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German Pages 260 Year 1988
CLAUDIA BITTNER
Recht als interpretative Praxis
Schriften zur Rechtstheorie Heft 131
Recht als interpretative Praxis Zu Ronald Dworkins allgemeiner Theorie des Rechts
Von Dr. Claudia Bittner
Duncker & Humblot · Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bittner, Gaudia: Recht als interpretative Praxis : zu Ronald Dworkins allgemeiner Theorie d. Rechts / von Claudia Bittner. - Berlin : Duncker u. Humblot, 1988 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 131) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1987 ISBN 3-428-06546-8 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06546-8
Die vorliegende Schrift wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. im Wintersemester 1987/88 als Dissertation angenommen. Herrn Professor Dr. Alexander Hollerbach danke ich für die mir gebotene Möglichkeit, in dieser Arbeit ganz meinen eigenen Interessen zu folgen. Ganz besonders danke ich Herrn Privatdozent Dr. Urs Konrad Kindhäuser, der mich auf die Schriften Dworkins aufmerksam gemacht und die Arbeit betreut hat. Sehr wertvoll für das Gelingen der Arbeit war ein dreimonatiger Aufenthalt an der Universität Oxford, der mir durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglicht wurde. Ich widme dieses Buch Achim und Markus, die mich bei vielen Problemen inhaltlicher, stilistischer und technischer Art geduldig beraten und kritisiert und mir über manche Klippe hinweggeholfen haben.
Freiburg, im Herbst 1988 C. B.
Inhalt
RjnfijfiTing I. Was ist Recht?
13
II. Wegweiser durch Dworkins allgemeine Theorie des Rechts und Gang der Darstellung
14
III. Philosophischer Hintergrund und Einordnung: Dritte Theorie zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht
17
Erstes Kapitel Recht als interpretative Praxis I. Interpretation als Zentralbegriff der Dworkin'schen Theorie
20
1. Die interpretative Haltung oder Einstellung
20
2. Drei Arten der Interpretation
22
II. Konstruktive Interpretation als Konzeptionen- und Theorienbildung 1. Concepts und conceptions a) Abgrenzung zur traditionellen Lehre vom Begriff
26 26 26
b) Das Problem begrifflicher Vagheit
30
c) Zur Sprachllichkeit des Rechts
32
2. Drei Phasen konstruktiver Interpretation a) "Präinterpretative" Phase
33 33
b) Interpretative Phase
35
c) Postinterpretative Phase
35
3. Konstruktive Interpretation als konsistente und kohärente Rechtfertigung a) Rechtfertigungen im Gegensatz zu Erklärungen
37 37
b) Die formale und die inhaltliche Dimension der Rechtfertigung: m fit und
"valuer c) Literarische und rechtliche Interpretation als chain enterprìse III. Zur Perspektive interpretativer Theorienbildung: Denken in Institutionen
37 39 41
1. Der Begriff der Institution
41
2. Der interne Standpunkt
44
Inhalt
8
Zweites Rapite! Die Institution der Moral I. Drei Ebenen des Gesprächs über Moral
48
1. Normative Ethik (kritische Moral)
48
2. Positive Moral (herrschende Moral)
48
3. Metaethik
49
II. Die Institution politischer Moral 1. Private Moral und politische Moral
50 50
2. Stufenstruktur der Dworkin'sehen Theorie politischer Moral: Abstrakte politische Moral, Gemeinschaftsmoral, Recht 3. Die politische Moral einer Gemeinschaft a) Positive Moral und institutionelle Moral b) Personifikation der politischen Gemeinschaft und Integritätsideal 4. Die abstrakte politische Moral a) Das konstruktive Modell abstrakter politischer Moral
51 53 53 55 59 59
b) Gleichheit als Axiom politischer Theorie
62
c) Freiheit, Gleichheit, Liberalismus
65
5. Metaethik ohne Metaebene
69
III. Wahrheit, Richtigkeit und Objektivität moralischer und anderer interpretativer Urteile
71
1. Die These von derrichtigenAntwort: Beispiele
71
2. Was Wahrheit nicht ist
72
a) Die semantische und die epistemologische Frage
72
b) Pragmatische Wahrheitstheorien
73
c) Korrespondenztheorien der Wahrheit
75
3. Wahrheit als beste Interpretation im Rahmen konsistenter und kohärenter Rechtfertigung 4. Skeptizismus
76 78
a) Externer Skeptizismus
78
b) Interner Skpetizismus
80
5. Relativismus
81
Inhalt
9
Drittes Kapitel Eine auf Rechte gründende Moraltheorie politischen Handelns I. Utilitarismus wider Theorie der Individualrechte
83
1. Diskussionskontext
83
2. Allgemeine politische Theorien als Paket aus allgemeiner Rechtfertigung und korrigierenden Trumpfrechten
85
II. Kritik des Utilitarismus
86
1. Kritik des Präferenz-Utilitarismus anhand der Unterscheidung externer und persönlicher Präferenzen
86
2. Dworkins Utilitarismus-Kritik im einzelnen
87
a) Das "metaethische" Argument
87
b) Das Gleichheitsargument "doppelten Zählens"
89
c) Das Argument von der Verletzung moralischer Autonomie
92
III. Theorie der Rechte gegen den Staat
93
1. Rechte als Trümpfe
94
2. Trumpfrechte als anti-utilitaristische Rechte
95
3. Rechte in vorurteilsfreien politischen Gemeinschaften und in "wicked political system?
96
IV. Eine auf Rechte bauende ("right· basée?) Theorie politischen Handelns 1. Zum Begriff einer "auf Rechten bauenden" Theorie a) Drei Bedeutungen von
right-based
b) Beispiele für right-based Theorien
99 99
c) Right-based Theorien als Naturrechtstheorien? 2. Trumpfrechte in einer
99 99
right-based Theorie
a) Das Recht auf gleiche Achtung und Sorge in einerright-based Theorie
100 102 102
b) Relativität und Exklusivität der Begründung von Rechten aus dem Prinzip gleicher Achtung und Sorge
104
3. Rechte, Pflichten und Ziele (rights; duties ; goals)
105
a) Rechte und Pflichten
105
b) Rechte und Ziele
107
c) Arguments ofprinciple und arguments of policy
Ill
Viertes Kapitel Kritik der rcchtspositivistischen Trennung von Recht und Moral I. Die drei Kernthesen des Rechtspositivismus nach Dworkin
114
Inhalt
10 II. Regeln und Prinzipien
1. Zur Punktion der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien 2. Zur logischen Unterscheidung von Regeln und Prinzipien a) Die Alles-oder-Nichts-Weise von Regeln
118 118 119 119
b) Die Dimension des Gewichts von Prinzipien
121
c) Das Verhalten von Regeln und Prinzipien in Kollisionsfällen
123
3. Diskussion der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien
125
a) Regeln und Regelkonflikte
127
b) Prinzipien und Prinzipienkollisionen
128
c) Zum Zusammenspiel von Regeln und Prinzipien und den Folgen für die Allesoder-Nichts-Weise der Regeln 4. Rechtsprinzipien und Moralprinzipien III. Kein Test zur Identifizierung des existierenden Rechts
132 136 138
1. Die "anderen Standards" (Prinzipien) als Problem der Trennung von Recht und Moral 2. Harts rule of recognition
138 140
a) Die rule of recognition im System der Primär- und Sekundärregeln
140
b) Harts Konzeption der rule of recognition als Herkunftstest "test of pedigree" c) Alternative Konzeptionen einer rule of recognition 3. Vorteile einer offenen Konzeption des Rechts IV. Kritik der Begründung von Recht durch Konventionen
142 144 146 148
1. Die sogenannte "social rule theory? und ihre Anwendung auf die rule of recognition a) Die Idee der Verpflichtung/Pflicht bei Hart
148 150
b) Die rule of recognition Harts als Pflichten auferlegende soziale Regel
150
2. Dworkins Kritik der social rule theory iti ihrer Anwendung auf die rule of recognition
151
a) Verpflichtungen ohne soziale Regel
153
b) Streit über die Reichweite einer sozialen Regel
154
3. Der sogenannte Konventionalismus als interpretative Version des Rechtspositivismus
157
a) Der Konventionalismus in der Dimension des fit
158
b) Der Konventionalismus in der inhaltlichen Dimension der Interpretation: Rechtfertigung der Rechtspraxis
159
Inhalt Fünftes Kapitel Theorie der Rechtsprechung I. Das Prinzip Integrität in Rechtsprechung, Gesetzgebung und Verwaltung II. Judikative Integrität
161 165
1. Umsetzung der Theorie der Interpretation im Recht a) Hercules
165 165
b) Präinterpretative Phase: Konsens über das Ausgangsmaterial
166
c) Interpretative Phase: Konsistente und kohärente Rechtfertigung
167
d) Postinterpretative Phase: Fallentscheidung und Fehlertheorie
171
2. Die Rechtslage in Abhängigkeit von der Stellung des entscheidenden Gerichts
174
3. Wille des Gesetzgebers und Gesetzesmaterialien
176
a) Die Intention des Gesetzgebers
176
b) Zur Bedeutung von Gesetzesmaterialien
181
III. Hard cases und die Legitimationrichterlicher Rechtsfortbildung in einer Demokratie
182
1. Problemaufriß
;
182
a) Die fehlgeschlagene ex ante Unterscheidung von hard cases und easy cases
183
b) Hercules' Methode als Interpretation richterlichen Handelns in hard cases und easy cases
185
2. Die politische Macht des Richters a) Konservatismus-Vorwurf
187 188
b) Größerer politischer Spielraum des Richters
190
c) Zur Demokratiefeindlichkeit der herkulischen Methode
192
IV. Die "rights thestf
193
1. Die These: Erster Überblick
193
2. Gehalt und Erklärungswert derrights thesis a) Zwei Versionen derrights thesis
196 196
b) Das Problem der Ersetzbarkeit von arguments of policy durch arguments ofprinciple c) Die von derrights thesis
197 bezeichneten Rechte
199
3. Zum deskriptiven Aspekt derrights thesis: Gegenbeispiele
201
4. Zum normativen Aspekt derrights thesis: politisch-moralische Attraktivität
203
V. Dworkins Konzeption der Demokratie
206
1. Demokratie als Frage der Gleichheit
206
2. Ziviler Ungehorsam in einer Demokratie
208
a) Die Ungehorsamshandlung des Bürgers
210
12
Inhalt b) Die Reaktion des Staates
212
Sechstes Kapitel Die These von der richtigen Antwort: right-answer thesis I. Voraussetzungen und der Kontext der "right-answer thesis 1. Gegen Skeptizismus und Relativimus
215 215
2. Dieright-answer thesis im Kontext der Rechtspositivismus-Kritik (rights thesis und no-discretion-thesis)
218
II. Richterliches Ermessen
219
1. Verschiedene Formen von "discretion*
219
2. Fälle starken Ermessens
221
3. Das Verhältnis der no-discretion thesis zurrights thesis
224
4. Das Verhältnis der no-discretion thesis, derrights thesis und derright-answer thesis zueinander
226
a) Die Problematik sogenannter "asymmetrischer" Fälle
227
b) Die Problematik der Fälle, in denen Individualrechte nicht tangiert sind
229
III. Dieright-answer thesis
230
1. Einschränkung derright-answer thesis durch sogenannte Unentschieden-Fälle (tie cases)
230
2. Dworkins Kritik der no-right-answer thesis
233
a) Überblick über die verschiedenen Versionen der no-right-answer thesis (Gegenthese)
233
b) Wider das Positivismus-Argument (Quellenthese) 3. Zur Bedeutung derright-answer thesis
Veizeichnis der Schriften Ronald Dworkins
Literaturveizcichnis
236 240
EINFÜHRUNG
I. Was ist Recht?
Ronald Dworkin, amerikanischer, in Oxford als Professor of Jurisprudence und in New York als Professor of Law lehrender Rechtsphilosoph, unternimmt es, eine allgemeine Theorie des Rechts zu entwickeln. Gegenstand dieser allgemeinen Theorie des Rechts ist die Frage "What is law?", die - das ist eine seiner Kernthesen - nicht unabhängig von der Frage, wie das Recht sein sollte ("what the law ought to be"), zu beantworten ist. Die Frage eines Rechtsphilosophen, was Recht ist, läßt eigentlich keine knappe Antwort erwarten. Dworkin gibt sie gleichwohl: "Law is an interpretive concept" 1. So lapidar dieser Satz ist, enthält er doch eine zentrale Aussage der Dworkin'schen Rechtsphilosophie, die allerdings allzu leicht mißverstanden werden kann. Wer nämlich einwendet, die Antwort, daß Recht ein interpretativer Begriff sei, sei nicht nur zu kurz, sondern schlicht falsch, weil die Frage, was Recht ist, nicht darauf ziele zu erfahren, welcher Art der Begriff "Recht", sondern was das Recht selbst als solches sei, der faßt Dworkins Antwort nicht richtig auf. Wir streiten nach Dworkin durchaus darüber, was Recht ist, nicht nur darüber, was der Begriff "Recht" bedeutet. Mit seiner Antwort, daß Recht ein interpretativer Begriff sei, fordert Dworkin dazu auf, eine interpretative Theorie des Rechts vorzulegen. Was unter einer solchen zu verstehen ist, wird zu klären sein. Dworkin selbst entwickelt eine solche Theorie und hat zuletzt mit Law's Empire einen wesentlichen Baustein hinzugefügt, ohne daß damit seine Theorie als vollständig betrachtet werden könnte. Abgeschlossen wird sie indessen nie sein, da sie eher Ausdruck einer bestimmten Haltung oder Einstellung zum Recht ("interpretive attitude" 2) denn eine starre Festlegung auf Ergebnisse ist. Diese interpretative Einstellung nämlich erfordert ständiges Weiterdenken, was Dworkins Theorie des Rechts den Charakter
1 Dworkin, LE, S. 410. 2 Dworkin, LE, S. 46 ff.
14
Einführung
eines offengelegten Interpretationsprozesses gibt. Wer von einer Rechtsphilosophie erwartet, daß sie einen Rechtsbegriff erarbeitet, der bestimmte Merkmale als notwendige und hinreichende Kennzeichen von Recht benennt3, wird insoweit von Dworkins Theorie enttäuscht sein. Dworkin definiert nicht den Begriff "Recht", sondern gibt eine Interpretation, was das Recht ist. Dabei weist er eine Arbeitsteilung zwischen Rechtspraktikern, die konkrete Rechtsfragen bearbeiten, und Rechtsphilosophen, die Antworten auf die ewigen Fragen zu geben versuchen, zurück. Denn Rechtspraxis und Rechtsphilosophie sind in seinen Augen nicht voneinander zu trennende Disziplinien4. Was Recht im konkreten Fall und was Recht überhaupt ist, sind nur im Grade ihrer Abstraktion unterschiedene Fragen und erfordern beide zu ihrer Beantwortung ein "exercise in interpretation " . Da die Rechtspraxis als ganze Gegenstand dieser Interpretation ist und Dworkin sich die amerikanische und englische Rechtspraxis zum Material nimmt, beansprucht seine allgemeine Theorie des Rechts Allgemeinheit nicht im Sinne von genereller Gültigkeit für alle Rechtssysteme. Sie ist vielmehr als Interpretation auch nur der genannten Rechtssysteme zu verstehen. Deshalb ist Dworkins Theorie für Leser, die nicht dem angloamerikanischen Rechtskreis zugehören, jedoch nicht irrelevant. Sie verlangt von diesen lediglich, Dworkins Argumentation dort zu verlassen, wo sie sich Spezifika des anglo-amerikanischen Rechts oder auch des politischen Systems der USA zuwendet, und das "exercise in interpretation " bezogen auf ihr eigenes Rechtssystem fortzuführen. Allgemein aber ist Dworkins Theorie des Rechts insofern, als sie deskriptive und normative Betrachtungen vereinigt 6.
II. Wegweiser durch Dworkins allgemeine Theorie des Rechts und Gang der Darstellung Dworkin hat seine allgemeine Theorie des Rechts seit 1963 in einer Vielzahl meist kürzerer Schriften und im Dialog mit Kritikern entwickelt. Die Sekundärliteratur ist schon unübersehbar, und die vorliegende Arbeit
3 Vgl. als Beispiel für eine solche Theorie Raz, The Concept of a Legal System, S. 1 f. 4 Dworkin, The Philosophy of Law, S. 1; LE, S. 380,410. 5 Dworkin, MP, S. 146. 6 In TRS, S. VII ff. spricht Dworkin von einem begrifflichen und einem normativen Teil der allgemeinen Theorie des Rechts. Dazu sogleich unter II.
Einführung η
beansprucht nicht, sie vollständig aufzuarbeiten . Mit "Law's Empire" (1986) hat Dworkin sein erstes geschlossen konzipiertes Buch vorgelegt. Es ist die letzte Publikation Dworkins, die hier berücksichtigt wird. In der Einleitung zu "Taking Rights Seriously", jener Aufsatzsammlung, die Dworkin mit einem Schlag mehr als nur einem Kreis von Fachphilosophen bekannt machte, formulierte Dworkin die Aufgabe einer allgemeinen Theorie des Rechts dahin, daß sie in einem sogenannten begrifflichen ("conceptual") Teil auf die Frage "Was ist Recht" und in einem normativen Teil auf die Frage, was das Recht sein soll ("what the law ought to be"), eine Antwort zu geben habe8. Dworkin gibt an mehreren Stellen eine negative Bestimmung dessen, was er mit einer begrifflichen Fragestellung meint. Weder gehe es um eine emprirische Analyse des Gebrauchs des Wortes "Recht" noch sei damit nach einer Definition von "Recht" oder einem Vorschlag für eine bestimmte Verwendung dieses Begriffs gefragt 9. Positiv gewendet geht es im begrifflichen Teil der allgemeinen Theorie des Rechts um die Entwicklung und Verteidigung einer bestimmten Konzeption des Begriffs Recht, d. h. um eine interpretative Theorie dessen, was Recht ist. Zum begrifflichen Teil seiner Theorie des Rechts gehören Dworkins methodologische und strukturtheoretische Schriften. Sie formulieren eine Kritik des Rechtspositivismus10 einerseits und des amerikanischen Rechtsrealismus und Pragmatismus sowie der Nachfolgebewegung "critical legal studies 1,11 andererseits. Daneben setzt sich Dworkin kritisch mit dem sogenannten "economic approach " im amerikanischen Zivilrecht auseinander 12. Seine eigene Konzeption des Rechts hat Dworkin erst in "Law's Empire" auf den Begriff gebracht: "law as integrity " 13. Der normative Teil der allgemeinen Theorie des Rechts ist zugleich politische und Moralphilosophie. Dworkin versteht sich als Liberaler und formuliert eine Konzeption des Liberalismus, die auf der Idee der Gleich7 Vgl. die ganz oder teilweise der Dworkin'schen Theorie gewidmeten Zeitschriftenbände Georgia Law Review (Bd. 11,1977), Social Theoiy and Practice (Bd. 5,1980), Droit et Société (Bd. 1 und 2, "Dossier Ronald Dworkin", 1985/86) und den Sammelband Cohen, Ronald Dworkin and Contemporary Jurisprudence, die einen Einstieg in die Rezeption Dworkins geben. 8 Dworkin, TRS, S. VII. 9 Dworkin, TRS, S. 351; What is Equality?, S. 185; A Reply, S. 251. 10 TRS, Kap. 2 - 4; MP, 1 - 3,5 - 7,16; LE, Kap. 4, 7 -11; "Natural" Law Revisited; Judicial Discretion; Philosophy and the Critique of Law. 11 TRS, Kap. 1, passim; LE, Kap. 7. 12 MP, Kap. 12,13; LE, Kap. 8. 13 Siehe aber auch schon die Vorlesung "Law's Ambitions for Itself".
16
Einführung
heit aufbaut. Die Liberalismusschriften 14 und Arbeiten zum Thema "Gleichheit" 15 geben Dworkins politischem Credo Ausdruck: Why Liberals Should Believe in Equality 16 . Die Idee der Gleichheit ist zugleich Grundlage von Dworkins Theorie der Individualrechte 17 wie seiner damit zusammenhängenden Utilitarismuskritik 18 . Diese ist Teil einer Ethik und Metaethik19, die Dworkin ebenfalls ΛΛ
..
verstreut in verschiedenen Schriften entwickelt . In Äußerungen zu mehr oder minder aktuellen politischen Streitfragen (z. B. "busing" amerikanischer Schulkinder, "affirmative action"-Programme, Unterstützung der Kulturszene durch den Staat, Neubesetzung des Supreme Court durch Präsident Reagan, Fragen des zivilen Ungehorsams insbesondere während des Vietnam-Krieges 21) spielt Dworkin seine allgemeine politische und Moralphilosophie an konkreten Fragestellungen durch. Gleiches gilt für seine Buch- 22 und Entscheidungsrezensionen23. Der begriffliche und der normative Teil von Dworkins Theorie werden verklammert durch seine Theorie der Interpretation. Mit deren Darstellung beginnt daher auch die vorliegende Arbeit (Kapitel 1). Es folgt - zunächst den normativen Aspekt der Dworkin'schen Theorie betrachtend - eine Rekonstruktion zuerst von Dworkins Modell moralischer Argumentation (Kapitel 2), dann seiner Kritik einer utilitaristischen politischen Ethik und schließlich seiner eigenen ethischen Position (Kapitel 3). Aus dem begrifflichen Teil der Dworkin'schen Theorie wird zuerst die Rechtspositivismuskritik vorgestellt (Kapitel 4) und anschließend, begriffliche und normative Aspekte vereinigend, Dworkins Theorie der Rechtsprechung entwickelt (Kapitel 5). Auf dieser fußt seine These von der richtigen Antwort in (fast) allen Rechtsfällen, die abschließend behandelt wird (Kapitel 6). 14 TRS, Kap. 10 -12; MP, Kap. 8 -11,14 -19. 15 What is Equality?; In Defense of Equality; MP, Kap. 13,17; TRS, Kap. 9. 16 Titel eines in MP, S. 205 ff. unter dem Titel "Why Liberals Should Care about Equality" wieder abgedruckten Essays. 17 TRS, Kap. 5 - 7, 12, 13; MP, Kap. 17 -19; Social Sciences and Constitutional Rights; What is Equality?. 18 What is Equality?; TRS, Kap. 9,12, Appendix. 19 Zur Problematik der Begriffe "Ethik" und "Metaethik" in Bezug auf Dworkins Moraltheorie vgl. unten Kapitel 2. 20 TRS, 6,10; Philosophy, Morality, and Law; The Elusive Morality of Law. 21 TRS, Kap. 8,9;, MP, Kap. 4,11; Reagan's Justice. 22 Soulcraft, To Each His Own, The Law of the Slave-Catchers. 23 MP, Kap. 14,15,18,19; TRS, Kap. 9.
Einführung
Das Schwergewicht der Arbeit liegt auf der Aufarbeitung der Auseinandersetzung Dworkins mit dem Rechtspositivismus und dem historisch mit dem analytischen Rechtspositivismus verknüpften Utilitarismus. Etwas vergröbernd kann Dworkins Rechtspositivismus-Kritik als der "englische Teil" seiner Rechtstheorie bezeichnet werden 24. Ihr "amerikanischer Teil" wird in der vorliegenden Arbeit nur gestreift. Denn zum einen nimmt Dworkins Kritik des Rechtsrealismus, des Instrumentalismus und der " sociological jurisprudence " wenig Raum ein , und zum anderen kommt die Debatte mit Vertretern der "critical legal studies"- Bewegung gerade erst in Gang 26 und stehen Reaktionen auf Dworkins Kritik des rechtlichen Pragmatismus in "Law's Empire" noch aus27.
I I I . Philosophischer Hintergrund und Einordnung: Dritte Theorie zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht
Dworkin ist äußerst sparsam mit Literaturnachweisen und Belegstellen. Des öfteren nimmt er Bezug auf John Stuart Mill, Ludwig Wittgenstein, Isaiah Berlin, Willard Van Orman Quine und John Rawls. Häufig aber läßt sich nur erahnen, aus welchen philosophischen Quellen sich sein Denken speist. Ideen, Unterscheidungen und Denkfiguren anderer Philosophen werden oft nur in schon variierter und für die eigene Argumentation zugerichteter Form ausgewiesen und ihr Ursprung selten kenntlich gemacht: "Some philosophers think..."28. Jedenfalls kann Dworkins Theorie nicht als (bloße) Umsetzung einer philosophischen Theorie anderer Provenienz begriffen werden, so wie Harts "The Concept of Law" und die dort benutzte
24 Sie richtet sich gegen Theorien, die in der Tradition von Bentham und Austin stehen. Hauptvertreter sind H. L. A. Hart, Joseph Raz und Neil MacCormick. Dworkins eigene Theorie hat sich mit dem von Radbruch, Anglo-american Jurisprudence through Continental Eyes, S. 543 konstatierten Mißtrauen des angelsächsischen Juristen gegenüber allgemeinen Theorien des Rechts auseinanderzusetzen. 25 Vgl. nur Dworkin, TRS, S. 3 ff. 26 Vgl. Dworkin, LE, S. 271 ff.; Altman, Legal Realism, Critical Legal Studies, and Dworkin, S. 214 ff. 27 Dworkin, LE, Kap. 5. Zum Zusammenhang zwischen den im Text genannten Strömungen, die im weiteren Sinne rechtspositivistische Theorien sind (dazu Ott, Der Rechtspositivismus, S. 182), vgl. Summers, Instrumentalism and American Legal Theory, S. 19 ff. Zur " economic analysis of laW vgl. den kritischen Überblick von Fezer, Aspekte einer Rechtskritik. 28 Dworkin, TRS, S. 11; TRS, S. 134: "a distinction that philosophers have made".
18
Einführung
Methode der Begriffsexplikation als Anwendung der (zweiten) Philosophie Wittgensteins verstanden werden kann 29 . Bei einer Einordnung der Theorie Dworkins in rechtsphilosophische Tra-ditionen und Schulen ist Vorsicht geboten. Eine Theorie, die sowohl als (neo-)positivistisch30 als auch als naturrechtlich 31 eingestuft wird und deren rechtsmethodologischer Konzeption abwechselnd ein extremer Konservativismus3 2 und eine zu weite Öffnung für politische Entscheidungen des Richters nach Gutdünken33 vorgeworfen wird, ist offenbar nicht ohne weiteres zu klassifizieren. Dworkin selbst beansprucht, eine dritte Theorie zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht zu entwickeln34. Ein wesentlicher Grund für die Schwierigkeiten der Verortung mag aber in Dworkins Fähigkeit und Eigenart liegen, sich nicht festzulegen, seine Thesen in einem Halbdunkel zu belassen, um sie in immer neuen Schriften von jeweils einer anderen Seite grell zu beleuchten. Der amöbenhafte Charakter der Dworkin'schen Theorie und sein häufiger Wechsel in der Begrifflichkeit 35 haben eine Reihe äußerst negativer Beurteilungen ausgelöst: "This rather murky sentence is symptomatic of Dworkin's single greatest failing as an analyst" ; "...vague and slippery nature of Dworkin's writing and thought...the terms of the discussion and the levels on which it is proceeding are continually shifting, although no shift is ever announced"37; "a blend of Vague methodological and normative precepts'" 38; "...intellectual dishonesty"39; "Dancing in the Dark: The Philosophical Moves of Ronald Dworkin" 40 . 29 Vgl. hierzu Eckmann, Rechtspositivismus, S. 101 ff. 30 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. II, S. 427,430 f. Griffiths, Legal Reasoning from the External and the Internal Perspectives, S. 1139 ff. 31 Vgl. Weinberger, Die Naturrechtskonzeption von Ronald Dworkin; Brugger, Rezension zu TRS, S. 559; ders., Rezension zu Bürgerrechte ernstgenommen, S. 124; Richards, Rules, Policies, and Neutral Principles, S. U l i ; Scruton, Thinkers of the New Left, S.23. 32 Raz, Professor Dworkin's Theory of Rights, S. 133; Pannick, A Note on Dworkin and Precedent, S. 44 Fn. 29. 33 Mackie, The Third Theory of Law, S. 13 ff. 34 Vgl. Dworkin, The Law of the Slave-Catchers, S. 1437 Spalte 5. 35 Vgl. ζ. Β. unten Kapitel 2 II 3 a, Kapitel 5 I V 2 a, Kapitel 6 II 3,4. 36 Levinson, Taking Law Seriously, S. 1077. 37 Fish, Wrong again, S. 308. 38 Burnet, Dworkin and Pound, S. 234. 39 Scruton, Thinkers of the New Left, S. 22. 40 Titel einer Rezension zu MP von Bix; S. 308 Fn. 6 bringt Bix Beispiele für weitere Urteile der zitierten Art: "the tune varies with the occasion" (Ely) und "Liberalism continues to be a matter of principle, except the principle changes from chapter to chapter" (Shiffrin).
Einführung
Dieser Kritik ist zuzugeben, daß die teils sehr eigenwillige Begrifflichkeit und ein Argumentationsstil, der einem brillianten rhetorischen Effekt den Vorzug vor der Durchsichtigkeit der Beweisführung gibt, eine Auseinandersetzung mit Dworkins Schriften erschweren. Die vorliegende Arbeit versucht gleichwohl zu zeigen, daß sich Dworkins allgemeine Theorie des Rechts als eine komplexe und im wesentlichen in sich stimmige Theorie lesen läßt 41 .
41 Brugger, Rezension zu Bürgerrechte ernstgenommen, S. 128 spricht von einer "höchst anspruchsvollen integrativen Rechtslehre".
Erstes Kapitel
RECHTALS INTERPRETA TIVE PRAXIS
I. Interpretation als ZentralbegrifF der Dworkin'schen Theorie
1. Die interpretative
Haltung oder Einstellung
"Interpretation" ist ein zentraler Begriff in Dworkins Theorie des Rechts. Dworkin versteht die Rechtspraxis - ebenso wie die Rechtsphilosophie, denn Rechtspraxis und Rechtsphilosophie sind in seinen Augen nicht voneinander zu trennende Disziplinen1 - als ein "exercise in interpretation" 2. Mit Interpretation ist nicht bloß Textexegese gemeint, und Dworkins Theorie der Interpretation will mehr als Auslegungsmethoden, -techniken und -regeln vermitteln. Es geht ihr darum, Interpretation als eine allgemeine Aktivität, als eine Art und Weise der Erkenntnis (mode of knowledge) und als eine eigene Form des Begründens (distinct form of argument) zu begreifen, die zum Verständnis des Menschen als eines Wesens mit persönlicher Identität beiträgt 3. Sie ist in ihrem umfassenden, ja existenziellen Verständnis der Interpretation eine philosophische Hermeneutik. Allerdings hat sie mit der klassischen Hermeneutik Schleiermachers und Diltheys und der neueren Hermeneutik Heideggers und Gadamers weder die geistesgeschichtlichen Wurzeln gemein noch den zentralen Begriff. Der Begriff des Verstehens nämlich spielt in Dworkins Theorie der Interpretation keine Rolle.
1 Dworkin, The Philosophy of Law, S. 1; LE, S. 380. 2 Dworkin, MP, S. 146. 3 Dworkin, TRS, S. 291 f.; MP, S. 148.
Recht als interpretative Praxis
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In jüngeren Schriften legt Dworkin mehr und mehr Wert darauf, einen interpretativen Zugang zum Recht als sozialer Institution und zur Sprachlichkeit des Rechts strikt von einem semantischen Ansatz abzugrenzen. Seine interpretative Theorie des Rechts sei keine Theorie der Bedeutung des Wortes "Recht", auch nicht im Sinne einer Gebrauchstheorie der Bedeutung4. Letztere Bemerkimg zielt auf (Rechts-)Theorien in der Nachfolge Wittgensteins, die annehmen, die Bedeutung eines Wortes beruhe auf dem korrekten Gebrauch, der seinerseits auf Regeln basiere, die sich in ihrer Anwendimg zeigten5. Dworkins Theorie des Rechts ist vielmehr eine interpretative Theorie darüber, was Recht "actually is"6. Dworkin nimmt eine interpretative Haltung ein, d.h. er mißt der Institution Recht einen Wert bei und bestimmt die Anforderungen, die die Institution an ihre Teilnehmer stellt, im Lichte dieses Werts, dieser "Bedeutung" der Institution. Er versucht, die Institution im bestmöglichen Lichte zu zeigen7. So wie "Recht" ein interpretativer Begriff ist, ist auch der Begriff "Interpretation" selbst ein interpretativer Begriff und damit der Interpretation fähig und bedürftig. (Ob es überhaupt Begriffe gibt, die nicht interpretativ sind, problematisiert Dworkin nicht. Seine Behandlung vager Ausdrücke läßt dies allerdings vermuten8). Dworkins Theorie der Interpretation ist folglich eine Interpretation des interpretativen Begriffs "Interpretation". Anders ausgedrückt ist sie "an interpretation of the higherorder practice of using interpretive concepts"9, also eine Interpretation der höherstufigen Praxis des Gebrauchs interpretativer Begriffe, für die wesentlich die interpretative Einstellung der Teilnehmer der Institution ist. Es geht Dworkin nicht um die Bedeutung des Wortes "Interpretation", sondern um den Begriff oder die Praxis der Interpretation selbst. In dem Vorstehenden werden die Ausdrücke "Begriff', "Praxis", "Institution" einerseits und "Interpretation" bzw. "interpretative Theorie" andererseits fast beliebig gegeneinander ausgetauscht. Warum dies möglich ist, wird im folgenden noch deutlich werden. Hier soll nur festgehalten werden, daß eine Theorie der Interpretation selbst eine Interpretation ist und sich nur im Grade der Abstraktion von einer interpretativen Theorie eines anderen Begriffs unterscheidet. 4 Dworkin, LE, S. 31 f., 45 ff. 5 Vgl. zu Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung Stegmüller, Hauptströmungen, Bd. I, S. 576 ff.; Kindhäuser, Intentionale Handlung, S. 38 ff. 6 Dworkin, LE, S. 5,11. 7 Dworkin, LE, S. 47. 8 Vgl. unten I l l a . 9 Dworkin, LE, S. 49.
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Diese qualitative Gleichartigkeit von Theorie und Metatheorie zeigt sich z.B. auch bei Dworkins Diskussion der Frage, ob und inwiefern eine Interpretation bzw. eine Theorie der Interpretation politisch sind. Wenn politische Überzeugungen relevant für die Frage seien, ob ein Roman ein guter Roman sei, dann müßten diese politischen Überzeugungen ebenso bedeutsam für die Frage sein, welche die beste Interpretation des Romans sei. Und da die Frage, welche die beste Interpretation sei, eine Theorie der Interpretation voraussetze, müsse diese ebenfalls politisch sein10. Dasselbe Argument läßt sich mit Blick auf die Institution des Rechts wiederholen. Juristen kommen nach Dworkin um eine politische Theorie nicht herum 11. Die Notwendigkeit, "to make up one's own mind" 12 , d.h. die Unumgänglichkeit, eine eigene politische Vorstellung davon zu entwickeln, was Recht ist und wozu es dient, mache den Umgang mit dem Recht und das Handeln in der Institution des Rechts politisch. Jede rechtliche Interpretation sei politisch, weil sie diese allgemeine politische Konzeption ins Konkrete transportiere. Deshalb müsse aber auch jede Theorie rechtlicher Interpretation politisch sein. Eine rechtliche Interpretation (z.B. einer Gesetzesbestimmung) und die Theorie rechtlicher Interpretation, auf die sie sich stütze, unterschieden sich eben nur im Grade ihrer Abstraktion 13.
2. Drei Arten der Interpretation Dworkin unterscheidet drei Arten der Interpretation. Die von ihm selbst propagierte sogenannte "kreative" oder "konstruktive" Interpretation sozialer Praktiken und der Kunst hat zur Aufgabe, eine bestimmte Sicht von Gegenstand und Bedeutung der Praxis oder des Kunstwerks zu verteidigen. Von dieser kreativen oder konstruktiven unterscheidet Dworkin erstens die (natur-)wissenschaftliche Interpretation, die Ursache-WirkungsZusammenhänge zu begreifen suche, und zweitens die Gesprächsinterpretation, der es um das Verstehen des anderen gehe14. Das auf beobachtbare Daten angewiesene (natur-)wissenschaftliche Ursache-Wirkungs-Denken sei für eine Interpretation sozialer Praktiken (wie z.B. der des Rechts) ungeeignet. Denn um den interpretierten Daten 10 Dworkin, MP, S. 165,153. 11 Dworkin, MP, S. 146,150 f. 12 Dworkin, TRS, S. 136. 13 Dworkin, MP, S. 153,165 f. 14 Dworkin, LE, S. 49-53,420, Ν. 2.
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eine bestimmte Bedeutung geben zu können, müsse der Interpret die Institution von innen heraus, also von einem Teilnehmer-Standpunkt aus, interpretieren. (Natur-)wissenschaftliche und konstruktive Interpretation unterscheiden sich danach in der externen bzw. internen Perspektive des Interpreten 15. Die Unterschiede zwischen kreativer Interpretation und Gesprächsinterpretation sind auf den ersten Blick weniger offenkundig, ja es liegt nahe, die Interpretation eines Kunstwerks - wie es etwa in Gadamers Modell eines hermeneutischen Gesprächs der Fall ist 16 - als dialogischen Verstehensprozeß zwischen dem Künstler und dem Rezipienten aufzufassen. Der grundlegende Unterschied zwischen kreativer und Gesprächsinterpretation besteht nach Dworkin aber darin, daß der Interpret bei ersterer dem Objekt Zwecke unterlegt. Es zählten die Zwecke des Interpreten, nicht die des Autors; der Interpret konstruiere das Objekt entsprechend seinen Zwecken17. Bei der Gesprächsinterpretation, wie sie Gadamer vorschwebe, aber gehe es um eine Art einverständlichen Verstehens des anderen, bei dem die Zwecke des Sprechers, nicht die des Rezipienten zählten18. Es kann bezweifelt werden, ob Dworkin der Position Gadamers völlig gerecht wird. Gerade Gadamer begreift Verstehen nicht als ein bloßes Wiederverstehen des Autors, sondern als Neu- und Andersverstehen, das ohne Rückbezug auf die Intentionen des Autors zu leisten ist 19 . Die Frage kann jedoch für die Zwecke der vorliegenden Arbeit auf sich beruhen. Wesentlich ist allein, daß Dworkin ein Gesprächsmodell
15 Dworkin, LE, S. 50 f. In Social Sciences and Constitutional Rights, S. 3 f. unterscheidet Dworkin idealtypisch sogenannte "causal judgments" von "interpretative judgments" in den Sozialwissenschaften. Erstere behaupteten nur eine kausale Verknüpfung zwischen unabhängig voneinander feststellbaren Phänomenen, während letztere ein Phänomen darüber hinaus in eine bestimmte Kategorie von Phänomenen einordnen, seine Bedeutung spezifizieren und es damit deuten. (Am Rande sei hier darauf hingewiesen, daß "interpretive" und "interpretative" nur zwei Schreibweisen (amerikanisch und englisch) ein und desselben Wortes sind.) 16 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 375 ff. und insbesondere S. 387 ff. Von einem Gespräch zwischen Richter und Gesetzgeber geht z.B. ausdrücklich auch die Methodenlehre Jan Schapps aus. Vgl. Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 65. 17 Dworkin, LE, S. 49 ff., 52. Dworkin sieht die kreative oder konstruktive Interpretation auf einer tieferen Ebene sogar als Verbindung aller drei Formen der Interpretation an. Das Prinzip, das Objekt der Interpretation zum besten seiner Art zu machen, das es sein kann, verlange, die Worte des Gesprächspartners wohlwollend auszulegen, sie als "best performance of communication" zu interpretieren, bzw. die einfachste und eleganteste Erklärung z.B. physikalischer Phänomene anderen Interpretationen vorzuziehen. 18 Dworkin, LE, S. 420 Ν. 2. Auf der grundsätzlichen Verwerfung einer conversational interpretation fußt Dworkins Ablehnung einer subjektiv-historischen Auslegung. Vgl. dazu unten Kapitel 5 II 3. 19 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 314; Schroth, Philosophische Hermeneutik und interpretationsmethodische Fragestellungen, S. 87.
