden Fels konsentierter Deutungsmuster, Loyalitäten und Fertigkeiten.“180 Dann fragt sich aber natürlich, ob nicht dieselbe beunruhigende Spannung auch im Innern der lebensweltlichen Gewissheiten verborgen ist – zumal sich diese Habermas zufolge wiederum nur durch kommunikatives Handeln hindurch reproduzieren. Dem begegnet Habermas durch eine Analyse des „eigentümliche[n] Charakter[s] des Vorprädikativen und Vorkategorialen,“181 mit dem das lebensweltliche Hintergrundwissen ausgestattet ist. Doch während bereits die damit aufgerufene Terminologie es naheliegend erscheinen lässt, dem lebensweltlichen Hintergrundwissen die propositionale Struktur abzusprechen und es damit noch auf dem Niveau der Habermas’schen Sprachtheorie der Spannung zwischen den ausdifferenzierten Momenten von Faktizität und Geltung zu entziehen, verfolgt Habermas ein bewusstseinstheoretisches Argument: So handele es sich um ein Wissen, über das wir verfügen, ohne uns darüber bewusst zu sein, dass es falsch sein könnte. Weil das lebensweltliche Hintergrundwissen ohne begleitendes Meta-Wissen und ohne den darin enthaltenen „Bezug zur Möglichkeit des Problematischwerdens“182 gewusst wird, fallen in ihm Faktizität und Geltung zusammen. Habermas zufolge kann die Besonderheit des lebensweltlichen Hintergrundes – entgegen der Rede vom Vorkategorialen und Vorprädikativen – also nicht in dessen eigener Form oder in seinen Inhalten, sondern einzig in der davon unabhängigen oder zumindest unterscheidbaren Art und Weise, in der wir ihn wissen, ausgemacht werden. In der Geltungsdimension selbst wird jenes kontrafaktische Moment einer über das jeweils gegebene hinausschießenden Idealisierung, das eine enttäuschende Konfrontation mit der Wirklichkeit erst ermöglicht, ausgelöscht; zugleich bleibt die Dimension als solche, aus der implizites Wissen die Kraft von Überzeugungen zieht, intakt.183
So muss unabhängig von den jeweils aktuell stattfindenden, handlungskoordinierend wirksamen Verständigungsprozessen ein umfangreicher Korpus von ebenfalls handlungskoordinierenden Gewissheiten angenommen werden, die sich zwar vormaligen Verständigungsprozessen verdanken, durch ihr „Absinken“ in den lebensweltlichen Hintergrund aber ihres über die Begrenztheit des aktuellen Kontexts hinausweisenden idealisierenden Moments entkleidet wurden. Sie lassen sich nicht durch eine Mobilisierung der Spannung zwischen Faktizität und Geltung beunruhigen, weil ihre Geltung nicht auf dem Meta-Wissen der Akzeptabilität beruht, sondern von 180 181 182 183
Ebd., S. 38. Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Ebd., S. 39.
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allen Begründungsprozessen entkoppelt ist.184 In der Theorie des kommunikativen Handelns schien die Erklärung jener Entkoppelung – über die nicht-propositionale Struktur anstelle eines Bewusstseinsmodus der sich in der Lebenswelt bewegenden Subjekte – plausibler, während die Erklärung der Konstitution von Geltung selbst, also im angeführten Sinne der auch in lebensweltlichem Wissen intakt vorliegenden Geltungsdimension als solcher – ohne dass eine entsprechende Meta-Ebene verfügbar wäre bzw. ohne dass über die propositionale Struktur der Ansprüche ein Verweis auf Begründungs- und Anerkennungsprozesse möglich wäre –, während diese Erklärung also weder im älteren noch im aktuelleren Text plausibel geleistet wird. Wie angedeutet, bietet es sich an, in diesem Zusammenhang auf post-phänomenologische Theorien zurückzugreifen, die die Welt selbst mit semantischem und normativem Gehalt ausgestattet sehen, der sich den Subjekten, die sich darin verorten, zugleich aufdrängt und entzieht, ihnen jedenfalls nicht zur Disposition steht. Dies nicht etwa, weil er nicht explizit gewusst würde, sondern weil er „Subjektivität“ allererst konstituiert. Besser aufgestellt erscheint die erneute Diskussion archaischer Institutionen, der Habermas sich vor diesem Hintergrund zuwendet. Diese begegnen den Akteuren nicht als, sondern innerhalb der Lebenswelt und treten dennoch mit einem unanfechtbaren Autoritätsanspruch auf. Auch hier gilt es zu erklären, wie sich diese Institutionen der sprachlich eigentlich unvermeidlichen Spannung zwischen Faktizität und Geltung und der damit eröffneten Möglichkeit ihrer Problematisierung entziehen, oder zumindest wie sie sich dagegen soweit abschirmen, dass die von ihnen bewerkstelligte gesellschaftliche Integration insgesamt nicht gefährdet ist. Angesichts der Zusammenschau des beschriebenen idealisierenden Moments der Geltungsansprüche einerseits mit der in der Theorie des kommunikativen Handelns vorgeschlagenen hypothetischen oder rekonstruierten Entwicklungslogik kommunikativer Interaktion andererseits wäre wohl das Argument erwartbar, dass aufgrund der Unverfügbarkeit einer propositional ausdifferenzierten Sprache zu diesem Zeitpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung die mit den Institutionen verbundenen Verhaltenserwartungen keine Entsprechung in der Form von artikulierbaren normativen Sachverhalten haben. Erst diese wären ja mit Geltungsansprüchen ausgestattet, welche wiederum über die jeweilige Kommunikationsgemeinschaft hinausweisen könnten. Und es wäre zu erwarten, dass mit dem Anschluss der Institutionen an das kommunikative Handeln deren Geltung tatsächlich einem problematisierenden Sog ausgesetzt wird, der ihre Geltung einem Revisionsprozess unterzieht und tendenziell in rational motivierte Anerkennung transformiert. Wie wir oben diskutiert haben, lässt sich aber auch annehmen, dass auch explizite Institutionen – und selbst zu einem Zeitpunkt, an dem die propositional ausdifferenzierte Sprache bereits zur Verfügung steht – ein symbolisches Moment besitzen, dass nicht propositional strukturiert ist, und das in diesem Sinne dem Zugriff diskursiver Problematisierung entzogen ist. Jenes Moment schien uns (etwa als wie auch immer prekäre symbolische Vergegenwärtigung der Einheit des Kollektivs) die Geltung – im Sinne sowohl des idealisierten 184 Vgl. auch Habermas 1994a, S. 55.
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Gehalts als auch der normativen Verbindlicheit – mindestens der archaischen, aber vielleicht auch teilweise noch der modernen Institutionen zu prägen. Statt dessen stellt Habermas nun die Geltung der archaischen Institutionen durch „Kommunikationseinschränkungen, die zeremoniell festgelegt sind,“185 abgeschirmt vor. Wie im Falle der lebensweltlichen Gewissheiten ist damit erneut nicht die Form oder der Gehalt der Institutionen selbst ausschlaggebend, sondern das „externe“ Kriterium der Art und Weise unseres Umgangs mit ihnen, und es fragt sich, wie sich jene Kommunikationseinschränkungen ihrerseits Geltung verschaffen können. Zwar erwähnt Habermas ähnlich zur bereits bekannten Argumentation das „Phänomen eines ursprünglichen, auratisch verklärten normativen Konsenses,“186 dieser nimmt jedoch nun eine andere, letztendlich unklare Rolle ein. Habermas beruft sich unter dem Titel jenes Konsenses nun in erster Linie nicht mehr auf Durkheim, sondern auf die anthropologische Institutionentheorie Arnold Gehlens und entwirft ein Szenario miteinander verwobener Wissenskomplexe: Ein Teilbereich der lebensweltlichen Gewissheiten, also eines Wissenskomplexes, der des dazugehörigen Meta-Wissens ermangelt, lässt sich analytisch dadurch hervorheben, dass er speziell auf einen zweiten Wissenskomplex bezogen ist, der institutionell verankerte und kulturell explizit tradierte Verhaltenserwartungen umfasst. Die durch das Explikationsniveau eigentlich eröffnete Möglichkeit der Problematisierung jener Verhaltenserwartungen wird dadurch erübrigt, dass ihr Anschluss an die jeweiligen Interaktionskontexte durch die lebensweltlichen Gewissheiten immer schon bruch- und fraglos geleistet ist; und sie wird dadurch blockiert, dass die Erwartungen durch ihre Tradierung in der Form mythischer Erzählungen so mit rituellen Handlungen verschränkt sind, dass die Rede über sie zeremoniellen Einschränkungen unterliegt. Die expliziten Verhaltenserwartungen bleiben nicht mehr im Rücken der Betroffenen, aber sie treten ihnen mit einer tabuisierten, von ihrer Faktizität (zumindest explizit) ununterscheidbaren Geltung entgegen. Obwohl in der Tat die Autorität der in rituellen Handlungen konstituierten Kommunikationseinschränkungen klärungsbedürftig bleibt, scheint Habermas’ Rückgriff auf Durkheim nurmehr lediglich die mit ihnen verbundene Gefühlsambivalenz zu betreffen, die dieser „am Status heiliger Objekte herausgearbeitet [hat], die den Betrachtern ein aus Schrecken und Enthusiasmus gemischtes Gefühl einflößen.“187 Offenbar ist die These demnach nicht mehr, dass in rituellem Handeln eine Erfahrung der Einheit des Kollektivs gemacht würde, welche sich durch die symbolische Verfasstheit des rituellen Handelns in die Vorstellung einer die Beteiligten transzendierenden mythischen Autorität zusammenzieht, die sich wiederum nur mit Hilfe von „Transmissionsriemen“ aus dem rituellen Kontext lösen und instituierten Verhaltenserwartungen mitteilen ließe. Vielmehr scheinen mythischer Konsens, deskriptive, normative und evaluative Gehalte nun unmittelbar miteinander verwoben zu sein. So sind es nun die gewalthabenden Institutionen selbst, die durch ihre unmittelbare 185 Ebd., S. 40, meine Hervorhebung – A. W. Vgl. auch ebd., S. 55. 186 Ebd., S. 40. 187 Ebd., S. 40.
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Verwobenheit mit den Mythen des Kollektivs zugleich abschrecken und faszinieren, deren unbestreitbare Geltung mit der „Kraft des Faktischen“188 verschmolzen ist. Der gegenüber der ursprünglichen Überlegung neue Verweis auf Gehlen lässt vermuten, dass die Veränderung der Argumentation durchaus wohlüberlegt ist. Sie hat ersichtlich den Vorteil, dass die in der Theorie des kommunikativen Handelns offen gebliebene Frage von Identität und Allgemeinheit im Kern der mythischen Autorität nun gänzlich ausgeklammert bleiben kann. Zwar mag sie wohl nach dem Modell der bisherigen Besprechung weiterhin eine nicht wesentlich veränderte Rolle spielen, jedoch betrifft die mythische Autorität selbst (abgesehen von der merkwürdig aus dem Bereich der Kommunikationspraxis herausgenommenen „Gefühlsambivalenz“) nur noch die Kommunikationseinschränkungen, die dem Wissenskomplex institutionalisierter Verhaltenserwartungen im Grunde äußerlich sind, während diesem eigentlich schon die Spannung zwischen Faktizität und Geltung einbeschrieben ist. So wird das Recht nicht mehr als Übersetzung der einen in die andere Form der Autorität legitimiert, bzw. verdankt es seine Geltung nicht mehr einer Transformation der mythischen Autorität, sondern der Entbindung des in jenem Wissenskomplex als eines solchen bereits angelegten Rationalisierungspotenzials. Die Revision ist allerdings insofern überraschend, als der Kurzschluss von kollektiver Identität und normativer Allgemeinheit in der Theorie des kommunikativen Handelns erst in unserer Diskussion als ein solcher – ein Kurzschluss – hervortrat, während er von Habermas selbst als durchaus gelungenes Argument präsentiert worden war. Immerhin scheint die ältere Darstellung – auch und gerade nach der kritischen Durcharbeitung – weit differenziertere Analysen zu ermöglichen als das aktuellere Modell, das sich aus den Andeutungen in Faktizität und Geltung extrapolieren lässt.189 Insbesondere die angesprochene, nach dem aktuellen Modell weitgehend ausgeklammerte Frage nach der Formulierung einer Identität, die den Universalisierbarkeitsstandards der modernen Demokratie genügt und zugleich solidaritätsstiftende Kraft besitzt, muss dringend geklärt werden. Es ist unschwer abzusehen, dass die von Habermas selbst, wenngleich in erster Linie andernorts problematisierten Themen der staatsbürgerlichen Solidarität damit zusammen hängen, und ausgerechnet die nun entfallene Durkheimsche Beschreibung der Identitätsfindung in ritueller Praxis bot in dieser Frage einen lohnenden Anknüpfungspunkt.190 188 Habermas 1994a, S. 41. 189 Ohne in entsprechende Diskussionen einsteigen zu können, scheint etwa die Möglichkeit vielversprechend, die Autorität von Institutionen als nur mittelbar mit den gefühlsambivalent besetzten mythischen Autoritäten verbunden zu kennzeichnen und eine Differenzierung zwischen Autorität und Legitimität einzuführen. 190 Unter dem Stichwort des „Verfassungspatriotismus“ widmet sich Habermas jener Frage in zahlreichen Schriften. Vgl. exemplarisch Habermas 1987c oder Habermas 2005. Dabei gelangt er jedoch nicht über ein Oszillieren zwischen notwendiger Partikularität und Abstraktion durch Grundprinzipien der Verfassung hinaus – allerdings besitzt in der Tat keine der genannten Arbeiten einen systematischen Anspruch, der dem der Theorie des kommunikativen Handelns oder von Faktizität und Geltung vergleichbar wäre. Auch in der vorliegenden Arbeit wird die positive Ausarbeitung des Themas eher im nächsten Teil, im Anschluss an Claude Lefort erfolgen. Allerdings ist auffällig, dass dabei genau die Fäden wieder aufgenommen werden können, die
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Die Thesen zur Rationalisierung der Lebenswelt im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung sollen hier nicht erneut diskutiert werden.191 Unterstellt man mit Habermas die Entbindung kommunikativer Rationalität in der Moderne, dann konstatiert man jedenfalls große Schwierigkeiten, auf die Integrationsmechanismen unweigerlich stoßen, welche Faktizität und Geltung in der einen oder der anderen Weise zusammenziehen. Während faktisch eingespielte und konventionell tradierte Koordinationsmechanismen in ihrer Geltung problematisch werden, scheint als „modernisierungsresistent“ zunächst einzig die Handlungskoordination durch kommunikatives Handeln übrig zu bleiben. Allerdings ist diese faktisch zu aufwändig und riskant, um plausibel als alleinige Integrationskraft fungieren zu können. Und als wären die Aussichten für gesellschaftliche Integration und Handlungskoordinierung so nicht schon schlecht genug, muss, so Habermas, in einem zweiten Zug festgestellt werden, dass die gesellschaftliche Komplexität und Leistungsfähigkeit inzwischen von der funktionalen Ausdifferenzierung relativ autonomer Handlungssysteme abhängt, in denen überhaupt nicht mehr Handlungsintentionen über die Geltung koordinierender Handlungsnormen, sondern Handlungsfolgen über die Kanalisierung von Kommunikationen durch ein Steuerungsmedium aneinander angeschlossen werden.192 Da diese Subsysteme jedoch einer system-immanenten Rationalisierungs- und Optimierungslogik anstelle einer Rationalisierung unterliegen, die sich an offeneren, umfassenderen Geltungsmaßstäben bemäße, da sie dazu neigen, externe „Kosten“ zu verursachen, die intern gar nicht mehr als Kosten in Rechnung gestellt werden können, und sich gegenüber Ansprüchen aus anderen Systemen oder der Lebenswelt abzuschotten, wird eine umfassendere Koordination umso wichtiger. In diesen Subsystemen werden die Akteure jedoch dazu disponiert, instrumentell und strategisch zu handeln, so dass das einzige Verfahren, das eine solche, umfassende Regulierung überhaupt möglich erscheinen lässt, nämlich der einverständnisorientierte umgangssprachliche Diskurs unter den Betroffenen, in deren individuellen Erfahrungen sich jene Kosten vor einem lebensweltlichen Hintergrund ja in erster Linie abzeichnen, nicht nur faktisch aufwändig und in seiner Konklusivität ungewiss ist, sondern auch möglicherweise nur schwer auf Diskursteilnehmer zurückgreifen kann, die eine entsprechende Orientierung mitbringen. Als moderne Institution muss sich das Recht demnach in einer gesellschaftlichen Landschaft verorten, in der für die Interaktionspartner kommunikatives und strategisches Handeln in der geschilderten Weise auseinander getreten sind. Da aus sozialstrukturellen Gründen strategisches Handeln unentbehrlich geworden ist, und zugleich nur in kommunikativem Handeln die Anerkennung normativer Geltungsansprüche erfolgen kann, muss sich das Recht als Ordnungs- und Integrationsmechanismus unter einer Vervielfältigung und Komplizierung der Perspektiven bewähren: Normen, die sich für eine sozialintegrative Einbindung, also eine für alle Beteiligten verbindliche Regelung strategischer Interaktionen eignen, [müssen] zwei kontradiktorischen Bedingungen
Habermas nach einer ersten Besprechung hat liegen lassen. 191 Vgl. dazu z. B. Habermas 1994a, S. 124ff. 192 Vgl. etwa Habermas 1987b, Kap. VI–VIII.
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genügen, die aus der Sicht der Aktoren nicht gleichzeitig erfüllt sein können. Solche Regeln müssen einerseits faktische Beschränkungen darstellen, die den Datenkranz so verändern, daß sich der Aktor in der Einstellung eines strategisch Handelnden zur objektiv erwünschten Anpassung seines Verhaltens genötigt sieht; andererseits müssen sie zugleich eine sozialintegrative Kraft entfalten, indem sie den Adressaten Verpflichtungen auferlegen, was nach unserer Voraussetzung nur auf der Grundlage intersubjektiv anerkannter normativer Geltungsansprüche möglich ist. Die gesuchte Sorte von Normen müßte demnach gleichzeitig durch faktischen Zwang und durch legitime Geltung Folgebereitschaft bewirken.193
Anders als moralische Verpflichtungen und systemische Imperative kann das Recht dieser doppelten Anforderung tatsächlich begegnen, indem es sie mit seiner internen Spannung zwischen Faktizität und Geltung und mit der reziproken Inanspruchnahme von legitimer Rechtsetzung und verlässlicher Rechtsdurchsetzung vermittelt. In der reflexiven Struktur des Rechtsbegriffs ist nämlich nicht nur ein spannungsreiches Arrangement von Normen impliziert, die sich im Lichte der Aufgabe einer politisch autonomen Ausgestaltung eines Systems der Rechte rechtfertigen müssen, sondern auch eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Einbettung jenes Ausgestaltungsprozesses, in der er einerseits Wirkung entfalten muss, andererseits aber auch eigensinnigen Gegenkräften begegnet. Wir werden die Rekonstruktion der Habermas’schen Argumente auf diese zwei Momente – der internen sowie der externen Spannung zwischen Faktizität und Geltung – konzentrieren, sowie natürlich darauf, wie in ihnen (von Habermas unzureichend beachtet) das angesprochene Problem oder Potenzial der Offenheit lebensweltlicher Sinnzusammenhänge wieder erscheint. 2.3.2 Die rechtsinterne Spannung zwischen Faktizität und Geltung Indem in geltendem Recht dem Begriffe nach die Momente der legitimen Rechtsetzung und der verlässlichen Rechtsdurchsetzung differenzierbar, aber immer beide zugleich zu garantieren sind, steht es den Akteuren frei, sich gleichsam für eine der beiden unvereinbaren Perspektiven zu entscheiden: Sie können die Rechtsnorm als „Tatsache mit prognostizierbaren Folgen“194 in ein strategisches Kalkül einbeziehen, oder sie können sie als an sie selbst gerichtete und rationale Anerkennung beanspruchende Verhaltenserwartung verstehen, die ihnen die Pflicht zur Befolgung der jeweiligen Handlungsregel auferlegt. Und während das Moment einer faktischen Handlungskoordination durch jeweils aktuell nicht zur Disposition stehende Normen wie gesehen in einer Vielzahl von Weisen realisiert sein kann (Lebenswelt, sakrale Autorität, systemische Imperative usw.), lässt sich das Moment der Geltung qua rational motivierter Anerkennung nur in der Rückführung auf die Zustimmungsfähigkeit durch die Betroffenen festmachen. Nachdem diese Rückführung in seinen früheren Schriften am prominentesten als punktuelle Praxis moralischer und ethischer Diskurse thematisiert worden war (eine Praxis, welche hinsichtlich ihrer faktischen Integrationskraft unsicher und hinsichtlich ihrer Bedeutung für eine Gesellschaftstheorie epiphänomenal bleiben musste), weist Habermas nun darauf hin, dass der 193 Habermas 1994a, S. 44f. 194 Ebd., S. 49.
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normative Kern jener Diskurse in einem Unparteilichkeitsgedanken zu suchen ist, der gegenüber der Unterscheidung von Recht und Moral zunächst noch neutral ist, sich aber unter Hinzunahme der Rechtsform ebenso als Formulierung einer Verfahrensanweisung für die explizite Rechtsetzung lesen lässt,195 so dass auch deren Resultate Legitimität im Sinne einer Vermutung rationaler Akzeptabilität für sich reklamieren können. Insofern gesellschaftliche Integration sich in normativ anerkannter Handlungskoordinierung (bzw. „legitimer Ordnung“) konzentriert, schreibt Habermas, bildet so „der Prozeß der Gesetzgebung [. . .] im Rechtssystem den eigentlichen Ort der sozialen Integration.“196 Der Gesetzgebungsprozess kann dieser Rolle allerdings nur dann gerecht werden, wenn er die rationalisierenden Potenziale kommunikativen Handelns ausschöpft, also „diskursiv verfasst,“197 und nicht selbst wiederum eine bloß strategische Verhandlung zwischen Interessen ist, wie sie sich faktisch etabliert und im Gesetzgebungsprozess eingefunden haben. Dies ist, so Habermas, der dem modernen Begriff des Rechts inne wohnende „demokratische Gedanke“: Den am Rechtsetzungsprozess beteiligten Subjekten muss, soweit es diesen Prozess anbelangt, die Orientierung an einem Einverständnis der Rechtsgemeinschaft im Ganzen, d. h. aller Rechtssubjekte, über die normativen Grundsätze der Regelung des Zusammenlebens zugemutet werden. Das damit angesprochene „Einverständnis“ mag dabei u. U. nur prospektiv ins Auge gefasst sein, unverzichtbar ist jedoch, dass es ein rational motiviertes Einverständnis zwischen einander als freie und gleiche Mitglieder einer freiwilligen Assoziation anerkennenden Rechtsgenossen und keine bloß faktische Akzeptanz ist. Die kognitive, motivationale und organisatorische Entlastung der Akteure durch die Etablierung des Rechtszusammenhangs198 gilt somit nur in bedingtem Maße für die faktischen Autoren des Rechts. Diese sind schon durch die rechtliche Institutionalisierung des Gesetzgebungsverfahrens in gewissem Maße gebunden, müssen sich aber darüber hinaus in weit höherem Maße innerlich selbst binden, um den Adressaten des Rechts dessen rational motivierte Anerkennung zu ermöglichen. In der Positivität des Rechts gelangt nicht die Faktizität eines beliebigen, schlechthin kontingenten Willens zum Ausdruck, sondern der legitime Wille, der sich einer präsumtiv vernünftigen Selbstgesetzgebung politisch autonomer Staatsbürger verdankt. Auch bei Kant muß das Demokratieprinzip eine Lücke füllen in einem System des rechtlich geordneten Egoismus, das sich nicht aus sich selbst reproduzieren kann, sondern auf einen Hintergrundkonsens der Staatsbürger angewiesen bleibt. Diese Solidaritätslücke, die die bloß legale Inanspruchnahme der auf erfolgsorientiertes Handeln zugeschnittenen subjektiven Rechte offen läßt, kann aber nicht wiederum durch Rechte desselben Typs, jedenfalls nicht allein durch solche Rechte, geschlossen werden. Das gesatzte Recht kann sich der Grundlagen seiner Legitimität nicht allein durch eine Legalität versichern, die den Adressaten Einstellungen und Motive freistellt.199 195 Zu den konkreten Formulierungen und zum Zusammenhang von Diskurs-, Moral- und Demokratieprinzip vgl. ebd., S. 138–143 und im Nachwort von 1993 S. 669–677. 196 Ebd., S. 50. 197 Ebd., S. 141. 198 Ebd., S. 143–149. 199 Ebd., S. 51, vgl. insg. ebd., S. 50–52. Dies gilt a fortiori für den Fall der sekundären Rechtsnormen (Hart), in dem als Adressaten eben die Beteiligten am seinerseits rechtlich instituierten Gesetzgebungsverfahren zu verstehen sind.
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Wie Habermas erläutert, reagiert das Rechtssystem mit einer zweiten Sorte von Rechten – auf Autonomie abstellende Staatsbürgerrechte statt privater Freiheitsrechte – auf diesen Bedarf an Verständigungsorientierung und Engagement,200 aber damit kann es den Bürgern lediglich die Möglichkeit einer gemeinschaftlich selbstbestimmenden Praxis, und das heißt die Möglichkeit zur Konstitution legitimen Rechts einräumen; aufgrund seiner Formeigenschaften kann es die faktische Wahrnehmung dieser Freiheit, die erst die Legitimität des Rechts erzeugen könnte, durch keine rechtliche Regelung gewährleisten. Die sozialintegrativ wirksame Akzeptabilität faktisch durchgesetzter Rechtsnormen lässt sich nach Habermas nicht von der anspruchsvollen Vorstellung ablösen, dass die als Adressaten Betroffenen in ihrer Gesamtheit der jeweiligen Norm aus vernünftigen Gründen zugestimmt haben.201 Selbst in der bescheideneren „paternalistischen“ Version jener Legitimierung, die von Habermas im Übrigen als unzureichend verworfen wird,202 wonach sie lediglich hätten zustimmen können müssen, sind die Anforderungen an die Repräsentativität und an die vernünftige Gemeinwohlorientierung seitens der faktischen Gesetzgeber enorm. Damit gibt es einen internen Zusammenhang zwischen Geltung und Faktizität der Rechtsetzungsprozesse und „[i]nsofern zehrt das moderne Recht von einer Solidarität, die sich in der Staatsbürgerrolle konzentriert und letztlich aus kommunikativem Handeln hervorgeht“203 – und zwar nicht nur was die eigene Subsistenz, sondern was die Geltung betrifft. Damit lässt sich keine normative Demokratietheorie ausführen, die nicht beleuchtet, in welcher Weise jene anspruchsvolle Vorstellung realisiert oder wenigstens als Denkmöglichkeit in der öffentlichen Kommunikation den Rechtssubjekten faktisch zugänglich gemacht wird. Diese Frage ist für eine normative Demokratietheorie insofern unumgänglich, als diese entweder die faktischen Realisierungsbedingungen eines solchermaßen strukturierten Gesetzgebungsprozesses untersuchen muss, oder, wenn sie sich auf den Status dieses Prozesses als den eines normativen Ideals zurückziehen will, die Möglichkeit einer faktischen Integration moderner Gesellschaften auch unter Bedingungen einer unvollkommenen Realisierung dieses Ideals klären sollte. Auch unsere Ausgangsfrage war ja, ob das Rechtssystem der geschilderten doppelten Anforderung an moderne Integrationsmechanismen genügen, ob es unter den beiden Perspektiven strategisch eigeninteressierter und verständigungsorientiert handelnder Akteure effektiv als Integrationskraft wirksam werden kann. So muss denn eine Untersuchung eines konkreten Rechtssystems neben der Konsistenz der Vorstellung, das vorliegende positivierte Recht sei eine Ausgestal200 In diversen Passagen diskutiert Habermas anhand der Rechtsdogmatik (Habermas 1994a, S. 112– 118), des hobbesianischen Vernunftrechts (ebd., S. 118–121) und der Theorie der rationalen Wahl (ebd., S. 408–415), dass sich die Konstitution – in allen Bedeutungen des Wortes – einer Rechtsgemeinschaft nicht auf der Basis bloß individueller strategischer Nutzenmaximierung (oder des Ziels einer privaten Realisierung guten Lebens) erklären lässt, sondern nur unter Inanspruchnahme einer „sozialen Perspektive“ (ebd., S. 120), die die Gleichursprünglichkeit von privater und politischer Autonomie beinhaltet und das Rechtssystem zugleich als Projekt, Manifestation und Ermöglichung der gemeinschaftlichen Selbstbestimmungspraxis von Rechtsgenossen vorstellt. 201 Ebd., S. 52. 202 Vgl. z. B. ebd., S. 230–232 oder 153f. 203 Ebd., S. 52.
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tung des mit dem Rechtsmedium und dem Unparteilichkeitsprinzip bereits implizit gegebenen Systems der Rechte auch die faktischen Normierungsprozesse daraufhin überprüfen, ob es den Adressaten tatsächlich möglich gemacht wird, den Normen als im gemeinsamen Interesse liegend vernünftig zuzustimmen. Und dies ist nicht nur eine Frage der Normen und der Rechtsetzungsprozesse, sondern auch eine der Struktur öffentlicher politischer Kommunikation. Sie muss mithin Nachforschungen über die faktischen politischen Diskussionen und die Rezeptionsverhältnisse bei den Adressaten anstellen – die vernünftige Geltung gesatzten Rechts erschließt sich nicht im Rahmen der Rechtstheorie allein. Damit hat die politische Theorie in der Perspektive der Geltungsanalyse des Rechts nachvollzogen, was wir auch über die Geltung sprachlicher Äußerungen festgestellt haben: Dass die Geltung sowohl rechtlicher Normen als auch sprachlicher Äußerungen als Geltung aufgrund einer internen Öffnung zwar nicht für beliebige, aber doch für überraschend weitreichende Wandlungen anfällig ist bzw. dass sich selbst der „eigentliche“, vermeintlich „ursprüngliche“ Sinn von Normen und Äußerungen erst in immer weiteren, in der abstrakten Geltungsanalyse vernachlässigten Konkretisierungen ergibt. Andererseits ist mit dem damit erreichten Diskussionsstand auch die Diskurstheorie des Rechts noch nicht am Ende – sie muss nicht nur die Lücke in der rechts-internen Spannung zwischen Faktizität und Geltung konstatieren, sondern kann darüber hinaus feststellen, dass das Recht aufgrund seiner reflexiven Struktur von sich aus eigene Beziehungen zur gesellschaftlichen Faktizität aufnimmt. Mit der Beschreibung jener systematisch mindestens teilweise vorgezeichneten Beziehungen wird bereits ein Terrain umrissen, auf dem sich die genannten Konkretisierungen abspielen, und von dessen Topologie sie sich mindestens teilweise werden leiten lassen müssen. So geht bei Habermas die Rechtstheorie über zur Theorie des demokratischen Rechtsstaats. 2.3.3 Geltung: Recht und Macht Bereits wenn man den dem Recht eigenen Geltungsanspruch betrachtet, ergeben sich mit subjektiven Rechten zugleich objektiv-rechtliche Implikationen, und der Staat erscheint als Artikulation einer immer schon in Anspruch genommenen Sanktions-, Exekutiv- und Organisationskapazität.204 Vor diesem Hintergrund wendet sich Habermas einer Analyse der Idee des Rechtsstaates zu und untersucht, wie Recht und politische Macht in ihrer Eigenfunktion darauf angewiesen sind, dass sie zugleich wechselseitig Funktionen füreinander erfüllen. In den Institutionen des Rechtsstaates bindet sich politische Macht und kann sich so legitimieren; und in ihnen bewehrt sich das Recht mit Mitteln, die seine Verbindlichkeit sichern. Gegen eine wiederum als subjektphilosophisch abgelehnte Tradition des Vernunftrechts, die allein in der allgemeinen Regelstruktur juridischer Normen die Möglichkeit sieht, naturalistisch verstandene, ursprünglichere Machtkonstellationen zu disziplinieren bzw. in der Unterwerfung des Machtgebrauchs unter die Rechtsform dessen „Zivilisierung“ und 204 Vgl. ebd., S. 167f.
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seine davon abhängige Akzeptabilität ausmacht,205 will Habermas ein soziologisch aufgeklärtes Modell der wechselseitigen und „gleichursprüngliche[n] Konstitution von staatlichem Recht und politischer Macht“206 vorstellen. Auf der Grundlage einer handlungstheoretisch im Anschluss an Parsons und noch unabhängig von staatlich sanktioniertem Recht und rechtsförmiger politischer Macht vorgenommenen Auszeichnung elementarer Typen der Handlungskoordinierung erläutert Habermas, dass sich diese entweder unmittelbar auf einen von allen geteilten normativen Grundkonsens und ggf. dessen Auslegung durch die entsprechenden moralischen Autoritäten, oder aber auf die sozialen Machtpositionen der Beteiligten stützen. Politische Macht und zugleich (proto-)staatlich sanktioniertes Recht entstehen dann Habermas zufolge in zwei Zügen: Ein bestimmter gesellschaftlicher Akteur kann sich aufgrund seiner faktisch etablierten sozialen Macht an die Position des alleinigen Interpreten und Verwalters der mythischen oder gesellschaftstranszendenten Heilsgüter bringen und diese Rolle monopolisieren. Ab diesem Moment verwandelt sich die faktische Macht des Akteurs durch ihre Verbindung mit dem normativen Grundkonsens der Gesellschaft in legitimierte Macht, und die in diesem Konsens wurzelnden Normen verwandeln sich dadurch, dass die Heilsgüter nun „verwaltet“ werden in sanktionsbewehrtes, faktisch durchgesetztes Recht. Da das sakrale Recht eine Gerechtigkeitsressource darstellt, aus der sich Macht legitimieren kann, wächst dem Status dieses Richterkönigs normative Autorität zu: das vorstaatliche, mit Sitte und Moral verschränkte sakrale Recht autorisiert die Stellung seines berufenen Interpreten. [. . .] Die naturwüchsige soziale Macht des Richterkönigs war durch eine Gewaltressource gedeckt, der nun die Rechtsprechung Sanktionsdrohungen entlehnen kann: die vorstaatliche Macht affirmiert das herkömmliche, aus sakraler Autorität allein lebende Recht und transformiert es in ein vom Herrscher sanktioniertes und damit bindendes Recht. Diese beiden simultan verlaufenden Vorgänge sind rückgekoppelt: die Autorisierung von Macht durch sakrales Recht und die Sanktionierung von Recht durch soziale Macht vollziehen sich uno acto. So entstehen politische Macht und staatlich sanktioniertes Recht als die beiden Komponenten, aus denen sich die rechtsförmig organisierte staatliche Gewalt zusammensetzt.207
Im zweiten Zug der Ko-Genese von Recht und Staat löst sich die Position legitimierter Macht und sanktionsbewehrter Rechtsprechung von der Bindung an ein konkretes Individuum und das Recht fungiert nicht mehr nur als Legitimationsquelle, sondern auch als Organisationsmittel: Mit der rechtlichen Institutionalisierung von (weiteren) Ämtern ist die Etablierung einer rechtsverbindlichen Entscheidungskompetenz verknüpft, mit der Organisation eines systematischen Rechts- und insbesondere Strafvollzugs der allgemein zwingende Charakter des Rechts. Aus der rechtlichen Allokation von Kompetenzen ergibt sich ein eindeutiger binärer Machtkode, aus der
205 Vgl. Habermas 1994a, S. 172, wo noch der reformistische Charakter der Kantischen Rechtstheorie auf einen „Hobbistische[n] Respekt vor der Naturtatsache der politischen Gewalt, dem undurchdringlich dezisionistischen Kern der Politik, an dem sich Recht und Moral brechen,“ zurückgeführt wird. 206 Ebd., S. 176. 207 Ebd., S. 177.
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Etablierung von hierarchisch organisierten Instanzen autoritativer und verbindlicher Rechtsprechung ergibt sich ein kohärenter binärer Rechtskode.208 Gegen soziologisch-funktionale Betrachtungen dieses Zusammenhangs von Recht und politischer Macht als eines selbstgenügsamen Kreislaufs spricht nun vor allem, dass damit die differenzierte Frage nach der Autorität und der Legitimität nicht angemessen eingeholt werden kann. So entspringt weder die Legitimationskraft des Rechts seinen reinen Formeigenschaften (etwa der Allgemeinheit der Formulierungen), noch die Durchsetzungskraft sozialer Macht ihrem rein empirisch-positivistisch zu verstehenden Sanktionspotenzial (etwa physischer Gewalt). Obwohl Habermas in der genealogischen Perspektive, die er zuweilen erneut in Anschlag bringt, die faktischen Positionen sozialer Macht über die Begrifflichkeit von „Prestige“ auf ein Statussystem zurückführt, das seinerseits „ein in religiösen Weltbildern und magischen Praktiken verankertes Normgefüge darstellt“209 und somit ebenfalls im „normativen Grundkonsens“ wurzelt. Und obwohl der Gedanke nahe liegt, dass selbst die säkularen sozialen Machtverhältnisse der Moderne – sofern sie sich überhaupt von politischen Machtverhältnissen unterscheiden lassen – ähnliche Grundlagen haben, hebt er im weiteren Argumentationsverlauf lediglich auf die Abhängigkeit der Legitimationskraft des Rechts von bestimmten Konstellationen der gesellschaftlichen Kommunikation ab.210 Sobald Habermas die Analyse auf das posttraditionale Recht wendet, das nicht mehr „von sich aus“ legitim ist, sondern nur, insofern es seinerseits an den Gebrauch kommunikativer Freiheiten durch die Bürger zurückgebunden ist, müsste jedoch das Kriterium des unmittelbaren Bezugs auf den gesellschaftlichen normativen Grundkonsens, das normative Autorität von sozialer Macht unterscheiden hatte sollen,211 einer verkomplizierenden Revision unterzogen werden: Recht ist nur dann legitimes Recht, wenn es als das Ergebnis einer politisch autonomen Ausgestaltung des „Systems der Rechte“ verstanden werden kann. Dies ist nur möglich, wenn es auf den Gebrauch der kommunikativen Freiheiten der Bürger zurückgeführt werden kann. Dieser Gebrauch wiederum generiert seinerseits ein Potenzial gesellschaftlicher Macht, denn die gemeinsamen Überzeugungen, die sich in jenen Kommunikationen ergeben, „haben zugleich eine motivierende Kraft.“212 Diese, die kommunikative Macht des gemeinsamen Willens, autorisiert das Recht, in dem jener sich äußert. Die Setzung legitimen Rechts und die Bildung kommunikativer Macht sind unauflöslich „verschwistert,“213 und gehen gleichursprünglich aus der öffentlich-kommunikativen Ausübung politischer Autonomie hervor. Nach dem 208 Vgl. ebd., S. 178f. 209 Ebd., S. 176. 210 Diese Argumentation mündet in eine Analyse der Arendtschen kommunikativen Macht, und die Verzögerung, mit der dieser Begriff hier zu eigen gemacht wird, soll darauf aufmerksam machen, dass zunächst auch etwa von symbolischer Macht die Rede hätte sein können. Letztendlich ist der Begriff der kommunikativen Macht wohl tatsächlich passender, es soll aber festgehalten werden, dass diese kommunikative Macht bereits an diesem Punkt einen symbolischen Aspekt zu besitzen scheint. 211 Vgl. Habermas 1994a, S. 176. 212 Ebd., S. 183. 213 Ebd., S. 184f.
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Zerfall substanzieller gesellschaftsübergreifender Wertesysteme entsteht normative Autorität im modernen demokratischen Rechtsstaat immer neu im Gebrauch kommunikativer Freiheiten durch die Bürger – und ist wie die Kehrseite der Medaille mit der Genese legitimen Rechts verbunden. Es muss jedoch einerseits festgestellt werden, dass – entgegen Habermas’ Darstellung – nicht erst im modernen System politischer Kommunikation normative Autorität und politische Macht aus ein- und derselben Quelle entspringen und sich sozialer Macht gegenüber unabhängig zeigen, sondern offenbar bereits moralische Normen und soziales Prestige der Akteure auf den mythischen Grundkonsens archaischer Gesellschaften zurückzuführen sind, in denen von keiner isolierbaren sozialen Macht die Rede sein kann. Damit müsste ein anderes Kriterium innerhalb des Zusammenhangs von politischer Autorität und mythisch-moralischem Konsens zur weiteren Binnendifferenzierung gefunden werden. Entsprechend muss nach der Diskussion aus dem ersten Teil andererseits betont werden, dass auch die kommunikative Macht und die normative Autorität, die in öffentlichen Kommunikationen generiert werden, noch mehr beinhalten als einen assertorischen Satz, eine Anzahl von affirmativen Stellungnahmen dazu und das Bewusstsein der Akteure, dass sie jeweils den Satz affirmiert haben. Der Rückgriff auf die besprochenen Analysen Durkheims liegt nahe – in diesen konnte ja in der öffentlichen Gemeinsamkeit selbst eine „mythische“ Kraft ausgemacht und eine Differenzierung von Autorität und Legitimität angedeutet werden (was von Habermas seinerzeit unter der Thematik von Einheit und Allgemeinheit leider nur allzu kurz aufgenommen wurde). Insofern ist auch die Arendtsche Formulierung von der „Meinung, auf die sich viele öffentlich geeinigt haben“214 bereits positivistisch irreführend: Kommunikative Macht und Recht entspringen eben nicht, wie es Habermas’ Gebrauch des Arendt-Zitats nahelegt, einer Meinung, sondern dem öffentlichen Einigsein bzw. der tätigen kollektiven Hervorbringung jenes Einigseins. Das symbolische Moment ist aus kommunikativer Macht nicht nur nicht tilgbar, es macht ihren motivationalen Kern, ihre Bindungskraft nicht weniger als die illokutionäre Übernahme handlungsrelevanter Verpflichtungen aus. Kommunikative Macht und normative Autorität konstituieren sich immer auch symbolisch. Jedoch haben wir im ersten Teil auch gesehen, dass die symbolische Konstitution von Macht und Autorität diese grundsätzlich zugleich destituieren muss: Die sprachliche Natur der Kommunikationen macht es nicht nur unmöglich, genau zu spezifizieren, welcher Sinn jeweils affirmiert wurde und welche Verpflichtungen die Akteure durch ihre Affirmationen eingegangen sind, sondern sie entzieht auch die Autorität kommunikativer Macht jeder definitiven Bestimmtheit. Gewiss handelt es sich immer um eine relativ bestimmte Position kommunikativer Macht, mit der die Repräsentanten durchsetzungsfähiger Interessen genauso wie „die Inhaber administrativer Machtpositionen rechnen müssen.“215 Und sicherlich sind die rechtlich instituierten Organe etwa eines Parlaments, der Gerichte oder eines Staatsoberhaupts mit einer relativ bestimmten Autorität ausgestattet. Allein, jene kommunikative Macht und 214 Habermas 1994a, S. 182f. Vgl. Arendt 1974, S. 96. 215 Habermas 1994a, S. 183.
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jene Autorität sind immer auch durch die Möglichkeit charakterisiert, dass sie im nächsten Augenblick eine andere Bedeutung haben können – und zwar „immer schon gehabt haben“ können. Wenn also die „post-symbolischen“ (in ironischer Anlehnung an die Rede vom „paläo-symbolischen“) Verhältnisse und Prozesse ebenfalls eine Quelle gesellschaftlicher Motivationskraft darstellen, dann muss allerdings auch die Frage nach ihrem Verhältnis zu den im engeren, Habermas’schen Sinne diskursiven Momenten öffentlicher Kommunikation gestellt werden. Denn es könnte auch eine Art von kommunikativer Macht generiert werden, die nach den Maßstäben diskursiver Rationalität illegitim ist. Was die Generierung kommunikativer Macht angeht, scheint es dann einmal mehr angezeigt, diese mindestens zunächst von der Frage der Legitimität zu trennen. Denn obwohl sowohl Habermas als auch Arendt die Generierung kommunikativer Macht als allein in Verhältnissen unverzerrter Kommunikation möglich entwerfen – und damit ihre Legitimität immer schon mit-etabliert haben –,216 müssen wir uns der Gründe für eine solche Identifizierung erst noch vergewissern. Andererseits ergeben sich vielleicht aber in der Untersuchung der symbolischen Konstitution kommunikativer Macht ja auch Motive, die es sinnvoll erscheinen lassen, von Rationalisierungspotenzialen auch noch in einer anderen, weiteren Hinsicht zu sprechen. Die Schwierigkeit besteht offensichtlich nicht in der Unterscheidung von „legitimer“ und „illegitimer“ kommunikativer Macht von der Warte einer (z. B. ideologiekritischen) Beobachterperspektive aus, sondern darin, das komplizierte Verhältnis von Attraktions- und Repulsionskräften aufzuspüren, in dem sich der Zusammenhang (und die Differenz) von Autorität und Legitimität zur Geltung bringt, ohne dabei auf bewusstseinsphilosophische Analysemuster zurückzugreifen. Kommunikative Macht kurzerhand definitorisch als diejenige zu begreifen, die sich nur in unverzerrten Kommunikationsverhältnissen herstellen lässt, erscheint aber zum gegenwärtigen Diskussionsstand als normativ inspirierte petitio principii. 2.3.4 Faktizität: Macht und Recht Mit dem vollen Spektrum symbolisch generierter Autorität bzw. mit der symbolischen Autorität, die in weniger idealen oder sogar weitgehend verzerrten Kommunikationsverhältnissen produziert wird, sollte sich auch das Verständnis von Macht überhaupt weiter klären. Nicht das „Kommunikative“ an der Autorität demokratischer Rechtsinstitutionen unterscheidet sie von einer ihr widerstreitenden sozialen oder administrativen Macht. Es gilt sogar herauszuarbeiten, in welcher Weise auch diese ggf. von ihren kommunikativen und symbolischen Wurzeln geprägt sind und bleiben. Zugleich sollte das normative Potenzial einer Theorie, die eine fundamentale Unterscheidung der beiden Machttypen vorsieht, natürlich nicht vorschnell zugunsten eines ubiquitären, normativ indifferenten Machtbegriffs aufgegeben werden. Aber eine solche Unterscheidung ist eben vor dem Hintergrund der vorangegangenen Diskussionen nur noch in der detaillierten Auseinandersetzung mit der symbolischen 216 Vgl. ebd., S. 184 oder 188.