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der Interpretation ablehnt. Insoweit setzt sich Dworkin auch von Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns ab. Mit dieser teilt er zwar die Auffassung, daß die Interpretation eines gesellschaftlichen Prozesses nur von innen heraus möglich ist, daß der Interpret nur als (wenn auch nur virtueller) Teilnehmer einer Institution sich deren Bedeutung erschließen kann2 . Doch baut auch Habermas das Sinnverstehen in den Sozialwissenschaften auf die Idee der Kommunikation. Dworkin aber glaubt, ohne den Begriff des Verstehens und ohne das Modell einer Gesprächs- oder Kommunikationssituation bei der Interpretation auszukommen21. Im folgenden soll Dworkins Theorie der Interpretation aus sich heraus, immanent entwickelt werden. Es wird darauf verzichtet, allenthalben Parallelen zur neueren Hermeneutik-Diskussion aufzuzeigen - Parallelen, die zweifellos bestehen22. Dworkin selbst hat die Arbeiten Diltheys, Gadamers und Habermas' erst in jüngster Zeit rezipiert 23. Es würde der Eigenständigkeit der Dworkin'schen Theorie nicht gerecht, wollte man sie in einen Diskussionskontext hineinstellen, in dem sie nicht entwickelt wurde. Festgehalten aber sei, daß sie einer jener Versuche ist, einen dritten Weg zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht zu begehen, zu denen Kaufmann auch die juristische Hermeneutik zählt 24 . Darin, daß im folgenden Dworkins Theorie mit dem Ziel, sein Anliegen zu "verstehen", interpretiert wird, kommt ein grundlegender Zweifel an der Haltbarkeit der Unterscheidung gesprächsweiser und konstruktiver Interpretation zum Ausdruck. Zum ersten besteht die konstruktive Interpretation nach Dworkin aus einer Interaktion zwischen den Zwecken des Interpreten und dem Objekt 20 Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, S. 159 ff. 21 Vgl. Dworkin, LE, S. 50 ff., 420. 22 Parallelen zur juristischen Hermeneutik drängen sich etwa in der Ablehnung eines rechtswissenschaftlichen Objektivimus (vgl. z.B. Kaufmann, Gedanken zu einer ontologischen Grundlegung der juristischen Hermeneutik, S. 89 f.) und einer subjektiv-historischen Auslegung auf (vgl. hierzu Schroth, Philosophische Hermeneutik und interpretationsmethodische Fragestellungen, S. 87 f.). 23 Dworkin, LE, S. 55,62,419 ff. 24 Kaufmann, Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik, S. 79. Unter dem Gesichtspunkt einer "dritten Theorie" bemerkenswert sind die Parallelen zwischen der von Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 7 ff. herausgearbeiteten Unterscheidung von Regeln- und Gesetzesdenken, Entscheidungs- oder dezisionistischem Denken und konkretem Ordnungs- und Gestaltungsdenken und dem von Dworkin in LE behandelten Konventionalismus, einer Variante des in TRS kritisierten RegelPositivismus, dem Pragmatismus und der Konzeption eines durchaus gestaltenden juristischen Denkens innerhalb bestehender Institutionen (law as integrity).
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der Interpretation . Ist der Zweck aber eine möglichst getreue Erfassung des Anliegens des Autors, so läßt dies die Grenze zwischen den beiden Formen der Interpretation verschwimmen. Eine dem Anliegen des Autors verpflichtete Interpretation wie die vorliegende Arbeit kommt einer Interpretation im Sinne des Gesprächsmodells wohl näher, kann aber konstruktiv immer noch insofern sein, als disparate Äußerungen möglichst konsistent zu interpretieren versucht werden und dem Objekt der Interpretation gegenüber die interpretative Haltung eingenommen wird. D.h., daß Dworkins allgemeine Theorie des Rechts im besten Lichte gezeigt werden soll 26 . Zum zweiten gibt es Hinweise darauf, daß Dworkin selbst "verstanden" werden möchte. Seine scharfe Auseinandersetzung mit Stanley Fish deutet darauf hin, daß Dworkin, wenn es um die Interpretation seiner eigenen Theorie (der Interpretation) geht, weniger an einer konstruktiven Interpretation entsprechend den Zwecken des jeweiligen Interpreten gelegen ist, als daran, authentisch interpretiert und nicht mißverstanden zu werden 28 . Fish interessiert, "whether or not one's general claims or selfdescriptions are consistent with one's particular assertions and arguments"29. Das ist - wie noch deutlich werden wird - eine typische Frage konstruktiver Interpretation im Sinne Dworkins. Dessen Argumentation hatte dagegen den Tenor, die ihm von Fish zugeschriebene Position könne nicht die seinige sein, weil er immer wieder sage, daß dies nicht seine Position sei 30 .
25 Dworkin, LE, S. 52. 26 Vgl. zu diesem Grundsatz wohlwollender Interpretation Dworkin, LE, S. 47. 27 Vgl. Dworkin, Law as Interpretation; darauf Fish, Working on the Chain Gang: Interpretation in the Law and in Literary Criticism; darauf Dworkin, My Reply to Stanley Fish (and Walter Benn Michaels): Don't Talk About Objectivity Any More; darauf Fish, Wrong Again. 28 Vgl. Dworkin, My Reply to Stanley Fish, S. 287 ff. 29 Fish, Wrong Again, S. 299. 30 So zutreffend Fish, Wrong Again, S. 299.
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I L Konstruktive Interpretation als Konzeptionen- und Theorienbildung
i. Concepts und conceptions
Die Unterscheidung von concepts (Begriffen) und conceptions (Konzeptionen dieser Begriffe) dient Dworkin dazu, den Vorgang der Interpretation als Entwicklung einer Konzeption zu einem Begriff zu beschreiben. Diese Konzeptionenbildung sei eine eigenständige intellektuelle Tätigkeit und eine eigene Weise der Argumentation. Die Fähigkeit des Menschen, Konzeptionen zu bilden, hält Dworkin für so wesentlich, daß er darüber spekuliert, ob sie nicht sogar als Quelle der Idee der Autonomie des Menschen verstanden werden könne31. Dieser umfassende Anspruch der Dworkin'schen Idee der Konzeptionenbildung, daß der Mensch nämlich als ein Wesen gedacht wird, das sich Vorstellungen, eben Konzeptionen von der Welt macht, erforderte eine anthropologische Grundlegung der Theorie der Interpretation. In dieser Richtung finden sich bei Dworkin allerdings nur Andeutungen32. a) Abgrenzung zur traditionellen Lehre vom Begriff Dworkin führt die Unterscheidung von concepts und conceptions in einer frühen Arbeit als eine einer Theorie der Bedeutung, also - so könnte man denken - einer semantischen Theorie, zugehörige "distinction that philosophers have made"33 ein. Damit könnte die in der traditionellen Semantik grundlegende Unterscheidung von Intension, also dem Begriffsinhalt bzw. den Merkmalen eines Begriffs, und Extension, also dem Begriffsumfang bzw. Sachbezug34, gemeint sein. Dem steht aber entgegen, daß die "Bedeutung" eines Begriffs im Sinne von Intension gerade nicht durch das concept erschöpft wird? 5. Damit, daß an ein concept appelliert, ein Problem "auf den Begriff gebracht" wird, ist nach Dworkin lediglich klar, welche
31 Dworkin, TRS, S. 291 f., 351. 32 Vgl. z.B. TRS, S. 201,292,356 f.; LE, S. 425 Ν. 20. 33 Dworkin, TRS, S. 134, erste Publikation 1972. 34 Vgl. einführend Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 233 ff., die u.a. einen Überblick über die unterschiedliche Terminologie (z.B. Bedeutung/Sinn bei Frege, Extension/Intension bei Carnap, reference/meaning bei Quine) geben; Bund, Juristische Logik, S. 13 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 126 ff. 35 In LE, S. 71 wendet sich Dworkin ausdrücklich gegen eine Gleichsetzung der Unterscheidung von concepts und conceptions mit der Intensions/Extensions-Problematik.
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Frage aufgeworfen und worüber zu streiten ist . Einen gemeinsamen Begriff von etwas zu haben, bedeute lediglich, auf einer abstrakten Ebene mit den anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft übereinzustimmen und damit ein Plateau zu haben, von dem aus weitergedacht und argumentiert werden könne37. Man habe einen Begriff von etwas, wenn man wisse, in welchen Fällen der in Rede stehende Begriff unzweifelhaft "passe", welches also seine klaren Anwendungsfälle (settled cases) seien. Jeder, der eine Sprache oder auch nur den fraglichen Begriff verstehe, sei in der Lage, solche Fälle zu nennen38. In "Law's Empire" bezeichnet Dworkin diese Übereinstimmung über Standardfälle als Paradigmen, auf die jede Institution angewiesen sei, nicht mehr als concepts 39. Die Konzeptionenbildung ist aber - wie Dworkins Beispiele zeigen40 - auf die Übereinstimmung über Standardfälle angewiesen. Ein concept ist danach, faßt man die beiden Begriffsbestimmungen Dworkins zusammen, einerseits durch eine abstrakte Übereinstimmung darüber, welche Frage aufgeworfen ist, andererseits durch eine Übereinstimmung über Musterbeispiele des Begriffs definiert. Gemeinsame Merkmale, die der traditionellen Lehre vom Begriff zufolge das, worauf der Begriff sich bezieht, auszeichnen, sind durch ein concept im Dworkin'schen Sinne jedoch nicht festgelegt. Wäre dem so, so müßte eine anschließende Extensionsbestimmung nur ermitteln, ob ein fraglicher Gegenstand diese Merkmale besitzt oder nicht. Die Entwicklung 36 Insofern ähnelt Dworkins Begriff eines concept Putnams Begriff der Stereotype. Nach Putnam verfügt man mit der Stereotype über das Minimum an Wissen, über das ein Sprachbenutzer verfügen muß, damit man von ihm sagen kann, daß er ein Wort versteht. Man kenne die charakteristischen Elemente oder paradigmatischen Beispiele einer natürlichen Art oder anderer durch Substantive bezeichneter Objekte. Die Stereotype sei eine vereinfachende Schablone, die die Bedeutung eines Wortes nicht erschöpfe, vielmehr nur einer der Bestandteile der Bedeutung sei. Diese Stereotypen hätten nicht die Funktion, Klassifikationen zu ermöglichen, sondern seien Voraussetzung einer Diskussion. Putnam, Meaning and the Moral Sciences, S. 98, 115 ff.; The Meaning of "Meaning", S. 242, 247 ff.; dazu Stegmüller, Hauptströmungen, Bd. II, S. 381 ff.; vgl. auch Wittmann, Die Signifikanz der Sprachphilosophie H. Putnams, S. 374 f. 37 Dworkin, LE, S. 70. 38 Dworkin, TRS, S. 127,134 f.; MP, S. 39. An einem Beispiel (TRS, S. 134 f.): Werde an den Standard Fairneß appelliert, so kenne ein jeder Sprachbenutzer Standardfälle, in denen von fairem Verhalten gesprochen werde. Er wisse, was der Begriff Fairneß in diesem Sinne "bedeute". Damit sei aber nicht mehr gewährleistet, als daß ein jeder wisse, welche Frage aufgeworfen und worüber zu sprechen und zu streiten sei. 39 Dworkin, LE, S. 72. 40 Dworkin, LE, S. 71 ff. Bei der Interpretation der sozialen Praxis der Höflichkeit erhebt Dworkin zunächst den Begriff des Respekts zum zu interpretierenden Begriff der sozialen Praxis der Höflichkeit ("respect provides the concept of courtesy"), und entwickelt anschließend eine Konzeption der Praxis der Höflichkeit anhand von Paradigmen des Respekts.
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einer Konzeption ist nach Dworkin aber ein anspruchsvolleres Projekt. Eine Konzeption im Dworkin'schen Sinne gibt weder selbst die Begriffsmerkmale an (d.h.: auch der Begriff conception ist nicht mit Intension gleichzusetzen) noch bestimmt sie bloß die Extension des (intensional schon geklärten) Begriffes, also das, worauf der Begriff zutrifft. Sie ist vielmehr eine normative Theorie darüber, warum der Begriff (concept) in den unstreitigen Fällen gebraucht wird, und welche rechtfertigenden Prinzipien diesem Gebrauch zugrundeliegen41. Die Aufgabe der Konzeptionenbildung ist interpretativer, nicht semantischer Natur 42 . Damit ist ein Verständnis der concept/conception-OnteTSch&idung im Sinne der traditionellen Semantik verfehlt. Sie im Sinne Wittgenstein'scher Sprachphilosphie zu begreifen, führt ebenfalls in die Irre. Zwar benutzt Dworkin in neueren Schriften die Idee der Familienähnlichkeiten zur Bestimmung einer sozialen Praxis und macht auch sonst verschiedentlich Anleihen bei Wittgenstein43. Es geht ihm jedoch ausdrücklich nicht darum, eine semantische Theorie zu entwickeln, die etwa die Grundregeln des Gebrauchs eines Begriffs angibt44. Das ist als Absage an die Wittgenstein'sche und die ihr folgende Hart' sehe Methode der Begriffsanalyse zu verstehen45. Nur im Ergebnis dient die Konzeptionenbildung oft demselben Zweck, den die traditionelle Lehre vom Begriff eine Extensionsbestimmung nennt. Ein Verfassungsrechtler etwa kann, weil eine Verfassungsbestimmung grausame Strafen verbietet, zu entscheiden haben, ob die Todesstrafe ein Gegenstand ist, auf den der Begriff der Grausamkeit "zutrifft" 46. Der Weg dorthin führt nach Dworkin aber weder über eine bloße Anwendung der Begriffsmerkmale des Begriffs der Grausamkeit auf den Gegenstand Todesstrafe noch über eine Herausarbeitung der Familienähnlichkeiten zwischen verschiedenen klaren Fällen von Grausamkeit, d.h. eine Begriffsanalyse im Sinne Wittgensteins, die die Regeln des Gebrauchs des Begriffs zu Tage zu fördern sucht47. Die Konzeptionenbildung verlangt vielmehr die Entwicklung einer normativen, den gemeinsamen
41 Dworkin, TRS, S.135. 42 Dworkin, LE, S. 70. 43 Dworkin, LE, S. 63,69 f., 200,315; Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 66, 67. 44 Dworkin, LE, S. 71,45. 45 Vgl. Dworkin, LE, S. 71. Hart, The Concept of Law, S. 14 ff. Zur Methode der Begriffsanalyse bei Wittgenstein und Hart vgl. Eckmann, Rechtspositivismus, S. 105 ff. Kritisch zur Darstellung Eckmanns Kindhäuser, Intentionale Handlung, S. 48 Fn. 91. 46 Beipiel bei Dworkin, TRS, S. 135 f. 47 Dworkin, LE, S. 69,45,71.
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Sprachgebrauch rechtfertigenden Theorie darüber, warum wir bestimmte Handlungen grausam nennen48. Die "distinction philosophers have made", von der Dworkin spricht, ist nach allem nicht in der linguistischen und philosophischen Semantik zu suchen. Mit ihr dürfte vielmehr die der Dworkin'schen ähnliche Unterscheidung von concept und conception bei Rawls gemeint sein. Rawls unterscheidet zwischen dem Begriff der Gerechtigkeit als eines angemessenen Ausgleichs zwischen konkurrierenden Interessen einerseits und Gerechtigkeitsvorstellungen als Mengen zusammenhängender Grundsätze zur Festlegung der Gesichtspunkte für die Bestimmung dieses Ausgleichs, also Ausdeutungen des Begriffs, andererseits 49. Er lehnt sich seinerseits wiederum an eine Unterscheidung Harts an. Dieser sieht die Idee oder den Begriff (notion) der Gerechtigkeit zweigeteilt. Er bestehe aus dem konstanten Merkmal, das in der Vorschrift, Gleiches gleich zu behandeln, zusammengefaßt werden könne, und variierenden Kriterien zur Bestimmung, wann etwas gleich sei 50 . Dieses Verhältnis von Konstanz und Variation, Gemeinsamkeit und konkurrierenden Vorstellungen findet sich in Dworkins Unterscheidung von concepts und conceptions wieder. Doch bedeutet dies nicht, daß concepts starr festliegen. Sowohl concepts als auch conceptions unterliegen nach Dworkin Veränderungen. Conceptions seien zum einen konkurrierende Vorstellungen, zum anderen schon deshalb nicht zeitlos gültig, weil die konsensuale Grundlage, auf der sie aufbauten, sich verändern und sogar wegfallen könne. Dworkin bringt das Beispiel einer sozialen Praxis (Höflichkeit), deren Interpretation anhand des Begriffs des Respekts hinfällig sei, sobald die Praxis nicht mehr geübt oder nicht mehr als Ausdruck des Respekts vor dem anderen, sondern vielleicht als chauvinistische Attitüde verstanden werde 51. Einerseits also kann sich der Standardgebrauch eines Begriffs im Laufe der Zeit verändern. Andererseits hat die Tatsache, daß der derzeitige Begriffsgebrauch zur Grundlage der Interpretation gemacht wird, nicht zur Folge, daß die zur Zeit üblichen Begriffsverwendungen vor einer Infragestellung sicher sind. Die abstrakte Übereinstimmung ist nach Dworkin eben nur der
48 Dworkin, TRS, S. 135. Das ist gerade nicht Aufgabe der Hart'schen Begriffsanalyse. Vgl. Eckmann, Rechtspositivismus, S. 106. 49 Rawls, A Theory of Justice, S. 5 f., 9 f.(Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 21 f., 26 f.) Auch Monaghan, Our Perfect Constitution, S. 379 Fn. 155 weist auf die Parallele zu Rawls hin. 50 Hart, The Concept of Law, S. 155 f. 51 Dworkin, LE, S. 71,73.
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Ausgangspunkt der Konzeptionenbildung, die diesen Konsens zu rechtfertigen hat, ihn aber auch jederzeit kritisch in Frage stellen kann 52 . Die vorgestellte concept/conception Unterscheidung ist so wesentlich für Dworkins Theorie des Rechts, weil die Interpretation eines Begriffs einerseits und einer sozialen Praxis andererseits auf dasselbe hinauslaufen. Da nämlich die abstrakte "Bedeutung" eines Begriffs bestimmt ist durch eine allgemeine Übereinstimmung im Gebrauch des Begriffs in Standardfällen sowie durch einen Konsens darüber, welche Fragen mit diesem Begriff aufgeworfen sind, stellt jeder Begriff eine soziale Praxis im kleinen dar. So wird denn auch "law" von Dworkin sowohl als soziale Praxis als auch als interpretativer Begriff 53 bezeichnet. b) Das Problem begrifflicher Vagheit Begriffe wie Fairneß, Gleichheit, Grausamkeit, Intention, Pflicht, Recht sind nach Dworkin notwendig umstritten, weil sie die Konstruktion verschiedener Konzeptionen ihrer Bedeutimg zulassen54. Die notwendige Umstrittenheit der Begriffe ist nach Dworkin jedoch keine Folge ihrer "Unvollständigkeit" oder Vagheit55. Der Begriff "Gleichheit" etwa, der z.B. in einer Verfassungsbestimmimg gebraucht werde, würde diese nur dann vage machen, wenn man ihn so verstünde, als wäre mit ihm eine bestimmte Konzeption von Gleichheit in die Verfassung inkorporiert; denn dann wäre es unklar, welche Konzeption (z.B. "jedem das seine" oder "jedem dasselbe") niedergelegt wurde. So ist nach Dworkin die Verfassungsbestimmung aber nicht zu lesen56. Begriffe seien als concepts , also als Fragen oder Aufforderungen zur Konzeptionenbildung, nicht schon als conceptions , also als Antworten aufzufassen. Die diskutierte Verfassungsbestimmung sei als Appell an den Begriff der Gleichheit aufzufassen, und als solche könnte sie nicht präziser sein. Allerdings sei niemand, der mit einer solchen
52 Dworkin, LE, S. 71 ff. 53 Dworkin, LE, S. 65 und 410. 54 Dworkin, TRS, S. 103, Fn. 1. Dworkin knüpft hiermit an Gallies Kategorie der "essentially contested concepts" an. Vgl. Gallie, Essentially Contested Concepts, S. 171,183 ff., der unter diese Kategorie allerdings nur solche Begriffe faßt, die in einem positiven, bejahenden Sinn gebraucht und von rivalisiernden Parteien für sich in Anspruch genommen werden, wie es z.B. gegenwärtig beim Begriff "Demokratie" der Fall sei. Daß Dworkin Gallies Kategorie in einem weiteren Sinne verwendet, wird dort relevant, wo er diskutiert, wie ein Richter mit Begriffen, die er nicht schätzt, umzugehen hat. Vgl. Dworkin, TRS, S. 127 f. 55 Dworkin, TRS, S. 136,103. 56 Dworkin, MP, S. 49. Die Ausführungen Dworkins zu diesem Punkt in TRS, S. 134 waren mißverständlich und werden a.a.O. klargestellt.
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Verfassungsbestimmung arbeite, der Notwendigkeit enthoben, eine eigene Vorstellung davon zu entwickeln, was Gleichheit eigentlich heiße57. Die Anweisung, Begriffe als concepts zu lesen, ist von grundlegender Bedeutung für Dworkins Theorie der Interpretation und des Rechts. Dworkin vesucht hier, die Vagheit bestimmter Ausdrücke - ein semantisches Problem - stipulativ zu beseitigen, indem er vorschreibt, sie als Fragen, nicht als Antworten aufzufassen. Vagheit ist für Dworkin damit kein Problem einer Unschärfe von Begriffen mehr, die z.B. bei Heck mit "Begriffshof' und bei Hart mit "Schattenzone" oder open texture beschrieben wird 58 . Vagheit ist nach Dworkin vielmehr das Resultat eines verfehlten Umgangs mit Begriffen. Wer sie als Konzeptionen auffasse, finde sie notwendig unscharf. Wer sie richtigerweise als concepts lese und eine eigene Konzeption entwickle, der habe - ungeachtet der Tatsache, daß verschiedene Personen verschiedene Vorstellungen entwickeln werden - einen präzisen, wenn auch abstrakten Maßstab zur Hand 59 . Allerdings gibt es Dworkin zufolge durchaus vage Ausdrücke. Die Ausdrücke "rot" und "mittleren Alters" z.B. seien vage, der Begriff "gotteslästerlich" dagegen nicht 60 . Anhand welcher Kriterien, umstrittene Begriffe von vagen Ausdrücken zu unterscheiden sind, legt Dworkin nicht offen 6 1 . Manchmal indessen verneint Dworkin die Möglichkeit der Bildung von Konzeptionen damit, daß die der Interpretation zugrundeligenden Paradigmen "not sufficient^ interconnected and dependant upon other beliefs and attitudes" seien . Danach sind die mangelnde Komplexität und Interdependenz verschiedener Begriffsverwendungen das Kriterium für die Vagheit eines Ausdrucks. 57 Dworkin, TRS, S. 136. 58 Hart, The Concept of Law, S. 12,124; Positivism and the Separation of Law and Morals, S. 63; Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 173. Hart unterscheidet zwischen dem "central core of undisputed meaning" und der "open texture", wobei er eine Gebrauchstheorie der Bedeutung zugrundelegt. Heck, der dem traditionellen Begriffsverständnis folgt, unterscheidet zwischen Begriffskern und Begriffsho f. 59 Dworkin, LE, S. 71. 60 Dworkin, MP, S. 128. Zur Problematik unbestimmter Rechtsbgeriffe vgl. auch unten Kapitel 4 II a. 61 Denkbar wäre etwa eine Abgrenzung des, eine natürliche Eigenschaft beschreibenden, deskriptiven Begriffs "rot" von dem, eine konventionale Eigenschaft wiedergebenden, normativen Begriff "gotteslästerlich". Vgl. zur Abgrenzung deskriptiver und normativer Merkmale Kindhäuser, Rohe Tatsachen und normative Tatbestandsmerkmale, S. 469 ff. Dann könnte Dworkin argumentieren, daß nur letztere eine normative Konzeptionenbildung erlauben. 62 Dworkin, MP, S. 170. A.a.O. geht es um die Frage, ob Geschmacksfragen über eine konstruktive Interpretation objektiv richtig entschieden werden können. Das verneint Dworkin.
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c) Zur Sprachlichkeit des Rechts Die Idee der Konzeptionenbildung ist von herausragender Bedeutung für Dworkins Theorie des Rechts. Sie ist ein Modell der Interpretation der Welt, nicht bloßen Sprachverstehens. Recht besehen interessiert Dworkin die Problematik der sprachlichen Vermitteltheit des Rechts nicht 63 . Konstruktive Interpretation setzt immer schon bei Begriffen und Praktiken, nicht aber bei der Bedeutung von Worten an. Bei jeder Auslegung von Rechtstexten ist die Konzeptionenbildung nach Dworkin immer schon eine interpretative Rechtfertigung bestimmter Begriffe, die wir durch übereinstimmenden Gebrauch gemeinsam haben, nicht aber eine Interpretation sprachlicher Zeichen. Daraus erklärt sich eine Reihe von abschätzigen Äußerungen Dworkins über die Überbewertung der sprachlichen Fassung von Rechtsnormen. Es werde "too much weight upon accidents of language and history" 64 gelegt. Die Technik der statutory interpretation (Gesetzesinterpretation) assoziiert Dworkin mit "accidents in verbal behavior" 65. Damit sind die kleinkarierte Redaktion von statutes , die keinen Blick auf übergreifende Prinzipien erlaubt, und eine entsprechend wortklauberische Auslegungsmethode, die den Willen des Gesetzgebers zu erforschen sucht und das Gesetz damit als "attempt at communication" behandelt66, angegriffen. Die Kommunikationsfunktion der Sprache im Verhältnis des Normsetzers zum Norminterpreten spielt in Dworkins Theorie der Interpretation keine Rolle. Und nicht der Wortlaut des Gesetzes als einer Rechtsquelle interessiert Dworkin in seinen rechtsmethodologischen Arbeiten, sondern das Recht als solches, das sich nicht in den in einem Regelbuch niedergelegten Regeln erschöpft 67 und nur in sehr begrenztem Maße über die Auslegung eines autoritativen Texts zu erfassen ist. Daher geht es in Dworkins Theorie des Rechts auch immer schon um "propositions of law , das sind "all the various statements and claims people make about what the law allows or prohibits or entitles them to have" 9 , also 63 Ähnlich Munzer/Nickel, Does the Constitution Mean What It Always Meant?, S. 1040. 64 Dworkin, TRS, S. 63. 65 Dworkin, TRS, S. 56. 66 Dworkin, MP, S. 14, 147 f. Vgl. zur Redaktion und "hasardierenden Wortexegese" im englischen statute law Esser, Grundsatz und Norm, S. 129 ff., 228 f., 264 f. Zu Dworkins Ablehnung einer subjektiv-historischen Auslegung vgl. unten Kapitel 5 II 3. 67 Vgl. zur "rule-book"-conception der rule of law, Dworkin, MP, S. 11 ff. 68 Vgl. hierzu kritisch Moore, A Natural Law Theory of Interpretation, S. 180 Fn. 6. 69 Dworkin, LE, S. 4; TRS, S. 289 f.; MP, S. 120 ff., 146 f.; The Philosphy of Law, S. 5.
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um den propositionalen Gehalt illokutionärer Akte im Sinne Searles . Die rechtliche Aussage, nicht der Aussagesatz, etwa die Formulierung einer Norm in einem Gesetzestext, ist Gegenstand der Interpretation 71. Konstruktive Interpretation besteht - das hat das Vorstehende gezeigt in der Entwicklung von Konzeptionen zu Begriffen und Praktiken. Im folgenden geht es um die Methode dieser Konzeptionenbildung.
2. Drei Phasen konstruktiver
Interpretation
Die Entwicklung einer Konzeption zu einem Begriff ist für Dworkin Paradigma jeder Theorienbildung (zumindest) im Bereich von Recht, Moral, Politik und Literatur, soweit diese interpretativer und nicht empirischer, psychologischer oder historischer Natur ist 72 . Grob skizzierend läßt sich die Entwicklung einer interpretativen Theorie zu einem Begriff bzw. einer sozialen Praxis als ein Prozeß in drei Stufen begreifen 73.
a) "Präinterpretative" Phase Auf der ersten Stufe (sogenannte "präinterpretative" Phase) geht es lediglich um ein bloßes Sprachverständnis, also darum, sich über die klaren Anwendungsfälle eines Begiffes, den eine Gruppe gemeinsam hat, Rechenschaft abzulegen74 bzw. um eine vorläufige Identifikation der Regeln und Standards einer sozialen Praxis. Eine interpretative Gemeinschaft sei durch einen weitgehenden Konsens auf dieser Ebene definiert 75. Eine Interpretation der sozialen Praxis der Höflichkeit z.B. verlange, sich zunächst über die geübten und als Ausdruck von Höflichkeit verstandenen Verhaltensweisen klar zu werden. 70 Vgl. Searle, Sprechakte, S. 39 ff. 71 Vgl. Tugendhat/Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, S. 17 zur Unterscheidung von Aussagen (engl, "propositions1* und manchmal "statements") und Aussagesätzen. Die Übersetzung von "proposition of lam? mit "Rechtssatz" (Bürgerrechte ernstgenommen, S. 464 f.) ist irreführend, da der Jurist darunter gewöhnlich die Rechtsnorm versteht. Diese aber ist nur einer der Fälle von propositions of law. 72 Dworkin, TRS, S. 127 f., 135 f., 350 f., MP, S. 158 ff., What is Equality?, S. 185. 73 Dworkin, LE, S. 65 ff. TRS, S. 127 spricht Dworkin von einem Prozeß in zwei Schritten, läßt dabei aber die sogenannte Fehlertheorie aus, die er TRS, S. 118 ff. entwickelt hat. 74 Dworkin, TRS, S. 127,351. 75 Dworkin, LE, S. 65 f.
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Der "präinterpretative" Schritt der Sichtung des zu interpretierenden Materials wirft die Frage nach dessen Beschaffenheit auf. Das eine Mal spricht Dworkin von "raw behavioral data" und "brute facts of legal history", ein andermal weist er darauf hin, daß auch in der präinterpretativen Phase "some kind of interpretation" notwendig sei, weshalb er "präinterpretativ" (manchmal) in Anführungsstriche setzt . Die Entdeckung von "brute, noninterpretive, and recalcitrant facts" hält er einerseits für eine "silly metaphysical theory of interpretation" 77, andererseits geht er regelmäßig davon aus, daß ein Interpret eines literarischen Werks einen Text als solchen schon vorfindet und der Richter sich auf vorgefundene rechtliche Materialien stützt. Die Rohheit von Tatsachen ist ein relativer Begriff . Daher stellt sich das Problem, "wie roh" die einer Interpretation zugrundegelegten Tatsachen sein müssen, damit sie dem Interpreten Schranken auferlegen, und wann der Interpret die Tatsache soweit behandelt hat, daß er sie seiner Interpretation an- oder eingepaßt hat, anstatt seine interpretative Theorie durch die Tatsache zu kontrollieren 79. Dworkins Position ist schwer faßlich. Sicher ist nur, daß Bedeutungen nicht uninterpretiert vorfindbar sind. Es gibt keine "ontologically independent meanings scattered among the furniture of the universe"80. Wann aber eine Tatsache so weit gedeutet und damit bearbeitet ist, daß sie nicht mehr als rohes Ausgangsmaterial einer Interpretation gelten kann, ist in Dworkins Augen selbst wieder eine interpretative Frager 1, deren Beantwortung relativ ist zu der Institution, in der sie gestellt wird. Dworkin schenkt ihr allerdings regelmäßig keine Beachtung82.
76 Dworkin, LE, S. 52, 65 f. Das Problem, ob Dworkin rohe, uninterpretierte Fakten zum Ausgangspunkt einer Interpretation erklärt, ist der Kern seines Disputs mit Fish. Vgl. Fish, Working on the Chain Gang, S. 208 f. und Wrong Again, S. 299 ff. Dworkin, MP, S. 167 f. 77 Dworkin, MP, S. 167. 78 Vgl. Anscombe, On Brute Facts, S. 69 ff., 71. 79 Kann man beispielsweise die Tatsache eines beschriebenen Papiers als einen Text, und die Tatsache eines Textes als einen Roman bezeichnen, ohne diesen Fakten ihre Roheit zu nehmen? Vgl. Dworkin, MP, S. 150. 80 Dworkin, MP, S. 168. 81 Dworkin, MP, S. 150. 82 Bei der rechtlichen Interpretation z.B. nimmt Dworkin Gesetze zum Material, ohne zu problematisieren, inwiefern die Bezeichnung eines Textes als Gesetz schon eine Interpretation voraussetzt. Vgl. unten Kapitel 5 II.
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b) Interpretative Phase In einem zweiten Schritt (sogenannte interpretative Phase) muß Dworkin zufolge nach einem Bündel von Prinzipien gesucht werden, das in der Lage ist, sämtliche Standardfälle des Begriffs oder der Praxis - das Material - konsistent und kohärent zu rechtfertigen. Diese Prinzipien müßten begründen, warum der Begriff in den Standardfällen Anwendung finde, und die wesentlichen Teile einer sozialen Praxis müßten gerechtfertigt werden, indem gezeigt werde, warum diese Praxis es wert sei, weiter verfolgt zu werden . Was das im einzelnen heißt, wird noch zu erörtern sein84. c) Postinterpretative Phase Ist es unmöglich, das gesamte Material unter einen Hut zu bringen, so müssen durch die Rechtfertigung nicht erfaßbare Teile in einem dritten Schritt (postinterpretative Phase) unter Umständen als Fehler ausgesondert werden. Jede sinnvolle Theorie der Interpretation muß nach Dworkin eine "doctrine of mistake" enthalten85, also Grundsätze, unter welchen Umständen vorgefundenes Material verworfen werden kann. Diese Theorie werde wiederum von einer Konzeption der Institution, im Rahmen welcher die Konzeption des Begriffs entwickelt werde, ausgehen. Ein Interpret der Praxis der Höflichkeit z.B. mag dazu kommen, daß bestimmte Verhaltensmuster, im Lichte der besten Rechtfertigung der Praxis besehen, als Fehler erscheinen und daher reformbedürftig seien . Indem Dworkins Modell der interpretativen Theorienbildung grundsätzlich eine Korrektur des zugrundegelegten und zu rechtfertigenden Materials erlaubt, geht es über Quines holistische Theorie 87 wissenschaftlicher Erkenntnis noch hinaus. Diese nehme nur an, "that... our theories face our experience as a whole, so that we might react to recalcitrant or surprising experience by making different revisions at different places in our theoretical structures if we wish"88. Dworkins Ansatz ist insofern radikaler, als nicht 83 Dworkin, TRS, S. 135; LE, S. 66. 84 Vgl. unten II 3. 85 Dworkin, MP, S. 161. 86 Dworkin, LE, S. 66. 87 Auch Dworkins Theorie wird verschiedentlich als holistisch charakterisiert: Nickel, Dworkin on the Nature and Consequences of Rights, S. 1131, 1134; Regan, Glosses on Dworkin, S. 140; Mackie, The Third Theory of Law, S. 164. 88 Dworkin, TRS, S. 164 f.; vgl. Quine, Two Dogmas of Empiricism, S. 44. Hier geht es Quine allerdings nicht um normative, rechtfertigende, sondern um deskriptive, erklärende Theorien.
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nur das rechtfertigende Theoriengebäude an verschiedenen Stellen revidierbar ist, sondern unter Umständen Teile des zu rechtfertigenden Materials selbst verworfen werden können: "may simply be ignored the better to serve some particular theory" 89. Der Interpret ist allerdings Dworkin zufolge - anders als es die gerade zitierte Textstelle nahelegt - auch in dem dritten korrigierenden Schritt der Interpretation durch das Material beschränkt. So sei etwa eine Interpretation eines literarischen Textes schlecht, die es erfordern würde, diesen über weite Strecken als fehlerhaft zu ignorieren 90. Und der Richter unterliege in der Korrektur der Rechtsmaterialien institutionellen Beschränkungen91. Um Dworkins Modell konstruktiver Interpretation zu rekapitulieren: Zu dem in einem ersten präinterpretativen Schritt identifizierten Material, über dessen Relevanz weitgehender Konsens herrschen muß, damit eine interpretative Theorienbildung überhaupt möglich ist, ist in einem zweiten interpretativen Schritt eine konsistente und kohärente Rechtfertigung zu suchen. Das erfordert ein korrigierendes Hin- und Herwandern zwischen dem zu rechtfertigenden Material und der dieses Material rechtfertigenden Theorie (der Konzeption des Begriffs oder der Praxis). In einem dritten Schritt ist unter Umständen ein Teil des Materials als fehlerhaft zu verwerfen. Notwendig ist dies, wenn keine Interpretation das gesamte Material als in sich stimmig zu zeigen vermag. Dieses gedankliche Raster begegnet an vielen Stellen in Dworkins allgemeiner Theorie des Rechts wieder, ja kennzeichnet sein ganzes Denken. Interpretation, Kreation und Kritik sind in den drei Schritten konstruktiver Interpretation untrennbar miteinander verknüpft 92.
89 Dworkin, TRS, S. 165. Die Möglichkeit der Verwerfung von Material ist eine Folge des Postulats, daß nicht nur die Theorie, sondern auch das politische, moralische, rechtliche oder literarische Material der Interpretation unter einer Konsistenz- und Kohärenzanforderung steht. Vgl. dazu unten II 3. 90 Dworkin, MP, S. 150. 91 Vgl. unten Kapitel 5 II. 92 Dworkin, TRS, S. IX, 7; MP, S. 152 f.; LE, S. 52, S. 229: "Judges, however, are authors as well as critics". MacCormick, Dworkin as Pre-Benthamite, S. 183 hat Dworkin wegen seiner Verbindung von "expository and censorial jurisprudence" mit dem Titel Pre-Benthamite belegt.
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3. Konstruktive
Interpretation
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als konsistente und kohärente Rechtfertigung
a) Rechtfertigungen im Gegensatz zu Erklärungen Was die in der zweiten Phase der Interpretation geforderte "Rechtfertigung" gegenüber einer "Erklärung" auszeichnet, wird von Dworkin zum einen in einem Vergleich erläutert. Erklärungen zu liefern, das sei die Aufgabe von Psychologen, Soziologen und Historikern, nicht aber die des Juristen, insbesondere des Richters. Ersteren ginge es darum, die tatsächlichen Beweggründe zu einem Handeln aufzuzeigen, letzteren darum, ein Handeln als richtig oder gerechtfertigt auszuweisen. Der Richter etwa müsse das vorliegende juristische Material (Gesetze, Gerichtsentscheidungen etc.) als in sich widerspruchsfrei und zusammenhängend und mit höherrangigen Prinzipien vereinbar vorstellen. Die richterliche Entscheidung basiert danach auf einer interpretativen Theorie (Konzeption), die das gegebene rechtliche Material durch bestimmte Prinzipien rechtfertigt 93. Was es aber eigentlich heißt, zu rechtfertigen, was für eine Beziehung zwischen den Prinzipien und dem vorgefundenen Material bestehen muß, damit jene dieses rechtfertigen 94, erschließt sich erst aus einer Gesamtbetrachtimg des zweiten Schritts der Interpretation. b) Die formale und die inhaltliche Dimension der Rechtfertigimg: "fit" und "value" Die rechtfertigende interpretative Theorie hat nach Dworkin eine sogenannte formale und eine inhaltliche Dimension95. (Wie sich im Laufe der 93 Dworkin, TRS, S. 119 f. 94 Dworkins Unterscheidung von Erklärung und Rechtfertigung legt eine Parallele zu Baiers Theorie eines moralischen Standpunktes nahe. Eine Handlung ist danach gerechtfertigt, wenn die besten Gründe für sie sprachen. Gründe seien bestimmte Tatsachen. Zu rechtfertigenden Gründen würden diese Tatsachen, wenn bestimmte wahre (d.h. im Kontext moralischen Begründens: von einem moralischen Standpunkt aus akzeptable Überzeugungen) auf sie anwendbar seien. Eine Handlung ist danach gerechtfertigt, wenn erstens die als Grund angeführte Tatsache bestand und sie zweitens durch eine (wahre) Überzeugung als Grund ausgewiesen ist (Baier, The Moral Point of View, S. 95 ff., 148-150). Legt man dieses Verständnis von Rechtfertigung zugrunde, so sind die Dworkin'schen rechtfertigenden Prinzipien (wahre) Überzeugungen, die z.B. für eine in den Rechtsmaterialien gespeicherte politische Entscheidung der Judikative oder Legislative - Dworkin versteht Urteilsakte des Richters und Gesetzgebungsakte des Gesetzgebers gleichermaßen als politische Entscheidungen - bei entsprechender Sachlage einen rechtfertigenden Grund liefern. 95 Dworkin, MP, S. 328 f., S. 158 Fn. 5; "Naturar Law Revisited, S. 170 ff.; TRS, S. 160 ff.; LE, S. 230 ff., 254 ff.
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Diskussion um Dworkins Theorie der Interpretation herausgestellt hat, ist die erste Dimension allerdings so formal nicht und mit der zweiten verwoben 96.) Die formalen Anforderungen, die Dworkin an eine Rechtfertigung stellt, lassen sich durch die Schlagworte Kohärenz und Konsistenz (die beide von Dworkin ohne erkennbare Differenzierung gebraucht werden) oder auch den Begriff des fit (für den sich kaum eine adäquate Übersetzung finden läßt) wiedergeben97. Mit dem Konsistenz- und Kohärenzgebot ist nicht nur die Forderung formuliert, daß die das Material interpretierende Theorie selbst geschlossen und widerspruchsfrei zu sein hat. Sie soll vielmehr das zu rechtfertigende Material selbst als zusammenhängend und widerspruchsfrei darstellen und rechtfertigen. Für den Richter heißt das, "that he must not show that history as unprincipled chaos"98. Es ist mithin (zumindest) eine Arbeitshypothese der Dworkin'schen Theorie, daß das Recht, wie es als geschichtlich gewachsenes vorliegt, stimmig und widerspruchsfrei ist. Was unter der Konsistenz und Kohärenz des zu interpretierenden Materials zu verstehen ist, ist nach Dworkin selbst wieder eine Frage der Interpretation und Theorienbildung. Der Begriff des fit sei seinerseits interpretationsbedürftig und verlange die Entwicklung einer Konzeption, wann eine Interpretation "passe". Eine Formel dafür, wannfit vorliege, lasse sich nicht geben99, denn je nachdem, im Rahmen welcher Institution eine Konzeption gebildet werde, könnten die formalen Anforderungen unterschiedlich hoch sein. Das wird etwa hinsichtlich der unterschiedlichen Konsistenz- und Kohärenzanforderungen, die Dworkin zufolge an den Gesetzgeber einerseits und an den Richter andererseits zu stellen sind, auszuführen sein 100 . Die inhaltliche Dimension der Rechtfertigung ordnet Dworkin der formalen Dimension nach 101 . Wenn das formale Erfordernis konsistenter und kohärenter Rechtfertigung verschiedene Lösungen zulasse, also die Konstruktion verschiedener Mengen rechtfertigender Prinzipien erlaube, die gleichermaßen auf das Material paßten, so müsse die Entscheidung zwi96 Dworkin, LE, S. 231,239; "Natural" Law Revisited, S. 173. 97 Dworkin, MP, S. 158 ff., 407 Ν. 5, 328 f.; "Natural" Law Revisited, 170 ff. und zahlreiche weitere Textstellen. Eine Interpretation, die auf das interpretierte Material "paßt", erfüllt die Anforderung des fit. 98 Dworkin, "Natural" Law Revisited, S. 169. 99 Dworkin, "Natural" Law Revisited, S. 170.; LE, S. 231. 100 Vgl. unten Kapitel 51 und II. 101 Dworkin, MP, S. 158, Fn. 5 und S. 327 ff.; "Natural" Law Revisited, S. 170 ff.; LE, S. 231,255.
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sehen den verschiedenen Rechtfertigungstheorien unter inhaltlichen Gesichtspunkten fallen. Im Falle literarischer Interpretation seien das ästhetische, im Falle rechtlicher Interpretation politisch-moralische Gesichtpunkte102. Es sei die Interpretation vorzuziehen, die den Gegenstand der Interpretation (ästhetisch oder politisch-moralisch) im besten Lichte erscheinen lasse103. Dworkin faßt den gesamten Vorgang interpretativer Theorienbildung als ein Oszillieren zwischen Theorie und Material bzw. als eine Interaktion zwischen Zweck und Objekt auf 104 . Er nimmt an, daß je umfangreicher und komplexer das Material ist, die bei diesem Hin- und Herwandern verbleibenden Interpretationsmöglichkeiten umso stärker begrenzt werden 105 . Dabei unterstellt Dworkin die Konsistenz und Kohärenz des Materials. Denn nur dann bestärken und bestätigen zusätzliche Materialien die stimmigste und damit beste Interpretation und eröffnen nicht immer neue Interpretationsmöglichkeiten. Und er setzt weiter voraus, daß die Materialien, obwohl ihre Identifikation als einschlägige Materialien im ersten Schritt der Interpretation doch schon einen gewissen Grad an Interpretation verlangt, den Interpreten in seinen Interpretationsmöglichkeiten beschränken, er also aus ihnen nicht machen kann, was er möchte. c) Literarische und rechtliche Interpretation als chain enterprise Wie aus den bislang angeführten Beispielen schon deutlich ist, hat Dworkin seine Theorie der Interpretation vornehmlich anhand von Par102 Dworkin, MP, S. 158 Fn. 5 und S. 329. Wie Dworkin seinen Maßstab politischer Moral für die rechtliche Interpretation gewinnt, wird in Kapitel 2 erörtert. 103 Dworkin, LE, S. 231. 104 Dworkin, LE, S. 52; TRS, S. 101 ff. mit folgendem Beispiel: Ein Schachschiedsrichter muß entscheiden, ob das enervierende ständige Anlächeln des Gegners eine grundlose Belästigung desselben ist, die nach dem Reglement zum Verlust der Partie führt. Der Schiedsrichter muß dazu eine eigene Vorstellung davon entwickeln, was das Schachspiel eigentlich für ein Spiel ist, und gesetzt den Fall, er hält es für ein intellektuelles Spiel, was für eine Vorstellung von Intellekt ihm zugrundeliegt. Verschiedene Konzeptionen des Begriffs Intellekt hat er an den Regeln und der Praxis des Spiels, dem gesamten Unternehmen Schach, zu überprüfen. Das erfordert ein Hin- und Herwandern zwischen einer Philosophie des Geistes und den Tatsachen (Regeln) des Schachspiels. In einer Hinsicht ist das Beipiel des Schachschiedsrichters für Dworkins Modell der interpretativen Theorienbildung allerdings untypisch: Das Schachspiel als autonome, in sich abgeschlossene Institution erlaubt es nicht, auf größere Zusammenhänge zurückzugreifen und das Material mit Blick auf einen größeren Zusammhang korrigierend zu verändern. Vgl. zur Unterscheidung autonomer und halb-autonomer Institutionen unten III 1. 105 Dworkin, MP, S. 143,169 f.; kritisch etwa Fish, Working on the Chain Gang, S. 203 ff.
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allelen zur literarischen Interpretation entwickelt. Anders als etwa Gadamer, der die juristische Hermeneutik zum Modell einer allgemeinen Hermeneutik erklärt 106 , nimmt Dworkin die literarische Interpretation oder besser seine Konzeption literarischer Interpretation - zum Vorbild für die rechtliche Interpretation. •
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Er konstruiert hierzu ein sogenanntes chain enterprise . Das enterprise einer chain novel, eines Kettenromans, besteht darin, daß eine Gruppe von Autoren einen Roman schreibt, wobei einer nach dem anderen auf dem oder den Kapitel(n) seines oder seiner Vorgänger aufbauend und diese interpretierend den Roman fortführt. Jeder Autor hat den Anspruch, den Text als ganzen zu dem besten Kunstwerk zu machen, das er sein kann; sie nehmen mit anderen Worten alle die interpretative Haltung ein. Die Interpretation des schon geschriebenen Texts erfolgt in der Dimension des fit, d.h. die Interpretation muß auf den Text passen und ihn als möglichst stimmig zeigen, und der Dimension der literarischen Bewertung (value), d.h. er muß als der bestmögliche Text seines Genres gezeigt werden. Der jeweilige Autor schreibt den Text entsprechend seiner Interpretation fort. Er versucht nicht, die Intentionen seines oder seiner Vorgänger zu erforschen und diesen zu folgen, sondern gibt eine Interpretation dessen, was diese kollektiv getan haben . Spätere Autoren werden die meisten Interpretationen schon in der Dimension des fit ausschließen können, weil die zunehmende Komplexität des Materials immer strengere Konsistenzanforderungen stellt. Aber auch der den Roman beginnende Autor erbringt schon eine Interpretationsleistung, indem er eine Konzeption des literarischen Genres, in dem er zu schreiben beabsichtigt, entwickelt, und sich nach dessenfit richtet 1 0 9 . Dworkin sieht den Richter in einer den Autoren des Kettenromans vergleichbaren Rolle als Autor, Interpret und Kritiker. Das Recht, insbesondere das common law, sei eine Institution, die durch den Richter als Autor fortgeschrieben werde: the chain of law 110 .
106 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 330 ff., 346; demgegenüber betont etwa Wagner, Interpretation in Literatur- und Rechtswissenschaft, S. 520 ff. die Verschiedenheit literaturund rechtswissenschaftlicher Interpretation; zu Gadamer und Dworkin vgl. auch Hoy, Interpreting the Law, S. 150. 107 Dworkin, "Naturar Law Revisited, S. 166 ff.; MP, S. 158 ff.; LE, S. 228 ff. 108 Dworkin, MP, S. 159; zum Topos des "kollektiven Tuns" bei Dworkin siehe auch LE, S. 63. 109 Dworkin, MP, S. 407 Ν. 5. 110 Dworkin, MP, S. 159; LE, S. 228.
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I I I . Zur Perspektive interpretativer Theorienbildung: Denken in Institutionen
1. Der Begriff der Institution
Dworkin spricht von der Interpretation als einer Übung (exercise), einem Unternehmen (enterprise), einer öffentlichen Institution oder Praxis 111. Die vier Begriffe - exercise, enterprise, practice, institution gebraucht Dworkin synonym, am häufigsten aber wohl den Begriff der Institution. Er nimmt mit diesem eine geläufige Kategorie der analytischen Philosophie112 auf, die menschliche Verhaltensweisen überhaupt oder jedenfalls dann, wenn sie regelgeleitet sind, als Institutionen oder Praktiken beschreibt 113. Institutionen sind nach Dworkin nicht durch ein oder mehrere Merkmale, sondern durch Familienähnlichkeiten im Sinne Wittgensteins definiert. Danach gibt es kein Merkmal, das alle Beispiele einer Institution gemeinsam haben. Es bestünden lediglich Ähnlichkeiten zwischen diesen, die die historische Kontinuität der Institution sicherten 114. Es gibt nach Dworkin engere Institutionen, wie etwa die der gerichtlichen Entscheidung, und weitere, wie die des "moral reasoning" oder des Rechts selbst115. Er unterscheidet weiter zwischen autonomen (z.B. das Schachspiel) und nur halb-autonomen Institutionen (z.B. die Gesetzgebung) 1 6 . Der Unterschied beider Praktiken liege darin, daß bei ersterer alle Fragen ausschließlich im Rahmen der institutionellen Vorgaben entschieden werden müßten, während bei den nur halb-autonomen Institutionen schwierige Fragen unter Rückgriff auf eine andere, ihnen zugrunde 111 Dworkin, MP, S. 139,146, 153. Obige Reihe ließe sich durch den Begriff des concept ergänzen, da concepts von Dworkin strukturell wie Institutionen definiert werden. 112 Das Denken in Institutionen ist indessen kein Spezifikum analytischer Philosophie. Dworkins Theorie ist einer der von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten unternommenen Versuche zu einem auf Institutionen gegründeten Denken. Vgl. hierzu jüngst Krawietz, Ansätze zu einem Neuen Institutionalismus, S. 706 ff. mit weiteren Nachweisen. 113 Vgl. etwa Searle, Sprechakte, 2.5 und 2.7 (S. 60, 81); Searle gebraucht den Begriff Praxis allgemein für menschliche Tätigkeiten, den Begriff der Institution für Systeme konstitutiver Regeln. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 35 Fn. 2 benutzt beide Begriffe gleichermaßen zur Bezeichnung jeder Form von Tätigkeit, die durch ein Regelsystem bestimmt ist. 114 Dworkin, LE, S. 69 und Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 67. 115 Dworkin, TRS, S. 285,249; The Philosophy of Law, S. 5. 116 Dworkin, TRS, S. 101.
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liegende Institution beantwortet werden könnten. Die halb-autonome Institution der Gesetzgebimg etwa sei eingebunden in den größeren Zusammenhang politisch-moralischen Handelns, der seinerseits wieder als eine Institution zu begreifen sei. Jede Institution verfügt nach Dworkin über bestimmte Grundregeln. Die rechtlichen Institutionen der USA z.B. stellten Grundregeln der politischen Auseinandersetzung zur Verfügung, die Institution der gerichtlichen Entscheidung verfüge über Grundregeln, die z.B. eine Entscheidung durch Münzwerfen verböten 117. In frühen Arbeiten sprach Dworkin davon, daß diese Grundregeln konventionelle Standards seien, die eine Institution definierten und strukturierten. Der Begriff der Konvention blieb dabei uner1 IQ
läutert . In jüngeren Publikationen lehnt Dworkin eine Begründung institutioneller Regeln durch Konventionen ausdrücklich ab 1 1 9 . Für das Bestehen einer Institution (z.B. der Rechtspraxis) seien keine Konventionen, lediglich Paradigmen, also konkrete Beispiele, auf die jede plausible Interpretation passen müsse, notwendig120. Näher besehen sind diese Paradigmen das, was wir gemeinsam haben müssen, um einen gemeinsamen Begriff von etwas zu haben. Gäbe es keine Übereinstimmung über vorläufig gefaßte Regeln einer Institution und deren Inhalt, also keine Übereinstimmung über Paradigmen der betreffenden Institution, so existiere diese in Wirklichkeit gar nicht 121 - so wie wir nach Dworkin keinen Begriff von etwas haben, wenn keine allgemeine Übereinstimmung über bestimmte Standardfälle besteht. Diese für das Bestehen einer Institution erforderliche Übereinstimmung ist Dworkin zufolge ein innerhalb einer Gemeinschaft existierender Konsens, keine konventionelle Übereinstimmung. Eine Konvention sei - im Gegensatz zum Konsens - dadurch definiert, daß die bloße Tatsache eines übereinstimmenden Verhaltens als Grund für diese Verhaltensweise angesehen werde. Konsens dagegen setze eine Übereinstimmung in Überzeugungen und damit substantielle Gründe voraus 122. Diese Konzeption einer Institution ist in zweierlei Hinsicht erläuterungsbedürftig. Zum einen ist der ihr zugrundeliegende Regelbegriff pro117 Dworkin, TRS, S. 204; Philosophy, Morality, and Law, S. 679. 118 Dworkin, Philosophy, Morality, and Law, S. 682; TRS, S. 249. 119 Dworkin, LE, S. 137. 120 Dworkin, LE, S. 72; s.o. II 1. 121 Dworkin, LE, S. 65. 122 Dworkin, LE, S. 136.
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blematisch , zum zweiten stellt sich die Frage, ob Dworkin in der Lage ist, die Herkunft der Regeln einer Institution zu erklären. Man darf sich unter den Regeln einer Institution im Sinne Dworkins keine Entitäten vorstellen, die den institutionalisierten Verhaltensweisen vorausliegen. Sie zeigen sich vielmehr im Verhalten derer, die an der sozialen Praxis teilhaben. Insoweit entspricht die Dworkin'sche Konzeption der Position Wittgensteins124. Doch zeigen sich die Regeln - und insofern weicht Dworkins Konzeption von der Wittgensteins ab - nicht dem außenstehenden Beobachter, sondern nur dem, der an der Praxis teilnimmt und diese interpretiert. Das ist unter dem Stichwort des internen interpretativen Standpunkts noch näher auszuführen (unten 2). Was die Erklärung des Zustandekommens der Regeln angeht, so befindet sich Dworkin in dem Dilemma, entweder doch eine Erklärung von Regeln durch gesellschaftliche Konventionen zulassen125 oder aber auf eine Erklärung des Zustandekommens solcher Regeln verzichten zu müssen126. Diesen Weg wählt Dworkin in Law's Empire, wenn er den Leser auffordert, sich eine Gemeinschaft, die noch keine interpretative Einstellung zeige und die einer Menge von Regeln folge, vorzustellen: "the rules are just there" 127 . Für diese Regeln, die so einfach da sind, bleibt nur eine konventionale Erklärung. Denn es besteht ja gerade noch kein Konsens über sie, weil sie noch nicht überdacht und reflektiert, sondern als gegeben hingenommen werden. In einer Gemeinschaft aber, deren Mitglieder die interpretative Haltung einnehmen, beruhe die Übereinstimmung im Verhalten auf einem Konsens. Die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft zeigten eine Regularität im Verhalten, nicht weil sie meinten, igendeiner Regel zu folgen sei besser als gar keiner zu folgen, sondern weil sie dieses Verhalten aus inhaltlichen Gründen für richtig hielten 128 . Geht man davon aus, daß sich die interpretative Haltung in einer Gemeinschaft hinsichtlich einer Institution
123 Im Rahmen seiner Rechtspositivismuskritik unterscheidet Dworkin Regeln und Prinzipien. Die dort verwandte Definition einer Regel trägt nichts zu der hier in Rede stehenden Frage bei. 124 Vgl. hierzu Kindhäuser, Intentionale Handlung, S. 40. 125 So etwa Dworkin, TRS, S. 249 ohne Erläuterung des Begriffs der Konvention. 126 Vgl. hierzu MacCormick, Institutionelle Moral und die Verfassung, S. 214 ff., der meint, daß Dworkins Kritik an der sogenannten "social rule theory", die Regeln konventionell erklärt (dazu unten Kapitel 4 IV 2), diesem jede Möglichkeit verbaue, die Regeln der Institutionen, auf die er sich ständig beziehe, zu erklären. 127 Dworkin, LE, S. 47. 128 Dworkin, LE, S. 136 f.; TRS, S. 53.
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erst nach und nach entwickelt , so haben die Regeln auch einer interpretativen Institution insofern einen konventionellen Kern, als sie sich aus zunächst bloß konventionellen Regeln entwickelt haben müssen. Wesentlich für Dworkins Institutionenbegriff ist, daß nicht einmal die Paradigmen sicher sind vor einer neuen Interpretation der Praxis, die ihre Rolle als paradigmatische Beispiele dieser Praxis in Frage stellt 130 . Der gleiche Gedanke klang auch schon in den frühen Schriften Dworkins an, wenn er schrieb, die konventionellen Grundregeln der Institution des Rechts seien permanenten Änderungsprozessen unterworfen. Das unterscheide sie von den relativ starren Regeln von Spielen131. Institutionelle Regeln verändern sich nach Dworkin, sofern die betreffende Gruppe die interpretative Haltung einnimmt und folglich diese Regeln nicht als Dogmen oder Tabus betrachtet, durch die ständige Neuinterpretation durch die Teilnehmer der Institution 132 .
2. Der interne Standpunkt
Die Regeln einer Institution können Dworkin zufolge nicht von einem Beobachterstandpunkt aus an dem übereinstimmenden Verhalten der Gruppenmitglieder abgelesen werden, sondern sind von einem Standpunkt innerhalb der Institution interpretativ zu gewinnen133. Die Regeln, die derzeit als die die Institution definierenden Regeln angesehen würden, könnten jederzeit durch eine bessere Interpretation der Praxis ersetzt werden. Die Interpretation der Institution und die kritische Veränderung der Institution von innen heraus seien nicht voneinander zu trennen 134 .
129 Dworkin, LE, S. 48 beschreibt Dworkin die Wandlungen der Institution der Höflichkeit. 130 Dworkin, LE, S. 72. 131 Dworkin, Philosophy, Morality, and Law, S. 682. 132 Dworkin, LE, S. 47. 133 Die Unterscheidung eines internen und eines externen Standpunktes in Bezug auf ein Regelsystem hat schon Hart, The Concept of Law, 86 ff. ausgearbeitet. Intern ist danach der Standpunkt eines Mitgliedes der Institution, das die Grundregeln akzeptiert und sie als Verhaltensrichtlinie benützt; extern der Standpunkt eines Beobachters oder eines Mitgliedes, das die Grundregeln nicht akzeptiert. Dworkin unterscheidet lediglich zwischen einem internen Teilnehmer- und einem externen Beobachterstandpunkt. 134 Dworkin, MP, S. 153. An gleicher Stelle spricht Dworkin zwar von einem "mehr empirischen'· Vorgehen bei der Interpretation, gemeint ist damit aber nur der erste präinterpretative Schritt der Identifizierung der Institution.
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Mit der Forderung, einen internen Standpunkt in Bezug auf die zu interpretierende soziale Institution einzunehmen, ja der Behauptung, es lasse sich sinnvollerweise überhaupt nur ein interner Standpunkt in Bezug auf solche Institutionen einnehmen, setzt sich Dworkin in bewußten Ggegensatz zum Empirismus. Denn es ist die zentrale These des Empirismus, daß Quelle all unseres Wissens die Erfahrung ist 1 3 5 . Der empiristische Begriff der Erfahrung setzt aber die Trennung von erkennendem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis voraus. Wahrheitsfähig sind nach empiristischer Auffassung nur Sätze, die sich an der Erfahrung überprüfen lassen136. An die Stelle der verifizierenden oder falsifizierenden Erfahrung als der Bewährungsprobe von Theorien 137 tritt bei Dworkin eine schon interpretativ geprägte und vermittelte Erfahrung, an der sich konsistente und kohärente Interpretationen messen lassen müssen. Was die Dimension des fit, als die formale Hürde einer jeden interpretativen Theorie, für deren Richtigkeit verlangt, ist selbst schon eine Frage der Interpretation der Institution von innen heraus. Einen internen Standpunkt einzunehmen, bedeutet für Dworkin allerdings nicht, daß man eine Regel der Institution als solche schon als einen Grund zu einem ihr entsprechenden Handeln akzeptieren müßte 138 . Wie aus der oben erläuterten Unterscheidung Dworkins zwischen Konvention und Konsens deutlich wird, verlangt Dworkin vom Interpreten einer Institution zwar, daß dieser sich in einem bestimmten sozialen Zusammenhang sieht, aber nicht, daß er die Standards der jeweiligen Institution als verbindliche Konventionen akzeptiert. Nur soweit man vom 135 Dworkin, MP, S. 139 ff.; vgl. zur Empirismuskritik auch A Reply, S. 248 f.; TRS, S. 283, 288 f. 136 Daß der Empirismus auch rein logisch begründbare, analytisch wahre Aussagen für wissenschaftlich akzeptabel hält (vgl. Stegmüller, Hauptströmungen Bd. 1, S. 354 ff.), spielt hier, wo es um Aussagen über soziale Institutionen geht, keine Rolle. 137 Inwieweit die Erfahrung Theorien verifizieren und nicht nur falsifizieren kann, braucht hier nicht erörtert zu werden. 138 Dworkins Konzeption eines internen Standpunkts unterscheidet sich damit von dem Kliemts, Moralische Institutionen, S. 224, der den internen Standpunkt des Regelbefolgers dadurch definiert, daß die Existenz der Regel als solche schon einen Handlungsgrund abgibt, während vom externen Standpunkt nur über eine gesonderte Interessenkalkulation die Regel als Handlungsgrund zu akzeptieren ist. In die Richtung eines in diesem Sinne internen Standpunkts geht allerdings eine frühere Äußerung Dworkins (Philosophy, Morality, and Law, S. 682 Fn. 28), der zufolge der Umstand, daß eine bestimmte Handlungsweise den durch die Grundregeln vorgegebenen Rahmen sprengen würde, selbst schon ein Grund gegen diese Handlungsweise sei. Das könnte dahin verstanden werden, als sei die bloße Tatsache des Bestehens einer Regel, also eine Konvention im Dworkin'schen Sinne, zumindest ein prima facie Grund, diese Regel zu befolgen. Konsistent vereinbar mit Dworkins späteren Ausführungen ist die Textstelle daher nur, wenn als Grundregel nicht die sich in dem übereinstimmenden Verhalten zeigende Regel (Konvention) zählt, sondern die beste Interpretation dieses Verhaltens durch ein Gruppenmitglied. Vgl. auch Kapitel 2 II 3.
Erstes Kapitel
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Bestehen der Institution, wie sie ist, unabhängige Gründe habe, ihre Grundregeln zu akzeptieren, solle man ihr zustimmen. Soziale Institutionen gründen nach Dworkin eben auf den Konsens ihrer Mitglieder. Dworkin verwahrt sich dagegen, daß ihm, gegründet auf seine Ablehnung einer empiristischen Metaphysik, also seiner Verwerfung eines Beobachterstandpunkts, ein metaphysischer Standpunkt - Metaphysik jetzt in einem abwertenden Sinne gebraucht - unterstellt wird 1 3 9 . Seine Theorie sei vielmehr von keinem anderen metaphysischen Charakter als der Empirismus selbst. Sie setze kein transzendentales Reich moralischer Werte voraus und behaupte nicht die Existenz von "ghostly entities" (die keiner Erfahrung zugänglich sind) 140 . Die Regeln, die eine Institution nach Dworkin definieren, sind eben nicht als beobachtbare Entitäten, sondern als Ergebnis einer (auch) normativen interpretativen Theorienbildung vorzustellen. Der interne Standpunkt ist nach Dworkin auch bezüglich der Institution der Interpretation selbst einzunehmen. Problematisch scheint daher die Frage zu sein, wie Dworkins normative Forderungen an die Interpretation, etwa, daß Begriffe in rechtlichen Texten als concepts und nicht als conceptions zu lesen seien 141 , sich zu dem vorgefundenen Regelgefüge der Institution der Interpretation verhalten. Für Dworkin ist dieses Verhältnis allerdings gar nicht als das Verhältnis einer Institution zu den Vorstellungen eines Theoretikers dieser Institution begreifbar. Nehme man einen internen Standpunkt ein, streite man also innerhalb der Institution darüber, welches ihre Grundregeln seien, so falle nämlich die auf eine Interpretation der Praxis gestützte Behauptung einer Regel dieser Institution und das "objektive" Bestehen einer solchen Regel zusammen. Es gebe eben gerade keine von außen beobachtbare Realität . Die Formulierung einer Interpretation und damit die implizite Befolgung einer Regel der Interpretation, sei dasselbe wie die Formulierung einer Theorie der Interpretation, also eine explizite Formulierung der Regeln der Institution der Interpretation: In beiden Fällen handele es sich um die Bildung einer Konzeption der Interpretation 143. Nach allem können die 139 Dworkin, TRS, S. 176,15. Metaphysik in solch einem pejorativen Sinne wäre es, sich z.B. unter natürlichen Rechten "spectral attributes worn by primitve men like amulets, which they carry into civilization to ward off tyranny" vorzustellen. 140 Dworkin, TRS, S. XI. 141 S. ο. unter II 1. 142 Dworkin, TRS, S. 334; "Naturar Law Revisited, S. 176; MP, S. 174. 143 Dworkin. MP, S. 152 f.
Recht als interpretative Praxis
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Grundregeln einer Institution nur innerhalb der Institution als Ergebnis einer Interpretation derselben behauptet, nicht aber von außen empirisch durch eine Beobachtung der Verhaltensregularitäten in einer Gemeinschaft nachgewiesen werden. Dworkins Beharren auf einem internen Standpunkt, seine interpretative Theorienbildung von einem Teilnehmer-Standpunkt aus, ist eines der Hauptcharakteristika seiner Theorie des Rechts. Die Rechtsphilosophie hat sich und kann sich in seinen Augen nicht von außen ihrem Gegenstand "legal reasoning" nähern, sie hat eigentlich gar keinen Gegenstand (wissenschaftstheoretisch gesprochen: kein Materialobjekt). Die Rechtsphilosophie ist vielmehr selbst das Zentrum rechtlichen Begründens und Teil der Institution des Rechts 144 . Der interne Standpunkt bedeutet mithin eine Verschmelzung von (Rechts-)Theorie und (Rechts-)Praxis. Die Frage "What is law?" wird durch die Frage "What is the law?" erschöpft. Das aber bedeutet auch, daß von Dworkins internem Standpunkt aus eine möglicherweise ideologische Funktion der Rechtstheorie für die Rechtspraxis einer Gesellschaft gar nicht ins Blickfeld geraten kann 145 . Natürlich beansprucht Dworkin nicht, eine Theorie im Geiste des amerikanischen Rechtsrealismus zu entwickeln, die eine solche ideologische Funktion der Rechtstheorie und -praxis erklären möchte. Doch indem Dworkin einen externen Standpunkt für schlechthin unmöglich erklärt, setzt er sich dem Verdacht aus, jede ideologiekritische Betrachtung des Rechts schon im voraus im Keim ersticken zu wollen.
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144 Dworkin, The Philosophy of Law, S. 1. 145 Vgl. hierzu ähnlich Mandel, Dworkin, Hart, and the Problem of Theoretical Perspective, S. 61 ff., 77.
Zweites Kapitel
DIE INSTITUTION
DER MORAL
I. Drei Ebenen des Gesprächs über Moral Dworkin faßt "moral reasoning", ja die Moral selbst, als eine Institution auf. Bevor Dworkins Interpretation dieser Institution, ihrer Grundregeln und ihres Verhältnisses zum Recht dargelegt wird, sei auf eine in der (analytischen) Moralphilosophie gängige Unterscheidung dreier Ebenen des Gesprächs über Moral hingewiesen, die in der Diskussion von Dworkins Theorie moralischer Argumentation von Nutzen sein wird. L Normative Ethik (kritische Moral)
Mit der Äußerung von Sätzen, die inhaltlich moralische Aussagen machen, wie z.B. "Sklaverei ist ungerecht" oder "Moralisch ist die Entscheidung, die das größte Glück der größten Zahl bewirkt" (Bentham), nimmt man einen moralischen Standpunkt ein. Wird wie im zweiten Beispiel eine allgemeine Theorie dessen, was moralisch ist, aufgestellt, so soll im folgenden von einer normativ-ethischen Theorie gesprochen werden. Normative Ethiken formulieren eine kritische Moral. Kritisch sind sie insofern, als mit ihnen tatsächlich bestehende Überzeugungen in einer Gemeinschaft kritisiert werden können. 2. Positive Moral (herrschende Moral)
Solche tatsächlich bestehenden Überzeugungen in einer Gemeinschaft werden als positive Moral bezeichnet. Sätze, die berichten, welche inhaltlich-moralischen Standpunkte eine bestimmte Person oder Gemeinschaft
Die Institution der Moral
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einnimmt, z.B. "Die Mehrheit der Briten ist der Auffassung, daß homosexuelle Handlungen immoralisch sind"1, haben deskriptiv-empirischen Charakter.
3. Metaethik
Die dritte Ebene ist die der Metaethik. Sie macht Aussagen darüber, was es eigentlich heißt, moralische Fragen zu stellen und zu beantworten. Der moralische Diskurs selbst ist Gegenstand der Metaethik. Sie beschäftigt sich u.a. mit der Frage, welche Anforderungen an eine Aussage zu stellen sind, damit sie als moralische bzw. als moralisch richtig gelten kann2. Dworkin geht es in seiner Moralphilosophie um die Fragen, wann von einem moralischen Standpunkt gesprochen werden kann, was eine moralische Begründung auszeichnet und wann ein moralisches Urteil richtig ist. Seine Argumentation ist nicht sprachanalytisch wie die eines Großteils der metaethischen Literatur, die nach der Bedeutung moralischer Wörter fragt, sondern interpretativ. Dworkin interpretiert die Institution der Moral und entwickelt eine Konzeption eines moralischen Standpunktes. Ob diese eine metaethische Theorie ist, wird zu diskutieren sein3. Dworkins Konzeption der Moral ist Teil seiner allgemeinen Theorie des Rechts. Auf eine vorläufige Formel gebracht, läßt sich das Verhältnis von Recht, Moral und Politik bei Dworkin dahin bestimmen, daß das Recht politisch ist und die Politik moralisch zu sein hat. Dworkins Theorie des Rechts ist politisch, insofern sie sich mit Problemen gemeinschaftlichen Zusammenlebens befaßt, und sie ist moralisch, soweit es um die Maßstäbe richtigen politischen Handelns geht.
1 Dworkin, TRS, S. 247. 2 Vgl. zu dieser Strukturierung Grewendorf/Meggle, Zur Struktur des metaethischen Diskurses, S. 7. Zur terminologischen Abgrenzung (normativ-ethisch, deskriptiv-empirisch, metaethisch-semantisch) vgl. Braun/Radermacher, Wissenschaftstheoretisches Lexikon, Stichwort "Utilitarismus". 3 Vgl. dazu unten II 5.
Zweites Kapitel
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II. Die Institution politischer Moral
1. Private Moral und politische Moral
Dworkin versteht sich als Teilnehmer des Unternehmens politischer Moral. Er unterscheidet diese politische Moral von der persönlichen oder privaten Moral, an die andere (geringere) Begründungsanforderungen zu stellen seien, weil der (nur) privat Handelnde eine andere Verantwortung trage 4. Er setzt die Unterscheidung politischer (bzw. sozialer)5 und privater Moral gewöhnlich voraus und gebraucht die Begriffe "politisch" und "moralisch" häufig synonym. So spricht er von politischen oder moralischen Rechten6, bezeichnet den Utilitarismus als moralische, ethische und/oder politische Theorie und charakterisiert den Liberalismus als politische Theorie, die entgegen erstem Anschein auf eine konstitutive Moral baue bzw. in dieser bestehe8. Was die politische Moral gegenüber der privaten Moral auszeichnet, ist Dworkins Andeutungen nicht eindeutig zu entnehmen. Sein Begriff politischer Moral schwankt je nach Kontext zwischen den folgenden drei Interpretationen. Die politische Moral bezeichnet bei Dworkin einmal eine bestimmte Klasse von Erwägungen, die nur einen Teil der Erwägungen umfaßt, die überhaupt für die am Ende jeder moralischen Überlegung stehende Frage "Was soll ich tun?" relevant sein können. Die Erwägungen politischer Moral in diesem Sinne sind für sich genommen noch nicht letztentscheidend und können mit Erwägungen privater Moral - etwa solchen persönlicher Tugend - in Konflikt stehen9. Die Unterscheidung politischer und privater Moral wird von Dworkin zum zweiten als eine Unterscheidung zweier Klassen von Situationen oder Problemstellungen verstanden. Alle Situationen, die die Gemeinschaft, die 4 Dworkin, TRS, S. 160,353; A Reply, S. 279; LE, S. 173 ff. 5 Vgl. Dworkin, TRS, S. 353. 6 Vgl. z.B. Dworkin, MP, S. 313,353 und passim. 7 Dworkin, TRS, S. IX, 95; A Reply, S. 281. 8 Dworkin, MP, S. 183 f., 186. 9 Vgl. zur Formulierung eines "engen" Moralbegriffs im Sinne einer Teilklasse anzustellender Erwägungen Mackie, Ethics, S. 106 f., auf die Dworkin einmal explizit Bezug nimmt (MP, S. 103). In dem oben skizzierten ersten Sinne versteht offenbar Raz, Right-based Moralities, S. 198 f. die Dworkin'sche Unterscheidung.
Die Institution der Moral
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Gesellschaft oder den Staat in irgendeiner Weise tangieren, sind danach Probleme politischer Moral, während das Verhältnis zwischen Privatpersonen - Dworkin bringt mehrfach das Beispiel von Nachbarschaftsverhältnissen10 - Probleme privater oder persönlicher Moral aufwirft. Gegenüber diesem Verständnis weiter eingeschränkt ist eine dritte Konzeption politischer Moral, die danach unterscheidet, wer die moralischen Erwägungen anzustellen hat. Nur wenn dies ein "official", also eine für die Gemeinschaft handelnde Amtsperson ist, die als solche eine spezielle und größere Verantwortung als eine Privatperson trägt, ist von einer Frage politischer Moral in diesem Sinne zu sprechen11. Je nach Kontext benutzt Dworkin die eine oder die andere der drei Konzeptionen politischer Moral.
2. Stufenstruktur
der Dworkin'schen Theorie politischer Moral: Abstrakte polit sche Moral, Gemeinschaftsmoral, Recht
Betrachtet man das Verhältnis von Recht und Moral in der Dworkin' sehen Theorie näher, so läßt es sich als stufenweiser Übergang von einer abstrakten politischen Moral (oder sogenannten Hintergrundmoral) über eine Gemeinschaftsmoral zum Recht im konkreten Fall beschreiben . Mit diesen drei Stufen sind nicht drei im Grade ihrer Abstraktion unterschiedene Normensysteme gemeint. Denn Dworkin möchte gerade unser Verständnis des Rechts und der Moral als zweier Normensysteme erschüttern 13 . Was Dworkin unter Recht im konkreten Fall, Gemeinschaftsmoral und abstrakter politischer Moral versteht, läßt sich nur nach und nach erschließen. Wesentlich ist, daß sich das Stufenmodell in zwei Richtungen lesen läßt. Hinabsteigend von der abstrakten politischen Moral über die institutionelle Moral zum Recht ist es als Umsetzung einer Idealmoral in bestehende ge10 Dworkin, TRS, S. 301; LE, S. 166. 11 In diesem Sinne Dworkin, TRS, S. 160; A Reply, S. 279; LE, S. 166, 173 ff. und wohl auch The Elusive Morality of Law, S. 636. Eine Handlung zivilen Ungehorsams einer Privatperson wäre nach dieser Interpretation kein Problem politischer, sondern allein privater Moral. Dem stehen aber Dworkins Ausführungen TRS, S. 214 f. entgegen. 12 Dworkins Terminologie ist schwankend. Die Stufenstruktur der Dworkin'schen Theorie läßt sich am anschaulichsten LE, S. 404 - 409 entnehmen. 13 Dworkin, TRS, S. 76,344.
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es Kapitel
sellschaftliche Verhältnisse und als Anpassung dieser Idealmoral an institutionelle Gegebenheiten in einer politischen Gemeinschaft zu lesen. Was in einem konkreten Fall Recht ist, bestimmt sich, soweit spezielle institutionelle Gegebenheiten (z.B. die Gesetzes- und Präjudizienbindung des Richters) dies erlauben, nach der die institutionellen Vorgaben der Rechtspraxis im ganzen rechtfertigenden Gemeinschaftsmoral, die ihrerseits eine im Hinblick auf die politischen und rechtlichen Institutionen der betreffenden Gemeinschaft relativierte abstrakte politische Moral ist 14 . Aufsteigend vom Recht über die Gemeinschaftsmoral zur abstrakten politischen Moral liest sich das Modell in Richtimg auf eine Utopie richtigen Rechts15. In der stufenweisen Konstruktion des Verhältnisses von Recht und Moral spiegelt sich Dworkins Modell der Interpretation wieder. Die Frage, was im konkreten Fall Recht ist, erfordert danach eine Interpretation des rechtlichen Materials eines bestimmten Rechtsgebiets. Passieren mehrere Interpretationen die Schwelle des fit, passen also mehrere Interpretationen hinreichend gut auf das interpretierte Material, so ist die Interpretation vorzuziehen, die unter dem Gesichtspunkt politischer Moral besser ist. Den Maßstab hierfür gewinnt Dworkin aus der Gemeinschaftsmoral als institutioneller Moral, das ist die Gesamtheit der das Recht als ganzes rechtfertigenden Prinzipien, Werte oder Ideale16. Auch diese institutionelle Moral muß indessen interpretativ gewonnen werden. Den politisch-moralischen Maßstab zur Bewertung verschiedener Konzeptionen institutioneller Moral liefert eine ihr zugrunde zu legende abstrakte politische Moral. Mit dem Rechtsbegriff dieses Stufenmodells werden sich insbesondere Kapitel 4 und 5 auseinandersetzen. Die Grundlage hierfür soll im folgenden mit einer Darstellung von Dworkins Konzeption der Moral einer Gemeinschaft als institutioneller Moral (unten 3) und seiner Theorie einer abstrakten politischen Moral (unten 4) gelegt werden.
14 So auch MacCormick, Institutionelle Moral und die Verfassung, S. 206. 15 Vgl. zum utopischen Charakter eines Rechts, das ohne Zugeständnisse an bestehende Institutionen eine abstrakte politische Moral verwirklicht, Dworkin, LE, S. 407 ff. Ganz ähnlich Larenz, Richtiges Recht, S. 12 ff., 19, der das positive Recht als auf dem Weg zum richtigen Recht, zur normativen Richtigkeit beschreibt. 16 Dworkin gebraucht die genannten Begriffe ohne erkennbare Differenzierung nebeneinander. Der Begriff des Prinzips allerdings wird von Dworkin in bestimmten Zusammenhängen auch mit einer spezifischen Bedeutung benutzt; vgl. dazu Kapitel 3, 4 und 5. Zur Korrespondenz von (deontologischen) Prinzipien und (axiologischen) Werten, vgl. Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, S. 23 f. unter Hinweis auf v. Wright und ders., Theorie der Grundrechte, S. 131 ff.
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3. Die politische Moral einer Gemeinschaft
a) Positive Moral und institutionelle Moral Dworkins erste Beschäftigung mit dem Problem der Moral einer Gemeinschaft setzte bei expliziten Bezugnahmen von Rechtsvorschriften auf moralische Standards an. Jene würden vom Richter meist dahin verstanden, daß er die herrschenden gesellschaftlichen Moralvorstellungen - also die positive Moral - als Beurteilungsmaßstab nehmen solle17. Dworkin macht gegen einen solchen Rekurs auf die positive Moral zunächst den praktischen Einwand geltend, daß empirische Aussagen (besonders des Richters) über Mehrheitsüberzeugungen in moralischen Fragen meist nur auf Mutmaßungen gestützt werden könnten. Unklar sei auch, auf welcher Abstraktionshöhe die gesellschaftliche Moral angesetzt und ermittelt werden solle. Es sei doch zu vermuten, daß die Zustimmung um so größer sei, je abstrakter ein moralisches Prinzip formuliert werde. Außerdem stelle sich die Frage, worauf in Fällen, in denen die geäußerten Meinungen und das tatsächliche Verhalten divergierten, abzustellen sei. Hebe man in solchen Fällen auf die das tatsächliche Verhalten kritisierenden Meinungsäußerungen ab, so wäre immer noch zu begründen, warum gerade diese und nicht jenes moralische Standards zum Ausdruck brächten. Das spezifisch Moralische der positiven Moral sei durch die Ermittlung (wenn nicht gar bloße Behauptung) irgendwelcher vorherrschender Überzeugungen in einer Gemeinschaft noch in keiner Weise geklärt 18. Die positive Moral ist kein moralischer Maßstab, weil es gerade ein Spezifikum der Moral ist, daß man die positive Moral stets vom eigenen moralischen Standpunkt aus kritisieren kann 19 . Dworkin entwickelt in einer Reihe von Aufsätzen eine zur positiven Moral alternative Konzeption der Moral einer Gemeinschaft. Wenn die verschiedenen Schriften auch terminologisch voneinander abweichen (die Gemeinschaftsmoral wird als eine Form der "conventional morality" 20, als concurrent morality - jetzt im Gegensatz zur "conventional morality" - und 17 Dworkin, Philosophy, Morality, and Law, S. 688,690. 18 Dworkin, Philosophy, Morality, and Law, S. 689 f. 19 Insoweit argumentiert Dworkin ganz auf der von Baier vorgezeichneten Linie. Vgl. etwa Baier, Der moralische Standpunkt, S. 300 ff. 20 Dworkin, Philosophy, Morality, and Law, S. 688 ff.; TRS, S. 248 f. 21 Dworkin, TRS, S. 53,79 f. Der Begriff concurrent morality wird in "Bürgerrechte ernstgenommen", S. 102 mit "übereinkommende Moral" übersetzt.