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genauso wie mit der „expliziten“ Dimension verschiedener Kommunikationsmuster möglich. Habermas führt aus einer ähnlichen Motivation einige Differenzierungen im Machtbegriff ein:217 Neben der anderweitig konstituierten sozialen Macht ergibt sich nämlich bereits innerhalb des Bereichs politischer Macht, dass die praxisgebundene kommunikative Macht nicht ohne Weiteres mit derjenigen Macht identifiziert werden kann, die vom Recht in der Form von Sanktions-, Organisations- und Exekutivmacht in Anspruch genommen wird. Mit der Konstitution eines Handlungssystems, das diese Sanktions-, Organisations- und Exekutivfunktionen erfüllt, und das sich um einen Machtcode als seinen Kommunikations- und Koordinationsmechanismus herum organisiert, verwandelt jene Macht ihren Charakter, sie geht in einen „anderen Aggregatzustand“ über, wie Habermas sagt.218 Insofern geht Habermas’ Begriff des Politischen über die Arendtianisch-Aristotelisch verstandene politische Praxis der rechtsetzenden öffentlichen Debatten hinaus und erstreckt sich auch auf das administrative System sowie auf die Interaktion zwischen diesen beiden Zusammenhängen. Im Rahmen eines solchen Begriffs des Politischen hat das Recht auch die Funktion, die Interaktionen zwischen den beiden Handlungsbereichen zu regulieren, und der Rechtsstaat ist zunächst die rechtliche Institutionalisierung verbindlicher Interaktionskanäle. Die Idee des Rechtsstaates läßt sich dann allgemein als die Forderung interpretieren, das über den Machtkode gesteuerte administrative System an die rechtsetzende kommunikative Macht zu binden [. . .]. Die administrative Macht soll sich nicht selbst reproduzieren, sondern allein aus der Umwandlung kommunikativer Macht regenerieren dürfen.219
In der Konsequenz der Bindung des administrativen Systems an das Recht und – dadurch vermittelt – an die kommunikative Macht der öffentlichen Diskurse liegt also im Grunde auch das Prinzip der Volkssouveränität: Es beschreibt die Vermittlung zwischen dem subjektiven Recht auf chancengleiche Teilnahme an der demokratischen Willensbildung und der objektiv-rechtlichen Institutionalisierung einer Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestimmung, es „bildet das Scharnier zwischen dem System der Rechte und dem Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates.“220 217 Vgl. Habermas 1994a, S. 185–187. 218 Ebd., S. 186. Vgl. die analoge Überlegung zur Transmission von rituell konstituierter Autorität in institutionelle Zusammenhänge oben, S. 48ff. 219 Ebd., S. 187. Insofern diese Wiedergabe nicht so sehr auf die „demokratische“ Struktur der ihrem Begriff nach immer noch unklaren kommunikativen Macht, sondern eher auf die Äußerlichkeit der autorisierenden rechtsetzenden Instanz im Verhältnis zur administrativen Macht abhebt, stellt sich die Frage, ob sie nicht auch auf (z. B. absolutistische) Verhältnisse anwendbar wäre, die wir nicht als Rechtsstaat bezeichnen würden. Ein solcher Zweifel scheint jedenfalls nur im Rahmen einer sehr empiristischen Vorstellung von „Reproduktion“ ausgeschlossen – eine Vorstellung, die, ernst genommen, die Anwendbarkeit jener Formulierung auf Verhältnisse, die wir dann eben doch als Rechtsstaat bezeichnen wollen würden, umso stärker in Zweifel ziehen müsste. Der zweite Teil dieser Arbeit widmet sich ausführlich diesem Problem. (S. u., S. 142.) 220 Vgl. ebd., S. 209. Insoweit das Prinzip der Volkssouveränität diese beiden Aspekte demokratischen Rechts – die rechtsinterne Geltung und den rechtsinternen Verweis auf politische Macht – verknüpft, fällt auf Vorschläge, wie es zu denken sei, das besondere Schlaglicht zweier sich kreuzender Schwierigkeiten: 1. Auf den Bedarf an gemeinwohlorientierten Rechtsautoren und
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Der im Folgenden referierte Zusammenhang eines Machtkreislaufs in einem rechtlich institutionalisierten Netz von Diskursen und Verhandlungen gibt in diesem Sinne eine Formulierung des Volkssouveränitätsgedankens unter diskurstheoretischen Gesichtspunkten wieder.221 Während die rationalitätstheoretische Perspektive auf legislative Diskurse lediglich nahelegt, sie um der Berücksichtigung möglichst vieler Aspekte der zu entscheidenden Materie willen möglichst offen zu gestalten, erzwingt die legitimitätstheoretische Perspektive „die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz an die Gesamtheit von Staatsbürgern, die allein aus ihrer Mitte die kommunikative Macht gemeinsamer Überzeugungen generieren können.“222 Da andererseits Verfahren der begründeten und verbindlichen Entscheidung über Politiken und Gesetze pragmatisch nur institutionalisiert werden können, indem Körperschaften mit beschränktem Teilnehmerkreis und ihrerseits verbindlichen Prozeduren eingerichtet werden, bietet sich die Etablierung von verschiedenen Ebenen der Meinungs- und Willensbildung an, deren Verschränkung dann über die Institutionalisierung entsprechender Kommunikationsmechanismen gewährleistet werden muss. So ergibt sich die Anforderung, über die Verfahrensregeln der parlamentarischen Vertretungskörperschaften einerseits die Kommunikationsvoraussetzungen für unbeschränkte pragmatische, ethische und moralische Diskurse im Habermas’schen Sinne, sowie die Bedingungen für faire Verhandlungen gleichsam „im Inneren“ jener Körperschaften einzurichten, und andererseits über denselben Typ von Regeln die Aufnahme von Impulsen aus der informellen Meinungsbildung der politischen Öffentlichkeit sicherzustellen. Das verleiht den Fragen des Status der Abgeordneten, des Entscheidungsmodus in den Körperschaften und sogar der Arbeitsorganisation prinzipielle Relevanz,223 denn in ihnen entscheidet sich, wie und welche Kommunikationsvoraussetzungen und -parameter installiert werden. Diese müssen ja, unabhängig von konkreten Verfahrensdurchläufen, die Vermutung der rationalen Akzeptabilität verfahrenskonform erzielter Ergebnisse begründen. Vor allem aber ist die Selektion der Teilnehmer an der institutionalisierten politischen Meinungs- und Willensbildung nicht mehr zuerst als Delegation von Willensmacht zu verstehen, sondern als zentrales Element der Verschränkung von informellem öffentlichen Diskurs und institionalisierter Meinungsund Willensbildung.224 Dem Diskurs der parlamentarischen Deliberation wird ja ein rationalisierendes Moment zugetraut, indem dort die Eingaben dem Austausch
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an gesellschaftlicher Solidarität, die eine rechtstheoretisch nicht zugängliche Voraussetzung der Geltung rechtlicher Normen darstellen; 2. auf die mögliche Ambivalenz von Prozessen der Generierung kommunikativer Macht. Vgl. ebd., S. 209: „In seiner diskurstheoretischen Lesart besagt das Prinzip der Volkssouveränität, daß sich alle politische Macht aus der kommunikativen Macht der Staatsbürger herleitet.“ Vgl. dazu auch die Parallele zum vorigen Zitat, das die „Idee des Rechtsstaats“ ganz ähnlich expliziert. Ebd., S. 210. Vgl. ebd., S. 210. In diesem Sinne ist das Moment der Abwählbarkeit genauso wichtig wie das der (Aus-)Wahl selbst.
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von Argumenten unterworfen und diskursiv verändert werden können; andererseits muss jener Diskurs als grundsätzlich offen verstanden werden, und das heißt im Falle der in ihrer Teilnehmerschaft beschränkten parlamentarischen Deliberation, dass sie „durchlässig, sensibel und aufnahmefähig bleiben [muss] für die Anregungen, die Themen und Beiträge, Informationen und Gründe, die [ihr] aus einer ihrerseits diskursiv strukturierten, also machtverdünnten basisnahen, pluralistischen Öffentlichkeit zufließen.“225 In diesem Sinne ergibt sich ein rechtsbegrifflich relevanter normativer Begriff von Öffentlichkeit: Deshalb dürfen diese Diskurse, die aus technischen Gründen repräsentativ geführt werden müssen, nicht nach dem Stellvertretermodell gedeutet werden; sie bilden nur den Mittelpunkt oder Fokus des gesellschaftsweiten Kommunikationskreislaufs einer im ganzen nicht-organisierbaren Öffentlichkeit.226
Auf der anderen Seite machen die prozeduralen Eigenheiten der Verkoppelung der parlamentarischen Deliberation und Beschlussfassung mit dem administrativen Komplex auf das ergänzende, machttheoretische Moment aufmerksam, welches dem politischen Kommunikationskreislauf eignet, und dessen Richtung noch mehr als seine „Verlustminimierung“ von wesentlicher Bedeutung ist: Die funktionale Trennung von legislativer und exekutiver Gewalt und die Bindung der letzteren an die Vorgaben der ersten muss nämlich sicherstellen, dass die administrative Macht sich nicht selbst reproduziert und ihrerseits autonom wird, sondern an die Legitimitätsressource der kommunikativen Macht gebunden bleibt, aus der sie sich reproduziert und die ihrem eigenständigen Operieren einen nicht verfügbaren Rahmen in Form von Gesetzen auferlegt. Gesteht man zu, dass die parlamentarische Beschlussfassung durch die Aufnahme öffentlich flottierender Themen und Argumente und durch die politische Verantwortlichkeit der Diskursteilnehmer die Autorität der in der (natürlich pluralistisch zu verstehenden) öffentlichen Meinung konstituierten kommunikativen Macht erbt und durch die rationalisierende Verarbeitung jener Themen und Argumente zu Entscheidungen bündelt, denen politische Legitimität zukommt, dann ist dafür Sorge zu tragen, dass die auf diese Weise mit Legitimationskraft ausgestatteten Entscheidungen, und nur sie, das Verhalten der Verwaltung binden. Dies wird einerseits durch die rechtliche Konstituierung vieler administrativer Positionen sowie ihrer jeweiligen Funktions- und Zuständigkeitsbereiche, andererseits durch das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der gesamten Verwaltung unternommen, welches alle administrativen 225 Habermas 1994a, S. 224. 226 Ebd., S. 224. Vgl. auch ebd., S. 211. Diese „strukturalistische“ (ebd., S. 228) Rolle des Öffentlichkeitsbegriffs steht, wie Habermas ausführt, quer zu den klassischen, plebiszitären oder repräsentativen Theorien: „Wenn sich die kommunikativ verflüssigte Souveränität der Staatsbürger in der Macht öffentlicher Diskurse zur Geltung bringt, die autonomen Öffentlichkeiten entspringen, aber in Beschlüssen demokratisch verfahrender und politisch verantwortlicher Gesetzgeber Gestalt annehmen, wird der Pluralismus der Überzeugungen und Interessen nicht unterdrückt, sondern entfesselt und in revidierbaren Mehrheitsentscheidungen wie in Kompromissen anerkannt. Die Einheit einer vollständig prozeduralisierten Vernunft zieht sich dann nämlich in die diskursive Struktur öffentlicher Kommunikationen zurück.“ (ebd., S. 228)
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Maßnahmen unter Gesetzesvorbehalt stellt, d. h. als nichtig definiert, wenn sie einem Gesetz widersprechen.227 Wenn politische Macht – die Fähigkeit, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen – für den administrativen Komplex in dieser Weise rechtlich spezifiziert wird, lässt sich administrative Macht also als eine innerhalb eines rechtlich bestimmten Spielraums etablierte Entscheidungsbefugnis verstehen.228 In diesem Kreislauf ist das Recht demnach nicht nur der Mechanismus, über den die einzuhaltenden Verfahren eingerichtet werden, sondern auch das Medium, über das sich kommunikative Macht in administrative Macht umsetzt.229 Andererseits ergeben sich sozusagen an der Unterseite dieses Kreislaufs Strömungen, die seinen Zusammenhang um eine problematische Dimension ergänzen: Die öffentliche, gesellschaftsweite Kommunikation der Staatsbürger bildet, wie gesehen, die Grundlage der Legitimationskraft parlamentarischer Deliberationen. Diese Kommunikationen werden durch ein Netz zivilgesellschaftlicher und medialer Organisationsformen aufgespürt, gebündelt und verstärkt, und bilden so ein Meinungsund Machtpotenzial, das in die parlamentarischen Diskurse einzubauen die dortigen Akteure um der Ausgewogenheit jener Diskurse und um ihrer eigenen Legitimation willen genötigt sind.230 Die Ergebnisse deliberativer Politik lassen sich als kommunikativ erzeugte Macht verstehen, die einerseits zum sozialen Machtpotential glaubwürdig drohender Aktoren und andererseits zur administrativen Macht von Amtsinhabern in Konkurrenz tritt.231
Im Anschluss an die Systemtheorie weist Habermas allerdings darauf hin, dass dieselben gesellschaftlichen Akteure, deren Kommunikationen öffentliche Meinung und kommunikative Macht bilden – die Staatsbürger in ihrer Rolle als Autoren des Rechts und die zivilgesellschaftlichen Assoziationen als Katalysatoren der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung –, dass also dieselben Akteure auch im direkten Kontakt mit dem administrativen System stehen – die Staatsbürger als Klienten und Adressaten der Verwaltungsakte und die zivilgesellschaftlichen Assoziationen als Interessenorganisationen –, und dort unabhängig von den starken Universalisierungsund Diskursivitätsauflagen öffentlicher Kommunikationen ihren Einfluss geltend 227 Vgl. ebd., S. 213–215. 228 Vgl. ebd., S. 187. 229 Habermas legt zu Recht Wert darauf, dass die genannte funktionale Gewaltenteilung nicht auf konkretistische Art und Weise verstanden werden darf, so dass jeder Funktion eine eigene institutionalisierte Organisationseinheit entspräche. Vielmehr ordnet er die Funktionen unterschiedlichen Zugriffs- und Verfügungsmöglichkeiten auf bestimmte Sorten von Gründen zu. So muss etwa die Handhabe administrativer Macht auf den Zugriff auf normative Gründe verzichten – oder um legitimationswirksame Mechanismen des Einflusses deliberativ-inklusiver Rationalisierung und kommunikativer Macht ergänzt werden. (Vgl. ebd., S. 235–237) Für den hier zur Debatte stehenden Punkt fällt diese Spezifizierung allerdings nicht ins Gewicht. 230 Zur „Öffentlichkeit“ vgl. ebd., S. 435–443, zur „Zivilgesellschaft“ vgl. ebd., S. 443–451 und zum als „Schleusenmodell“ bezeichneten Bild des Flusses kommunikativer Macht von der peripheren Öffentlichkeit bis in die legislativen Körperschaften vgl. ebd., S. 430–435 und 451–467. 231 Ebd., S. 415.
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machen.232 Zudem wohnt dem Verwaltungssystem, dessen Prozessieren zwar im Allgemeinen rechtlich initiiert und eingehegt ist, im Einzelnen aber mit dem Steuerungskode der administrativen Macht eine relativ unabhängige Grundlage besitzt, das Bestreben inne, sich vom legitimatorischen Zufluss kommunikativer Macht unabhängig zu machen und sich selbst zu reproduzieren.233 (Diesem Bestreben sollen ja etwa die Gesetzesbindung der Verwaltung und die gerichtliche sowie parlamentarische Verwaltungskontrolle gerade entgegenwirken und ihm gegenüber den Vorrang des im demokratischen Verfahren legitimierten Gesetzes sicher stellen.)234 Die Selbstprogrammierung der Verwaltung wird durch Möglichkeiten der Einflussnahme auf den gesetzgeberischen Prozess, etwa in der Beratung über Gesetzesvorhaben und durch das Recht der Gesetzesinitiative, abgesichert, so dass sich neben dem offiziellen Machtkreislauf ein „informeller Gegenkreislauf“235 etabliert. Die mehr oder weniger prekäre Balance zwischen den Kräften gesamtgesellschaftlicher Integration – Geld, administrativer Macht und Solidarität236 – findet sich also strukturell im Innern der Erzeugung kommunikativer Macht und positiven Rechts wieder. Das Vorhandensein jener grundsätzlichen rechtsimmanenten Konkurrenz muss jedoch den normativen Wert des demokratischen Rechtsstaats noch nicht unbedingt mindern: Mit den unterschiedlichen Machtpotenzialen verbinden sich unterschiedliche Problemlösungskompetenzen, die sich mitunter auch zu ergänzen vermögen. Da die normative Einschätzung jenes Gegenkreislaufs in diesem Sinne eine empirische Frage ist,237 zieht Habermas im Anschluss an Peters238 die Rede von zwei Arbeitsmodi des politischen Zentrums vor – ein normaler Problemverarbeitungsmodus, in dem „der größte Teil der Operationen im Kernbereich des politischen Systems [. . .] nach Routinen [abläuft]“,239 und ein außerordentlicher Modus, der durch Problematisierung, höhere Aufmerksamkeit und breitere Öffentlichkeit gekennzeichnet ist, und der in der Konkurrenz zwischen den beiden Machtkreisläufen „die rechtsstaatliche Regulierung des Machtkreislaufes begünstigt, also Sensibilitäten für die verfassungsrechtlich geregelten politischen Verantwortlichkeiten aktualisiert.“240 Dann verlagert sich aber die normative Einschätzung des demokratischen Rechtsstaats von der Ebene der Analyse von Institutionen, auf der er nun ein normativ willkommenes Moment ebensosehr aufweist wie eines, das das erste außer Kraft setzen kann, auf die Ebene der gesellschaftstheoretischen Betrachtungen. Neben der „empirischen“ Einschätzung der „Qualität“ der öffentlichen und parlamentarischen
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Vgl. Habermas 1994a, S. 399f und 405f. Vgl. etwa ebd., S. 185–187. Vgl. ebd., S. 213–215. Vgl. ebd., S. 406. Vgl. ebd., S. 452ff. „[V]iele dieser zirkulären oder in Gegenrichtung fließenden Kommunikationen dienen einer gleichsam unschädlich problemzerkleinernden Entlastung des offiziellen Kreislaufes von unvermeidlicher Komplexität.“ (Ebd., S. 432) 238 Peters 1993. 239 Habermas 1994a, S. 432. 240 Ebd., S. 433.
2.3 Lebenswelt und Demokratietheorie
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Diskurse241 muss sie grundsätzlich klären, wie und unter welchen Umständen ein Wechsel aus dem „normalen“ in den „außerordentlichen“ Politikmodus überhaupt möglich gemacht bzw. erzwungen werden kann – und da dies eher vom Innovationspotenzial historischer politischer Praxis als von der rationalen Einsicht in Prinzipien abhängt, wird die normative Demokratietheorie an diesem Punkt nicht um die Rekonstruktion der entsprechenden Leistungen in konkreten Gesellschaften herumkommen, sobald sie Genaueres zur Möglichkeit des beschriebenen „Umschaltens“ sagen will. Zwar kann dem parlamentarischen Komplex nicht a priori die Fähigkeit abgesprochen werden, Probleme wirksam zu thematisieren und das Umschalten des politischen Zentrums auf den außerordentlichen Arbeitsmodus selbst zu initiieren, obwohl es einige empirische Evidenzen gibt, die seine Kapazitäten in dieser Hinsicht in Zweifel ziehen.242 Plausibler erscheint jedoch in der Tat der erneute Fokus auf die politische Öffentlichkeit, demzufolge der außerordentliche Problemverarbeitungsmodus vom „Druck der öffentlichen Meinungen“ erzwungen243 werden kann – immerhin ist die politische Öffentlichkeit der Raum, in dem das elementare Potenzial kommunikativer Macht, von dem auch der parlamentarische Komplex zehren muss, allererst generiert wird. Wenn dieser Fokus tatsächlich den Kern der normativen Qualität der Demokratie erfasst, dann muss die Verfassung der politischen Öffentlichkeit als ein entscheidendes Kriterium für die Einschätzung des demokratischen Rechtsstaats verstanden werden. Mit dem Vorliegen der wesentlichen formalen Institutionen des demokratischen Rechtsstaats sind dann nur bestimmte Unrechtsverhältnisse ausgeschlossen, aber noch nicht die Möglichkeit, dass es sich um eine am Ende eben doch nicht demokratisch verfasste Gesellschaft handeln könnte. Dies bringt die Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats jedoch in eine gewisse Verlegenheit und sie muss als Demokratietheorie – und nicht erst als Gesellschaftstheorie – den Rahmen der Rechts- und Institutionentheorie überschreiten: Denn nun fällt ein guter Teil der normativen Erwartungen, die mit deliberativer Politik verknüpft sind, auf die peripheren Strukturen der Meinungsbildung. [. . .] Die Ausbildung solcher lebensweltlicher Strukturen kann gewiß stimuliert werden, sie entzieht sich aber weitgehend rechtlicher Regulierung, administrativem Zugriff oder politischer Steuerung. Sinn ist eine knappe Ressource, die nicht nach Belieben regeneriert oder vermehrt werden kann, wobei ich „Sinn“ als Limesgröße gesellschaftlicher Spontaneität verstehe. Auch diese ist, wie alle empirischen 241 „[F]ür die Strukturierung einer öffentlichen Meinung sind die Regeln einer gemeinsam befolgten Kommunikationspraxis von größerer Bedeutung [als die bloße Reichweite der Zirkulation von Meinungen]. Zustimmung zu Themen und Beiträgen bildet sich erst als Resultat einer mehr oder weniger erschöpfenden Kontroverse, in der Vorschläge, Informationen und Gründe mehr oder weniger rational verarbeitet werden können. Mit diesem ‚Mehr oder Weniger‘ an ‚rationaler‘ Verarbeitung von ‚erschöpfenden‘ Vorschlägen, Informationen und Gründen variieren allgemein das diskursive Niveau der Meinungsbildung und die ‚Qualität‘ des Ergebnisses. Deshalb bemißt sich das Gelingen öffentlicher Kommunikation auch nicht per se an der ‚Herstellung von Allgemeinheit‘, sondern an formalen Kriterien des Zustandekommens einer qualifizierten öffentlichen Meinung. [. . .] Die ‚Qualität‘ einer öffentlichen Meinung ist, soweit sie sich an prozeduralen Eigenschaften ihres Erzeugungsprozesses bemißt, eine empirische Größe.“ (Ebd., S. 438f) 242 So ebd., S. 433. 243 Ebd., S. 433.
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2 Jürgen Habermas’ Rechtstheorie und die Lebenswelt
Größen, konditioniert. Aber die Bedingungen liegen in lebensweltlichen Kontexten, die die Fähigkeit assoziierter Rechtsgenossen, ihr Zusammenleben selbst zu organisieren, von innen begrenzen. Was den diskursiven Vergesellschaftungsmodus einer Rechtsgemeinschaft letztlich ermöglicht, steht dem Willen ihrer Mitglieder nicht einfach zur Disposition.244
Und wie mit der vorliegenden Arbeit gezeigt werden soll, steht es selbst dem Wissen der Theorie nicht einfach zur Disposition, sondern unterläuft seine Behandlung als „empirische Größe“. Die Ausbildung lebensweltlicher Strukturen entzieht sich nicht nur rechtlicher Regulierung, administrativem Zugriff und politischer Steuerung, sondern auch einer empiristischen Registrierung. Wie wir sehen werden, ist schon die Idee, diese Strukturen überhaupt eindeutig beschreiben und beurteilen zu wollen, zweifelhaft. Denn ihre Einschätzung folgt nicht aus ihrer vermeintlich objektivierend feststellbaren Qualität oder Quantität, sondern aus einer unabschließbaren hermeneutischen Vergegenwärtigung des Sinns, den sie in der konkreten Situation besitzen, wobei „Sinn“ hier eben gerade nicht mehr als empirische Größe verstanden werden kann. Diese Vorbehalte gewinnen noch an Gewicht, wenn Habermas Recht behält und auch das Funktionieren der Öffentlichkeit sich in einen zentralistisch-oligarchisch dominierten Routinemodus und in einen zweiten Modus differenziert, in dem „unter Bedingungen einer wahrgenommenen Krisensituation [. . .] für die kritischen Momente einer beschleunigten Geschichte“245 zivilgesellschaftliche Akteure die Richtung der Kommunikationskreisläufe so umkehren können, dass die Behandlung von Themen und die Mobilisierung kommunikativer Macht einen von der gesellschaftlichen Peripherie her kommenden, spontanen Verlauf nehmen.246 Die mehrfach betonte Rede von Krisen und Krisenbewußtsein, ebenso wie die Tatsache, dass Habermas im Anschluss daran auf die „gewaltfreie[n], symbolische[n] Regelverletzungen“247 des zivilen Ungehorsams als äußerster Artikulation von Impulsen jenes krisenhaften Funktionierens politischer Öffentlichkeit zu sprechen kommt, gibt deutliche Hinweise darauf, dass sich die wesentlichen Aspekte in einem empirischen oder objektivierenden Theorieparadigma nicht auf angemessene Art und Weise thematisieren lassen.
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Habermas 1994a, S. 434f. Ebd., S. 460. Vgl. dazu insg. ebd., S. 458–462. Ebd., S. 462, meine Hervorhebung – A. W.
3 CLAUDE LEFORTS DEMOKRATIETHEORIE UND DAS SYMBOLISCHE Nach der bisherigen Diskussion ist davon auszugehen, dass eine Demokratietheorie in wesentlichen Fragen darauf angewiesen ist, neben der empirischen und der notwendig unterstellten idealen Dimension gesellschaftlicher Kommunikationszusammenhänge auch deren symbolische Dimension zu analysieren.1 Dies betrifft sowohl die strukturellen Komponenten der Lebenswelt im Allgemeinen (etwa hinsichtlich der Feststellung von Gemeinwohlorientierung einzelner oder solidarischer Einstellung kollektiver Akteure) als auch die Aufgabe einer Differenzierung von Legitimität und Autorität auf der Grundlage der Spannung von Faktizität und Geltung. Solche Zusammenhänge lassen sich aber in einer institutionalistischen, ja selbst in einer formalpragmatischen Perspektive kaum erhellen. Selbst wenn sich die Analyse auf politische Institutionen beschränken könnte, so müsste doch deren Bestimmung, und damit auch das Funktionieren und der demokratische Charakter des politischen Komplexes im Ganzen, davon abhängig gemacht werden, welcher Sinn ihnen von den jeweiligen Akteuren bzw. von der jeweiligen Gesellschaft im lebensweltlichen Praxiszusammenhang beigelegt wird. Letztendlich sind ja die diversen Ordnungselemente selbst nicht einfach positivierte Gesetzestexte, Androhungen und Ausübungen von Zwangsgewalt (oder Versprechen und Gewähren von Unterstützungsleistungen) und Regelmäßigkeiten sozialen Handelns, sondern eben Normen, Sanktionen und Institutionen. Was jene zu diesen macht, ist weder ihnen selbst einfach abzulesen, noch handelt es sich um ein individual- oder sozialpsychologisches Surplus. Es findet sich vielmehr in den Strukturen der Lebenswelt einbeschrieben. Wie wir gesehen haben und noch weiter behandeln werden, entziehen diese sich in einer bestimmten, aber wesentlichen Hinsicht dem „kulturellen Wissen“ im engen Sinne (also als Menge propositionaler Aussagen), woraus sich für ihre Explikation ganz eigene methodische Probleme ergeben. Insofern also die Lebenswelt in ihrer politischen Dimension sowohl mittelbar (was den Sinn der handgreiflicheren Ordnungselemente angeht), als auch unmittelbar (was die „Ressourcen“ von Autorität und Solidarität angeht) für die Demokratietheorie relevant ist, ist diese nun aber in der vertrackten Lage, sich weder mit dem Hinweis auf die „Angewiesenheit auf eine entgegenkommende Lebenswelt“2 bescheiden, noch aber auch die pragmatische Analyse der demokratischen Institutionen analog auf die Strukturen der Lebenswelt ausweiten zu können. In diesem Teil der vorliegenden Arbeit soll zunächst die methodische Kniffligkeit dieser Lage vor allem anhand einer Behandlung im Anschluss an die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys verdeutlicht werden. Speziell bei Claude Lefort, der 1 2
Vgl. zu diesem Bestreben auch Göhler 1997. Vgl. z. B. Habermas 1994a, S. 434, 527.
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3 Claude Leforts Demokratietheorie und das Symbolische
in vielen Hinsichten als Schüler Merleau-Pontys gelten kann, findet sich nämlich ein Angebot der Erhellung jener Strukturen, das einerseits weiter reicht als die Habermas’schen Andeutungen, das es aber andererseits erzwingt, neben der Methode auch den Geltungsanspruch der Theorie einer Revision zu unterziehen. Hier sollen sowohl die inhaltlichen Beiträge Leforts zu einer Klärung der angesprochenen opaken Theorie-Elemente als auch die grundlegenden Motive seiner vergleichsweise unsystematischen Arbeit untersucht werden. Es wird nach einer Diskussion der methodischen Probleme und Leforts entsprechender Antwortstrategie insbesondere auf den Zusammenhang zwischen der symbolischen Dimension von Kommunikationen und dem Bereich des Politischen eingegangen, auf die spezielle Struktur eines gesellschaftlichen Verhältnisses zu sozialer und temporaler Alterität, das erst einen politischen Raum eröffnet – und auf die Reflexionen dieser Offenheit auch innerhalb jenes Raumes selbst. Obwohl Leforts Argumentation in diesem Punkt ohnehin bereits stark dazu tendiert, allein eine demokratische Politik als politische Praxis anzuerkennen, die dieser Struktur gesellschaftlicher Selbst- und Alteritätsverhältnisse entspricht, wäre eine Darstellung des Lefortschen Demokratieverständnisses reduziert, wenn sie nicht auch eine davon mehr oder weniger unabhängiges Qualität der Demokratie ins Spiel brächte. Die Rolle, die das Recht im Allgemeinen und die Menschenrechte im Besonderen für die Demokratie spielen, wird daher gesondert diskutiert. In diesem Durchgang wird also ein Demokratiebegriff aufgezeigt, der die Überlegungen zu einer revidierten kritischen Diskurstheorie der Demokratie nicht nur inspiriert, sondern bereits ein gutes Stück auf den Weg bringt. 3.1 METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN: DIE „ARBEIT DES WERKES“ Zunächst scheint es ja gar nicht abwegig, sich in der angezeigten Rekonstruktion von sprachlichen, aber immer implizit bleibenden Strukturen den expliziten sprachlichen Zusammenhängen zuzuwenden. Besonders vielversprechend dürfte es dabei natürlich sein, sich insbesondere mit Äußerungen zu befassen, die einerseits ihrer Struktur nach selbst einen gewissen internen Zusammenhang konstituieren (also z. B. mit theoretischen Texten), und die sich andererseits ihrem Gehalt oder Objekt nach direkt auf politische Verhältnisse beziehen. Auch Habermas setzt ja die Rekonstruktion der Genese der eigenen Lebenswelt an vergleichbarer Stelle ein.3 Das Bild verkompliziert sich jedoch drastisch, sobald man in Rechnung stellt, dass sich nicht nur die Autoren der jeweiligen Texte in eine politische Landschaft eingebettet finden, welche ihren Zugang zum „Objektbereich“ in ungewissem Maße präformiert, sondern dass sich auch der diese Texte interpretierende Forscher seinerseits kaum gänzlich von seinem eigenen Hintergrund freimachen kann, der ihn ja im Übrigen allererst zur Beschäftigung mit den Texten geführt hat. Für Claude Lefort ist deshalb eine distanzierte, im strikten Sinne „objektive“ Betrachtung weder der 3
Vgl. etwa seine Diskussion der Beiträge des linksrepublikanischen Paulskirchenparlamentariers Julius Fröbel, Habermas 1994b, S. 612ff.
3.1 Methodische Überlegungen: Die „Arbeit des Werkes“
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lebensweltlichen Strukturen noch des eigenen Standpunktes, noch auch eines Textes über lebensweltliche Strukturen möglich. Und auch die umgekehrte Annahme eines radikalen Historismus, der zudem ohnehin sowohl in seinem Determinismus als auch in seinem Relativismus unplausibel ist, impliziert letztlich dieselbe Vorstellung eines „savoir en surplomb“, das sich unabhängig von der eigenen Verortung konstituieren könnte. So macht Lefort es sich zur Aufgabe, der Dynamik nachzuspüren, die im Innern der Texte sowohl die Wirkung der präformierenden Kräfte als auch die Arbeit offenbart, durch die der Text sich zu jenen in Spannung bringt, und in dieser Spannung Einsichten hervorzuheben, die unter Umständen unser eigenes Verständnis von Politik schärfen und die über die Ausdrucksmöglichkeiten der Ausgangssituation hinausreichen können.4 Seit den frühesten Tagen seiner Kritik am Partei-Kommunismus besteht der größte Teil der Lefortschen Arbeiten daher nicht in der Formulierung einer Theorie politischer Verhältnisse, sondern in der Lektüre von Texten, die solche Verhältnisse theoretisieren, besprechen oder auch nur bezeugen sollen.5 In den Zeitraum jener allerersten Phase der Lefortschen Arbeiten fällt allerdings auch die Entwicklung der Merleau-Pontyschen Sprachtheorie, und so konnte er von Beginn an auf das theoretische Rüstzeug einer phänomenologischen Textarbeit zurückgreifen.6 Dennoch deutete Lefort erst anlässlich des Todes seines Mentors 1961 eine eigene Theorie der Interpretation an – und zwar als Theorie des Werkes (œuvre).7 Zu diesem Zeitpunkt 4
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Natürlich liegt damit ein Vergleich der Lefortschen Methode mit dem Ansatz der sogenannten Cambridge School nahe, und es ist zugleich bereits deutlich, dass bei vergleichbarem Interesse an den sprachlichen Ressourcen politiktheoretischer Werke Lefort diese Überlegungen nicht auf das jeweils verfügbare Vokabular und die Terminologie als kulturhistorisch variierende Ressource beschränkt, sondern in der mehr oder weniger disponiblen Dynamik eines Textes selbst eine Ressource sieht. Eine detaillierte Auseinandersetzung, die vielleicht auch die einschlägigen Überlegungen Kosellecks oder Ricœurs einbezöge, steht noch aus und kann auch im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Vgl. zur Cambridge School Pocock 1971, Pocock 1975, Skinner 2002 und Tully 1988. Vgl. auch Ricœur 1955, Ricœur 1983–1985 und Koselleck 1989. Für einen Überblick, der allerdings die französischen Beiträge gerade ausspart, vgl. auch Schorn-Schütte 2006. Vgl. etwa Lefort 1979c; Lefort 1979b (beide von 1948) und Lefort 1979e (1950). In der Reihe dieser Schriften ist die spätere monographische Arbeit zu Solschenizyns Archipel Gulag besonders hervorzuheben: Lefort 1976. Vgl. neueren Datums auch etwa Lefort 1992b, eine Würdigung von Rushdies Satanischen Versen und die Interpretation von Orwells 1984 in Lefort 1992c. Zu der Systematik des anderen wichtigen Teils seiner Arbeiten, nämlich der Kommentare politischer Ereignisse und zum Zusammenhang der beiden, s. u., S. 134. Lefort lernte Merleau-Ponty bereits als Schüler 1940/41 kennen und wurde sehr stark von ihm geprägt. Es ergab sich eine Zusammenarbeit, die sich von akademischer Forschung über die gemeinsame Tätigkeit in Zeitschriften wie den Temps modernes und persönlicher Freundschaft bis zur posthumen Herausgabe wichtiger Werke Merleau-Pontys durch Lefort erstreckte. (Vgl. etwa Lefort 2007d, S. 224f; Lefort 2007n, S. 865–867) Zu einem charakteristischen Umgang mit philosophischen Texten vgl. Merleau-Ponty 2007c; zu Merleau-Pontys Theorie der Sprache vgl. Merleau-Ponty 2007e; Merleau-Ponty 2007a und Merleau-Ponty 1984. Zum Zusammenhang dieser Texte vgl. schließlich wiederum Lefort 1984. Vgl. auch Niederberger 2007, Kap. IV.2 und M. C. Dillon 1997. Vgl. Lefort 1978g.
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3 Claude Leforts Demokratietheorie und das Symbolische
hatte er seine Beschäftigung mit Machiavelli bereits begonnen,8 die Anfang der siebziger Jahre schließlich in den Machiavel, sein opus magnus, mündete und in der er eine beispielhafte Auseinandersetzung auch mit jener allgemeinen Problematik vorlegen konnte.9 Neben den dortigen (umfangreichen) einschlägigen Passagen und weiteren Aufsätzen aus dem Umfeld10 ist es vor allem die genannte Untersuchung über Machiavelli als ganze, die Leforts Zugang zu Texten und durch diese zu den Hintergrundstrukturen von Äußerungen über Politik charakterisiert.11 Doch bevor das Problem des Werkes als Kern seiner „Methode“ diskutiert wird, soll kurz expliziert werden, in welcher Weise Lefort damit an das Merleau-Pontysche Programm der Post-Phänomenologie anschließt. 3.1.1 Phänomenologie und sprachliche Bedeutung Seit Husserl sieht die Phänomenologie ihre Aufgabe, wenn nicht gar die der Philosophie insgesamt, in der Erhellung unserer vor-theoretischen Erfahrung.12 Merleau-Pontys Aufnahme dieses Projekts, welcher sich Lefort seinerseits anschließt, besitzt als eine wesentliche Originalität den Ausgang von einem „Primat der Wahrnehmung“ – eine Figur, die neben der vorgängigen Verwobenheit des Wissenschaftlers mit seiner Umwelt auch deren sinnliche und ab initio sinnvolle Konkretion und die zugleich in gewissem Sinne lückenhafte Intelligibilität dieses Zusammenhangs und seiner Elemente zum Ausdruck bringt.13 Die Aufgabe und die Leistung der Philosophie bestehen demnach darin, die Erfahrung dieses Zusammenhangs in jeweils bestimmten Situationen in den Vordergrund zu bringen und zu erhellen, und für Merleau-Ponty (wie für Lefort) heißt das: sich weder auf die Deduktion oder (Re-) Konstruktion von Begriffs-Systemen und vermeintlich präzisen Aussagen zu versteifen, noch sich in mystischem Gemurmel zu verlieren, sondern in der vernünftigen und keineswegs sonderlich hintersinnigen Befragung von Erfahrungen hartnäckig zu bleiben. Schreibt Merleau-Ponty, das eigentlich Wesentliche der philosophischen 8 9 10 11
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1958 hatte er sein Forschungsprojekt Raymond Aron vorgelegt, der es bis zum Doktorat betreute, vgl. Lefort 2007o, S. 993. Lefort 1986b. Etwa Lefort 1978h. Die Bedeutung dieser Herangehensweise wird von ihm aber auch in aktuellen Texten immer wieder betont, am sinnfälligsten wohl 1992 mit Lefort 1992a. Es ist wohl auch kaum ein Zufall, dass dieser Band nicht nur das Schreiben im Titel trägt, sondern dass sich in der Taschenbuchausgabe der Satz „Die politische Philosophie unterhält ein besonderes Verhältnis zur Schrift.“ („La philosophie politique noue une liaison particulière avec l’écriture.“ – 1992f, S. 11) auf seiner hinteren und vorderen Umschlagseite abgedruckt findet. . . Zum Zusammenhang von Schrift und Ethik bzw. politischer Philosophie auch Wagner 2006. Vgl. Husserl 1992, § 72; Merleau-Ponty 2007f, S. 30f; Lefort 1992e, S. 350ff. Vgl. Merleau-Ponty 2003a und Merleau-Ponty 1966. Dieser Gedanke findet sich auch bis ins Spätwerk, etwa im Topos des Leibes (chair). Vgl. Lefort 1978f. Wem auch immer eine idealistische Konzeption transzendentaler Subjektivität zugeschrieben bzw. zum Vorwurf gemacht werden soll, für Merleau-Ponty kann man vielleicht von einem transzendentalen Charakter der Welt sprechen, die als „immer schon wahrgenommene“ die Abgrenzung zwischen (konstituierender) Subjektivität und (form- oder sinnloser) Objektivität unterläuft.
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Systeme sei ihre Funktion, eine bestimmte Weise auszudrücken, sich in der Welt zu situieren, sich zu ihr zu verhalten,14 so kommentiert Lefort, dass der Verlust des Glaubens an die Leistungsfähigkeit und Angemessenheit des Systemdenkens auch als Einsicht dessen zu verstehen ist, dass man „zur“ Welt eigentlich kein „Verhältnis“ haben kann, dass sie sich nicht am Anfangs- oder Endpunkt einer Relation verorten lässt.15 Wenn dem philosophischen Denken aber sowohl die Idee eines klaren und distinkten Objekts der eigenen Reflexion als auch die einer Begrifflichkeit, welche den Sinn eines solchen Objekts eindeutig und transparent ausdrücken könnte, abhanden gekommen ist, muss es sich der aus methodischen Gründen unabschließbaren Befragung partikularer Eindrücke verschreiben. (Diese Eindrücke sind selbstverständlich nicht lediglich in einem empiristischen Sinne zu verstehen. Es gilt vielmehr zum Beispiel den Zwang zu idealisierenden Unterstellungen ernst zu nehmen und nicht als bloß logische Implikation eines Systems von Begriffen zu registrieren, das der Theoretiker in der Art eines Beobachters unbeteiligt beschreibt. Der Verzicht auf die Vorstellung einer Eindeutigkeit und Objektivität von Ideen meint nicht die 14 „Man wird vielleicht fragen, was von der Philosophie übrig bleibt, wenn sie ihre Ansprüche auf das a priori, auf das System oder auf die Konstruktion verloren hat, wenn sie nicht mehr über die Erfahrung hinausreicht. Es bleibt ihr nahezu alles. Denn das System, die Erklärung, die Deduktion sind nie das Wesentliche gewesen. Diese Arrangements brachten eine Beziehung zum Sein, zu den Anderen, zur Welt zum Ausdruck – und verbargen sie zugleich. Entgegen dem Anschein war das System immer nur eine Sprache (und zwar eine reichlich hochgestochene), um eine cartesianische, spinozistische oder leibnizianische Art und Weise zu übersetzen, sich in Bezug auf das Sein einzustellen . . . “ (Merleau-Ponty 2007d, S. 230, Übersetzung verändert – A. W.) Vgl. auch Lefort 1978g, S. 13: „Wir wissen [. . .], dass sich der Sinn des Cogito nicht in der Funktion erschöpft, die es innerhalb eines Systems erfüllt. [. . .] Was ist es dann also an sich selbst, wenn nicht auf aktive Weise rätselhaft, ein Rätselsteller? Lehrt uns nicht die Praxis, dass die großen Begriffe der Philosophen – das Cogito, Gott, das transzendentale Bewusstsein, die Menschheitsgeschichte. . . oder auch die Dialektik, die Praxis, die Totalität – jeweils Fragen entbunden, der Befragung neue Wege geöffnet haben, dass ihr Verdienst nicht in der Reduktion des Unbekannten auf das Bekannte besteht? Er besteht darin, dass sie uns für den Sinn dessen öffnen, was sich dem Wissen gar nicht anbietet. Gewiss ist es ihr Verdienst, dem, was zuvor keinen Namen hatte, einen solchen zu geben; allerdings eher um anzusprechen denn um zu definieren und an den rechten Platz zu setzen. Das Cogito erlaubt es nicht, auf der Skala des Wissens dasjenige zu einzutragen, was vor den Formulierungen Descartes’ noch inkommensurabel war, sondern es entreißt dem Sein der Welt einen Teil seiner Inkommensurabilität, indem es der Reflexion ein unbestimmtes Feld eröffnet.“ 15 Vgl. ebd., S. 13–15. Merleau-Ponty lehnt aus diesem Motiv in der weiteren Entwicklung seiner Arbeiten die Heideggerschen Redeweisen vom Sein ab und zieht es vor, statt dessen von Erfahrung, von Wahrnehmung und schließlich vom „Leib“ zu sprechen. (Insgesamt ist MerleauPontys Verhältnis zur Philosophie Heideggers zwar kompliziert und umstritten, ihr Einfluss sollte allerdings letztlich auch nicht überschätzt werden. Dazu vgl. Robert 2005 sowie Saint-Aubert 2006. Zur Abgrenzung von Merleau-Pontys Theorie der indirekten Ontologie und der indirekten Sprache vgl. auch Lefort 2007p, S. 344f) In der vorliegenden Arbeit wird in der Regel von der „Welt“ die Rede sein – die Tatsache, dass in diesem Begriff der Beitrag des Menschen weniger betont wird als etwa in „Wahrnehmung“ und „Erfahrung“ ist insofern misslich, als doch auch mit „Welt“ immer eine wahrgenommene und erfahrene Welt, eine Welt „für“ einen Menschen gemeint ist – und in der derselbe Mensch (als Körper) zugleich so einbeschrieben ist, dass dabei von keinem äußerlichen Verhältnis ausgegangen werden kann und die Rede vom an-sich / für-sich in die Irre führt.
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Aufgabe der Vorstellung gehaltvoller ideeller Zusammenhänge; und der Verzicht auf die Annahme, ein solcher Zusammenhang ließe sich sprachlich erschöpfend abbilden, ausdrücken oder herstellen meint nicht die Aufgabe des Versuchs, ihn durch sprachliche Arbeit immer weiter zu erhellen.) Einerseits folgt aus dieser Perspektive die Anerkennung einer untilgbaren Ungewissheit darüber, ob jeweils mehr als Partikulares herausgearbeitet werden kann bzw. wurde. Zugleich erzwingt es diese Perspektive jedoch mehr denn je, die philosophische Tradition immer neu und immer weiter anzueignen, sie nicht auf den Status eines durchschrittenen Lernprozesses zu reduzieren, aus dem wir herausgetreten sind insofern die Gegenwart sich retrospektiv als seine Aufhebung präsentiert.16 Merleau-Ponty legt diesen Gedanken – dass die Welt oder das Sein nicht nur nicht als absolutes, „objektives“ gedacht, sondern überhaupt nicht „vor-gestellt“ werden kann – seinem Ansatz zugrunde, konkrete Erfahrungen (etwa Traum und Schlaf, Sehen und Sprechen, das Betrachten von Gemälden und das Lesen von Texten) zu befragen. Unsere Erfahrungen weisen nämlich, nimmt man sie in ihrem partikularen Gehalt ernst und schaut man nur genau hin, Undurchsichtigkeiten, Ambivalenzen und z. T. sogar Widersprüche auf, welche uns irritieren, uns in unserem Selbstverständnis als Beobachter zum Teil des Problems werden lassen und uns so aus der Illusion der objektivierenden Vogelperspektive herauszureißen vermögen. Genauer gesagt wird man feststellen, dass es oftmals gar nicht die Erfahrungen selbst sind, die undurchsichtig sind, ganz im Gegenteil: Sie sind uns an Punkten und in einem Maße vertraut und transparent, welche selbst kontraintuitiv sind. Will man im Anschluss an diese Irritation die Konstitution unseres Verständnisses untersuchen, so stößt man nur wieder auf immer schon Verstandenes, und die Konstitution muss immer weiter „in die Welt“ verlegt werden. Am Ende muss man anerkennen, dass unser Verständnis nicht mehr „in uns“ und doch auch nicht ohne uns entsteht. Erst in einem so erweiterten Problemhorizont, erst indem man sich dieser Irritation aussetzt und so die kritische Befragung weitertreibt, begibt man sich gleichsam auf die Spuren unserer Verortung und Orientierung in der Welt. Die Pointe dieses Moments liegt dabei weniger in einem angezielten Nonkognitivismus als in einer Betonung der Verortung und Orientierung auch der kognitiven Prozesse, insofern sich diese auf einer ursprünglichen Verwobenheit von Welt und Selbst, Sprache und 16 „Wenn auch das System niemals das Wesentliche war, so hat es doch immerhin eine gestochene Sprache generiert; durch seine Arrangements hat es den Bezug zum Sein nicht nur verstellt, sondern auch ausgedrückt. So bot es dem Denken eine sichere Deckung. Was wird aus der Philosophie, wenn ihr die Sprache des Systems fremd wird . . . ? Aber vielleicht ist es gar nicht das System als solches, das infrage steht. Was wird aus der Philosophie, wenn sie zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Bestimmung in der Befragung liegt? . . . Wenn das Sein nicht mehr einfach als Endpunkt oder Ursprung einer Bezugnahme begriffen werden kann, wenn die Idee des Bezuges selbst problematisch wird, dann versteht sich die Teilnahme am Unternehmen der philosophia perennis nicht mehr von selbst. Die Tradition, so erinnerten wir uns, ist das Vergessen der Ursprünge, aber derjenige, der dies sagt, gedenkt er nicht des Vergessens? Was tut er, wenn er das glückliche Einverständnis zerreißt, das jedem aufgrund eines selben Vergessens des Partikularen und eines selben Glaubens an das Absolute, die Türen der Philosophie öffnete?“ (Lefort 1978g, S. 14f)
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Denken erheben.17 So muss festgehalten werden, dass jedes Objekt als ein solches nur durch die Isolierung eines Aspekts, d. h. durch das Zurücktreten anderer Aspekte zur Erscheinung kommen und gedacht werden kann. Merleau-Ponty ist überzeugt, dass diese Isolierung keine Tätigkeit eines Subjekts oder Intellekts, sondern die des wahrnehmenden Körpers (in einem spezifischen, weiten Sinne) ist, und die Herausforderung für die philosophische Untersuchung besteht dann darin, im Ausgang von einem konstituierten Objekt die Ausblendung jener anderen Aspekte hervorzukehren. Dieses Unternehmen hat allerdings nicht den Sinn, ein vermeintlich vollständiges Bild dadurch zu erzeugen, dass einer Perspektive weitere hinzugefügt werden, sondern es soll die eine Perspektive in ihrem Erscheinen verdeutlichen, das Objekt darin, wie es uns entgegentritt – dadurch, dass gezeigt wird, wie es sich im oder als Zurücktreten anderer Möglichkeiten formiert.18 Dass die in dieser Forschung gewonnenen Einsichten ihren tastenden Charakter nicht ablegen können, liegt auf der Hand. So können wir über unser Sein in der Welt, über die sinnhaften Strukturen der Lebenswelt und unsere dynamische Verwicklung darin in der Tat nicht im Modus des Wissens oder der Gewissheit verfügen, sondern nur im Bemühen um Differenzierungen und neue Artikulationen in ambivalenten Konstellationen von Facetten unserer Erfahrung mit uns selbst und mit unserer Umwelt. Das jeweilige „Zentrum“ solcher Konstellationen ist uns nur im Entzug gegeben – dabei ist es aber kein abstraktes „Sein“, sondern jeweils ein spezifischer Ausschnitt der Welt bzw. unseres Seins in der Welt. Und diese Spezifizität ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit jeder weiteren Untersuchung, sondern gleichsam ihr einzig sinnvolles Material. Diese „indirekte Ontologie“, mit der sich die Untersuchung lebensweltlicher Strukturen vermitteln muss, nimmt in Merleau-Pontys Werk erst spät explizit Gestalt an.19 Andererseits verdoppelt und vertieft sie eine bereits früher angedeutete, letztlich aber nicht wirklich ausgeführte Theorie der „indirekten Sprache“:20 So wie aus der Menge unserer sinn-behafteten Gegenstände die Untersuchung zurück zur Konstitution einzelner Objekte führt, und wie sie dort einen Prozess rekonstruiert, in dem die Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Aktivität und Passivität nicht recht anwendbar scheint, der aber in seinem Verlauf, als Prozess, 17 Vgl. auch ebd., S. 26–28. 18 Hier wird deutlich, dass der phänomenologische „Zugriff“ auf die Lebenswelt als dynamisches Ensemble hervor- und zurücktretender Gestalten diese auch bei der weiteren Untersuchung und Erhellung in ihrer eigentümlichen Dimension ernst nimmt – anders als die Habermas’sche Umgehung des Problems unter Hinweis darauf, dass die Lebenswelt von uns selbst ja auch als Ressource kognitiver Prozesse behandelt wird. Die eigentümliche Dimension der Lebenswelt widerspricht der kognitiven Bearbeitung ja nicht, verstellt aber die Möglichkeit, sie als beliebig untergliederbare und analysierbare Sammlung objektiver Fakten und propositional strukturierter Sätze zu behandeln. 19 Vgl. Merleau-Ponty 1986; Merleau-Ponty 1996. Dazu vgl. Saint-Aubert 2006; Barbaras 1991; M. C. Dillon 1998. 20 Vgl. Merleau-Ponty 1984; Merleau-Ponty 2007a oder Merleau-Ponty 2007e. Die letzte noch vom Autor publizierte Version dieses Motivs findet sich wohl in Merleau-Ponty 2007f. Zum Verhältnis dieser „liegen gebliebenen“ Sprachtheorie zu den weiteren Arbeitsvorhaben Merleau-Pontys vgl. Lefort 1984.
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den Sinn dieser Objektwahrnehmung und der Subjektposition bestimmt, so führt für Merleau-Ponty die Frage nach der Verstehbarkeit unserer Sprache zurück zum Problem des einzelnen sprachlichen Ausdrucks. Dieser muss einerseits als Reaktion auf die Welt, genauer: als Antwort auf die Welt, in welcher dem Sprecher ein „zu Sagendes“ entgegentritt, verstanden werden, andererseits als Anrede an die Welt, an ein Gegenüber, als Ausdruck für jemanden. Darin liegt eine untilgbare Spannung zwischen einem Gegebenen und einem Neu-Anfangen, die im Grunde jede Ursprünglichkeit durchkreuzt und aufsplittert. Letztlich wirft sie auch auf die Rede vom „Rückgang auf die Konstitution“ ein problematisches Licht. Da dies später im Zusammenhang mit Leforts politischer Theorie ausführlicher behandelt wird, sei es hier nur kurz als im Problemhorizont befindlich angemeldet. In der Konstitution des dem Sprecher verfügbaren Zeichen- und Bedeutungs-Vorrats lässt sich eine scharfe Trennung zwischen ihm eigentümlichen Synthesen / Interpretationen / Intentionen und ihm anderweitig zukommenden Bedingungen und Ressourcen ebensowenig durchhalten wie in der Konstitution seiner Situationswahrnehmung. Damit ist auch die mit der Äußerung verbundene Intention nur in der – selbst nicht ausgesagten – mehr oder weniger großen Spannung zwischen solchen Bedingungen und dem aktuell Gesagten zu suchen, also gewissermaßen in dem speziellen Ungesagten des Gesagten. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Äußerungen, deren Verständnis auf etablierte Bedeutungszusammenhänge zurückzuführen ist und solchen, die einen solchen Zusammenhang allererst herstellen, zwischen „langage parlé“ und „langage parlant“,21 widmet sich Merleau-Ponty dem Problem des ästhetischen sprachlichen Ausdrucks im engeren, zweiten Sinne. Er präsentiert eine im Vergleich zu Habermas umgekehrte Zuordnung von „normalem“ und „parasitärem“ Sprachgebrauch, insofern er darauf hinweist, dass auch der alltägliche Sprachgebrauch in seiner Mobilisierung sedimentierter Zeichen- und Bedeutungsverwendungen von dem „langage parlant“ zehrt, dass es mithin zum Verständnis von Sprache überhaupt unumgänglich ist, diesen zu verstehen.22 Im Falle des „kreativen“ Sprachgebrauchs steht also im Moment des Ausdrucks der Menge an verfügbaren „verständlichen“ Sprach-Optionen eine relativ unbestimmte, gleichsam noch nicht „zu sich selbst“ gekommene Bedeutungs-Intention gegenüber. Deren angemessenste Bestimmung findet sich nun aber an keinem anderen Ort als im System der ohnehin verfügbaren Optionen – als eine bestimmte Lücke oder Leerstelle. Der Moment des sprachlichen Ausdrucks jener Intention ist dann die Artikulation eines Zusammenhangs konventioneller Zeichen, der diese Leerstelle möglichst präzise umschreibt, und der dabei die Intention doch nicht ganz ausdrücken kann. Erst auf der Grundlage dieses Moments kann sich eine neue Bedeutung konstituieren und ggf. mit einem mehr oder weniger umfangreichen und eindeutigen Zeichendispositiv verbinden.23 21 Vgl. etwa Merleau-Ponty 1984, S. 34. 22 Vgl. ebd., S. 38f. 23 So finden sich Sinn-Zusammenhänge zunächst umschrieben, verstetigen sich, können benannt und bezeichnet werden und erhalten dann mitunter sogar einen Eigennamen. Wenn sie in dieser Entwicklung eine stärkere Bestimmtheit zu erhalten scheinen, dann kann der Eindruck trügen oder nicht, die Bestimmung hängt aber mit der Wiederholung der Behandlung unter sich
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Im Ausdruck geht es vielmehr darum, die gesagten Dinge neu zu ordnen, sie mit einem neuen Krümmungsindex zu versehen, sie an ein bestimmtes Relief des Sinns anzuheften. Da gab es das Selbstredende und das Selbstverständliche [. . . ,] und da gibt es das, was zu sagen ist, was noch nicht mehr als eine ganz bestimmte Unruhe in der Welt der gesagten Dinge ist. Es gilt, dafür zu sorgen, dass beide sich überdecken oder überkreuzen.24
Die „Intention“ des Sprechers wird erst im Ausdruck bestimmt – und damit zugleich entäußert. Denn von einer sinnvollen Bedeutung ist erst zu reden, wenn sie als sprachlich vermittelte, gleichsam öffentlich vorliegt. Und damit ist sie nicht nur von der Verortung des Sprechers in der ohnehin intersubjektiv geteilten Welt, in der diesem etwas als ein „zu Sagendes“ begegnet, geprägt, sondern wesentlich von der sprachlichen Interaktion abhängig: Schon allein die grammatischen und terminologischen Ressourcen, die dem Sprecher zur Verfügung stehen, lassen sich ohne die Einbeziehung der weiteren Sprachgemeinschaft gar nicht denken, aber auch noch der Sinn der Äußerung liegt nicht in dieser selbst beschlossen, sondern hängt davon ab, wie sie sich – im weiteren intersubjektiven Kommunikationsprozess – in die Sprache einschreibt. Nicht unähnlich der Konstitution von Objekten in der Spannung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem und im Verweis auf die Intersubjektivität der Welt, deren Teil sie sind, muss der Sinn der Äußerung in der dynamischen Relation zwischen Gesagtem und Ungesagtem, und darüber hinaus, da er mit der ursprünglichen Intention des Sprechers nicht identisch ist, in derjenigen zwischen Anrede und Antwort, zwischen Institution und Fortschreibung gesucht werden.25 Damit gewinnt der lebensweltliche Hintergrund, verglichen etwa mit der Erklärung über Kommunikationseinschränkungen oder fehlendes Meta-Wissen, eine ganz eigene Form intersubjektiv konstituierter Entzogenheit. Die Ideen sind keine zweite Positivität mehr, keine zweite Welt, die ihre Reichtümer unter einer zweiten Sonne zur Schau stellen würde. Indem wir die Welt oder das „vertikale“ Sein wiederfinden, jenes Sein, das aufrecht vor meinem aufrechten Leib steht, und in ihm die anderen, erfahren wir eine Dimension, in der die Ideen ihre wahre Festigkeit erhalten. Sie sind die geheimen Achsen [. . .] unserer Äußerungen, die Zentren unserer Gravitation, dieser genau abgegrenzte Hohlraum, über dem das Gewölbe der Sprache konstruiert wird und der gegenwärtig nur im Gewicht und im Gegengewicht der Steine existiert.26
wandelnden Bedingungen überhaupt zusammen, nicht mit dem Fortschritt in der Identifikation. Es ließe sich an Sinn-Zusammenhänge wie den Orwellschen Überwachungsstaat oder die „friedliche Revolution“ in der DDR denken, oder an Begriffe wie „Perestroika“, „civil rights“ uvm. Lefort demonstriert es am „Machiavellismus“ (Vgl. Lefort 1986b, S. 71–151) und die These dieser Arbeit ist, dass die Demokratietheorie nicht umhin kann, sich – etwa wenn sie sich mit den Problemen von „Solidarität“, „Autorität“ u.ä. beschäftigt – für solche Prozesse und ihre „Rekonstruktion“ oder Interpretation zu öffnen. 24 Merleau-Ponty 2007f, S. 25, Übersetzung geändert – A. W. 25 Dieser Umgangs mit der Spannung zwischen semantischer und pragmatischer Dimension der Sprache weist gewisse Parallelen zum Habermas’schen auf, beleuchtet aber gleichsam seine semantische Rückseite. Vgl. oben, Kap. 2.2: Exkurs: Diskurstheorie und Intransparenz von Sprache und Schrift, S. 56ff. 26 Merleau-Ponty 2007f, S. 28, Übersetzung geändert, meine Hervorhebung – A. W.
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3.1.2 Interpretation und Befragung von Texten Auch vor diesem Hintergrund einer Theorie „indirekter Sprache“ entfaltet Claude Lefort jene oben angesprochene Vorstellung modernen philosophischen Denkens – dass die Philosophie eine Befragung partikularer Erfahrungen ist, in der sich der „Sinn der Welt“ jeweils partiell erschließt – zu einem Konzept von Philosophie als Befragung der Verwobenheit von Welt und Werk: Aus dem vorgestellten Verständnis philosophischer Erkenntnis folgt nämlich eine hohe Anforderung an den Umgang mit philosophischen Texten bzw. letztlich an die philosophische Lektüre von Texten jedweder Art. Einem in diesem Sinne philosophischen Bemühen wird weder gerecht, wer die genaue Formulierung der vorgelegten Thesen nicht ernst nimmt, noch aber auch, wer in ihnen bereits die Formel dessen zu lesen vermeint, was verhandelt wird.27 Obwohl dieser Gedanke bei Merleau-Ponty bereits früher entwickelt wurde und später dann eher in den terminologischen Rahmen des Chiasmus mündet,28 findet er sich bei Lefort zuerst im Zusammenhang mit einigen (Gramsci-kritischen) Überlegungen zum „Realismus“ Machiavellis.29 Dieser Realismus kann nämlich nicht als Unternehmen einer präzisen Darstellung des wirklichen Wesens der Dinge, der „veritá effetuale“ verstanden werden,30 wenn diese tatsächlich nur auf indirektem Wege intelligibel sind. Vielmehr kann Machiavelli auf exemplarische Weise verdeutlichen, wie sich der Sinn eines Erfahrungszusammenhangs nur beschreiben lässt, indem er umschrieben wird, indem die „Arbeit des Werkes“, eine Konstellation von Thesen und Gedanken zu durchmessen, gewürdigt wird. [Machiavellis] Originalität besteht nicht in bestimmten Propositionen, die sich als Unterstützung einer wesentlichen These erweisen, sie hängt an einem Vorgehen, das den Schriftsteller von einer Position an eine andere versetzt, das es ihm erlaubt, nach und nach diese und jene These zu skizzieren und sie als Thesen zu dementieren, in dieser Bewegung Anhaltspunkte festzuhalten, diese zu vervielfachen und, dank ihrer, einen Bereich von Phänomenen zu umreißen, dessen Einheit bislang noch nie wahrgenommen wurde.31
Lefort stellt diesen Gedanken unter dem Titel des Ungedachten (l’impensé) ins Zentrum eines Aufsatzes, der im Anschluss an Merleau-Ponty eine Art Theorie des 27 So gibt die Abfolge der Thesen, die Auswahl der Beispiele, der übertrieben betonte oder der überraschend ausbleibende Bezug auf dieses oder jenes andere Moment, die Doppelungen, Auslassungen, Lücken und Widersprüchlichkeiten, der Abbruch bestimmter Überlegungen, die Wiederaufnahme bestimmter Motive, all dies gibt einem philosophischen Text eine Dynamik und Bewegung, die nicht nur aussagekräftig, sondern gleichsam selbst Aussage sind. Eine Problematisierung in dieser Weise steht jedoch gewissermaßen quer zum Bemühen um das Verstehen dieser „Aussage“ als eines einfachen theoretischen Wissens im bereits diskutierten Sinne eines modal geäußerten propositionalen Gehalts. Denn der propositionale Gehalt könnte in diesem Falle nichts anderes als der Text im Ganzen sein, und der Modus, in dem dieser geäußert wird, ist in der Regel äußerst ungewiss oder mehrdeutig. 28 Vgl. etwa Merleau-Ponty 2000, S. 34–37; Merleau-Ponty 1986, S. 333f. Dazu Lefort 1978i und Lefort 1984. 29 Vgl. Lefort 1978k. 30 Machiavelli 1978, Kap. XV, S. 63. Vgl. Lefort 1992d. 31 Lefort 1978k, S. 314.
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Werkes umreißt, in der das Ungedachte und das Unsagbare, die Halb-Transzendenz der Sprache und die der Welt zusammengeführt werden: Das Ungedachte ist nicht dasjenige, was so innig besessen wird, dass es gar nicht vermittelt werden kann, es ist vielmehr das, was nicht besessen wird, dasjenige, dem sich der Autor zuwendet, was er aber nicht erreicht. Es ist nicht von anderer Art als das Denken, nicht einem anderen Vermögen, anderen Kräften zugänglich. Und doch ist es auch nicht das, was sich bloß jenseits dessen erstreckt, was bereits tatsächlich gedacht wurde. [. . .] Die Negation oder die Relation der Äußerlichkeit führen hier in die Irre. [Das Ungedachte] erhebt sich in der Bewegung des Denkens, es verdoppelt das Denken in seinem ganzen Umfang, es ist die unendliche Forderung, die jedes Ereignis des Denkens erhebt. [. . . M]an muss aufs genaueste das Profil des Werkes verfolgen, um in jedem Moment zu spüren, was zwischen den Gedanken ist, in ihrer Verbindung und in ihrer Verlängerung, um aufzudecken, was an sich selbst weder Form noch Namen hat – dem es jedoch zu verdanken ist, dass das, was ausgesprochen wird, einen Sinn hat – und was seiner Bestimmung harrt.32
So ist die philosophische Arbeit als Arbeit des Werkes und Arbeit am Werk eine Untersuchung, die über dessen manifesten Gehalt hinausgeht, und die ihm dabei gerecht wird, gerade insofern sie unser eigenes Fragen nach der Welt animiert. Die Intention des Autors hingegen ist schon ihm selbst so wenig verfügbar, dass er sie nicht unmittelbar aussagen kann; „an sich“ ist sie nichts als eine bestimmte Leere. Erst als artikulierte, erst durch die im Werk materialisierte Spannung verbindet sich die Intention mit einem Gehalt, aber als solche hat sie sich bereits vom Autor emanzipiert. Gewiss nimmt das Werk seinen Ausgang von der Erfahrung eines Zu-Sagenden in der Welt durch den Autor und dadurch, dass der Autor dieser Erfahrung mit den Formulierungen des Werkes zu begegnen, durch diese auf sie zu antworten sucht. Diese Erfahrung des Autors, welche seine expliziten Thesen und sein „Wissen“ nicht nur trägt, sondern umfängt und übersteigt, findet sich so in die einzigartige Sprache des Werks einbeschrieben33 – in eine Sprache, über deren definitive Bedeutung der Autor zu keinem Zeitpunkt verfügen kann.34 Dem Leser aber tritt das Werk schließlich in seiner eigenen Welt entgegen, und für ihn erhält es seine volle Bedeutung erst, indem er sich durch es (und durch die auf es bezogenen weiteren Elemente seiner Welt, z. B. durch den Diskurs der Kritik) auf etwas orientieren lässt, was außerhalb der Formulierungen, in gewissem Sinne außerhalb der Welt des Autors liegt. Die Artikulationen des Werkes und seiner Kritik selbst sind für den Leser als Gestalt zu verstehen, die sich in seiner Welt im Zuge der Beschäftigung mit dem Werk zunehmend klärt, d. h. die ihren Sinn im Zusammentreten, in der Figuration bestimmter Momente und im Zurücktreten, im Entzug anderer Momente gewinnt. In der Bedeutung, die das Werk so annimmt, lässt sich kaum noch sinnvoll unterscheiden, was der Welt des Lesers, was der des Werkes angehört, was auf den Autor und was auf den Leser zurückgeht. Je weiter der Leser sich ans Werk annähert, umso mehr gibt es zu bedenken, umso weniger behält er die Fähigkeit, die Gabe zu beurteilen und das, was dem Sein zugehört von dem zu 32 Lefort 1978g, S. 15f Vgl. auch Merleau-Ponty 2007b, S. 234. 33 Vgl. Lefort 1986b, S. 314. 34 Vgl. Lefort 2007j, S. 684.
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unterscheiden, was dem Geber eigentümlich ist. [. . .] Nur in dem Moment, in dem er als Antwort auf den Appell des Werkes seinerseits das Wort übernimmt, ist die Gabe spürbar, nur in diesem Moment existiert für ihn das Werk als solches. Ohne die Grenzen des Werkes verlassen zu müssen, ohne scheinbar etwas anderes gemacht zu haben als dessen Gedanken zu folgen, findet er sich so anderswo hin getragen. Der Raum des Werkes hat sich geöffnet. Was im Werk ist, ist auch außerhalb seiner, und es kommt aufs selbe hinaus, zu sagen, dass sich die Welt in ihm befragen lässt, und dass es den Leser mit dem Problem der Welt konfrontiert.35
Wir erfahren einen Teil unserer Welt als den vom Autor thematisierten Teil, und diesen erforschen wir in der Befragung des Werks, sowie die dem Autor und zugleich die uns selbst eigene Weise, ihn zu thematisieren. Dabei eröffnet die Vielschichtigkeit des Werkes in gewisser Weise als solche einen Zugang zu unserer Welt und zu unserer Einschreibung darin, denn sie erlaubt es nicht, das Eigentümliche der verschiedenen Momente – den Gegenstand des Werkes, die Thesen und die Behandlung des Gegenstands durch den Autor, andere, uns ggf. näher liegende Weisen, diesen Gegenstand zu behandeln – voneinander zu isolieren. So sind z. B. unsere eigenen Thesen zum Gegenstand sowohl Bedingungen unseres Verständnisses der Thesen des Autors als auch als Reaktionen auf jene. Als Werk wird der uns in dieser Erforschung leitende und begleitende Text genau insofern bezeichnet, als er uns in jedem dieser Momente dessen Entzug und die Gegenwart der anderen Momente zu denken aufgibt.36 Dies nämlich geschieht nicht, indem es durch eine treffende Formulierung explizit gemacht wird, sondern in der Veränderung unseres Verhältnisses zu den Begriffen im Verlauf der Lektüre, durch die „Arbeit des Textes“, der Äußerungen aufstellt, um sie umzukehren oder sie im Kontakt mit anderen aufzureiben, ohne dass sie dadurch falsch würden.37 Vor dem Hintergrund dieser Konzeption von dynamischen Momenten eines nicht definitiv feststell- und abschließbaren Textes, der 35 Lefort 1978g, S. 17. 36 Vgl. Lefort 1978h, S. 245–250. In diesem Sinne lassen sich im Übrigen keine klaren Grenzen des Werkes bzw. des Textes ausmachen. Texte, die den „Ursprungstext“ rezipieren oder kritisieren, sind ebenso Teil des „Werkes“ wie andere Elemente der Diskurse unserer Welt. Vgl. ebd., S. 238–240; Lefort 1986b, S. 21–31. 37 „Mit anderen Worten: das Werk des Denkens erscheint zunächst als Werk des Denkens von etwas; wir werden zu diesem etwas hingeführt; und wir sind versucht, es zu betrachten, um zu erkennen, was uns darüber gesagt wird. Dann sind wir versucht, uns dieses Gesagten zu versichern, seine Kohärenz zu überprüfen, die Begriffe, die es beherrschen zu produzieren und zu ordnen; und dann sind wir an das Denken gewandt; wir denken das Denken im Werk des Denkens und nicht mehr dieses etwas, das das Denken denkt. [. . . S]ind wir mit diesem Modell [. . .] unserer Lektüreerfahrung treu? Um das zu entscheiden, muss unser Schema erneut untersucht und anerkannt werden, dass die nachgezeichnete Bewegung in Wirklichkeit unteilbar ist und dass wir kein Moment festhalten können, das nicht zugleich Bedingung und Folge aller anderen wäre. Tatsächlich reicht es nicht aus, zu sagen, dass die Discorsi sich auf mehreren Ebenen zugleich entfalten, dass ihre Stärke darin liegt, dass sie uns zwingen, von der einen zur nächsten zu wechseln. Das Wesentliche ist, dass sie uns jeden Halt an einem bestimmten Ort unmöglich machen, oder jede Verankerung in einer Vorstellung. Diese Unmöglichkeit gilt es zu ermessen – denn in ihrer Erfahrung spricht sich die Gegenwart des Werkes aus. [. . .] Die Macht, Rom in einer Vorstellung einzuschließen, wird uns entzogen. Nun wird aber eine solche Veränderung niemals benannt, sie kann nicht benannt werden, sie ist kein Gegenstand des Diskurses, sondern der Diskurs selbst. Sie gibt sich in der Bewegung des Ausdrucks, die bestimmte Äußerungen aufstellt, sie verschiebt, umkehrt, im Kontakt mit anderen abschleift, die unseren Glauben mobilisiert, um
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auf vielschichtige Weise mit unserer Welt verwoben ist, ergibt sich eine besondere Problematik der Interpretation, der Lefort schließlich in seinem Le travail de l’œuvre Machiavel eine ausführliche Besprechung widmet. Die Interpretation geht nämlich fehl, wenn sie – vermeintlich ermächtigt etwa durch die größere Kenntnis historischer Zusammenhänge, durch größere Distanz und psychologische oder psychoanalytische Beschreibungsmethoden usw. – das Werk auf eine bestimmte Anzahl positiver und explizierbarer Thesen festzulegen bestrebt ist.38 Wenn es sich aber tatsächlich um ein Werk im genannten Sinne handelt – und das zu erproben ist eine der zentralen Aufgaben der Interpretation –, funktioniert die Profilierung solcher Thesen und die Konstruktion eines kohärenten Zusammenhangs zwischen ihnen nur unter Ausblendung von Mehrdeutigkeiten und Zweifeln hinsichtlich der Funktion dieser Thesen im Text oder in der Unterbelichtung anderer Thesen. Jener positivistischen Tendenz der Interpretation gegenüber böte es sich dann an, das Ziel der interpretativen Tätigkeit und der philosophischen Lektüre in Analogie zur oben beschriebenen Untersuchung der Konstitution von (Objekt-)Wahrnehmung im Zurücktreten des Unsichtbaren zu verstehen. Die anti-objektivistische Lektion der Phänomenologie, derzufolge dieser Ansatz nun nicht zu einer Erkenntnis des Objekts „an sich“ in der Aneinanderreihung verschiedener möglicher Perspektiven oder Interpretationen befähigt, sondern zu einer Explikation des jeweiligen Hervor- und Zurücktretens selbst Anlass gibt, erfährt hier jedoch eine dramatische Zuspitzung. Denn was uns in den diversen Interpretationen entgegentritt, ist eben nicht „das Werk selbst“ unter jeweils einer bestimmten Hinsicht, sondern die Aushandlung von Verhältnissen im Inneren des Werkes durch den Interpreten, die sich selbst zugleich als Aushandlung eines jeweils spezifischen Verhältnisses zwischen Werk und Interpreten (sowie als Konstruktion eines beide gleichermaßen betreffenden Gegenstandes) verstehen lassen muss.39 So ihn dann zu enttäuschen und unsere Befragung zu vertiefen. Sobald wir uns dieser Bewegung überlassen, [. . .] finden wir uns im Diskurs inbegriffen, werden wir uns unserer Position als Leser gewahr oder fühlen uns angesprochen.“ (Lefort 1978h, S. 249–252) 38 Vgl. Lefort 1986b, S. 40f: Der Interpret „entzieht sich der Erfahrung des Werkes, wenn er dem Prinzip der Objektivität nacheifert. An der Wurzel seiner Intoleranz liegt die starrsinnige Weigerung, die Sprache des Anderen jenseits der Beschränkungen zu vernehmen, welche es erlauben, seinen Diskurs in den Grenzen der Gewissheit einzufrieden. [. . .] Es handelt sich immer darum, das Werk einer Vorstellung zu unterwerfen, es einem Bereich der Realität zuzuweisen, in dem seinen Bedeutungen exakt Rechnung getragen werden könnte. [. . . D]ie Schlussfolgerungen werden ausgehend von derselben Arbeit der Objektivierung hervorgebracht, setzen denselben Willen voraus, die Verbindungen aufzulösen, welche die Lektüre in dem Moment hat entstehen lassen, in dem sich das Befragte und der Fragende nicht mehr unterschieden, dieselbe Überzeugung, dass durch das Geschriebene oder in ihm etwas bedeutet würde, das man etikettieren und einer positiven Instanz zurechnen könnte [. . .] Was ist dann also das Werk, das den Vereinnahmungen seiner Interpreten entwischt und so zur Wiederholung des kritischen Diskurses anhält, indem es sich jedes Mal der Vorstellung entzieht, in der man es einschließen will?“ In diesem Sinne setzt sich Lefort mitunter von einer Bezeichnung seiner eigenen Beschäftigung mit den Texten als „Interpretation“ ab und zieht häufig andere Begriffe wie etwa „Lektüre“ oder „Befragung“ (interrogation) vor. 39 „[Zumindest gibt es] eine Aufgabe, die sich in je neuen Termen immer wieder neu stellt, zum Beispiel in der Teilung der Klassen, in der Teilung zwischen Macht und Gesetz, zwischen Staat und Zivilgesellschaft, zwischen Realem und Imaginärem. Zwar kann man damit nicht so
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hebt jede Interpretation auf bestimmte Unbestimmtheiten des Werkes ab, und die Diversität der Interpretationen spannt geradezu einen Raum der Unbestimmtheit des Werkes auf. Zugleich aber ergibt sich in dieser Unbestimmtheit ein vielschichtiger Bezug auf einen bestimmten Ausschnitt der Welt, und das Werk als solches ist der Aufweis, dass unsere Thesen und Überzeugungen hinsichtlich dieses Ausschnitts eine gewisse Berechtigung haben und doch zugleich jeweils etwas ausblenden und nicht ganz angemessen sind. Man kann nicht sagen, dass die anderen [Interpreten] uns Ansichten des Werkes geben, noch weniger aber, dass sie es verbergen. Was sie uns jedesmal liefern ist eine gewisse Abwesenheit, der Umriss einer gewissen Lücke. Das ist gewiss etwas ganz anderes als das, was sie vor uns zu bringen vorgeben: das Werk so wie es ist, das Werk in seiner Fülle. Aber es ist nicht nichts. Der Raum, der sich vor uns öffnet, ist kein beliebiger, sondern der Raum, der dem Werk eigen ist, und der ihm durch die Interpretation zugeeignet wird. [. . .] Aus demselben Grunde kann man auch weder sagen, dass sich, wenn wir von einem Interpreten zum nächsten übergehen, deren Ansichten miteinander verketteten, um schließlich die ideale Wahrnehmung des Werkes zu ergeben, noch, dass sie sich dann wenigstens neutralisieren. Die Metapher der Sicht ist irreführend, es sind keine Ansichten, die uns angeboten werden, denn das Werk ist nicht das Analogon einer Sache, das dem geistigen Auge vorgelegt würde. Wir haben nicht zwischen Perspektive oder Illusion zu wählen. Die Wahrheit, die wir aus dieser Erfahrung ziehen, ist von einer anderen Art: Auf eine gewisse Unbestimmtheit folgt eine andere Unbestimmheit. Entgegen dem, was man erwarten könnte, hat die Sichtung der wissenschaftlichen Kritik nicht den Effekt, die Bestimmungen des Werkes zu vervielfachen, vielmehr steigert sie seine Unbestimmtheit. Diese Unbestimmtheit taucht aber das Werk nicht ins Dunkel, sie entreißt uns nicht jeden Halt; im Gegenteil, je mehr sie sich steigert, umso mehr bestimmt sie sich selbst. Während die Antworten zerbröckeln, formieren sich Fragen, verknüpfen sich untereinander und bereiten der Befragung, nach der das Werk ruft, ihre Bahn.40
3.1.3 Die Arbeit der Gesellschaftstheorie Kommen wir aber noch einmal auf die Ausgangsproblematik unserer Demokratietheorie zurück, die darin bestand, dass lebensweltliche Zusammenhänge strukturell – und nicht bloß aus „äußerlichen“ Gründen wie tabuisierten Kommunikationseinschränkungen – nicht erschöpfend theoretisch expliziert werden können, und dass ausgerechnet ihr sich entziehender Aspekt in prägender Weise in die explikationsbedürftige Politik hineinreicht. Die speziellen Probleme etwa von Autorität und Solidarität sind manifeste Ausdrücke dessen. Auf der Suche nach Möglichkeiten, die Untersuchung dieser Zusammenhänge weiter zu treiben, konnte in der Phänomenologie und schließlich in der Lefortschen „Methode“ der Befragung ein plausibler umgehen, als ob sich in jedem Falle jenseits der beobachteten Variationen ein Wesen durchhielte, als ob es gar schließlich, aus all diesen Wesenheiten zusammengesetzt, ein Wesen der Politik gäbe. Wenn man dieses zu erfassen glaubte, umfinge man doch nur ein Phantom; man würde Allgemeinheiten äußern, die weder wahr noch falsch wären, weil sie sich auf jede Situation anwenden ließen aber keine im Besonderen zu bedenken gäben. Und doch ist es nicht möglich, Phänomene für einander ganz fremd zu halten, die sich wechselseitig erhellen und die sich, gerade weil sie einander nah sind und sich doch nicht decken, in einem symbolischen Feld anordnen, sich wechselseitig als einander bedeutende und voneinander bedeutete instituieren.“ (Lefort 1986b, S. 64f) 40 Ebd., S. 42f.
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Ansatz aufgewiesen werden. Zum bisherigen Stand der Diskussion stellt dieser sich im Allgemeinen als eine plausible, wenn auch komplizierte Zugangsweise zu Texten dar, die die symbolischen und lebensweltlichen Hintergründe sowohl des Autors als auch des Forschers zwar nicht zu bestimmen erlaubt, sie aber einer Untersuchung erschließt, welche bei aller Unbestimmtheit und Unabgeschlossenheit gleichwohl eine klärende Dimension besitzt. Sollte sich die Untersuchung im Besonderen mit der Konstruktion eines Begriffs befassen, der in den Rahmen politischer Theorie fällt (etwa „Staat“, „Menschenrechte“, „Autorität“, „Nation“ usw.), so müsste dieser Ansatz es immerhin erlauben, die Einbettung jener Begriffskonstruktion in ihre lebensweltlichen Zusammenhänge zu denken, sie mit anderen Konstruktionen bzw. anderen lebensweltlichen Kontexten zu vergleichen und eventuell sogar dahinter stehende Ideen aufzuspüren – im oben besprochenen Sinne der „heimlichen Achsen“, die unsere letztlich indirekt bleibende Sprache und unser explizites Wissen organisieren.41 Dies ist gleichsam die ambitionierte und umfassende, aber, gemessen an unserer Ausgangsfrage auch übermäßig abstrakte Ausrichtung der Lefortschen politischen Philosophie, so wie sie sich aus der Tradition der Merleau-Pontyschen Phänomenologie und ihrem Verständnis des In-der-Welt-Seins ergibt. Jedoch lässt sich diese Untersuchung auch anders fortführen: Erstens ist dem Theorierahmen, in dem sich die Diskussion bewegt, ein speziellerer Zuschnitt durchaus angemessen. Die vorliegende Untersuchung zielt ja nicht generell auf eine post-phänomenologische Philosophie, sondern auf eine post-phänomenologisch informierte Theorie der Demokratie, die sich zudem auch einer diskurstheoretischen Aufstellung verpflichtet weiß. Und zweitens waren es ja ganz spezielle Themen, bei denen die Diskurstheorie mit den genannten Problemen konfrontiert war. Anstatt von der Seite der Möglichkeit einer Erkenntnis der Lebenswelt im Allgemeinen her zu fragen, ist es deshalb vielleicht zielführender, der Art und Weise genauer nachzuspüren, in denen sich diese Probleme im Besonderen stellen und im Einzelnen behandelt werden können. Daher sollen sich diese methodologischen Überlegungen nun dem Standpunkt einer Theorie widmen, die sich von dem besonderen Interesse der Untersuchung politischer, insbesondere demokratischer Verhältnisse inspiriert weiß. Im nächsten Abschnitt erfolgt dann schließlich der Übergang zu den spezielleren Untersuchungen, die als Analysen konkreter Phänomene und partikularer Zusammenhänge eine Antwort auf diejenigen Fragen bieten sollen, die sich in der Kritik der Diskurstheorie ergeben hatten. Zur Erinnerung: Nicht, dass es Habermas schlicht versäumt hätte, die für seine Demokratietheorie unverzichtbaren Ideen von Solidarität und Autorität, die Prozesse der performativen Konstitution von (hinreichender) Eindeutigkeit in einem weiteren Schritt der pragmatischen Analyse von Sprechakttypen auszuleuchten; die Methode der formalpragmatischen Analyse kann vielmehr zur Integration dieser Ideen in die Kommunikationstheorie ohne weitreichende Änderungen gar nichts beitragen, da an ihnen der diffuse Charakter des lebensweltlichen Hintergrundes nicht tilgbar ist – was im Scheitern der diversen Bemühungen um eine Rechtfertigung der apriorischen 41 S. o. S. 97.
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Annahme von Eindeutigkeit und Offenkundigkeit, so etwa in den verkürzt wirkenden Diskussionen von Durkheim und Arendt zum Ausdruck kommt. An diesen wird auf exemplarische Weise deutlich, dass jene Analyse deshalb nicht einfachhin auf die ungreifbaren Strukturen der Lebenswelt ausgeweitet werden kann, weil in diesen die (analytisch immer mögliche) Isolierung eindeutiger Geltungsansprüche faktisch nicht vorkommt.42 Dies ist die methodologische Pointe der Kritik an der Vorstellung, dass allein durch ihre sprachliche Struktur die Lebenswelt als Menge von modal geäußerten propositionalen Gehalten verstanden werden könnte, die sich allein dadurch verkompliziert, dass nicht alle jene Propositionen zugleich thematisiert werden können oder dass ihre Thematisierung einem Tabu unterliegt. Vielmehr muss in Rechnung gestellt werden, dass sich die fraglichen Konzepte in ein Feld von Begriffen und Ideen einschreiben, das neben den handlungsrelevanten Idealisierungen der Akteure prinzipiell unüberschaubare „Neben-“wirkungen umfasst. Und selbst wenn die Akteure sich auf Elemente jenes Feldes auch als Ressourcen kognitiver Prozesse und einfacher propositionaler Äußerungen beziehen, so erhalten diese ihren Sinn und ihre Wirksamkeit doch erst im Rahmen einer Erfahrung, die über jene Prozesse und Äußerungen hinausreicht, und die jenes Feld im Ganzen – oder zumindest in unüberschaubarem Ausmaß – einbezieht.43 Durchaus im Zusammenhang mit dem vorgenannten Motiv stellt sich allerdings für die politische oder für die Sozialtheorie nicht nur das Problem der Unschärfe der zu untersuchenden Gegenstände, sondern auch das des Zugriffs auf ihren Objektbereich überhaupt. Das Verhältnis zwischen Theorie und Sozialem oder Politischem ist sogar in zwei „Richtungen“ kompliziert: Einerseits ist ja die Thematisierung des Sozialen – und insbesondere der Politik – im theoretischen Diskurs eine der klassischen Reproduktionsweisen dieser Bereiche gesellschaftlicher Ordnung, d. h. die Theorie hat Teil an deren jeweiliger Konstitution und sie betreibt (wenn auch natürlich nicht sie alleine und nicht in einer direkten Weise) ihren historischen Wandel. So ist kaum davon auszugehen, dass die Theorie ihre Gegenstände bloß „passiv“ registrieren, als von ihrer eigenen Tätigkeit unabhängige und an sich gegebene Objekte erfassen könnte. Ihre Rekonstruktionen sind eben auch Konstruktionen und schreiben sich ihrerseits in das Feld des Sozialen ein bzw. dieses fort.44 Zugleich gilt es anderer42 Selbst wo ein expliziter Diskurs faktisch solche Zuspitzungen vornähme, würde er sich über seine eigene Performanz als Diskurs täuschen, wenn er seinen „propositionalen Gehalt“, in dem diese Isolierung vorliegen mag, mit seiner eigenen Geltung als Diskurs insgesamt identifizierte. 43 Vgl. die Ausführungen zur indirekten Sprache oben, S. 95. Vgl. auch die Problematisierung der Vorstellung etwa von „Kräfteverhältnissen“ in Lefort 1986b, S. 702f:„Die Klassenverhältnisse sind gewiss Kräfteverhältnisse, aber diese umfassen die Vorstellung, die sich jeder von der Kraft des anderen macht. Sie werden insbesondere von den Illusionen genährt, die die Beherrschten über die Macht pflegen, über die Stärken der vorangegangenen Regime, über die Fähigkeit und die Erfahrung derjenigen, die in der Gesellschaft den ersten Rang einnehmen. [. . .] Was zur Disposition steht, ist dieser Zusammenhang von Überzeugungen, welche die Verhältnisse stützen, die der Mensch mit dem Gesetz und mit der Autorität unterhält, mit der Vergangenheit und der Zukunft, mit den weltlichen Dingen und dem Tod; Überzeugungen, die für ihn das Erlaubte vom Verbotenen trennen, das Mögliche vom Unmöglichen und das Gute vom Schlechten.“ 44 Unter anderem ergeben sich daraus Auflagen an die Artikulation der Theorie im wörtlichen
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seits, gleichsam „auf der Subjektseite“ festzuhalten, dass keine noch so angestrengte Reflexion es der Theorie ermöglichen kann, sich über diejenigen – politisch niemals neutralen – Interpretationen, die ihrem eigenen Begriffsinventar implizit sind, in einem Maße Klarheit zu verschaffen, welches ihren Standpunkt als auch nur im Nachhinein autonom und transparent, mit sich selbst identisch zu Grunde zu legen erlauben würde. Die Antwort [auf das Problem, um die politischen Phänomene, Ereignisse und Prozesse zu wissen – A. W.,] kann nicht mehr auf der Ebene der strictu sensu militärischen, politischen oder religiösen Phänomene gesucht werden, obwohl diese verfolgt und untersucht werden müssen. Sie entziffert sich in der Lektüre der Geschichte, wo am Verlauf der Ereignisse die Entscheidungen der Akteure – Individuen und Klassen – durchscheinen, die stille Logik, die sie verkettet: Entscheidungen, die nie ganz den Individuen zurechenbar sind, da diese nur darüber entscheiden, was ihre Situation ihnen zu erkennen gibt oder zu tun ermöglicht; Entscheidungen, die für die sozialen Klassen implizit bleiben, weil sie zumeist in der Praxis wirken, ohne in eine Repräsentation einzugehen – in denen sich aber diese oder jene einzigartige Verarbeitung der allgemeinen Gegebenheiten des sozialen Lebens zu erkennen gibt, diese oder jene anonyme Intention, die die Zufälle regiert.45
Da Lefort vor diesem Hintergrund die systematisch unsystematische Arbeitsweise Machiavellis (der nur einem oberflächlichen Blick ein streng geordnetes Vorgehen präsentiert)46 nicht nur herausarbeitet, sondern geradezu zum Ideal politischen Theoretisierens erklärt, soll nun deren besondere Qualität untersucht werden. Diese Überlegung kann ihren Ausgang von dem bei Machiavelli prominenten Zusammenhang zwischen der Bestimmung des Standorts des Theoretikers und seinem Wissen über die Gesellschaft nehmen. Jeder Diskurs über die Gesellschaft unterstellt nämlich einen Standort des Sprechers, von dem aus ein Blick auf sie möglich ist, und der insofern von dieser in irgendeinem erläuterungsbedürftigen Sinne distanziert, ihr äußerlich ist. Zugleich tritt ein solcher Diskurs jedoch praktisch natürlich innerhalb der Gesellschaft auf und muss, da er die Gesellschaft und letztlich auch seine eigene Rolle in ihr zum Thema hat, das Problem bearbeiten, diesen speziellen Ort des Sprechers eines Diskurses über die Gesellschaft – innerhalb und / oder außerhalb – zu klären.47 Machiavelli gilt nun Lefort (und nicht nur ihm) als derjenige, der als erster nachhaltig und wirkmächtig von der Annahme einer tatsächlichen Exteriorität jenes Punktes von Einsicht und Erkenntnis Abstand genommen hat und die Immanenz des Erkenntnispotenzials und -prozesses zu erklären sucht. In diesem Sinne hebt Sinne – sie wird geradezu zwangsläufig versuchen, ihre eigene Rezeption zu antizipieren, bestimmte Adressaten anzusprechen und zu überzeugen, die Aneignung durch bestimmte andere abzuwehren usw. Vgl. Lefort 1992f; Lefort 2007j. 45 Lefort 1986b, S. 704. 46 Vgl. z. B. ebd., S. 325–327. 47 Vgl. Lefort 1978b, S. 499f. (Und dies gilt natürlich umso mehr, wenn dieser Diskurs sich wie derjenige Machiavellis eigens der Frage der symbolischen Repräsentation der Gesellschaft widmet.) In diesem Zusammenhang meint „Ort“ übrigens lediglich die Zuschreibung von Erkenntnis- und Handlungskompetenz an eine Person oder einen sozialen Zusammenhang, und deren besondere Relation, etwa der Unabhängigkeit oder umgekehrt der Teilhabe, zu allen anderen Personen und sozialen Zusammenhängen.
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mit ihm der moderne Diskurs über das Soziale an. Sobald dieser die Institution der Gesellschaft nicht mehr als der Reichweite der gemeinschaftlichen Praxis entzogen präsentiert, eröffnen sich zugleich das Problem der Legitimierung der bestehenden Gesellschaft und das subtilere Problem, dass, obwohl eine Trennung der diskursiven bzw. symbolischen Dimension der gesellschaftlichen Praxis einerseits und des Diskurses über die Gesellschaft andererseits nicht mehr akzeptabel ist, sich diese beiden doch auch nicht zur Deckung bringen lassen. Im Diskurs über das Soziale spielt sich – bei allem Gespräch über Vergangenheit und Zukunft, Innen und Außen – nicht dessen tatsächliches „Funktionieren“ ab, sondern es werden Repräsentationen der realen Integration artikuliert, während diese symbolisch strukturiert und in ihrer Gänze uneinholbar ist.48 In bestimmtem Sinne setzt so mit Machiavelli die moderne Problematik der Ideologie ein:49 Seit mit Machiavelli die Warte der Erkenntnis von Gesellschaft offen und explizit in diese selbst eingezogen ist, steht jeder Anspruch auf adäquate, gar wissenschaftliche Abbildung des realen gesellschaftlichen Diskurses, insbesondere jede Legitimierung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse unter dem Vorbehalt der möglichen Voreingenommenheit oder zumindest der möglichen partikularistischen Kurzsichtigkeit. Sollen solche Ansprüche aufrechterhalten werden, reicht ihre Umstellung auf eine fallibilistische Einstellung nicht aus, da sie dem „politischen“ Charakter der Vorbehalte gar nicht begegnet. Grundsätzlich ist aber vor dem Hintergrund einer phänomenologischen Theorie wie der hier angerissenen die Annahme einer Realität jener gesellschaftlichen Diskurse insofern irreführend, als sie unterstellt, es gäbe eine objektivierbare Ebene dieser Diskurse, während sie doch nicht nur ein dynamisches, unabschließbares Netz von Bedeutungen darstellen, sondern es darüber hinaus einen prinzipiellen Überschuss der Zeichen über ihre in diesem Netz jeweils aktuell eingerichteten Bedeutungen gibt.50 Versuche, die „Realität“ der gesellschaftlichen Diskurse wiederzugeben, sind also nicht nur in ihren einzelnen Thesen fallibel, sondern vermitteln ein ganz falsches Bild vom Charakter dieser Diskurse und vom Charakter des gesellschaftlichen Verstehensund Handlungsspielraums. In diesem Sinne werden sie von Lefort als ideologische Unternehmungen bezeichnet. So schlägt er etwa eine Lesart der bürgerlichen Ideologie vor, die u. a. darauf abhebt, dass diese die Spannungen und Konflikte, die dem gesellschaftlichen Diskurs einbeschrieben sind, auf der Basis der Vermittlung mit idealisierten Werten (Familie, Nation, Fortschritt usw.) – im Rahmen des Diskurses über die Gesellschaft also – zu neutralisieren vorgebe. Die totalitäre Ideologie behauptet demgegenüber die Identität der beiden Diskurse (mit sich selbst und mit 48 Vgl. Lefort 1978b, S. 531. Vgl. auch bereits Lefort 1978l, S. 53. 49 Vgl. Lefort 1986b, S. 149 Zu Leforts Beschäftigung mit dem Thema der Ideologie vgl. als Auftakt ebd., S. 738, 762f; Lefort 1978c und Lefort 1978b. 50 Dieser Überschuss lässt sich zum einen im Sinne der im ersten Kapitel besprochenen Iterabilität verstehen, und kann zum anderen an die Diskussionen um die „indirekte Sprache“ anschließen, insofern sich Verschiebungen und Innovationen im Bedeutungshaushalt einer Sprache daraus ergeben, dass bereits konventionelle Zeichen in unvorhersehbarer Weise in eine neue Konstellation gebracht werden.
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einander) in der autonomen und sich selbst transparenten Subjektivität des Proletariats oder des Volkes. So ist Ideologie für Lefort auf die eine oder die andere Weise die Ausblendung der Unsicherheit, die mit der Unbeherrschbarkeit sprachlicher Zeichen, mit der Unübersichtlichkeit der Diskurse, mit dem Entzug der Identitäten, der Kontingenz der Ordnung und mit dem Verlust eines der Gesellschaft jenseitigen Fixpunktes Einzug gehalten hat.51 Wir können die Ideologie nur einkreisen, wenn wir den der modernen Gesellschaft eigentümlichen Versuch verstehen, das Rätsel ihrer politischen Form zu verdecken, die Folgen der sozialen und temporalen Teilung, die daraus entstehen, zu neutralisieren, den Glauben an die Realität wiederherzustellen. In diesem Sinne lässt sich die Ideologie nicht als „Reflektion“ und von der Praxis her erfassen, die sie reflektieren würde. Es ist vielmehr ihre Arbeit, die sie entlarvt: eine Arbeit, die auf die „Institution“ [des Sozialen] antwortet und deren Ziel es ist, die Unbestimmtheit des Sozialen ihrer Bestimmung zuzuführen.52
Dieses ideologiekritische Argument ist in der Frage nach der Orientierung der Sozialtheorie immer noch aktuell, selbst wenn diese inzwischen weder auf transzendente Werte noch auf ein gesellschaftliches Kollektivsubjekt besonders abhebt. Denn der Kern des Arguments besteht in der Kritik der Repräsentation einer „realen“ Ebene der gesellschaftlichen Kommunikationen und Interaktionen, in der Kritik der Annahme, dass diese auf jener Ebene mit zwar vielleicht opaken, jedoch nichtsdestoweniger objektiven Bedeutungen versehen und an sich genau bestimmt wären. Und wie weit dieses Theoriemuster reicht, lässt sich an Leforts Kritik einer „nach-bürgerlichen“ (vielleicht „post-modernen“ . . . oder „nach-metaphysischen“?) Ideologie ablesen. Unter dem Titel der „idéologie invisible“53 beschreibt er eine Tendenz auch noch aktueller Diskurse, nicht mehr einzelne Institutionen wie Familie, Nation usw., sondern die gesellschaftliche Kommunikationspraxis selbst mit einem idealen Wert aufzuladen. So wird eine Vorstellung der in jeder Hinsicht unbeschränkten Kommunikation entworfen, in der einerseits eine harmonische Reziprozität der Verhältnisse impliziert ist, und die andererseits als „bloßes Faktum der Kommunikation“ eigentlich praktisch gar nicht ausbleiben kann. Die Kommunikationsprozesse werden als mit einer Tiefenschicht versehen präsentiert, deren Sinn theoretisch festgestellt werden kann und der den Turbulenzen der Oberfläche gegenüber beinahe völlig indifferent ist. Die Unausweichlichkeit der Kommunikation als solcher und die Eindeutigkeit und Universalität ihrer Grundstruktur konstituieren sich für Lefort aber allenfalls in der . . . imaginären Dimension der Kommunikation. Denn diese liefert die Sicherheit bezüglich des sozialen Bandes, ungeachtet der Prüfung von dessen Wirklichkeit [. . .] Wichtiger ist die Macht, unausgedrückt eine primordiale Verbindung zu vermitteln, die im Verlauf des Diskurses und in den eventuellen Oppositionen seiner Akteure gar nicht auf dem Spiel stehen kann. Der Glaube an
51 In diesem Sinne identifiziert Lefort die Funktion der Ideologie darin, „die Dimension der Gesellschaft ‚ohne Geschichte‘ im Inneren der geschichtlichen Gesellschaft selbst wieder zu etablieren“ (Lefort 1978b, S. 510) – während die Demokratie hingegen grundsätzlich eine radikale Offenheit der Gesellschaft und der Geschichte instituiert. 52 Ebd., S. 490f. 53 Ebd., S. 549.