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als "community's) morality" bezeichnet), so zeigen sie doch in der Sache eine durchgehende Argumentationslinie. Deren vorläufiger Schlußpunkt ist die Idee der Integrität als das moralische Leitprinzip einer personifiziert gedachten politischen Gemeinschaft 23. Die Moral einer Gemeinschaft ist für Dworkin keine empirisch erfaßbare Größe, sondern eine interpretative Aufgabe 24. Um eine soziale Praxis wie die der Moral zu interpretieren, müsse man an dieser teilnehmen. Eine Aussage innerhalb der Praxis konkurriere dabei mit den Interpretationen anderer Teilnehmer 25. Es sei Teil der moralischen Praxis einer politischen Gemeinschaft, daß als moralischer Standpunkt nur eine normativ-ethische Position respektiert werde, die dazu diene, eine Handlung zu rechtfertigen oder zu kritisieren, nicht aber eine deskriptvempirische Aussage, die etwa bestehende Konventionen wiedergebe. Eine normativ-ethische Position werde auch und gerade dann als eine moralische anerkannt, wenn sie in der Gemeinschaft mehrheitlich für falsch gehalten werde. Berufe sich dagegen jemand lediglich auf herrschende Moralvorstellungen, so verletze er damit eine Grundregel des moralischen Diskurses . η Dworkins Interpretation der politischen Moral der (amerikanischen ) Gesellschaft nimmt zum Ausgangsmaterial der Interpretation nicht etwa die in der Gemeinschaft vorkommenden moralischen Überzeugungen, sondern das Recht und die (sonstigen) Institutionen der Gemeinschaft 28. Die Gemeinschaftsmoral wird damit institutionalisiert. Sie ist eine in sich konsistente und kohärente interpretative Theorie der durch das Recht und die (politischen) Institutionen der Gemeinschaft implizit vorausgesetzten und verkörperten Prinzipien und Werte. Die Gemeinschaftsmoral ist danach weder die gemeinsame Moral der Menschen der Gemeinschaft noch etwa die Gesamtheit der von den Mit22 Dworkin, TRS, S. 125 f., 128 f. 23 Dworkin, LE, S. 165 ff.; dazu unten II 3 b. 24 Das verkennt etwa Griffiths (Legal Reasoning from the Internal and External Perspectives, S. 1139 ff., 1141), der durch den Begriff Gemeinschaftsmoral dazu verleitet wird, diese als positive Moral und Dworkins Position als positivistisch zu mißdeuten. 25 To Each His Own, S. 5 zum "contest between competing models", hier der Gerechtigkeit. LE, S. 97 für die soziale Praxis der Höflichkeit. Vgl. auch oben Kapitel 1 III. 26 Dworkin, TRS, S. 248 f. 27 Dworkin, TRS, S. 248 f. spricht von "our conventional morality" und bezieht sich wohl auf die amerikanische (vielleicht auch britische) Gesellschaft, die mit der bundesrepublikanischen hinsichtlich der Regeln des moralischen Diskurses vergleichbar sein dürfte. 28 Dworkin, TRS, S. 126.
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gliedern der Gemeinschaft entwickelten Konzeptionen der Gemeinschaftsmoral. Sie ist vielmehr die Konzeption, die das Recht und die Institutionen der Gemeinschaft am besten rechtfertigt, sie also im besten Lichte zeigt 29 . Die die Gemeinschaft formenden Menschen und ihre tatsächlichen Überzeugungen spielen in dieser Konzeption der Gemeinschaftsmoral als der besten Interpretation der Institutionen der Gemeinschaft nur insofern eine Rolle, als sie an bestimmten Praktiken teilnehmen und diese aufrechterhalten. Es muß eine hinreichende Übereinstimmung in der Gemeinschaft über die Existenz und den Wert bestimmter rechtlicher Praktiken und politischer Institutionen bestehen, nicht aber ein Konsens über die Interpretation derselben. Die Übereinstimmung muß so groß sein, daß sie genuine Streitigkeiten über die Interpretation der Institutionen erlauben, ohne diese damit zu gefährden 30. Diese Konzeption der Gemeinschaftsmoral als Rechtfertigung der Institutionen der Gemeinschaft verlangt einen Maßstab, an dem verschiedene konkurrierende Interpretationen, die in der Dimension des fit genügen (also rechtfertigende Prinzipien formulieren, die hinreichend gut auf die interpretierten Institutionen passen), gemessen werden können. Diesen Maßstab höherer Ordnung liefert die abstrakte politische Moral. Bevor aber auf Dworkins Konzeption der abstrakten politischen Moral eingegangen wird, soll kurz gezeigt werden, daß Dworkins Konzeption der Gemeinschaftsmoral als institutioneller Moral zwei Gedanken zugrundeliegen. b) Personifikation der politischen Gemeinschaft und Integritätsideal Hinter Dworkins Konzeption der Moral einer Gemeinschaft als der besten Interpretation ihrer Institutionen steht erstens die Idee einer tiefgehenden Personifikation der Gemeinschaft oder des Staates31. Die Gemeinschaft wird als moralisch Handelnder, als "moral agent" begriffen, der in seinem politischen Handeln einem einzigen kohärenten Set von Prinzipien
29 So auch MacCormick, Institutionelle Moral und die Verfassung, S. 206 Fn. 13 und S. 214 Fn. 35. Dworkin spricht in TRS, S. 126 zwar noch von constitutional morality, hätte aber treffender schon hier von institutional morality gesprochen. 30 Dworkin, LE, S. 63 f. 31 Dworkin, LE, S. 169. Dworkins in LE erstmals entwickelte Konzeption einer Gemeinschaft kann als Antwort auf die Kritik Sandels (Liberalism and the Claims of Community, S. 227 ff.) verstanden werden, daß Dworkins Argumente implizit auf eine Theorie der Gemeinschaft Bezug nähmen, ohne daß er eine solche vorgelegt habe.
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folge. Eine solche Gemeinschaft sei zweitens eine dem Ideal der Integrität verpflichtete "association of principle" 32. Dworkin gebraucht die Begriffe Gemeinschaft, Gesellschaft, Staat undifferenziert nebeneinander33, als trage dies nichts aus. Dabei müßte es doch in Dworkins Konzeption der Gemeinschaftsmoral einen Unterschied machen, ob nur staatliche Institutionen oder auch nichtstaaliche und informellle politische Praktiken (z.B. Lobbies, Bürgerinitiativen, Parteienwesen, Demonstrationen, Streiks) zu rechtfertigen sind. Dworkin beschränkt seine Konzeption der Gemeinschaftsmoral indessen auf eine interpretative Rechtfertigung des positiven Rechts und der Institutionen der Gesetzgebung und Rechtsprechung. Er entwickelt also eigentlich keine Moral einer politischen Gemeinschaft im Sinne eines offenen, alle Aspekte politischen Lebens erfassenden "theater of debate"34, sondern eine politische Moral wesentlicher Institutionen des Staates. Dworkins institutionelle Moral ist mithin eine Art Staatsmoral mit staatstragendem Charakter. Dworkins im einzelnen sehr komplexe Argumentation bezüglich der Prinzipien-Gemeinschaft zielt am Ende auf eine Legitimation staatlicher Zwangsgewalt. Legitim sei das Handeln des Staates, wenn dieser wie eine moralisch handelnde Person einer konsistenten und kohärenten Menge von Prinzipien, d.h. dem Ideal der Integrität folge. Eine dem Integritätsideal verpflichtete association of principle komme nämlich dem Ideal einer "wahren Gemeinschaft" nahe. In einer "wahren Gemeinschaft" verbänden die Gemeinschaftsmitglieder brüderliche Verpflichtungen untereinander 35. Eine "wahre" (und also auch eine PrinzipienGemeinschaft) setze ihrerseits eine "bare community" voraus, d.h. eine durch eine soziale Praxis definierte Gruppe. Um eine wahre Gemeinschaft zu sein, müsse diese Gruppe vier Bedingungen erfüllen. Es müßten erstens spezielle Verpflichtungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft bestehen, die sie Personen außerhalb der Gemeinschaft nicht schuldeten. Diese Verpflichtungen untereinander müßten zweitens persönliche Verpflichtungen gegenüber allen anderen Gruppenmitgliedern sein, die drittens aus der Sorge (concern) um das Wohl des anderen erwüchsen. Viertens schließlich müsse diese Sorge allen Migliedern gegenüber gleich sein36. Eine Prinzipien-Gemeinschaft erfüllt nach Dworkin diese vier 32 Dworkin, LE, S. 211 ff.; Zusammenfassung auf S. 404. 33 Vgl. Dworkin, LE, S. 167 f., 184; MP, S. 240,245,249. 34 Zu dieser Formulierung Dworkin, LE, S. 211. 35 Dworkin, LE, S. 199 ff. 36 Dworkin, LE, S. 199 ff.
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Bedingungen. Denn jeder Bürger respektiere die Prinzipien abstrakter politischer Moral (Gerechtigkeit und Fairneß 37) als spezielle in der Gemeinschaft wurzeine Prinzipien, und die daraus erwachsenden Verpflichtungen der Bürger untereinander seien persönliche, von denen kein Mitglied der Gemeinschaft ausgeschlossen sei. Die Sorge um den anderen sei schließlich nicht nur oberflächlich, und die Ratio der Entscheidungen (in) der Gemeinschaft sei das Ideal der Gleichheit38. Eine dem Modell der community of principle entsprechende Gemeinschaft kann nach Dworkin durchaus pluralistisch, d.h. uneinig über die richtige Konzeption der Ideale abstrakter politischer Moral (Gerechtigkeit und Fairneß) sein, ja sie könne sogar ungerecht sein, weil sie eine verfehlte Konzeption gleicher Achtung verfolge . Doch sei eine die Ideale der Gerechtigkeit und Fairneß nur unvollkommen verwirklichende, aber dem Prinzip der Integrität verpflichtete Gemeinschaft moralisch jedenfalls besser als eine in gleichem Grade ungerechte und unfaire Gesellschaft, die das Ideal der Integrität nicht verfolge. Integrität, also das Handeln nach einem einzigen in sich konsistenten und kohärenten Prinzipienbündel, ist für Dworkin ein unabhängiger moralischer Wert. Nur eine utopische, vollkommen gerechte und vollkommen faire Gesellschaft könne auf das Ideal der Integrität verzichten 40. Integres, d.h. prinzipientreues, konsistentens und kohärentes Handeln 41 der Gemeinschaft selbst ist indessen nur denkbar, wenn die Gemeinschaft personifiziert, selbst als moralisch Handelnder vorgestellt wird. Die Personifikation der Gemeinschaft dient Dworkin mithin dazu, ihr Handeln als integres, prinzipiengeleitetes Handeln einer Person interpretieren zu können. Die aus diesem Handeln (z.B: Rechtssetzung) erwachsenden Verpflichtungen für die Mitglieder der Gemeinschaft werden sodann als brüderliche Verpflichtungen im Sinne der gegenseitigen Verpflichtungen in einer "wahren Gemeinschaft" interpretiert. Damit wird die auf ein integres Handeln gegründete staatliche Zwangsgewalt legitimiert 42.
37 Unter Gerechtigkeit versteht Dworkin in diesem Zusammenhang die Frage nach der im Ergebnis richtigen Entscheidung, unter Fairneß die Frage nach dem Verfahren zur richtigen Verteilung politischer Macht. Dworkin nennt noch ein drittes Ideal abstrakter politischer Moral (procedural due process), das er aber nicht weiter diskutiert. LE, S. 164 f. 38 Dworkin, LE, S. 213. 39 Dworkin, LE, S. 213. Vgl. auch To Each His Own, S. 5 f. 40 Dworkin, LE, S. 176. 41 Dworkin, LE, S. 166. 42 Dworkin, LE, S. 190 ff.
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Diese Argumentation Dworkins wirft eine Fülle von Problemen auf, von denen nur einige angesprochen werden sollen. So läßt sich fragen, ob Dworkin die Transposition brüderlicher Verpflichtungen innerhalb der Gemeinschaft auf das Verhältnis der Gemeinschaft als solcher zu ihren Mitgliedern gelingt. Denn Bürger und Staat sind einander auch in einer "wahren" Prinzipien-Gemeinschaft nicht gleichgeordnet, was diese Übertragung bedenklich macht. Fraglich ist auch die Stellung von Nichtgemeinschaftsmitgliedern (Ausländern), über die die Gemeinschaft ebenfalls Zwangsgewalt auszuüben beansprucht und die einen legitimen Anspruch haben könnten, daß sie zumindest in dem Bereich, in dem viele Staaten nicht nur Bürger-, sondern Menschenrechte garantieren, gleich geachtet und mit der gleichen Sorge behandelt werden 43. Dworkins Konzeption einer Prinzipiengemeinschaft vermag einen solchen Anspruch nicht zu begründen. Poblematisch ist weiter, wie die Personifikation der Gemeinschaft zu verstehen ist. Dworkin versichert sich gegen eine zu schwache Interpretation als bloße Redeweise wie gegen eine zu starke als metaphysische Deutung. Die Personifikation der Gemeinschaft sei wirklich und tief, nicht nur eine "figure of speech", aber auch keine HegePsche Metaphysik44. Auch sei sie nicht nur das unnütze ("idle") Ergebnis einer Zurechnung des Handelns von Gemeinschaftsmitgliedern. Die moralische Verantwortlichkeit der Gemeinschaft als solcher sei vielmehr direkt, unabhängig von und vorrangig vor der Verantwortlichkeit einzelner Individuen45. Dworkins Konzeption einer Gemeinschaft würde eine nähere Betrachtung lohnen. Doch hier soll der Faden wieder aufgenommen und geklärt werden, woher Dworkin seine Wertmaßstaäbe bezieht, um unter verschiedenen möglichen Konzeptionen der institutionellen Moral einer Gemeinschaft die moralisch bessere zu ermitteln.
43 Relevant wird die Ausklammerung von Nichtgemeinschaftsmitgliedern aus dem Anspruch auf gleiche Achtung z.B. im Asylrecht. 44 Dworkin, LE, S. 167 f., 171. In MP, S. 240,245,249 polemisiert Dworkin aber gegen eine Personifikation der Gemeinschaft von Seiten der Anhänger des economic approach im Zivilrecht, die vergröbert auf die Formel hinausläuft: "Jeder einzelne versucht seinen Reichtum zu maximieren, so auch die Gemeinschaft als ganze." 45 Dworkin, LE, S. 168 ff., 171.
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4. Die abstrakte politische Moral
a) Das konstruktive Modell abstrakter politischer Moral Utopische politische Philosophie, die von einem wie auch immer definierten vorpolitischen Naturzustand aus axiomatisch die beste aller politischen Ordnungen konstruiert, ist eigentlich nicht Dworkins Anliegen. Seine politische Moralphilosophie geht von einer vorgefundenen politischen Struktur aus, in die wir hineingeboren sind und die es evolutionär zu entwickeln gilt . Da aber die Richtung und das ferne Ziel dieser Entwicklung klar sein muß, kommt auch Dworkins politische Theorie nicht ohne eine utopische bzw. abstrakte, d.h. keine bestehende Ordnung interpretierende politische Moral aus47. Lassen sich nämlich verschiedene Interpretationen der bestehenden politischen Strukturen, also verschiedene Konzeptionen der institutionellen Moral einer Gemeinschaft, in plausibler Weise vertreten, so bedarf es eines Wertmaßstabes, um die moralisch beste Konzeption zu wählen. Diesen Maßstab liefert in Dworkins Theorie die abstrakte politische Moral. Sie stellt eine Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit dar. Gerechtigkeit sei ein universaler Begriff und die Institution der Gerechtigkeit eine globale Praxis 48. Die abstrakte politische Moral ist also eine von einer bestehenden konkreten Gesellschaftsordnung abstrahierende Gerechtigkeitskonzeption. Sie ist die Moral einer utopischen Gemeinschaft. Eine Gerechtigkeitskonzeption läßt sich nach Dworkin im Rahmen eines sogenannten konstruktiven Modells der Moral entwickeln. Dieses Modell stellte Dworkin erstmals in einer Bespechung von John Rawls' "A Theory of Justice" und dessen Methode des sogenannten Überlegungsgleichgewichts im besonderen vor. Das Rawls'sche Überlegungsgleichgewicht betrifft den Zusammenhang zwischen unseren moralischen Intuitionen einerseits und unserer moralischen Theorie andererseits 49. Dieser Zusammenhang läßt sich nach Dworkin auf zweierlei Weise erklären.
46 Dworkin, LE, S. 164 f. 47 Dworkin, LE, S. 408. 48 Dworkin, LE, S. 73,424 f. 49 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 38 f., 66 ff.
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Das erste, sogenannte natürliche Modell der Moral gehe davon aus, daß unsere eigenen Intuitionen immer richtig seien50. Sie würden als Schlüssel zu einer objektiven moralischen Realität verstanden. In Fällen, in denen sich die verschiedenen moralischen Intuitionen nicht in ein kohärentes Ganzes fassen ließen, werde darauf vertraut, daß es ein noch unentdecktes komplexes Bündel von Prinzipien gebe, das die Stimmigkeit dieser unvermittelt nebeneinander stehenden Intuitionen herstelle 51. Dieses Modell, das auf das Bestehen einer (dem Menschen nicht erschlossenen) moralischen Ordnung vertraut, weist Dworkin als untaugliche Theorie zurück. Es genüge niemals, die eigenen moralischen Empfindungen wiederzugeben, da Intuitionen Gründe nicht ersetzen könnten 2 . Dworkin stellt diesem sogenannten natürlichen Modell das konstruktive Modell der Moral gegenüber. Für dieses sind unsere Intuitionen lediglich das Material einer zu konstruierenden Theorie der Moral. Das Konsistenzund Kohärenzerfordernis sei eine unabhängige Anforderung dieses Modells. Es folge nicht, wie im natürlichen Modell, aus der Annahme einer höheren moralischen Ordnung. Sei es unmöglich, die verschiedenen Intuitionen durch eine kohärente Theorie zu erfassen, so müsse der moralisch Handelnde nicht einfügbare Intuitionen als falsch verwerfen (wenn er die Intuition schon nicht aufgeben könne, da er sie nun einmal habe). Moralisches Handeln müsse immer innerhalb einer Theorie rechtfertigbar sein und sich auf konsistente und kohärente Prinzipien, nicht nur auf den Glauben an eine allerdings nicht durchschaute moralische Ordnimg stützen. Moralisches Handeine sei niemals intuitiv, vielmehr auch dann, wenn es mit unseren Intuitionen übereinstimme, prinzipiengeleitet 53. Das konstruktive Modell der Moral, das Dworkin 1973 in dieser Form vorgestellt hat, zeigt die Struktur seines Modells interpretativer Theorienbildung und kann entsprechend dem ausdifferenzierteren Stand dieser Interpretationstheorie hier neu formuliert werden: Wir müssen zu unseren Gerechtigkeitsintuitionen ein diese rechtfertigendes konsistentes und kohärentes Bündel von Prinzipien konstruieren. Sollten mehrere Gerechtigkeitskonzeptionen auf unsere Intuitionen passen, so ist die unter dem Gesichtspunkt politischer Moral bessere vorzuziehen.
50 Dies ist die Auffassung des sog. NIntuitionismusN. Vgl. einführend Grewendorf/Meggle, Zur Struktur des metaethischen Diskurses, S. 11 f. 51 Dworkin, TRS, S. 160 ff. 52 Dworkin, TRS, S. 252. 53 Dworkin, TRS, S. 160 ff.
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Um zu bestimmen, welche von mehreren passenden und in sich stimmigen Interpretationen moralisch besser ist, bedarf es allerdings wiederum eines Maßstabes: "Interpretations of justice cannot themselves appeal to justice..."54. Die Entwicklung einer Konzeption dieses politisch-moralischen Bewertungsmaßstabes bedarf allerdings eines weiteren Maßstabes usf. Der in Dworkins Theorie der Interpretation somit angelegte infinite Regreß auf eine immer abstraktere Ebene der Rechtfertigung^ wird von Dworkin durch eine aromatische Setzung des Prinzips "Gleichheit" als höchsten, einer Rechtfertigung nicht mehr fähigen Wert abgebrochen. Besser ist danach die Gerechtigkeitskonzeption, die dem Gleichheitsideal näher kommt. Die Idee der Gleichheit sei so fundamental, daß sie keiner Verteidigung in der "üblichen Form" zugänglich sei. Es ist Dworkin zufolge unwahrscheinlich, daß das Prinzip Gleichheit aus einem noch allgemeineren und grundlegenderen Prinzip politischer Moral, das in noch stärkerem Maße abstrahiert sei, zu gewinnen ist 56 . Letzteres ist als Absage Dworkins an Moraltheorien wie z.B. derjenigen Hares zu verstehen, die auf der Grundlage allein logischer Analysen zu inhaltlichen Aussagen gelangen wollen57. Dworkin baut dagegen auf die unmittelbare Plausibilität des Gleichheitsprinzips. Das beste Argument, das sich für das Ideal der Gleichheit vorbringen lasse, sei die Darlegung einer überzeugenden Konzeption der Gleichheit. Die Entwicklung einer solchen Konzeption muß allerdings ohne den Rekurs auf ein noch grundlegenderes Prinzip auskommen. Dworkins Konzeption abstrakter politischer Moral ist somit eine Theorie der Gerechtigkeit als Gleichheit. Die oben gewählte Formel erweiternd, läßt sich daher Dworkins Position wie folgt zusammenfassen: Das Recht ist politisch, die Politik hat moralisch zu sein, die abstrakte politische Moral ist die Frage nach der Gerechtigkeit und das Ideal der Gerechtigkeit ist die Gleichheit. Eine "gleichere" Gesellschaft ist in Dworkins Augen eine gerechtere Gesellschaft 58. Eine nur scheinbar andere Argumentationslinie verfolgt Dworkin, wenn er an einer Stelle äußert, der Maßstab zur inhaltlichen Beurteilung konkur54 Dworkin, LE, S. 425 Ν. 20. 55 MacCormick, Dworkin as Pre-Benthamite, S. 190 f. hält Dworkins konstruktives Modell der Moral wegen dieses infniten Regresses für gescheitert. 56 Dworkin, In Defense of Equality, S. 31 f. 57 Vgl. Hare, Moral Thinking, S. 5 ff. und Dworkin, In Defense of Equality, S. 31. 58 Dworkin, TRS, S. 232.
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rierender Gerechtigkeitskonzeptionen könne nicht aus der politischen Moral gewonnen werden, da es kein noch fundamentaleres Prinzip als die Gerechtigkeit gebe. Es sei daher notwendig, auf noch grundlegendere und zunächst nichtpolitische Ideen wie die der menschlichen Natur und eine Theorie des Selbst abzuheben59. Dies ist jedoch ein nur scheinbar anderer Ansatz, da - wie noch zu zeigen ist 60 - Dworkins Gleichheitskonzeption auf eine solche Theorie persönlicher Identität angewiesen ist. Das politische Ideal der Integrität hat nach Dworkin keine eigenständige Bedeutung in einer idealen, utopischen Gemeinschaft. Dworkins Begründung ist aufschlußreich: "Coherence would be guaranteed because officials would always do what was perfectly just and fair. In ordinary politics, however, we must treat integrity as an independent ideal if we accept it at all, because it can conflict with these other ideals"61. fO Danach stehen Gerechtigkeit und Fairneß idealiter in einem widerspruchsfreien Verhältnis zueinander. Wenn wir stets wüßten, was gerecht und fair ist und danach handeln könnten und würden (also z.B. in der Verwirklichung dieser Ideale nicht den Schranken des positiven Rechts unterworfen wären), so würde die Gerechtigkeit und Fairneß unserer Handlungen selbst deren Konsistenz und Kohärenz garantieren. Dem Prinzip der Integrität komme daher keine eigenständige Bedeutung auf der Ebene abstrakter politischer Moral zu. In einer utopischen vollkommen gerechten und fairen Gemeinschaft sei das Ideal der Integrität stets schon verwirklicht. b) Gleichheit als Axiom politischer Theorie Dworkin entwickelt seine Konzeption politischer Gleichheit in mehreren kürzeren Schriften. In der monographischen Abhandlung "What is Equality?" geht es Dworkin dagegen um ein Modell wirtschaftlicher Gleichheit (equality of resources), das mittels eines komplexen hypothetischen Auktions-, Versicherungs- und Besteuerungsmodells63 begründet wird. Im folgenden wird allein Dworkins Begriff politischer Gleichheit behandelt. 59 Dworkin, LE, S. 425 Ν. 20. 60 Vgl. unten II 4 b. 61 Dworkin, LE, S. 176 62 Zu den Begriffen Gerechtigkeit, Fairneß und procedural due process s.o. unter II 3 b und Dworkin, LE, S. 164 f. 63 Dworkin, What is Equality?, S. 185 f., 283 ff.; vgl. auch LE, S. 297 ff.
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Dworkin unterscheidet zwei Begriffe politischer Gleichheit, nämlich Gleichheit im Sinne gleicher Behandlung und Gleichheit im Sinne der Behandlung als Gleicher bzw. der Behandlung mit gleicher Sorge und Achtung (equal concern and respect) 6*. Die Gleichheit im Sinne gleicher Behandlung (equal treatment) verstellt Dworkin als aus dem fundamentaleren, konstitutiven Prinzip der Behandlung als Gleicher (treatment as an equal) abgeleitetes Prinzip. Manchmal sei die gleiche Behandlung der einzige Weg zur Behandlung als Gleicher (Bsp.: Stimmrecht in demokratischen Wahlen), manchmal aber auch nicht (Bsp. umgekehrte Diskriminierung in sogenannten affirmative action Programmen) 65. Gleichheit wird von Dworkin nicht als Verhältnis zwischen individuellen Personen, sondern als Beziehung zwischen dem einzelnen Mitglied der Gemeinschaft und dieser selbst, zwischen Bürger und Staat aufgefaßt. Aus der Sicht des Staates geht es um dessen Verpflichtung, allen Bürgern mit gleicher Sorge und Achtung zu begegnen, aus der Perspektive des Bürgers um dessen Recht auf Behandlung als Gleicher. Was besagt Dworkins Prinzip gleicher Sorge und Achtung konkret? Von Hare etwa wird es als rein formales Prinzip gedeutet, das allein durch logische Erwägungen der Universalisierung gewonnen werden könne. Konkrete Schlußfolgerungen wie die, welche Rechte wir haben, sind nach Hare aus diesem Prinzip nicht ableitbar. Hierfür müsse man vielmehr auf ein utilitaristisches Prinzip größter, unparteiisch erwogener Interessenbefriedigung rekurrieren 66. Dworkin dagegen versteht das Prinzip gleicher Achtung und Sorge (auch) als Quelle der Rechte des Bügers. Anders als Hares Lesart es interpretiert, ist das Prinzip des equal concern and respect bei Dworkin zwar ein sehr abstrakter, aber kein nur formaler Grundsatz. Die Idee der Gleichheit als Behandlung als Gleicher sei ein inhaltliches Prinzip, das den Ideen des 64 Dworkin, TRS, S. 227; MP, S. 190. Konsequenterweise müßte Dworkin von Konzeptionen statt von Begriffen sprechen. Das Prinzip des equal concern and respect , das in "Bürgerrechte ernstgenommen" (z.B. S. 330, 587) mit "gleiche Rücksicht und Achtung" übersetzt wird, ist auch Grundlage der Dworkin'schen Konzeption wirtschaftlicher Gleichheit. Vgl. Dworkin, What is Equality?, S. 185 f. 65 Dworkin, TRS, S. 232, 239; MP, S. 190. Affirmative action nennt man eine Politik, die versucht, Chancenungleichheit und Unterrepräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen z.B.im Hochschulbereich durch Zulassungsverfahren abzugleichen, die gesellschaftlich benachteiligten Gruppen leichtere Zugangsbedingungen einräumt. Vgl. unten Kapitel 3 I V 2 b. 66 Hare, Moral Thinking, S. 154 -156; Hare spricht an der zitierten Stelle von einem "right to equal concern and respect , behandelt das entsprechende Prinzip also aus der Sicht des Bürgers. Zum Verhältnis des equal concern and respect als Recht und als Prinzip siehe unten Kapitel 3 I V 2 b und TRS, S. 368.
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Respekts, der Autonomie und Würde des Menschen Bedeutung verleihe und verlange, daß der Handelnde sich, soweit dies möglich sei, in die Situation der anderen autonomen Person mit ihren Ambitionen und Wertvorstellungen versetze und ihr damit den ihr zustehenden Respekt zolle 67 . Gleichheit, verstanden als equal concern and respect , gebe der Autonomie des einzelnen Menschen Raum und gestalte diese Idee. Gleichheit und Autonomie ständen in keinerlei Konflikt, ebensowenig wie Gleichheit und Freiheit 68. Dworkin räumt ein, daß seine Erörterung der Bedeutimg der Gleichheit noch recht unausgereift ist. Ein Hinweis auf Williams 69 zeigt aber die Richtung an, in die Dworkin seine Konzeption politischer Gleichheit zu entwickeln gedenkt. Williams geht von einem universalen menschlichen Wunsch nach Selbstrespekt aus. Einen humanen Standpunkt einzunehmen heiße daher, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen und zu schauen, was es für den anderen bedeute, sein Leben so zu leben, wie er es lebe, und so zu handeln, wie er handele. Jedem Menschen sei diese Anstrengung, sein Leben aus seiner Perspektive zu betrachten, geschuldet. Die Tatsache, daß das reflektierende Bewußtsein (reflective consciousness) des Menschen durch seine Lebensumstände beeinflußt werde, mache die Frage des Respekts zu einer Frage politischer Gleichheit. Denn eine Politik, die bestimmten Menschen den Zugang zu ihrer eigenen Identität, zu "self-consciousness" verwehre (indem sie sie z.B. in einer Hierarchie auf ihren Rang verweise), verletze das Ideal der Gleichheit der Menschen in der Befriedigimg ihres Wunsches nach Selbstrespekt70. Wenn damit die Richtung angezeigt ist, in die Dworkins Gleichheitskonzeption zielt, so ist offenkundig, daß sie keine nur formale ist. Sie verlangt vielmehr nach einer anthropologischen Grundlegung. Es liegt ihr ein bisher nicht offengelegtes und ausgearbeitetes Menschenbild zugrunde, das den Menschen auf der Suche nach seiner eigenen Identität und die Gemeinschaft in die Verantwortung gestellt sieht, ihren Mitgliedern diese Suche zu ermöglichen.
67 Dworkin, TRS, S. 201,356 f. 68 Dworkin, TRS, S. 292. Vgl. auch unten c. 69 Dworkin, TRS, S. 357 Fn. 1 auf Williams, The Idea of Equality hinweisend. 70 Williams, The Idea of Equality, S. 114 -120. Dworkin, LE, S. 200 f. sieht die Idee gleicher Achtung und Sorge jedenfalls in einem Kastenwesen, nicht notwendig in jeder Form von Hierarchie verletzt. Der Grundgedanke ist aber der gleiche wie bei Williams.
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c) Freiheit, Gleichheit, Liberalismus Dworkin versteht seine auf die Idee der Gleichheit bauende Theorie abstrakter politischer Moral als eine liberale Theorie. Sie ist eine Liberalismuskonzeption, die eine innerhalb der amerikanischen Gesellschaft herrschende Verunsicherung über den Begriff des Liberalismus 71 zu einer Neubestimmung liberaler politischer Moral nutzt. .
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Im folgenden soll weder die amerikanische Liberalismustradition noch die aktuelle Diskussion73 aufgearbeitet werden, in deren Zusammenhang Dworkins Theorie hineinzustellen wäre. Es werden vielmehr möglichst holzschnittartig die drei von Dworkin vertretenen Kernthesen in Sachen Liberalismus herausgestellt. Die erste besagt, daß nicht die Freiheit, sondern die Gleichheit das konstitutive Ideal des Liberalismus ist 74 . Zur Stützung dieser These beruft sich Dworkin auf John Stuart Mills Schrift On Liberty, in der es Mill in Wirklichkeit nicht um die Freiheit, sondern um eine Dimension der 75
Gleichheit gegangen sei . Mills Argumentation anhand der Unabhängigkeit des Individuums dürfte Pate gestanden haben für Dworkins Begriff der " liberty as independence 1,76 und auch die MilPsche Kernthese, daß der Staat nicht die positive Moral durchsetzen dürfe, findet sich bei Dworkin wieder 77 . Doch führt der Hinweis auf Mill, also Dworkins Versuch, Mills 71 Dworkin, MP, S. 181 f. 72 Vgl. Cranston in Edwards, The Encyclopedia of Philosophy, Artikel "Liberalism". Die englische Liberalismustradition baue auf andere Grundgedanken als die amerikanische. In der amerikanischen Öffentlichkeit werde der Begriff "liberal" heute mit "links" und etatistisch assoziiert, nicht aber mit Lockes Begriff des laissez-faire und einem Mißtrauen in staatliche Macht. 73 In Dworkins Lager eines deontologischen, also dem Primat des Rechten verpflichteten Liberalismus gehören z.B. Rawls (A Theory of Justice) und Ackermann (vgl. Social Jusitice in the Liberal State, S. 45 ff., 67). Richards, Human Rights and Moral Ideals, S. 461 ff. hält Dworkins Liberalismustheorie für "true and suggestive" und entwickelt sie fort. Nozick (Anarchy, State, and Utopia, S. XI, 3 ff., 26 ff.) entwickelt wie Dworkin eine Theorie der Individualrechte, kommt aber zu der - Dworkin diametral entgegengesetzten - These eines minimal state, also eines Nachtwächterstaates. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, entwickelt eine durch Hegel beeinflußte Liberalismuskonzeption. Zum neueren Liberalismusverständnis in den USA vgl. auch Vorländer, Nach dem Neukonservatismus der Neoliberalismus?, S.29 ff. 74 Dworkin, MP, S. 188 ff. 75 Dworkin, TRS, S. 259 ff., 263. 76 Mill argumentiert in "Über die Freiheit" für die Unabhängigkeit des Individuums (vgl. z.B. S. 10,16 f., 20), die es zu schützen gelte und in die einzumischen man nur berechtigt sei, um die Schädigung anderer zu verhüten. 77 Mill, Über die Freiheit, S. 115 ff.; Dworkin, TRS, S. 236. Auch in TRS, S. 240 ff., wo Dworkin Lord Devlins "Report of the Committee on Homosexual Offences and Prostitution"
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Freiheitsschrift für seinen Gleichheitsbegriff zu vereinnahmen, insofern nicht weiter, als dieser die Nützlichkeit, nicht die Gleichheit als letzte Berufungsinstanz in allen ethischen Fragen ansieht78. Harts Vorwurf aber, Dworkin reduziere die Freiheit auf eine formale Gleichheit79, verkennt den substantiellen Charakter der Dworkin'schen Gleichheitskonzeption: Mit einer gleich nichtachtenden Behandlung aller ist dem Prinzip des equal concern and respect nicht genüge getan. Dworkin verneint zweitens ein allgemeines Freiheitsrecht. Einzelne Freiheitsrechte leitet er aus der Idee der Gleichheit her 80 . Damit weist er ein negatives, oft auch als liberal bezeichnetes Verständnis der Freiheit zurück. Schließlich verneint Dworkin einen Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit, genauer zwischen einer Konzeption der Freiheit als Unabhängigkeit und der Gleichheit als equal concern and respect* 2. Die Freiheit, die neben der Gleichheit das zweite klassische Ideal politischer Theorie sei, werde zwar häufig, aber fälschlich als in einem Spannungsverhältnis zur Gleichheit stehend gesehen83. Soweit die drei Kernaussagen Dworkins. Im folgenden wird das damit umrissene Verhältnis von Freiheit und Gleichheit näher betrachtet. Freiheit ist für Dworkin die Frage danach, in welchem Bereich das Subjekt in seinem Handeln und Leben unbehelligt von der Einmischung anderer ist oder sein soll 84 . Er unterscheidet zwei Konzeptionen des Begriffs Freiheit: liberty as license (Freiheit als Erlaubtheit 85) und liberty as independence (Freiheit als Unabhängigkeit)86. kritisch diskutiert, lehnt er, wenn auch nur implizit, eine Erzwingung der Einhaltung der positiven Moral ab. Vgl. hierzu Reynolds, The Enforcement of Morals and the Rule of Law, S. 1335 ff. 78 Mill, Über die Freiheit, S. 17. Wie Kapitel 3 II 3 zeigen wird, versucht Dworkin, das Prinzip Gleichheit allerdings auch zum Kern des utilitaristischen Nützlichkeitsprinzips zu erklären. 79 Hart, Between Utility and Rights, S. 217 ff. 80 Zu einem ähnlichen Ansatz - der allgemeine Gleichheitssatz als fundamentales Freiheitsrecht - vgl. Arndt, Gedanken zum Gleichheitssatz, S. 182 ff. 81 Vgl. z.B. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 318. 82 Dworkin, MP, S. 188 ff. 83 Dworkin, TRS, S. 266; MP, S. 188 f. 84 Dworkin, TRS, S. 266 Fn. 1 auf Isaiah Berlins Begriff negativer Freiheit hinweisend. Vgl. Berlin, Two Concepts of Liberty, S. 121 f. 85 So die Übersetzung von liberty as license in "Bürgerrechte ernstgenommen", S. 423 ff. Dworkin, TRS, S. 2
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Freiheit als Erlaubtheit gebe den Grad an, in welchem eine Person in ihrem Handeln frei von rechtlichen und gesellschaftlichen Zwängen sei. Diese Konzeption von Freiheit als Freiheit von jeglichen Hindernissen (negative Freiheit) vertrete - um ihrer begrifflichen Klarheit willen - etwa Isaiah Berlin . In dieser Konzeption sei es völlig gleichgültig, um welche Verhaltensform und Handlungen es gehe. Jedwede gesetzliche oder gesellschaftliche Vorschrift (Gebot oder Verbot) schränke diese Freiheit ein, und allein die Rechtfertigung dieser Freiheitsbeschränkung stehe in Rede. Bei der Freiheit als Unabhängigkeit gehe es dagegen um den Status einer Person als unabhängiger und gleicher im Gegensatz zu einem dienenden Status88. Diese Konzeption von Freiheit unterscheide zwischen Verhaltensweisen, die schützenswert, und solchen, die es nicht seien. Werde einer Person eine Handlung untersagt, die nicht schützenswert sei, so sei diese Person zwar in ihrer liberty as license beschränkt. Sie sei aber nicht in ihrer liberty as independence , also ihrem Freiheitsstatus betroffen 89. Die beiden unterschiedenen Freiheitskonzeptionen interessieren Dworkin im Hinblick auf die Frage, welche Rechte wir haben. Ohne Dworkins Begriff eines Individualrechts schon zu problematisieren 90, läßt sich feststellen, daß ihm die Annahme eines allgemeinen Freiheitsrechts im Sinne von liberty as license absurd erscheint . Die meisten politischen Entscheidungen - Dworkin bringt als Beispiel eine Einbahnstraßenregelung (sog. Lexington Avenue-Beispiel) - seien durch Gemeinwohlerwägungen rechtfertigbar, so daß von einem allgemeinen Recht zu tun oder zu lassen, was man wolle (ζ. B. Lexington Avenue in Gegenrichtung zu befahren) keine Rede sein könne. Dworkin verneint ein solches Recht nicht erst nach Abwägung aller Umstände, sondern schon prima facie 92. Liberty as license ist für Dworkin kein politisches Ideal, weil Freiheit nicht als quantifizierbarer Begriff (je mehr Freiheit, desto besser) sinnvoll sei, sondern nur ein-
87 Dworkin, TRS, S. 267; Berlin, Two Concepts of Liberty, S. 121 ff., 125. 88 Diese Interpretation erinnert an Berlins Begriff positiver Freiheit oder der social liberty (Two Concepts of Liberty, S. 131, S. 156 ff.). 89 Dworkin, TRS, S. 262 f. Diese Unterscheidung liegt parallel der Abgrenzung von Schutzbereich und Gewährleistungsbereich, wie sie das Bundesverfassungsgericht in der Sache in seinem Sprayer-Beschluß (NJW 84,1293) für die Freiheit der Kunst vorgenommen hat. Vgl. auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn.235,700. 90 Vgl. dazu Kapitel 3 III. 91 Dworkin, TRS, S.267. 92 Dworkin, TRS, S. 269; A Reply, S. 280 f.; MP, S. 188 ff. Vgl. zur Unterscheidung abstrakter (prima facie) Rechte und konkreter, abgewogener Rechte unten Kapitel 3 I V 3 b.