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die soziale Kommunikation lässt auch noch der Idee der sozialen Teilung Raum, wenn auch in der Rückführung auf einen Mangel an Dialog zwischen den Individuen oder Klassen, oder auf einen Bruch des Zusammenhangs. Die Repräsentation der sozialen Verbindung ist hingegen unbewusst, das Unter uns stellt sowohl die Darstellung der Kommunikation als auch die Einbeziehung des Individuums in die Gruppe sicher. Diese Einbeziehung erfordert weder die Anerkennung der faktischen Gruppe als gute Gruppe, noch die Identifikation mit der Macht, die als Figuration ihrer Einheit gilt. Im Register des Unter uns wird das Wir nicht affirmiert, sondern vorausgesetzt – seiner Unverletzlichkeit gewiss aufgrund der Tatsache, dass es unsichtbar bleibt.54 [. . .] Nur unter diesen Bedingungen ist [. . .] die Entstehung der Illusion, dass grundsätzlich nichts der Kommunikation entzogen ist, möglich. [. . .] Das Trugbild der Reziprozität, dank derer alles sich von Rechts wegen als sagbar, sichtbar, intelligibel erweist, entgeht jeder Anfechtung, oder tendiert dazu, ihr zu entgehen.55
Da jedoch für den Diskurs über die Gesellschaft weder die symbolische Institution der Gesellschaft in den sozialen Praktiken, noch sein eigenes Unterfangen wirklich zu beherrschen und einer Eindeutigkeit und Transparenz zuzuführen sind, ist es möglich, die Widersprüche und Spannungen jenes Diskurses hervorzukehren und sie als solche als Verweis auf das, was der imaginären Überdeckung widersteht, was der Diskurs eben doch nicht ganz ausdrückt, zu lesen.56 Diese Arbeitsweise sieht Lefort wesentlich bei Machiavelli vorgebildet: 54 Während sich beim ersten Motiv durchaus Parallelen zur Diskurstheorie Jürgen Habermas’ erkennen lassen – Parallelen, die sich, wie die vorliegende Arbeit zeigen soll, auflösen lassen, spätestens wenn die (quasi-)transzendentale Fixierung der Theorie (post-)phänomenologisch geöffnet wird –, erinnert das zweite Motiv stark an Jean-Luc Nancys Ontologie des Mit-Seins, in der der Sinn mitunter (!) nicht in dem besteht, was und wie kommuniziert wird, sondern dass „es kommuniziert“. Vgl. Nancy 1993, S. 177f. Zu einer Interpretation Nancys, die die ersten Schritte in der Rekonstruktion einer ähnlichen Öffnung auch dort andeutet, vgl. jedoch Wagner 2006. 55 Lefort 1978b, S. 556–558. 56 Die Entsprechung dieses Vorgehens und des damit verbundenen Ideals diskursiver Arbeit zur oben (S. 95ff.) angesprochenen Theorie der indirekten Ontologie und der indirekten Sprache ist offenkundig. Im Übrigen stellt Lefort die „überschüssige“ Differenz zunächst als historisch geworden vor: „Wir müssen uns sogleich über die Bedingungen klar werden, unter denen es möglich ist, diese Unterscheidung zu erfassen. [. . .] Sie setzt voraus, dass die soziale Teilung und die Geschichtlichkeit auf eine Weise fraglich geworden sind, in der noch die Arbeit ihrer Verdunkelung ihren Effekten unterworfen bleibt, dass diese Arbeit in ihrem Scheitern, im fortwährenden Versuch der Korrektur und durch ihre Unstimmigkeiten hindurch das erscheinen lässt, was wir nun zu Recht das Reale nennen können, um damit zu kennzeichnen, dass es sich um dasjenige, was die Unmöglichkeit des Verbergens anzeigt, selbst handelt. In diesem Sinne konfrontiert uns die Befragung der Ideologie mit der Bestimmung eines Gesellschaftstypus, in dem sich ein spezifisches Regime des Imaginären ausmachen lässt.“ (Ebd., S. 503f) Zugleich scheint er sich allerdings von der historischen Verengung zu distanzieren und eher idealtypische Formen zu identifizieren (vgl. ebd., S. 507). Später erklärt er sich ausdücklicher in dieser Richtung: „Mit dem Nachvollzug der Wege, auf denen der ideologische Diskurs die Verschleierung der sozialen und der temporalen Teilung betreibt [. . .], haben wir aufgehört zu glauben, dass die Teilung in einem empirischen Raum und in einer empirischen Zeit lokalisiert werden könnte. [. . .] Während wir die Ideologie als spezifische imaginäre Formation vorgestellt hatten, [. . .] wurden wir nicht nur auf das Phantasma einer mit sich selbst ineins fallenden Menschheit aufmerksam, sondern auch auf jenes einer Geschichte, die von der Unbestimmtheit der Zukunft und dem Gewicht der Vergangenheit befreit wäre. Diese Phantasmen, in welchen die Dimension des Anderen ausgelöscht ist, boten lediglich, so entdeckten wir, die Umkehrung eines ersten Phantasma, [. . .] dank dessen der Andere [. . .] das Gesetz des Sozialen zu geben oder innezuhaben schien.“ (Lefort
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Es zeigt sich, dass der machiavellische Diskurs etwas anderes ist als ein Diskurs über die Teilung der Klassen und deren Begehren, über die Institution und die Illusion, über einen Gegenstand, dessen Grundlage enthüllt würde. Er gewinnt seine Legitimität daraus, dass er einen anderen Diskurs zum Sprechen bringt, der im kollektiven Leben vergraben ist, nur bröckchenweise hervorbricht und dessen Lügen immer ein Halb-Schweigen erfordern; das heißt daraus, dass er der Interpret von uneingestandenen Interpretationen wird – oder, da diese sich notwendigerweise in die Sprache verkrochen haben, welche dem Autor gegeben ist –, daraus, dass er zum AutoInterpreten des Diskurses wird, den die Gesellschaft über sich selbst hält.57
Wie in der Diskurstheorie ist es die sprachliche Natur der gesellschaftlichen Praxis, die eine kritische Distanz eröffnet. Allerdings sind es nun nicht die pragmatisch unvermeidlichen Idealisierungen, die den Wert- und Bedeutungshaushalt der jeweiligen Gesellschaft transzendieren, sondern die Zeichen selbst und die Differenz eines jeden Diskurses zu sich selbst. Es ist den sprachlichen Zeichen, den Namen und Begriffen gleichsam einbeschrieben, dass sie jeder Identifikation mit einer Menge von Bedeutungen und Interpretationen gegenüber immer noch mehr und anderes bedeuten. Indem er die „ideologische“ Arbeit des Diskurses über die Gesellschaft als eine Arbeit vergegenwärtigt, kann Machiavelli die gesellschaftlich verfügbaren Bedeutungen und Interpretationen so unter Spannung setzen, dass ihre Kontingenz und die – gänzlich unbestimmbare – Dimension eines Außen oder Anderen aufscheinen. Gewiss ließe sich eine Erkenntnis, die sich ihrer selbst gewiss sein könnte, nur von diesem unmöglich einzunehmenden Außen her denken. Jedoch haben wir erstens gesehen, wie die Verwendung von Sprache die Unterstellung eines unter Umständen radikal anderen und in diesem Sinne äußerlichen Adressaten impliziert und in diesem Sinne der Arbeit am eigenen Diskurs durchaus eine, wenn auch kaum explizierbare, kritische Orientierung geben kann. Zweitens ist die Erfahrung der diskursiven Eröffnung dieses Raumes ja auch nicht nichts: Einerseits lösen sich die im Verlaufe des Diskurses in Anschlag gebrachten Konzepte aus einem Artifizialismus, der sie unmittelbar als positive Repräsentationen einer zugrundeliegenden Realität ausgibt, und schreiben ihren Sinn und ihr Erkenntnispotenzial eher dem Prozess der Verschleierung-Aufklärung ein, in den eingespannt sie auftreten; andererseits ist diese Erfahrung auch die Realisation dessen, dass mit der grundsätzlich unvermeidlichen Überdeckung der Differenz zwischen sozialem Diskurs und Diskurs über das Soziale, der sozialen und der temporalen Differenz, dass also mit dieser Überdeckung selbst zugleich die Möglichkeit einer Entdeckung der Differenzialität produziert wird.58 Selbstverständlich gewinnt vor diesem Hintergrund auch Leforts eigene „Methode“ der tastenden, sich der Bedeutung der eigenen Thesen nie sicheren Befragung von Repräsentationen und Phänomenen noch einmal an Profil. So ist es letztlich 1978j, S. 20) In den Zusammenhang dieses Arguments muss wohl auch die spätere Aufgabe der Terminologie von „Ideologie“ u.ä. eingeordnet werden. In jedem Falle drängt die Lefortsche Theorie in eine Theorie der modernen Demokratie, in der der Umgang mit der (eigenen) Alterität, Differenz und Zerrissenheit nicht nur in der gesellschaftlich instituierenden Praxis, sondern auch in der Theorie nicht verstellt ist. 57 Vgl. Lefort 1986b, S. 731f. 58 Vgl. ebd., S. 731–733.
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nicht die Nähe zur Literatur als solche, die sie auszeichnet, sondern die (mit der Literatur geteilte) Distanz zu einer Theorie, die sich ihres eigenen Standpunktes, ihrer Propositionen, ihrer Sprache und der Objektivität ihres Gegenstandes sicher wähnt.59 Nur so kann für Lefort ein kritischer Diskurs über das Soziale aufrichtig sein: indem er sich an der diskursiven Uneinholbarkeit der gesellschaftlichen Praxis und seiner eigenen Verwurzelung ebenso abarbeitet wie an der Verwobenheit dieser Praxis mit den Repräsentationen, die allein ihm zugänglich sind und an denen er seine Arbeit leistet.60 Worauf es ankommt, wenn man das Vorgehen der Discorsi verfolgt, ist nicht, dass Machiavelli die Überlegenheit des Volkes über die Adligen etabliert, so folgenreich diese Behauptung auch sein mag, und die der Republik über die Fürstenherrschaft; noch, dass er mit aller wünschbaren Klarheit die Monarchie von der Tyrannei und den Gesetzgeber, dessen Gewalt sich die Begründung einer staatlichen Ordnung zum Ziel setzt, vom Betrüger unterscheidet, der nur danach trachtet, sich die Macht anzueignen. Es ist vielmehr, dass er diese Unterscheidungen, nachdem er sie getroffen hat, verwischt; dass er sie, obgleich er sie verwischt, nicht auslöscht. Wenn sie miteinander verglichen werden, gewinnen die Begriffe gemeinsam einen Wert [. . .] Das Denken Machiavellis hört nicht auf, uns von den Positionen zu vertreiben, die es uns hat erreichen lassen, und dennoch versetzt es uns nicht in eine Welt, in der alle Institutionen äquivalent geworden wären.61 59 Allerdings speist sich Leforts Interesse für Literatur in der Tat wohl umgekehrt aus der Begegnung mit (aussichtsreicheren) literarischen Bewältigungsfiguren eines analogen Zwiespalts: „Der Autor begreift, dass sein eigenes Verhältnis zu der Geschichte, die er präsentiert, oder dass die Weise, auf die er den Leser in diese Geschichte einführt, ursprünglich und wesentlich ist. [. . .] Insbesondere mit Joye taucht der systematische Versuch auf, die Gegenwart des Autors zu eliminieren, insofern dieser [. . .] ein absolutes Bewusstsein und fähig wäre, die äußerlichen Ereignisse oder die Gefühle zu rationalisieren, das Imaginäre vom Wirklichen zu trennen.“ (Lefort 2007g, S. 113) In demselben Text von 1954 schreibt Lefort des Weiteren: „Umso wichtiger ist es, die Einheit dieser literarischen Revolution aufzuzeigen. Mit einem Céline oder einem Queneau handelt es sich darum, eine gewisse gemeinsame Sprache zu durchbrechen, eine gewisse diskursive Logik, die Fiktion eines homogenen und unpersönlichen Universums, die die Priorität des Signifikats über den Signifikanten und die Auslöschung der Individuen vor einer allumfassenden Objektivität suggeriert. [. . .] Die Literatur will eine Erforschung der Realität sein; die Fiktion ist keine Flucht ins Imaginäre, sondern nur ein Rückgriff auf das Mögliche, um die Fülle der Realität zu beschwören.“ (ebd., S. 123–125) 60 Vgl. Lefort 1978b, S. 511–514 und Lefort 1986b, S. 399f: „Wäre der Streit der Politik ein reiner Streit der Ideen, so wäre die Strenge der Argumentation ausreichend; aber er überschreitet deren Grenzen. So wie die Kräfteverhältnisse zwischen den politischen Akteuren sich in ein soziales Feld einschreiben, so schreiben sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Ideen in ein Feld des Denkens ein; die Ideen werden nur in Abhängigkeit von der Erfahrung eines Subjektes wirksam, welche ihrerseits nie ganz auf den Begriff zu bringen ist. So bemisst sich die Wirksamkeit der Kritik an der vom Diskurs des Werkes zu erlangenden Macht, dieses Feld zu verändern, jene Erfahrung so zu bearbeiten, dass sie sich für das öffnet, was ihr fremd war.“ 61 Lefort 1978k, S. 321f. Dass es immer noch unzureichend ist, die Interpretation von Texten politischer Theorie ins praktische Selbstverhältnis der Gesellschaft einzuschreiben, ihnen aber eine bestimmte Funktion zuzuschreiben, zeigt Lefort überzeugend an der Machiavelli-Interpretation Antonio Gramscis: „Aber hat man den Sinn des Werkes erfasst, wenn man sagt, dass es eine Funktion hatte? [. . . Der Ansatz Gramscis] setzt voraus, dass der Diskurs des Schriftstellers auf einen Appell reduziert wird, zu dem das Werk im eigentlichen Sinne einen mehr oder weniger nützlichen Kommentar abgibt. Alles, was der Ordnung des Wissens entspringt, wird nun gemäß seiner symbolischen Effektivität gewürdigt. [. . .] Jedenfalls gilt es als ausgeschlossen, dass
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3.2 DAS SYMBOLISCHE UND DAS POLITISCHE 3.2.1 Für eine Phänomenologie des „Symbolischen“ Nach der Auseinandersetzung mit den diversen Aspekten der Subjekt- / ObjektDichotomie und ihrer phänomenologischen Kritik soll nun aber doch das methodologische Terrain verlassen werden und die weitere Untersuchung stärker auf unsere spezielle Fragestellung zugeschnitten werden, indem die infrage stehenden Begriffe selbst ins Zentrum gerückt und in ihrer symbolischen Natur befragt werden. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass diese Terme sich von einem Verweis auf „Reales“ gelöst haben und ihren Sinn in einem Verweisungszusammenhang von Praktiken, Bedeutungen und anderen Begriffen finden müssen. Sie referenzieren nicht so sehr bestimmte politische Phänomene, sondern bezeichnen umgekehrt den Ausgangspunkt einer interpretativen Befragung, die die Einschlägigkeit der befragten Phänomene allererst konstituiert. Mit anderen Worten, es sind Begriffe, deren Sinn weniger etwa in bestimmten (sozio-)psychologischen Zuständen und Dispositionen verborgen liegt, als vielmehr diskursiv mit einem partikularen Muster von Verwendungen anderer Begriffszusammenhänge entsteht.62 Diese – noch erläuterungsbedürftige – Auffassung erklärt zum einen die Schwierigkeiten eines direkten Zugriffs, eröffnet zum anderen die Forschungsperspektive der Erhellung solcher Begriffe durch die Entdeckung entsprechender Muster und sollte schließlich in einen plausiblen Vorschlag dazu münden können, in welcher das Denken durch die Kraft seiner Befragung selbst umherirrt, dass das Wissen eine eigene Zweckbestimmung hat, und dass das Wirkliche, wenn es zum Gegenstand einer Reflexion wird, dieser nicht die Grenzen setzt, die es jedem menschlichen Verhalten zieht. [. . .] Die Philosophie der Praxis setzt sich einem merkwürdigen Paradox aus. Sie ist ganz auf die Demonstration der praktischen Funktion der Theorie bedacht, und doch vergisst sie, dass diese selbst der Ort einer Praxis ist. Sie übersieht, dass das Denken eine Arbeit ist und seine Wirklichkeit sich in dieser Arbeit enthüllt.“ (Ebd., S. 310–313) Vgl. auch Gramsci 2007 und die Auseinandersetzung mit der Gramscischen Machiavelli-Interpretation in Lefort 1986b, S. 237–258. Für uns ist diese Kritik auch insofern spannend, als sie unseren oben formulierten Vorbehalt reflektiert, demzufolge sich die Habermas’sche Pragmatik von der Semantik abgekoppelt hat. Auch die Formalpragmatik „reduziert“ in diesem Sinne den Sprechakt „auf den Appell“ und löst ihn von seiner sprachlichen Performanz. Gewiss kann sie sich dazu auf eine wichtige Dimension der Kommunikation selbst berufen, aber dadurch ist es nicht weniger eine Reduktion. 62 Vgl. ebd., S. 545. Dieses Verständnis der symbolischen Natur dieser Begriffe korrespondiert der oben vorgestellten Theorie indirekter Sprache. (Siehe S. 95ff.) Die Begriffe bezeichnen kein objektivierbares Signifikat, sondern sind gleichsam Namen für eine Leerstelle im System der sprachlichen Bedeutungen und treffender als durch eine griffige Definition beschrieben, wenn man den Bedeutungszusammenhängen nachspürt, in deren „Kräftefeld“ sie eingespannt sind. Dieses Verständnis impliziert leider auch, dass die hier vorgelegte Rekonstruktion ebenfalls an einer Formalität und Abstraktheit leidet, die den lebensweltlichen Erfahrungszusammenhang, der sich mit den hier verhandelten Thesen verbindet, nicht wirklich aufschließt. In diesem Sinne müsste sie durch materiale Untersuchungen und Lektüren ergänzt werden, um jene Bedeutungszusammenhänge nach der Art einer „Arbeit des Werkes“ zu verdeutlichen. Aus wohl verständlichen Gründen – nicht nur des Umfangs und der unzureichenden Kompetenz des Verfassers in solchen Angelegenheiten, sondern auch wegen der intendierten Anregung und Einschreibung in einen bestimmten theoriestrategischen Diskurs – kann und soll dies hier nicht geleistet werden.
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Weise die der Diskurstheorie nachgewiesenen „Lücken“ und Vereinfachungen an jene symbolischen Zusammenhänge geknüpft sind und durch die Artikulation mit bestimmten Dimensionen der besprochenen Muster an Gehalt und Bestimmung gewinnen können. (In einem Aufsatz aus dem Jahre 1966 konfrontiert sich Lefort mit einer Kritik der Ambivalenz des Demokratiebegriffes, welche als Konsequenz den Verzicht auf den Gebrauch dieses Begriffes überhaupt nahe legt. Dagegen schlägt Lefort selbst – allerdings lediglich auf eine sehr programmatische Weise – eine „Soziologie der Demokratie“ vor, die sich daran orientiert, jene Ambivalenz selbst als Forschungsfeld zu erschließen: . . . „[D]er Begriff der Demokratie wird auf so komplizierte Weise gebraucht, dass es fast besser wäre, auf ihn zu verzichten.“63 Aber auf ihn verzichten [. . .] hieße im Namen der exakten Wissenschaft die Vorstellung, die sich die Menschen von der Wirklichkeit machen, aus dieser auszuschließen und so zu vergessen, dass diese Vorstellung selbst für die Wirklichkeit konstitutiv ist. [Die Schwierigkeiten und Verwirrungen des Gebrauchs jenes Begriffs] erübrigen keineswegs die Untersuchung der Frage, warum dieser Begriff dem Zahn der Zeit widersteht, aus welcher Erinnerung, welcher Praxis und welchem Begehren er sich speist. Diese Untersuchung gilt als verdächtig, da sie sich nicht einem klar bestimmten Gegenstand widmet, da sie sich noch nicht einmal ihrer eigenen Identität sicher ist [. . .] und da sie schließlich jeden dazu nötigt, selbst ein eigenes Zeugnis abzulegen und es zu interpretieren.64
Weit davon entfernt, sich bloß auf die institutionelle und politische Ordnung zu beziehen, verweisen die Diskurse der Demokratie in Leforts Beobachtung auf verschiedene „Ebenen“ des zu untersuchenden Feldes, die den „strukturellen Komponenten“ der Lebenswelt bei Habermas ähnlich sind: Die Ebene der Politik (in der die Machtund Autoritätsverhältnisse geregelt werden), die der Ökonomie (welche die Produktion, Distribution und Konsumtion der sozialen Güter sowie die Organisation dieser Prozesse betrifft), die der Information (welche die Konstitution und Verteilung von Wissen betrifft) und die Ebene der Persönlichkeit (in der das Spiel der Affekte, Motivationen und Vorstellungen die Bindung der Individuen an soziale Objekte bewirkt).65 In dem zitierten Zusammenhang beschäftigt sich Lefort zunächst damit, mit den genannten „Ebenen“ bestimmte Fragestellungen zu verbinden, um so den Untersuchungsbereich einzugrenzen, dann aber auch damit, bestimmte Punkte auszumachen, in denen die Orientierung der Bezugnahmen auf den Begriff der Demokratie deutlich wird. Dies unternimmt er in der Vergegenwärtigung verschiedener „Schlüsselbegriffe“ und der mit ihnen verbundenen Fragen: „Gemeinschaft“, „Gleichheit“, „Autonomie“, „Partizipation“, „Mobilität“, „Offenheit/Öffnung“ und „Konflikt“. Der Aufriss dieses Textes, der im Übrigen gar keine inhaltlichen Analysen unternimmt, soll an dieser Stelle nur belegen, dass die Orientierung, aus der heraus Lefort sich in die Untersuchung der symbolischen Eigenheiten einzelner Topoi begibt, große Parallelen zu unserem gegenwärtigen Stand der Problematisierung aufweist. Zudem lässt 63 Weil 1956, S.172 (note), zitiert nach Lefort 1979h, S. 323. 64 Ebd., S. 323f. 65 Vgl. ebd., S. 326f. „Auf verschiedenen Sinn-Ebenen stellen wir jedes Mal die gleichen Phänomene fest, aber jedes Mal in einer anderen Artikulation.“ (Ebd., S. 327)
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sich an ihm erkennen, dass es sich bei der Lefortschen Theorie weder um eine im Habermas’schen Sinne „dekonstruktive“ Theorie noch um eine politische Philosophie in einem sehr emphatischen Sinne – wie etwa bei Leo Strauss66 – handelt, d. h. um eine Ontologie, die sich von der soziologischen Analyse der modernen Gesellschaft und ihrer handgreiflichen lebensweltlichen Zusammenhänge ebenso wie von einer normativen Theorie der gegenwärtigen Demokratien, die deren Geltungsdimension ernst nimmt und ausbuchstabiert, abgekoppelt hätte.) 3.2.1.1 Gegen den strukturalistischen Symbol-Begriff Obwohl sich Lefort einen strengen Begriff des Symbolischen letztlich nie wirklich zu eigen macht, ist ein solcher vielleicht doch geeignet, seine Überlegungen über den Charakter gesellschaftlicher Phänomene auf indirekte Weise darzulegen. So muss als wesentlicher Punkt der Entwicklung dieser Überlegungen bereits Leforts früher Versuch (von 1951/52) betrachtet werden, die Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Aneignung des Erbes der französischen Soziologie durch Claude Lévi-Strauss und die Reflexion der methodischen Programmatik der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie zusammen zu bringen.67 Im Kontext der ersten Thematik hebt Lefort den Wert der Weiterentwicklung Durkheimscher Gedanken durch Marcel Mauss hervor,68 und entwirft zwei Möglichkeiten, daran anzuschließen und einige noch verbleibende Unzulänglichkeiten zu überwinden. Zwar hatte Mauss nämlich nachhaltig herausstellen können, dass sich wichtige soziologische Einsichten häufig nicht auf Einzelphänomene, ihre Ursachen und Effekte, sondern auf die „dahinter“ liegenden Muster und Strukturen beziehen, welche erst durch die vergleichende Analyse verschiedenster Einzelphänomene ans Tageslicht treten bzw. dass für die Interaktionsteilnehmer die Einzelphänomene ihren Sinn allererst aus ihrem Zusammenhang beziehen, der an sich selbst unartikuliert ist, aber für die soziologische Beobachtung in der Form solcher Strukturen zugänglich wird. (Insofern in diesem Sinne ein Einzelphänomen nur über eine Struktur verständlich zu machen ist, welche auch weitere Phänomene in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ebenso wesentlich prägt, impliziert die Untersuchung ein Verständnis des Phänomens als „fait social total“.)69 Jedoch, so Leforts Kritik, hatte Mauss vorschnell gemeint, die 66 Der Bezug zur Theorie Strauss’ stellt für Lefort ein wiederkehrendes Motiv dar, er findet in ihm eines der raren Vorbilder „philosophischer“ Lektürearbeit, kritisiert jedoch seine Überhöhung der klassischen Antike – die sich weniger aus Sentimentalität oder politischem Konservatismus als aus einer Weigerung ergebe, sich auf eine materiale Würdigung der Geschichte und der eigenen Historizität einzulassen. (Und dieselbe Haltung der souveränen, selbst nicht affizierten Beobachtung trübe auch die Leistung seiner hermeneutischen Arbeit.) Vgl. Lefort 1986b, S. 259– 305; Lefort 2007f; Lefort 1992g. 67 Zum folgenden vgl. insg. Lefort 1978e, Lefort 1978l, Lefort 1978a und Lefort 1979g. In einem späteren Kommentar bekräftigt Lefort (trotz einiger Revisionsbegehren) die Einordnung dieser Texte in die Kontinuität seiner Fragestellung; vgl. dazu Lefort 1978j, S. 13–16. 68 Zu vergleichbaren Relektüren Durkheims vgl. den Überblick in Smith / Alexander 2005; zum Verhältnis Durkheim / Mauss unter besonderer Bezugnahme auf die Kategorie des Symbolischen vgl. Tarot 1999. 69 Mauss 1968a, S. 204.
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gesuchten Muster und Strukturen in den religiösen oder mythischen Überzeugungen der Interaktionsteilnehmer ausmachen zu können. So hatte er eine nicht minder explikationsbedürftige „Theorie“ metaphysischer Substanzen, die den Dingen anhaften und die im Tauschvorgang in ein Verhältnis mit den Personen treten und den weiteren Umgang mit den Dingen bestimmen, an die Stelle des Explanans gesetzt.70 Dass es sich dabei um eine letztlich inkonsistente und mit den Überzeugungen des Soziologen und seines Publikums selbst völlig inkompatible Theorie handelte, schien nur wenig zu stören, sobald man eine sehr stark kulturrelativistische Perspektive einnahm bzw. den Wahrheitsgehalt jener Theorien als sekundär betrachtete. Vor diesem Hintergrund stellte nun etwa Claude Lévi-Strauss, der im Jahr zuvor (1950) die Herausgabe von Mauss’ Sociologie et Anthropologie71 mit einer kritischsystematisch in das Mauss’sche Werk einführenden Einleitung verbunden hatte, seine Ethnologie bzw. seine strukturalistische Anthropologie stärker auf eine Systematik ab, zu der er sich von der strukturalistischen Linguistik hatte inspirieren lassen: Der Sinn und die subjektive Notwendigkeit von Praktiken hingen für Lévi-Strauss nicht mehr von den Intentionen oder grundlegenden mythischen Überzeugungen der Interaktionspartner ab, sondern ließen sich in einem ihnen unbewussten differenziellen System von Symbolen auffinden, das einen objektiven, strukturierten kollektiven Bedeutungshorizont bildete. Dem Problem der Erklärung durch die Einführung unplausibler Annahmen konnte Lévi-Strauss so durch die höhere Abstraktionsebene ausweichen, auf die er durch die Suche nach Invarianzen und durch die theoretisch-induktive Modellbildung gelangte. Claude Lefort jedoch wendet sich daraufhin gegen diese Strategie, da sie einen Fehler begehe, wenn sie die unbewussten subjektiven Sinnstrukturen objektivieren zu können meine, und da sie die gesellschaftlichen Praktiken im Detail, ihre jeweilige Singularität genauso wenig verstehen könne, wie sie die Tatsache der Pluralität von Subjekten, die ihre gemeinsame Welt und einander wechselseitig konstituieren, in Rechnung stelle: [Lévi-Strauss sagt uns], dass das Subjektive selbst objektivierbar ist, insofern es im Wesentlichen eine Menge unbewusster Operationen ist, und dass eine Bestandsaufnahme dieser Operationen möglich ist [. . .]. Obwohl hier lediglich der Begriff des Unbewussten gebraucht wird, drängt sich doch der Logik nach eher derjenige des transzendentalen Bewusstseins in seinem Kantischen Sinne auf. [. . .] Die Schwierigkeit, hier wie anderswo, besteht darin, das Verhältnis des Transzendentalen zum Empirischen zu verstehen oder, was auf das Selbe hinausläuft, mit der Idee eines konstituierenden kollektiven Subjekts diejenige einer tatsächlichen Vielfalt individueller Subjekte zu vereinbaren. [. . .] Die Vielfalt der Bewusstseine wird [von Lévi-Strauss] auf eine Vielfalt von Symbolen reduziert, das heißt, sie wird geleugnet.72
Auch in späteren Untersuchungen Leforts erweisen sich zwei Aspekte dieses kritischen Gedankens als wegweisend: Zum einen die Frage, wie die Konstitution von Welt, Gemeinschaft und individuellen Identitäten in gesellschaftlichen Praktiken 70 Vgl. Lefort 1978e, S. 28–31. 71 Mauss 1968b. 72 Lefort 1978e, S. 32f.
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vorzustellen ist – eine Frage, die in zeitnah erscheinenden Aufsätzen zur Geschichtlichkeit angegangen wird, die aber unter der Hinsicht des Sozialen als des ambivalent Kooperativ-Konfliktuellen bis in seine späte Demokratietheorie reicht und die seinen Arbeiten insgesamt ihren eigentümlich ontologischen Charakter verleiht. Zum anderen der Versuch einer methodischen Rückbindung der Untersuchung an die individuellen Intentionen unter gleichzeitiger Vermeidung der vorschnellen Selbstauslieferung an die den Interaktionsteilnehmern bewussten Bedeutungszusammenhänge. Wie Lefort betont, verfolgt er die Analyse von attitudes und comportements statt von opinions (Mauss) oder règles (Lévi-Strauss).73 3.2.1.2 Gegen den materialistischen Strukturalismus In entsprechender Weise bezieht Lefort auch Stellung in den Auseinandersetzungen um die programmatische Ausrichtung der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie, dem publizistischen Organ einer kommunistischen, anti-stalinistischen Bewegung, die er 1948 gemeinsam mit Cornelius Castoriadis gegründet hatte. Pointiert findet sich das Argument – das ihn letztlich zur Trennung von jener Gruppe und der Zeitschrift veranlasste – in einem Aufsatz von 1952.74 Dort plädiert Lefort für eine konkrete Phänomenologie der Erfahrung des Proletariats, die eine objektive Analyse der Institutionen und Strukturen der Gesellschaft ergänzen müsse. Auch wenn ihn nicht die ausgedrückte Meinung, sondern die diesen zugrunde liegende Einstellung interessiert, welche sich nur durch die synoptische Analyse verschiedener Momente des Umgangs mit jener Erfahrung zum Vorschein bringen lässt, so sind es eben doch wiederum einzelne Zeugnisse, die Lefort zum sprechen bringen will – „la méthode du témoignage.“75 Denn schließlich: Nur mit einem konkreten Individuum verbunden können die Antworten, indem sie aufeinander verweisen, einander bekräftigen oder dementieren, einen Sinn freisetzen, eine Erfahrung oder ein System des Lebens und Denkens hervorbringen, das interpretationsfähig ist.76
In dieser Perspektive erzwingt das phänomenologische Beharren auf der Rückbindung gesellschaftlicher Symbolstrukturen an die lebensweltlichen Erfahrungen einer Vielzahl von Individuen zwar nicht die Abkehr von der Vorstellung eines mehr oder weniger holistischen, den Individuen nicht unmittelbar transparenten Sinn- und Bedeutungszusammenhangs, wohl aber die Anerkennung der Unterbestimmtheit und Offenheit jener Strukturen, welche eben nicht mehr als rigide Systeme objektiv 73 Vgl. ebd., S. 34f sowie Lefort 1979g, S. 89f. 74 Ebd. Zur Entwicklung des Lefortschen Verhältnisses zu dieser Bewegung insgesamt vgl. auch Lefort 2007d. 75 Lefort 1979g, S. 89. 76 Ebd., S. 90. Um diesem Projekt die Treue halten zu können, trennte sich Lefort gemeinsam mit einigen anderen 1958 endgültig von Socialisme ou Barbarie und gründete die Gruppe / das Journal Informations et liaisons ouvrières, die, so wenig programmatisch wie möglich, den Äußerungen und Diskursen der Arbeiter selbst eine Plattform bieten sollten. Vgl. erneut Lefort 2007d. Zur späteren Abwendung von der Rolle des Proletariats als eines privilegierten Orts sozialer Praxis vgl. Lefort 1979d, S. 363–368.
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zugänglich sind. Und sie zwingt zu einer ausführlicheren und offeneren Auseinandersetzung mit den Äußerungen und Auffassungen der Menschen, mit den konkreten Artikulationen jener Strukturen. Wie Lefort in einer Untersuchung über die Angemessenheit der Weberschen These von der protestantischen Ethik schreibt, konfrontiert diese Spannung zwischen Singularität und Struktur die soziologische Forschung mit der doppelten Herausforderung, . . . einerseits die wirkliche Unterbestimmtheit des Protestantismus anzuerkennen, der ja ganz gegensätzliche soziale Verhaltensweisen gleichermaßen inspirieren kann; andererseits den Weg, den er tatsächlich genommen hat, zu begründen und, sobald man in ihm eine Zielrichtung ausmachen kann, ihn zugleich gemäß seines Eigensinnes und gemäß seiner Verortung in der sozialen Dialektik zu interpretieren. [. . .] Ob man [die Ideologie] als determiniert, als determinierend oder als Attribut der historischen Substanz behandelt, das auf seine Weise denselben Sinn entwickelt wie die anderen Attribute, der Fehler besteht jedesmal darin, sie als Wesen zu beschreiben und so in ihr eine einzige Funktion und einen einzigen Sinn zu suchen. Die Widerspenstigkeit der Geschichte des Protestantismus gegen solch eine Reduktion sollte uns vielmehr darüber unterrichten, dass er eine relative Autonomie besitzt. Er stellt ein System von Symbolen vor, das auffällig unterschiedlichen Intentionen dienen kann. [. . .] Der Signifikant greift in diesem Falle notwendigerweise über den Rahmen des Signifikats hinaus; aber heißt das, dass er eine wahrhaftige Autonomie besitzt, dass man der Ideologie in der Gesamtheit ihrer möglichen Entwicklungen Rechnung tragen könnte, ohne sich auf das zu beziehen, was sie symbolisiert?77
3.2.1.3 Das Symbolische und das Imaginäre Der Vorwurf Lévis-Strauss’ an Mauss (den dieser im Übrigen seinerseits in ganz ähnlicher Weise zuvor an Durkheim gerichtet hatte), die symbolischen Strukturen zu verdinglichen, findet sich in radikalisierter Form in Leforts Kritik an strukturalistischen oder historisch-materialistischen Versuchen wieder, den konkreten sozialen Verhältnissen Strukturen zu unterschieben, welche dingfest zu machen, positiv, intelligibel sind und die Verhältnisse zu erklären erlauben. In diesem Sinne setzt Lefort von der Auffassung einer Realität der symbolischen Strukturen seine Rede vom Imaginären ab und verweist darauf, dass sie eine ganz eigentümliche Konsistenz aufweisen: einerseits schießen sie über die diversen Bedeutungszusammenhänge hinaus und können weder beliebigen Gehalt annehmen, noch auf einen bestimmten Gehalt festgelegt werden, andererseits aber sind sie keine von der sozial-diskursiven Praxis unabhängigen Entitäten, sondern an diese rückgebunden und von ihren konkreten Verläufen abhängig.78 Sie lassen sich nach und nach ausleuchten, entziehen sich jedoch zugleich als Ganze in jedem Moment und können in der „Arbeit“ der gesellschaftlichen Diskurse jederzeit eine unvorhersehbare neue Bedeutung annehmen. Dass eine solche neue Bedeutung in Spannung zu den bisherigen stehen kann, ohne diese zu desavouieren, dass sich diese Spannung selbst in den „Gehalt“ des Zusammenhangs einschreibt, konstituiert dessen untilgbar praktische und zeitliche 77 Lefort 1978a, S. 209f. 78 Dies entspricht der oben diskutierten Bestimmung in der „Ent-Bestimmung“. Die Analyse durchläuft die faktisch vorhandenen Relationierungen – nicht, um herauszufinden, wie die Struktur bestimmt werden kann, sondern wovon sie sich absetzt und unterscheidet.
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Dimension. (Die Rede vom Gehalt ist dabei offenkundig insofern irreführend, als keine Substanz des Zusammenhangs ausgemacht werden kann und die symbolischen Strukturen immer „nur“ Verlaufsfiguren sind – so dass auch ihre Analyse nicht vom Ergebnis her, sondern ihrerseits nur als Praxis, als unabschließbarer, zeitlich ausgedehnter Prozess von Interpretation und Befragung verstanden werden kann.)79 3.2.2 Gesellschaftliche Reflexion und Imaginäres Unser Problem ist nun aber nicht lediglich, dass diese Konsistenz der symbolischen Zusammenhänge die Analyse einzelner Phänomene, die sich solcherart verstehen lassen müssen, erschwert, indem sie die Untersuchung ins Unbestimmte auszudehnen zwingt. Für Lefort ist die Dimension des Imaginären keine Besonderheit, die bloß in der Analyse spezifischer politischer Einzelphänomene zu beachten wäre, sondern konstitutiv für einen reflexiven Modus von Sozialität überhaupt. Ein solcher fußt nämlich unvermeidlich, so Lefort, auf einer Erfahrung der Teilung des Sozialen, die nicht unabhängig vom Imaginären verstanden werden kann: Die Kritik [an der Vernachlässigung des Symbolischen durch] Marx zwingt keineswegs dazu, ein Primat der Repräsentation zu behaupten und in die von ihm aufgezeigte Illusion einer unabhängigen Logik der Ideen zurückzufallen; noch muss sie uns von der Aufgabe ablenken, die Mechanismen aufzusuchen, die für die Figuration eines imaginären Wesens der Gemeinschaft sorgen. Im Gegenteil, wir versuchen ja gerade, diese zu begreifen, aber eben ohne dabei der naturalistischen Fiktion nachzugeben. Nun setzt dieser Versuch allerdings voraus, dass die soziale Teilung nicht länger mit der empirischen Verteilung der Menschen im Produktionsprozess verwechselt wird. Wie die Geschlechtertrennung können wir sie uns nicht in einem objektiven Raum vorstellen, der ihr vorherginge [. . .] Es ist der soziale Raum selbst, so gilt es zu denken, der sich mit der Teilung instituiert, und er instituiert sich nur in dem Maße, wie er sich selbst erscheint. Seine Differenzierung durch Verwandtschafts- oder Klassenverhältnisse, oder durch das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft, ist nicht abtrennbar von der Entfaltung eines Diskurses, der dem vermeintlich Realen gegenübersteht, der die Ordnung der Welt ausspricht.80 79 „Was wir entdecken ist [. . .] die imaginäre Dimension des Feldes jener Repräsentation. [. . .] Wir haben nicht nur nicht die Macht, sie von einem vermeintlich wirklichen Ort auf irgend etwas anderes zurückzuführen, sondern es ist sogar fraglich, [. . .] ob sie sich überhaupt auflösen lässt. Zumindest müssen wir feststellen, dass der Begriff des Imaginären nicht denjenigen der Ideologie abdeckt, so wie dieser normalerweise gebraucht wird, d. h. um um einen Diskurs zu beschreiben, der von einer Klasse im Rahmen einer sozio-historischen Formation betrieben wird. Das Imaginäre in unserem Sinne meint eine Gesamtheit von Prozessen, die die Einrichtung [von Referenten] in einem kulturellen Raum (in dem auch wir noch situiert sind) bestimmen, und die sich nicht unter der Kontrolle der Akteure befinden, welche an der Inszenierung der Vorstellungen teilnehmen. Somit handelt es sich nicht um ein substanzielles Imaginäres, wenn man denn diese Formulierung riskieren will, dessen Definition man etwa über Äußerungen gewinnen könnte, die die Eigenschaft hätten, illusorisch und somit, wenigstens von Rechts wegen, eliminierbar zu sein.“ (Lefort 1986b, S. 148f) Das Zitat bezieht sich auf „den Referent Machiavelli“ im akademischen Diskurs der kritischen Würdigung seines Werkes, lässt sich aber mutatis mutandis auf die Dimension des Imaginären übertragen, die dem Diskurs über das Soziale anhaftet. In Lefort 1978c stellt er diesen Gedanken in den Kontext von Überlegungen zum Begriff der Ideologie und einer weiter reichenden, phänomenologischen Kritik der epistemischen Dispositionen sowohl des „Realismus“ als auch eines emphatischen Verständnisses von „Theorie“. 80 Lefort 1978b, S. 499f.
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Bereits Mauss und Lévi-Strauss hatten in den entsprechenden Untersuchungen darauf hingewiesen, dass in den symbolischen Strukturen gesellschaftlicher Praxis eine Spannung zwischen Kooperation und Konfliktualität, Solidarität und Konkurrenz ebenso am Werke ist wie eine Ambivalenz zwischen gesellschaftlicher Integration und „natürlichem“ Chaos, von welchem diese sich abhebt.81 In seiner Interpretation macht Lefort darauf aufmerksam, dass sich ein Sinn dieser Ambivalenz(en) darin finden lassen könnte, dass sich in den besprochenen Praktiken auf kommunikative, wenngleich unterschwellige Weise fortwährend die Selbstbehauptung der jeweiligen Gemeinschaft als einer menschlichen, und die der Identität der Interaktionspartner als Individuen vollziehe. In den z. T. eskalierenden Tauschverpflichtungen und symbolischen Vernichtungen von Reichtümern, die die Ethnologie beinahe überall vorfand, machte er eine Selbstbehauptung der Menschen aus, in der diese sich wechselseitig als von natürlichen Dingen unabhängig und einem sozialen Interaktionszusammenhang angehörig darstellten. In einer solchen kontinuierlichen Interaktionspraxis wird einerseits beständig die soziale Welt im eigentlichen Sinne gegen die natürliche und dinghafte Umwelt abgegrenzt und konstituiert sich eine Kollektivität der Interaktionspartner; andererseits wird durch die immer auch destruktiven und einander überbietenden Verpflichtungen die wechselseitige Anerkennung der Akteure unauflöslich mit antithetischen, antagonistischen Aspekten verwoben. So verstanden, geschieht die Institution des Sozialen oder der Gesellschaft immer durch eine Praxis, in der die Erfahrung von Differenz, von einer sozialen Teilung konstitutiv ist. Wir werden gewahr, dass unsere Analyse uns eine Wirklichkeit zeigt, die grundlegender ist als diejenige der individuellen Beziehungen: die soziale Wirklichkeit im eigentlichen Sinne. Der Austausch durch Geschenke scheint uns zunächst tatsächlich den doppelten Charakter der Opposition zwischen den Menschen untereinander und zwischen den Menschen und der Natur zu offenbaren, den wir im Potlatch entdeckt hatten. In einem ersten Sinn ist er der Akt, durch den der Mensch sich für den Menschen und durch den Menschen zeigt. Schenken heißt sowohl jemand anderen von sich abhängig zu machen als auch zugleich, in der Annahme der Vorstellung, dass dieser zurück schenken wird, sich von ihm abhängig zu machen. Aber diese Operation, diese Initiative im Schenken setzt eine ursprüngliche Erfahrung voraus, in der jeder sich implizit dem anderen verbunden weiß: Die Vorstellung, dass das Geschenk erstattet werden muss unterstellt bereits, dass der andere ein anderes Ich ist, das wie ich handeln muss; und diese Geste muss mir wiederum die Wahrheit meiner eigenen Geste bestätigen, das heißt meine Subjektivität. Das Geschenk ist so zugleich die Etablierung der Differenz wie die Entdeckung der Gleichheit. Ich trenne mich vom anderen und situiere ihn mir gegenüber, indem ich ihm etwas schenke, aber diese Konfrontation wird erst dann wirklich, wenn der andere genauso handelt und sie so in einem gewissen Sinn zugleich aufhebt. Hinter dem Kampf der Menschen um eine gegenseitige „Anerkennung“ zeichnet sich so zugleich die Bewegung einer Gemeinschaft ab, die sich wie ein kollektives „Ich“ zu verhalten trachtet. Aber weit davon entfernt, die Vielfalt der Subjekte abzuschaffen, existiert dieses „Wir“ nur, insofern jeder seine Subjektivität in der Schenkung bekräftigt. Das Verhalten der empirischen Subjekte leitet sich nicht von einem transzendentalen Bewusstsein her; im Gegenteil, dieses konstituiert sich erst in der Erfahrung.82
81 Vgl. Mauss 1968a; Lévi-Strauss 1967; Lefort 1978e; Lefort 1978l. Später ähnlich: Clastres 1976. Insg. siehe dazu die aktuelleren Interview-Äußerungen Leforts in Lefort 2007n, S. 841f. 82 Lefort 1978e, S. 41–43.
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Die Integration der „geschichtslosen“ Gesellschaft hängt nun nicht allein von der Institution der Tauschpraxis schlechthin ab, sondern davon, dass über diese Praktiken ein Netz von Relationen geschaffen wird, in dem alle Vorkommnisse und alle persönlichen Beziehungen geregelt und mit einem Sinn versehen sind.83 So ist kein Raum für eine Alterität vorgesehen, die der Gesellschaft und ihren Angehörigen nicht gleich vollkommen äußerlich wäre, sondern ihre individuelle und kollektive Identität noch wesentlich affizieren könnte. Die Begegnung mit Personen, die in diesem Netz von Relationen nicht vorgesehen sind, ist eigentlich unvorstellbar, führt aber, wenn sie doch einmal nicht gänzlich vermieden oder als Begegnung mit nicht-menschlichen Phänomenen wie Geistern verbucht werden kann, zur Etablierung einer Relation der Feindschaft, d. h. der radikalen Äußerlichkeit, die durch ihre bloße Existenz die Integrität des gemeinschaftlichen Lebenszusammenhangs bedroht.84 Die Zukunft hingegen, die ja auch einen eigenen Charakter von Alterität besitzt, verschließt sich zwar der genauen Erkenntnis, wird aber als mit derselben Bestimmtheit versehen gedacht wie die Vergangenheit (und die Gegenwart), sie hat sich bloß noch nicht ereignet.85 Wenn die Horizonte verschlossen sind, weder die Vergangenheit noch die Zukunft als verschieden angesehen werden, dann zunächst, weil die Menschen eine Distanz untereinander oder eine Erfahrung der Alterität unmöglich machen, weil sie von ihren Verwandtschaften und sozialen Verwurzelungen gefesselt sind.86
Im Unterschied zu den sogenannten „geschichtslosen“ Gesellschaften, wie sie die Ethnologen Mauss und Lévis-Strauss beobachteten, etabliert in der „geschichtlichen“ Gesellschaft, die sich über die Thematisierung ihrer Genese gleichsam selbst beobachtet, die soziale Praxis ein anderes Verhältnis zwischen Gesellschaft, Individuen und Alterität. Zwar legt Lefort Wert darauf, zu zeigen, inwiefern sowohl die „geschichtslose“ als auch die „geschichtliche“ Gesellschaft ihren Bezug zu Vergangenheit und Zukunft (ihren style de devenir87 ) jeweils selbst praktisch etablieren; dass es sich bei der Stagnation mithin nicht um eine natürliche Tatsache handelt, die in späteren Entwicklungsstadien überwunden würde, sondern dass beide Formen von Geschichtlichkeit als soziales Faktum zu verstehen sind, das sich in der jeweiligen praktischen Antwort auf die universelle Herausforderung ergibt, der sich jede Gesellschaft stellen muss: sich als menschliche Gemeinschaft in einem räumlichen, in einem zeitlichen und mitunter in einem sozialen Außen zu behaupten.88 Dennoch besteht er auf dem wesentlichen Unterschied dieser beiden Formen von Vergesellschaftung. Besonders deutlich tritt dieser Unterschied im dynamisch-zeitlichen Verständnis und in der Rolle des Ereignisses in der historischen Entwicklung individueller wie kollektiver Identität zutage. 83 84 85 86 87 88
Vgl. dazu insg. Lefort 1978l, S. 64–73. Vgl. ebd., S. 66, 71. Vgl. Lefort 1986b, S. 67. Lefort 1978l, S. 73. Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 74; Vgl. auch Lefort 1978j, S. 15f.
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Das Eigentümliche an der „historischen“ Gesellschaft scheint uns zu sein, dass sie das Prinzip des Ereignisses enthält und die Macht hat, dieses in ein Moment der Erfahrung zu verwandeln, so dass es ein Element des Gesprächs darstellt, das die Menschen untereinander führen. [. . .] Das heißt auch, dass das Historische nicht im Ereignis als solchem liegt, sondern in einem Stil sozialer Beziehungen und Verhaltensweisen, dank dessen sich der Sinn aufs Spiel setzt.89
Dass im Falle der „historischen“ Gemeinschaft die Institution der Gemeinschaft als eine selbst kontinuierliche und dem Ereignis offene explizit reflektiert wird, impliziert, dass der Sinn des ganzen sozialen Zusammenhangs als jeweils gegenwärtig neu zu bestimmende Anknüpfung an die Vergangenheit erscheint. Gewiss unterhält jede Gesellschaft eine Beziehung zu ihrer Vergangenheit und findet sich in gewissem Sinne in ihr angelegt. Dies aber zu thematisieren heißt, es als Produktion eines Sinns wahrzunehmen, als Öffnung auf die Gegenwart, und zugleich in dieser Gegenwart die Zeichen des Neuen zu erkennen; es heißt nicht, mit der Vergangenheit als verschwommener Gesamtheit zu verschmelzen, sondern, indem sie unterschieden und artikuliert wird, sich in das Herz einer angenommenen Intention einzufügen und so den Ereignissen vorzugreifen.90
Dann unterhält die „geschichtliche“ soziale Praxis ein anderes Verhältnis zu Alterität nicht nur in der zeitlichen, sondern auch in der intersubjektiven Dimension. In Interaktionszusammenhängen, in denen „früher“ die wechselseitige Bedrohung durch die performative Bestätigung einer unterstellten Gemeinsamkeit (der Tauschgemeinschaft) kompensiert werden konnte, ist nun unklar, ob nicht die aktuelle, konkrete Interaktionssituation eine Neubestimmung des Sinnes der Bedrohung, der Gemeinsamkeit oder dessen, was eine performative Bestätigung eigentlich sein kann, erforderlich macht. Die modernen Gesellschaften verkörpern in dieser Hinsicht gleichsam die Wahrheit der geschichtlichen Gesellschaft, indem sie nämlich jenen Sinn tatsächlich in der geschichtlichen Entwicklung und der darin je aktuellen Gegenwart der Gesellschaft suchen, und ihn nicht von einem – externen oder internen – Garanten erwarten.91 Und es erklärt Leforts ausführliche Beschäftigung mit Machiavelli, dass dieser jene Wahrheit als erster formuliert hat:92 Wenn die Diversität der Situationen selbst gedacht werden soll, anstatt sie mit einer Wesentlichkeit zu konfrontieren, welche sie alle als Folgen einer Entartung offenbaren würde, dann deshalb, weil die Gesellschaft grundsätzlich für das Ereignis offen ist. Und dies ist sie, weil sie
89 Lefort 1978l, S. 62. 90 Ebd., S. 64. 91 Zum Teil müssen sich religiöse Überzeugungen wohl in diesem Sinne als Annahme einer welttranszendenten Warte verstehen lassen, von der her die Ordnung und der Sinn der Gesellschaft bestimmt werden könnten. Die Annahme einer gesellschaftsimmanenten Warte gleicher Qualifikation wird von Lefort unter dem Stichwort der „Ideologie“ ausführlich behandelt (s. o. S. 105). Im Kontrast zum Programm der Moderne stellen für Lefort die „geschichtslosen“ Gesellschaften die Wahrheit dieser beiden Überzeugungssysteme dar. 92 Für eine ganz ähnliche Diskussion einer weitreichenden Transformation im Verhältnis einer Gesellschaft zu ihrer eigenen Historizität und einer mehr oder weniger unmittelbar politischen Bedeutung dieser Umwälzung vgl. Pocock 1975. Interessanterweise ist auch für Pocock das Werk Machiavellis der maßgebliche Ausdruck einer „zu sich selbst gekommenen Geschichtlichkeit“. Vgl. ähnlich auch Ménissier 2001.
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sich nicht unmittelbar auf sich selbst bezieht, weil sie von Grund auf zerrüttet ist und sich ihr immer neu die Aufgabe stellt, den Riss zu kitten, durch den die Begehrlichkeiten der Klassen und der Individuen hereinströmen. Das Ereignis stiftet die Unruhe nicht, es ist immer nur der Punkt, an dem sich inkommensurable Handlungsfolgen begegnen, der Punkt, an dem sich in manifester Weise ein Sinn etabliert oder auflöst.93
3.2.3 Politik und die symbolische Dimension der Macht Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, sich endlich dem Thema der Macht – und damit der Politik – zuzuwenden. Diese letztere stellt ja evidentermaßen sowohl in der Gesellschaft Machiavellis als auch in unserer und derjenigen Leforts eine elementare (wenn auch nicht immer erfolgreiche) Weise dar, die gesellschaftlichen Konflikte so zu behandeln, dass die gesamtgesellschaftliche Integration gewährleistet bleibt. Für die politische Theorie in einem Lefortschen Sinne kann es nach allem zuvor Gesagten nicht darum gehen, das Wesen der Macht oder der Integration oder die Notwendigkeit der Macht zur Integration der Gesellschaft zu untersuchen. Ihre Aufgabe sieht sie vielmehr darin, im Ausgang von der Beobachtung einer gesellschaftlichen Integrationspraxis deren vielschichtige Aspekte – und die in ihnen liegenden Unbestimmtheiten und Öffnungen – auszuloten. Tatsächlich ziemt es sich für ein Denken, das das Sein in der Zeit erfährt, sich die politische Beziehung gleich zu Beginn vorzunehmen, sie zu entziffern und ihr einen Sinn abzugewinnen,
93 Lefort 1986b, S. 425. In Machiavelli findet Lefort einen verwandten Geist, der wie er selbst zwar von der universellen Aufgabe der gesellschaftlichen Integration (über Konflikte und Differenzen hinweg und durch sie hindurch) ausgeht, diese aber nur in geschichtlich konkreten Konstellationen vielleicht nicht gelöst oder angegangen, sondern überhaupt als Aufgabe auch nur denkbar ansieht. Daraus ergibt sich sein „realistischer“ Blick auf die Geschichte, der von den vermeintlich realen universellen Vorgaben wie z. B. der Konfliktualität von Begehrlichkeiten eher seinen Ausgang nimmt, „als dass er sich darauf reduzieren ließe – wie die Discorsi noch mehr als sein Principe zeigen. [. . .] Das Wirkliche besteht nicht nur darin, dass es den Klassenkampf und andere Notwendigkeiten gibt, denen die Macht immer zu begegnen hat, sondern darin, dass sie sich in diesen oder jenen Bedingungen zeigen, dass sie diese oder jene Tendenz aufweisen, diese oder jene Handlung notwendig oder möglich machen. Das Wirkliche, so lernen wir in den Discorsi, ist die Geschichte, wenn man darunter die Wiederholung des gesellschaftlichen Unternehmens unter je anderen Vorzeichen versteht: Versammlung der Menschen, die sich als von einer gemeinsamen öffentlichen Sache abhängig situieren, eine kollektive Identität erlangen, ihre jeweiligen Positionen in einen gemeinsamen natürlichen Raum, ihre Institutionen in einen gemeinsamen kulturellen Raum eintragen und sich als partikulare Gemeinschaft anderen Völkern gegenüber bestimmen. [. . .] Die Geschichte ist diese Wiederholung; aber diese Wiederholung ist historisch in dem Sinne, dass die Bedingungen, in denen sich dieses Unternehmen einrichtet, nie dieselben sind.“ (Lefort 1978k, S. 318f) In diesem Sinne ist es dann das Eigentümliche der Demokratie, dass sie selbst „das Rätsel der Institution des Sozialen“ bloßlegt und als eine Aufgabe begreift, durch die sie in einen historischen Prozess eingespannt ist. Die demokratische Gesellschaft findet sich nicht am Ursprung ihrer eigenen Sozialität, am Ursprung ihrer Lebenswelt, der Sprache und der Gesetze, sondern sie findet diese vor und sich durch sie konstituiert. Aber die Demokratie ermöglicht es, diese Konstitution als Eröffnung der Geschichte zu begreifen. (Vgl. Lefort 1994d, S. 150; Lefort 1986a, S. 562f) Zu einer ausführlichen, aber tatsächlich eher ontologischen Auseinandersetzung mit dem Thema unter dem Titel der distorsion vgl. Lefort / Gauchet 1976, passim, insb. S. 11f, 48–50.
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da ihr nichts Weiteres zugrunde liegt. Dabei setzt sich kein Positivismus des Faktischen an die Stelle eines Positivismus des Wesentlichen. Denn wenn man das Faktische mit all seinen Verästelungen ernst nimmt, dann umschreibt es keine Bedeutung, es gleitet vielmehr zwischen den Bedeutungen, wird selbst zum Erzeuger eines Un-Sinns, einer Unbestimmtheit, die dem Subjekt, wenn dieses sich ihrer annimmt, den Raum des politischen Diskurses eröffnet. Das Machiavellische Werk konstituiert sich in der Kritik dessen, was erscheint, in der Umkehrung der Erscheinungen, in der Umwandlung einer Denkarbeit, die jede besondere Bedeutung abträgt, in ein seinerseits bedeutendes Kapital.94
3.2.3.1 Teilung und Identität Politik wird nun also von Lefort als ein Modus reflexiver Sozialität verstanden, der die in der Ambivalenz des Sozialen implizierte soziale Teilung mit der Einführung einer gesellschaftlichen Vorstellung von Macht verbindet. Die Dimension des Imaginären stellt somit nicht eine methodische Spezialität im Umgang mit bestimmten Einzelproblemen der Theorie der Politik dar, sondern umfasst die unauflösliche wechselseitige Verwiesenheit zwischen Macht, dem Bezug der Gesellschaft auf sich selbst und der symbolischen Dimension der Lebenswelt, die einer politischen Theorie als solcher zugrunde liegt und ihren Gegenstandsbereich insgesamt genauso wie ihre epistemische Aufstellung prägt. Wenn wir also [. . .] politisch diejenige „Form“ nennen, in der sich die symbolische Dimension des Sozialen zu erkennen gibt, dann nicht, um die Machtverhältnisse unter anderen Verhältnissen auszuzeichnen, sondern um zu verstehen zu geben, dass die Macht nicht eine empirisch bestimmte „Sache“, sondern von ihrer Darstellung untrennbar ist; und dass die Erfahrung, die man von ihr macht – zugleich Erfahrung des Wissens und Artikulationsmodus des sozialen Diskurses – für die soziale Identität konstitutiv ist.95
Folgen wir zunächst Leforts Gewährsmann Machiavelli, so findet sich am Grund jeder politischen Gemeinschaft die Spannung zwischen dem Wunsch, Macht zu besitzen und auszuüben, und dem Wunsch, keiner Macht unterworfen zu sein, oder genauer gesagt, zwischen dem Wunsch, Herrschaft auszuüben und dem Wunsch, nicht beherrscht zu werden:
94 Lefort 1986b, S. 426. Und dieses Unternehmen betreibt Machiavelli, so Leforts Beobachtung, wiederum auf indirekte Art und Weise. Denn es ist das Pendeln zwischen der Kritik der klassischchristlichen Konzeption und derjenigen der „realistischen“ Politikrezepte florentinischer Berater, in dem sich die „neue“ Politik abzeichnet: „Dieses Oszillieren ist weder ein Zeichen der Verwirrtheit noch des Skeptizismus. Die Bewegung, welche bald hierhin, bald dorthin trägt, zeichnet langsam die Gestalt des neuen Denkens. Dessen Umrisse sind bereits skizziert. Die Kritik einer These stellt nicht diejenige wieder her, von der man sich zuvor abgewandt hatte; weder ruft die Zerstörung der antiken Grundlagen der Politik den Rückzug in die Grenzen des Empirismus hervor, noch die Ablehnung des Empirismus die Auferstehung der traditionellen Ethik.“ (ebd., S. 400f) Letztlich ist dasjenige Moment, das Lefort an einem Positivismus des Faktischen kritisieren will, nicht die unhinterschreitbare Setzung der Faktizität als des Horizonts der Theorie, sondern der Versuch, diese Faktizität positiv zu bestimmen. Die Faktizität bleibt im Zentrum der Lefortschen Theorie, aber als irreduzibel „fragwürdiges“ Fundament. Vgl. auch ebd., S. 444. 95 Lefort 1978b, S. 490.
3.2 Das Symbolische und das Politische
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In jeder Stadt finden sich diese beiden gegensätzlichen Richtungen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich das Volk von den großen Herren nicht beherrschen und nicht unterdrücken lassen möchte, die großen Herren dagegen das Volk zu beherrschen und zu unterdrücken trachten. Aus diesen zwei gegensätzlichen Bestrebungen entstehen in einer Stadt drei verschiedene Wirkungen, und zwar entweder die Alleinherrschaft oder die Freiheit oder die Anarchie.96
Wie im Falle der Tauschpraxis nimmt Lefort nun auch politische Auseinandersetzungen als soziale Praxis ins Auge, die – mindestens in einer bestimmten Hinsicht – die Identität der Interaktionspartner und die des sozialen Interaktionszusammenhangs selbst konstituiert. Hierbei ist für Lefort die Bezugnahme auf ein imaginäres drittes Moment zentral, das den Konfliktparteien wesentlich äußerlich ist, dem diese aber zugleich verpflichtet sind. (Immerhin stammt das Zitat von Machiavelli aus dem Zusammenhang der Frage, auf welcher Grundlage sich die Position der Macht bzw. des Fürsten erheben kann.) In dieser spannungsvollen und mittelbaren, indirekten Bezugnahme wird also mit der sozialen Teilung in Form eines politischen Konflikts und mit den Konfliktparteien als solchen ein symbolischer Referent instituiert, dessen Identität den Interaktionszusammenhang als Gesellschaft integriert. So wie die Sozialität der „geschichtslosen“ Gesellschaft in einer ursprünglichen, ihrerseits nicht mehr hinterschreitbaren Interaktionspraxis gründete, die eine ambivalente Dualität konstituierte und gesellschaftsweit instituierte, so fußt die politische Sozialität auf einer Interaktionspraxis, die sich als triadische zu erkennen gibt – und deren einzelne Terme ihr wiederum nicht nur nicht vorgängig sind, sondern „an sich“ überhaupt keine Identität besitzen. Es zeigt sich, dass der Begriff des „Volkes“ eine Opposition überdeckt. Oder, um es anders zu sagen, im Innern des Volkes, der vermeintlichen Gemeinschaft, der der Staat ihre Identität zukommen lässt, zeigt sich die Masse der Ohnmächtigen – „Volk“ in genau demjenigen Sinne, der es der fiktiven Einheit entzieht, welche die politische Sprache ihm aufnötigt. Man muss hier ganz klar von einer für das Politische konstitutiven und auf den ersten Blick irreduziblen Opposition reden, nicht bloß von einer faktischen Unterscheidung, denn was die großen Herren zu großen Herren und das Volk zum Volk macht ist nicht, dass sie durch ihr Schicksal, durch ihre Sitten oder ihre Funktion einen bestimmten Status hätten, der mit spezifischen, divergenten Interessen verbunden wäre. Vielmehr ist es, sagt Machiavelli ohne Umschweife, dass die einen eben herrschen und unterdrücken wollen und die anderen nicht beherrscht und unterdrückt sein wollen. Ihre Existenz bestimmt sich nur in dieser wesentlichen Relation, im Zusammenstoß zweier „Begehrlichkeiten“, die aus Prinzip gleichermaßen „unersättlich“ sind.97
Es ist deutlich, dass für Lefort die gesellschaftskonstitutive Teilung nicht einen Konflikt zwischen verschiedenen sozialen Gruppierungen oder Klassen meint, sondern eher zwischen zwei Tendenzen oder Momenten des Sozial-Seins selbst. Darin liegt der Kern der vermeintlich ontologischen Anlage der Lefortschen Theorie. Obwohl sie im Ausgang von den genannten Machiavellischen Passagen naheliegt, ist eine Theorie der zwei „Triebe“ unangemessen, solange sie diese als metapolitische (etwa
96 Machiavelli 1978, 39 (IX. Kap.) Vgl. auch Machiavelli 1977, Buch I, Kap. 4f. 97 Lefort 1986b, S. 382. Vgl. auch ebd., S. 721ff. Ähnlich auch Rancière 2002 – zum Verhältnis der Arbeiten Leforts und Rancières vgl. M. Dillon 2003.
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anthropologische oder metaphysische) Konstanten annimmt und aus den Äußerungen Machiavellis zu den „umori“ letztlich ein objektives Fundament der Politik konstruiert.98 Demgegenüber muss man im Anschluss an Lefort die Konfliktualität der politischen Gemeinschaft als irreduzibel, auf keinem äußerlichen Fundament aufruhend anerkennen, als wesentliches Element der grundlegenden Praxis, von der her sich ein Sinn konstituiert, durch den wiederum sich erst die Parteien und Interessen bestimmen.99 Selbst die Annahme einer „natürlichen Asozialität“ unterstellt nämlich notwendigerweise einen . . . Bezug des Menschen auf sein Begehren und auf das Gesetz, eine Macht, die das Imaginäre über ihn hat und eine Öffnung für die Autorität, denen der Verweis auf die Animalität oder die konventionelle Vorstellung einer Natur des Menschen nicht Rechnung tragen kann. [. . . D]as im allgemeinen Klassenkonflikt implizierte Streben des Menschen erweist sich als nicht auf die Begehrlichkeiten der Macht, des Reichtums und der Ehre rückführbar. Insofern es die Ablehnung der Herrschaft und der Unterdrückung impliziert, muss man einräumen, dass es sich an keinem bestimmten Gegenstand bemisst. Es löst das Subjekt von jeder partikularen Position und bindet es an eine unbegrenzte Forderung. [. . .] Weit davon entfernt, uns eine positive Wirklichkeit des Menschen zu enthüllen, die in den Zeichen des animalischen Begehrens wahrnehmbar wäre, erhellt die Analyse jenes Strebens in diesem Sinne eine erste Zweiheit, noch jenseits des Phänomens des sozialen Antagonismus: Sie lehrt uns, dass es in dem, was man die menschliche Natur nennt, etwas gibt, das uns dazu veranlasst, nicht nur den Kampf und die Instabilität, die 98 Zu einer Kritik naturalistischer Deutungen vgl. Gaille-Nikodimov 2003; sowie Sfez 1999, S. 172– 217. Leforts eigene Diskussion der Machiavelli-Interpretation Gerhard Ritters konfrontiert sich mit der den Naturalismus noch überbietenden extremen Position einer „Dämonie der Macht“, die die Irrationalität selbst als letztes positives Fundament installiert, in dem sich die Natur des Menschen als eine „perverse“ zu erkennen gibt und ihn in die Politik als Feld des irrationalen Kampfes zwingt, über dem sich bestenfalls der Staat als solcher als einzige Garantie einer stabilen Einhegung erhebt. Vgl. Lefort 1986b, S. 206–217 und Ritter 1947. Der ideologische Charakter einer solchen Apologie von Staatlichkeit und Rechtmäßigkeit als solcher wird bereits von Machiavelli kritisiert; vgl. etwa Buch I, Kap. 4–6 Machiavelli 1977 und dazu Lefort 1986b, S. 472–480. Zur Einschreibung des „Hungers nach Repräsentation“ und nach der imaginären Aufhebung der Ungewissheit über die eigene Identität und der Widersprüchlichkeit der Welt, die jeden Naturalismus sprengt, vgl. auch ebd., S. 725–727. Vgl. dazu auch das analoge Argument Habermas’ oben, S. 77. 99 „Wir glauben, in der menschlichen Natur dasjenige finden zu können, was uns die Bestimmung [des] Grundes [der ursprünglichen Teilung der Gesellschaft – A. W.] erlaubt. Die Universalität des Klassenkonflikts, so sind wir zu denken versucht, könnte nur aufgrund einer Vorstellung des Menschen zugestanden werden, die ihn als Wesen der Begierde, als Tier, welches an die Begehrlichkeiten von Macht, Ehre und Reichtum gefesselt ist, ausweist. Nur diese Vorstellung ließe verständlich werden, dass die Zufälle des Krieges aller gegen alle überall [. . .] eine Teilung hervorrufen, die sich zwischen der sozialen Position des Herrschers und der des Beherrschten einstellt. Sie verspräche unter anderem die Möglichkeit einer Macht, die von der Angst der Gegner und von einer sich daraus ergebenden natürlichen Regulierung der Begehrlichkeiten profitieren, sich so einen eigenen, von den Klassen getrennten Platz einrichten und zugleich das Prinzip des Gemeinwohls verkörpern könnte. Dieses Argument ist jedoch unhaltbar und man machte sich etwas vor, wenn man den Ursprung der Verfassung der Gesellschaft in der Animalität des Menschen suchen wollte.“ (ebd., S. 721f) An dieser Stelle folgen einige Argumente, die den vermeintlichen Machiavellischen Pessimismus bzgl. der irreduziblen Bosheit der Menschen durch seine Verortung in einem eher rhetorischen Rahmen relativieren. Da dies aber nur die Interpretation Machiavellis betrifft, und nicht unser allgemeines Argument, sind sie hier unwichtig – Leforts eigene Auffassung wird im Folgenden ausführlich expliziert.
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mit jeder Gesellschaftsform einhergehen, zu überdenken, sondern auch die Verwerfung zwischen dem Partikularen und dem Universalen sowie diejenige zwischen den Gesetzen, wie sie in instituierten Systemen von Verpflichtungen definiert sind und in denen in jedem Moment ein allgemeines Kräfteverhältnis zur Kristallisation gelangt, und dem Gesetz, wie es sich als jedes faktische System transzendierend zu verstehen gibt.100
Auch in der Analyse der einzelnen Momente jener dualen „Trieb-“Struktur erweist sich, dass sie nicht mit sich selbst identisch sind, sondern sich nur über den Bezug aufeinander – und auf die Repräsentation einer Vermittlung – konstituieren; und dass sich diese Repräsentation ihrerseits nur aus einer spannungsvollen Dualität speist. In der Nicht-Identität der Konfliktparteien findet sich die Ambivalenz des Sozialen als solchen wieder, „der Widerspruch, der die Gesellschaft zerreißt – dass sie zugleich der Ort der Koexistenz und derjenige des Aufeinanderprallens der Begehrlichkeiten ist.“101 Hinter dem Faktum der Begehrlichkeiten den Bruch im Begehren zu entdecken heißt, sich die Annahme, dass es eine wirkliche Trennung zwischen seinen beiden Polen geben könnte, zu versagen oder es erneut auf die Ebene der Natur herabsinken zu lassen. Es heißt notwendigerweise zugestehen, dass das Begehren sich in der Trennung auf sich selbst bezieht, und dass dieser Bezug sich nur in der Form einer Repräsentation manifestieren kann.102
Keines der beiden Begehren lässt sich nämlich durch ein dem sozialen Zusammenhang äußerliches, von diesem unabhängiges Objekt definieren, durch dessen Besitz das Begehren Befriedigung erlangen würde oder auf das hin es orientiert wäre. So kann etwa der Drang zu beherrschen und zu unterdrücken letztlich nicht als ein Wunsch verstanden werden, einen bestimmten Gegenstand oder auch nur eine bestimmte Fähigkeit (die sich z. B. darauf bezieht, andere Personen zu bestimmten Handlungen veranlassen zu können) zu besitzen. Machiavelli, und mit ihm Lefort, beschreibt dieses Begehren vielmehr als ein strukturell unersättliches, als das Begehren, zu erobern und zu unterwerfen.103 Insofern es sich in dieser Weise auf die Überwindung eines Widerstands bezieht, verortet es sich nicht nur in einer je faktischen Konfliktualität, sondern impliziert diese auch noch in seiner Erfüllung – das Vereinnahmte und das Unterworfene sind als solche Ziel des Begehrens. Zugleich kann sich dieses Begehren auf sich selbst als ein gesellschaftskonstitutives Moment jedoch nur beziehen, indem es die angestrebte Unterwerfung als die kontinuierliche Zähmung einer immer bedrohlichen asozialen menschlichen Natur durch gegebene gesellschaftliche Gesetze und Institutionen und so als Erhalt einer „guten Ordnung“ gegenüber den irrationalen Kräften der Natur vorstellt.104 Aus dieser Perspektive 100 101 102 103 104
Ebd., S. 722f. Ebd., S. 423. Ebd., S. 727. Vgl. Machiavelli 1977, S. I, 5; Lefort 1986b, S. 477–480 und 727. Hier macht Lefort den Ursprung der bürgerlichen Ideologie aus, die die Errichtung einer „zivilen“ oder gar „aufgeklärten“ Gesellschaft immer auch mit dem Ausschluss von Frauen, Sklaven, Kranken, Analphabeten usw., zumindest mit einem pädagogischen Paternalismus verbunden hat. Vgl. Lefort 1978b, S. 517–521.
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verkörpern die Institutionen geradezu die gegenwärtige Gewähr für den Erfolg des sozialisatorischen oder zivilisatorischen Projekts.105 Genauso wenig zielt umgekehrt das Begehren des Volkes, nicht beherrscht und unterdrückt zu werden, auf die Erlangung eines bestimmten Zustandes oder auch nur eines bestimmten institutionellen Rahmens, in dem Freiheit hergestellt und garantiert wäre. Es ist vielmehr die bloße Ablehnung, „reine Negativität“, die sich einerseits nur an konkreten Unterdrückungserfahrungen entzündet, andererseits eine prinzipiell unbeschränkbare Forderung der Herrschaftsfreiheit begründet. Als diese Forderung impliziert sie jedoch zugleich das Streben nach einer Macht, welche die Unterdrückung selbst unterdrücken könnte. Auf sich selbst kann sich dieses zwiespältige Streben nur in der Vorstellung von gesellschaftlichen Institutionen beziehen, die als Verkörperung einer anonymen Macht auftreten, die wiederum durch ihre Anonymität die Identifikation von Volk und Macht erlaubt – als „subjektlose“ Volkssouveränität.106 105 „Vergeblich würde man meinen, das Begehren der hohen Herren auf sein Wesen reduzieren zu können: In der Erfahrung der Unersättlichkeit an Gütern und Macht erweist es sich als unhaltbar. In dem Moment, in dem es im Anderen sein Gegenteil angreift, trägt es in sich das Streben, selbst sein eigenes Gegenteil zu sein und verurteilt sich selbst dazu, im Bild einer tatsächlich präsenten Ganzheit, einer mit sich selbst grundsätzlich übereinstimmenden ‚sozialen Natur‘ einen Ausweg zu suchen. Genauso wenig ist es eine einfache Lüge oder eine bloße List, wenn die herrschende Klasse die Zerrissenheit der Gesellschaft leugnet, selbst wenn ihr Interesse ihr dies gebietet. Sie bezeugt darin die ihrem Streben entspringende Unmöglichkeit, eine Position des einfach Besitzenden-Unterdrückenden anzunehmen. Für sie ist die gesellschaftliche Institution eine Substanz, in der sich ihr interner Konflikt ebenso auflöst wie der mit dem Anderen.“ (Lefort 1986b, S. 727) 106 „Noch viel weniger kann man das Begehren des Volkes mit dem Prinzip, von dem es konstitutiert wird, zusammenfallen lassen: denn es existiert nur gemeinsam mit seinem Gegenteil. Insofern es reine Negativität ist, die unbegrenzte Forderung transportiert, ‚nicht befehligt, nicht unterdrückt‘ zu werden, und insofern es die Erfahrung der Unmöglichkeit seines Gegenstands macht, erweist es sich als seinerseits unhaltbar. Es grenzt in demselben Moment an die Habgier, in dem es diese im Anderen entdeckt, und es zwingt sich, in ein Bild zu münden, in dem sich ein Ersatz dessen anbietet, was ihm verwehrt bleibt. Von daher ist es nicht lediglich unter dem Eindruck einer Täuschung, dass die beherrschte Klasse ihren Glauben in die Institutionen des Staates legt, selbst wenn ihre Not sie leichtgläubig macht.“ (ebd., S. 727f) Dieser Zwiespalt findet sich ähnlich auch in der Demokratietheorie Philip Pettits reflektiert. Auch diese geht von der für Freiheit konstitutiven Institution einer Macht aus, die Pettit als nicht-arbiträr beschreibt. Dieser Charakter lässt sich zunächst durch ihre rechtliche Form sicherstellen. Diese kann durch eine Demokratisierung des politischen Systems verstärkt werden, allerdings auf indirekte Weise: „[D]emocratization is bound to make government more freedom-friendly if it can increase the non-arbitrariness of legislation, adjudication and administration,“ indem es den Gesetzen die Verfolgung der Interessen derjenigen aufzwingt, auf die sie Anwendung finden. (Pettit 1999, S. 170) Dabei unterscheidet Pettit zwei Bedeutungen des Begriffs Volk (people): Die Einrichtungen der Wahldemokratie konstituieren durch Repräsentations- und Rechenschaftsverhältnisse das Volk als kollektiven Agenten, der die Interessen der Allgemeinheit artikuliert und idealerweise das politische Programm so weit kontrollieren kann, dass dieses sich nicht gegen das Volk richtet. (174f) Da dieser Zusammenhang aber für Mehrheitstyrannei und Korruption anfällig bleibt, bedarf es für Pettit einer Ergänzung, die dem Volk im „distributiven“ Sinne („people in the several or distributive sense“ (178) – im Deutschen ist vielleicht der Begriff der Bevölkerung passender, der jedoch andererseits auch gleich eine Menge statistischer, demographischer und unpolitischer
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In der Praxis politischer Vergesellschaftung konstituieren und identifizieren sich offenbar die genannten Bestrebungen nicht als Negation ihrer Negation, über die Abgrenzung von einem Anderen, welches oder welcher ihre Identität radikal bedrohen würde, sondern in einer speziellen Weise der Einbeziehung des (inneren wie äußeren) Anderen. Aber gerade diese „spezielle Weise“ ist untrennbar mit dem Bezug zu einer Autorität verbunden, die ihrer Spannung enthoben ist. („Ideale Ordnung“ und „Volkssouveränität“ stellen, um im Rahmen der oben genannten Szenarien zu bleiben, in beiden Fällen normative Prinzipien eines politischen Regimes dar, das von den spannungsvollen „sozialen“ Verhältnissen unterschieden werden kann.) Beide postulieren die „Macht“ als eine legitimerweise von ihnen unterschiedene Größe, deren sozusagen orthogonale Distanz die Spannung zwischen den gesellschaftlichen Kräften so reflektiert, dass diese sich insgesamt in einen wenn nicht stabilen, so doch permanenten sozialen Zusammenhang einordnen lassen. Das Erscheinen der Macht ist selbst ein Moment in der Institution des Sozialen; nur insoweit es eine Klassenteilung gibt, kann eine abgelöste Macht entstehen. Diese aber reproduziert die Teilung, die sie doch übersteigen soll. Man mag glauben, sie gewähre die Einheit, doch diese Einheit ist nicht wirklich. Wäre sie es, die Macht würde sogleich in die Substanz einer Gemeinschaft absorbiert, die endlich – als Konsequenz des Wirkens der Macht – zu sich selbst gekommen wäre. In Wahrheit kann die Macht dafür lediglich einen Ersatz bieten. Dieser ist nun aber nur unter der Bedingung effektiv, dass der Fürst die besprochene Teilung zugleich darstellt und verbirgt.107
Die Identität jenes Pols ist jedoch in der beschriebenen Weise der Vermittlung ebenso sehr eine unverzichtbare Unterstellung wie, trotz allem, ein Trugbild. Zwar kann man gerade bei Machiavelli studieren, wie sich die Position der Macht auf der Basis der Spannung zwischen Freiheitsstreben und Herrschsucht in unter Umständen recht Konnotationen mit sich führt.) einen Einfluss sichert. So schlägt er kontestative Einrichtungen vor, die von individuellen Beschwerden ausgehend, politische und legislative Unterscheidungen in eine Schleife der Revision zwingen. „Where the electoral mode of democratization gives the collective people an indirect power of authorship over laws, the contestatory would give the people, considered individually, a limited and, of course, indirect power of editorship over those laws.“ (180). (Viele differenzierte Momente der Pettitschen Theorie, insb. im Zusammenhang mit seinem Freiheitsbegriff und mit dem Kalkül verschiedener Arten von Interessen, müssen hier natürlich ausgeblendet bleiben.) Im Vergleich mit Leforts Theorie fällt auf, dass letzterer zwar ebenso die Kontestation als wesentliches Movens der Demokratie ansieht, aber die Einrichtung kontestativer Institutionen, die den einzelnen Individuen kodifizierte Mittel dazu an die Hand gibt, übergeht. Umgekehrt erweitert Lefort das Spektrum der Kontestation so, dass darunter nicht mehr nur Individuen, sondern auch kollektive Akteure – und eben auch außerhalb rechtlich institutionalisierter Verfahren zu rechnen sind. Zu einer „radikaldemokratischen“ Auseinandersetzung mit Pettit vgl. auch. Vatter 2005. 107 Lefort 1986b, S. 433. Oder: „[W]ir müssen begreifen, [. . .] dass der Fürst nicht nur eine dritte Kraft in dem Kampf ist, der die beiden ersten gegeneinander aufstellt, von diesen faktisch unterschieden [. . .], sondern dass er sich in einer Teilung erhebt, [. . .] die sich der Klassenteilung nicht hinzufügt, sondern diese auf ein anderes Niveau verschiebt, bzw. sie auf gewisse Weise reflektiert und in diesem Sinne die symbolische Ordnung der Politik einrichtet.“ (ebd., S. 578) In diesem Sinne entspricht auch die Teilung von Staat und Zivilgesellschaft der inneren Konfliktualität der Gesellschaft – und des Zwiespalts, in dem sich jedes einzelne dieser gesellschaftlich-politischen Momente befindet.
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stabiler Weise aufbaut. Aber im Grunde bleiben die Dynamik dieser Spannung, die mangelhafte Identität der sozialen Tendenzen und auch noch der imaginäre Charakter der Macht alles andere als eine verlässliche, stabilisierende Grundlage. Zudem unterhält die Macht schließlich doch zu einem Element jenes Zusammenhangs ein besonderes Verhältnis, nämlich zum Freiheitsstreben des Volkes. Allerdings greift ausgerechnet dieses Verhältnis ihre Identität beständig und radikal an: nur durch die vorbehaltlose Bindung an das durch sein Freiheitsstreben charakterisierte Volk kann die politische Macht sich stabilisieren (und legitimieren), muss jedoch zugleich eine Distanz zu ihm bewahren, um nicht zu einer gesellschaftlichen Kraft unter anderen zu verkommen, die dem Freiheitsstreben qualitativ überhaupt nichts hinzuzufügen hätte und die, viel wichtiger, keinen Anhaltspunkt für die Integration der sozial konfligierenden Parteien bieten könnte. Eine politische Macht, die sich wahrhaftig und gänzlich dem unbeschränkbaren Anspruch auf Freiheit von Zwang und Unterwerfung verschriebe und ihn durchzusetzen versuchte, würde sich selbst und damit auch die Konstitution der politischen Gemeinschaft als solcher dementieren. Unabhängig von der Besetzung dieser Position der Macht – etwa durch einen Fürsten oder durch den Volkssouverän – ist ihr ihre symbolische Bedeutung wesentlich, und die ist irreduzibel ambivalent. Indem er [. . .] versteht [. . .], was das Begehren der hohen Herren und das Begehren des Volkes in seiner jeweiligen Einzigartigkeit ausmacht, entdeckt der Fürst die Grenzen der Objektivierung und erscheint sich selbst als innerhalb der Gesellschaft befindlich, mit Macht ausgestattet und berufen, die imaginäre Gemeinschaft zu verkörpern; er nimmt sich als die Identität wahr, ohne die der Körper der Gesellschaft zerfiele. In dieser Umkehrung der Perspektive wird die Wahrheit der Trennung erreicht: Tatsächlich lernt der Fürst, dass er sich nicht mit dem Bild, welches die Herrschenden oder die Beherrschten von ihm entwerfen, identifizieren kann, ohne sich selbst aufzugeben. In demselben Moment, in dem er seine Abhängigkeit erfährt und in dem er um seine Bindung an das Volk weiß, muss er es sich versagen, dessen Begehren nachzukommen. Er muss es vielmehr offen halten, um zu jenem Dritten zu werden, an dem sich die politische Ordnung errichtet.108
Die politische Macht sieht sich in der Erwartung identifiziert, dass sie durch die Erziehung der Staatsbürger und durch die Erzwingung von Nachachtung gegenüber den bestehenden Institutionen die „Zivilität“ des Austrags von Antagonismen und so die Rationalität des gesellschaftlichen Kooperationszusammenhangs gewährleiste; dass sie gegenüber Akteuren, die ihre „soziale Macht“ für partikulare Interessen einsetzen, die unabhängige Verfolgung des Gemeinwohls oder Allgemeininteresses durchsetzen möge; und dass sie schließlich in (immer ungenügender) Reaktion auf die Forderung nach Herrschaftsfreiheit ein System von verrechtlichten Freiheiten artikulieren und in die Struktur der gesellschaftlichen Organisation einschreiben möge. In allen diesen Perspektiven sichert die politische Macht einerseits die Integration 108 Lefort 1986b, S. 434. Es ist ersichtlich, dass vieles dieser Charakterisierung auf den Souverän einer Demokratie übertragen und in einer bestimmten Lesart als „subjektlose“ Volkssouveränität verstanden werden kann, z. B. als Facette des Habermas’schen Gedankens einer „Filterfunktion“ deliberativer Körperschaften. Allerdings wird sich das Bild mit dem Übergang zur modernen Demokratie aufgrund weiterer Elemente noch deutlicher verschieben. Mehr dazu unten.
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der Gesellschaft (und ist in ihrer konkreten Gestalt Ausdruck der Identität dieser politischen Gemeinschaft), während sie andererseits zugleich die Spannung, und das heißt die Teilung der Gesellschaft bezeugt. Allerdings ist diese Unsicherheit [zwischen imaginärer Auf- und Abrüstung des Volkes durch die Figur und das Verhalten des Fürsten – A. W.] nicht nichts: wenn der Fürst die Ambivalenz der Politik anerkennt, öffnet er sich bereits für die Wahrheit. [. . .] Machiavelli suggeriert uns, dass seine Überlegungen in dieser Entdeckung gipfeln. Der Fürst affirmiert sich nur als solcher, als politisches Subjekt, wenn er die für die Wirklichkeit konstitutive Unbestimmtheit aufrecht erhält. [. . .] Dann ist er also nicht in der Objektivierung wahrhaft Subjekt – denn die vorgebliche Objektivität würde ihm seine eigene Position verbergen –, sondern in dieser besonderen Befragung, die sich ihm von der Bewegung her aufdrängt, welche ihn aus sich heraus- und zu sich zurücktreibt.109
3.2.3.2 Faktizität und negative Politik Neben der Privilegierung der Bindung an das Volk und an dessen Widerstandskraft zur strategischen Absicherung der Position der Macht110 sind die beiden Bestrebungen nun aber auch in einer weiteren, ungleich wichtigeren Hinsicht alles andere als äquivalent. Denn das Freiheitsstreben des Volkes übersteigt jedes Verhältnis eines bloßen Kräftemessens im Rahmen unterschiedlich ideologisch aufgeladener gesellschaftlicher Institutionen. Seine interne Spannung sprengt die Beschränkung auf die instrumentelle Inanspruchnahme der Politik und macht es zu einem Streben, das die Gesellschaft insgesamt hinterfragt, sich mit ihr und ihren aktuellen Institutionen nicht wirklich beruhigen kann, sondern den Sinn der politischen Vergemeinschaftung als jeweils noch weiter bestimmungsbedürftig immer wieder neu aufbricht.111 Diese Kritik an den Institutionen speist sich nicht allein daraus, dass die Institutionen in ihrer Faktizität nicht mit ihrem Begriff, mit der von ihnen beanspruchten und versprochenen Geltung oder mit dem imaginären Pol der Macht zusammenfallen, sondern weil auch noch diese Momente der Idealisierung, weil die Gesellschaft insgesamt in Spannung zu einem (uneinlösbaren und jede Artikulation übersteigenden) Recht auf Herrschaftsfreiheit gedacht wird. An einigen Stellen referiert Lefort dieses transzendente Recht in Anspielung auf Hannah Arendt als das „Recht, Rechte zu haben“; damit meint er die Möglichkeit, konkrete Institutionen und spezifische Freiheiten einfordern zu können, weil die Gesellschaft insgesamt in der Pflicht steht, die Freiheit nicht einzuschränken. Anders als bei Arendt hat dieser Gedanke bei Lefort allerdings eine unmittelbar politische Dimension. 109 Ebd., S. 435. 110 Und abgesehen von der normativen Beurteilung der beiden gesellschaftlichen Tendenzen – die im Übrigen auch Machiavelli selbst vornimmt: „Denn das Streben des Volks ist rechtschaffener als das der großen Herren“ (Machiavelli 1978, Kap. 9, 40) Vgl. Lefort 1986b, S. 385f. 111 „Die Täuschung in der Position des Volkes gibt sich [. . .] im Wunsch nach einer Macht zu erkennen, die in den Händen der Machtlosen läge. Selbst wenn diese Täuschung sich unablässig neu etabliert, wird sie jedoch von dem Begehren, nicht unterdrückt zu werden, aufgelöst, denn sie ist immer an ihrem Umschlagpunkt, [. . .] d. h. an dem Ort, der von der herrschenden Klasse eingenommen wird. Streben nach Sein und Negativität in actu, hierdurch vermittelt sich endlich das Wesen der Gesellschaft, über jede gegebene Wirklichkeit hinausschießend.“ (ebd., S. 728f)
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Das Gesetz kann weder unter dem Rubrum eines Richtmaßes gedacht werden, noch kann es an die Tat einer vernünftigen Instanz gekoppelt werden, die den Begehrlichkeiten der Menschen eine Grenze zöge, noch kann es als Effekt einer natürlichen Regulierung dieser Begehrlichkeiten verstanden werden, die sich durch die Imperative des Überlebens der Gruppe aufdrängte. Es wird aus der Maßlosigkeit des Freiheitsbegehrens geboren, welches gewiss an das Begehren der Unterdrückten gebunden ist – die etwas suchen, worein ihr Ehrgeiz münden kann –, aber nicht darauf reduziert werden kann. Denn ganz streng genommen hat es keinen Gegenstand, ist reine Negativität, Zurückweisung der Unterdrückung. So müssen wir auch in dem, was zunächst wie eine Entfesselung populärer Leidenschaft, wie eine Aggression gegen den Staat [. . .] erscheint, einen anderen Überschuss erkennen: denjenigen des Begehrens über die Begehrlichkeit (celui du désir sur l’appétit), der allein den Überschuss des Gesetzes über die faktische Ordnung des Gemeinwesens begründen kann. Begnügen wir uns also nicht mehr damit, zu sagen, dass es da etwas in der Unordnung gibt, auf dem sich eine Ordnung begründen lässt [. . . E]s ist die Arbeit des Begehrens, die die Frage nach der Einheit des Staates offen hält und die, indem sie diese Frage bloßlegt, diejenigen, die ihn lenken, dazu anhält, seine Bestimmung zur Disposition zu stellen.112
So ergeben sich für Lefort faktische Politik und die je historisch konkrete Gestalt der Institutionen und Gesetze zu einem wesentlichen Teil aus der Dynamik des Konflikts zwischen der Organisation von integrierenden Kräften und dem bloß negativen Widerstand der jeweils Entmächtigten. Jene integrierende Ordnung umfasst dabei nicht nur die konkrete Gestalt der Institutionen, sondern auch abstraktere Zwänge, welche sich aus dem Bedarf an einer solchen Organisation unausweichlich ergeben.113 Politik, Institutionen und Gesetze sind Gestalten einer sozialen Praxis, die ihren „Antrieb“ in der Spannung zwischen der Vorstellung einer Macht, die die Gesellschaft integriert und der Feststellung von intolerablen Herrschaftseffekten in der vermeintlich integrierten Gesellschaft besitzt. So geht Lefort mit Machiavelli konform, wenn er die gesellschaftliche Ordnung als jeweils momentanen Ausdruck, nicht als Überwindung eines gesellschaftlichen Konfliktes sieht. Es gilt anzuerkennen, dass es keine Grenze zwischen [der] Herrschaft [des Begehrens] und derjenigen des Gesetzes gibt, dass dieses im unabschließbaren Spiel seines Vordringens und seiner Rückfälle unter dem Einfluss jener doppelten Bewegung bleibt, und dass es nichts gibt, das es erlaubte, sich der Teilung zwischen den Klassen zu entziehen. [. . . D]ie Ordnung instituiert sich nicht in der Absetzung von der Unordnung, sie konjugiert sich vielmehr mit einer fortwährenden Unordnung.114
Dass es sich hier, anders als bei vielen anderen Theorien, die von der Irreduzibilität politischer Konflikte ausgehen, nicht um die philosophisch neutrale Registrierung der Bindung gesellschaftlicher Institutionen an die Entwicklung eines fundamentalen Antagonismus handelt, liegt auf der Hand. Denn Lefort geht es nicht darum, 112 Lefort 1986b, S. 477. Mit der darin angedeuteten Dimension des Lefortschen Rechtsbegriffes werden wir uns noch beschäftigen, ebenso wie der „politische“ Freiheitsbegriff Leforts noch der Bestimmung harrt. S. u., S. 142. 113 Weder muss man sich vorstellen, dass sich das Freiheitsstreben des Volkes an Habermas’ System der Rechte stösst, noch darf man aber davon ausgehen, dass es eine faktische Institutionalisierung jenes Systems auch nur geben könnte, die nicht in Spannung zu jenem Streben geriete – und die so nicht in eine historische, d. h. offene politische Praxis einbeschrieben werden müsste. 114 Lefort 1986b, S. 724. Vgl. auch Lefort 1992d, S. 144 oder Berns 2001.
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festzuhalten, dass es in einer pluralistischen Gesellschaft immer Konflikte zwischen verschiedenen Tendenzen und Gruppierungen geben wird – die sich z. B. unterschiedlicher symbolischer Ressourcen und Techniken bedienen, um eine hegemoniale Vormacht herzustellen und zu erhalten.115 Es ist vielmehr ein bestimmter, eher struktureller denn faktischer Konflikt, der von Lefort als jeder politischen Gesellschaft irreduzibel innewohnend angenommen wird: der konfliktuelle und kontinuierliche, nur als ein historischer gehaltvolle Kampf gegen Formen der Herrschaft. Es sind keine Klassen, die in ihrer unpolitisch definierten Substanz identisch bleiben und im politischen Kampf um die Gestaltung der Institutionen mal mehr und mal weniger die Oberhand haben; sondern es ist im jeweiligen Konflikt die Freiheit von einer bestimmten Gestalt der Herrschaft, die auf dem Spiel steht und errungen wird (oder eben nicht), und die Konfliktparteien bilden sich gleichsam ihrer Substanz nach in und für diese Auseinandersetzung. Die irreduzible und untilgbare Teilung, die Lefort immer wieder ins Feld führt, ist also nicht die zwischen sozialen oder politischen Gruppierungen, sondern die zwischen dem Freiheitsstreben und den faktischen (Herrschafts-)Verhältnissen. Freiheits- und Herrschaftsstreben sind wesentlich gehaltvoller als die Spannung zwischen eigenem Interesse und dem Zwang zu seiner rhetorischen Universalisierung im politischen Geschäft, der die Parteien in einem „bloß“ antagonistischen Szenario unterliegen. Und wenn vom Bestehen eines politischen Zusammenhangs die Rede sein soll, dann muss damit gemeint sein, dass weder diese Teilung noch die Integration „das letzte Wort hat“; dass vielmehr die gesellschaftlich-politische Praxis auch als die unabschließbare Frage nach dem Sinn aller dieser Momente erscheint.116 In einem solchen Zusammenhang führt das 115 So die von Chantal Mouffe vorgeschlagene, an Schmitt und Laclau anschließende Theorie radikaler Demokratie. Vgl. z. B. Mouffe 1993 oder Mouffe 2007. Diese übersieht, sofern sie sich auf Lefort berufen zu können meint, dass bei diesem das Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Parteiungen nicht nur empirisch und kontingenterweise, sondern konzeptuell und normativ asymmetrisch ist. (Vgl. ähnlich Marchart 2007) Gegen Schmitt insbesondere lassen sich aus der Lefortschen Theorie eine ganze Reihe weiterer Argumente mobilisieren. So ist das Schema der Identifikation einer Nation durch die eines lebensbedrohlichen Gegenspielers im Außen – oder auch dessen „Agenten“ im Innern – für Lefort unvorstellbar. Zwar betrifft die Figuration von Gemeinschaft auch deren Außenverhältnis, sie ergibt sich jedoch aus der Spannung des, und als Antwort auf den jeweiligen historischen Stand und die Entwicklung des internen Konflikts um politische Freiheit. In diesem Sinne determiniert das Innen- das Außenverhältnis. Und natürlich gilt dies a fortiori in der Demokratie. (Vgl. Lefort 1986b, S. 551–554.) Ein weiteres wichtiges Motiv, das Lefort selbst gegen Schmitt wendet, ist die Implikation des Rechts in der Demokratie. Hier ist es nicht der im Ausnahmezustand entscheidende politische Souverän, der den Rechtszustand einrichtet – „[d]ésormais, le fait décide du droit“ (Lefort 1994b, S. 51). Sondern es ist genau umgekehrt: die Institution des Rechts ist es, die allererst den Raum der Politik eröffnet. So ist die Staatsräson nicht etwas dem Recht und der Moral jenseitiges, sondern an diese gebunden, ihnen konstitutiv verpflichtet. Wir kommen auf diesen Gedanken in der Diskussion des Rechts bei Lefort zurück. 116 „Ebenso wie man das Begehren nicht an seinem Trug festmachen kann, ohne sich zugleich von dem Bezug abzuschneiden, in dem allein dieser zugänglich ist, und wie man sich nicht darauf beschränken kann, sei es die Teilung des Begehrens, sei es seine Unteilbarkeit festzustellen, ohne sich der Entdeckung des jeweils einen im anderen zu verschließen, ebenso verwehrte man sich, wenn man bei der bloßen Idee eines Abgrunds der Gesellschaft halt machen wollte, der
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Freiheitsstreben des Volkes dazu, dass der Prozess der fortwährenden Etablierung neuer freiheitssichernder Institutionen nicht bloß das immer neue Aushandeln von Kompromissen zwischen konkurrierenden (Privat-)Kräften ist, sondern dass in ihm die Gestalt, der Sinn und die Legitimität der politischen Gemeinschaft insgesamt auf dem Spiel stehen. Diese Auffassung erlaubt es Lefort, die Äußerungen Machiavellis zur Notwendigkeit einer periodischen Rückführung der Gesellschaft auf ihr Begründungsmoment in einer (gegenüber Machiavellis eigenen Formulierungen) weniger befremdlichen Weise zu lesen: Die Rückführung der Ordnung und der Gesetze auf ihren Grund ist dann ihre Bindung an Institutionen, die weniger einen politischen Akteur (Fürst, Klasse oder Volk) in Aktion setzen als vielmehr die Identifikation eines Akteurs mit der Macht gerade verhindern.117 Freiheit kann sich nur in Institutionen erhalten, die für die Anonymität der Macht an der Quelle des Rechts sorgen – indem sie, vom Freiheitsstreben des Volkes mit negativer Kraft ausgestattet, jede Identität an dieser Position zerstören und ihr die gesellschaftliche Konfliktualität einschreiben. Das einschlägige Beispiel in Machiavellis Diskussion der republikanischen Verfassung ist natürlich das Tribunat: So schätzt er in der Einrichtung der römischen Gesetze die Erfindung des Tribunats als exemplarisch ein. Diesem schreibt er den Verdienst zu, in der frühen Phase der Republik der Unverschämtheit der hohen Herren eine Grenze gezogen zu haben. Dieser ordine – wie er es nennt –, war natürlich das Ergebnis eines Gesetzes, aber man muss feststellen, dass er sich auf einzigartige Weise von anderen Gesetzen unterschied, indem er nämlich der Verfassung ihren Grund gab. Wenn man sich den beiläufig angebrachten Vergleich zwischen der Funktion des Tyrannen und derjenigen des Tribunats vergegenwärtigt – beide imstande, die Begehrlichkeiten der hohen Herren einzudämmen –, so ist man geneigt zu denken, dass es zwischen der persönlichen Macht des Prinzen und der anonymen Macht der Institution keinen wesentlichen Unterschied gibt. [. . .] So erklärt sich der Vergleich zwischen den Tarquiniern und dem Tribunat. Gemessen an der Bedrohung, die durch die hohen Herren auf dem Volk – und auf dem Staat – lastet, ist ihre Funktion identisch; jedoch erweist sich das Regime der Tyrannis als der Republik grundlegend fremd, sobald man im einen den vollendeten Ausdruck der Aneignung des Staates durch einen Partikularen und in der anderen den der Anonymität der Macht erkennt. Fortan verbietet Machiavelli zu denken, dass die Institutionen der Republik lediglich die Rolle eines Dritten im Kampf der Klassen spielen: das Tribunat, in dem sich die Kraft des Gesetzes zum Ausdruck bringt, hat das Verbot der Besetzung der Macht durch eine Person zum Resultat [. . .] und in diesem Sinne ist es nur als Organ der Negativität wirksam.118 Erfahrung des Subjektes Rechnung zu tragen, das in dieser verwurzelt ist. Spräche man nur von einer unhintergehbaren Trennung der Gesellschaft, so vergäße man, dass im Un-Sinn des Wiederzusammenfügens doch das Zeichen des zerreissenden Stoffes fortdauert und dass der Schleier, welcher den Riss verbirgt, selbst durch dessen Kette gewebt wird.“ (Lefort 1986b, S. 729) 117 Ebensowenig wie die Rückführung auf die Autorität eines souveränen Akteurs besteht die Rückführung natürlich in der Begründung durch die Klugheit eines den sozialen Zusammenhang überschauenden Gesetzgebers. Während Machiavelli auf raffinierte Weise das Modell jener Klugheit mit dem Lykurg Spartas inszeniert, um es um so nachhaltiger zu zerstören, scheint es gegenwärtig – zumal gegenüber der Diskurstheorie – ohnehin keinen attraktiven Begründungsmodus darzustellen, daher kann es hier übergangen werden. 118 Lefort 1986b, S. 473–476.