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zelne Freiheiten (liberties), die etwas schützten, was uns wertvoll sei 93 . Gegen eine Konzeption von Freiheit als Erlaubtheit spreche, daß es in dieser Konzeption keinen Maßstab gebe, nach dem z.B. eine Einbahnstraßenregelung als weniger freiheitseinschränkend zu erweisen sei als etwa ein Verbot prokommunistischer Reden, zumal vielleicht wesentlich mehr Menschen das starke Bedürfnis hätten, Lexington Avenue in Gegenrichtung zu befahren als den Wunsch, prokommunistische Reden zu halten . Grundfreiheiten wie die Redefreiheit seien uns wichtig, weil sie etwas anderes Wertvolles (Demokratie, Selbstbestimmung) schützten95. Fundamentale Freiheitsrechte wie z.B. das "right to moral independence and other allied rights" 96 erkennten wir an, weil wir Identität und Selbstrespekt als schützenswert erachteten. Die einzelnen Freiheitsrechte im Sinne von liberty as independence haben somit bloß instrumenteilen Charakter. Sie sind abgeleitet aus dem und schützen das Ideal des equal concern and respect . Sie stehen niemals in Konflikt mit der Gleichheit im Sinne der Behandlung als Gleicher, da sie selbst Ausflüsse des als Recht auf gleiche Achtung und Sorge konzipierten Gleichheitsrechts sind. Gleichheit und Freiheit können in Dworkins Theorie nicht kollidieren, da sie nicht auf gleicher Stufe angesiedelt sind 97 . Die Freiheit geht in der Gleichheit auf. Hiergegen wurde eingewandt, daß auch Dworkins allgemeines Gleichheitsrecht ad absurdum geführt werden könne, wenn nämlich die gleich nichtachtende Behandlung aller Bürger als Gleichbehandlung genüge. Doch Dworkin versteht das Gleichheitsrecht gerade nicht im Sinne eines allgemeinen Rechts auf gleiche Behandlung. Und das Recht auf gleiche Sorge und Achtung ist in seinen Augen nicht nur ein gleiches Recht auf Sorge und Achtung ("equal right to concern and respect") , gleichgültig wie gering diese Achtung ist, sondern ein absolutes Recht auf gleiche Achtimg 93 Dworkin, MP, S. 188 f. Das ist ein Standardargument gegen den Begriff negativer Freiheit, vgl. Taylor, What's Wrong with Negative Liberty, S. 183. 94 Der Ort zur Erörterung der Dworkin'schen Ablehnung eines allgemeinen Freiheitsrechts ist, bezogen auf die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 GG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts garantiert Art. 2 Abs. 1 GG die allgemeine Handlungsfreiheit, also liberty as license im Sinne Dworkins. Vgl. zur Verteidigung einer Konzeption negativer Freiheit unter Heranziehung anderer, materialer Prinzipien Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 309 ff., 320 ff. 95 Dworkin, MP, S. 189. 96 Dworkin, MP, S. 361. 97 Dworkin, TRS, S. 271 ff. 98 So interpretieren MacCormick , Dworkin as Pre-Benthamite, S. 195 f. und Hart, Between Utility and Rights, S. 220 f. Dworkin.
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und Sorge, das ein durch die Selbstachtung und die Achtung anderer gefordertes Mindestmaß an Respekt garantiert. Es geht Dworkin um die kantische Idee, daß andere nicht zum Mittel der eigenen Zwecke gemacht werden dürfen". In einer "wahren Gemeinschaft" seien die Sozialbeziehungen von der Idee gleicher Sorge um alle Mitglieder geprägt. Das schließe z.B. ein Kastenwesen, nicht aber jede Hierarchie aus . Nach allem bestimmt Dworkin das Verhältnis von Gleicheit als equal concern and respect und Freiheit als Unabhängigkeit als das Verhältnis eines allgemeinen Prinzips zu einzelnen Ausformungen und Gewährleistungsinhalten. Inwiefern Dworkin damit eine allen liberalen Positionen gemeinsame konstitutive Moral formuliert hat 1 0 1 , muß hier offenbleiben. Hinzuweisen ist allerdings darauf, daß etwa der Einwand, die von Dworkin vorgelegte Konzeption des Liberalismus vertrage sich sicher nicht mit der Adam Smiths, gegen Dworkin einen schweren Stand hat. Smiths Wirtschaftsliberalismus ist zwar ein Paradigma liberaler Theorie. Dworkins Theorie der Interpretation aber erlaubt es, selbst Paradigmen eines Begriffs als Fehler zu verwerfen. Es könnte sich also herausstellen, daß Smith in Wirklichkeit kein Liberaler war.
5. Metaethik ohne Metaebene
Eingangs dieses Kapitels wurden drei Ebenen des Gespächs über Moral (positive Moral, normative Ethik und Metaethik) unterschieden. Die positive Moral einer Gemeinschaft spielt in Dworkins Theorie nur insofern eine Rolle, als für eine konstruktive Theorienbildung ein Minimalkonsens, der die Existenz der gemeinschaftlichen Institutionen sichert, notwendig ist. Dieser Konsens ist die Grundlage, von der aus die interpretative Theorie der Gemeinschaftsmoral zu entwickeln ist 1 0 2 . Allerdings ist es nach Dworkin denkbar, die positive Moral zum relevanten Maßstab politischer Moral zu machen. Eine entsprechende metaethische Theorie wäre in Dworkins Augen zwar eine schlechte Theorie. Doch die Berufung auf die positive Moral sei ein in der Institution der 99 Dworkin, MP, S. 191 unter Hinweis auf Kant. 100 Dworkin, LE, S. 200 f. 101 Dworkin, MP, S. 186 ff. nimmt das für sich in Anspruch. 102Dworkin, MP, S. 171; LE, S. 70 f., 253.
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Moral zulässiges moralisches Argument, wenn die moralische Theorie "made the fact that the people held a particular view decisive; it did not withdraw in favor of the substance of that view" 103 . Das Abstellen auf empirische Fakten garantiere allerdings keine größere Unparteilichkeit 104 . Da wir uns immer auf eine Theorie stützen müßten, die erkläre, wann und warum auf die positive Moral abzustellen sei, und da diese Theorie logisch von keiner anderen Qualität sei als eine Theorie, die die Entscheidung nicht delegiere, sondern selbst Wertmaßstäbe (z.B. Gleichheit) zur Verfügung stelle, sei eine Theorie, die die positive Moral zum relevanten Maßstab erkläre, in keiner Weise objektiver als eine Theorie, die selbst inhaltliche Maßstäbe entwickle. Was die Ebenen normativer Ethik und der Metaethik angeht, so sind sie bei Dworkin gerade nicht voneinander geschieden. Es lasse sich kein externer Meta-Standpunkt in Bezug auf die Institution der Moral einnehmen. Es ist das Spezifikum der Dworkin'schen Theorie moralischen Begründens, daß sie eine Metaethik ohne Metaebene ist 1 0 5 . Diese Verschmelzung von Theorie und Metatheorie zeigt sich etwa am Beispiel des Konsistenz- und Kohärenzerfordernisses. Dieses taucht sowohl auf der Ebene, die gewöhnlich als Metaethik bezeichnet wird, als auch auf der Ebene der normativen Ethik auf. Dworkins Modell institutioneller Moral ist nämlich erstens eine (metaethische) Theorie darüber, was überhaupt eine Gemeinschaftsmoral ist, nämlich eine institutionelle Moral, also die konsistente und kohärente Rechtfertigung der gesellschaftlichen Institutionen. Sie hat zweitens (als normative Ethik) das Konsistenz- und Kohärenzerfordernis, das jetzt als Ideal der Integrität bezeichnet wird, zum wesentlichen Inhalt. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, wie Dworkin zu verstehen ist, wenn er das Konsistenz- und Kohärenzerfordernis als eine im konstruktiven Modell abstrakter politischer Moral "unabhängige" Forderung politischer Moral bezeichnet . So wurde eingewandt, daß diese Rationalitätsanforderung unabhängig nur sein könne, entweder wenn sie einer objektiven Werteordnung entnommen werde - ein Weg, den Dworkin mit der Ver103 Dworkin, TRS, S. 125. 104 Dasselbe Argumente findet sich in Dworkins Kritik eines Abstellens auf die Intention des Gesetzgebers. Vgl. unten Kapitel 5 II 3. 105 Das Gleiche gilt, wie zu zeigen sein wird, für die Institution des Rechts. Vgl. für eine knappe Skizze des Verschmelzens von Metatheorie und Theorie des Rechts und des Rechts selbst bei Dworkin: Troper, Les juges pris au sérieux, S. 42 ff. Dworkin, TRS, S.
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werfung des sogenannten natürlichen Modells der Moral ausdrücklich ablehnt. Oder aber Rationalität im Sinne von Widerspruchsfreiheit und Folgerichtigkeit sei als absoluter Wert innerhalb einer Weltanschauung ausgewiesen. Dann aber sei das Konsistenz- und Kohärenzerfordernis gerade keine theorieunabhängige Anforderung, an der sich alle Theorien und Modelle messen lassen müßten 107 . Dworkin stimmt dem insoweit zu, als es in der Tat keinen Archimedischen Punkt im Sinne eines neutralen Standpunktes oder Beurteilungskriteriums moralischer Theorien gebe. Aber gerade deshalb hat es nach Dworkin keinen Sinn, auf einer Meta-Ebene diskutieren zu wollen. Wenn wir eine Theorie moralischen Begründens vorlegen, dann argumentieren wir schon moralisch. Und wer das Konsistenz- und Kohärenzerfordernis kritisiere, lege eine alternative Konzeption moralischen Begründens innerhalb der Institution der Moral vor . Objekt- und Meta-Ebene, also die Ebene moralischer Begründung und das Nachdenken über den Gang moralischer Begründung, sind nicht voneinander geschieden. Es bestätigt sich hier die oben vertretene These 109 , daß Dworkin Konsistenz und Kohärenz nicht von außen als Anforderung an die Moral und das Recht heranträgt, sondern als diesen immanent versteht. Mit der Einstufung des Konsistenz- und Kohärenzerfordernisses als "unabhängiger" Forderung politischer Moral ist daher wohl nichts anderes gemeint, als daß es - in Dworkins Konzeption der Moral - ein eigenständiges Ideal institutioneller Moral ist 1 1 0 . Dieser Gedanke hat später in dem Begriff der Integrität Ausdruck gefunden. I I I . Wahrheit, Richtigkeit und Objektivität moralischer und anderer interpretativer Urteile
1. Die These von der richtigen Antwort: Beispiele
Dworkin vertritt für alle interpretativen Institutionen, für die Moral wie für das Recht oder die literarische Interpretation, die These, daß interpre107 MacCormick, Dworkin as Pre-Benthamite, S. 184. 108 Dworkin, A Reply, S. 273; ähnlich auch schon My Reply to Stanley Fish, S. 301. 109 Siehe oben Kapitel 1 II 3 b. 110 In der abstrakten politischen Moral einer utopischen Gemeinschaft ist die Konsistenz und Kohärenz der politischen Entscheidungen dagegen schon durch ihre Gerechtigkeit und Fairneß verbürgt; vgl. oben unter II 4 a.
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tative Fragen richtige oder falsche Antworten haben, daß richtige Urteile wahre, auch objektiv wahre Aussagen machen, wobei das Attribut "objektiv" allerdings überflüssig sei. An einem von Dworkin häufig gebrauchten Beispiel läßt sich illustrieren, um welche Probleme es bei Dworkins These von der richtigen Antwort geht. Die Aussage (1) "Sklaverei ist ungerecht" ist nach Dworkin gleichbedeutend mit der Aussage (2) "Es gibt eine richtige Antwort auf die Frage, ob Sklaverei ungerecht ist, nämlich, daß Sklaverei ungerecht ist" und der emphatischeren Fassung derselben Aussage (3) "Sklaverei ist objektiv/wirklich ungerecht" . Diese Aussage besage auch nichts anderes als (4) "I believe that slavery is unjust in the circumstances of the modern world" 113 . Der Zusatz in (4) zeigt zwar an, daß sich Dworkin zufolge "moralische Wahrheiten" unter veränderten historischen Bedingungen ändern können. Das aber tut offenbar, wenn (3) und (4) nach Dworkin ansonsten identisch sind, ihrer Objektivität keinen Abbruch. Und die Einleitung des Satzes ("I believe") ist nur eine Bekräftigung des in jeder ernstgemeinten Äußerung ohnehin enthaltenen Wahrhaftigkeits- und Wahrheitsanspruchs 114. Doch sei es ein Unterschied, ob man (5) nur gute Gründe habe, zu glauben, daß Sklaverei ungerecht sei oder ob man (6) wisse, daß es wahr sei, daß Sklaverei ungerecht sei 115 .
2. Was Warheit nicht ist
a) Die semantische und die epistemologische Frage Bei der Diskussion von Wahrheitstheorien werden gewöhnich zwei Fragen unterschieden. Die erste, semantische Frage verlangt eine Definition von Wahrheit. Sie fragt danach, was es bedeutet, daß ein Satz wahr ist. Die 111 Zurright-answer-thesis in der Institution des Rechts, also der These, daß es in jedem Rechtsfall eine allein richtige Lösung gibt, siehe unten Kapitel 6. 112 Dworkin, LE, S. 80,82 "no important difference in philosophical category or standing" (S. 82); MP, S. 171. 113 Dworkin, MP, S. 171. 114 Vgl. zu der These, daß jeder Sprecher mit seinen Äußerungen die Ansprüche auf Verständlichkeit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Wahrheit verbindet, Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 165 ff.; 264 ff. in Anlehnung an Habermas. 115 Dworkin, A Reply, S. 275.
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zweite, epistemologische Frage ist die Frage nach den Kriterien, die über die Wahrheit eines Satzes entscheiden. Dworkin interessiert sich im Grunde für keine der beiden Fragen 116 . Von seinem internen, interpretativen Standpunkt aus sind im enterprise der Moral allein moralische Argumente, in der Institution des Rechts allein rechtliche Argumente von Belang 117 . Allerdings gibt Dworkins interner Wahrheits-, Richtigkeits- und Objektivitätsanspruch Anlaß, sein diesbezügliches Verständnis kritisch zu betrachten, wodurch sich Dworkin doch in die Diskussion von Wahrheitstheorien hineingezogen sieht 118 . Dabei trennt Dworkin nicht zwischen den Fragen nach der Definition von Wahrheit und nach ihren Kriterien. Denn vom internen Standpunkt innerhalb eines Unternehmens fallen - wie zu zeigen sein wird - die beiden Fragen zusammen. Wenn im folgenden eine Reihe von Wahrheitstheorien angesprochen werden, dann nicht, um diese auch nur annähernd vollständig zu diskutieren. Es wird damit lediglich der Ort angezeigt, an dem Dworkins verstreute Bemerkungen in Sachen Wahrheit anzusiedeln sind. b) Pragmatische Wahrheitstheorien In der oft als Pragmatismus bezeichneten Gruppe von Wahrheitstheorien 119 sieht die eine Theorie Wahrheit durch Konsens, die andere sie 19/Ì
durch Verifizierbarkeit definiert . Um mit letzterer zu beginnen: Dworkin weist die sogenannte "demonstrability thesis " zurück, die behauptet, ein Satz könne nur dann wahr sein, wenn seine Wahrheit jedem, der die Sprache verstehe und rational sei, gezeigt werden könne, nachdem alle harten Fakten, die für seine Wahrheit relevant sein könnten, bekannt oder stipuliert seien 121 . Wahrheit bedeutet nach Dworkin nicht, daß eine "thundering knock-down metaphysical
116 Vgl. etwa Dworkin, LE, S. 85 f. 117 Dworkin, A Reply, S. 197; LE, S. 85 f. 118 Dworkin, A Reply, S. 275 ff. 119 Vgl. Niiniluoto, Truth and Legal Norms, S. 1 ff.; Haack, Philosophy of Logics, S. 97. Vgl. auch Tugendhat/Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, S. 217 ff., die eine andere Art der Klassifikation wählen. 120 Auch Poppers Theorie der Falsifizierbarkeit (Logik der Forschung, S. 14 ff., 47 ff.) wäre unter die pragmatischen Wahrheitstheorien einzuordnen. 121 Dworkin, MP, S. 137; "Natural" Law Revisited, S. 175; The Philosophy of Law, S. 8 f.
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1 yy
demonstration no one can resist who has the wit to understand" werden könne.
gegeben
Eine verifikationistische Wahrheitstheorie - Dworkin nennt sie auch anti-realistisch 123 - gibt die Begriffe "wahr" und "falsch" zugunsten von Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit auf 124 . Dworkin hält dies schlicht für wenig plausibel. Es erscheint ihm lächerlich, sich von der Möglichkeit beunruhigen zu lassen, daß etwas (zu einer bestimmten Zeit) wahr ist und trotzdem (zu dieser bestimmten Zeit) nicht verifiziert werden kann 125 . Es geht ihm nicht etwa nur darum, daß etwas wahr sein kann, auch wenn es noch nicht verifiziert, also für wahr erkannt ist. Wahrheit setze noch nicht einmal die prinzipielle Möglichkeit der Verifikation voraus . Gegen eine Konsenstheorie der Wahrheit spricht nach Dworkin, daß die Tatsache, daß Menschen bestimmte Überzeugungen haben und in diesen übereinstimmen, kein Grund für die Wahrheit dieser Überzeugungen sein kann 127 . Meist argumentiert Dworkin nur negativ: Mangelnder Konsens über ein Urteil sei kein Argument dafür, daß dieses nicht wahr sein könne 128 . So wie nach Dworkin die Berufung auf die weitgehende Übereinstimmung der Gemeinschaft in moralischen Überzeugungen kein moralisches Argument ist, so könne diese Übereinstimmung auch und erst recht kein Kriterium für die Wahrheit moralischer Urteile abgeben129. Vielmehr bestimmten die Grundregeln der jeweiligen Institution, wann ein in ihr geäußerter Satz wahr sei1 . Die Bedeutung des Begriffs der Wahrheit liege auschließlich in seiner Funktion innerhalb einer Institution 131 . Von einem internen Standpunkt aus sind also die interpretativ zu gewinnenden 122 Dworkin, LE, S. 85. 123 Dworkin, The Philosophy of Law, S. 8 f.; MP, S. 137 ff. 124 So Dummett, Frege: Philosophy of Language, S. 470, auf den sich Dworkin, The Philosophy of Law, S. 8. beruft. 125 Auch in diesem Punkt stimmt Dworkin mit Putnam, The Meaning of "Meaning", S. 238 (Die Bedeutung von "Bedeutung", S. 52) überein. Später hat Putnam seine Meinung in diesem Punkte aber geändert und Zugeständnisse an eine verifikationistische Semantik gemacht, vgl. Stegmüller, Hauptströmungen II, S. 453. 126 Dworkin, MP, S. 139. 127 Dworkin, MP, S. 138. 128 Dworkin, MP, S. 137 f., 175; A Reply, S. 278. 129 Blackstone, The Relationship of Law and Morality, S. 1383 f. spricht von einer idealen Konsenstheorie Dworkins. Richtig ist, daß wenn der faktische Konsens aus den von Dworkin angeführten Gründen zur Definition von Wahrheit ausscheidet, immer noch ein idealer Konsens in Frage kommen könnte. Doch Dworkin hebt an keiner Stelle auf einen solchen Konsens ab. 130 Dworkin, MP, S. 134 ff. 131 Dworkin, A Reply, S. 277.
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Grundregeln einer Institution das Kriterium der Wahrheit von Aussagen in der Institution, und Wahrheit bedeutet nichts anderes, als daß eine Aussage unter diesen Grundregeln Bestand hat. Wahrheit ist für Dworkin mithin immer nur innerhalb einer Institution, z.B. der Institution der Moral, als moralische Wahrheit definiert. Daraus folgt auch Dworkins Ablehnung einer anderen, "externen" Definition von Wahrheit, wie sie Korrespondenztheorien der Wahrheit geben. c) Korrespondenztheorien der Wahrheit Korrespondenztheorien der Wahrheit definieren Wahrheit als eine irgendwie geartete Korrespondenz oder Relation zwischen einem Urteil einerseits und der Realität oder Welt andererseits. Die Idee einer moralischen Realität, die unabhängig von unseren moralischen Urteilen ist, und diesen gegenübersteht, hält Dworkin für unsinnig, und er läßt keine Gelegenheit aus, die Idee eines transzendenten, platonischen Reichs moralischer Werte ins Lächerliche zu ziehen. Moralische Fakten seien nicht "out there in some way" als Teil der "furniture" oder der "fabric of the universe", "locked into an independent reality" 132 . Dworkins Kritik an der Korrespondenztheorie setzt also nicht an dem klärungsbedürftigen Korrespondenzverhältnis, sondern an der Vorstellung eines objektiven Reichs moralischer Werte an. Gleichwohl spricht Dworkin von moralischen Fakten Çmoral facts "). Wenn Sklaverei ungerecht sei, dann deshalb, weil Sklaverei ungerecht und dies ein moralisches Faktum sei. Die Aussage, daß Sklaverei ungerecht sei, könne wahr sein, auch und selbst wenn dieses Faktum vielleicht weder bekannt ("known") noch stipuliert sei . Diese Begrifflichkeit gibt unnötig Rätsel auf. Denn Dworkin geht es an dieser Stelle wiederum um die demonstrability thesis . Seine Behauptung, daß es neben empirisch nachweisbaren harten Fakten andere "Fakten" gibt, heißt nur, daß auch bei fehlendem Konsens und mangelnder Verifizierbarkeit eine Aussage "might rationally be supposed to be true" 134 .
132 Dworkin, TRS, S. 289; MP, S. 171 f., 138; LE, S. 83; A Reply, S. 277. Eine Theorie der Interpretation, die auf dem Gedanken einer moralischen Realität, der unsere moralischen Urteile korrespondieren, aufbaut, hat Moore, A Natural Law Theory of Interpretation vorgelegt. 133 Dworkin, MP, S. 138. 134 Dworkin, MP, S. 138.
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3. Wahrheit als beste Interpretation im Rahmen konsistenter und kohärenter Rechtfertigung
Zu Dworkins eigener Position zunächst eine terminologische Bemerkung: Dworkin differenziert nicht zwischen Wahrheit und Richtigkeit 135 . Es kommt ihm nicht auf den Begriff der Wahrheit oder Richtigkeit an. So baut er Kritikern eine goldene Brücke, wenn er statt von Wahrheit von Vernünftigkeit oder der vernünftigsten Antwort spricht 136 . (Fast) jede interpretative Frage hat nach Dworkin eine vernünftigste, eine allein richtige Antwort 137 . Die Richtigkeit moralischer Urteile ist nach Dworkin das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von Überzeugungen und Einstellungen, deren Interdependenz die Wahrheit moralischer Urteile erst möglich mache. Ein gewisser Grad an Komplexität und wechselseitiger Abhängigkeit des Materials einer Institution sei daher notwendig für die Wahrheitsfähigkeit von Aussagen in dieser Institution. Aus diesem Grunde fehle z.B. Geschmacksurteilen im Gegensatz zu Moralurteilen die 1 "VI
Wahrheitsfähigkeit . Je komplexer eine Institution strukturiert sei, desto größer seien die wechselseitigen Beschränkungen, die durch das Konsistenz· und Kohärenzerfordernis den Aussagen auferlegt würden, und desto wahrscheinlicher sei es, daß sich eine Interpretation als die beste erweisen lasse. Nicht anders argumentiert Dworkin für die Objektivität moralischer Urteile, mit der er nichts anderes als die Wahrheit der entspechenden Aussagen meint 139 . Nur zur besonderen Betonung einer Aussage, zur Auschließung bestimmter zeitlicher und räumlicher Bedingtheiten, nicht aber als Bezugnahme auf eine objektiv bestehende Realität, lasse sich der Begriff "objektiv" sinnvoll gebrauchen 140. "Objektiv richtig/wahr" heißt für Dworkin "richtig/wahr unter den Grundregeln der Institution". Dworkins Theorie der Wahrheit ähnelt Putnams "internem Realismus". Putnam lehnt wie Dworkin eine Korrespondenztheorie der Wahrheit ab. Er versteht unter Wahrheit die Idealisierung einer Rechtfertigung. Und die Bedingungen, unter denen wir von einer Rechtfertigung sprächen, wechsel135 Vgl. z.B. Dworkin, LE, S. 78. 136 Dworkin, TRS, S. 124; A Reply, S. 278. 137 Dworkin, LE, S. 80. 138 Dworkin, MP, S. 170. 139 Dworkin, MP, S. 171. 140 Dworkin, LE, S. 81 f.
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ten so, wie sich unser gesamtes Wissen verändere 141. Den idealen Rechtfertigungsbedingungen bei Putnam entprechen die in Dworkins Theorie der Interpretation gestellten Anforderungen der Konsistenz und Kohärenz. Dworkins Theorie trägt aber auch Züge einer Kohärenztheorie der Wahrheit. Gegen diese gibt es einige Standardeinwände. Der grundlegendste Einwand macht geltend, daß Kohärenz keine Defintion von Wahrheit, allenfalls ein Kriterium von Wahrheit sein könne 142 . Dem ließe sich entgegnen, daß wenn die beschriebene Realität selbst die Konsistenz- und Kohärenzstruktur hat, wenn also die Moral selbst ein konsistentes und kohärentes System ist, es nicht absurd ist, diese Eigenschaft der Moral zur Defintion der Wahrheit von Sätzen über die Moral zu machen 143 . Dieser Verteidigung liegt eine Korrespondenztheorie zugrunde. Sie scheint Dworkin daher nicht offenzustehen, da er ja gerade die Absurdität des Gedankens einer außerhalb der Institution moralischen Diskurses liegenden moralischen Realität betont. Doch fallen, wie schon erwähnt, Definition und Kriterium von Wahrheit bei Dworkin zusammen, da die Moral nichts anderes ist als die beste konsistente und kohärente Interpretation der Institution der Moral. Auch für ein anderes klassisches Problem von Kohärenztheorien der Wahrheit hält Dworkins Konzeption eine Lösimg bereit. Gemeint ist das Problem alternativer Mengen in sich kohärenter Sätze. Dworkin löst das Problem, daß beide alternativen Mengen wahr sein müssen und doch nicht beide wahr sein können, durch seine zwei Dimensionen der Interpretation. Wenn zwei einander sich kontradiktorisch gegenüberstehende Interpretationen beide die Schwelle desfit passieren - also etwa in der abstrakten politischen Moral die Gesamtheit der eigenen Intuitionen im großen und ganzen durch bestimmte Prinzipien rechtfertigen - so ist in Dworkins Theorie eine wertende Entscheidung zwischen den beiden Interpretationen zu treffen. Daß die hierzu notwendigen Wertmaßstäbe in letzter Instanz nicht mehr interpretativ hergeleitet werden können, wird unter dem Stichwort Relativismus noch zu diskutieren sein 144 .
141 Putnam, Realism and Reason, S. 84 - 86. 142 So z.B. Woozley, Theory of Knowledge, S. 158. 143 So Haack, Philosophy of Logics, S. 95. 144 Vgl. unten III 5.
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Ein weiteres Problem von Kohärenztheorien der Wahrheit, daß nämlich Wahrheit zu einem graduellen Begriff wird , schaltet Dworkin dadurch aus, daß nur die "most reasonable" Interpretation wahr bzw. richtig sei 146 . Es gibt schließlich auch Textstellen, die es erlauben, Dworkins Konzeption von Wahrheit als Redundanztheorie der Wahrheit zu lesen 147 . Für diese ist das Wort "wahr" überflüssig, da wir, immer wenn wir von einer Aussage sagen, sie sei wahr, statt dessen einfach die Aussage verwenden können. Wenn für Dworkin zwischen der Aussage "Sklaverei ist ungerecht" und der Aussage "Die Frage, ob Sklaverei ungerecht ist, hat eine richtige Antwort, nämlich, daß Sklaverei ungerecht ist" 148 kein wichtiger Unterschied in der philosophischen Kategorie besteht, so hält er das Prädikat der Richtigkeit oder Wahrheit für redundant und die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache für überflüssig. Gegen Dworkins Konzeption der Wahrheit lassen sich (zumindest) zwei grundlegende Einwände vorbringen. Der erste ist ein skeptischer Einwand. Die zweite Kritik dagegen macht geltend, Dworkin behaupte, mehr zu behaupten als er tatsächlich behauptet. Das ist die Kritik an Dworkins verschleiertem Relativismus.
4. Skeptizismus Dworkin diskutiert mehrere skeptische Einwände gegen seine These von der Existenz moralischer Fakten und der Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile. Dabei unterscheidet er zwei Formen des Skeptizismus - externen und internen - und versucht, die Unhaltbarkeit der ersteren Form zu zeigen. a) Externer Skeptizismus Der externe Skeptiker, den Dworkin wiederholt auftreten läßt, propagiert einerseits bestimmte moralische Überzeugungen und Positionen, z.B., daß Sklaverei ungerecht ist. Er äußert aber andererseits, daß Sklaverei nicht objektiv ungerecht sei, weil die Ungerechtigkeit der Sklaverei kein objekti-
145 Vgl. dazu z.B. Niinilouto, Truth and Legal Norms, S. 169. 146 Dworkin, A Reply, S. 278. 147 Zu Redundanztheorien der Wahrheit Haack, Philosophy of Logics, S. 129 f. und Tugendhat/Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, S. 219 ff. 148 S. o. unter III 1.
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ves Faktum in einer transzendenten metaphysischen Welt sei 149 . Der externe Skeptiker argumentiert auf einer Meta-Ebene. Er nimmt mit seinen skeptischen Äußerungen nicht an der moralischen Praxis teil, sondern vertritt erkenntnistheoretische und metaethische Thesen über die Stellung moralischer Urteile 150 . Der externe Skeptiker ist in Dworkins Augen unglaubwürdig. Man könne nicht einerseits innerhalb des enterprise (z.B. der Moral) überzeugt Meinungen vertreten, das Spiel spielen, und andererseits - in seinen philosophischen Momenten - aus dem enterprise heraustreten und die Möglichkeit richtiger Aussagen in dmselben leugnen151. Es ist wohl Mackies Ethik, die Dworkin bei seiner Polemik gegen den externen Skeptiker im Auge hat. Mackie schreibt: "Moral judgments typically include what I call a claim to objectivity... But these claims, I maintain, are always false" 152 und "what I am discussing is a second order view, a view about the status of moral values and the nature of moral valuing, about where and how they fit into the world. These first and second order views are not merely distinct but completely independent: one could be a second order moral sceptic without being a first order one, or again the other way round" 153 . Ersteren, nämlich einen metaethischen, externen Skeptizismus, verwirft Dworkin als unhaltbar. Dabei zeigt er den externen Skeptiker im denkbar schlechtesten Licht, so als verträte er die "bizarren metaphysischen Annahmen" 154, die Dworkin so lächerlich macht. Doch der externe Skeptiker bestreitet die Wahrheitsfähigkeit moralischer Aussagen ja gerade deshalb, weil er die Vorstellung eines Reichs objektiver moralischer Werte ablehnt. Solange er aber am enterprise der Moral teilnimmt, kann er moralische Positionen vertreten, für die er gute Gründe zu haben glaubt. Dworkin selbst äußert ja, daß es etwas anderes sei, gute Gründe für eine Überzeugung zu haben, als zu wissen, daß sie wahr ist 1 5 5 . Richtigkeit muß
149 Dworkin, LE, S. 78, MP, S. 176, Law's Ambitions for Itself, S. 183 f. 150 Dworkin, LE, S. 79. 151 Dworkin, LE, S. 84. 152 Mackie, The Third Theory of Law, S. 10. 153 Mackie, Ethics, S. 16. 154 So Dworkin, LE, S. 81. 155 Dworkin, A Reply, S. 275.
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für den externen Skeptiker nicht identisch mit Wahrheit sein: "Morality is not to be discovered but to be made" 156 . Dworkin müßte, um die Unhaltbarkeit eines externen Skeptizismus zu belegen, zeigen, daß die Korrespondenztheorie der Wahrheit als Wahrheitsdefinition falsch ist, nicht nur, daß es keine transzendente moralische Realität gibt. Denn das ist es ja gerade, was ein externer Skeptiker, der einer Korrespondenztheorie der Wahrheit anhängt, seinerseits behauptet. Daß die Korrespondenztheorie der Wahrheit falsch ist, hat Dworkin aber nicht gezeigt. Dworkins Auseinandersetzung mit dem sogenannten externen Skeptizismus mündet in die Aufforderung, sich der eigentlichen Aufgabe moralischer Argumentation zuzuwenden: "this preliminary dance of skepticism is silly and wasteful; it neither adds to nor subtracts from the business at hand".1 Damit ist man auf moralische Argumente verwiesen; solche bringt auch der interne Skeptiker vor. b) Interner Skeptizismus Dem internen Skeptiker ist Dworkin gewogener. Ihn läßt er innerhalb des moralischen enterprise mehrere interne, also moralische Argumente vorbringen, die nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen seien. So könne der interne Skeptiker behaupten, daß das Material interpretativer Theorienbildung im Bereich der Moral zu unstrukturiert und unzusammenhängend sei, als daß es die notwendigen "checks and balances" erlauben würde, die in Dworkins Theorie für die Wahrheit von Aussagen notwendig sind1 . Oder der interne Skeptiker könne eine andere Theorie der Interpretation vertreten, wonach es die eigentliche Aufgabe eines interpretativen enterprise sei, Übereinstimmung zu erzielen, so daß er aus dem mangelnden Konsens in moralischen Fragen und den geringen Aussichten auf einen solchen Konsens seine skeptischen Schlußfolgerungen zu ziehen berechtigt sei 159 . Schließlich sei sogar eine - in Bezug auf eine Praxis - globale Form des internen Skeptizismus denkbar. Eine solche Position verträte etwa jemand, 156 Mackie, Ethics - Inventing Right and Wrong, S. 106. 157 Dworkin, LE, S. 86. 158 Dworkin, MP, S. 175. 159 Dworkin, MP, S. 175 f.
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der die Praxis insgesamt für unsinnig hielte 160 . Auch jemand, der der Überzeugung sei, daß nur spontane, unreflektierte Entscheidungen richtig bzw. wahr sein könnten, gleichzeitig aber meine, daß richterliche Entscheidungen eo ipso nicht spontan und unreflektiert ergehen können, sei ein interner Skeptiker in bezug auf die Institution der gerichtlichen Entscheidung 6 1 . Der sogenannte globale interne Skeptizismus stellt die Institution selbst in Frage , ist aber nach Dworkin eine intern vertretbare, wenn auch nicht überzeugende Position.
5. Relativismus
Während der (externe) Skeptizismus die Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit überhaupt bestreitet, betrachtet der Relativismus alle Erkenntnis als nur relativ richtig in bezug auf bestimmte Rahmenbedingungen163. Die in Dworkins Theorie der Interpretation gewonnenen Ergebnisse sind relativ in mehrerlei Hinsicht. Wie die ihr verwandte Methode des Rawls'schen Überlegungsgleichgewichts führt auch Dworkins Interpretationsmodell zu einer zweifachen Relativität der Ergebnisse 164. Zum ersten trifft der Interpretierende unter verschiedenen von ihm entwickelten Konzeptionen eine Wahl. Es ist indessen möglich, daß die beste mögliche Interpretation schon nicht unter den zur Wahl stehenden war. Zum zweiten geht jede interpretative Theorienbildung im Sinne Dworkins von einem bestimmten Material aus. Nur in Bezug auf dieses Material (z.B. die Institutionen einer Gemeinschaft) sind die Ergebnisse interpretativer Theorienbildung richtig. Diese zweite Relativität ist lediglich Ausdruck des von Dworkin eingenommenen internen Standpunkts. Dworkin beansprucht nicht mehr, als daß 160 Dworkin, LE, S. 79 für die soziale Praxis der Höflichkeit. 161 Dworkin, "Natural" Law Revisited, S. 177; ein anderes Beispiel: "Suppose one holds that all morality rests on God's will, and had just decided that there is no God". 162 Dworkin, LE, S. 79. 163 Gemeint ist ein metaethischer (im Unterschied zu einem dskriptiven und einem normativen) Relativismus im Sinne Frankenas. Vgl. Frankena, Analytische Ethik, S. 132. Dworkin selbst wirft da, wo er dem Relativismus-Vorwurf begegnet, den Relativismus mit dem Skeptizismus zusammen, A Reply, S. 279. 164 Dworkin, TRS, S. 166 ff. weist selbst auf die (zumindest) zweifache Relativität der im Rawls'schen Überlegungsgleichgewicht gewonnenen Prinzipien hin.
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es Wahrheit innerhalb einer gegebenen Institution gibt. Und die erste Relativität interpretativ gewonnener Ergebnisse zeigt zwar die Grenzen menschlichen Denkvermögens an, die keine Garantie zulassen, daß die beste rechtfertigende Interpretation auch gefunden wird 1 6 5 , beeinträchtigt aber nicht die prinzipielle Möglichkeit richtiger oder wahrer Ergebnisse. Eine im Rahmen der Dworkin'schen Theorie der Interpretation gewonnene Aussage ist aber noch in einer dritten Weise relativ. Interpretative, z.B. moralische Urteile sind relativ zu dem höchsten Bewertungsmaßstab konkurrierender Interpretationen. Da in Dworkins Theorie der Interpretation ein infiniter Regreß angelegt ist, der, will man zu definitiven Ergebnissen gelangen, an irgendeiner Stelle abgebrochen werden muß, kann Dworkins Interpretation der Institution der Moral Richtigkeit nur in Relation auf den letzten, nicht mehr zu rechtfertigenden und deshalb axiomatisch gesetzten Wert beanspruchen. Alle von Dworkin interpretativ hergeleiteten Antworten auf moralische (und rechtliche) Fragen können nur relativ richtig auf das Prinzip Gleichheit sein. Diese Wert-Relativität der Ergebnisse interpretativer Theorienbildung ist im Auge zu behalten. Dworkin selbst stellt sie nicht heraus, denn für ihn besteht kein Zweifel, daß das Prinzip gleicher Achtung und Sorge das Fundamentalprinzip politischer Moral ist, auch wenn er es nicht weiter zu rechtfertigen vermag. Es bleibt unklar, ob Dworkin sich der Relativität interpretativer Aussagen immer bewußt ist, wenn er für die allein richtige Antwort auf moralische Fragen argumentiert. Seineright-answer thesis jedenfalls erscheint in einem anderen Lichte, wenn man den seiner Theorie inhärenten Wertrelativismus mitbedenkt.
165 Um seine These einer allein richtigen Antwort in jedem Rechtsfall nicht schon an menschlicher Unzulänglichkeit scheitern zu sehen, bedient sich Dworkin in der Institution des Rechts einer übermenschlichen Figur (Hercules) in der Richterrolle.
Drittes Kapitel
EINE AUF RECHTE GRÜNDENDE MORALTHEORIE POLITISCHEN HANDELNS
I. Utilitarimus wider Theorie der Individualrechte
i. Diskussionskontext
Dworkins moralische Theorie politischen Handelns ist im Kontext der in der anglo-amerikanischen Philosophie aktuellen und breiten Diskussion über die richtigen Prinzipien moralischen Handelns zu sehen, die man, einen Titel Harts aufgreifend, "Between Utility and Rights" überschreiben kann1. Der Utilitarismus, die im anglo-amerikanischen Raum herrschende normative Theorie richtigen moralischen Handelns2, nimmt die Wohlfahrt des Menschen oder des Gemeinwesens als Ganzen - gemessen z.B. im Grade der Glückseligkeit oder der Befriedigung von Präferenzen - zum moralischen Maßstab. Er definiert als moralisch richtig das Handeln, das die Wohlfahrt am stärksten befördert. Die Handlung soll maximal nützlich im Hinblick auf das Ziel der Beförderung der Wohlfahrt sein; daher der Name Utilitarismus. Der Utilitarismus ist damit eine teleologische Theorie, die als das Gute den außermoralischen Wert (Wohlfahrt) definiert und als das
1 Vgl. z.B. auch den von Frey herausgegebenen Sammelband "Utility and Rights". 2 Dworkin, TRS, S. IX, MP, S. 360 bezeichnet den Utilitarismus sogar als die einflußreichste politische Moral in den westlichen Demokratien. Vgl. zum bestimmenden Einfluß des Utilitarismus (zumindest) im anglo-amerikanischen Raum auch Hart, Between Utility and Rights, S. 198; Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 11, 40 ff.; Höffe, Rawls* Theorie der politisch-sozialen Gerechtigkeit, S. 18.