3.2 Das Symbolische und das Politische
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Zugleich weist Leforts Diskussion der Machiavellischen Texte darauf hin, dass mit der Bindung von Gesetzen an bestimmte Institutionen das Problem keineswegs bereits gelöst ist: So mögen sich zwar die Institutionen der Vorstellung eines Abschlusses der politischen Gemeinschaft versperren. Dass sich die Identität und der Sinn dieser Gemeinschaft jedoch als Frage stellen – und nur dies hält das politische Gemeinwesen so vital, dass sich keine Herrschaftsmechanismen verfestigen können –, das kann nicht durch Institutionen gewährleistet werden, sondern muss an Überlegungen zum Thema der politischen Subjektivität angeschlossen werden. Weder die Gestalt der Institutionen, noch die Intentionen und Tugenden der Bürger können dabei für sich genommen Klarheit schaffen, sondern nur eine Analyse der je konkreten geschichtlichen Entwicklung der politischen Verhältnisse einer bestimmten Gesellschaft (die also individuelles und kollektives Verhalten, Institution und Rebellion umfassen).119 Und während Machiavelli diese Fragen in verwickelten Ausführungen zu Korruption, Verschwörung, zyklischem Geschichtsverständnis usw. behandelt, macht Lefort doch zumindest klar, dass es dabei um das politische Subjekt als pouvoir constituant geht, dass es als solches eine gewisse Distanz zur geltenden Ordnung einnimmt, und dass seine Stiftungsleistung sich nicht so sehr auf einen einmaligen Gründungsakt als vielmehr auf die stets aktuelle, mit einer eigenen Zeitlichkeit auftretende Intervention in bestehende Zusammenhänge bezieht.120 Die Ambivalenzen dieses Zusammenhangs sind – zumal wenn man die Machiavellischen Themen in Rechnung stellt – ebenso offenkundig wie diffizil,121 und da die erforderliche Analyse – bei a priori begrenzter Reichweite und Aussagekraft – den Rahmen dieser Überlegungen sprengen würde, bescheiden wir uns mit der Auszeichnung weiterer allgemeiner Motive, die gleichsam die Parameter für diese Subjektivierung zu bilden haben. Diese allgemeinen Motive führen schließlich auch über Machiavellis Renaissance-Republikanismus hinaus. Denn wie sich wohl bereits erahnen lässt, ist es die moderne Demokratie, die Lefort zufolge diesen Streit um den Sinn ihrer selbst in besonderer Weise zum Fundament der politischen Macht gemacht und so der 119 Vgl. z.B. ebd., S. 512f. 120 Vgl. etwa ebd., S. 500, 600–606, 617–621, 637f. 121 „Selbst wenn man jedoch zugibt, dass die Politik niemals reine Mystifizierung ist, so bleibt es doch dabei, dass sich im Schatten des Verhältnisses, welches sich zwischen dem Fürst und seinen Subjekten bildet, mehrere Politiken abzeichnen. Selbst wenn man zugibt, dass die Wirklichkeit der Macht an ein Imaginäres gebunden ist, so bleibt es doch dabei, dass dieses nicht in allen Fällen von demselben Stoff ist. [Die Beispiele, die uns Machiavelli gibt – A. W.] sind da, um uns an die Existenz einer schwarzen Macht zu erinnern.“ (ebd., S. 415f) Damit ist nun nicht eine sich politisch-imaginär legitimierende Macht gemeint, hinter der in Wirklichkeit ein unmoralischer Despot steckt und unter deren Deckmantel er seine partikularen Interessen verfolgt, sondern die Möglichkeit, dass eine Macht, die sich als legitime und gemeinwohlorientierte konstituiert, selbst als solche dennoch tatsächlich fatale Folgen haben kann und unter Umständen faktisch keineswegs der Überwindung oder Abwehr von Unrechts- und Gewaltverhältnissen dient, sondern deren Ermöglichung und schleichender Etablierung – abhängig vom weiteren gesellschaftlichen Kontext. Dies ist es, was Machiavelli unter dem Stichwort der „Korruption“ thematisiert. Vgl. ebd., S. 418–423. Ähnlich problematisch ist die Ungewissheit bezüglich des pouvoir constituant selbst, welches mal als Gründungs-, mal als Verschwörungsfigur thematisiert wird. Vgl. etwa ebd., S. 617–621.
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politischen Vergesellschaftung zu einem unverstellten Spiel- und Entwicklungsraum verholfen hat.122 Zugleich besteht Lefort darauf, dass uns die Demokratie zwingt, unsere Analysen aus einer einfachen Opposition eines „dominierenden“ und eines „revoltierenden“ Pols, welche lediglich in unterschiedlichen Gesellschaften von unterschiedlichen Akteuren eingenommen würden, zu lösen und sie vor dem Hintergrund der Opposition von Demokratie und Totalitarismus zu verkomplizieren.123 Wenden wir uns also nun den Lefortschen Ausführungen zur modernen Demokratie zu. 3.3 DIE DEMOKRATIE UND DIE POLITIK Wie angedeutet, untersucht Lefort den Sinn politischer Ideen nicht allein in der Befragung klassischer Texte, sondern auch in der Diskussion von Ereignissen der Tagespolitik. Da dieses zweite Standbein seiner Theorie eine Rolle vor allem im Rahmen der Analyse der totalitären kommunistischen Regimes und ihrer Konfrontation mit der „demokratischen Erfindung“124 spielt, werden wir solchen Diskussionen in diesem Abschnitt eher begegnen. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass er auch in diesem Rahmen beide Motive ausspielt: So kommentiert er die diversen Aufstände in der DDR, Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei, die Transition Frankreichs zur V. Republik und die Transformationen im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg, die Aufstände von 1968, die Wahlerfolge der FIS in Algerien oder des Front National 122 Und so ist es auch bezeichnend, wenn ein – angesichts Leforts hermeneutischen Vorgehens im Machiavel doch überraschender – Verweis auf die andernorts unternommenen Analysen von Bürokratie und Totalitarismus einerseits und moderner Demokratie andererseits sich im Zusammenhang einer Reprise dieses Arguments findet: „In der Tat verstehen wir, dass die Gesetze zugunsten der Freiheit nicht einfach bestimmte Gesetze unter anderen sind; wie es an anderer Stelle die Analyse von Regimes zeigt, welche die Forderungen des Volkes ersticken, unterstellt die Existenz des Gesetzes mit einer Missbilligung der Gewalt immer die Anerkennung des Begehrens des Unterdrückten. In diesem Rahmen sorgt allerdings die Macht der hohen Herren und die Ohnmacht des Volkes dafür, dass sich der soziale Zusammenhang versteinert und dass der politische Körper, wenn er nicht durch Kunstgriffe vor äußerlichen Bedrohungen bewahrt wird, der Zersetzung anheim gestellt ist. Wo aber das Gesetz lebendig bleibt, d. h. den Menschen die Macht gibt, ihr Handlungsfeld zu erweitern, da geht es durch neue Institutionen zugunsten der Freiheit hindurch; und dieser Durchgang ist ihm durch den Klassenkonflikt eröffnet.“ (Lefort 1986b, S. 724f) 123 Diese Kritik richtete sich in der Zeit, in der Lefort sie explizit formulierte, in erster Linie gegen die Theorien der sogenannten nouveaux philosophes. Diese hatten auf der Basis einer diagnostizierten quasi-ontologischen Konfrontation zwischen einer ubiquitären, oppressiven Macht und dem individuellen Leiden und Widerstand, wie sie sie von den totalitären Systemen unabweisbar zum Ausdruck gebracht worden sei, das Projekt einer Überwindung der „alten“ Philosophie und die Etablierung einer entsprechenden relationalen Macht-Metaphysik und einer hochgradig moralisierten Ethik des Guten und Bösen entworfen. Unabhängig von diesem zeitgeschichtlichen Kontext geben die Überlegungen Leforts aber auch wieder, wie sich vor dem Hintergrund seiner Untersuchungen sowohl eine strukturalistische Macht-Theorie als auch eine Ethik, die ihren normativen Ausgang im individuellen Leiden und der individuellen Rebellion nimmt, die Ebene des Politischen – auf der sich Demokratie und Totalitarismus von Tyrannei und voneinander in prägnanter Weise differenzieren lassen – gerade verfehlen. Vgl. Lefort 2007m, S. 285f, Lefort 2007q, S. 365, Lefort 1994b, S. 51 und Lefort 1994f. 124 Lefort 1994e.
3.3 Die Demokratie und die Politik
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in Frankreich und den Krieg in Bosnien. Zugleich beruht die Elaboration seiner Demokratietheorie aber weiterhin auch auf der Rezeption vielfältiger Register der politischen Theorie, wie etwa der soziologischen und historischen Analysen der französischen Revolution des frühen 19. Jahrhunderts – etwa durch Michelet, Quinet, Guizot, Tocqueville –, auf Lektüren von Solschenyzins Archipel Gulag, Rushdies Satanischen Versen, Orwells 1984 oder den Auseinandersetzungen mit Werken von Pierre Clastres, Fernand Braudel, Edgar Morin, Raymond Aron, Hannah Arendt und Leo Strauss – und immer wieder auch Lektüren von Marx und Machiavelli.125 In einem Aufsatz von 1963 verbindet Lefort so etwa einen Kommentar zur Entwicklung des politischen Denkens von Merleau-Ponty mit der Konfrontation zwischen einem linken Demokratiebegriff und einer Analyse des Gaullismus im Ausgang des Algerienkrieges. Bereits in diesem Aufsatz zeichnet er ein komplexes Bild moderner demokratischer Gesellschaften, das sich sowohl gegen eine bürgerliche als auch gegen eine kommunistische Ideologie in Stellung bringt: Vielleicht sähe man, wenn man das Spiel der Kräfte aufmerksamer betrachtete, dass dieses von einem Zustand der Gesellschaft unablösbar ist, von dem die Interessenkonflikte lediglich ein grobes und unvollständiges Bild abgeben. Um ihn zu definieren müsste man die Bedürfnisse der Menschen kennen, die Rechte und die Vermögen, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt, oft dank ihrer vorangegangenen Kämpfe, errungen haben und die ihnen zur zweiten Natur geworden sind. Man müsste die Unduldsamkeit kennen, die sie im Hinblick auf alle Veränderungen an den Tag legen, welche jene Rechte und Vermögen erneut zur Disposition stellen könnten, schließlich den Druck, den sie durch ihre Forderungen auf die wirtschaftlich bestimmenden Gruppen ausüben. Dann würde sichtbar, dass der Sieg des Gaullismus über seine Gegner mindestens zum Teil ein Effekt der immer engeren Grenzen ist, an denen sich die Macht in einer entwickelten Industriegesellschaft stößt. Folglich wäre die Abwesenheit eines Klassenkampfes in Frankreich keineswegs mehr skandalös, man entdeckte darin, statt eines Anzeichens für eine Regression des Proletariats, viel eher den Hinweis auf ein neues System von Beziehungen, welches den Konflikt nicht ausschließt, sondern dazu tendiert, unter der konstanten Bedrohung, die jener auf ihm lasten lässt, seine eigene Regulierung zu finden.126
Hatte sich Lefort spätestens seit 1956 der Analyse des Totalitarismus (und nicht mehr nur der Bürokratie als einer Ausartung des Kommunismus) gewidmet und sich dessen gesellschafts-instituierende symbolische Dimension vergegenwärtigt,127 so belegen seine Arbeiten seit der Mitte der sechziger Jahre, dass diese Ausarbeitung des Totalitarismus-Konzepts für ihn mit einer Befragung der Demokratie einhergeht, welche deren Bedeutung ebenfalls auf dieser Ebene entfaltet und vor welcher der Totalitarismus erst verständlich wird. 125 Vgl. etwa die Beiträge in Lefort 1979a; Lefort 1994e; Lefort 1986a; Lefort 1992a und zuletzt Lefort 2007k. Vgl. auch die Vorworte in Michelet 2002; Guizot 1988 und Quinet 1987. 126 Lefort 1978d, S. 52. 127 „Zweifellos habe ich ab 1956 begonnen, in Begriffen des Totalitarismus zu denken. Zu jener Zeit, nach der Kruchtschow-Geheimrede, habe ich in Socialisme ou Barbarie eine lange Studie über das sowjetische Regime veröffentlicht, die den Titel ‚Le totalitarisme sans Staline‘ trug. [. . .] Gegenwärtig würde ich gern sagen, dass wir das bürokratische und das totalitäre Phanämen unterscheiden müssen. Die Bürokratie ist eine soziale Schicht: man kann sie in grundlegend verschiedenen, in bestimmten Fällen sehr alten, historischen Formationen ausmachen. Der Totalitarismus hingegen ist ein wesentlich modernes, meta-soziales politisches Phänomen.“ (Lefort 2007p, S. 350) Vgl. Lefort 1979f.
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3.3.1 Der leere Ort der Macht Der Topos, der in der Rezeption von Leforts Demokratietheorie wohl am prominentesten ist, ist seine These vom „leeren Ort der Macht“.128 Die Pointe dieser These besteht allerdings nicht so sehr darin, dass in der Demokratie die totalitäre Ermächtigung, also die Besetzung jenes Ortes durch eine Person oder eine Partei lediglich verboten oder durch kluge institutionelle Regelungen verhindert würde, sondern vielmehr darin, dass die demokratische Revolution in einer Veränderung der Struktur jenes Orts der Macht besteht, die ihn prinzipiell unbesetzbar macht.129 Dies geschieht 128 Vgl. Rödel 1990b, S. 20–22 und den in Übersetzung in denselben Band aufgenommenen Aufsatz Lefort / Gauchet 1976, der eine Vorlesung Leforts von 1966/67 wiedergibt. Auch Jürgen Habermas führt diese These ins Feld und beruft sich dazu auf die Untersuchung, die Rödel gemeinsam mit Günter Frankenberg und Helmut Dubiel vorgelegt hat. (Vgl. Habermas 1994a, S. 534, Rödel / Frankenberg / Dubiel 1989, Kap. IV.) Dort allerdings wird dem wilden, konfliktuellen Charakter der Politik und der Idee, dass jeder Mensch ein Recht in Anspruch nehmen kann, welches nicht nur andere zivilgesellschaftliche Akteure betrifft, sondern auch das politische System radikal infrage stellen kann, welches sogar den gegenwärtig vorherrschenden Modus von Sozialität herausfordern kann, diesen Ideen wird dann doch wieder eine tatsächlich vollzogene, allgemeine wechselseitige Anerkennung und das Projekt der gemeinsamen Selbstregierung unterschoben. (Vgl. ebd., S. 103, 210 Fn. 43.) Damit ist in jener Lesart aber weder dem besonderen Charakter des politischen Konflikts noch der differenzierten Problematisierung des Projekts von Selbstregierung Rechnung getragen. Auch André Brodocz schließt an diese Untersuchung (dabei in der Hauptsache an Frankenbergs Ausführungen) an und übernimmt die „aktivistische Zumutung“, die doch trotz allem sehr liberal bleibt. (Vgl. Brodocz 2003, Kap. 4.4, Frankenberg 1996.) Der ähnlich gelagerte Diskurs über „Integration durch Verfassung“ bezieht häufig die Lefortschen Analysen der symbolischen Dimension von rechtlichen Institutionen explizit oder implizit mit ein; vgl. dazu Grimm 2004 sowie Vorländer 2006 mit weiteren Literaturangaben. Wenigstens Oliver Marchart setzt sich in einer radikaldemokratischen Perspektive von dieser Lesart ab: Marchart 1999; Marchart 2010. Siehe dazu jedoch auch oben, S. 130. Den (nicht allein auf die Integrationskraft der Verfassung beschränkten) Versuch, die Lefortschen Analysen mit der Luhmannschen Systemtheorie zu vermitteln, unternimmt Neves 2005, zuletzt in Neves 2008. Vgl. schließlich auch allgemein Gaus 2004. 129 Diesem Argument zufolge besteht der Totalitarismus, wenn wir uns hier auf diesen Aspekt beschränken wollen, in dem Versuch, den Ort der Macht als doch besetzbar – und als tatsächlich von der Partei des jeweiligen Regimes besetzt – vorzustellen. Da andererseits hinter die Zerstörung einer der menschlichen Praxis jenseitigen Sphäre, in welcher die Gesellschaft erkannt und geordnet werden könnte, im Totalitarismus gerade nicht zurückgegangen werden soll, ergibt sich die Aufgabe, jenen Ort der Erkenntnis und der Begründung als einen zugleich allgemeinen, die Gesellschaft im Ganzen umgreifenden, und partikularen, mit einer realen Körperschaft identifizierbaren Ort zu präsentieren. Seit 1956 beharrt Lefort darauf, dass diese Aufgabe einerseits terroristische Konsequenzen impliziert – nämlich die Unterdrückung jeder Differenz einer sozialen Position zu diesem Ort der Macht oder die Identifikation jeder dann doch unleugbar differenten Position als die eines Feindes der ganzen Gesellschaft –, und dass andererseits dieses Unternehmen nie in der Lage sein kann, seinen Anspruch zu erfüllen, die Dynamik der Gesellschaft restlos zu integrieren, das Imaginäre mit dem Realen zusammen fallen zu lassen. In diesem Sinne lässt sich Leforts Leistung, den Totalitarismus bereits sehr früh als solchen zu brandmarken, seine Attraktivität mit den strukturellen Spannungen der Demokratie in Verbindung zu bringen, und ihn zugleich als von Anfang an nicht nur inkonsistent, sondern praktisch dem Untergang geweiht zu verstehen, nicht hoch genug einschätzen – zumal er dabei ohne metapolitische Annahmen über eine vor- oder außerpolitische Natur des Menschen auskommt.
3.3 Die Demokratie und die Politik
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vorrangig in der Einrichtung der repräsentativen Demokratie, die die Verortung der Macht beim Volk über komplizierte – symbolisch gehaltvolle – Verfahren und Verhältnisse der Repräsentation – und das heißt ja immer auch: der Distanz – zwischen der Gesellschaft, ihrer wahlstatistischen Abbildung und den Mandatsträgern in den politischen Institutionen vermittelt. In diesen Verhältnissen erscheinen Teilungen und Differenzen nicht so sehr als Bedrohung der (gesellschaftlichen und individuellen) Identität, sondern eher als einzige Eröffnung eines Zugangs zu jeder politischen Identität: Erst gegenüber einer von ihnen unterschiedenen Sphäre der Politik, in der ihrerseits unterschiedliche Parteien um die Macht ringen, äußern sich nämlich die Bürger in einer Weise, in der die Artikulation ihres Interesses von ihrer sozial mannigfach verwobenen, partikularen Identität abgetrennt, in einer universellen – nämlich bloß arithmetisch zu erfassenden – Form zur Geltung kommt; nur in einem auf die Wahl der politischen Ämter bezogenen „Meinungsbild“ wird den Bürgern die Identität ihrer politischen Gemeinschaft – und zwar als ihrerseits wiederum geteilte – zurück gespiegelt; die Mandatsträger können ihre jeweilige Autorität nur auf ein in sich widersprüchliches Elektorat zurückführen und stehen so unter einem nicht zu beruhigenden Legitimationsdruck; zugleich instituiert die Ernennung eines Mandatsträgers eine Entscheidungs- und Handlungskompetenz, die die Sedimentierung oder Verabsolutierung von eingefahrenen zivilgesellschaftlichen Oppositionen überwindet und dazu zwingt, diese Oppositionen nicht-essenzialistisch, als dynamische Verhältnisse zu verstehen.130 In diesem vielschichtigen, nicht stillstellbaren Verweisungszusammenhang drückt sich auch für die demokratische Spannung zwischen Macht und Gesellschaft, oder wenn man so will, zwischen Staat und Zivilgesellschaft aus, dass diese beiden Pole als gleichursprünglich und von Beginn an aufeinander verweisend (nicht nur gelten müssen, sondern auch) erfahren werden und nicht der eine als ein der politischen Vergesellschaftung vorgängiger den anderen konstituieren würde. Das Charakteristikum der Demokratie ist es, diese Verwiesenheit und zugleich den Entzug des Ursprungs, die Unmöglichkeit, hinter die bereits konstituierte Gesellschaftlichkeit auf das Moment der Gründung zurückzugreifen, es in die symbolische Dimension der politischen Relationen einzuschreiben: Es ist unmöglich, nichts weiter zu sagen, als dass die Macht von dem Ereignis abhängig bleibt, in dem sie eingerichtet wird [. . . ,] als dass ihre Einrichtung sich als von ihrer Wieder-Einrichtung abhängig erweist [. . .]. Es ist umöglich, sie als einfaches Produkt des Wahlmechanismus vorzustellen. Wenn man sich darauf beschränken will, die demokratische Macht als aus der Abstimmung des Volkes hervorgehend zu bestimmen, [. . .] dann vergisst man, dass in dem Moment, in dem sie wie aus dem Inneren des sozialen Zusammenhangs auftaucht, dieser Raum in die reine Vielzahl der Bürger zerspringt. Und was man nicht zur Kenntnis nehmen möchte ist, dass die Macht als solche nicht erschaffen wird, dass dasjenige, was eingerichtet wird, eher eine neue Beziehung der Gesellschaft mit der Instanz ist, welche als Garant ihrer Identität und Integrität, als Inhaber der Herrschaft erscheint. In der Zeremonie der (Wieder-)Einrichtung der Macht spielt sich tatsächlich noch ein anderes Abenteuer ab: [. . . Die Macht] findet sich auf ihre eigene Unbestimmtheit zurückgeworfen.131
130 Vgl. dazu insg. zuerst Lefort / Gauchet 1976, S. 52–63. 131 Lefort 1994d, S. 148f.
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In der Frage, wie die demokratische Politik jene besondere Figuration der Macht bewerkstelligt, beschreibt Lefort also zunächst die – natürlich immer noch in ihrer symbolischen Reichweite zu verstehenden – Institutionen der repräsentativen Demokratie im engeren Sinne, d. h. die Parlamente und die in der Regel wenigstens mittelbar ebenfalls repräsentativ instituierten exekutiven und juridischen Gewalten. Diese haben nämlich, wie gesehen, nicht nur die Funktion, an Stelle der eigentlich autorisierten Bürger Entscheidungen zu treffen und Handlungen vorzunehmen, sondern ebenfalls diejenige, der Gesellschaft eine Sichtbarkeit zu verleihen – die im Falle der Demokratie eben immer schon die einer intern konfliktuellen Figur ist. Die Repräsentation in diesen Institutionen schreibt einerseits die Differenz der Gesellschaft zu sich selbst in die Vorstellung einer gesellschaftlichen Identität ein, und hält andererseits als instituierender Prozess ihre eigene symbolische Natur, ihre Nicht-Identität mit sich selbst und so den Entzug des Stiftungsmoments, den Entzug des letzten Grundes von Identität und Differenz gegenwärtig. Häufig spricht Lefort von Prozessen der „Entkörperung“ (désincorporation) der Macht, der Individuen und des Gesellschaftlichen, die mit der Moderne einher gehen und in der repräsentativen Demokratie ihren politischen Ausdruck gefunden haben: Das Wesentliche ist in meinen Augen, dass die repräsentative Demokratie [. . .] erst dann wahrhaft etabliert ist, wenn einmal alle Konsequenzen aus dem gezogen sind, was ich bei verschiedenen Gelegenheiten mit Entkörperung (désincorporation) der Macht ganz gut benannt zu haben glaube. Sobald der Monarch nicht mehr in seiner Person die Nation verkörpert [. . .], kann die Macht nicht mehr über eine absolute Legitimität verfügen; das Gesetz ist mit anderen Worten nicht mehr in ihr einbeschrieben, und noch weniger das letzte Wissen über die Prinzipien der sozialen Ordnung. Zugleich bildet die Gesellschaft in der Abwesenheit einer Instanz, die ihre substanzielle Einheit hervorbringen könnte, mit sich selbst keine Einheit mehr.132 Während die Macht von nun an der unabschließbaren Jagd nach ihrer Legitimation unterworfen ist, kann die politische Gemeinschaft ihre Identität nur insoweit entdecken und erhalten, als sie die Erfahrung ihrer internen Oppositionen macht [. . .]; sie ist dazu bestimmt, ihre Konflikte dank der Einrichtung einer politischen Bühne zu regulieren, auf der die Teilung transponiert und transfiguriert wird. Einerseits bleibt die Ausübung der Macht in der Abhängigkeit vom Wettstreit der Parteien, während andererseits dieser strikt bestimmte Wettstreit den Konflikten, welche sich in der Gesellschaft abspielen, eine Art Legitimität mitteilt und ihnen den symbolischen Rahmen verleiht, der ihre Degeneration zu einem Bürgerkrieg verhindert. Das heißt, dass die Effektivität der Repräsentation eng mit der Anerkennung der politischen und der bürgerlichen Freiheiten verbunden ist und dass diese Freiheiten selbst die Diversität des Sozialen manifest werden lassen.133
Die Entschärfung der sozialen Spannungen, die einen politischen Zusammenhang ausmacht, impliziert im Falle der Demokratie die Ablehnung der Vorstellung eines organischen Ganzen, insofern sie einerseits jene Spannungen als irreduzibel, die 132 Auch die Individuen sind von jener gesellschaftlichen „Entkörperung“ betroffen: Sie können sich im sozialen Zusammenhang nicht mehr als ein organischer Teil eines größeren, geordneten und integralen Körpers der Gesellschaft verorten. Statt dessen müssen sie ihre Sozialität als dynamische, unbestimmte und spannungsreiche Einordnung in die unterschiedlichsten, untereinander inkommensurablen und ihrerseits nicht in einem größeren Zusammenhang aufhebbaren sozialen Verhältnisse und Bewegungen verstehen. Vgl. Lefort 1994c, S. 172. 133 Lefort 2007b, S. 612f.
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einzelnen einander widerstreitenden gesellschaftlichen Bewegungen als an sich legitim anerkennt, und andererseits die politischen Entscheidungen und Ämter an das Zusammentreten dieser Momente und Tendenzen bindet. So impliziert sie das Recht von Individuen und einzelnen Gruppen, ihre Partikularität zu artikulieren, sie als allgemein relevant zu behaupten und sich um entsprechenden Einfluss auf die „politische Bühne“ zu bemühen. Auf die Rolle des Rechts, der sozialen und politischen Freiheiten und ihres von Anfang an politischen Charakters kommen wir noch zurück. Zunächst müssen wir aber dem Umstand Rechnung tragen, dass es die symbolische Dimension der demokratischen Institutionen nicht erlaubt, bei ihnen stehen zu bleiben, sondern dazu zwingt, die Untersuchung dem Kontext der gesellschaftlichen Praxis zu öffnen, von dem die Institutionen lediglich ein Teil sind. So könnte dieser Kontext die symbolische Bedeutung der demokratischen Institutionen zwar vielleicht nicht in ihr Gegenteil verkehren, wohl aber sie zur Bedeutungslosigkeit verurteilen. Lefort besteht immer wieder darauf, dass sein Interesse an der Demokratie nicht lediglich einem bestimmten Inventar von Institutionen gilt, sondern – ähnlich der griechischen politeia und dem Begriff des regime aus der französischen Aufklärung – einer Gesellschaftsform in umfassenderem Sinne, die diese institutionelle Konstellation zwar beinhaltet, aber als eigensinnige „Artikulation dieser Rätsel-Knoten der Sozialisation“134 weiter reicht. In einem weiteren Sinne lässt sich so auch für Lefort die über die repräsentativen politischen Institutionen zugängliche Macht nicht trennen von einer demokratischen Struktur der Öffentlichkeit.135 So untersucht Lefort eben nicht nur die Beteiligung an den Institutionen selbst, sondern auch die gesellschaftliche Praxis der Teilhabe an jenem symbolischen Zusammenhang der Politik, und so macht er eine Partizipation „ersten Grades“ aus, die eher die Struktur der politischen Öffentlichkeit als die formalen Zugangsgarantien der demokratischen Institutionen definiert: Die politische Repräsentation in ihrer symbolischen Dimension der Inszenierung einer politischen Gemeinschaft setzt ja die Fähigkeit von Individuen und sozialen Gruppen voraus, sich überhaupt in einer gesamt-gesellschaftlichen Situation und deren Entwicklung wiederzuerkennen, sich selbst als eine mehr oder weniger große soziale Kraft zu verstehen, die in den gesellschaftlich relevanten Entscheidungen in Betracht gezogen wird. In diesem Sinne und noch diesseits der Frage nach ihrer legitimen Autorisierung erfüllen zivilgesellschaftliche Assoziationen, Gewerkschaften, soziale Bewegungen und auch kurzlebige „Körperschaften“ wie Streik-Komitees, Aktionsbündnisse usw. eine unverzichtbare, ebenfalls repräsentative Funktion – und auch in diesem Sinne erweist sich die Garantie politischer und ziviler Freiheiten als unabdingbar, und zwar in zweifacher Hinsicht: Die Individuen und Gruppen müssen einerseits offensichtlich über Mittel und Wege verfügen, um ihren eigenen Einfluss in der „politischen Sphäre“ geltend zu machen und um Reak134 Lefort / Gauchet 1976, S. 52f, meine Hervorhebung – A. W. 135 Dieses Argument entwickelt Lefort anlässlich der Auseinandersetzung mit sog. Transitionsgesellschaften. „Die Repräsentation kann nicht fruchtbar sein, wenn sie nicht in einem bestimmten Boden wurzeln schlägt, sich in einen lebendigen sozialen Raum einschreibt [. . .] Kurz: die Repräsentation erfordert die Einrichtung eines öffentlichen Raumes.“ (Lefort 2007b, S. 617)
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tionen auf die eigenen Initiativen beobachten zu können; die politische Öffentlichkeit dient in diesem Sinne als Raum, in dem gesellschaftliche Kräfte ihre Interessen artikulieren, sich selbst, ihre eigene Stärke und ihre Erfolgsaussichten erfahren und schließlich gegebenenfalls ihre Ansprüche auf Einflussnahme in gesellschaftsrelevanten Entscheidungen manifestieren. Zugleich und vielleicht sogar zunächst müssen die Individuen und Gruppen die Abläufe in der Sphäre jener Entscheidungen aber überhaupt erst einmal als solche erfahren, die intelligibel sind und die sie selbst betreffen. In diesem Sinne stellen die politische Öffentlichkeit und ihre Vereinigungen Potenziale der gesellschaftsweiten „Aufklärung“ über die Abläufe, die Sprache und die Einsätze der Politik dar, Potenziale der Generierung eines „Vermögens, sich das politische Spiel vorzustellen [. . . und einer] Fähigkeit, das Spiel der Akteure einzuschätzen und so, durch die Vorstellung, selbst ein virtueller Akteur zu sein.“136 Die demokratischen Freiheitsrechte haben so unmittelbar einen politischen Charakter, sie zielen auf bzw. haben den Sinn der Einrichtung eines öffentlichen Raumes, in dem der politische Diskurs gesellschaftsweit verfügbar wird. Es scheint mir wichtig, den Charakter der Partizipation in ihrem ersten Grad zu bestimmen. Ich spreche also nicht etwa von der Teilnahme an Wahlen, und noch weniger von der Partizipation die man mit der direkten Demokratie verbindet. Die Partizipation in ihrem ersten Grad scheint mir das Gefühl der Bürger, von der Politik angesprochen zu sein, zu implizieren; nicht das Gefühl, passiv auf für sie günstige Maßnahmen warten zu müssen, sondern dasjenige, in der politischen Debatte berücksichtigt zu werden. Was partizipieren heißt, ist zunächst dies: das Gefühl zu haben, dazu zu gehören und, genauer, dasjenige, berechtigt zu sein, Rechte zu haben – um einen Ausdruck von Hannah Arendt aufzunehmen. Dies setzt zu allererst voraus, dass die Mehrzahl der Bürger die Fähigkeit hat, sich die Motive oder Beweggründe des Verhaltens der politischen Akteure vorzustellen.137
Diese Betonung einer eher bescheidenen Dimension von Partizipation gewinnt zusätzlich an Gewicht, wenn man sich noch einmal in Erinnerung ruft, dass für Lefort das wesentliche, freiheitsverbürgende oder -fördernde Element in der Demokratie nicht so sehr die Autorschaft von konkreten, positiven politischen Programmen durch das Volk und seine Repräsentanten ist, sondern das bloß negative Freiheitsbegehren, das Einklagen von Freiheitsrechten, das aus einer Position der Machtlosigkeit entspringt und die jeweils konkrete Gestalt der politischen Ordnung im Ganzen mehr oder weniger weit herausfordert. Im Zusammenhang dieses Arguments unterstreicht Lefort erneut, dass die Spannung zwischen politischen Eliten und Massen als solche vielleicht unüberwindlich sein könnte, dass aber die demokratische Dynamik in erster Linie von dem Bewusstsein der Legitimitätslücke einer partikularen politischen Ordnung bei diesen Massen und von ihrer Weise, sich in einer historisch offenen Gemeinschaft zu verorten, abhängt.138 136 Lefort 2007b, S. 618. 137 Ebd., S. 617f. 138 Lefort bespricht in diesem Sinne etwa die von Tocqueville berichtete interessierte und „aufgeklärte“ Haltung der politisch exkludierten Landbevölkerung unmittelbar vor der französischen Revolution oder die vergleichbare Haltung der Arbeiterschaft selbst in der Frühphase der Industriellen Revolution – und vergleicht dies mit der sozusagen intellektuellen Unzugänglichkeit
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[I]n meinen Augen wird die Macht (ich mag diese Begriffe nicht, aber was soll’s) immer bestenfalls halb schlecht sein. Diese Bemerkung führt mich zu Machiavelli zurück. [. . .] Er etabliert einen Zusammenhang zwischen dem Gesetz und dem Volk. Wenn es in einer Gesellschaft einen Raum des Gesetzes gibt, dann nur dank der Intervention des Volkes. [. . . D]as Begehren des Volkes liegt dem Gesetz zugrunde, weil es das Begehren ist, nicht unterdrückt zu werden, weil das Volk der Pol der Ohnmacht par excellence ist. Was auch immer die Vorteile sein mögen, die es erkämpft, das Volk bleibt sozusagen der Pol der Negativität – heute würde man sagen, es konstituiere den unbestimmten Pol der Kontestation. Das Volk kann, mit anderen Worten, nicht „siegen“, oder es hörte auf, Volk zu sein; es kann sich keiner Stärke bemächtigen. Das einzige, was passieren kann, ist der Aufstieg einer neuen sozialen Schicht in den Rang der herrschenden Klasse. Wenn aber diejenigen, die unten waren, nach oben gelangt sind, Bürger (bourgeois) oder Bürokraten geworden sind, dann bleibt doch jene Welt da unten, die Welt der Keine-Macht (le monde du non-pouvoir).139
Dies also meint Lefort mit der vielzitierten Rede von einem „leeren Ort der Macht“: Nicht, dass die Macht von niemandem angeeignet werden darf und kann; sondern dass sich in der Demokratie jede Macht auf der Basis eines Streits erhebt und erhält, sich immer einer inkommensurablen Infragestellung ausgesetzt sieht, die den Sinn und die Gestalt des gemeinschaftlichen Unterfangens historisch öffnet. Verwechseln wir also nicht die Idee einer Macht, die niemandem gehört mit der Idee, dass sie einen leeren Ort bezeichnet. Die erste kann in jene andere Formel übersetzt werden: die Macht gehört der Gemeinschaft der Bürger. Die andere kann dies nicht, denn, während in ihr zwar die Souveränität des Volkes bestätigt wird, wird doch zugleich stillschweigend zugegeben, dass die Nation gar nicht wesentlich eine ist, dass sie streng genommen nicht auf eine Gemeinschaft reduzierbar ist, weil die Ausübung der Macht immer vom politischen Konflikt abhängig bleibt und dieser die Unterschiedlichkeit der Interessen, der Überzeugungen und der Meinungen in der Gesellschaft bezeugt und nährt. [. . .] Die Ausübung der Macht ist Gegenstand eines unabschließbaren Streits: eines Streits, der sich auf die Zwecke politischen Handelns, auf das Legitime und das Illegitime, auf das Wahre und das Falsche bzw. den Betrug und schließlich auf die Herrschaft und die Freiheit bezieht. Die Demokratie ist dasjenige Regime, in dem die letzten Markierungen der Gewissheit aufgelöst sind.140
Im Einklang mit diesem Motiv muss Leforts Werk dann tatsächlich als eine Theorie der „wilden Demokratie“ verstanden werden, die grundsätzlich auch noch die institutionellen Rahmen repräsentativer Institutionen und deliberativ-offener Entscheidungsfindung sprengt oder sie jedenfalls immer neu anficht.141 Zugleich darf aber ein zweites wesentliches Motiv des Lefortschen Denkens, das sich zwar mittlerweile deutlich abzeichnet, aber noch nicht eigens ausgearbeitet ist, dadurch nicht überschattet werden: Tatsächlich besitzt niemand die Formel der Demokratie und sie behält immer einen wilden Charakter. Vielleicht ist es dies, was ihr Wesen ausmacht. Sobald es keinen letzten Bezugspunkt
der politischen Sphäre für die größten Teile der Bevölkerung in vielen südamerikanischen Transitionsgesellschaften in den späten achtziger Jahren. Vgl. ebd., S. 618–620. 139 Lefort 2007a, S. 355. 140 Lefort 2007i, S. 991f. 141 Vgl. dazu Abensour 2002; ebenso Näsström 2006. Vgl. auch Rummens 2008, der diese Radikalität in seinem ansonsten instruktiven Versuch, Lefort mit Habermas zusammenzulesen, nicht ausreichend würdigt. Ähnlich Swan 1990.
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mehr gibt, von dem her sich die soziale Ordnung vorstellen und festmachen ließe, ist diese soziale Ordnung beständig auf der Suche nach ihrer Grundlage, nach ihrer Legitimität, und die Demokratie hat ihre effektivste Triebfeder in der Kontestation oder in den Forderungen derjenigen, die von ihren Wohltaten ausgeschlossen sind. Aber wenn man dies festgestellt hat, bleibt immer noch zu fragen, ob der Klassenkampf tatsächlich so grundsätzlich an das Bild der Abschaffung der gesellschaftlichen Teilung gebunden war, wie man sagt. [. . .] Um meinen Gegenstand umzuformulieren: müssten wir nicht auch hier noch den Part der Ideologie, mit allem, was dies an Rationalisierung impliziert, von dem einer kollektiven Erfahrung unterscheiden?142
Die Erfahrung und die Ambitionen der zahlreichen emanzipatorischen Bewegungen, mit denen Lefort sich auseinander setzt, sind letztlich wohl doch weniger von der Frage nach dem Sinn und dem Charakter des Gemeinwesens im Ganzen geprägt, als von der vergleichsweise beschränkten Einforderung spezifischer Rechte und Rechtsgarantien. Ihre Kontestation richtet sich, ohne dass dadurch ihre „reine Negativität“ gebrochen würde, nicht gegen die Herrschaftsförmigkeit des sozialen Zusammenhangs im Ganzen, sondern gegen einzelne Phänomene intolerabler Unterdrückung und Ausbeutung. Die Klärung der Rolle des Rechts im Rahmen der Untersuchung der demokratischen Gesellschaftsform, d. h. der demokratischen Weise, sich zu den anderen, zur Gesellschaft und zu ihren Institutionen zu verhalten und im Rahmen der Spannung zwischen „realistischer“ Einschätzung der Faktizität bestimmter Rechte, der „rationalen“ oder „ideologischen“ Bedeutung der Rechte und schließlich ihrer „symbolischen“ Rolle, nimmt bei Claude Lefort breiten Raum ein. Sie wird durch das immer wiederkehrende Thema der Menschenrechte strukturiert, das Lefort im Anschluss an die KSZE-Schlussakte von 1975 und spätestens mit dem 1979 veröffentlichten Aufsatz „Droits de l’homme et politique“143 intensiv bearbeitet. 3.3.2 Die Differenz von Macht und Recht
Die Menschenrechte sind für Lefort der klarste Ausdruck einer Transzendenz des Rechts. Ebenso wie die Identität der Gemeinschaft und die Position der Macht ist das Recht, zumindest in dieser Hinsicht, eine symbolisch instituierte Entität, die einerseits von den positivierten Gesetzen und selbst noch von den in ihnen „gemeinten“ konkreten Rechten zu unterscheiden ist. Andererseits unterscheidet es sich auch von der besonderen Position der Macht, selbst wenn diese in der Demokratie ihrerseits ohnehin bereits ein unbesetzbarer Ort ist. Ganz im Gegenteil stellt es sich so dar, dass die Position der Macht dem Recht schon immer untergeordnet und vor ihm verantwortlich ist. Zwar war in vormodernen Gesellschaften, so Lefort, der Fürst für die Formulierung einer gesellschaftlichen Ordnung zuständig und zeigte sich dabei selbst in einer ambivalenten Position den von ihm für die Gesellschaft als verbindlich erlassenen Gesetzen gegenüber; dem göttlichen Recht jedoch sah er sich bereits eindeutig untergeordnet, fand seine Position durch dieses Recht überhaupt erst eingerichtet und legitimiert. Auch noch die Position des Fürsten in einer säkularisierten Gesellschaft unterschied sich nicht unbedingt strukturell davon: so musste 142 Lefort 2007e, S. 389f, meine Hervorhebung – A. W. 143 Lefort 1994b.