Drittes Kapitel
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Rechte (moralisch Richtige) das Handeln, welches dieses Ziel am stärksten befördert. Gegenposition zu einer teleologischen Theorie ist eine deontologische. Dworkin selbst macht sich die Unterscheidung deontologischer und teleologischer Theorien zu eigen, wobei er auf die von Rawls gegebenen Definitionen Bezug nimmt3. Rawls definiert eine teleologische Theorie als eine solche, die das Gute (einen außermoralischen Wert) unabhängig vom Rechten (der moralischen Richtigkeit) bestimmt, und dann das Rechte als dasjenige definiert, was das Gute maximiert. Deontologische sind für Rawls nicht-teleologische Theorien, d.h. solche, die entweder das Gute nicht unabhängig vom Rechten oder das Rechte nicht als Maximierung des Guten bestimmen4. Hier wird also eine deontologische Theorie nicht etwa als eine solche definiert, die behauptet, die moralische Richtigkeit sei unabhängig von den Folgen einer Handlung5. Damit ist das gegen die Unterscheidung deontologischer und teleologischer Theorien häufig vorgebrachte Argume nt, es sei nicht möglich, Moralurteile ohne Beachtung der Folgen einer Handlung zu fällen, hinfällig 6. Die mit "Utility and Rights" betitelte Diskussion kann auf einem abstrakten Niveau auch als Streit teleologischer und deontologischer Theorien um den Primat des Guten oder des Richtigen begriffen werden. Bislang wurde erst ein sehr grobes Bild des Utilitarismus gezeichnet, der seit Bentham in eine Vielzahl ethischer Positionen ausdifferenziert wurde. Dworkin selbst unterscheidet einen psychologischen Utilitarismus Bentham' scher Prägung und einen sogenannten Präferenz-Utilitarismus. Den psychologischen Utilitarismus handelt Dworkin kurz mit den geläufigen Gegenargumenten ab, daß es zum einen zweifelhaft sei, ob es einen allen Individuen gemeinsamen psychischen Zustand der Freude, des Glücks oder der Zufriedenheit einerseits und des Schmerzes und der Unzufriedenheit andererseits gebe, daß es aber jedenfalls unmöglich sei, diesen psychischen Zustand zu messen und quantitativ auszudrücken, wie es das utilitaristische Kalkül verlange7.
3 Dworkin, TRS, S. 169. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 42,48 stützt sich seinerseits auf Frankenas Begriffsbestimmung (Frankena, Analytische Ethik, S. 32 ff.), die er aber in einem wesentlichen Punkt korrigiert. 4 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 42,48. 5 So Frankena, a. a. O., S. 32 ff. 6 Vgl. die diesbezüglichen Argumente Hares, Freiheit und Vernunft, S. 144; Die Sprache der Moral, S. 82 f. (unter 4.1.). 7 Dworkin, TRS, S. 233.
Eine moralische Theorie politischen Handelns
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Ausführlicher diskutiert Dworkin den sogenannten Präferenz-Utilitarismus, eine Neuformulierung des Utilitarismus mit Hilfe von Ideen und Begriffen aus der Wohlfahrtsökonomie 8. Moralisch richtig ist danach eine Politik, die die durchschnittliche oder die kollektive Wohlfahrt in einer Gemeinschaft oder des Gemeinwesens als solchen erhöht, indem sie die gesamten Präferenzen der Individuen der Gemeinschaft besser befriedigt als jede alternative Politik es tun würde, auch wenn sie die Präferenzen einiger nicht befriedigt.
2. Allgemeine politische Theorien als Paket aus allgemeiner Rechtfertigung un korrigierenden Trumpfrechten
Dworkins Utilitarismuskritik ist als Beitrag zu einer Diskusson zu verstehen, die vor allem um Defizite des Utilitarismus in der Anerkennung des einzelnen als Individuum kreist. Das Individuum sei nicht nur ein Summand im utilitaristischen Kalkül und müsse vor den politischen Folgen dieses Kalküls geschützt werden. Darüber hinaus ist es Dworkins Ziel, den Utilitarismus nicht nur zu korrigieren, ihn vielmehr durch eine grundlegend andere, nämlich eine auf die Idee individueller Rechte bauende politische Theorie zu ersetzen9. In einer von Dworkins metaphorischen Formulierungen heißt das, daß es ein völlig neues Paket zu schnüren gilt. Dworkin stellt sich eine allgemeine politische Theorie als ein Paket aus erstens einem allgemeinen Rechtfertigungsprinzip politischen Handelns (z.B. dem Nützlichkeitsprinzip des Utilitarismus) und zweitens einem Bündel von Trumpfrechten vor, die in bestimmten Fällen die durch das allgemeine Prinzip prima facie gelieferte Rechtfertigung einer Entscheidung mit stärkeren Gründen übertrumpfen 10. Im konstruktiven Teil seiner Moraltheorie politischen Handelns schnürt Dworkin ein neues Paket, das auf seinen Inhalt noch zu untersuchen sein wird (unten IV). Hier aber ist zunächst seine Kritik der derzeit im politischen Leben verwandten utilitaristischen Argumente vorzustellen. Im Stil interpretativer Theorienbildung lautet die Frage, ob das utilitaristische Prinzip die politische Praxis westlicher Demokratien hinreichend treffend 8 Vgl. Dworkin, MP, S. 237 ff., S. 267 ff.; TRS, S. IX. 9 Damit geht Dworkin in Frontstellung zu Jeremy Bentham, der die Idee individueller moralischer Rechte als "nonsense on stilts" und eine diesbezügliche Theorie als "bawling upon paper" bezeichnet hat. Vgl. hierzu Dworkin, TRS, S. 184 und Hart, Between Utility and Rights, S. 199. 10 Dworkin, A Reply, S. 281; LE, S. 222 f.
Drittes Kapitel
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beschreibt und, falls dies der Fall ist, ob es eine attraktive Rechtfertigung dieser Praxis darstellt. Die erste Frage wird von Dworkin - wie gesagt - positiv beantwortet, da sich die politische Praxis typischerweise einer utilitaristischen Rhetorik (Allgemeinwohlformeln) bediene11. Im folgenden geht es daher allein um die Frage, ob wir den Utilitarismus als eine Theorie der moralischen Rechtfertigung politischen Handelns akzeptieren sollten. Das sei eine Frage abstrakter politischer Moral 12 , bei deren Beantwortimg von den institutionellen Schranken bestehender Praktiken weitgehend zu abstrahieren sei 13 .
II. Kritik des Utilitarismus
1. Kritik des Präferenz-Utilitarismus anhand der Unterscheidung externer u persönlicher Präferenzen
Ein wesentliches Defizit des Utilitarismus sieht Dworkin darin, daß er in bestimmten Fällen Minderheiten die Achtung vesage, die er der Mehrheit entgegenbringe. Da der Utilitarismus aber überhaupt nur als eine Konzeption von Gleichheit attraktiv sei, spreche dies entscheidend gegen ihn 14 . Diesen Gedanken hat Dworkin in der Unterscheidung externer und persönlicher Präferenzen begrifflich zu fassen gesucht15. Während persönliche Präferenzen den eigenen Genuß bestimmter Güter und Möglichkeiten betreffen, haben es externe Präferenzen mit der Zuteilung von Gütern und Chancen an andere zu tun 16 . Ihre Berücksichtigung im Kalkül ist für Dworkin aus zwei Gründen problematisch. Der egalitäre Charakter des (Präferenz-)Utilitarismus ("everybody (is) to count for one, nobody for more than one"17) werde nämlich korrumpiert, wenn 11 Dworkin, MP, S. 360. 12 Vgl. zum Begriff abstrakter politischer Moral Kapitel 2 II 4. 13 Dworkin, LE, S. 408. Dworkin ist in diesem Punkt dunkel, da er, obwohl es um eine Frage abstrakter politischer Moral geht, gleichwohl fordert, "a contemporary shadow of th< future we celebrate" zu entwerfen. 14 Dworkin, TRS, S. 233. 15 Dworkin, TRS, S. 234 ff. Zu erwartende Probleme bei der Zählung und Bestimmun] der Intensität von Präferenzen klammert Dworkin argumentationshalber aus. 16 Dworkin, TRS, S. 234. 17 Bentham zitiert nach Hart, Between Utility and Rights, S. 200 und Mill, Utilitarismus S. 108.
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auch externe Präferenzen, also Präferenzen bezüglich der Befriedigung der Präferenzen anderer Personen, gezählt würden. Denn dies führe zu einer Form doppelten Zählens, da nicht nur die ihr eigenes Leben betreffenden Präferenzen einer Person, sondern auch ihre Vorstellungen bezüglich des Lebens anderer ins utilitaristische Kalkül Eingang fänden 18. Die externen Präferenzen könnten andererseits auch nicht einfach aus dem utilitaristischen Kalkül ausgeschlossen werden, da es häufig unmöglich sei, zu bestimmen, ob persönliche oder (versteckte) externe Präferenzen vorlägen, und sie oft unlösbar miteinander verquickt seien19. Erne solche Verflechtung hege beispielsweise vor, wenn ein weißer Student es vorziehe, nur weiße Kommilitonen zu haben (persönliche Präferenz), er aber aufgrund rassischer Vorurteile Schwarze verachte, woraus sich seine externe Präferenz erkläre, daß schwarze Studenten nicht die Möglichkeit haben sollten, mit weißen zusammen zu studieren 20. Dworkins vielbesprochene21 Unterscheidung externer und persönlicher Präferenzen hat indessen - wie die folgende Darstellung zeigen wird - bei weitem keine so wesentliche Funktion in seiner Utilitarismus-Kritik, wie es zunächst den Anschein hat, und ist nicht präzise genug, um Dworkins Anliegen auf den Begriff zu bringen.
2. Dworkins Utilitarismus-Kritik
im einzelnen
a) Das "metaethische" Argument Dworkin stellt, auf eine Kritik Harts 22 antwortend, klar, daß er keineswegs alle externen Präferenzen aus dem politischen Prozeß verbannen möchte. Denn unter ihnen seien auch altruistische Präferenzen 23, und die einzige Hoffnung für gerechte und faire politische Lösungen bestehe darin, daß Bürger ihr demokratisches Stimmrecht in einem "disinterested sense of 18 Dworkin, TRS, S. 235; Social Science and Constitutional Rights, S. 10; What is Equality?, S. 197-199. 19 Dworkin, TRS, S. 235 ff.; MP, S. 197. 20 Dworkin, TRS, S. 236. 21 Vgl. z.B. Hart, Between Utility and Rights, S. 211 ff.; Hare, Moral Thinking, S. 104; MacCormick, Dworkin as Pre-Benthamite, S. 199.; Regan, Glosses on Dworkin, S. 152 f. Ν. 18.; Reynolds, The Enforcement of Morals, S. 1342 f., der die Verflechtung persönlicher und externer Präferenzen verkennt; Sager, Rights Skepticism, S. 432 ff. 22 Hart, Between Utility and Rights, S. 213 ff. Dworkin, TRS, S. 357 .
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fairness" und nicht nur auf ihre persönlichen Interessen bedacht ausübten24. Dworkin hält es mithin nicht nur für zulässig, sondern für notwendig, daß bestimmte externe Präferenzen über demokratische Wahlen in den politischen Prozeß Eingang finden. Er unterscheidet aber strikt zwischen der Wahl einer gesetzgebenden Körperschaft einerseits, bei der die Bürger ihren persönlichen und externen Präferenzen Ausdruck verleihen könnten, und dem Handeln des personifiziert gedachten Gesetzgebers bzw. des einzelnen Abgeordneten, der den Geboten politischer Moral unterworfen sei und seine politischen Entscheidungen moralisch rechtfertigen müsse, andererseits 25. Das Handeln des Gesetzgebers wird von Dworkin nicht als Resultante des Kräftespiels konkurrierender, im Gesetzgeber repräsentierter Präferenzen in einer politischen Gemeinschaft verstanden. Er handele nur dann moralisch gerechtfertigt, wenn seine Entscheidungen auf moralischen Prinzipien beruhten. Die Berufung auf die Präferenzen der Mehrheit der Bevölkerung dagegen könne eine gesetzgeberische Entscheidung nicht rechtfertigen. Denn die bloße Tatsache, daß Menschen bestimmte (vielleicht auch altruistische) Wünsche und Interessen haben, sei kein moralischer Grund, warum diese Präferenzen zu befriedigen seien26. Dieses Argument liegt parallel zu dem Argument, daß die Berufung auf die positive Moral kein moralisches Argument ist 27 . Indem der Präferenz-Utilitarismus die größtmögliche Präferenzbefriedigung zur Handlungsmaxime macht, erklärt er in Dworkins Augen diesen Fehler zum Prinzip. Der Utilitarismus beruhe somit auf einer grundsätzlichen theoretischen Unzulänglichkeit, da er bei der moralischen Rechtfertigung politischen Handelns die Befriedigung der Präferenzen nicht mit von ihnen unabhängigen Argumenten rechtfertige. Allerdings wurde schon darauf hingewiesen, daß Dworkin die Berufung auf die positive Moral dann für ein zulässiges (wenn auch schlechtes) moralisches Argument hält, wenn die für richtig befundene Moraltheorie ver24 Dworkin, MP, S. 368. 25 Dworkin, TRS, S. 357 f. Diese Abgrenzung spricht dafür, daß Dworkin die Wahlentscheidung des einzelnen Bürgers als eine Frage privater, nicht politischer Moral ansieht, die anderen Grundsätzen unterliegt. Vgl. zur Unterscheidung privater und politischer Moral oben Kapitel 2 II 1. In TRS spricht Dworkin noch nicht von einer Personifikation des Staates. Der Gedanke aus LE läßt sich aber in den hier besprochenen Zusammenhang übertragen. 26 Dworkin, MP, S. 368 f. 27 Vgl. oben Kapitel 2 II 3 a.
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langt, auf die positive Moral abzustellen. Wendet man diesen Gedanken auf das hier in Rede stehende Problem an, so könnte die Berufung auf das bloße Faktum des Bestehens von Präferenzen zulässig sein, wenn der Utilitarismus eine Theorie anböte, warum das politische Handeln an der größtmöglichen Präferenz-Befriedigung auszurichten sei. Nach Dworkin könnte diese Rechtfertigung allenfalls in einem egalitären Anspruch des Utilitarismus bestehen. b) Das Gleichheitsargument "doppelten Zählens" Hart hat dem Argument, daß die Berücksichtigung externer Präferenzen zu einer Art doppelter Zählung führe, entgegengehalten, daß man im Gegenteil zu einem "under-counting" komme, wenn man externe Präferenzen nicht zähle. Dann nämlich würden die Präferenzen all derer nicht gezählt, die selbst kein eigenes Interesse an dem fraglichen Gegenstand hätten, ihn aber für andere wünschten (Bsp.: Präferenz eines Nichtschwimmers für den Bau eines Schwimmbades) bzw. ihn anderen verwehren wollten (Bsp.: Präferenz eines Heterosexuellen für das Verbot homosexueller Handlungen)28. Hart ist zuzugeben, daß von einer doppelten Zählung nur dann gesprochen werden kann, wenn eine Person sowohl persönliche als auch externe Präferenzen bezüglich eines Gegenstandes hat und in das utilitaristische Kalkül einbringt . In solchen Fällen aber kann man nach Dworkin von einer doppelten Zählung deshalb sprechen, weil eine Präferenz nicht (wie etwa eine Stimme in einer demokratischen Wahl) als Resultante eines Motivbündels zu begreifen sei. Das Stimmrecht in einer demokratischen Wahl erschöpfe sich mit der Abgabe einer Stimme, während verschiedene externe und persönliche Präferenzen einer Person sich im utilitaristischen Kalkül akkumulierten 30. Doch kommt es Dworkin, späteren Ausführungen zufolge, nicht entscheidend auf das Argument doppelter Zählung an. Diese Beschreibung sollte das Argument, um das es eigentlich geht, daß nämlich der Utilitarismus die Gefahr inegalitärer Ergebnisse in sich birgt, lediglich zusammenfassen 31. Dworkins Argument, der Utilitarismus verletze das Prinzip gleicher Achtung und Sorge, hält Hart entgegen, daß der Utilitarismus als solcher sich nicht der Gleichheit als einem unabhängigen Wert verschreibe. Der 28 Hart, Between Utility and Rights, S. 216. 29 Siehe das oben erwähnte Beispiel des rassistischen weißen Studenten. 30 Dworkin, MP, S. 366; A Reply, S. 286. 31 Dworkin, MP, S. 366.
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egalitäre Charakter des Utilitarismus sei vielmehr nur ein Nebenprodukt seines starren Addierungs- und Maximierungsprinzips 32. Dworkin dagegen sieht die Attraktivität des Utilitarismus gerade darin begründet, daß er eine Konzeption von Gleichheit sei 33 . Man könne eine teleologische und eine egalitäre Version des Utilitarismus unterscheiden. Die teleologische Version besage, daß die Nützlichkeit (z.B. gemessen in der Präferenz-Befriedigung) ein Wert an sich und zu maximieren sei, gleichgültig wie die Befriedigung der Präferenzen sich auf die Bevölkerung verteile. Ziel dieses teleologischen Utilitarismus sei es, die totale, nicht die durchschnittliche pro-Kopf-Präferenz-Befriedigung, zu maximieren. Danach wäre eine überbevölkerte Gesellschaft mit hoher Gesamtnutzenbilanz, eine in diesem Sinne reiche Gesellschaft, besser als eine Gesellschaft mit hoher durchschnittlicher, aber geringerer Gesamtnutzenbilanz. Das aber ist nach Dworkin schlicht unsinnig. Die egalitäre Version besage demgegenüber, daß Güter und Chancen derart zu verteilen seien, daß sich die durchschnittliche Nützlichkeit in einer gegebenen Population erhöhe 34. Auch der Aussagewert dieser sogenannten egalitären Version ist indessen gering 35, da sie keinerlei Aussage darüber macht, wie die Güter und Chancen in der gegebenen Population zu verteilen sind. (Lediglich das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens setzt Ungleichverteilungen eine Grenze 36.) Sie unterscheidet sich von der sogenannten teleologischen Version nur dadurch, daß die Bevölkerungsstärke als Konstante gesetzt wird. Eine Eliminierung solcher Menschen, die eine negative Nutzenbilanz aufweisen, und ein forciertes Bevölkerungswachstum scheiden damit als 32 Hart, Between Utility and Rights, S. 200. 33 Dworkin, What is Equality?, S. 244 - 246; MP. S. 274. Nach Mill, Der Utilitarismus, S. 107 ff., ergibt sich das Prinzip, alle Menschen gleich zu behandeln, zwar unmittelbar aus dem obersten Prinzip der Moral, dem Nützlichkeitsprinzip. Das Recht auf gleiche Behandlung steht bei Mill aber unter dem Vorbehalt, daß kein anerkanntes Gemeinschaftsinteresse das Gegenteil erfordert. Somit können falsche Nützlichkeitsvorstellungen zu den ungeheuerlichsten Ungleichheiten führen. Sozialer Fortschritt bestehe in der Verwerfung solcher Nützlichkeitsvorstellungen, die zu Ungleichbehandlungen führten, die nicht duch den Verdienst des einzelnen um die Gesellschaft gerechtfertigt seien. Auf der Skala der Nützlichkeit nehmen Gerechtigkeit und Gleichheit bei Mill einen hohen Platz ein, genießen aber keinen absoluten Vorrang. Es erscheint danach nicht gerechtfertigt, Mills Utilitarismus als Konzeption der Gleichheit selbst zu verstehen, auch wenn er ihr einen hohen moralischen Wert beimißt. 34 Dworkin, MP, S. 274: "...goods should be distributed so as to produce the highest average utility over some stipulated population". 35 Man kann auch von einer technischen Schwäche sprechen, vgl. dazu Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 70 Fn. 69: "Eine Theorie ist im technischen Sinne um so schwächer, je weniger mit ihr behauptet wird." 36 Vgl. hierzu Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, S. 30; Hare, Moral Thinking, S. 164 f.
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Mittel zu Erhöhung des arithmetischen Durchschnittsnutzens aus. Für Dworkin ist die egalitäre Version eine (allerdings wenig attraktive) Interpretation des Gedankens der Behandlung als Gleicher 37. Dworkins Vorgehen, dem Argument Harts dadurch zu begegnen, daß er den Utilitarismus als eine Konzeption der Gleichheit interpretiert, ist bedenklich. Denn so wie "it does not follow ... that because a philosophical novel is aesthetically more valuable than a mystery story, an Agatha Cristie novel is really a treatise on the meaning of death"38, darf Dworkin daraus, daß er die Gleichheit für den höchsten Wert politischer Moral hält, nicht schließen, der Utilitarismus sei in Wirklichkeit eine Theorie der Gleichheit. Zum zweiten ist die Konzeption der Gleichheit, die Dworkin als egalitäre Version des Utilitarismus vorstellt, eine wenig aussagekräftige Theorie. Das gilt aber nicht für die von Dworkin als Beispiel für einen egalitären Utilitarismus angeführte Theorie Hares 39. Hare spricht an der von Dworkin angegebenen Stelle davon, daß gleiches Gewicht auf die Wünsche aller Parteien gelegt werden müsse, daß die besten Gründe nicht für eine Maximierung, sondern für eine gleichmäßige Verteilung des Glücks zu sprechen schienen und daß eine Neuformulierung des Utilitarismus darzulegen habe, was es heiße, zwischen den Interessen der verschiedenen Parteien jeweils Gerechtigkeit zu üben 40 . Darin kommt schon eher ein egalitärer Anspruch zum Ausdruck als in dem sogenannten egalitären Utilitarismus, der auf die durchschnittliche Glücksbilanz, in der die einzelnen Individuen als solche untergehen, abzustellt. Dworkin verletzt daher seinen Interpretationsgrundsatz, den Gegenstand der Interpretation (hier den Utilitarismus) als den besten seiner Art zu zeigen, indem er eine denkbar schwache Konzeption der Gleichheit am Maßstab der Gleichheit mißt 41 .
37 Dworkin, MP, S. 274,190. 38 Dworkin, MP, S. 150. 39 Dworkin, MP, 274. 40 Hare, Freiheit und Vernunft, S. 141 ff. (Freedom and Reason, S. 121 ff.); Hare bezeichnet sich a.a.O. aber gerade nicht als Utilitaristen und läßt es offen, ob die Neuformulierung anhand der Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Parteien, überhaupt noch als eine Form des Utilitarismus zählen würde. 41 Dworkin, MP, S. 273 selbst bezeichnet seine Argumentation als polemisch. Ihm ging es in dem Zusammenhang, in dem die zitierten Textstellen stehen, vornehmlich darum, sogenannte MKompromißtheorien", die die Gleichheit und den Reichtum (wealth) einer Gesellschaft als Werte gegeneinander abwägen, gegenüber sogenannten "Rezepttheorien", in denen der Reichtum nur eine Zutat zur angestrebten Gleichheit ist, auszuspielen. Vgl. Dworkin, MP, S. 267 ff.
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c) Das Argument von der Verletzung moralischer Autonomie Die beiden schon diskutierten Argumente Dworkins finden aufs neue Ausdruck in seinem Argument, daß das externe Präferenzen zählende utilitaristische Kalkül schon von seiner Grundkonzeption her den Gedanken gleicher Achtung verletze. Nicht erst das inegalitäre Ergebnis (dazu soeben unter b) bestimmter utilitaristischer Erwägungen (die Befriedigung bestimmter Präferenzen und die Nichtbefriedigung anderer) versage bestimmten Personen die gleiche Achtung 42 , sondern schon die Prozedur des utilitaristischen Kalküls als solche (dazu schon unter a). Es verbiete sich schon deshalb, externe Präferenzen zu zählen, da sie Präferenzen bezüglich des Lebens anderer seien43. Dieses Argument Dworkins stützt sich unausgesprochen auf eine Konzeption der Autonomie des Menschen, die, wenn auch noch nicht explizit entwickelt, in Dworkins Schriften durchscheint 44. Ihr wesentlicher Gedanke - Autonomie als Zugang zur eigenen Identität wurde oben anhand des Hinweises auf Williams erschlossen45. Es lassen sich indessen Beipiele finden, bei denen es nicht plausibel scheint, daß der Zählung externer Präferenzen eine Geringachtung des anderen inhärent ist. An einem Beispiel: Präferenzen bezüglich der Gestaltung des Stadtbildes sind externe Präferenzen, soweit es um Wünsche geht, was andere (Grundeigentümer) mit ihrem Boden tun oder lassen können sollen. Wenn etwa die Mehrheit in einem Stadtbezirk sich gegen die Verschandelung durch ein ihrer Meinung nach häßliches Bürohaus wehrt, so verfolgt sie externe Präferenzen in Bezug auf den Eigentümer, der - vielleicht selbst Architekt - durch das Haus seinem persönlichen Stil Ausdruck verleihen möchte46. Dieses Beispiel zeigt, daß in der "Externität" einer Präferenz nicht schon die Geringachtung des Anderen zum Ausdruck kommt. In Dworkins eigenen Beispielen sind die kritisierten externen Präferenzen stets Ausdruck von Vorurteilen und moralisierenden Vorstellungen bezüglich des Lebenswandels anderer 47. Es geht Dworkin nicht darum, daß jedermann tun und lassen können soll, was er will. Dworkin versteht Freiheit ja gerade nicht im Sinne eines Freibriefes (liberty as license ), sondern als Freiheit von den Vorstellungen anderer von einem guten Leben (liberty as (moral) 42 So interpretiert Hart Dworkin. Hart, Between Utility and Rights, S. 216 f. 43 Dworkin, MP, S. 366 f. 44 Vgl. nur die Andeutungen Dworkin, TRS, S. 201,292,356 f. 45 S. o. Kapitel 2 II 4 b. 46 Beispiel von MacCormick, Dworkin as Pre-Benthamite, S. 199; MacCormick mißversteht Dworkin insofern, als dieser keineswegs alle externe Präferenzen als solche negativ beurteilt (s.o. unter II 2 a). 47 Dworkin, TRS, S. 235 ff.; MP, S. 353 ff., 197.
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independence )48. Danach verletzt die externe Präferenz die Ideen der Gleichheit und der Autonomie nur dann, wenn sie auf der Verachtung oder Geringschätzung des anderen und seiner moralischen Kapazität, sein Leben selbst zu gestalten, beruht. Allein deshalb, weil es immöglich ist, solche externen Präferenzen aus dem Konglomerat persönlicher und externer Präferenzen im utilitaristischen Kalkül herauszufiltern, wohnt diesem eine Verletzung des Prinzips gleicher Achtung inne. Das Argument von der Autonomie des Menschen baut - im Gegensatz zu dem metaethischen (a) und dem Argument inegalitärer Ergebnisse (b) tatsächlich auf der Unterscheidung bestimmter externer von persönlichen und nicht zu beanstandenden externen Präferenzen auf. Der Begriff der externen Präferenz ist als solcher aber zu undifferenziert, tun die Verletzung des Prinzips gleicher Sorge und Achtung, auf die es Dworkin ankommt, zum Ausdruck zu bringen. Dworkins Utilitarismus-Kritik erschöpft sich nicht in dem Gesagten. So macht er z.B. en passant geltend, daß der Utilitarismus notwendigerweise system- und damit die Ungleichheiten reproduzierend wirke, weil die Präferenzen unter dem Einfluß der bestehenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse geformt würden 49. Doch soll Dworkins Kritik des Utilitarismus hier nicht weiterverfolgt, vielmehr der konstruktive Teil seiner Moralphilosophie eingehender betrachtet werden. Denn Dworkin hat wiederholt herausgestellt, daß es ihm nicht nur um eine Korrektur des Utilitarismus, um seine Reinigung von dem den egalitären Charakter korrumpierenden Einfluß externer Präferenzen geht, sondern um eine Ersetzung durch eine völlig andere moralische Theorie, nämlich eine Theorie der Individualrechte 50.
III. Theorie der Rechte gegen den Staat Die von Dworkin ins Auge gefaßte Moraltheorie politischen Handelns ist "right-based", auf Rechte gegründet. Bevor man sich der Frage zuwenden 48 Vgl. zu Dworkins Konzeption der Freiheit oben Kapitel 2 II 4 c. 49 Dworkin, MP, S. 204. Diesem Vorwurf sieht sich allerdings auch Dworkins eigene Theorie prinzipiengetreuen politischen Handelns ausgesetzt. Vgl. dazu im Hinblick auf die Anwendung dieser Theorie in der Rechtsprechung Kapitel 5 II 3 a. 50 Dworkin, TRS, S. 357; A Reply, S. 282; MP, S. 370.
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kann, was Dworkin unter einer auf Rechten basierenden Theorie politischer Moral versteht, ist es notwendig, sich mit Dworkins Verständnis eines politischen (Individual-)Rechts vertraut zu machen. Im folgenden geht es ausschließlich um Rechte einzelner gegen den Staat oder die Gemeinschaft als ganze oder die Regierung, nicht aber um Rechte gegen andere Individuen. Rechtsinhaber können nach Dworkin neben dem einzelnen Menschen auch juristische Personen und unter Umständen bestimmte Gruppen sein. Wesentlich für Dworkins Begriff eines Rechts ist, daß dem Staat oder der Gemeinschaft als Ganzer keine (Individual-)Rechte zustehen können .
1. Rechte als Trümpfe
"Rights are best understood as trumps over some background justification for political decisions that states a goal for the community as a whole"52. Wenn jemand ein Recht auf etwas hat, dann heißt das für Dworkin, daß es "for some reason" falsch ist, wenn eine Amtsperson nicht gewährt, worauf sich das Recht richtet, auch wenn sie (richtigerweise) denkt, daß die Gemeinschaft als Ganze damit besser daran wäre 53 . In dieser Konzeption eines Rechts schimmert Dworkins Modell einer allgemeinen politischen Theorie durch. Er versteht darunter, wie gesagt, ein Paket, geschnürt aus einer allgemeinen Rechtfertigung politischer Entscheidungen und einem Set von Trumpfrechten 54. Man könne sich nun entweder dem großen Unternehmen abstrakter politischer Moral zuwenden, ein ganz neues Bündel zu schnüren, oder sich der weniger umfassenden Aufgabe des Rechtspraktikers und insbesondere Richters unterziehen, in einer sogenannten "working political theory" die politischen Rechtfertigungsmuster als gegeben hinzunehmen und nur ein Paket von Trumpfrechten zu konzipieren, das die allgemeine Rechtfertigung in bestimmten Fällen aussticht55. Aus diesen unterschiedlichen Ansprüchen einer abstrakten und einer politischen Arbeitstheorie (working political theory) erklärt sich, warum Dworkin manchmal von einer anti-utilitaristi51 Dworkin, TRS, S. 91 Fn. 1; TRS, S. 354. 52 Dworkin, MP, S. 359. 53 Vgl. z.B. Dworkin, TRS, S. XI; MP, S. 198. 54 Dworkin, A Reply, S. 281 und oben 12. 55 Dworkin, A Reply, S. 281; LE, S. 222 f.
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sehen Konzeption eines Rechts und manchmal allgemein von einem Trumpfrecht spricht 56. Auf der Ebene abstrakter politischer Moral sind Rechte ihrer Struktur nach Trumpfrechte über die ansonsten hinreichenden allgemeinen Rechtfertigungsgründe. Auf der Ebene der working political theory sind diese Trumpfrechte speziell anti-utilitaristische Rechte, also Rechte, die die derzeit üblichen utilitaristischen Rechtfertigungmuster übertrumpfen. Dworkins Definition 57 von Rechten als Trümpfen ist insofern formal, als sie offenläßt, welche Rechte wir haben, wann also die allgemeine Rechtfertigimg nicht durchgreift 58. Sie ist problematisch, da Dworkin es zuläßt, daß ein Recht in bestimmten Ausnahmesituationen, in denen eine klare und gegenwärtige Gefahr für die allgemeine Wohlfahrt besteht (emergencies), sich ausnahmsweise nicht gegenüber der allgemeinen Rechtfertigung durchsetzt 59. Und sie zeigt an, daß Rechte in Dworkins Konzeption variabel und relativ zur gerade herrschenden Theorie politischer Rechtfertigimg sind. Es läßt sich nicht ein für alle Mal und unabhängig von den politischen Institutionen und Praktiken einer Gemeinschaft bestimmen, welche Rechte uns zustehen60. Das einprägsame Bild eines Individualrechts gegen den Staat als eines Trumpfs im politischen Paket darf nicht dazu verführen, in einem Fall, in dem man ein Recht auf etwas zu haben glaubt, diesen Anspruch allein damit begründen zu wollen, daß es falsch wäre, einem das, worauf das Recht sich richtet, zu versagen. Damit ist nämlich nur die Trumpfstruktur eines Rechts wiedergegeben, nicht aber ein Recht begründet worden. Dazu bedarf es einer Begründung, warum es falsch ist, das Beanspruchte zu versagen.
2. Trumpfrechte
als anti-utilitaristische
Rechte
Wenn in einer Gemeinschaft politische Entscheidungen im allgemeinen allein mit utilitaristischen Erwägungen gerechtfertigt werden, so ist nach 56 Vgl. z.B. Dworkin, TRS, S. XI, XV, 269. 57 Dazu, ob die Konzeption des Rechts als Trumpf nicht nur als Definition, sondern auch als Interpretation der Rechtspraxis verstanden werden kann, hat sich Dworkin noch nicht geäußert. 58 Dworkin, TRS, S. 90; A Reply, S. 181. 59 Dworkin, The Rights of Μ. Α. Farber: An Exchange, S. 40 und TRS, S. 354. 0 Dworkin, TRS, S. 3
.; MP, S.
7.
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Dworkin zunächst eine Prognose anzustellen, ob ex ante betrachtet eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß eine bestimmte politische Entscheidung nicht in fairer Weise die persönlichen Präferenzen der Mitglieder der Gemeinschaft reflektiert, sondern externe Präferenzen, die auf Vorurteilen beruhen, zum Ausdruck bringe. Ist dies der Fall, so bestehe ein Recht gegen die fragliche politische Entscheidung61. Die Prognoseentscheidung des Entscheidungsträgers beruhe auf seinem Wissen über die Gemeinschaft und seinen allgemeinen Vorstellungen von der Natur des Menschen, insbesondere der Möglichkeit der Korruption menschlicher Entscheidungen durch Vorurteile. Verlangt werde ein interpretive judgment innerhalb des sozialen Rahmens der Gemeinschaft 62. Vorstehende Konzeption eines Trumpfrechtes korrigiert die Mängel des utilitaristischen Kalküls dadurch, daß sie allen Entscheidungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Vorurteile korrumpiert sind, genau diejenigen Rechte entgegenstellt, die wir brauchen, damit auch im Rahmen einer utilitaristischen Ethik politischen Handelns alle Gemeinschaftsmitglieder als Gleiche behandelt werden. Dworkins Prognosemodell gibt nur an, wann eine Entscheidung falsch ist, nicht aber, wem das Trumpfrecht zusteht. Das ist für Dworkin offenbar so selbstverständlich, daß es keiner Begründung bedarf. Träger des Trumpfrechtes ist die Person, der durch die Entscheidung equal concern and respect verwehrt würde. D.h. aber nicht - wie eine Textstelle es nahelegt 63 -, daß das Recht von seinem Inhaber geltend gemacht werden müßte, damit die übertrumpfte Entscheidung falsch ist.
3. Rechte in vorurteilsfreien politischen Gemeinschaften und in " wicked political systems "
Dworkins allgemeine Konzeption des Individualrechts als Trumpf, nicht nur speziell als anti-utilitaristisches Recht, bedeutet, daß es grundsätzlich gegen jede politische Rechtfertigung, die in der Gemeinschaft gerade en
61 Dworkin, MP, S. 197; Social Science and Constitutional Rights, S. 10 ff. 62 Dworkin, Social Science and Constitutional Rights, S. 3 ff., 10. 63 Dworkin, TRS, S. 169. Auf die Mißverstfindlichkeit dieser Textstelle hat auch Raz, Professor Dworkin's Theory of Rights, S. 127 hingewiesen.
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vogue ist 64 , bestimmte Trumpfrechte gibt. Diese Trumpfrechte - Dworkin bezeichnet sie als politische, moralische oder Hintergrund-Rechte 65 - bestehen unabhängig davon, ob die Institutionen der Gemeinschaft sie anerkennen. Die von Dworkin herausgestellte Abhängigkeit der Individualrechte gegen den Staat von der in einer Gemeinschaft herrschenden Theorie der Rechtfertigung politischer Entscheidungen und die Anfälligkeit dieser Theorie, in der Gemeinschaft bestehende Vorurteile zu reproduzieren, legt folgenden Schluß nahe: In einem System, das seine politischen Entscheidungen utilitaristisch rechtfertigt, müssen Rechte verschwinden, je toleranter und liberaler die Gemeinschaft bezüglich abweichender Lebensweisen in der Gemeinschaft wird, denn um so kleiner wird die Gefahr der Korruption der politischen Rechtfertigung durch Vorurteile. Hart macht geltend, daß bei einer solchen Liberalisierung der Gesellschaft nicht weniger Rechte bestünden, sondern nur weniger Gelegenheit und Notwendigkeit, auf diese zu pochen. Daß eine tolerantere Gesellschaft weniger Rechte anerkenne, sei paradox 66. Diesem Einwand liegt die Vorstellung zugrunde, eine "bessere" Gesellschaft sei eine Gesellschaft, in der der einzelne mehr Rechte habe. Das geht an Dworkins Konzeption eines Rechts als Trumpf vorbei. Wenn man Rechte mit Dworkin funktional als Korrektiv und in Charakter und Stärke variabel versteht 67, so ist nicht eine Gemeinschaft besser, in der der einzelne mehr Trumpfrechte hat, sondern eine Gemeinschaft, deren allgemeines Rechtfertigungsprinzip politischen Handelns möglichst wenig Korrekturen durch Trumpfrechte nötig macht. Am besten ist daher eine Gemeinschaft, die schon zur allgemeinen Rechtfertigung politischer Entscheidungen das Prinzip gleicher Achtung und Sorge heranzieht. Gegen einzelne "stupid or wicked political decisions"68 in einer im allgemeinen die Gleichheit achtenden Gesellschaft sind Trumpfrechte gegeben. Das gilt a fortiori auch dann, wenn noch nicht einmal die allgemeine Hintergrundmoral der Gemeinschaft im konkreten Fall eine Rechtfertigung für die politische Entscheidung abgibt. Gemeint ist etwa der Fall einer Gemeinschaft, die einer am Gemeinwohl orientierten Rechtfertigung politi64 Dworkin, TRS, S. 366 nennt die politischen Ziele militärischer Macht und nationaler Größe als Beispiele. 65 Vgl. z. B. Dworkin, TRS, S. 101,326 f., 364 f. 66 Hart, Between Utility and Rights, S. 213. 67 Dworkin, TRS, S. 139. 68 Dworkin, MP, S. 370.
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scher Entscheidungen folgt, wenn in ihr eine politische Entscheidung getroffen wird, die zum einen das Recht auf gleiche Achtimg verletzt und zum andern nicht einmal mit dem Gemeinwohlinteresse rechtfertigbar ist, vielmehr allein privaten Interessen dient 69 . In einem politiscen System dagegen, das seinen Bürgern prinzipiell die gleiche Sorge und Achtimg verweigert, wo es also an jeglicher politischen Rechtfertigung einer Entscheidung fehlt, hat die Idee von Rechten als Trümpfen nach Dworkin keinen Platz. Nicht zutreffend ist allerdings Harts Polemik, daß, wenn alle Mitglieder der Gemeinschaft gleich schlecht behandelt würden, dem Erfordernis des equal concern and respect genüge getan sei, da alle mit dem gleichen (geringen) Grad von Respekt behandelt würden 70. Das Prinzip gleicher Sorge und Achtung verlangt zunächst einmal concern , Sorge um den Anderen, und diese wird durch ein gleiches Maß der Geringachtung aller gerade nicht gezollt71. Daß in einer durch und durch ungerechten Gesellschaft keine Trumpfrechte bestehen, erklärt Dworkin vielmehr damit, daß Rechte Gründe gegen prima facie-Gründe politischer Theorie sind, und ein menschenverachtendes Tyrannenregime, das die grundlegendsten Forderungen politischer Moral mißachtet, noch nicht einmal prima facie-Gründe seiner politischen Entscheidungen liefert 72 . Als Beispiel dienen Dworkin Hitler und Nero: "...the evil these monsters caused could find no support even in the background justification of any such (plausible; C. B.) theory" 73. D. h. im Hinblick auf solche Gesellschaften, in denen es gegen jede politische Entscheidung ein Trumpfrecht geben müßte, läßt sich überhaupt nicht mehr von einer rechtfertigenden politischen Theorie sprechen. Daher ist auch die Idee der Trumpfrechte fehl am Platze74.
69 Dworkin, TRS, S. 364 f. 70 Hart, Between Utility and Rights, S. 221. 71 Dworkin, MP, S. 370 f. 72 Dworkin, MP, S. 370 f.; ähnlich MP, S. 110. 73 Dworkin, MP, S. 370. 74 Anders wäre es nur, wenn man z.B. die nationalsozialistische Rassenideologie als Versuch der Rechtfertigung der Greueltaten verstünde, und - so "unplausibel" eine solche Theorie auch ist · ihr einen prima facie-Rechtfertigungscharakter zubilligte. Dann wäre auch hier eine korrigierende Theorie der Trumpfrechte zu entwickeln. Eine solche Sichtweise legt eine von Dworkin geäußerte, später von ihm in Frage gestellte Auffassung nahe, nach der ein Moralprinzip nur "der Form nach" zu definieren sei, so daß es unmoralische Moralprinzipien geben könne. Vgl. Dworkin, TRS, S. 343; A Reply, S. 299 Ν. 4 und unten Kapitel 4 II 4.