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dieser sich einem Recht verpflichtet wissen, das sich aus der Natur der Nation, des Fortschritts, der Gerechtigkeit usw. ergab. Der springende Punkt ist für Lefort, dass sich vor der „politischen Revolution der Moderne“144 dieses Recht aus einem Ursprung speiste, der nicht nur mit sich selbst, sondern vor allem mit dem Ursprung der fürstlichen Autorität identisch war. Wer auf diesen Ursprung zugreifen konnte, wer seine Implikationen zu entfalten und mit der Gesellschaft zu vermitteln verstand, der formulierte die Bedingungen und Begrenzungen der fürstlichen Macht und Autorität, die Maximen der Gesetzgebung; und typischerweise war es eben der Fürst selbst, der an der für einen solchen Zugriff privilegierten Stelle saß. Er verkörperte ja die transzendente Ordnung der Gesellschaft gegenüber.145 Allgemeiner gesprochen heißt das: die Beschränkungen, mit denen sich der Fürst arrangieren musste, ergaben sich aus dem Wesen seiner eigenen Position als Monarch und dem der Gemeinschaft, die wiederum nur in seiner Person Substanz und sozusagen „Wiss-barkeit“ gewinnen konnte; die Arrangements traf er faktisch mit sich selbst.146 Die „Entkörperung“ (désincorporation) der Macht bedeutete dann jedoch die Zersplitterung dieser Position, die in ihrer (persönlichen) Identität für die Konvergenz des Ursprungs von Macht und Recht, sowie für die Einheitlichkeit jedes dieser Pole Gewähr übernommen hatte. Was bedeutet die moderne „politische Revolution“? Nicht die Trennung der Instanz der Macht und der Instanz des Rechts, denn diese Trennung gehörte bereits zu den Prinzipien des monarchischen Staats,147 sondern das Phänomen einer Entkörperung der Macht und einer Entkörperung des Rechts, welches das Verschwinden des „Körpers des Königs“ begleitet, in welchem die Gemeinschaft sich verkörperte und die Gerechtigkeit sich vermittelte [. . .] Auch wenn sie dem Recht in dem Sinne unterworfen war, dass dessen Ursprung in Gott oder in der Gerechtigkeit zu finden war, so erstreckte sich [die] Macht [des Fürsten] dennoch jenseits jeder Grenze, insofern er nämlich in den Beziehungen, die er zu seinen Subjekten unterhielt, nur mit sich selbst zu tun hatte. Sobald es keinen Anknüpfungspunkt für das Recht mehr gibt, richtet sich also ein Außen der Macht in einem ganz neuen Modus ein.148
144 Ebd., S. 64. 145 Ein immer wieder von Lefort herangezogenes Werk ist Kantorowicz 1990. 146 In einem parallelen Text weist Lefort auf die konservative Kritik an den Menschenrechten durch Joseph de Maistre hin, der das Ancien Régime in genau diesem Punkt gegen die „Abstraktion“ der Menschenrechte und gegen ein selbstständiges Recht verteidigte. Vgl. Lefort 2007h, S. 415f. 147 Lefort besteht auf der Vorgängigkeit dieser Unterscheidung von Macht und Recht vor der modernen Demokratie ebenso wie auf der Vorgängigkeit derjenigen zwischen Universellem und Partikularem, zwischen Staat und Gesellschaft: „Tatsächlich wurden die Begriffe der Nation, des Volkes, der Souveränität nicht in der bürgerlichen Revolution geboren, wie uns dies die Marxisten – angefangen bei Marx selbst – glauben machen wollen. Diese Begriffe haben sich seit dem Ende des Mittelalters in Europa gebildet. Die Idee einer Unterscheidung zwischen dem Universalen und dem Partikularen hat sich in der Folge der Herausbildung der Monarchie formiert – ebenso wie die Idee einer Unterscheidung zwischen demjenigen, was der staatlichen Ordnung und demjenigen, was den eigentlich sozialen Verhältnissen entspringt [. . .] Was analysiert werden müsste, ist die neue Modalität der Trennung [. . .]. Zweifellos markieren die französische Revolution und die Menschenrechte eine Verwandlung. Aber es geht darum, zu verstehen, dass diese Verwandlung sich im Horizont einer Geschichte vollzieht, die schon seit langem diejenige des Rechtsstaates ist.“ (ebd., S. 415f) 148 Lefort 1994b, S. 64f. Vgl. auch Lefort 1994d, S. 152f: „Das Wichtige ist, dass unter Abwesenheit jeder Vorstellung eines transzendenten Garanten der sozialen Ordnung, aber auch unter
144
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Fortan findet sich einerseits die Macht einem Recht untergeordnet, auf das ihr Zugriff grundsätzlich unvollkommen ist, das ihr nicht nur nicht verfügbar, sondern noch nicht einmal gewiss erkennbar ist.149 In diesem neuen Rechtsdiskurs impliziert die Forderung nach bestimmten Rechten immer auch sozusagen eine Forderung ersten Grades, die Forderung der Forderbarkeit: Es wird für die gesellschaftlichen Akteure die praktische Möglichkeit beansprucht, spontan Ansprüche zu erheben; es wird die Anerkennung einer quasi-epistemischen Kompetenz unabhängig von der politischen Macht beansprucht – d. h. die Anerkennung der Möglichkeit, dass illegitime Verhältnisse möglicherweise dem Regierungshandeln, sei dieses auch noch so sehr an der Allgemeinheit orientiert, entgehen können, dass sie aber durch beliebige Rechtssubjekte festgestellt werden können; und es wird eben die normative Anerkennung eines Legitimitätsgrundes und eines Beurteilungsmaßstabes für Politik beansprucht, der von der Position der Macht, der Regierung und der Identität der Gemeinschaft wesentlich verschieden ist. Das der Macht äußerliche Recht instituiert so einen nicht einhegbaren Raum, eine unbeherrschbare Dynamik von Initiativen, welche sich politisch nicht vorhersehen und möglicherweise nicht integrieren lassen – es postuliert die Legitimität dieser Initiativen, ihrer Kritik und ihrer Ansprüche an die politische Macht.150 So ist es nicht nur die explizite und als legitim, ja geradezu als legitimitätsstiftend anerkannte interne Konfliktualität der Politik, die nach Leforts Verständnis die Demokratie ausmacht, sondern darüber hinaus der Umstand, dass die Politik als solche in einer legitimen und legitimitätsverbürgenden Spannung zu einem Außen steht, zu den Sphären der institutionalisierten und zivilgesellschaftlichen Rechtspraxis einerseits und der öffentlichen Diskurse über das Wesen, den Abwesenheit jeder Vorstellung einer substanziellen Einheit der Gesellschaft [. . .] weder der Grund des Rechts noch derjenige des Wissens gewiss sind, und dass die Möglichkeit einer unbestimmten Veränderung der Gesetze und der Wissensverfahren eröffnet ist, die Möglichkeit eines Streits über die Grundsätze und über die Ziele und Zwecke. Das Wichtige ist weiterhin, dass die im sozialen Feld genau umschriebene und doch unbestimmbare Macht oder allgemein die Politik für eine Befragung und eine Kritik geöffnet werden, welche eine Legitimität und eine Wahrheit für sich beanspruchen können, die sich die Regierenden nicht aneignen können.“ Gegenüber diesem Text bestehen offenbar die wesentlichen Neuerungen in den anderen, nur kurz später entstandenen Arbeiten zu den Menschenrechten in der Verknüpfung dieser uneinholbaren Legitimität der Kritik mit dem Rechtsbegriff und in der Verknüpfung der Unverfügbarkeit des Grundes der Rechtsgeltung mit dem Begriff des Menschen. 149 Vgl. Lefort 1994d, S. 149. 150 Diese Institution ist es, die die Berufung auf Menschenrechte – ganz unabhängig vom politischen Selbstverständnis der Akteure – für totalitäre Systeme unerträglich macht. Sie impliziert ein dem Totalitarismus grundsätzlich widerstreitendes Verhältnis der Gesellschaft zu sich selbst und zur Macht. „Im Unterschied zur Demokratie konstituiert und erhält sich das totalitäre System nur unter Ausschluss jeder Form der Kontestation. In diesem Sinne erfährt die Kontestation, sobald sie einmal ausreichend Kraft findet, sich zu äußern, in demselben Moment, in dem sie sich für ihre jeweils bestimmten Ziele mobilisiert, ihre eigene neue Legitimität. Es wird ein neues Recht erfunden, das ein der Vormundschaft der Macht entzogenes Denk- und Handlungsfeld eröffnet. Auf diese Weise erwarten die polnischen Arbeiter von der Macht nicht lediglich zufriedenstellende Maßnahmen; sie geben sich vielmehr selbst eine unbestimmte Fähigkeit zur Initiative; ihre Forderung zielt nicht nur auf einen bestimmten Gegenstand ab, sie ist auch Forderung der Forderung selbst.“ (Lefort 1994g, S. 321)
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Charakter, die Organisation und die Ziele der Gesellschaft andererseits.151 Zugleich ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Abhängigkeit der Politik von ihrer Legitimierung durch Recht unvermindert fortbesteht. Denn die besprochene Ablösung darf natürlich nicht im Sinne einer Unabhängigkeit der Politik vom Recht vorgestellt werden, ebenso wenig wie das Recht sich ohne wesentlichen Bezug zu einer positiven politischen Macht entwickeln und artikulieren könnte: Entwirrung, und nicht Schnitt; oder, wenn der Begriff des Schnitts treffen sollte, dann nur, insofern er nicht den Modus der Verknüpfung auslöscht, welcher sich als Effekt des Bruches instituiert. Die Macht wird dem Recht nie fremd. Ganz im Gegenteil, ihre Legitimität wird wie nie zuvor affirmiert, sie wird mehr denn je zum Gegenstand des juristischen Diskurses. Gleichermaßen wird ihre Rationalität untersucht wie nie zuvor. Aber der Begriff der Menschenrechte verweist nun auf einen unbeherrschbaren Anziehungspunkt; das Recht stellt fortan der Macht gegenüber eine unauslöschliche Äußerlichkeit dar.152
Andererseits tritt das Recht auch in eine Spannung zu sich selbst: Zur Auflösung derjenigen Position, die die Vermittlung mit einem einheitlichen Grund des Rechts zu denken ermöglicht hatte, kommt der Transfer des Legitimitätsgrundes und seiner Prüfung in das Urteil der einzelnen Rechtssubjekte selbst hinzu. Dieser Transfer findet in der Figur der Menschenrechte seinen sichtbarsten Ausdruck. Der Transfer bedeutet nicht, dass ein individuelles Urteil über die Legitimität von Rechten nach der Art des Dezisionismus nicht herausgefordert werden könnte, dass es alle Legitimität und Geltung der Rechte unzweifelhaft begründete; er besagt lediglich, dass es keine andere Instanz, kein objektives Kriterium gibt, welche diesem Urteil gegenüber von Hause aus privilegiert wären. Jeder Mensch ist aufgefordert, selbst über die Legitimität eines Rechtsanspruchs zu urteilen. Und doch kann sich zugleich kein Mensch der besonderen Autorität der Rechtsgeltung entziehen, das Recht als solches beansprucht allgemeine Geltung und niemand kann die Rechtsgeltung bloß in seinem persönlichen Urteil begründet und erschöpft sehen. Aus diesem Ereignis kann man nicht folgern, dass die Unterscheidung zwischen dem Gesetz als solchem und den positiven Gesetzen, die nun durch die Repräsentanten des Volkes definiert werden, abgeschafft würde; oder dass sich das Gesetz tatsächlich nur von der Meinung der Mehrheit ableiten ließe. In gewissem Sinne akzentuiert sich diese Unterscheidung. Denn sobald niemand mehr der Inhaber des Gesetzes ist, sobald niemand mehr der Verpflichtung entgeht, sich für seine Taten vor dem Gesetz zu verantworten, wird dieses zu einer reinen Transzendenz. Dies bedeutet nicht, dass sein Ursprung ins Jenseits projiziert werden könnte, sondern dass es sich als undarstellbar erweist, dass das Gesetz sich in der Unmöglichkeit zeigt, es auf irgendeine seiner Formulierungen zu reduzieren. Gerade weil das Gesetz nicht gegeben ist, fordert es die unabschließbare Arbeit seiner Formulierung. In diesem Sinne [. . .] ist es in der Reichweite der Menschen. Die repräsentativen Versammlungen erlassen Gesetze, und jeder ist gehalten, den Sinn seiner Verpflichtungen zu kennen. Aber sobald das Bild eines großen Richters ausgelöscht ist, knüpft sich eine Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Gesetz derart, dass das Individuum, in demselben Moment, in dem es zu gehorchen verpflichtet ist, sich
151 Lefort behandelt zwar in erster Linie die Ablösung des Rechts von der Position der Macht, aber er besteht durchgängig darauf, dass dieselbe Entwicklung für den „Wissensprozess“ in einem weiten Sinne festzustellen ist. Dies soll hier allerdings nicht gesondert thematisiert werden. 152 Lefort 1994b, S. 64.
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selbst das Recht eines Urteils zuerkennt. Warum sollte ihm denn auch die Entscheidung einer Mehrheit als unfehlbar erscheinen, wenn sie doch vorläufig ist und das, was als illegitim gilt, sich möglicherweise zukünftig einer Anerkennung als Legitimes erfreuen kann? So werden also zugleich eine Beziehung zwischen der Meinung und dem Gesetz und eine zwischen dem Subjekt und dem Gesetz etabliert, die nicht gelöst werden können.153
Neben dem Transfer der Rechtsgeltung in die Kompetenz der einzelnen Rechtssubjekte erhält sich also ein Moment der Transzendenz dieser Geltung über das individuelle Urteil hinaus – auf eine Weise, die diese Transzendenz mit der öffentlichen Anerkennung des Geltungsanspruches verbindet.154 Die Vermittlung von Recht und Öffentlichkeit bzw. die wesentliche Rolle, die das Recht in der Konstitution des demokratischen Gemeinwesens spielt (gerade insofern dieses mehr als die Summe seiner Institutionen ist), wird im sozialen, oder besser: politischen Gehalt der Menschen- und Grundrechte noch deutlicher. Gegen die – gleichwohl zugestandene155 – Tendenz jener Rechte, die Bürger zu vereinzeln und sie zu Eigentümern ihrer Rechte und Handlungsmöglichkeiten zu erklären, wie sie die Marxistische Kritik seit langem beobachtet, macht Lefort ein ursprünglich soziales Moment aus, das dieser Tendenz zuwider läuft. So weist er darauf hin, dass z. B. viele Formulierungen der Erklärung der Menschenrechte von 1789 sich nur unter einer bestimmten Hinsicht als Figuration eines Individuums ausnehmen, welches über die Unverletzbarkeit seines privaten Reiches von Besitztümern und Handlungsoptionen wacht und seine Mitmenschen als fremde und äußerliche Gefährder jenes Reiches ansieht. Sobald man hingegen in Rechnung stellt, dass diese Figur ohnehin unmöglich der Realität der immer schon sozialen Praxis entsprechen kann, dass deren Sozialität weder vor noch nach der Erklärung der Menschenrechte wirklich aufgehoben, zerstört, oder auch hergestellt werden kann, stellt sich die Frage, welcher Unterschied in der Form der sozialen Praxis mit jener Erklärung einhergeht.156 Dann, so Lefort, ist es nicht nur unumgänglich, die Aufhebung zahlreicher Beschränkungen und Willkür-Spielräume 153 Lefort 2007l, S. 741f. 154 Offenbar muss von einer Spannung zwischen öffentlicher Anerkennung als dem „Ort“ der begründenden Bestätigung von Rechtsgeltung und der offenbar als Kriterium untauglichen Mehrheitsmeinung bzw. umgekehrt zwischen dem individuellen Urteil und seiner Annerkennungsbedürftigkeit ausgegangen werden. „Werden denn diese verschiedenen [immer neu von sozialen Bewegungen eingeforderten, A. W.] Rechte nicht aufgrund eines Rechtsbewusstseins ohne objektive Garantie bekräftigt, und doch zugleich unter Bezugnahme auf öffentlich anerkannte Prinzipien, die sich zum Teil bereits in Gesetzen niedergeschlagen haben, und die es zu mobilisieren gilt, um die rechtlichen Schranken zu zerstören, an denen sie sich stoßen?“ (Lefort 1994b, S. 71) Der Habermas’sche Vorschlag der postmetaphysischen Gestalt praktischer Vernunft in den Diskurszusammenhängen und deren idealisierenden – wie auch immer mit eigenen Problemen behafteten – Unterstellungen scheint hier auf eine relativ plausible Weise weitere Explikationen zumindest andeuten zu können. Zugleich erscheint die Spannung in Leforts „wilder“ Demokratietheorie doch brisanter als Habermas’ Dialektik von Faktizität und Geltung. 155 Vgl. etwa Lefort 2007h, S. 412. 156 Die Ontologie Jean-Luc Nancys ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie auf eine differenzierte Weise ein dekonstruktives Modell des Seins als Mit-Sein vorgeschlagen wird, das gerade wegen seiner ontologischen Anlage die Unumgänglichkeit von Sozialität, ihre sich entziehende Ursprünglichkeit verdeutlicht. Sein Bestehen auf einer politischen Ambition, oder wenigstens
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zu konstatieren, welche unter dem Ancien Régime die individuelle Freiheit betroffen hatten, sondern es muss darüber hinaus festgestellt werden, dass eine neue Form sozialer Praxis ermöglicht, als legitim ausgezeichnet und angeregt wird. Einerseits wird die vermeintlich private Gewissens- und Meinungsfreiheit mit dem Recht der Äußerung und dem Recht der Zirkulation verknüpft und so ein ungebundener, nicht abschließ- und kontrollierbarer öffentlicher Diskurs institutionalisiert. Andererseits wird festgehalten, dass die spontane Dynamik dieses Diskurses und der sozialen Prozesse überhaupt (insofern sie Prozesse sind, die sich aus der Aktualisierung solcher Freiheiten speisen) nur unter ganz spezifischen Umständen und nur in ganz bestimmter Form politisch eingeschränkt werden darf.157 [Der Artikel 11] gibt in der Tat zu verstehen, dass es ein Recht des Menschen, und zwar eines seiner wertvollsten, ist, aus sich selbst herauszutreten und sich mit anderen durch die Sprache, die Schrift, das Denken zu verbinden. Oder besser: er gibt zu verstehen, dass der Mensch nicht legitimerweise auf die Grenzen seiner privaten Welt beschränkt werden kann, dass er zu Recht eine öffentliche Rede, ein öffentliches Denken besitzt. Oder sagen wir noch besser, da diese letzten Formulierungen immer noch Gefahr laufen, die Kommunikation auf die Handlungen ihrer Teilnehmer, also der Individuen, die jeweils für sich als Exemplare des Menschen an sich definiert würden, zu reduzieren: der Artikel gibt zu verstehen, dass es eine Kommunikation, eine Zirkulation von Gedanken und Meinungen, von Worten und Schriften gibt, die sich prinzipiell, außer in Fällen, die per Gesetz geregelt sind, der Autorität der Macht entziehen.158
auf einem politischen Gestus und auf dem Gebrauch eines radikalen politischen Vokabulars täuscht dann jedoch leicht darüber hinweg, dass er die hier von Lefort angesprochene Frage nicht wirklich, oder nur am Rande angeht. Einige Interpretationen lassen sich von diesen Irrlichtern denn auch beeindrucken. Das Äußerste an praktischer Philosophie, was aus dieser Perspektive folgt, ist aber einerseits die Dekonstruktion von Vorstellungen, politische (kollektive) Identitäten könnten auf einer ontologischen Ebene gründen, andererseits eine bestimmte Ethik, die den differenten Gestus von Schrift in eine persönliche Haltung einschreibt. Vgl. dazu Bonacker 2002 oder A. Norris 2000. Zur Kritik dieser „politisierenden“ Lesarten vgl. Wagner 2006. 157 „Wenn die Bindung [eines Subjekts an andere] eine erste Gegebenheit ist, die nicht von institutionellen oder politischen Mechanismen abhängt oder wenn, was aufs selbe hinausläuft, die Isolation, der Monadismus des Individuums im strikten Sinne gar nicht denkbar ist [. . .], dann müsste die einzige Frage diese sein: Welches sind in dieser oder jener Gesellschaft – dieser oder jenen sozialen Formation – die den Handlungen ihrer Mitglieder gezogenen Grenzen, die Einschränkungen, die an ihre Bewegung, ihre Niederlassung, ihre Gegenwart an bestimmten Orten, ihren Eintritt in bestimmte Laufbahnen herangetragen werden, an die Veränderung ihrer Umstände, an den Modus ihres Ausdrucks und ihrer Kommunikation? Anstatt diese Frage zu stellen, ignoriert Marx merkwürdigerweise die Aufhebung etlicher Verbote, die vor der demokratischen Revolution, im Ancien Régime, auf dem menschlichen Handeln lasteten, er ignoriert die praktische Reichweite der Deklaration der Rechte, so sehr ist er vom Bild einer Macht gefangen, die im Individuum verankert ist und sich nur so weit ausüben lässt, bis sie der Macht eines Anderen begegnet. Natürlich erfindet er dieses Bild nicht, es markiert den Artikel über die Freiheit, wohl wahr. Nicht weniger wahr ist aber, dass in ihm ein ganz neuer Zugangsmodus zum öffentlichen Raum verborgen liegt.“ (Lefort 1994b, S. 56f) 158 Ebd., S. 58f. Dieses Argument verbindet das phänomenologische Merleau-Pontysche Modell der Herausbildung von Gedanken und Überzeugungen in einem intersubjektiven Kommunikationsprozess mit der bereits rechts- oder politiktheoretisch ausgerichteten Vorstellung eines „subjektlosen“ öffentlichen Diskurses bei Habermas. Vgl. auch Lefort 2007h, S. 412f.
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3 Claude Leforts Demokratietheorie und das Symbolische
Die im Lefortschen Sinne eines gesellschaftlichen Selbstbezugs politische Relevanz dieser von Politik und Macht unabhängigen Öffentlichkeit ist klar: Mit der Erklärung der Menschenrechte (und ihrer inzwischen weitreichenden Anerkennung und Implementierung in den verschiedensten Rechtssystemen) eröffnet sich ein neuer, von der Position der Macht unabhängiger Raum des symbolischen Selbstbezugs der Gesellschaft. Denn die in den Menschenrechten angezielte öffentliche Kommunikation stiftet eine „transversale Dimension“ der Sozialität – die Individuen werden in der Tat aus der Einbettung in integrierende Figuren von Gemeinschaft gelöst, aber zugleich als konstitutiv untereinander verbunden erkannt; ihre Sozialität ist nicht mehr von einer Figur der Integration abhängig, sondern eigenständig und zugleich ohne Zentrum.159 Zugleich verdankt diese Gesellschaft der freien und gleichen Menschen ihrer abstrakten Bestimmung nicht nur die universale Geltung und sozusagen eine gewisse Homogenität, sondern auch die Unmöglichkeit, als eine bestimmte, besondere Gemeinschaft vorgestellt zu werden.160 Schließlich, und dieser Punkt führt zurück zur Frage nach dem „wilden“ Charakter der Demokratie, verknüpft die Erklärung der Menschenrechte bzw. vor allem die mit ihr einher gehende Verlagerung des Rechtsgrundes in „den Menschen“ die Rechtsgeltung mit der nicht abschließbaren Praxis der Erklärung der Rechte: ihrem Geltungsgrund nach transzendieren diese Rechte jeden partikularen sozialen und historischen Kontext ebenso wie jede mögliche, jeweils wieder notwendig partikulare Formulierung; dadurch erfordern sie aber die unablässige Arbeit an immer neuen Formulierungen. Letztlich bilden sie so eine unerschöpfliche Basis für kritische Ansprüche an die politische Ordnung des Gemeinwesens, deren normativer Impetus nicht im Diskurs oder in der Organisation jener Ordnung aufgehoben werden kann, weil er von einem sich entziehenden Grund her verstanden wird. Diese Figur des Rechts ist damit ein wesentliches Moment des demokratischen „Regimes“, eine 159 „Sicherlich stellen sich die Menschenrechte aus einer bestimmten Perspektive als Rechte von Individuen dar, aber [. . .] bei dieser Vorstellung stehen zu bleiben, hieße zu vergessen, dass sie die Zerstörung einer anderen Vorstellung voraussetzt, derjenigen nämlich, die die Organisation des Ancien Régime strukturiert hat, die Vorstellung einer ihre Elemente transzendierenden Gesellschaft. So richtet sich zum ersten Mal und unabhängig von einer vertikalen Dimension, die die Gesamtheit der Subjekte mit einer Autorität verknüpfen würde, eine transversale Dimension der sozialen Verhältnisse ein. Gewiss sind die Individuen die Glieder der sozialen Verhältnisse, aber diese Glieder sind selbst das Produkt jener Verhältnisse, d. h. das Produkt der Kommunikation, die sich durch die Praktiken der Freiheit vollzieht, durch die Praktiken der Zirkulation von Meinungen und Ideen zum Beispiel. Diese Glieder sind selbst von jenem neuen öffentlichen Raum geformt, in den sie sich einschreiben.“ (Lefort 2007h, S. 418) 160 „Ein neuer Anhaltspunkt [des Rechts] wird festgeschrieben: der Mensch. Festgeschrieben überdies kraft einer geschriebenen Verfassung: das Recht findet sich kategorisch in der Natur des Menschen etabliert, in einer Natur, die in jedem Individuum gegenwärtig ist. Aber um was für einen Anhalt handelt es sich hier? Sobald wir diese Frage stellen, sind wir mit einem dreifachen Paradoxon konfrontiert. Erste Gestalt des Paradoxons: Die Gesellschaft wird fortan als eine Gesellschaft freier und gleicher Menschen, als idealerweise eine und in diesem Sinne homogene Gesellschaft vorgestellt. Wie wir bereits gesagt haben, zeigt sich hinter der Formulierung der natürlichen Rechte, und in ihrer Formulierung selbst eine wesentliche Veränderung, denn diese Gesellschaft erweist sich als fortan unumfassbar.“ (Lefort 1994b, S. 65)
3.3 Die Demokratie und die Politik
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Art Außer-Sich-Bringen der politischen Gemeinschaft, eine Legitimierung ihrer Gespaltenheit und zugleich eine handfeste Operationalisierung einer grundsätzlichen Anerkennung der Legitimität opponierender Bewegungen. Man sagt, mit der Deklaration der Menschenrechte erstünde die Fiktion des Menschen ohne weitere Bestimmung. [. . .] Nun lässt sich aber die Idee des Menschen ohne Bestimmung nicht von der des Unbestimmbaren trennen. Die Menschenrechte führen das Recht auf ein Fundament zurück, welches, trotz seiner Benennung, ohne Gestalt ist und sich wie als ihm [d. i. dem Recht – A. W.] selbst innewohnend gibt und sich dadurch jeder Macht – religiös oder mythisch, monarchisch oder populär – entzieht, die vorgäbe, es sich anzueignen. Sie schießen folglich über jede überkommene Formulierung hinaus; was erneut bedeutet, dass ihre Formulierung das Erfordernis ihrer Reformulierung enthält oder dass die erlangten Rechte notwendigerweise dazu berufen sind, neue Rechte zu unterstützen.161 Derselbe Grund sorgt schließlich dafür, dass die Menschenrechte nicht einer Epoche zuzuschreiben sind, so als würde sich ihre Bedeutung in der historischen Funktion erschöpfen, die sie im Dienste des Aufstiegs des Bürgertums erfüllten, und dafür, dass man sie nicht in der Gesellschaft umfassend beschreiben kann, so als wären ihre Effekte lokalisierbar und kontrollierbar. Von dem Moment an, in dem die Menschenrechte als äußerster Bezugspunkt gesetzt wurden, ist das etablierte Recht der Hinterfragung anheim gestellt. Es steht in dem Maße immer mehr in Frage, in dem die kollektiven Willen oder, wenn man das bevorzugt, in dem soziale Akteure, die neue Forderungen transportieren, eine Kraft gegen diejenige Kraft mobilisieren, welche dazu neigt, die Effekte der bereits anerkannten Rechte einzuhegen. Dort, wo das Recht infrage steht, steht nun aber die Gesellschaft, im Sinne der etablierten Ordnung infrage. [. . . Der Begriff der Opposition des Rechts] muss wohl erwogen werden. Der Rechtsstaat hat immer schon die Möglichkeit einer auf das Recht gestützten Opposition gegen die Macht impliziert [. . .]. Aber der demokratische Staat überschreitet die traditionellerweise dem Rechtsstaat zugesprochenen Grenzen. Er macht die Erfahrung von Rechten, die ihm nicht ohnehin schon einbeschrieben sind.162
Die Menschenrechte repräsentieren so gleichsam als Kondensat den demokratischen Rechtsbegriff, der für die Bestrebungen des Freiheitsbegehrens, die sich, wie oben gesehen, gegen jede konkrete politische Macht und gegen jede partikulare Ordnung der Gesellschaft richten können, einen einzigartigen Anhaltspunkt bietet: In der Berufung auf die Rechtmäßigkeit ihrer Forderungen können soziale Bewegungen so ein Instrument in Anschlag bringen, dem gegenüber die Politik um ihrer eigenen Legitimität, d. h. um ihrer eigenen Effektivität willen, äußerst empfindlich ist; sie können sich auf das transzendierende Moment jenes Rechts berufen, werden dadurch unabhängig vom Anschluss ihrer Forderungen an die bestehenden Rechtsverhältnisse und behalten so die Radikalität ihrer „reinen Negativität“. Andererseits sind sie auf den Prozess der öffentlichen Anerkennung ihrer Forderungen verwiesen, müssen ihre Forderung als eine der Freiheit im Sinne eines universalisierbaren Rechtssubjekts ausweisen, ohne jedoch die Partikularität ihrer Position durch eine integrierende Figur der Gesellschaft verdecken zu müssen; so lösen sie sich aus der engen und exklusiven Verklammerung mit der politischen Sphäre und deren Perspektive auf 161 Dieses Argument deutet sich bereits in der Vorlesung von 1966/67 an, wo Lefort auf die Spannung zwischen der Formulierung und einem „Unausdrückbaren“ (inénonçable) des Gesetzes abhebt. Vgl. Lefort / Gauchet 1976, S. 23f. 162 Lefort 1994b, S. 66f. Vgl. auch Lefort 2007h, S. 417–419.
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3 Claude Leforts Demokratietheorie und das Symbolische
die Organisation der Gesellschaft im Ganzen. Damit lässt sich die demokratische Politik für Claude Lefort unabhängig von den jeweils konkreten Einsätzen strukturell nicht von der Aufgabe trennen, die Dynamik der zivilgesellschaftlichen Bewegungen als Ressource für die „subjektlose“ Transformation der Gesellschaft durch die Einrichtung zusätzlicher Räume sozialer Praxis bzw. durch die Beseitigung von Zugangsbeschränkungen zu diesen Räumen zu integrieren. Den Bewegungen ihre Partikularität zuzugestehen, sie nicht politisch zu vereinnahmen, und sie doch zugleich von Forderungen zu unterscheiden, welche letztlich doch partikularen Interessen dienen, sie also auch nicht politisch zu unterfordern, ohne dabei feste und objektive Kriterien für das richtige Maß zu besitzen, darin besteht die Herausforderung für die politische Urteilskraft, mit der uns die Demokratie wie keine andere Staats- und Gesellschaftsform konfrontiert. Man muss [. . .] sich bereit finden, im Horizont einer Welt zu denken und zu handeln, in der sich die Möglichkeit einer Befreiung von der Anziehungskraft der Macht und des Einen bietet, in der sich die kontinuierliche Kritik der Illusion und die politische Erfindung unter dem Eindruck einer Unbestimmtheit des Sozialen und des Historischen ergeben. Politik der Menschenrechte, demokratische Politik, zwei Weisen auf dieselbe Anforderung zu antworten: die Ressourcen der Freiheit und der Kreativität auszuschöpfen, von denen sich eine Erfahrung nährt, welche die Effekte der Teilung annimmt; der Versuchung zu widerstehen, die Gegenwart gegen die Zukunft einzutauschen; vielmehr den Versuch zu unternehmen, in der Gegenwart die Linien zu lesen, die sich mit der Verteidigung erlangter und mit der Forderung neuer Rechte anzeigen und diese Linien von bloßer Interessenbefriedigung unterscheiden zu lernen.163
Wir haben es also immer noch mit einer wilden Demokratie zu tun, aber eine, deren Wildheit nicht rechtlich gezähmt, sondern geradezu rechtlich gestiftet ist. Denn ihre Wildheit ergibt sich daraus, dass das Freiheitsbegehren, mit dem transzendenten Recht „im Rücken“, immer wieder, und immer wieder auf neuartige Weise, zu uneinhegbaren, politisch unüberhörbaren Forderungen kristallisiert. Die Demokratie, die wir kennen, hat sich auf wilden Wegen eingerichtet, unter dem Eindruck von Forderungen, die sich als unbeherrschbar erwiesen haben. Und wer die Augen auf den Kampf der Klassen gerichtet hat, müsste [. . .] übereinstimmen, dass dieser ein Kampf um die Eroberung von Rechten war – derjenigen nämlich, die sich gegenwärtig als für die Demokratie selbst konstitutiv erweisen. Er müsste übereinstimmen, dass die Idee des Rechts auf andere Weise aktiv und effektiv war als das Bild des Kommunismus.164
163 Lefort 1994b, S. 83. Vgl. auch Lefort 2007h, S. 420f. 164 Lefort 1994a, S. 29.
4 EINE POST-PHÄNOMENOLOGISCHE DISKURSTHEORIE DEMOKRATISCHER STAATLICHKEIT Obwohl sich die spannendsten Konfrontationen zwischen den beiden vorgestellten Theorien in einzelnen Fragen, mindestens aber in der Zusammenschau der konkreten Analysen ergibt, sollen in diesem letzten Kapitel die verschiedenen im Vorigen entwickelten Fäden noch einmal in expliziter, aber abstrakter Weise zusammengeführt werden. Dabei wird zunächst auf die komplementäre Differenz zwischen den methodischen Ansätzen eingegangen, bevor in jeweils zentralen Punkten der Theorien inhaltliche Übereinstimmungen identifiziert werden. Nach einer Reflexion über eine sehr grundsätzliche Meinungsverschiedenheit in der Einschätzung von Konsens und Einverständnis, deren Tragweite jedoch schwer einzuschätzen ist, schließt das Kapitel mit einem Ausblick auf ein mögliches Arbeitsprogramm einer von der beschriebenen Komplementarität inspirierten Theorie der Demokratie. 4.1 METHODISCHE KOMPLEMENTARITÄT: STAATLICHKEIT ZWISCHEN INSTITUTIONEN UND KOMMUNIKATIONEN Die Diskurstheorie gibt nach wie vor einen ausgezeichneten Ansatz zur Elaboration einer normativen Demokratietheorie ab: Ihr gelingt es zunächst allgemein, einen plausiblen Begriff intersubjektiver praktischer Vernunft zu entwerfen und im Herzen faktischer sozialer Praktiken zu verankern. Sie kann zeigen, wie damit eine normative Spannung in die faktischen Verhältnisse und Prozesse einzieht, die sich an einem praktisch unvermeidlichen Verweis auf einen diskursiven Austausch von Gründen festmacht. In der speziellen Perspektive der Demokratietheorie kann sie dann explizieren, wie Verfahren der Rechtsetzung (und zugleich ein bestimmter Status der Rechtssubjekte) institutionalisiert werden können, deren Einhaltung Normen produziert, die explizit an solche Deliberationen gebunden sind, so dass sie eine Legitimitätsvermutung für sich in Anspruch nehmen können, d. h. die Vermutung, dass sie praktisch vernünftig und für jedes betroffene Rechtssubjekt zustimmungsfähig sind. (Dies geht einher mit einer institutionalisierten Öffnung der legislativen Deliberation, so dass vermittelt durch eine gesellschaftsweite Öffentlichkeit die Position jedes Rechtssubjekts in den Gesetzgebungsprozess Eingang finden kann.) Schließlich kann sie Interaktionsmechanismen zwischen diesem Komplex der deliberativen Meinungsund Willensbildung und diversen Handlungssystemen, insbesondere dem Bereich administrativer Machtausübung bestimmen, welche die im kommunikativen Handeln angelegte praktische Vernunft auch in davon zunächst unabhängige Bereiche gesellschaftlicher Organisation transportieren kann. So kann sie die normative Leistungsfähigkeit der Institutionen des demokratischen Rechtsstaats unterstreichen, und
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4 Eine post-phänomenologische Diskurstheorie demokratischer Staatlichkeit
damit eine Dimension des demokratischen Institutionensystems beleuchten, ohne die dieses sich weder dem eigenen noch einem deskriptiven Blick als Demokratie erschließen könnte. Allerdings ist dieser theoretische Apparat nicht ausreichend, um die Theorie der Demokratie über bestimmte Widerstände hinaus zu entfalten. Diese ergeben sich daraus, dass die Diskurstheorie zum Teil zu stark selbst als idealisierende Unterstellung, als rationalistischer Präskriptivismus auftritt – was ihrem eigenen Verständnis ja stark widerspricht, demzufolge es die kommunikativen Interaktionen unvertretbarer Individuen sind, die allein Rationalität und rationale Normativität konstituieren. Auch sollte ja eigentlich nicht nur die bloße Möglichkeit einer Strukturierung gesellschaftlicher Praxis nach dem beschriebenen Ideal erwiesen werden. Vielmehr soll doch auch nach dem eigenen Verständnis der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats die Überzeugung plausibel gemacht werden, dass die genannten Prinzipien als notwendige Implikationen der politischen Praxis gegenwärtiger Gesellschaften auch faktisch normativ wirksam sind, zumindest solcher Gesellschaften, die sich als demokratische Staaten verstehen. Dazu reicht es aber nicht aus, nur die unvermeidliche Gegenwart dieser Prinzipien „quasi-transzendental“ zu begründen, sondern es muss untersucht werden, in welche Kräfteverhältnisse ihr normativer Impuls eingeht und von welchen Bedingungen seine Wirkung abhängt. Dabei ergibt sich natürlich das Problem der Einschätzung der gefundenen Bedingungen: Sind es faktische, notwendige oder gar hinreichende, ist der Katalog vollständig usw.? Einige der wesentlichen Schwierigkeiten der Diskurstheorie werden bereits von Habermas selbst festgestellt und thematisiert: In der grundlegenden Frage der Konstituierung praktischer Rationalität im kommunikativen Handeln wird dessen Einbindung in einen kooperativen Handlungskontext so gegen „irrationale“ Momente der Sprache und des Sprachgebrauchs in Anschlag gebracht, dass die Theorie zwar einen „poetischen“ Bereich der sprachlichen Interaktion von der Dynamik einer internen Rationalisierung freisprechen und isolieren muss, den verbleibenden Komplex der Alltagssprache aber umso sicherer von jenen Momenten ungetrübt weiß. Im Übrigen gerät dieser ausgegliederte Bereich doch wieder unter den Bewährungsdruck einer Alltagspraxis, die gleichsam in einem autonomen Prozessieren die strukturellen Komponenten der Lebenswelt rationalisiert, mit denen sich die Resultate des „poetischen Sprachgebrauchs“ schließlich vermitteln müssen. Ähnlich konfrontiert sich in speziellerer Hinsicht die Diskurstheorie des Rechts mit der Frage nach den Bedingungen der Einschreibung jener Rationalität in rechtliche Normen – immerhin ist der faktische Gesetzgebungsprozess im engen Sinn keine Situation kommunikativen Handelns – und, für den Fall, dass diese Einschreibung erfolgreich ist, weiterhin mit dem Problem der Ohnmacht des bloßen Sollens. Dieses letztere Problem wird dadurch verschärft, dass es nicht lediglich als Frage individueller Tugend, Willensschwäche und Motivation aufgezäumt wird. Denn für Habermas ist davon auszugehen, dass es gesellschaftlich unverzichtbare Handlungszusammenhänge gibt, die nach eigenen Imperativen strukturiert und grundsätzlich unfähig sind, die allgemeine Rationalität jener Normen aufzunehmen bzw. die die
4.1 Komplementarität zwischen Institutionen und Kommunikationen
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Individuen zu Einstellungen disponieren, welche ihnen diese Aufnahme erschweren. In einer frühen Phase der Theorie wird die Bindungskraft normativer Institutionen in der Universalität ihres Gehalts lokalisiert, so dass mit der einen Frage zugleich die andere beantwortet wäre – ohne dass diese Antwort jedoch bereits auf eine differenzierte Weise expliziert würde. In einem späteren Stadium wird die Rationalität der Gesetze trotz der verfahrenstechnischen Vorrichtungen jedoch als auch von der Orientierung der Gesetzgeber am nur diskursiv feststellbaren Gemeinwohl abhängig vorgestellt, während ihre Bindungskraft mit dem Konzept der kommunikativen Macht erklärt wird. So gehen aus kommunikativem Handeln zwei analytisch unterscheidbare Komponenten hervor: Einerseits eine Rationalität, die den Gesetzen Zustimmungsfähigkeit bzw. Legitimität verleiht, andererseits die Macht der öffentlichen Meinung, aus der die Gesetze eine Autorität beziehen, die den allgemeinen Rechtsgehorsam noch vor jeder Durchsetzung unter Rückgriff auf kasernierte Gewaltmittel oder deren Androhung gewährleistet. Schließlich wird dieses Modell von der Vorstellung einer nicht-institutionalisierbaren „demokratischen Öffentlichkeit“ umrahmt, die im Krisenfall die Generierung kommunikativer Macht und die Einspeisung kommunikativer Rationalität in die institutionalisierten politischen Prozesse durch die Mobilisierung eines Drucks der öffentlichen Meinung auf das politische System (und auf individuelle und gesellschaftliche Akteure) in der Weise leisten kann, dass Gemeinwohlorientierung, Normenkontrolle, Gesetzesvorbehalt, schließlich auch Rationalität der Gesetze und Gesetzestreue der Rechtssubjekte als in ausreichendem Maße gewährleistet angenommen werden können. So trägt die Theorie dem untilgbaren und reflexiv bekräftigten normativen Anspruch des demokratischen Staats Rechnung, indem sie Elemente demokratischer Staatlichkeit nicht als bloß formale, sondern als soziale Institutionen begreift, die nicht allein empirisch funktional einzuordnen, sondern in ihrem Geltungs- und Legitimitätsanspruch zu verstehen sind. Allerdings greifen die beschriebenen Antwortstrategien der Diskurstheorie zu kurz: Die starke Konzentration auf die in pragmatischer Hinsicht unvermeidlichen Idealisierungen belässt es bei der Etablierung eines viel zu schmalen Fundaments, um die Rolle der Lebenswelt für die stattfindenden Kommunikationen und umgekehrt deren Rolle für die Reproduktion der Lebenswelt erfassen zu können. Entsprechend erscheint ihr die Reproduktion der Lebenswelt nur in einer Form, die nicht weniger eine kontrafaktische Idealisierung ist als die Unterstellungen, die die Akteure in der Interaktion vorzunehmen gezwungen sind. Der Prozess der Rationalisierung der Lebenswelt durch ihre diskursive Durchdringung, die – wenn nicht je faktische, so doch prinzipielle – Transparenz und Identität ihrer strukturellen Komponenten, schließlich auch die Weise, in der sich die lebensweltlichen Zusammenhänge als Ressourcen und Beschränkungen für das kommunikative Handeln, ja für das Handeln und die Kommunikation ganz allgemein objektiviert finden, alle diese Momente zeugen von einem zu einfachen Bild kommunikativ konstituierter Intersubjektivität. Die Ausblendung der semantischen Dimension des kommunikativen Handelns unterschlägt, dass jede Kommunikation auf eine nach den Habermas’schen Maßstäben irrationale
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4 Eine post-phänomenologische Diskurstheorie demokratischer Staatlichkeit
Weise an der Reproduktion eines nicht propositional, sondern diffus symbolisch strukturierten, sich kontinuierlich zwischen Entzug und Präsenz umstülpenden Kontexts teilhat. Selbst wenn es den Akteuren eines im strikten Sinne zu verstehenden kommunikativen Handelns tatsächlich gelingen sollte, die symbolische Seite ihrer sprachlichen Äußerungen (in übereinstimmender Weise) auszuklammern, so müsste man annehmen, dass diese sich in eine Dynamik verselbständigt, die zwar in der aktuellen Situation nicht relevant sein mag, die aber die Hintergrundbedingungen und -verständnisse und damit dieselbe Interaktion schon „im nächsten Augenblick“ affizieren kann. In einer solchen Perspektive erweist sich die Herauskomplimentierung dieser Dimension also sowohl normativ als auch rationalitätstheoretisch eher als problematisch. Der Rekurs auf die nötigen Orientierungen der Gesetzgeber und auf die kommunikative Macht, schließlich auf die produktive und aktivierende Rolle der Öffentlichkeit im Zusammenhang der Rechtstheorie erweist sich ebenfalls – zumindest in der Frage der Wirkung der diskursiven praktischen Rationalität – als Scheinfortschritt, denn er bietet selbst keine weitere Erklärung der entsprechenden „Kräfteverhältnisse“ an. So läuft er entweder auf die Feststellung der Konstitution und Reproduktion eines gesellschaftlichen Haushalts verfügbarer Gründe hinaus, was zwar durchaus eine nicht zu vernachlässigende Einsicht ist, aber in der aktuellen Problematik gerade nicht weiterhilft; oder er verlegt die in dieser Hinsicht entscheidenden Prozesse in den Bereich der Persönlichkeitsstrukturen, letztlich: des Psychologischen.1 Das von Habermas gebrauchte Bild eines Kreislaufs, in dem Macht in zwei einander entgegengesetzten Richtungen produziert und transportiert werden kann,2 kann in seiner Metaphorizität selbst von Derrida kaum übertroffen werden, bietet aber in der Frage der Differenzierung zwischen Macht- und Kommunikationskreislauf nur sehr beschränkte Möglichkeiten. Habermas zeigt zwar überzeugend, wie sich Themen, Argumente und Gründe durch verschiedene Diskussionszusammenhänge ausbreiten. Und gestehen wir weiterhin zu, dass die politischen Akteure die Zustimmung der Rechtssubjekte zu ihrem politischen Handeln nicht nur im Rahmen einer leeren Rhetorik hervorkehren, die sich genau der Chancen bewusst ist, zum entscheidenden Zeitpunkt die nötige Gefolgschaft unabhängig vom aktuellen Handeln mobilisieren zu können, sondern sie faktisch zum Maßstab dieses Handelns machen und in diesem Sinne die Autorität der öffentlichen Meinung anerkennen – obwohl die Kräfte, die dies über die Unumgänglichkeit der Rhetorik und der Konstruktion eines idealisierten Modells von Politik hinaus realisieren können sollten, völlig unterbestimmt geblieben sind. So bleibt aber immer noch unklar, woran sich für diese Akteure 1
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Während der Topos der Gemeinwohlorientierung der Gesetzgeber sich offenkundig auf dieses letztere, das psychologische Moment, beschränkt, kann man sowohl für das Thema der Habermas’schen kommunikativen Macht als auch für das der Öffentlichkeit feststellen, dass diese Motive intern in die Prozesse der diskursiven Produktion von Gründen und Konsensen einerseits, von Autorität, Verpflichtungs- und Bindungskraft andererseits unterscheidbar sind. Lässt man die nicht überzeugende und letztendlich bloß definitorische Identifikation des zweiten Moments mit dem ersten außer Acht, bleibt jenes zweite Moment aber vollkommen im Dunkeln. Vgl. Habermas 1994a, S. 459–467.
4.1 Komplementarität zwischen Institutionen und Kommunikationen
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die öffentliche Meinung in einer ihre Autorität nicht relativierenden Weise ablesen lassen könnte. Das von Habermas in diesem Kontext verhandelte Beispiel des zivilen Ungehorsams zeigt bereits, dass sich die fragliche Autorität auch in Situationen zur Geltung bringen kann, in denen nicht, oder jedenfalls nicht ohne Weiteres von einer Repräsentativität der Beteiligten ausgegangen werden kann. Dieses „Weitere“ betrifft den Ergänzungsbedarf der Diskurstheorie im Ganzen. Denn wie im Falle der pragmatischen Sprechaktanalyse fehlt auch hier das Bewusstsein, oder zumindest die Explikation der symbolischen Dimension der Kommunikationsprozesse. Für das Beispiel des zivilen Ungehorsams entfaltet Habermas zwar, wie dieser sich unter einen enormen Explikationszwang begibt, und dadurch den Appell an die Amtsinhaber und Mandatsträger bekräftigt. Dass der gleichzeitige Appell an die politische Öffentlichkeit und das politische System im Ganzen auf einer anderen Ebene liegt, sieht Habermas, bekommt es aber, etwa mit der Rede vom impliziten Subtext, nicht wirklich in den Griff. Die Radikalität des zivilen Ungehorsams schließlich, die ihn als Dramatisierung am „oberen Ende jener Stufenleiter“3 der Eskalation von Protesten festschreibt, lässt sich weder durch den reflexiven Bezug dieses Ungehorsams auf seine eigene Herkunft aus der Zivilgesellschaft erklären, noch durch ein Verständnis der Verfassung als eines unabgeschlossenen Projektes und durch die Anerkennung der „Perspektive von Bürgern, die sich an der Verwirklichung des Systems der Rechte aktiv beteiligen und die, mit Berufung auf und in Kenntnis von veränderten Kontextbedingungen, die Spannung zwischen sozialer Faktizität und Geltung praktisch überwinden möchten.“4 Sie hängt nämlich mit der symbolischen Reichweite jener Regelverletzungen zusammen, die Habermas so standhaft zu untersuchen vermeidet. Auch die Autorität prominenter Intellektueller, die „Verkörperung“ der öffentlichen Meinung in bestimmten Situationen durch bestimmte Akteure, Thesen oder Statistiken, das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat und seiner Autorität, der Zwang zu einer mehr oder weniger universalistischen Rhetorik und die damit verbundene „civilizing force of hypocrisy“ (Elster),5 denen Mandatsträger und Inhaber administrativer Macht unterworfen sind: die Untersuchung all dessen sollte einer Diskurstheorie der Demokratie gut anstehen. Als Theorie politischer Kommunikation kann sie sich diese Aufgaben auch tatsächlich zutrauen, anstatt bei der Verortung jener Problematiken im Rahmen von Persönlichkeitsstrukturen, „entgegenkommenden Lebensformen“ oder gar systemtheoretischen Zusammenhängen kehrt zu machen. Denn wie wir gesehen haben, lassen sich die genannten Phänomene in einer Erforschung der symbolischen Momente solcher Kommunikationen durchaus sinnvoll erörtern. Auch rechtlich institutionalisierte Verfahren, ja auch die rechtliche Institutionalisierung von Verfahren und (Subjekt-)Positionen selbst sind symbolisch imprägnierte Kommunikationen, die über die idealisierenden Unterstellungen der Akteure hinaus den Spielraum sinnvollen Verhaltens strukturieren. Das Verhältnis zwischen der institutionentheoretischen Herausarbeitung wichtiger Elemente der 3 4 5
Ebd., S. 462. Ebd., S. 464. Vgl. Elster 1995 oder Elster 1998.
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4 Eine post-phänomenologische Diskurstheorie demokratischer Staatlichkeit
Demokratie und der Rekonstruktion lebensweltlicher Zusammenhänge, in die diese Institutionen eingebettet sind, ist kein so äußerliches, wie es die Rede von den notwendig zu unterstellenden Voraussetzungen nahelegt. *** Eine post-phänomenologisch ansetzende Theorie der demokratischen Staatsform wie diejenige Claude Leforts muss, anders als systemtheoretische oder psychologische Beiträge, den kommunikationstheoretischen Rahmen nicht verlassen, um an den betreffenden Punkten die entsprechenden Ergänzungen vorzuschlagen. Gegenüber Habermas’ immer noch vergleichsweise Kantianischen Analysen erlaubt sie es, die Geltungsbedingungen demokratischer Ordnungen gleichsam von innen, aus dem lebensweltlichen Zusammenhang zu entfalten. Die Binnenstruktur faktischer Geltungsanerkennung ist nämlich komplizierter als es die formalpragmatische Ausblendung der performativen und semantischen Dimension faktischer Kommunikationen zu denken erlaubt. Probleme der Erschließung und des Verstehens der diversen Momente von Rationalität, die den Prinzipien demokratischer Ordnungen von den in ihr lebenden Menschen einbeschrieben wurden, das Problem, dass diese sich in gewissem Grade mit dieser Ordnung und ihrer Rationalität selbst noch im Falle ihres fortdauernden möglicherweise in gewissem Grade grundsätzlichen Dissenses identifizieren müssen bzw. die schwierigen Fragen, welches „diese gewissen Grade“ sind und sein können, lassen sich nur im Nachvollzug der Performanz der politischen Kommunikationen, nicht in der Rekonstruktion ihrer idealisierten Geltungs-Infrastruktur behandeln. Dabei muss man sich keineswegs in einen Relativismus verstricken, im Gegenteil: Unabhängig von der Differenz zwischen faktischen Institutionen und ihrer abstrakten Formulierung im idealisierten System der Rechte, hängt die Rationalität gesellschaftlicher Einrichtungen doch auch von diesen konkreten Umständen ihrer Realisierung ab. Von ihnen her wird man noch dem abstrakten System der Rechte etwa besondere Prekarität oder aber auch weitere Rationalität zusprechen müssen. Und wer würde bezweifeln, dass sich die von Habermas herausgearbeiteten basalen Rechte und Institutionen in gewissem Sinne vor allem der historischen Erfahrung verdanken, vor deren Hintergrund Habermas seine Rekonstruktionsbemühungen unternimmt. So können Leforts Untersuchungen etwa als direkte Antwort auf die in der Perspektive rationaler Begründung festgestellte Problematik einer unzureichenden Differenzierung zwischen Autorität und Legitimität, und auf die Frage, wie diese beiden zusammenhängen, gelesen werden. Mit dem Rückgriff auf die symbolischen Strukturen politischer Verhältnisse ist es möglich zu zeigen, dass Autorität einem Bedarf entspringt und entspricht, der in der Perspektive der Begründung nur sehr verkürzt registriert werden kann: Sie erschöpft sich nämlich nicht in ihrer universalistischen Natur, sondern rückt diese in einen engen Zusammenhang mit der symbolischen Aufhebung irreduzibler sozialer Differenzen. Dabei rückt die rationale Konstitution, anders als in der legitimitätstheoretischen Perspektive, in den Hintergrund. Das heißt allerdings nicht, dass die auf einer öffentlichen Deliberation und rechtlich institutionalisierten Verfahren basierende politische Meinungs- und
4.1 Komplementarität zwischen Institutionen und Kommunikationen
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Willensbildung und die sich an sie bindenden oder an sie gebundenen Institutionen nicht auch geeignete Weisen sind, solche Autorität zu bilden, zu unterhalten und einzusetzen. Die Demokratietheorie Leforts macht ja gerade deutlich, dass bei aller Unterscheidung zwischen Legitimität und Autorität, bei aller Ausblendung der rationalen Dimension jener diskursiven Konstruktionsleistung, die demokratischen Institutionen und Verfahren auch nach der Seite der Autorität hin einen Charakter haben, der sie anderen Autoritäten gegenüber normativ vorzugswürdig macht: Denn sie bringen auf besondere Weise die symbolische Aufhebung sozialer Differenzen, die sie als Autorität ausmacht, mit der unübersehbaren Vergegenwärtigung des „bloß symbolischen“ Charakters dieser Aufhebung zusammen. So können sie die im Moment der Autorität angelegten totalisierenden Tendenzen blockieren und die nötige politische Identifikation auf ein „gesundes Maß“ begrenzen, sie in einen – jeden aktuellen Kontext transzendierenden – Bezug zu Differenz und Freiheit einschreiben.6 Aber Leforts Untersuchungen bringen zugleich zu Bewusstsein, dass diese „Blockade“ eben auch nur eine symbolische ist, und so mit diskursiven lebensweltlichen Zusammenhängen steht und fällt, die nicht wirklich feststellbar, d. h. letztlich unkontrollierbar, dynamisch und noch nicht einmal sicher wissbar sind. Der demokratische Charakter eines Gemeinwesens hängt so nicht allein von einem bestimmten Katalog von Institutionen ab, sondern – im Sinne des Nicht-Zulassens eines totalitären Verständnisses der auch in diesem institutionellen Kontext gegenwärtigen Autoritäten – vor allem von der permanenten praktischen Selbst-Interpretation der Gesellschaft. Die „Demokratie“ beschreibt (wie auch der „Totalitarismus“) nicht einfach nur eine Staatsform, sondern sie erfordert von sich aus eine Analyse, die bestimmte staatliche Institutionen in ihren gesellschaftlich-lebensweltlichen Praxisund Erfahrungszusammenhang einbettet. Umgekehrt ergeben sich aber auch in der Post-Phänomenologie Lücken, was nämlich die Begründungsfähigkeit und die normative Bestimmtheit angeht, mit der sich die vorgebrachten Diagnosen ausstatten lassen. So tadellos und unbezweifelbar die demokratische Gesinnung Leforts und seine Sensibilität für die Gefährdungen und Gegenkräfte, denen das demokratische Regime im Ganzen und die demokratischen Bürger im Einzelnen ausgesetzt sind, sein mögen, so unbefriedigend ist seine Auskunft, dass dies eben die Haltung ist, die für ihn und ggf. auch für uns als Bürger eines demokratischen Gemeinwesens unhinterschreitbar ist, dass sie sich uns („bloß“) mit dem Gewicht der Geschichte emanzipatorischer Kämpfe aufdrängt.7 Auch was einige demokratietheoretische Inhalte angeht, ist das mobilisierbare Begründungspotenzial wohl kaum ausgeschöpft. Man denke an die „unlösbare Verbindung zwischen Meinung und Recht und zwischen Subjekt und Recht“, die sich mit der demokrati6
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Ebenfalls gleichsam von der Seite der Autorität her gewinnt die Installation des Rechts an der Stelle desjenigen Pols, der jede Autorität legitimieren und ihre Universalität verbürgen muss, eine eigene Bedeutung: Denn in dieser Hinsicht ist es weniger die im Rechtsbegriff implizite pragmatische Begründungs-Infrastruktur, die den Ausschlag gibt, als der Verweis auf die praktische (sich ihrerseits intersubjektiv vermittelnde) Urteilskraft jedes einzelnen Rechtssubjekts und auf die zeitliche Unabschließbarkeit und Unvorhersehbarkeit dieser Beurteilungspraxis. Vgl. u. a. Lefort 1978d; Lefort 2007m.