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IV. Eine auf Rechte bauende ("right-based") Theorie politischen Handelns
L Zum Begriff einer "auf Rechte bauenden " Theorie
Dworkin möchte nicht nur bestehenden utilitaristischen Rechtfertigungmustern im Rahmen einer "working political theory" anti-utilitaristische Rechte entgegenstellen. Sein Anspruch ist es vielmehr, eine "right-based political theory" zu entwickeln, also - in der jetzt bekannten Metaphorik ein neues, auf Rechte gründendes Paket zu schnüren. a) Drei Bedeutungen von "right-based ' Mackie hat drei Bedeutungen des Satzes, eine Theorie sei "X-based", unterschieden: (l)"...an X-based theory is one which takes 'X'as its only undefined term, and defines other moral terms in relation to 'X'"; (2)"...a moral theory is Xbased if it forms a system in which some statements about Xs are taken as basic and the other statements in the theory are derived from them..."; (3)"...it should be such a system not merely formally but in its purpose, that the basic statements about Xs should be seen as capturing what gives point to the whole moral theory" 75. Right-based im ersten Sinne ist Dworkins Theorie nicht. Ein Recht wird als Trumpf über ein Ziel innerhalb einer Theorie definiert 76. Es setzt somit den Begriff des Ziels schon voraus. Dagegen beansprucht Dworkins Theorie ight-based nicht nur im zweiten, sondern auch im dritten Sinne zu sein. Die Aussagen über Rechte sind nicht nur die grundlegenden Aussagen der Dworkin'schen Theorie, vielmehr das, worum es in der Theorie geht: Taking Rights Seriously 77 b) Beispiele für right-based Theorien Näheren Aufschluß darüber, was Dworkin unter einer right-based Theorie versteht, könnten seine Beispiele geben. Dworkin interpretiert
75 Mackie, Can There Be a Right-Based Moral Theory?, S. 180. 76 Dworkin, TRS, S. 169. 77 Vgl. z.B. Dworkin, TRS, S. 171.
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Rawls' Theorie der Gerechtigkeit als eineright-based Theorie , und möchte zeigen, daß Rawls' Theorie und insbesondere ihr Vertragsmodell implizit auf dem Gedanken aufbaut, daß Menschen Rechte haben, die nicht das Produkt einer Setzung, von Konventionen oder eines hypothetischen Vertrages, sondern die in diesem Sinne "natürlich" sind 79 . en
Dworkins zweites Beispiel ist die Revolutionstheorie Thomas Paines . Paine hat in "The Rights of Man" (1791/92) die Prinzipien der französischen Revolution verteidigt und eine Naturrechtstheorie entwickelt, deren zentrale Aussage es ist, daß alle Menschen mit gleichen Rechten geboren sind. Paine erklärt den Ursprung der Rechte des Menschen, wie den Ursprung des Menschen selbst, durch die Schöpfung. Auf diese natürlichen Rechte gründet Paine die bürgerlichen Rechte, also diejenigen Rechte, die dem Menschen als Glied der Gesellschaft zukommen. Die bürgerliche Macht besteht nach Paine aus der Summe derjenigen natürlichen Rechte des Menschen, die geltend zu machen das einzelne Individuum nicht die Macht hat und sie deshalb in den gemeinsamen Fundus wirft. Bürgerliche Rechte sind danach aus natürlichen Rechten abgeleitete Rechte, die in der Gesellschaft durch das Individuum selbst nur noch unvollkommen verwirklichbar sind, die aber in einem Punkt, der bürgerlichen Macht, gesammelt ihre Funktion erfüllen (z.B. die Rechte auf Sicherheit und Schutz). Ein legitimes Regierungssystem gründe sich auf die natürlichen, dem Menschen innewohnenden Rechte81. Paine zieht mithin eine Linie von der Schöpfung über die Geburt eines jeden einzelnen Menschen bis hin zur politischen Macht, die als Summe der nur kollektiv verwirklichbaren natürlichen Rechte des Menschen verstanden wird. c) Right-based Theorien als Naturrechtstheorien? Es liegt nahe, aus Dworkins Interpretation der Rawls'schen Theorie und dem Beispiel Paines zu schließen, eineright-based Theorie sei eine auf natürliche Rechte gründende Theorie. Dworkin selbst gebraucht verschiedentlich den Ausdruck "natürliche Rechte"82 und er spielt mit dem Etikett "Naturrecht" ("Suppose it is natural law. - What in the world is wrong with 78 Rawls selbst hält Dworkins dreigliedriges Klassifikationsschema - Dworkin unterscheidetright-based, duty-based und goal-based Theorien - für zu eng und zieht eine Klassifikation seiner Theorie als conception - oder ideal-based vor. Vgl. Rawls, Justice as Fairness: Political not Metaphysical, S. 236 Fn. 19. 79 Dworkin, TRS, S. 176. 80 Dworkin, TRS, S. 172. 81 Vgl. Paine, Die Rechte des Menschen, S. 156 -165,275 f. Dworkin, TRS, S.
f.; MP, S. 3 7 .
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it?") . Jede metaphysische Begründung von Rechten aber weist Dworkin von sich 84 , und er beansprucht, eine dritte Theorie zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht zu entwickeln85. Es ist daher fraglich, was Dworkin mit dem Begriff "natürliche Rechte" meint. Anders als in einer Theorie, die Rechte auf die Natur des Menschen gründet, ist es in Dworkins Theorie eine Frage konstruktiver Theorienbildung, welche Rechte wir haben. Nur insofern, als diese Theorienbildung auf das Gleichheitsprinzip als grundlegenden Wert angewiesen ist, baut sie letztlich doch auf einer Vorstellung von der Natur des Menschen, nämlich der dem Gleichheitsprinzip zugrundeliegenden Idee der Autonomie des Menschen auf. Natürliche Rechte sind nach Dworkin diejenigen Rechte, die von jeder vertretbaren politischen Theorie anerkannt werden müssen . Offen bleibt, welche Rechte dies sind. Es gibt also nach Dworkin politische Entscheidungen, die von keiner auch nur prima facie plausiblen Theorie politischer Moral gerechtfertigt werden können, die unter jeder möglichen Sichtweise, somit universal falsch sind. Diese Annahme Dworkins ist nicht unproblematisch. Es läßt sich vermuten, daß die universal falschen Entscheidungen in Dworkins Augen solche sind, die einem Mitglied der Gemeinschaft equal concern and respect verweigern. Dworkin betont jedoch mehrfach, daß Individualrechtstheorien auch auf andere Ideen als das Prinzip gleicher Sorge und Achtung gegründet werden können87. Warum nun aber Theorien, die auf ganz unterschiedlichen Grundgedanken fußen, gleichwohl im Wege konstruktiver Theorienbildung zu einem gemeinsamen Stamm somit universaler Rechte gelangen sollen, ist begründungsbedürftig. Erklärlich wird diese Annahme unter der Voraussetzung, daß Dworkin hier unausgesprochen einem Naturalismus anhängt, demzufolge bestimmte Tatsachen notwendig relevante Kriterien moralischer Wertungen sind 88 , die daher in einem gewissen Kernbereich moralischer Überlegungen übereinstimmend ausfallen. Dworkin kann für das Bestehen sogenannter natürlicher, universaler Rechte aber nicht auf einen weltweit anerkannten (wenn auch de facto nicht 83 Dworkin, "Naturar Law Revisited, S. 165. 84 Dworkin, TRS, S. 176. 85 Vgl. oben Einführung III und Kapitel 112. 86 Dworkin, TRS, S. 365 ("universal human rights"); MP, S. 370 ("natural rights"). 87 Dworkin, TRS, S. 272,356. 88 Vgl. für eine der Dworkin'schen Position nahekommenden Konzeption des Naturalismus Warnock, Contemporary Moral Philosophy, S. 68 (Naturalismus, S. 348). In "Natural" Law Revisited, S. 165 bezeichnet Dworkin seine Theorie der Rechtsprechung als Naturalismus.
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respektierten) Katalog von Menschenrechten verweisen. Da nämlich in Dworkins Theorie equal concern and respect nur GemeinschaftsmitgUedern geschuldet ist 89 , sind die in Dworkins Moraltheorie herleitbaren Rechte typischerweise Bürger-, nicht Menschenrechte90. Die insbesondere durch das Beispiel Paines nahegelegte Deutung des Begriffs right-based als naturrechtlich ist zum einen irreführend, da Dworkin den Gedanken universaler Rechte nur kurz und eher am Rande andeutet und damit in der Sache nicht über das hinausgeht, was Hart als Minimalinhalt des Naturrechts bezeichnet91. Wenn Hart darob den Titel eines "Naturrechtlers" nicht verdient, dann auch Dworkin nicht. Zum zweiten ist mit der Etikettierung Naturrecht noch überhaupt nicht geklärt, in welcher Weise Dworkin Individualrechten einen zentralen Platz in seiner politischen Theorie einräumt. Das ist eine Frage, die nur über eine Analyse der Struktur der abstrakten politischen Theorie, die Dworkin vorschwebt, zu klären ist 92 .
2. Trumpfrechte
in einer right-based Theorie
a) Das Recht auf gleiche Achtung und Sorge in einerright-based Theorie Dworkins Anspruch einerright-based Theorie wurde u. a. dahingehend verstanden, daß der Respekt vor Rechten zu maximieren, die Verletzung von Rechten zu minimieren sei, womit man bei einem "Utilitarismus der
na Rechte" angelangt wäre . Daran würde sich auch nichts dadurch ändern, daß Dworkin - eingestandenermaßen in Abweichung vom normalen Sprachgebrauch - die Respektierung von Rechten nicht als ein Ziel (goal ) auffaßt 94. Doch die Deutung einerright-based theory im Sinne eines Utilitarismus der Rechte geht fehl. Denn das Prinzip der Maximierung des Respekts der 89 Dworkin, LE, S. 199,213 und oben Kapitel 2 II 3 b. 90 Vgl. z.B. Dworkin, TRS, S. 184,186,190,192. 91 Hart, The Concept of Law, S. 189 ff.; vgl. auch Hart, Are there Any Natural Rights?, S. 175, wo Hart ein natürliches, gleiches Recht, frei zu sein, bejaht. 92 Vgl. oben 12 zu den beiden "Paketen" politischer Theorie (abstrakte politische Theorie und working political theory). 93 So Sartorius, Dworkin on Rights and Utilitarianism, S. 207. Der Begriff "Utilitarismus der Rechte" stammt von Nozick, Anarchy, State, and Utopia, S. 28. 4 Dworkin, TRS, S.
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Individualrechte ist als allgemeines Rechtfertigungsprinzip politischen Handelns inhaltsleer, wenn man Dworkins Konzeption des Rechts als Trumpf zugrundelegt. Dieses Prinzip besagt dann nämlich nichts anderes, als daß allgemeines Rechtfertigungsprinzip politischen Handelns der Respekt der Rechte sein soll, die die Mitglieder der Gemeinschaft gegen falsche Entscheidungen haben. Was aber politisch-moralisch falsch ist, ist noch offen. In Dworkins Modell einer politischen Theorie als eines Pakets aus einem allgemeinen Rechtfertigungsprinzip und gegensteuernden Trumpfrechten 95 kann nicht schon das allgemeine Rechtfertigungsprinzip politischen Handelns die Respektierung der Trumpfrechte sein, weil Trumpfrechte ex definitione nur Korrektive politischen Handelns sind. Das von Dworkin seiner abstrakten politischen Theorie zugrundegelegte und als allgemeines Rechtfertigungsprinzip politischen Handelns dienende fundamentale Recht auf gleiche Sorge und Achtung 96 ist daher kein Trumpfrecht im definierten Sinne, sondern "a right so fundamental that it is not captured by the general characterization of rights as trumps over collective goals, except as a limiting case, because it is the source both of the general authority of collective goals and of the special limitations on their authority that justify more particular rights" 97. Vielleicht sei es überhaupt irreführend, von einem "Recht" auf Behandlung als Gleicher zu sprechen 8 . Das Prinzip des equal concern and respect sieht Dworkin auf einem abstrakten Niveau als einheitliche Wurzel ("deep political ideal") sowohl des allgemeinen Rechtfertigungsprinzips politischen Handelns als auch der im Einzelfall korrigierenden Trumpfrechte an 99 . Dworkin schwebt eine abstrakte politische Theorie vor, die nicht antagonistisch ist wie etwa eine working political theory, deren allgemeinem Rechtfertigungsprinzip (z.B. dem utilitaristischen Nützlichkeitsprinzip) Trumpfrechte entgegenstehen, die auf einen anderen Gedanken (z.B. den der menschlichen Würde und Autonomie) gegründet sind. Die abstrakte politische Theorie soll eine auf einer tieferen Ebene in der Idee des equal concern and respect vereinte Theorie sein 100 .
95 Vgl. Dworkin, A Reply, S. 281; LE, S. 222. 96 Dworkin, A Reply, S. 281; LE, S. 222. 97 Dworkin, TRS, S. XV, 368. 98 Dworkin, TRS, S. 368. 99 Dworkin, TRS, S. 367. 100 Dworkin, TRS, S. 367 f.
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Problematisch im Rahmen von Dworkins Theorie ist, wie aus dem moralischen Prinzip der Behandlung als Gleicher konkrete kollektive gesellschaftliche Ziele gewonnen werden sollen. Als ein Beispiel zur konkreten Durchführung des Denkmodells können die von Dworkin diskutierten und gerechtfertigten Fälle von "affirmative action" dienen 101 . Das sind Fälle, in denen einer Unterrepräsentierung z.B. einer rassischen Minderheit etwa an den Hochschulen durch eine Programm entgegengewirkt wird, das dieser Minderheit erleichterte Zugangsmöglichkeiten eröffnet. Dworkin faßt hier Gleichheit als gesellschaftliches Ziel auf. Eine gleichere Gesellschaft sei eine gerechtere Gesellschaft. Das rechtfertige die umgekehrte Diskriminierung zugunsten einer von der Mehrheit in der Gemeinschaft geringgeachteten rassischen Minderheit zu Lasten der rassischen Mehrheit 1 2 . b) Relativität und Exklusivität der Begründung von Rechten aus dem Prinzip gleicher Sorge und Achtung Dworkin weist veschiedentlich darauf hin, daß weder die von ihm behaupteten Rechte noch die von ihm benutzte Methode zur Begründung dieser Rechte exklusiv gemeint seien 103 . D.h. wir hätten nicht notwendig nur die Rechte, die aus dem Prinzip des equal concern and respect zu gewinnen seien (aber zumindet diese), und eine auf dieses Prinzip gründende Moraltheorie sei nicht der einzige Weg zur Begründung von Rechten. Dworkin bezeichnet das Prinzip der Behandlung als Gleicher zwar einerseits als fundamental, axiomatisch und als Quelle jeder politischen Rechtfertigimg 104 . Damit bezieht er sich auf das von ihm geschnürte Paket abstrakter politischer Moral und seine anti-utilitaristische "working political theory. Andererseits aber meint er, das Prinzip gleicher Sorge und Achtung sei nur eine von mehreren möglichen Begründungen politischer Moral im allgemeinen und von Individualrechten im besonderen 105. Dieses Zugeständnis Dworkins an andere, konkurrierende Theorien politischer Moral ist nicht unproblematisch. Denn wenn nach Dworkin andere, nicht auf die Idee der Gleichheit bauende Theorien politischer Moral den gleichen Anspruch auf Richtigkeit haben, so verträgt sich dies nicht mit dem Wahrheitsanspruch der besten Moraltheorie 106 . Es ist für Dworkins These von der richtigen Antwort in moralischen und rechtlichen Fragen essentiell,
101 Vgl. Dworkin, TRS, S. 223 ff.; MP, S. 293 ff., 304 ff., 316 ff. 102 Dworkin, TRS, S. 232. 103 Dworkin, TRS, S. XIV f., 272,356. 104 Dworkin, TRS, S. XV, 227,272,356,368; MP, S. 190. 105 Dworkin, TRS, S. 272,356. 106 Vgl. dazu oben Kapitel 2 III.
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daß zwischen verschiedenen moralischen Grundwerten oder -prinzipien eine begründete Wahlentscheidung getroffen werden kann. Jede interpretativ gewonnene Antwort auf eine Frage politischer Moral ist - wie schon oben festgestellt 107 - relativ zu dem axiomatisch gesetzten letzten Wert. Das beeinträchtigt Dworkins These von der richtigen Antwort nur dann nicht, wenn er davon ausgeht, daß auch unter diesen letzten, nicht weiter interpretativ begründbaren Werten es einen "besten" oder ein bestimmtes "bestes" Bündel fundamentaler Werte gibt. Konsistenterweise dürfte Dworkin daher dies Zugeständnis an alternative Theorien politischer Moral nicht machen.
3. Rechte, Pflichten und Ziele (rights, duties, goals)
a) Rechte und Pflichten Ein weiterer Schlüssel zu Dworkins Verständnis einer right-based Theorie ergibt sich aus seiner Unterscheidung dreier Arten von Theorien, nämlich auf Rechte, auf Pflichten und auf Ziele gründender (i right-based , duty-based und goal-based) Theorien. Gegen Dworkins Unterscheidung von right-based und duty-based Theorien wurde geltend gemacht108, sie funktioniere deshalb nicht, weil Dworkin Rechte durch Pflichten definiere, denn seiner Auffasssung nach habe ein Bürger genau dann ein Recht auf X, wenn den Staat eine Pflicht treffe, dem Bürger X nicht zu verwehren. Wenn aber jeder Satz, der ein Recht gegen den Staat behaupte, in einen Satz, der eine Pflicht des Staates behaupte, umformulierbar sei, und zugleich Rechte durch Pflichten definiert würden ("a man has a moral right against the state if for some reason the state would do wrong to treat him in a certain way" 109 ), dann könne nicht einer der Sätze dem anderen logisch vorgehen. Folglich schlage die Klassifikation von Theorien alsright-based oder duty-based fehl. Es sind hier eine logische und eine normative Frage zu trennen. Logisch besteht bei Dworkin kein Vorrang von Rechten gegenüber Pflichten, weil Rechte durch Pflichten und Pflichten durch Rechte definiert werden kön107 S.o. Kapitel 2 III 5. 108 Vgl. die Einwände von Waldron, Theories of Rights, S. 12 und MacCormick, Dworkin as Pre-Benthamite, S. 193. 109 Vgl. Dworkin, TRS, S. 139.
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nen. Dworkin selbst stellt fest, daß seine Definition eines Rechts (auch) insofern formal sei, als sie offenlasse, ob der Staat die Pflicht habe, weil der Bürger ein Recht habe, oder ob der Bürger ein Recht habe, weil der Staat die Pflicht habe 110 . Die Frage aber, ob das subjektive Recht oder die Pflicht das Primäre ist, ist eine normative Frage, die nach einer rechtfertigenden Antwort verlangt und durch die logische Korrelation von Rechten und Pflichten nicht beantwortet wird 1 1 1 . So zumindest lassen sich Dworkins terminologisch eigenwillige Ausführungen zu "Korrespondenz", "Korrelation" und "Derivation" von Rechten und Pflichten verstehen 112. Danach sind auf der normativen Ebene, auch bei einem Korrelationsverhältnis von Rechten und Pflichten, duty-based von right-based Theorien dadurch unterschieden, daß die Begründungslast umgekehrt verteilt ist. Wird etwa die Pflicht, nicht zu lügen, damit begründet, daß nur dann der einzelne sein Leben im Vertrauen auf das Wort anderer gestalten kann, so ist dies eine right-based Begründung, während eine Ableitung dieser Pflicht daraus, daß der Lügner eine Pflicht seiner eigenen Vernunft gegenüber verletzt und sich als rationales Wesen nicht vervollkommnet (Kant), eine duty-based Begründimg ist 1 1 3 . Right-based Theorien lassen sich von duty-based Theorien nach allem durch die unterschiedliche Richtung der Rechtfertigung unterscheiden. Eine simple Überlegung spricht nach Dworkin dafür, daß unser politisches Denken tatsächlichright-based in dem Sinne ist, daß das Recht die Pflicht begründet. So stritten wir häufig über Rechte, ohne eine genaue Vorstellung zu haben, gegen welche Institution das strittige Recht sich richte 114 . Die als Anspruchsdenken bezeichnete Geisteshaltung ist danach right-based . 110 Dworkin, A Reply, S. 280, das Argument von TRS, S. 171 wiederholend. 111 Dworkin, TRS, S. 171. 112 Dworkin, TRS, S. 171. Dworkins häufiger Gebrauch des Ausdrucks "claim of right und sein Begriff von "liberty deuten auf eine Übernahme Hohfeld'scher Kategorien hin, welche er einmal auch explizit einführt (TRS, S. 308; MP, S. 375). Hohfeld (Some Fundamental Legal Conceptions, S. 36, 71) unterscheidet zwischen den korrelativen Begriffen right!claim einerseits und duty andererseits sowie den korrelativen Begrifen privilege/liberty einerseits und noright andererseits. Die Korrelation von Recht und Pflicht ist bei Hohfeld eine logische Beziehung. Dworkin vermengt terminologisch diese logische Beziehung der Korrelation ("correlated, as opposite sides of the same coin"), die er nur gegeben sieht, wenn Recht und Pflicht beide durch ein Ziel (goal) gerechtfertigt werden, mit der normativen Frage der Rechtfertigung einer Pflicht durch ein subjektives Recht, deren Verhältnis "corresponding", "not correlative, but... derivative" sei (TRS, S. 171). Unklar ist, ob Dworkin auch Pflichten des Staates kennt, denen kein subjektives Recht eines Bürgers entspricht. 113 Vgl. hierzu Waldron, Right-based Arguments for Private Property, S. 63 - 65. 114 Dworkin, LE, S. 173; so auch schon Waldron, Right-based Arguments for Private Property, S. 60 f.
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b) Rechte und Ziele Wichtiger für Dworkins Theorie der moralischen Rechtfertigung politischen Handelns als die Unterscheidung von Rechten und Pflichten ist die Unterscheidung von Rechten und Zielen. Daß die Unterscheidung von right-based und goal-based Theorien für Dworkin problematisch ist, ergibt sich indessen schon daraus, daß er die Respektierung von Rechten (und die Durchsetzung von Pflichten) entgegen dem üblichen Sprachgebrauch nicht als ein Ziel betrachtet 115. Dworkin grenzt subjektive Rechte und gesellschaftliche Ziele {goals ), die er beide unter dem Oberbegriff "political aims" zusammenfaßt, auf zweierlei Weise voneinander ab. Klassifikationskriterien sei erstens der individuierte Charakter der Rechte. Rechte seien "individuated ' political aims, Ziele " nonindividuated political aims. Da sowohl Rechte als auch Ziele "political aims" seien, seien sie kommensurabel und gegeneinander abwägbar 116. Zweites Abgrenzungskriterium ist das Gewicht der beiden Arten politischer "aims" in der Abwägung, also der Trumpfcharakter der Rechte. Dazu zunächst. Der Trumpfcharakater der Rechte wird als Unterscheidungskriterium dadurch fragwürdig, daß Rechte sich Dworkin zufolge nicht in allen Fällen gegenüber kollektiven Rechtfertigungen (Zielen) durchsetzen. In sogenannten Fällen "of emergency", in denen eine klare und gegenwärtige Gefahr bestehe, daß die Gemeinschaft einen dramatischen Verlust erleide, könne 117
ausnahmsweise einmal ein Ziel gewichtiger als ein subjektives Recht sein . Der Trumpfcharakter der Rechte gegenüber Zielen ist mithin zwar ein typisches Kennzeichen von Rechten. Aber das Überwiegen eines Grundes gegenüber einem anderen ist kein eindeutiges und zwingendes Indiz, daß der überwiegende Grund ein Recht ist 1 1 8 . Nur ein absolutes Recht 11 , d.h. ein Recht, das in jeder Situation stärker als jede kollektive Rechtfertigung wäre, also jedes Ziel ausstäche, wäre durch den Trumpfcharakter strikt klassifikatorisch von einem Ziel abgegrenzt. Der Trumpfcharakter eines Rechts muß sich in einem Abwägungsprozeß bewähren. Dieser Prozeß wird von Dworkin mit Hilfe der Begriffe 115 Dworkin, TRS, S. 171. 116 Dworkin, TRS, S. 91. 117 Dworkin, The Rights of Μ. Α. Farber An Exchange, S. 40. 118 So auch Raz, Professor Dworkin's Theory of Rights, S. 125 f. 119 Vgl. Dworkin, TRS, S. 92. Zur Problematik absoluter Rechte und Prinzipien in Dworkins Theorie vgl. unten Kapitel 4 II 3 b.
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konkreter und abstrakter Rechte beschrieben . Während das abstrakte Recht nicht erkennen lasse, wie es unter bestimmten Umständen gegen konkurrierende politische Ziele {goals ) und andere abstrakte Rechte abzuwägen sei, gebe das konkrete Recht das definitive Gewicht gegenüber anderen Zielen und abstrakten Rechten an. In der Formulierung des konkreten Rechts (z.B. des Rechts einer Zeitung, geheime Verteidigungspläne zu veröffentlichen, sofern dadurch Truppen nicht unmittelbar gefährdet werden), komme das Ergebnis eines Abwägungsvorganges (im Bsp. des abstrakten Rechts auf freie Rede und der Sicherheitsinteressen des Staates) zum Ausdruck
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In der Abwägung zu beachtende Regeln entwickelt Dworkin nicht systematisch. Klar aber ist, daß dieser Abwägungsprozeß dem mit der Frage Befaßten politische Entscheidungen abverlangt: "The process of making an abstract right successively more concrete is not simply a process of deduction or interpretation of the abstract statement but a fresh step in political theory" 122 . Daß ein abstraktes Recht besteht, bedeutet nach allem nicht mehr, als daß diesem political aim als Recht im allgemeinen ein gewisses Gewicht (threshold weight) gegenüber kollektiven Zielen zukommt . Ein konkretes Recht macht dagegen eine konkrete Aussage über die Gewichtung des Rechts gegenüber konkurrierenden Rechten und entgegenstehenden Zielen, so daß seine Formulierung anzeigt, daß es, eine bestimmte politische Theorie zugundegelegt, nicht gerechtfertigt wäre, die fragliche Handlung zu unterbinden, auch wenn sie in abstracto anerkannten Zielen schaden würde 124 . Bei den oben angesprochenen Ausnahmefällen (emergencies) handelt es sich demnach um Fälle, in denen ein abstraktes Recht sich trotz seines typischerweise größeren Gewichts nicht gegenüber einem kollektiven Ziel durchsetzen kann. Konkrete Rechte aber werden nie übertrumpft. Denn sie drücken ja gerade das Abwägungsergebnis aus.
120 Vgl. Dworkin, A Reply, S. 268 f., 280. 121 Dworkin, TRS, S. 93,98. Diese abwägende Ermittlung des konkreten Rechts ist geläufig. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72, 317 ff. faßt sie unter den Begriff praktischer Konkordanz; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 152 spricht von einer Optimierungsaufgabe. 122 Dworkin, MP, S. 357. Kritisch hierzu Allan, A Right to Pornography?, S. 378. 123 Dworkin, TRS, S. 92,269,365. 4 Dworkin, TRS, S. 19.
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Dworkins Unterscheidung von Rechten und Zielen ist ersichtlich strikt klassifikatorisch gemeint. Der Trumpfcharakter der Rechte läßt aber nur eine graduelle Unterscheidung nach dem Gewicht 125 bzw. eine typisierende Unterscheidung nach dem typischen Abwägungsergebnis zu. Doch Dworkin bietet mit der "Individuierung" politischer Ziele (aims) noch ein zweites Klassifikationskriterium an. Soll das von Dworkin nicht näher erläuterte Merkmal der Individuierung ein taugliches Abgrenzungskriterium zwischen Rechten und Zielen sein, so muß es mehr bedeuten als der Allgemeinplatz, daß Rechte individuelle Rechtsträger haben 126 . Das im Begriff der Individuation des politischen Ziels eingefangene spezifische Individualinteresse muß in Dworkins Theorie, das ergibt sich aus dem Trumpfcharakter der Rechte, typischerweise in einem gewissen Gegensatz zu kollektiven politischen Zielen (goals ) stehen127. Dieser in Dworkins politischer Theorie vorausgesetzte Antagonismus zwischen subjektiven Rechten und gesellschaftlichen Zielen impliziert, daß eine Rechtsverletzung in einem speziellen Schaden für ein Individuum besteht, der, auch wenn viele Individuen von der Rechtsverletzung betroffen sind, keine Vereitelung oder Beeinträchtigung gesellschaftlicher Ziele (goals) der Gemeinschaft bedeutet oder sich darin jedenfalls nicht erschöpft 1 . Daraus erklärt sich auch, warum Dworkin die Respektierung von Rechten nicht als gesellschaftliches Ziel auffaßt 129. Damit würde das Spezifische einer Individualrechtsverletzung verkannt: Die Autonomie eines jeden einzelnen Menschen ist kein kollektives Gut. Damit, daß kollektive und individuierte Ziele bei Dworkin in einem Gegensatz stehen, ist nicht gesagt, daß die Mitglieder einer Gemeinschaft auf all das ein Recht haben, was die den politischen Leitentscheidungen zugrundeliegende Moral der Gemeinschaft nicht zum kollektiven Ziel erklärt. Denn wenn dem so wäre, würde die allgemein hinreichende Rechtfertigimg politischer Entscheidungen in einer Gemeinschaft durch die sie übertrumpfenden Rechte praktisch ausgeschaltet130. Individualrechte müssen daher spezielle, individuierte Interessen 131, Persönlichkeitsinteressen schüt125 So auch Umana, Dworkin's "Rights Thesis", S. 1175. 126 So auch Raz, Professor Dworkin's Theoiy of Rights, S. 127. 127 Dworkin, TRS, S. 366. 128 Ähnlich die Interpretation Regans, Glosses on Dworkin, S. 128 ff. 129 S. ο. unter IV 2 a und Dworkin, TRS, S. 170 Fn. 1. 130 Vgl. Dworkin, TRS, S. 366. 131 Vgl. Dworkin, TRS, S. 85, wo er selbst einmal den Begriff des Interesses gebraucht.
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zen, die weder mit kollektiven Zielen zusammenfallen (sonst bräuchte und gäbe es keine Trumpfrechte) noch diesen so antagonistisch entgegenstehen, daß die Respektierung der Individualrechte einer Aufgabe der kollektiven Ziele gleichkäme. Das bedeutet, daß Rechte und Ziele in einer working political theory nicht schon auf einer abstrakten Ebene miteinander kollidieren dürfen (wie das z.B. zwischen dem Ziel nationaler Größe und einem Recht, daß Entscheidungen auf utilitaristischer Grundlage gefällt werden, der Fall wäre). Der Konflikt zwischen dem Ziel und den Trumpfrechten muß vielmehr kontingent in dem Sinne sein, daß die kollektiven Ziele prinzipiell verfolgt werden können und die Rechte das Individuum nur vor nachteiligen Nebeneffekten dieser Politik schützen132. Welche Interessen des Individuums schützenswert sind, gegen welche Effekte politischer Entscheidungen der einzelne ein Recht hat, ist keine Frage der (formalen) Definition von Rechten, sondern ihrer inhaltlichen Begründung. Dworkin leitet einzelne Rechte aus dem Ideal des equal concern and respect ab. Auch der Begriff der Individuation 133 eines politischen Ziels gewinnt vor dem Hintergund der Idee gleicher Achtung und Sorge noch eine tiefere Bedeutung. Die Behandlung als Gleicher verlangt, dem einzelnen Menschen nicht den Zugang zu seiner eigenen Identität zu verwehren 134 . Eine politische Entscheidimg verletzt ein Individualrecht (ein " individuated political aim"\ wenn sie einen spezifischen Schaden anrichtet, der die einzelne Person in ihrem Personsein und ihrer Autonomie verletzt 135 . Mit dieser Interpretation ist der Begriff der Individuation kaum erschöpfend geklärt. Es wäre an Dworkin selbst, den Begriff des "individuated political aim" inhaltlich zu füllen, nachdem sich der Trumpfcharakter als nicht hinreichendes Kriterium zur klassifikatorischen Abgrenzung von Rechten und Zielen erwiesen hat.
132 In Dworkins Beispielen sind diese Nebeneffekte stets nachteilige Auswirkungen für Minderheiten. 133 Es ist vielleicht kein Zufall, daß Dworkin statt des gebräuchlicheren Begriffs der "individualization" den Begriff der "individuation", der doch eigentlich den Prozeß der Selbst(bewußt)werdung des Menschen bezeichnet, benutzt. 134 Vgl. oben Kapitel 2 II 4 b. 135 Greift man die Unterteilung von Theorien der Rechte in Interessen- und Willenstheorien (choice-theories) auf (vgl. hierzu Waldron, Theories of Rights, Introduction, S. 9 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 164 f. mit weiteren Nachweisen), so kann Dworkins Theorie der Rechte den sogenannten Interessentheorien zugeordnet werden, nach denen eine Person ein Recht hat, wenn der Schutz oder die Beförderung eines Interesses dieser Person ein Grund ist, anderen Pflichten aufzuerlegen.
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c) "Arguments ofprinciple"
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und "arguments of policy"
Die Unterscheidung von Rechten und Zielen ist Grundlage einer anderen Unterscheidung, mit der Dworkin zulässige von unzulässsigen Argumenten im Kontext politischer Begründung, insbesondere in den Institutionen der Rechtsprechung und Gesetzgebung, sondert. Gemeint ist die Unterscheidung von arguments of principle und arguments ofpolicy 136. Ursprünglich definierte Dworkin ein "principle" als einen Standard, der beachtet werden soll, nicht weil er eine bestimmte wünschenswerte wirtschaftliche, politische oder soziale Situation befördere oder sichere, sondern weil dies ein Erfordernis der Gerechtigkeit oder Fairneß oder einer anderen Dimension der Moral sei. Demgegenüber definierte Dworkin "policies" als Standards, die ein politisches, wirtschaftliches oder soziales Ziel niederlegten 137. Diese Unterscheidung bricht, worauf Dworkin selbst hinwies, in sich zusammen, wenn man ein principle des Inhalts formuliert, daß ein Ziel moralisch wertvoll sei, oder aber eine policy , daß die Gesellschaft dem Ziel einer gerechten Ordnung näher gebracht werden solle 138 . Diese Schwäche der ursprünglichen Definition sieht Dworkin dadurch ausgeräumt, daß er die Unterscheidung von principles und policies an die Unterscheidung von Rechten und Zielen anbindet. Danach sind principles Sätze, die Rechte beschreiben, und policies Sätze, die Ziele beschreiben. Arguments of principle seien Argumente, die eine politische Entscheidung rechtfertigten, indem sie zeigten, daß die betroffene Person ein Recht auf diese Entscheidung habe; arguments of policy rechtfertigten eine politische Entscheidung, indem sie zeigten, daß ein gesellschaftliches Ziel durch sie befördert werde 139 . Diese Definitionen sind denselben Einwänden ausgesetzt wie schon die ihnen zugrundeliegenden Begriffsbestimmungen der Begriffe Recht und Ziel. Zudem widersprechen sie dem normalen Sprachgebrauch 140. Fraglich 136 Der Ausruck "policy kann mit "Zielsetzung", aber auch mit "Strategie" übersetzt werden, ersteres trifft eher das von Dworkin Gemeinte; vgl. auch die Anm. der Übersetzerin in Bürgerrechte ernstgenommen, S. 55 Fn. 7a. Im folgenden wird der englische Ausdruck beibehalten, da er zu den ausgesprochenen termini technici der Dworkin'schen Theorie zählt. 137 Dworkin, TRS, S. 22. 138 Dworkin, TRS, S. 22 f. 139 Dworkin, TRS, S. 90, 294; MP, S. 375. Wellington, Common Law Rules and Constitutional Double Standards, S. 222 ff. entwickelt eine andere Unterscheidung von principles (nichtinstrumentelle Prinzipien konventioneller Moral) und policies (mit instrumentalem Charakter). 140 So MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, S. 259; Richards, Rules, Policies, and Neutral Principles, S. 1097.
Drittes Kapitel
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ist überdies, ob die Unterscheidung von arguments of principle und arguments of policy einer regelutilitaristischen Begründung von Rechten standhält. Dieser Frage soll hier kurz nachgegangen werden. Es lasssen sich handlungs- und regelutilitaristische Versionen des Utilitarismus unterscheiden . Während eine handlungsutilitaristische Auffassung darauf abstellt, welche konkrete Handlung dem Prinzip der Nützlichkeit am besten dient, also etwa die in der Befriedigung der Präferenzen gemessene Wohlfahrt am stärksten befördert, geht der Regelutilitarismus davon aus, daß konkrete moralische Entscheidungen stets im Einklang mit Regeln zu fällen sind, ohne Rücksicht darauf, welche konkrete Handlungsalternative in der betreffenden Situation die besten Folgen hat. Der Handlungsutilitarismus fragt demnach nach der nützlichsten Handlung, der Regelutilitarismus nach der allgemein nützlichsten Regel 142 . Dworkin macht selten deutlich, ob er eine handlungs- oder eine regelutilitaristische Rechtfertigimg einer politischen Entscheidung diskutiert. An zwei Stellen aber wird er bezüglich dieses Problems explizit. (Auch) eine regelutilitaristische Moral sei goal-based y denn das Ziel der maximalen Präferenzbefriedigung sei in einer solchen Theorie fundamental. Daran ändere sich auch nichts, wenn die Anerkennung bestimmter Rechte als das beste Mittel zum Erreichen dieses Ziels angesehen werde. Die Respektierung dieser Rechte sei dann durch eine (nützliche) Regel geboten, auch wenn dies im einzelnen Fall nicht zu einer maximalen Präferenzbefiedigung führe 143 . Da auch bei einer regelutilitaristischen Begründung von Rechten die Berufung auf das (regelutilitaristisch begründete) Recht im einzelnen Fall entscheidend, also trumpfend sei, sieht Dworkin die Unterscheidung von Rechten und Zielen in einer goal-based theory nicht gefährdet. Das argument of principle gebe den Ausschlag, auch wenn es goal-based sei 144 . Damit ist die Unterscheidung von arguments of principle und arguments of policy auch in einer auf Ziele gründenden working political theory, deren
141 Vgl. einführend Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, S. 20 ff. 142 Es ist die Auffassung vertreten worden, daß die Unterscheidung von Handlungs- und Regelutilitarismus in sich zuammenbricht, sobald man anerkennt, daß Moralurteile über individuelle Akte universalisierbar sind. Damit könne jede einzelne Handlung als unter eine spezielle universelle (nicht aber eine einfache oder allgemeine) Regel fallend beschrieben werden (Hare, Freiheit und Vernunft, S. 155, 157). Bei einer solchen Verwendung des Begriffs Regel ist das Argument schlüssig; nicht aber, wenn man Regeln als Definition einer Praxis und damit als nicht beliebig über die Universalisierung einzelner Handlungen formulierbar versteht (vgl. Rawls, Zwei Regelbegriffe, S. 110). 143 Dworkin, TRS, S. 170 f.; 95 f. 4 Dworkin, TRS, S. 5 f.,
. 1.
Eine moralische Theorie politischen Handelns
113
allgemeines Rechtfertigungsprinzip politischen Handelns ein gesellschaftliches Ziel (z.B. das Gemeinwohl) ist, durchzuhalten. Die Funktion der principle/policy- Unterscheidung für Dworkins Theorie der Rechtsprechung kann erst im Zusammenhang mit dieser erörtert werden 145 . Zuvor aber ist Dworkins Kritik des Rechtspositivismus vorzustellen, vor deren Hintergrund die Stoßrichtung und das Anliegen des konstruktiven Teils der Theorie des Rechts erst verständlich werden.
145 Vgl. unten Kapitel 5IV.
Viertes Kapitel
KRITIK DER RECHTSPOSrnVISnSCHEN UND MORAL
TRENNUNG VON RECHT
I. Die drei Kernthesen des Rechtspositivismus nach Dworkin
Dworkin entwickelt seinen Rechtsbegriff in Auseinandersetzung vor allem mit der im anglo-amerikanischen Raum herrschenden Theorie des Rechts, dem Rechtspositivismus. Wenn Dworkin von "legal positivism" spricht, meint er den Rechtspositivismus der analytischen Rechtstheorie in der Tradition Jeremy Benthams und John Austins. Dessen prominentester zeitgenössischer Vertreter ist H. L. A. Hart 1 . Dworkin greift Harts Formulierung eines analytisch-rechtspositivistischen Standpunktes in "The Concept of Law" stellvertretend für den Rechtspositivismus überhaupt an. Es geht ihm dabei nicht um eine vollständige, historisch getreue Aufarbeitung dieser rechtspositivistischen Tradition oder auch nur der Hart'schen Lehre. Er nimmt sich vielmehr einige historische Freiheit und verdichtet den analytischen Rechtspositivismus zu einigen Kernthesen, die er kritischer Prüfung unterzieht 2. Zum Ausgangspunkt seiner Kritik des Rechtspositivismus nahm Dworkin drei Thesen, die er erstmals in dem Aufsatz "The Model of Rules" 1967 formulierte . Sie bilden in seinen Augen das Grundgerüst des Rechtspositivismus. These 1 besagt zweierlei: Erstens, daß Recht eine Menge von Regeln ist, die von der Gemeinschaft direkt oder indirekt dazu benutzt werden, festzu1 Ebenso wichtig wie der Hart-Dworkin-Disput ist Dworkins Auseinandersetzung mit seinem ebenfalls in der analytischen Tradition stehenden Oxforder Kollegen Joseph Raz. 2 Dworkin, TRS, S. 16: "I shall call this theoiy, with some historical looseness, 'legal positivism"'. 3 Wiederabgedruckt in TRS, S. 14 ff.