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schen Erfindung und der „Entkörperung des Rechts“ ergibt.8 Diese Verbindung findet sich in der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats auf differenzierte Weise expliziert. Diese machte ja ihrerseits zugleich deutlich, dass die Explikation dieses Zusammenhangs einen zentralen Beitrag zur Würdigung der Legitimierung demokratischer Politik – im Sinne von Begründung und damit normativer Verbindlichkeit auch aus der Perspektive der beobachtend-teilnehmenden Theorie – ausmacht. Auch die Betonung des Entzugs der symbolischen Dynamik und der lebensweltlichen Sinnzusammenhänge fällt so stark aus, dass diese in kontraintuitivem Maße den konstituierten, immer schon sozialisierten Subjekten komplett entzogen scheint. Während es in der Tat in jeder Hinsicht richtig und wichtig ist, die politische Anerkennung jener Unverfügbarkeit herauszustellen, tendiert Leforts Modell doch – nicht in den expliziten Gehalten, sondern in vielen rhetorischen Motiven – dazu, die Unabhängigkeit und uneinsehbare Eigengesetzlichkeit dieses symbolischen Geschehens überzubetonen. Gewiss, Lefort erkennt grundsätzlich die ihrerseits konstitutive Praxis der diskursiven Subjekte an, und er zeigt in seinen Einzelstudien, etwa im Machiavel, auf wahrhaft beeindruckende Weise, wie sich die vermeintlich vor- oder übersubjektiven Prozesse soziohistorischer Diskurszusammenhänge immer wieder unter einzelnen, mitunter durchaus reflektierten und deliberierten Interventionen transformiert haben. Die systematische Frage aber, auf welchen strukturellen Kanälen sich solche Reflexions- und Transformationsmomente bilden und zur Geltung bringen können, die Frage, wie sie sich mit der Massivität der vorgefundenen Welt vermitteln, wird nicht mit einer Arbeit an der Vermittlung zwischen solchen konkreten Analysen und der abstrakten Theorie der sozialen Praxis beantwortet. Überhaupt müsste Lefort vor allem den unvermeidlichen Verweis auf diskursive Begründungsprozesse (im Habermas’schen Sinn) m. E. viel stärker selbst als historisches acquis ernst nehmen. Dieser Verweis ist nicht nur den idealisierenden Unterstellungen kommunikativ handelnder Interaktionspartner untilgbar einbeschrieben, sondern faktisch ein wesentliches Merkmal der demokratischen politischen Praxis. Und zwar nicht allein, wie dies Habermas nahelegt, wegen jener Idealisierungen, sondern auch (vielleicht sogar vor allem) wegen der Geschichte seiner symbolischen Einschreibungen. Vor diesem Hintergrund hätten etwa die Verfahren der Rechtsetzung eine größere Aufmerksamkeit im Hinblick nicht nur auf die Vergegenwärtigung von Differenz und Freiheitsbegehren, sondern auch auf die Ermöglichung komplexer Kooperation, sowie auf die Produktion von Rationalität und Legitimität im Sinne von Zustimmungsfähigkeit oder mindestens im Sinne ihrer Verkoppelung mit einem Prozess der Produktion und Universalisierung von Gründen verdient.9 8 9
Vgl. Lefort 2007l, S. 741ff. Allerdings ist damit die Differenzierung zwischen Legitimität und Autorität nicht eingezogen. Vielleicht ist dies auch der Grund für die knappen Ausführungen Leforts – dass die in deliberativen Verfahren produzierte rationale Zustimmungsfähigkeit die Autorität der politischen Programme und Einrichtungen relativ wenig, nämlich lediglich im Maße der symbolischen Vergegenwärtigung „einer Verbindung“ zwischen Rechtssubjekt, Meinung und Recht, tangiert, und diese sich in der Tat stärker in der symbolischen Spannung von Differenz, Identität, sozialer und zeitlicher Alterität konzentriert.
4.2 Elemente demokratischer Staatlichkeit
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Beide Ansätze gemeinsam verdeutlichen, dass ein Diskurs über den demokratischen Staat aufgrund der Verortung der Originalität demokratischer Institutionen in den pragmatisch mit ihnen verbundenen Geltungsansprüchen, in ihrem symbolisch konstituierten Geltungssinn und nicht zuletzt aufgrund der fortwährenden historischen Bemühung der Demokratie, Geltungsansprüche und Geltungssinn reflexiv institutionell abzusichern, sich selbst zu begründen und zu erklären, gezwungen ist, wesentliche Elemente demokratischer Staatlichkeit in den gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnissen zu rekonstruieren. Methodologisch bietet es sich nach den hier angestellten Überlegungen an, den interpretativen Ansatz einer postphänomenologischen Diskurstheorie der Demokratie in Anschlag zu bringen, um eine weitere Dimension demokratischer Verhältnisse und Prozesse sichtbar und einer diskurstheoretischen Frage nach ihrer Legitimität zugänglich zu machen. Zwar muss jener Ansatz dem „interpretativen Risiko“ Rechnung tragen und so seine eigenen Diagnosen eher als tentative Anregungen in einem Selbstverständigungsdiskurs demokratischer Gesellschaften verstehen, dafür kann er aber auf stabilisierende oder selbst-destruktive Momente aufmerksam machen, die anders nicht in den Blick kommen, obwohl sie einen wesentlichen Aspekt der politischen Kommunikation ausmachen. Umgekehrt ist es die diskurstheoretische Seite einer solchen Demokratietheorie, deren Analyse einer praktisch-rationalen Begründungsfähigkeit des auf diesem Wege auf die Agenda gebrachten Materials bzw. deren Analyse der diskursiven Rationalität der mit diesem Material verknüpften Konstitutions- und Revisionsverfahren nicht übergangen werden darf.
4.2 INHALTLICHE ÜBEREINSTIMMUNGEN: ELEMENTE DEMOKRATISCHER STAATLICHKEIT Wie deutlich geworden ist, kreisen viele Argumente bei den beiden untersuchten Theorien um identische Fragen, die sie aus komplementären Perspektiven betrachten. So teilen beide zum Beispiel die Auszeichnung des Rechts als desjenigen Moments einer demokratischen Ordnung, auf dessen Legitimierung die politischen bzw. administrativen Körperschaften angewiesen sind, das zugleich aber jeden partikularen Kontext transzendiert. Dabei kann sich Lefort mit der Erklärung der symbolischen Tragweite der Verlagerung des Grundes der Rechtsgeltung in „den Menschen“ begnügen, während Habermas die Spannung zwischen faktisch geltendem Recht und idealer Rechtsgeltung zunächst über die Vermittlung durch den Diskurs der Betroffenen, im Endeffekt aber über eine „politischere“ Vermittlung durch die (ausbleibende) Herausforderung und die (ausbleibende) Erzwingung eines immer als möglich vorgestellten Krisenmodus des Gesetzgebungsverfahrens aufrecht erhalten muss. Beide Momente stimmen aber darin überein, dass das Recht nicht allein als Instrument und Medium der Politik verstanden werden kann, sondern erstens dieser in gewissem Sinne widerstreitet und zweitens sich selbst unter einen gewissen Vorbehalt stellt, insofern es sich als abkünftig von den nicht kontrollierbaren sozialen oder semantischen Rändern des politischen Gemeinwesens präsentiert.
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Beiden gemein ist natürlich auch der herausragende Stellenwert der öffentlichen Kommunikation und deren offene, anti-subjektivistische Konzeptualisierung. Dieser öffentliche Diskurs ist für Habermas der Bürge für die vermutete Rationalität der an ihn angeschlossenen Rechtsetzungsdiskurse und damit auch der Generator von Legitimität für die politische Ordnung insgesamt. Bei Lefort ist er eine wesentliche Gestalt der gesellschaftlichen, gesellschaftskonstitutiven Praxis. Als solche entzieht er sich dem politischen Zugriff und unterminiert als von vornherein im Grunde untilgbare Kraft des Widerstands auch noch die mit den effizientesten Dispositiven abgesicherten totalitären Regimes. Beide Autoren verfügen über genug Kenntnisse sozialer Revolten, um auch begrifflich zu unterstreichen, dass es sich hier nicht allein um einen Entzug, sondern um äußerst gegenwärtige soziale Macht handeln kann, die selbst kreativ ist und das „politische System“ unter enormen Druck setzen kann. Die für die Demokratietheorie im Allgemeinen im höchsten Maße kontroverse (und in der akademischen Rezeption dieser beiden Autoren nicht weniger umstrittene) gemeinsame Überzeugung von Lefort und Habermas besteht allerdings wohl in der Abkoppelung der grundsätzlichen Legitimität einer demokratischen Gesellschaftsordnung von einer allzu engen Bindung an die faktischen Verfahren der Gesetzgebung. Diese wird allerdings – wiederum bei beiden – unter der Maßgabe vorgenommen, dass beliebige, spontane und öffentliche Prozesse der kritischen, mitunter radikalen Herausforderung der legalen Ordnung nicht nur faktisch realistische Chancen auf Berücksichtigung im kontinuierlichen Prozess der Transformation gesellschaftlicher Institutionen haben, sondern dass dies auf eine Weise gewährleistet wird, in der sich diese Chancen aus der Anerkennung der grundsätzlichen Legitimität solcher Herausforderungen und aus der damit einhergehenden, mehr oder weniger formalen Institutionalisierung ihrer Einflussnahme selbst ergeben. Während diese Verlagerung der Legitimierung bei Habermas in der Reaktion auf eine realistische Einschätzung administrativer Macht und auf die Unterscheidung zwischen einem regulären und einem außerordentlichen Machtkreislauf erfolgt, vollzieht sie Lefort, von einer Theorie der Macht und Autorität kommend, mit der Würdigung des Menschenrechtsbegriffs. In jedem Falle löst sich die Subjektposition des politischen Souveräns auf: Für Habermas ist die Souveränität vollends zerstreut und „verkörpert sich nicht einmal in den Köpfen assoziierter Mitglieder, sondern – wenn von Verkörperung überhaupt noch die Rede sein kann – in jenen subjektlosen Kommunikationsformen, die den Fluß der diskursiven Meinungs- und Willensbildung“ regulieren.10 Für Lefort hat jede Repräsentation eines Zentrums oder der Totalität der Gesellschaft ihren Sinn verloren und die politische Erfahrung der Demokratie ist die einer „nicht greifbaren, nicht beherrschbaren Gesellschaft, in der das Volk gewiss souverän genannt wird, in der aber die Fragen nach seiner Identität nicht abgeschlossen werden können, in der diese Identität immer latent bleibt. . . “11 Wie vielleicht erst die Rekonstruktion der Parallelen und Komplementaritäten der beiden Autoren zeigen konnte, sind einige der sich daraus ergebenden Kon10 Habermas 1994b, S. 626. Vgl. auch Habermas 1994a, S. 365. 11 Lefort 1994c, S. 173.
4.2 Elemente demokratischer Staatlichkeit
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sequenzen radikaler als es häufig wahrgenommen wird. In der Verlängerung der Gedanken der Transzendenz von Rechtsgeltung und der Entfaltung der symbolischen Dimension des Rechtsbegriffs liegt erstens die Überzeugung, dass das demokratische Gemeinwesen sich Rechtsforderungen gegenüber verpflichtet wissen muss, die gar nicht antizipierbar sind. In dieser Hinsicht besitzt die Transzendenz des Rechts nicht nur den Sinn, Inhalte zu formulieren, die unabhängig von der aktuellen sozialen und historischen Situation Geltung beanspruchen können, sondern auch denjenigen, dass sich seine Extension in keiner konkreten Situation umreißen lässt. Dies ist eine Radikalisierung des von Habermas explizit reklamierten Verständnisses der Verfassung als eines unabgeschlossenen Projekts, denn es hintertreibt auch noch die Idee, in einem abstrakten System der Rechte ließe sich der Kern eines solchen Verfassungsprojektes von Anfang an formulieren und als vorgängiger Beurteilungsmaßstab an faktische Verhältnisse (und Forderungen) anlegen. Habermas sieht die Radikalität dieser historisch offenen Konstitution und verharmlost sie zugleich als Problem der Auslegung und Interpretation, wenn er schreibt: Deshalb meint die Rede von „dem“ System der Rechte bestenfalls das, worin die verschiedenen Explikationen des jeweiligen Selbstverständnisses einer solchen Praxis übereinstimmen. Ex post enthüllt sich auch „unsere“ theoretische Einführung von Grundrechten in abstracto als ein Kunstgriff. Niemand kann sich den Zugriff auf ein System der Rechte im Singular unabhängig von den Auslegungen zutrauen, die er historisch schon vorfindet. „Das“ System der Rechte gibt es nicht in transzendentaler Reinheit. [. . .] Wie wir noch sehen werden, ist jede Verfassung ein Projekt, das nur im Modus einer fortgesetzten, auf allen Ebenen der Rechtsetzung kontinuierlich vorangetriebenen Verfassungsinterpretation Bestand haben kann.12
Es handelt sich gewiss um eine Interpretation, aber um die eines Textes, der immer erst noch geschrieben werden muss. Zweitens ist es nun definitiv unmöglich, das Gemeinwesen in irgendeiner Form mit einer partikularen Gemeinsamkeit zu identifizieren. Leforts Demonstration der Weise der Konstitution demokratischer Autorität und eines Zugehörigkeitsgefühls in und durch symbolische Zusammenhänge zeigt ja gerade, wie die so repräsentierte Identität wesentlich von einer grundsätzlichen und unbeherrschbaren Differenz(ialität) durchzogen ist. Dies muss auch für die Gemeinsamkeiten gelten, deren Partikularität Habermas zu dekonstruieren sucht, wenn er sie als Basis seines Modells des Verfassungspatriotismus vorschlägt. Geteilte Interpretationen (oder Interpretationshorizonte) der Verfassungsprinzipien, gemeinsame Geschichte, geteilte Ziele usw. beschädigen die universalistische Transzendenz des Rechts und die Anerkennung der Legitimität fundamentaler – und nicht antizipierbarer – Differenzen in dem Maße, in dem sie substanziell verstanden werden.13 Wenngleich 12 Habermas 1994a, S. 163. 13 Und doch scheint Habermas gerade in ihrer Substanzialität den wichtigsten Anhaltspunkt ihrer solidaritätsstiftenden Funktion verankert zu sehen. Dieser Zusammenhang konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit leider nicht entfaltet werden. Vgl. stellvertretend Habermas 1996a und Habermas 1996b, S. 318–336. Dazu vgl. Wagner 1999. Eine an die hier vorgelegten Analysen gut anschließbare kritische Auseinandersetzungen mit den Realisierungsaussichten des Modells von Verfassungspatriotismus auf europäischer Ebene findet sich bei Kumm 2008.
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es bei Habermas keinen sehr starken Anhaltspunkt zur Entfaltung eines solchen Verständnisses gibt, könnte sich vielleicht dennoch eine „demokratischere“ Lesart solcher Zusammenhänge etablieren lassen, die sie als symbolische Zusammenhänge ernst nimmt und den Einschreibungen von Differenzen in die Figuren von Identität nachspürt.14 Schließlich bringt die „Zerstreuung des Souveräns“ die Frage nach der Autorschaft der Rechtssubjekte auf die Tagesordnung. Wir hatten in der Besprechung der „wilden Demokratie“, wie sie Claude Lefort vorschlägt, gesehen, dass für ihn mit dem demos primär ein kontestatives Moment verbunden ist. Das Eigentümliche der Demokratie besteht für ihn in der Anerkennung der Kontingenz jedes positiven politischen Programms und in der an diese Anerkennung anschließenden Praxis. Dem entspricht die Betonung der „reinen Negativität“ des Freiheitsstrebens des demos – im Sinne der Menge der sans-pouvoir. Vielleicht ist es tatsächlich die permanent drohende, apriori zugestandenermaßen legitime Belagerung der Politik durch die, von denen wir im Moment noch gar nicht sehen, dass und wie sie ausgeschlossen sind, die das Selbstverständnis der Demokratie im Sinne einer besonderen Weise, in der Gesellschaft und in der Zeit zu sein, prägt. Und auch Habermas zieht sich ja mitunter auf die Position zurück, dass „im normalen Operationsmodus“ des politischen Systems die Überzeugung der Rechtssubjekte, selbst Autoren des Rechts zu sein, dem sie unterworfen sind, zweitrangig ist und ihr zeitweiliges Ausbleiben den Charakter der Demokratie kaum trübt. In einer merkwürdigen Aneignung systemtheoretischen Vokabulars spricht er sogar davon, dass „im Krisenfalle“ die Rechtssubjekte in ihrem subjektlosen Zusammenschluss zu einer politischen Öffentlichkeit den Routinemodus des politischen Systems nurmehr „stören“.15 Dies soll aber offenbar so verstanden werden, dass in diesem Ausfall des Routinemodus das politische System aufhört, wie ein System zu funktionieren, und sich für die rechtlich explizit vorgesehene und im Geltungssinn der Kommunikationen immer mit-bekräftigte Koordination nach der Maßgabe öffentlichen kommunikativen Handelns öffnet. Dieses Argument ist zwar unterentwickelt, könnte aber erklären, wie die skeptische mit der ambitionierten Seite der Habermas’schen Idee von Autorschaft der Rechtssubjekte zusammengeht. Denn während diese im einen Moment im Unterlassen von Kontestation und Protest besteht und so auf die passive Akzeptanz der dann doch möglicherweise paternalistischen Programme reduziert wird, traut Habermas im nächsten Moment der Demokratie viel mehr zu: Dann sieht er alle von demokratischer Politik Betroffenen über eine diskursive Öffentlichkeit und eine vitale Zivilgesellschaft in einer besonderen, aktiven Weise an das politische System angeschlossen. Auch Lefort gesteht den Protestierenden durchaus die Möglichkeit zu, eventuell Einfluss auf die Politik zu gewinnen und die politischen Programme in die gewünschte Richtung zu verändern; insofern billigt ihnen keiner der beiden einen größeren Einfluss als der jeweils andere zu. Aber für Lefort verlassen sie mit der effektiven Einflussnahme bereits den Status der Entäußerten, des demos, und werden 14 Vgl. etwa Derrida 1992. 15 Habermas 1994a, S. 434.
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neuer Teil der „Herrschaftsschicht“. Diesen Wechsel, und das ist es, was Habermas verdeutlicht, muss die Demokratietheorie aber nicht unkommentiert hinnehmen, sondern kann im Einzelnen die Kommunikations- und Interaktionsmechanismen untersuchen und beleuchten, welche Auflagen etwa an die Universalisierbarkeit der angezielten Veränderung sie der Einflussnahme aufzwingen – oder eben nicht. Im Moment ihrer Einbeziehung sind diese sozialen Akteure zwar sicherlich nicht mehr solch radikale Andere, die eine mehr denn bloß technische Herausforderung für die Integrationskapazität der demokratischen Institutionen darstellen. (Diese radikale Herausforderung, so konnten wir mit Lefort sehen, macht jedoch einen wesentlichen Aspekt der Demokratie aus, und eventuell wird sie sich durch andere soziale Akteure artikuliert finden.) Das heißt jedoch nicht, dass diese Einbeziehung normativ und rationalitätstheoretisch indifferent ist. Auch sie, d. h. die Einbeziehung selbst ist schließlich eine soziale Praxis, die dem Sinn der Demokratie entspricht oder nicht, die sich an Freiheit, Differenz, Universalisierbarkeit und Unvorhersehbarkeit oder eben am möglichst reibungsarmen Kompromiss partikularer Interessen orientiert. Weit davon entfernt, als solche bereits die Demokratie zu aktualisieren, sollte die Einbeziehung das ganze Analyseinstrumentarium einer post-phänomenologischen Diskurstheorie der Demokratie allererst mobilisieren und auf sich ziehen.16 In der von beiden Autoren erst in jüngster Zeit angeschnittenen Frage der internationalen politischen Gemeinschaft17 eröffnet jene Zerstreuung der Volkssouveränität natürlich Möglichkeiten, mit institutioneller Phantasie über Legitimationsmechanismen nachzudenken, die sich von der Konstitution von „Input-Legitimität“ durch die Wahl von Repräsentanten ablösen. Andererseits scheint das Moment der Repräsentation selbst nur schwer verzichtbar zu sein. Und trotz der Betonung der Innovation einer „transversalen“ Dimension des modernen, am Menschenrechtsgedanken orientierten Rechts wird auch die immer noch sehr enge Verkoppelung des Rechts mit der politischen Macht, insofern es vor allem als beschränkende und ermöglichende Bedingung moderner staatlicher Macht auftritt, den internationalen Rechtsverhältnissen schwerlich gerecht. Vor diesem Hintergrund ist eine wichtige Gemeinsamkeit der beiden vorgestellten Theorien in ihrer Ergänzungsbedürftigkeit angesichts globaler politischer und rechtlicher Verhältnisse und Prozesse zu sehen, die, gemessen an ihren binnenstaatlichen Entsprechungen, mindestens teilweise auf radikal andere Weise zu funktionieren scheinen.18 Wenn sie nun aber nicht, oder wenigstens nicht 16 Damit zerfasert die Frage der Autorschaft im Übrigen in die je konkreten Analysen von aktuellen Momenten der Integration „diskursiver“ Eingaben in das politische System, die zwischen bloßer Kontestation und reiner Negativität einerseits und positivem Agenda-Setting oder gar der Formulierung von Gesetzes- oder Verordnungsvorlagen andererseits, zwischen der Aktualisierung der Selbst-Ungewissheit der Demokratie, der Durchsetzung spezieller Freiheitsräume und ihrer allgemeinen Zugänglichkeit und der Einrichtung neuer Figurationen der differenten Gemeinschaft variiert. Aus diesen nur abstrakt benannten Momenten einer demokratischen Verknüpfung von Politik und Gesellschaft lässt sich auf der Ebene der Theorie aber eben keine objektive Schwelle der notwendigen Qualität von Autorschaft und kein Maximum, jenseits dessen die Demokratie in jedem Falle in Totalitarismus oder Oligarchie abglitte, konstruieren. 17 Vgl. Habermas 1998; Habermas 2004; zuletzt etwa Habermas 2008. Vgl. auch Lefort 2007c. 18 Ebd., S. 1036 macht ja immerhin auch den Punkt, dass das internationale Recht selbst als ein
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in der gewohnten Weise, „politisch“ ist, ist diese neue Weise, gemeinsam in der Welt zu sein, dringend klärungsbedürftig. 4.3 DIFFERENZ: MÖGLICHKEIT UND NOTWENDIGKEIT DES KONSENSES Im Hintergrund der vorgeschlagenen radikalisierenden Lesart der Diskurstheorie verbirgt sich allerdings doch vielleicht ein grundsätzlicherer Widerspruch. Er macht sich zunächst an Habermas’ Bestehen auf der notwendigen Orientierung an der Erzielung eines Einverständnisses fest. Dieses und Leforts Beharren auf der Anerkennung irreduzibler Differenzialität stehen sich ja scheinbar unversöhnlich gegenüber: Während die Konsensorientierung eine unvermeidliche Unterstellung eines jeden diskursiven Austauschs im Rahmen kommunikativen Handelns – und damit auch des konstruktiven Beitrags der politischen Akteure – ist, ist die Anerkennung der Unmöglichkeit eines substanziellen gesellschaftsweiten Einverständnisses gleich welcher Art ein unverzichtbares Kernelement der Demokratie, wird durch diese den gesellschaftlichen Akteuren mehr oder weniger aufgenötigt. Analysiert man diese Motive bei den beiden Autoren weiter, so lassen sie sich bis in die grundlegenden sprachtheoretischen und ontologischen Überzeugungen hinein verfolgen. So besteht Lefort auf der Offenheit der sozialen Praxis, ihrer Rolle der ursprünglich sozialen Konstitution von Welt und auf der Unmöglichkeit, zum Ursprung zurückzugehen, eine Vogelperspektive einzunehmen, die erst die objektive Feststellung von bestimmten Strukturen und Qualitäten in den Diskursen ermöglichen würde. Die Ebene der Erfahrung sozialer Praxis ist bei ihm der theoretischen, im Grunde gar der sprachlichen Reflexion zwar nicht inkommensurabel, aber doch transzendent; sie konstituiert diese, lässt sich von ihr aber umgekehrt nicht vollkommen durchdringen.19 In einer synchronen Perspektive wird diese strukturelle Differenz Ereignis in die Welt trat: „Ich verstehe darunter ein Ereignis wie diejenigen, die das Zeichen der Institution tragen, die einer neuen sozialen oder zwischensozialen Erfahrung den Weg bahnen. Seine Interpretation ergibt sich aus einer Phänomenologie, die die Zeichen seiner instituierenden Funktion aufgreift, seiner Historizität und seiner Irreversibilität.“ Nur steht diese Interpretation eben noch aus. Zu Leforts (und Merleau-Pontys) Begriff der Institution vgl. Lefort 2003 19 Damit spielt sich natürlich auch die Dynamik der historischen Entwicklung jener Praxis in einer mehr oder weniger intransparenten Weise ab, und Lefort argumentiert für die Anerkennung einer différence temporelle, einer grundsätzlichen Alterität von Vergangenheit und Zukunft, die durch die Annahme der différence dans le temps verdeckt würde. Gemeint ist eben die Opazität, die die Vorgegebenheit der Welt, in der wir uns bewegen, betrifft, ihre historische Gewordenheit und ihr Einfluss auf die Gegenwart. Dennoch ist dieser Gedanke weniger fatalistisch als man zunächst annehmen könnte. Zwar wird die Welt als eine Zu-uns-herkommende, Vorgängige erfahren, deren Herkunft und Ursprung selbst sich zwar entziehen, zugleich versetzt sie uns aber in die Lage, eigenständig und unsererseits sinnvoll, sinnstiftend zu handeln. Anders als bei Heidegger gilt es nicht, sich dem vorgängigen Geschick zu überantworten, sondern in eine gleichsam schizophrene Praxis einzutreten, die einerseits nicht über die übermächtigen Bedingungen ihrer selbst verfügen kann, die sich andererseits aber selbst als autonome Stiftung zu verstehen gezwungen ist und der Welt erst ihren Sinn verleiht. Die ontologischen Einzelheiten dieser, von Lefort unter dem Titel der distorsion behandelten Thematik, sollen uns hier nicht mehr interessieren. Siehe oben, S.
4.3 Differenz und Konsens
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in die Kluft zwischen praktischer Erfahrung und expliziter Reflexion transponiert und findet sich so verdoppelt und vertieft. Für eine explizite Reflexion der Erfahrung des Sozialen heißt das, dass dessen Repräsentation strukturell unvollständig bleiben muss, geprägt durch einen nicht definier-, nicht integrier- und nicht tilgbaren „Rest“ oder „Rand“. So zieht in das gesellschaftliche Selbstverständnis eine fundamentale Alterität ein, die allein durch die Demokratie anerkannt, legitimiert und symbolisch institutionalisiert wird. Denn wie wir sahen, besteht eine zentrale Pointe der Demokratie darin, sich in gewissem Sinne diesem „Rand“ normativ auszuliefern. Dort wird diese radikale Alterität immer wieder durch die „rein negative“ Kontestation sozialer Akteure zur Geltung gebracht, welche als wesentlich Ausgeschlossene in Erscheinung treten und so nicht nur die Kontingenz, sondern eine jeweils konkrete Unangemessenheit des gesellschaftlichen Selbstverständnisses offenbaren und dessen Revision erzwingen. Der für Lefort zentrale Dissens findet sich damit nicht auf der Ebene der Auseinandersetzung um jeweils konkrete Forderungen und (Geltungs-) Ansprüche, sondern gleichsam im Innern des politischen Selbstverständnisses – und bedarf zu seiner „Entdeckung“ der Konfrontation mit dem Inkommensurablen an den Protesten der Subalternen. Oder, um das vermeintlich weniger politisch aufgeladene rechtstheoretische Argument aufzunehmen, das oben an den Schluss der Diskussion Leforts gestellt war: Wenn eine soziale Bewegung konkrete Forderungen nach neuen Rechtsgarantien artikuliert, dann ist dabei das für die Demokratie insgesamt wesentliche Moment nicht die (ggf. nur idealisierend anzunehmende) Möglichkeit oder Unmöglichkeit, diese Forderungen in allgemeinem Einvernehmen in die institutionelle Ordnung zu integrieren, sondern das Zugeständnis, dass diese institutionelle Ordnung immer für „unvordenkliche“ Forderungen solcher Art offen, sozusagen „anfällig“ oder „verwundbar“ sein wird, dass sie diese Forderungen als „rechtmäßig“ wird anerkennen müssen, ohne je einen vollkommen entsprechenden Begriff des Rechts formulieren zu können. Wie wir sahen, legt Habermas hingegen das Augenmerk auf Momente der diskursiven Praxis, die einen reflexiven und expliziten Argumentationsprozess mindestens virtuell eröffnen, welcher die Rationalität der Diskursresultate befördert. Eines der wesentlichen Momente ist dabei die Orientierung an der Erzielung eines Einverständnisses in Fragen, die die Handlungskoordination betreffen. Die Argumentationspraxis selbst erzwingt offenkundig, dass die Kommunikationspartner sich selbst in dieser Weise orientieren und einander diese Orientierung zuschreiben. Genau betrachtet ist es allerdings umgekehrt: Das Ziel einer am Einverständnis orientierten Handlungskoordinierung ist ja für Habermas das Motiv für den Eintritt in die Argumentationspraxis, weil nur in dieser die Übereinstimmung in den diversen Geltungsansprüchen auf differenzierte Weise her- und festgestellt werden kann. Andererseits wird man gerade im Bereich der Politik faktisch nur in seltenen Fällen davon ausgehen können, das sich die Interaktionen durch das Modell kommunikativen Handelns erschöpfend erklären lassen. Dagegen spricht nicht nur, dass in solchen Kommunikationen häufig partikulare Interessen sehr weitreichend betroffen sind. 120, vgl. aber auch Merleau-Ponty 2003c.
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(Das, so könnte man argumentieren, ist im Alltagshandeln ja auch nicht notwendigerweise anders.) Jedoch spielt, wie die vorliegende Untersuchung zu verdeutlichen versuchte, die symbolische Dimension der sozialen Praxis in diesem Bereich eine so gravierende Rolle, dass sie einerseits viele Interaktionsprozeduren überdeterminiert (man denke an Beispiele diplomatischer Interaktion), und andererseits die für kommunikatives Handeln notwendige Annahme einer Übereinstimmung in basalen Fragen, über Verfahrensregeln und hinsichtlich der Interpretation des Situationskontexts mit einer Unglaubwürdigkeit versieht, die sich auch in der Perspektive einer kontrafaktischen Idealisierung nicht abschütteln lässt. Dies war ja gerade die subtilere Pointe des Lefortschen „leeren Ortes der Macht“, die wir soeben noch einmal hervorgehoben haben. Die Demokratie zeichnet sich demnach eben dadurch aus, dass die Annahme eines basalen Einverständnisses, einer Vorverständigung, selbst einer gemeinsamen Konsensorientierung zunächst einmal unmöglich geworden ist. In diesem Sinne kann das kommunikative Handeln nicht das strukturbildende Element der demokratischen Ordnung im Ganzen sein, und in diesem Sinne wird der Rückzug auf die kontestatorischen Phänomene plausibel oder gar unausweichlich. Das heißt aber wiederum nicht, dass es überhaupt keine Prozesse kommunikativen Handelns geben kann, oder dass sie, wo sie sich ergäben, verwerflich und antidemokratisch wären. Es besagt vielmehr, dass es als Herausforderung der politischen Praxis einer demokratischen Gesellschaft verstanden werden muss, in ihren Interaktionen die Anlagen einer kommunikativen Rationalisierung aufzuspüren, die Möglichkeiten der im Habermas’schen Sinne diskursiven Fortbildung bestehender Interaktionssituationen im Lichte der Unsicherheit über die verfügbaren Ressourcen auszuloten, und dabei vorsichtig mit Repräsentationen umzugehen, die die Differenzialität und Ungewissheit der Gesellschaft ausblenden. Dieser Gedanke führt zu einem letzten theorieimmanenten Problem, dem nach der Arbeit an den beiden Autoren weniger denn je klar begegnet werden kann: Ist die zuletzt genannte Herausforderung wirklich eine, die sich an die gesellschaftliche Praxis richtet? Richtet sie sich vielleicht eher an die politische Urteilskraft der Bürger? Die Frage danach, was in dieser Theorie „Intersubjektivität“ heißt, hat sich von einer eindeutigen Antwort eher entfernt – so schwankt die Theorie zwischen der Beschreibung von Rechten, welche sich Subjekte zusprechen müssen, wenn sie bestimmte Entscheidungen treffen bzw. von symbolischen Identifikationen, die die Subjekte vornehmen, einerseits und derjenigen von gesellschaftlichen Kommunikations- und Zirkulationsprozessen, in die sich die Volkssouveränität zurückzieht und die ihrerseits erst die individuellen Subjektpositionen konstituieren andererseits. Hatte sich die Diskurstheorie zunächst vielleicht einer Position affin gezeigt, die den Ausgang der Analyse in individuellen Präferenzen, Urteilen und deren vom Subjekt mobilisierbaren Gründen verortete, um dann zu untersuchen, wie sich dieses „Material“ in einem Prozess der Interaktion mit anderen Subjekten, deren Präferenzen und Gründen anreichern könnte und schließlich, gleichsam als öffentlich-diskursiv bewährte Eingabe die institutionalisierten Verfahren erreichen würde, um dort eine weitere Rationalisierung und schließlich eine Transformation
4.3 Differenz und Konsens
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in positives Recht zu erfahren und als Prinzip administrativer Macht wirksam zu werden, so gewann im Laufe unserer Untersuchung eine Lesart an Gewicht, die die Rede von den „subjektlosen Kommunikationsformen“ der verschiedenen Öffentlichkeiten ernst nimmt, die sich eigentlich nicht mehr als Verkörperung, wohl aber immer noch, wenigstens in gewisser Hinsicht, als Volkssouveränität verstehen lassen. Für die Diskurstheorie emergiert gleichsam nicht nur die Rationalität im faktischen Diskurs selbst, sondern auch eine rationale öffentliche Meinung, ein legitimer öffentlicher „Wille“. Und die Ablösung von jedem Subjekt, dessen Meinung und Wille sie wären, wird dadurch nicht weniger faszinierend, dass sie nicht mehr als einheitlich, transparent und gegenwärtig verstanden werden können. Umgekehrt konnte die Position der Post-Phänomenologie anfangs vielleicht leicht mit der Annahme eines metaphysischen Text-Geschehens verwechselt werden, das, den Individuen wesentlich entzogen, diesen konstitutive Bedingungen auferlegt, die sie nicht einmal als solche erfahren, und das ihnen darüber hinaus auch ihr eigenes Sprechen und Handeln entwindet. Dagegen ist nun deutlich hervorgetreten, dass es durchaus die – häufig genug auch entsprechend intendierten – Handlungen und „Aktionen“ von Individuen sind, die (bisweilen radikale) Umwälzungen im lebensweltlichen Hintergrund nicht bewirken oder initiieren, sondern selbst „bedeuten“ – diese Umwälzungen sind weniger mit epochalen poetischen Welterschließungsleistungen oder autonomen Dynamiken verbunden als mit der symbolischen, und das heißt in gewissem Maße auch greifbaren Dimension der Alltagspraxis oder von singulären Aktionen. So waren es eben jeweils konkrete Individuen, die sozusagen gezielt im „polnischen Sommer“ 1980 die Streiks organisiert haben, auf dem Balkon einer deutschen Botschaft im September 1989 nicht mehr als die Worte „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise. . . “ zu sagen Gelegenheit hatten, die Flugzeuge von 9/11 in das World Trade Center gesteuert haben, im Juni oder September 2009 mit grüner Kleidung bei einem Fußball-Länderspiel bzw. beim Defilee der Filmfestspiele in Venedig aufliefen usw. Gewiss entscheidet zu einem wichtigen Teil erst die Geschichte über die Bedeutung solcher Handlungen, aber Leforts Diskussion der Transzendenz der demokratischen Politik durch das Recht stellte ja heraus, dass die Demokratie in jedem Moment für eine Intervention offen ist, in der konkrete Individuen ihre Partikularität mit einem Rechtsanspruch verbinden, der ihnen (gerade in der Demokratie) nicht entzogen werden kann. Die Frage der jeweiligen Autonomie und Heteronomie der Dynamik des lebensweltlichen Hintergrunds einerseits, der Subjekte andererseits kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit und auf der Basis der diskutierten Thesen nicht mehr geklärt werden. Die vorliegende Untersuchung konnte aber hoffentlich zeigen, dass die Antwort auf diese Frage ihre Differenziertheit und Erklärungskraft in besonderem Maße im Rahmen einer Theorie der Politik und der Demokratie unter Beweis stellen müssen wird.
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4.4 AUSBLICK Während die fundamentalen Fragen der Autonomie und Wirkmacht der Subjekte im Verhältnis zur Dynamik der Lebenswelt einerseits und der Identifikation von Rationalitätspotenzialen und ihrer Entwicklung „im Innern“ der Lebenswelt andererseits hier also offen bleiben müssen, zeichnet sich immerhin recht deutlich ab, welche Gestalt eine politische Theorie, die die Einsichten Jürgen Habermas’ mit denen Claude Leforts verbindet, in ihren konkreteren Untersuchungen annehmen müsste: Sie müsste eine Lektüre demokratischer Institutionen in einem engen wie in einem weiten Sinne in Angriff nehmen, die im Einzelnen wohl den Habermas’schen (und Lefortschen) Analysen sehr nahe kommt, die aber ihre Plausibilität nicht aus der apriorischen Entfaltung der Implikationen des Rechtsbegriffes bezieht, sondern insbesondere daraus, dass ihre Zusammenschau eine bestimmte Orientierung hervortreten lässt – eine Orientierung der Analysen, die, wenn die Einzeluntersuchungen plausibel erscheinen, den lebensweltlichen Hintergrund je unserer demokratischen Lebensform reflektiert und erhellt. Die Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats deutet in ihren Lücken an, was die Theorie des kommunikativen Handelns noch ausformulierte: Dass der Sinn sozialer Handlungen und eben auch demokratischer Institutionen nur erschlossen werden kann, wenn die Analyse ihre Untersuchungen auch auf ungewisse Interpretationsvorschläge lebensweltlicher Zusammenhänge ausweitet. Aus der Perspektive derjenigen Argumente und Theoriebereiche, die uns mit einem handfesteren, eindeutigeren Charakter begegnen, können sich solche Ausweitungen nur als mehr oder weniger spekulative „Expeditionen in unsichere Gefilde“ ausnehmen, die früher oder später abgebrochen werden müssen, ohne je festen Boden gewonnen zu haben.20 Aber der Anspruch, der an diese Argumente gerichtet werden muss, ist gar nicht der, eine bestimmte These durch einen bestimmten Grund zu stützen. Sie tragen vielmehr in erster Linie zur komplexen, mitunter nicht explizierbaren Konstruktion eines – seinerseits definitiv nicht explizierbaren – Horizonts bei, vor dem die konkreten Phänomene auf eine bestimmte Weise hervortreten. Ganz so wie Machiavelli seine Vorstellung von Politik in der speziellen Zusammenstellung seiner Themen, in ihrer Abfolge, ihrer zum Teil widersprüchlichen Behandlung vermitteln konnte, müsste sich die Theorie als „Schreibarbeit“ ernst nehmen.21 Eine begrifflich-systematische Analyse wird dadurch überhaupt nicht diskreditiert oder überflüssig. Sie muss sich aber darauf hinweisen lassen, dass 20 Und dass Habermas sie im Rahmen der Theorie des kommunikativen Handelns weiter verfolgt als in der Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, mag damit zusammenhängen, dass die erstere einen höheren Grad von Abstraktheit und Formalität erlaubt, letztere aber durch ihren konkreteren Zuschnitt die Spekulativität solcher Interpretationen kaum noch verbergen kann. 21 In diesem Sinne ist nicht einfachhin eine bündigere und systematischere Ausformulierung dessen gefordert, was mit der vorliegenden Arbeit „nur“ in der Rekonstruktion eines Dialogs zweier Demokratietheorien präsentiert werden konnte. Es ist auch hier der sozusagen intersubjektive Charakter jener Rekonstruktion, in dem der Erkenntnisfortschritt gegenwärtig wird. Dieser lässt sich vielleicht nicht im „System“ einer dritten, integrierenden Theorie aufheben.
4.4 Ausblick
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auch sie von einem Prozess der Konstitution bestimmter Hintergrundüberzeugungen zehrt – und ihrerseits daran teilhat. Diesen Zusammenhang wenigstens ansatzweise transparent zu machen, steht jeder politischen Theorie gut an. Und so leisten ja auch gerade die von Habermas untersuchten, mit dem Recht und der politischen Kommunikation assoziierten Prinzipien einen erheblichen Beitrag in der Konstitution jenes orientierenden Hintergrundes. Während dem Rückzug auf die theoretische Hypostasierung eines abstrakt formulierten „Bewegungsgesetzes“, auf eine vermeintlich bündige Explikation der gesellschaftsprägenden Verständigungsform auch im Rahmen der soeben beschriebenen „Verschriftlichung“ der Theorie entgegen gearbeitet werden kann, sind es die im Einzelnen plausibel durchgeführten Analysen konkreter Phänomene und Strukturen, die die Last der Bindung der Theorie an die Realität tragen müssen. Nur sie können der Theorie die nötige Konkretion und Vielschichtigkeit sichern, die einem mystischen Bild des sozialen Seins zuwider läuft. Die „dekonstruktive“ Textarbeit könnte ein solches Bild vielleicht seiner Positivität und Fixiertheit entkleiden, dadurch verlöre es aber noch nicht den Charakter einer imaginären Identifikation von Idee bzw. Diskurs und Realität. In diesem Sinne gilt es deutlich zu machen, dass es die Realität ist, die sich entzieht, nicht (nur) der Diskurs.22 Und dass durch die Arbeit mit und am Diskurs hindurch es doch die Realität ist, die auf jeweils mehr oder weniger indirekte Weise das eigentliche Thema der Forschung ist. Vor diesem Hintergrund muss auch festgehalten werden, dass die Habermas’schen Analysen der ausdifferenzierbaren Geltungsansprüche und ihrer Implikationen tatsächlich eine solche Leistung der Erhellung sozialer Praxis durch die Analyse wirkmächtiger Mechanismen des gesellschaftlichen Diskurses darstellen, dass beiden Autoren gegenüber aber noch stärker herausgearbeitet werden muss, inwiefern sie eine historische – im Sinne von gewordene, nicht ohne weiteres rückgängig zu machende und politisch bedeutsame – Errungenschaft sind. Sie werden ihren Erklärungsgehalt kaum einbüßen, wenn sie als von historischer und intersubjektiver Praxis abhängig, wenn ihre Deutung als unsicherer Interpretationsvorschlag einer solchen Praxis, und wenn die Identifikation von artikulierten Geltungsansprüchen als strukturell verkürzt und ungewiss verstanden wird. Diese Theorie der Demokratie muss sich dann an der Einordnung von „Institutionen“ in so unterschiedlichem Sinne wie z. B. dem Umweltschutz, dem „Krieg gegen den Terror“ oder spezifischer Rechte und Verfahren etwa aus dem Strafvollzug bewähren, an der Analyse des Anschlusses und der Einbettung dieser Phänomene an die gesellschaftliche Praxis und an den aufgespannten symbolischen Hintergrund der Institutionen. Sie muss sich mit der Frage konfrontieren, ob die globalen Verhältnisse nicht als Verhältnisse gelesen werden müssen, in denen die Figuration der Integration von Differenzen, in denen Autorität kaum noch eine Rolle spielt und die vielleicht Ausdruck eines „post-politischen“ Zeitalters sind – und mit der Frage, wie die Gesellschaften damit umgehen, welche Konsequenzen sich daraus praktisch und demokratietheoretisch ergeben. Sie kann wichtige Kernbestände unseres demokratischen Selbstverständnisses explizieren, ein diesem Verständnis angemessenes 22 In diesem Sinne stellt sich Leforts complication gegen Derridas différance.
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Verhalten gegenüber herausfordernden Bewegungen orientieren und die Tragweite von Institutionalisierungen solchen Verhaltens ausloten. Sie kann schließlich selbst normativ Stellung beziehen, indem sie die Verknüpfung bestimmter Phänomene mit zentralen Momenten unseres Demokratieverständnisses ausweist oder umgekehrt Umstände identifiziert, die sich im Lichte dieses Demokratieverständnisses als untragbar erweisen.23 Dabei muss sie sich allerdings ihres eigenen Status bewusst bleiben, der nämlich bedeutet, dass ihre wesentlichen Vorschläge in dieser Hinsicht eben tatsächlich Vorschläge sind: Keine Hypothesen, die sich falsifizieren oder verifizieren lassen, keine Aussagen, deren propositionaler Gehalt vom Modus (oder auch nur der Performanz) der Äußerung isoliert werden kann, sondern günstigerweise mit guten Gründen versehene und auf rationale Akzeptabilität angelegte Repräsentationen der Welt, die in einem resonanten Verhältnis zur praktischen Erfahrung der Leser stehen und auf diesem Wege einen mehr oder weniger praktischen, mehr oder weniger explizierbaren Erkenntniszuwachs auslösen – oder eben nicht.
23 Die Kritik Leforts am Totalitarismus verdeutlicht, dass dies nicht auf einen Pragmatismus hinausläuft, der aus der Beschränktheit der eigenen Situation sich keine Beurteilung anderer Verhältnisse mehr zutraute. Diese sind durchaus an Kriterien wie Konsistenz, freier Entfaltung öffentlicher Sozialität, gleicher Freiheit für alle Subjekte, allgemeiner Verteilung des „Rechts, Rechte zu haben“ usw. zu messen.
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Franz Steiner Verlag
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ISSN 1865–2581
Michael Hirsch Die zwei Seiten der Entpolitisierung Zur politischen Theorie der Gegenwart 2007. 214 S., kt. ISBN 978-3-515-09089-6 Rüdiger Voigt Krieg ohne Raum Asymmetrische Konflikte in einer entgrenzten Welt 2008. 215 S. mit 42 Schaubildn., kt. ISBN 978-3-515-09135-0 Rüdiger Voigt (Hg.) Großraum-Denken Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung 2008. 265 S., kt. ISBN 978-3-515-09186-2 Michael Hirsch / Rüdiger Voigt (Hg.) Der Staat in der Postdemokratie Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken
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2009. 229 S., kt. ISBN 978-3-515-09308-8 Rüdiger Voigt Der Januskopf des Staates Warum wir auf den Staat nicht verzichten können 2009. 231 S., kt. ISBN 978-3-515-09309-5 Georg Pfeiffer Privatisierung des Krieges? Zur Rolle von privaten Sicherheitsund Militärfirmen in bewaffneten Konflikten 2009. 172 S., kt. ISBN 978-3-515-09365-1 Rüdiger Voigt (Hg.) Der Hobbes-Kristall Carl Schmitts Hobbes-Interpretation in der Diskussion 2009. 204 S., kt. ISBN 978-3-515-09398-9