Recht und Moral
115
legen bzw. festzustellen 4, welches Verhalten durch die öffentliche Gewalt bestraft oder erzwungen werden soll; zweitens, daß diese gältigen Rechtsregeln von anderen gesellschaftlichen Regeln - die herkömmlicherweise unter dem Begriff "moralische Regeln" zusammengefaßt werden - und unzutreffend behaupteten Rechtsregeln durch einen Test geschieden werden können. Dieser Test benutzt als Kriterium die Herkunft ("pedigree") der Regeln, die Art und Weise ihrer Annahme und Entwicklung, nicht aber ihren Inhalt. These 2 behauptet, daß der Richter dann, wenn keine Rechtsregel den Fall klar erfaßt und der Fall also nicht durch Anwendung des Rechts entschieden werden kann, Ermessen (discretion) ausübt5. D.h., daß er über das Recht auf andere (z.B. moralische) Standards hinausgreift, um eine neue Regel zu schaffen oder eine alte abzuändern. Nach These 3 schließlich besagt die Feststellung, daß eine Person eine rechtliche Verpflichtung hat, nichts anderes, als daß ihr Fall unter eine gültige Rechtsregel fällt, die von ihr etwas zu tun oder zu unterlassen verlangt. Wo es an einer solchen Regel fehlt, hat der Richter Ermessen und setzt daher kein rechtliches Recht ("legal right") durch 6. Diese drei Thesen, die Dworkin dem Rechtspositivismus zuschreibt, sind Gegenstand dieses und der folgenden Kapitel. Hier interessiert zunächst die erste These, die eine strikte Trennung von Recht und Moral behauptet. Diese Trennungsthese ist - insoweit besteht wohl Einigkeit - die zentrale These des Rechtspositivismus7. Mit der Frage nach dem Verhältnis und den Verbindungen von Recht und Moral kann indessen sehr verschiedenes gemeint sein. Hart etwa unterscheidet sechs Variationen der These einer notwendigen Verbindung von Recht und Moral. Nur eine Variante werde vom Rechtspositivismus kategorisch bestritten 8. Diese betreffe den Zusammenhang zwischen rechtlicher Gültigkeit und moralischer Gehorsamspflicht gegenüber dem Recht. Hart vertritt hierzu die These, daß etwas (positives) Recht sein könne, auch wenn es gegen moralische Grundsätze verstoße. Mit der Bejahung der rechtlichen Gültigkeit einer Norm sei die - moralische -
4 Dworkin TRS, S. 17; der Ausdruck "determining" kann beides bedeuten. 5 Zum Begriff discretion, der nur unvollkommen mit Ermessen übersetzt werden kann, vgl. unten Kapitel 6 II. 6 Dworkin, TRS, S. 17. 7 Vgl. etwa Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals; Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 890; Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, S. 2480. 8 Hart, The Concept of Law, S. 198 ff.
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Viertes Kapitel
Frage des Gehorsams gegenüber unmoralischem Recht allerdings noch nicht entschieden9. Dworkin stimmt dem zu: Die rechtliche Gültigkeit einer Norm impliziere noch keine moralische Verpflichtung zu ihrer Befolgung 10. Der problematische Punkt liegt für Dworkin aber in der Frage, was (das geltende) Recht ist. Deren Beantwortung erfordert nach Dworkin auch moralische Erwägungen. Inwieweit Dworkin damit in der Frage des Verhältnisses von Recht und Moral tatsächlich eine Gegenposition zu Harts Rechtspositivismus vertritt, ist im folgenden hrauszuarbeiten. In Dworkins Rechtspositivismus-Kritik lassen sich mehrere Phasen bzw. Argumentationslinien unterscheiden. Er selbst unterscheidet zwischen seiner Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus als einer - wie er es faßt - "semantischen Theorie", d.h. als einer Theorie darüber, was das Wort "Recht" bedeutet und wann eine proposition of law (eine Aussage, was das Recht ist) wahr bzw. falsch ist 11 , und seiner Diskussion einer interpretativen Version des Rechtspositivismus, die er Konventionalismus nennt1 . Mit der Deutung des "law as convention"-Rechtspositivismus als interpretative Theorie reduziert Dworkin dessen Anspruch von der Universalität analytischer Begriffswahrheit auf einen Aussagewert nur für die interpretierte (amerikanische und britische) Rechtspraxis13. Dworkins Argumente gegen den semantischen Rechtspositivismus und den interpretativen Konventionalismus decken sich indessen zu einem großen Teil. Die folgende Darstellung versucht diese Wiederholungen zu vermeiden, indem sie nach drei Problembereichen gliedert. Dworkins Rechtspositivismus-Kritik stützt sich zunächst auf die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien. Ihr Hauptargument lautet, daß Harts Regelmodell des Rechts zu kurz greife, weil es den Rechtscharakter bestimmter Prinzipien verkenne. Gegenstand des ersten Teils der folgenden Darstellung ist daher Dworkins Unterscheidung von Regeln und Prinzipien (unten II).
9 Hart, The Concept of Law, S. 203 ff.; ders., Positivism and the Separation of Law and Morals, S. 74 ff. 10 Vgl. zur Frage der moralischen Verpflichtung zum Gesetzesgehorsam Dworkin, The Elusive Morality of Law, S. 634; TRS, S. 192 ff.; MP, S. 104 ff. und unten Kapitel 5 V. 11 Dworkin, LE, S. 32 f.; zum Begriff der "proposition of larf, siehe auch schon Kapitel 1 II 1 b. 12 Vgl. dazu unten unter IV. 13 Vgl. Dworkin, LE, S. 116.
Recht und Moral
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Diese Unterscheidung wurde überwiegend kritisch aufgenommen 14. In einer zweiten Phase hat Dworkin (daher) betont, daß seine Kritik an Harts Metaregel zur Bestimmung des "existierenden" Rechts nicht auf seine spezielle Unterscheidung von Regeln und Prinzipien angewiesen sei und lediglich deutlich machen müsse, daß es rechtliche Standards gebe, die der Rechtspositivismus durch keinen Test erfassen und von anderen, nichtrechtlichen Standards trennen könne15. Gegenstand des zweiten Teils sind die Kriterien, die der Rechtspositivismus zur Abgrenzung von Recht und Moral verwenden zu können glaubt (unten III). In Harts Theorie sind die Kriterien, die über den Rechtscharakter einer Regel entscheiden, durch eine Metaregel, die sogenannte rule of recognition festgelegt. Der dritte Teil der folgenden Darstellung beschäftigt sich mit Dworkins Deutung dieser rule of recognition als sozialer oder konventionaler Regel und weitergehend mit einer konventionalen Interpretation des Rechts überhaupt (unten IV). In der durch Dworkins Kritik ausgelösten Diskussion wurde vielfach versucht, den Rechtspositivismus durch eine Modifikation der durch Dworkin attackierten Thesen zu verteidigen 16. Diese Argumentationsstrategie ist in Gefahr, sachliche Differenzen, auf deren Bestehen Dworkin beharrt 17, in bloß terminologische umzudeuten. Andererseits geht die Konstruktion einer positivistischen Position, wie Dworkin sie vornimmt, das Risiko ein, daß die Kritik ins Leere geht, da es überhaupt keinen Vertreter dieses "synthetisierten" Rechtspositivismus gibt 18 . Bei der Würdigung von Dworkins Positivismuskritik sollen ein Streit um Worte, was als rechtspositivistische Position (noch) gelten kann, vermieden und die sachlichen Differenzen herausgearbeitet werden. Dort, wo Dworkins Rechtspositivismus-Kritik sich konkret an Harts Theorie festmacht, ist allerdings zu prüfen, ob sie dieser gerecht wird.
14 Vgl. die in Abschnitt II zitierte Literatur. 15 Dworkin, TRS, S. 71 ff.; A Reply, S. 260 f. 16 Vgl. etwa die Formulierungen eines mit Dworkins Einwänden kompatiblen Positivismusbegriffs Lyons, Principles, Positivism, and Legal Theory, S. 422 ff. und Soper, Legal Theory and the Obligation of a Judge, insbes. S. 488 ff. 17 Dworkin, A Reply, S. 247 und LE, S. 135. 18 So die Bedenken von Raz (Legal Principles and the Limits of the Law, S. 824 Fn. 3) gegenüber Dworkins Vorgehen.
i e s Kapitel
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I L Regeln und Prinzipien
1. Zur Funktion der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien
Dworkins erster Angriff auf die Hart'sche Theorie bediente sich der Unterscheidung zweier - wie es hier vorläufig heißen soll - Klassen von Normen, nämlich Regeln und Prinzipien. Dworkin verfolgte mit ihr zwei Ziele 19 . Zum einen wollte er zeigen, daß im Rahmen der Hart'schen Theorie Prinzipien nicht Recht sein können, weil sie durch die rule of recognition^ - Harts konventionale Metaregel zur Bestimmung des geltenden Rechts - nicht erfaßbar seien. Insoweit richtet sich Dworkins Argumentation gegen die positivistische Trennung von Recht und Moral. Zum zweiten wollte Dworkin mit der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien die rechtliche, insbesondere die richterliche Argumentation beschreiben und durchsichtig machen. Grob skizziert stellt er sich vor, daß Richter bei der Interpretation bestehender Rechtsregeln und dort, wo solche fehlen, auf Prinzipien zurückgreifen, um den Fall zu entscheiden. Diese Prinzipien gewönnen sie ihrerseits aus einer Interpretation der bestehenden Rechtsregeln 21. Die beiden Anliegen Dworkins - Kritik der rechtspositivistischen Trennungsthese und Darlegung einer Theorie rechtlicher Argumentation - können nicht strikt auseinandergehalten werden. Dworkins Unterscheidimg von Regeln und Prinzipien ist auf seine Theorie rechtlicher Argumentation hin konzipiert. Es ist daher dem Mißverständnis vorzubeugen, daß Dworkin dem positivistischen Regelmodell ein "Regel-Prinzipien-Modell" des Rechts entgegenstellen wollte. Sein Anliegen ist es vielmehr (stets gewesen), das Bild des "existierenden Rechts" als einer Sammlung von Regeln (und Prinzipien) zu zerstören 22. Dworkins Begriffe der Regel und des Prinzips dürfen mithin nicht als ontologische Begriffe, die für vorfindbare Normen stehen, die in irgendeinem Sinne außerhalb eines Argumentationszusammenhanges als Bestandteile von Normensammlungen wie Recht oder Moral "existieren", verstanden werden. Dworkin hat das begriffliche Instrumentarium (Regeln und Prinzipien) seiner ersten Formulierung einer Rechtspositivismus-Kritik in späteren 19 Vgl. Dworkin, TRS, S. 71. 20 Zu Harts rule of recognition ν gl. unten III. 21 Dazu ausführlich Kapitel 5. 22 Dworkin, TRS, S. 76,343 f.
Recht und Moral
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Schriften kaum mehr gebraucht 23 und es als bloßes Mittel zur Kenntlichmachung problematischer Standards bezeichnet24. Es wird hier gleichwohl ausführlich diskutiert, da es die Analyse des Zusammenspiels von Regeln und Prinzipien war, mit der Dworkin in der anglo-amerikanischen Literatur Aufsehen erregte 25. Zuvor sei noch darauf hingewiesen, daß der im folgenden verwandte Prinzipienbegriff weiter ist als der, der oben26 bei der Unterscheidimg von principles (Prinzipien im engeren Sinne) und policies gebraucht wurde. Bei der jetzt zu besprechenden Unterscheidung von Prinzipien (im weiteren Sinne) und Regeln umfaßt der Begriff des Prinzips principles und policies 21.
2. Zur logischen Unterscheidung von Regeln und Prinzipien
a) Die Alles-oder-Nichts-Weise von Regeln Dworkin bezeichnet seine Unterscheidung von Regeln und Prinzipien als eine logische28. Er meint damit, daß Regeln und Prinzipien sich in der Eigenart ihrer Anwendung unterscheiden. Regeln seien in einer Alles-oderNichts-Manier 29 anwendbar, d. h. ihre Folgenanordnung sei immer dann zu beachten, wenn die Voraussetzungen der Tatbestandsseite erfüllt und die
23 Law's Empire, Dworkins geschlossenste Darstellung seiner Rechtstheorie, kommt fast ganz ohne die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien aus. 24 Dworkin, A Reply, S. 262; TRS, S. 71. 25 Allerdings ist Dworkin nicht der erste amerikanische Autor, der rechtliches Argumentieren anhand der Unterscheidung verschiedener Klassen rechtlicher Standards (Regeln, Prinzipien u.a.) zu beschreiben versucht. Ansätze zu einem "Regeln-Prinzipien-Modell" finden sich schon bei Klassikern wie Roscoe Pound (Jurisprudence, Band II, S. 104 ff.) und Benjamin Cardozo (The Growth of Law, S. 185 ff., 215 ff.; The Nature of the Judicial Process, S. 107 ff., 134 f., 153 ff.). Zu Parallelen zwischen der Theorie Pounds und Dworkins vgl. Burnet, Dworkin and Pound und Hutchinson/Wakefield, A Hard Look at "Hard Cases", S. 87 Fn. 8. 26 Vgl. zur Unterscheidung von principles und policies Kapitel 3 I V 3 c. 27 Dworkin., TRS, S. 22. Das verkennt Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 61; ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, S. 19. 28 Dworkin, TRS, S. 24; Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 63 spricht von einer normstrukturellen Unterscheidung Dworkins. Im folgenden wird "Norm" als Oberbegriff zu "Regel" und "Prinzip" gebraucht. 29 Im Englischen: "all-or-nothing-fashion".
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Regel gültig sei . Dieser Regelbegriff setzt voraus, daß eine Regel aus Tatbestand und Folgenanordnung31 bestellt. Der Zusatz, daß die Folgenanordnung nur dann akzeptiert werden müsse, wenn die Regel gültig sei, führt mit den Begriffen der Geltung und der Akzeptanz zwei Kategorien in die Definition ein, die schwerlich als logische bezeichnet werden können. Sie werden von Dworkin nicht erklärt, sonV) dem aus Harts Theorie der Rechtsgeltung übernommen . Dworkin hätte daher präziser formuliert, hätte er geschrieben, daß die Folgenanordnung der Regel nur dann akzeptiert werden müsse, wenn die Regel nach rechtspositivistischer Doktrin gültig sei. Die Alles-Oder-Nichts-Manier von Regeln besagt also lediglich, daß ein Tatbestand entweder erfüllt oder nicht erfüllt ist, und daß die Folgenanordnung - vorausgesetzt die Regel ist nach den vom Rechtspositivismus bereitgestellten Kriterien gültig - "automatisch" greift, wenn der Tatbestand erfüllt ist. Der Subsumtionsprozeß unter die Regel ist damit im Grunde schon mit der Bejahung des Tatbestandes abgeschlossen. Soll die Alles-oder-Nichts-Manier von Regeln ein eigenständiges Unterscheidungskriterium zwischen Regeln und Prinzipien sein, so dürfen entweder Prinzipien nicht aus Tatbestand und Folgenanordnung bestehen oder die Folgenanordnung darf nicht "automatisch" greifen, wenn der Tatbestand erfüllt ist. Letzteres, nicht aber ersteres ist nach Dworkin der Fall. Ersteres treffe deshalb nicht zu, weil Prinzipien wie Regeln gefaßt sein, also die Form eines wenn-dann-Satzes haben können33. Und daß bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen eines Prinzips nicht "automatisch" die Folgenanordnung greife, sei damit zu erklären, daß Prinzipien nicht wie Regeln gölten34.
30 Dworkin, TRS, S. 24. 31 Dworkin, TRS, S. 24 f. nennt diese Folgenanordnung untechnisch "answer" oder auch "consequences". Unter diese Folgenanordnung würde etwa auch eine durch eine Legaldefinition eingeführte Begriffsbestimmung fallen. 32 Geltung und Akzeptanz sind zentrale Begriffe der Theorie Harts, vgl. The Concept of Law, S. 97 ff. und unten III 2. Kritisch zu Harts Begriff der Akzeptanz, Dworkin, LE, S. 35. 33 Dworkin, TRS, S. 27. Hat ein Prinzip nicht die Form einer Regel, so steht es für einen Wert oder ein Ideal; so z. B. die Prinzipien der Fairneß, Gleichheit und Integrität. Vgl. zur Korrespondenz von Prinzipien und Werten oben Kapitel 2 II 2. Auch Canaris, Systemdenken, S. 51 f. und Engisch, Einführung, S. 167 und Anm. 109a nehmen einen kontinuierlichen Normativierungsvorgang an oder bringen in anderer Weise zum Ausdruck, daß Prinzipien und Werte einander äquivalent seien. 4 Dworkin, TRS, S. 2 , 1 .
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121
(Rechts-)Geltung sei ein Alles-oder-Nichts-Begriff, der auf Prinzipien nicht passe . Prinzipien "gelten" nach Dworkin aber in dem Sinne, daß sie zu erwägen und abzuwägen sind, den Richter insoweit also binden, auch wenn sie die rechtspositivistischen Geltungskriterien (etwa das der gesetzlichen Positivierung) nicht erfüllen. Regeln können nach Dworkin Ausnahmen haben. Eine korrekte Wiedergabe einer Regel müsse diese Ausnahmen in die Regel einbeziehen36. Dabei ist es in Dworkins Augen gleichgültig, ob es gelingt, alle Ausnahmen in die sprachliche Fassung einer Regel einzubinden, oder ob man sie als separate Regeln formuliert 37. Die sprachliche Fassung von Regeln hält Dworkin für ein bloßes Problem der Darstellung. Das Problem der "individuation of laws" 3^, also die Frage, was als eine vollständige Regel bzw. eine vollständige Formulierung einer Regel39 (oder auch eines Prinzips) anzusehen ist, interessiert ihn nicht 40 . b) Die Dimension des Gewichts von Prinzipien Prinzipien kommt nach Dworkin im Gegensatz zu Regeln die Dimension des Gewichts oder der Bedeutimg zu. Regeln könnten zwar eine unterschiedliche funktionelle Bedeutung in einem Rechtssystem haben41, das aber sei nicht mit der Dimension des Gewichts gemeint. Prinzipien geben nach Dworkin einen Grund an, der in eine bestimmte Richtung weist42. Zu Prinzipien gebe es keine Ausnahmen - wie bei Regeln -, sondern lediglich Gegenbeispiele oder Gegengründe, also in eine an35 Harts scharfe Trennung von (Rechts-)Geltung und bloßer Regelakzeptanz sei aber nicht durchzuhalten, da die eine rechtliche Praxis rechtfertigende Berufung auf allgemeine Prinzipien "a note of validity into the chord of acceptance" bringe. Vgl. Dworkin, TRS, S. 41. 36 Dworkin, TRS, S. 25. 37 Dworkin, TRS, 76; ein Beispiel für eine separate Formulierung von Ausnahmen zu einer Regel ist etwa die Notwehrregel, die in alle Straftatbestände hineinzulesen ist. 38 Vgl. hierzu Raz, Legal Principles and the Limits of the Law, S. 825 ff. 39 Für Dworkin besteht kein Unterschied zwischen der Regel selbst und einem die Regel behauptenden Satz. Vgl. Dworkin, MP, S. 48, 353 für die parallel liegenden Beispiele "intention" und "right". 40 Dworkin, TRS, S. 74 ff. 41 Dworkin, TRS, S. 26 f. 42 Dworkin, TRS, S. 26. Sie sind somit prima-facie-Gründe im Sinne Baiers, begründen also die Vermutung, daß man sich im Sinne der vom Prinzip angegebenen Art und Weise verhalten soll. Widerstreitende Prinzipien sind prima-facie-Gründe, die gegeneinander abgewogen werden müssen, bis man zu einem Grund "on balance" gelangt. Regeln sind dagegen schon abgewogene Gründe. Vgl. Baier, The Moral Point of View, S. 102; ähnlich Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 78 f.
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dere Richtung weisende Prinzipien. Es sei auch theoretisch unmöglich, alle Gegenbeispiele oder Gegengründe zu einem gegebenen Prinzip vollständig aufzuzählen. Allerdings könne die Zahl der Gegenbeipiele als Indiz für das Gewicht des Prinzips dienen43. Die Gleichung, je häufiger ein Prinzip zitiert werde, desto (ge)wichtiger sei es, gehe allerdings nicht auf 44 . Die Bedeutung eines Prinzips aus seinem "institutional support " abzulesen, sei vielmehr eine interpretative Aufgabe. Das Gewicht, die Bedeutung oder die Kraft (force) eines Prinzips sei nicht mit seiner Reichweite, seinem Anwendungsbereich zu verwechseln. Je beschränkter dieser sei, desto eher könne das Prinzip große, unter Umständen absolute Bedeutung innerhalb dieses Bereichs beanspruchen45. Die Argumente, die man zur Stützung eines bestimmten Prinzips vorbringen kann, liegen nach Dworkin grundsätzlich auf keiner völlig anderen Ebene als das fragliche Prinzip selbst. Für das Prinzip als prima-facieGrund müßten wiederum Gründe gebracht werden usf. Auf diese Weise gelange man zu einem schwer durchschaubaren Netz von Prinzipien: "principles rather hang together than link together" 46. Dieses Bild verdeckt die Frage, ob die Begründung von Gründen denn nicht ein infiniter Prozeß sein müsse. In Dworkins Theorie politischer Moral wird dieser Prozeß - wie oben gezeigt - durch das axiomatisch gesetzte Gleichheitsprinzip abgebrochen4^ Die Dimension des Gewichts von Prinzipien kann als Pendant zum Begriff der Geltung bei Regeln verstanden werden: Die Geltung einer Regel ist ein absoluter, abgewogener Grund für die Akzeptanz der Folgenanordnung, das Gewicht eines Prinzips ist ein prima-facie-Grund für seine Befolgung. Da Prinzipien nach Dworkin nicht gelten, können sie auch nicht aufgehoben werden. Ihr Niedergang sei vielmehr ein ihre Bedeutung vermindernder Erosionsprozeß 48.
43 Dworkin, TRS, S. 25. 44 Mißverständlich Dworkin, TRS, S. 40. Raz, Legal Principles and the Limits of the Law, S. 852 greift diese Textstelle au f. Klarstellend Dworkin, TRS, S. 65 ff., 68. 45 Dworkin, TRS, S. 261 Die Unterscheidung von Reichweite und Kraft eines Prinzips macht Dworkin allerdings nicht im Kontext der Regel-Prinzipien-Diskussion. 46 Dworkin, TRS, S. 41. 47 S. o.Kapitel 2 II 4 a. 4 Dworkin, TRS, S. f.
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Festzuhalten ist, daß Dworkins Unterscheidung von Regeln und Prinzipien strikt klassifikatorisch ist 49 . Denn die Kriterien der Alles-oder-NichtsWeise von Regeln und des Gewichts von Prinzipien schließen sich gegenseitig aus. c) Das Verhalten von Regeln und Prinzipien in Kollisionsfällen Regeln und Prinzipien spielen in Dworkins Modell des Rechts zusammen. Bei der Interaktion von Regeln und Prinzipien können drei Fallgruppen unterschieden werden. Erstens: Wenn zwei Regeln miteinander konfligieren, muß nach Dworkin eine davon ungültig sein50. Kein Konflikt liege indessen bei zwei Regeln vor, deren eine eine Ausnahme zu der anderen statuiere 51. Seien also die Tatbestände zweier Regeln in einem gegebenen Falle beide erfüllt, und gäben die Regeln einander widersprechende (und nicht kumulativ befolgbare) Folgenanordnungen, so könne nur eine der beiden Regeln Gültigkeit für sich beanspruchen. Das Geltungsproblem sei dann nur über Erwägungen zu lösen, die außerhalb der beiden in Frage stehenden Regeln lägen. Dworkin schließt nicht aus, daß es in einem Rechtssystem zu solchen Regelkonflikten kommen kann. Das aber seien "occasions of emergency ", also rare Ausnahme- und Notfälle, in denen eine Änderung der bestehenden Standards erfolgen müsse52. Zweitens: Der Dimension des Gewichts von Prinzipien kommt nach Dworkin eine zentrale Rolle bei der Lösung von Prinzipienkollisionen zu. Wenn einander gegenläufige Prinzipien sich schneiden ("intersect"), muß nach Dworkin das Gewicht der beiden Prinzipien gegeneinander abgewogen und dem bedeutenderen Prinzip der Vorrang gegeben werden 53. Diesem Bild liegt eine räumliche Vorstellung der Anwendungsbereiche von Prinzipien zugrunde. Im Bereich ihrer Schnittmengen kann nach Dworkin, wenn diese Prinzipien als Gründe und Gegengründe in unterschiedliche Richtungen weisen, von einer Kollision, nicht aber einem Konflikt der Prinzipien gesprochen werden.
49 So auch Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 64. 50 Dworkin, TRS, S. 27. 51 Dworkin, TRS, S. 73 f. 52 Dworkin, TRS, S. 73. 53 Dworkin, TRS, S. 26.
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Drittens: Am interessantesten fur Dworkins Rechtsbegriff ist seine Behandlung der Interaktion zwischen einer Regel und einem Prinzip 54 . Denn Dworkin verneint die Möglichkeit eines Konflikts, in dem entweder die Regel oder das Prinzip sich durchsetzt. Er sei wenig erhellend, das Verhältnis von Regeln und Prinzipien als das eines Konflikts zu beschreiben55, da Regeln Prinzipien reflektierten, eine Regel einen Kompromiß aus konkurrierenden Prinzipien darstelle. Gerichte wögen verschiedene Mengen von Prinzipien, also eine fragliche Regel stützende und gegen sie sprechende Prinzipien gegeneinander ab, um zu entscheiden, ob und in welcher Fassung diese Regel aufrechtzuerhalten und anzuwenden sei 56 . Regeln und Prinzipien selbst seien aber nicht gegeneinander abzuwägen57, sie kollidierten also auch nicht wie Prinzipien untereinander. Vielmehr sei die Existenz einer Regel häufig nur dadurch zu erklären, daß ein Prinzip, das ihr entgegenstehe, eben ein (zurücktretendes) Prinzip und keine Regel sei 58 . Die Abwägung von Prinzipien als prima facie-Gründen entscheidet somit darüber, ob einem Standard und in welcher Fassung ihm der Status einer Regel, also eines abgewogenen Grundes zukommt. So öffneten unbestimmte Rechtsbegriffe 59 auf der Tatbestandsseite von Regeln die Regel dem Einfluß bestimmter Prinzipien und schlössen andere aus. Die Regeln fungierten logisch weiter als Regeln, inhaltlich ("substantially") aber als Prinzipien, da über ihre Auslegung und damit ihre Anwendbarkeit im konkreten Fall bestimmte Prinzipien entschieden. Doch machten unbestimmte Begiffe aus Regeln nicht Prinzipien, da sie die Anwendung der Regel nur von ganz bestimmten Prinzipien, nämlich solchen, die eine Konzeption des unbestimmten Begriffs entwickelten, abhängig machten. Die Alles-oder-Nichts-Weise der Regel werde davon nicht berührt 60 . Auch könne die Interpretation einer Regel ergeben, daß sie - entgegen erstem Anschein - schon tatbestandlich nicht eingreife. Eine "an sich" tatbestandlich eingreifende Regel komme dann nicht zur Anwendung, wenn die 54 Zur Vereinfachung wird hier nur der Konflikt einer Regel mit einem Prinzip angesprochen. Selbstverständlich ist eine Kollision mehrerer Prinzipien mit einer Regel oder auch mehreren Regeln denkbar. 55 Dworkin, TRS, S. 77. 56 Dworkin, TRS, S. 78. 57 So aber Raz, Legal Principles and the Limits of the Law, S. 833; ders. The Concept of a Legal System, S. 225 Fn. 21. 58 Dworkin, TRS, S. 77. 59 Dworkin, TRS, S. 28 spricht von "words like 'reasonable', 'negligent', 'unjust', and 'significant'". Dworkin, TRS, S. 2 f., 7 .
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Abwägung verschiedener relevanter Prinzipien die Formulierung einer Ausnahme verlange, so daß sich die bisher verwendete Fassung der Regel als unvollständig erweise. In Dworkins Beispielsfall wird die bislang als autoritativ angesehene Fassung der Regel, daß eine im Testament benannte Person erbt, durch das Prinzip, daß man aus seinem eigenen Fehlverhalten keinen Nutzen ziehen dürfe, dahingehend eingeschränkt, daß der Enkel, der den Großvater ermordete, diesen, obwohl er im Testament als Erbe eingesetzt ist, nicht beerbt. Die Abwägung verschiedener Prinzipien kann somit dazu führen, daß in eine Regel Ausnahmen hineinzulesen sind, sie teleologisch zu reduzieren ist 61 , ja sogar dazu, daß eine "an sich" anwendbare Regel insgesamt zu einem Fehler erklärt und verworfen wird ("overruling") . Schließlich könne der Richter im Verlaufe des Interpretationsprozesses zu dem Ergebnis gelangen, daß eine Norm, die bisher als Regel behandelt wurde, als Prinzip zu klassifizieren sei, das im konkreten Fall gewichtigeren Prinzipien weichen müsse.
3. Diskussion der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien
Die Existenz allgemeiner Rechtsgrundsätze, von Grundprinzipien des Rechts oder rechtsethischen Prinzipien, wie immer die Terminologie sein mag, hat - wie Larenz feststellt - im kontinentaleuropäischen Rechtsdenken in den letzten beiden Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen63. Das hat sich 61 Dworkin, TRS, S. 23 ff., 76, 27 f. Ein Beispiel teleologischer Reduktion: Der amerikanische Supreme Court faßte eine gesetzliche Bestimmung ("Alle Verträge, die den Handel beschränken, sind ungültig"), zwar als Regel auf, legte sie aber aber dahingehend aus, daß sie das Wort "unreasonable" enthalte. Hier wurde eine in fast jedem Fall eingreifende Regel (fast alle Verträge beschränken in irgendeiner Weise den Handel) teleologisch reduziert, so daß die Regel tatbestandlich nicht eingriff. Vgl. zur teleologischen Reduktion, Larenz, Methodenlehre, S. 375 ff. Die Einfügung des Wortes "unreasonable" kann auch als Konstruktion einer Ausnahme ("außer wenn sie vernünftig sind") aufgefaßt werden. 62 Dworkin, TRS, S. 119 ff., 37. Unter "overruling" versteht man die Verwerfung eines bis dahin bindenden Präjudizes durch ein hierzu befugtes Gericht. Vgl. hierzu z.B. Esser, Grundsatz und Norm, S. 186 ff.; Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 75 ff. Vgl. auch unten Kapitel 5 II 1,2. 63 Larenz, Methodenlehre, S. 421 f. S. 458 Fn. 87 weist Larenz auf Alexy hin, der, was das Zusammenspiel von Prinzipien und Rechtssätzen angeht, entsprechende Ausführungen bei dem englischen (siel) Autor Ronald Dworkin gefunden habe. Alexy hat die Dworkin'sche strikt klassifikatorische Unterscheidung aufgenommen und weiterentwickelt. Prinzipien versteht er in Abgrenzung zu Dworkin - mit dessen Konzeption dies indessen vereinbar ist - als Optimierungsgebote, Regeln sieht er nicht durch einen Alles-oder-Nichts-Charakter, sondern dadurch definiert, daß sie nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden, nicht aber in mehr oder weni-
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in der Literatur niedergeschlagen64. Auf einige Standardwerke wird in der folgenden Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden gegen Dworkins Unterscheidung von Regeln und Prinzipien am Rande eingegangen65. Es soll aber nicht die lange Reihe alternativer Versuche zur abgrenzenden Klassifizierung oder graduellen Einstufung dieser beiden Arten von Normen um einen weiteren Vorschlag verlängert werden 66. Dworkin beansprucht nicht, die einzig mögliche und allein richtige Klassifikation beschrieben zu haben67. Regeln und Prinzipien sind ihm nur das Handwerkszeug zur Entwicklung eines antipositivistischen Modells der Rechtsprechung. Seine Unterscheidung von Regeln und Prinzipien ist daher von ihrer Funktion im Rahmen der interpretativen Theorie des Rechts her zu verstehen. Dort dient sie dazu, eine strikte Sonderung rechtlicher und anderer (moralischer) Standards, kurz die Trennung von Recht und Moral, unplausibel zu machen. Da nämlich der Richter seine Entscheidung oft auf Prinzipien stütze, die nicht gesetzt, also nicht positivrechtlich verankert seien, überschreite er die vom Rechtspositivismus behauptete Grenze zwischen Recht und Moral. ger großem Maße erfüllt werden können. Unterscheidungskriterium ist danach das ideale bzw. reale Sollen. Vgl. Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 68 ff.; Theorie der Grundrechte, S. 75 ff.; Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, S. 19 ff. 64 Interessant für die Würdigung eines anglo-amerikanischen Autors ist insbesondere Essers rechtsvergleichende Arbeit "Grundsatz und Norm", die den unterschiedlichen Geltungsgrund von Rechtsprinzipien im kontinentalen Systemdenken und im anglo-amerikanischen Fallrechtsdenken herausarbeiten möchte (S. 87). Legt man diese Untersuchung zugrunde, so erscheint Dworkins Regel-Prinzipien-Verständnis als zwischen den beiden Rechtskreisen angesiedelt. Nach Esser sind in beiden Rechtskreisen die Elemente Grundsatz und Norm funktionsmäßig aufeinander angewiesen (S. 42). Das Verhältnis zwischen Grundsatz und Norm stelle sich aber unterschiedlich dar. Der Rechtssatz des kontinentalen Systems sei "anwendbar", es gebe Kriterien, die den Bereich und die Wirkungsweise der Norm in nachprüfbarer Weise festlegten (S. 51), die Anwendungsfälle seien bestimmbar (S. 95). Das entspricht Dworkins Definition einer Regel durch ihren Alles-oder-Nichts-Charakter und die Aufzählbarkeit ihrer Ausnahmen. Auf der Ebene der Definition des begrifflichen Instrumentariums denkt Dworkin also "kontinental". Zugleich aber wird seine Darstellung der schwierigen Abgrenzung von Regeln und Prinzipien im Fallrecht durch Esser bestätigt. Die rule des angloamerikanischen Rechts sei vom principle längst nicht so weit entfernt wie die Norm vom Grundsatz im kontinentalen System (S. 51), das Verhältnis von Prinzip und Rechtsnorm sei ein innigeres und verschlungeneres (S. 183). Das principle habe im case law die Bedeutung eines materiellen, die rule bestimmenden Leitgedankens, es sei in ihr und als deren Teil bindendes, positives Recht, jedoch nicht als selbständiger Grundsatz. Im einzelnen sei die Abgrenzung zwischen principle und rule so fragwürdig und der Praxis freigestellt wie die zwischen ratio decidendi und bloßem dictum (S. 184 f., 194 ff.). 65 Völlig unergiebig wäre es, Dworkins Theorie an Untersuchungen zu messen, denen es um eine differenzierte Kategorisierung aller Arten von Prinzipien geht. Zur Willkürlichkeit mancher solcher Versuche Esser, Grundsatz und Norm, S. 91 f. Dworkins Beispiele sind verstreut und nirgends systematisiert. Einen Überblick über die von Dworkin genannten Prinzipien gibt Bell, Understanding the Model of Rules, S. 936 f. 66 Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, S. 14 gibt einen Überblick über verschiedene in der Literatur entwickelte Unterscheidungskriterien. 67
Dworkin, TRS, S. 2.
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Diese Demarkationslinie erweist sich nach Dworkin als illusionär bzw. schlecht gewählt, weil sie einen beträchtlichen Teil richterlichen Handelns aus dem Recht ausgrenzt68.
a) Regeln und Regelkonflikte Ein Einwand zielt auf Dworkins These, daß Regeln außer in "occasions of emergency", in denen eine der beiden Regeln ungültig sei 69 . nicht konfligierten. Raz argumentiert, daß etwa die Notwehrregel nicht als Ausnahme zu den besonderen Straftatbeständen, sondern als mit ihnen in Konflikt stehend anzusehen sei. Das veranlaßte Dworkin zu dem Kommentar, Raz habe .
.
7Π
einen "bizarre notion of what a conflict is" . Raz ist zwar darin Recht zu geben, daß die Formulierung einer Regel durch die Einbeziehung aller Ausnahmen komplex und unhandlich würde. Doch das ändert nichts an der Stimmigkeit des Dworkin'schen Modells: Ausnahmen zu Regeln können in die Regel hineingelesen werden und stehen daher nicht in Konflikt mit dieser. Dworkin versteht unter einem Re71
gelkonflikt eben nur den Fall eines unauflösbaren Widerspruchs . 68 Dworkin nimmt ein von Hart für einen rechtspositivistischen Rechtsbegriff angeführtes Argument für sich in Anspruch. Nach Hart, The Concept of Law, S. 204 f. liegt der Vorzug des Rechtspositivismus darin, daß er einen weiteren Rechtsbegriff als ein Naturrecht vertritt, nach dem das Recht, um Recht zu sein, moralisch zu sein habe. Dworkin seinerseits sieht den Vorteil seines Rechtsbegriffs gerade darin, daß er weiter als der Hart'sche ist, der nicht positiv gesetzte Prinzipien nicht erfasse, obwohl sie Recht seien. 69 Dworkin, TRS, S. 73. Zur Lösung von Regelkonflikten Larenz, Methodenlehre, S. 255 ff. mit weiteren Nachweisen. Dworkin weist nur auf die logische Notwendigkeit hin, daß dann eine der beiden Regeln in einem solchen Fall ungültig sein müsse. Er zeigt aber nicht die Lösung des Konflikts auf, beide Regeln aus der Rechtsordnung zu verabschieden und eine sogenannte Kollisionslücke entstehen zu lassen. Canaris, Systemdenken, S. 124 begründet das Entstehen einer Kollisionslücke aus dem Willkürverbot. Darauf, daß mit der Feststellung eines Regelkonflikts noch nichts darüber ausgesagt ist, welche Regel und ob vielleicht beide Regeln aus der Rechtsordnung zu verabschieden seien, weist auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77 f. hin. 70 Raz, Legal Principles and the Limits of the Law, S. 831 ff. und The Concept of a Legal System, S. 225. Dworkin, TRS, S. 74. 71 Regelkonflikte im Sinne Dworkins liegen nicht vor, soweit die Widerspüche über Vorrangregeln wie die der lex specialis, posterior und superior zu lösen sind, da hier die allein gültige Norm durch Auslegung ermittelt werden kann. Vgl. Engisch, Einführung, S. 162 f. und Einheit der Rechtsordnung, S. 54; zustimmend Canaris, Die Feststellung von Lücken, S. 65 ff.; Systemdenken, S. 122; Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 72 Fn. 74. Die Begriffe "Norm" bei Engisch und "Reger bei Dworkin können zwar nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden (Normen sind bei Engisch Gebote und Vebote, Regeln im Dworkin'schen Sinne müssen keine Imperative sein). Doch werden praktisch alle Normen im Verständnis Engischs Regeln im Dworkin'schen Sinne sein; umgekehrt ist dies fraglich.
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Regeln haben nach Dworkin zwar eine unterschiedliche funktionelle Bedeutung im Regelsystem (des Rechts), aber kein unterschiedliches Gewicht 72 . Indikator für das Gewicht von Prinzipien ist ihr "institutional support also ihre Erwähnung in den Materialien der Institution 73 . Wenn aber die institutionelle Verankerung ein Indiz für die Bedeutung eines Prinzips ist, warum gilt dann - so lautet eine weitere Kritik - nicht gleiches für Regeln ? Dworkin zufolge ist zwar eine Regel, die über die Anwendbarkeit einer anderen Regel entscheidet, in gewissem Sinne wichtiger als diese75. Aber diese funktionell unterschiedliche Bedeutung von Regeln unterscheidet sich nach Dworkin von der metaphorisch als Gewicht beschriebenen Bedeutung von Prinzipien. Der institutional support gibt Aufschluß über das Gewicht von Prinzipien, weil diese als gegeneinander abzuwägende Gründe konzipiert sind. Bei Regeln dagegen ist das Gewicht schon bestimmt. Gegen eine gültige Regel, deren Tatbestand einschließlich aller negativen Tatbestandsmerkmale (Ausnahmen) erfüllt ist, gibt es keine Gegengründe. Auch der Einwand, unbestimmte Begriffe auf der Tatbestandsseite der Regel verwischten die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien, weil über solche Begriffe Prinzipien Einfluß auf die Anwendbarkeit der Regel gewännen76, ist nicht durchschlagend. Richtig ist daran nur, daß das Gericht bestimmte Prinzipien gegeneinander abwägen muß, um eine Konzeption des (unbestimmten) Begriffs zu entwickeln. Doch ist Dworkin darin Recht zu geben, daß das Gericht die Norm gleichwohl logisch als Regel behandelt77. Die Alles-oder-Nichts-Manier von Regeln bedeutet lediglich, daß bei erfülltem Tatbestand die Folge zwingend ist, meint aber nicht, daß Regeln ohne Interpretation mechanisch anwendbar seien. b) Prinzipien und Prinzipienkollisionen Dworkins Unterscheidung von Regeln und Prinzipien bräche in sich zusammen, wenn Prinzipien recht betrachtet doch wie Regeln funktionierten 78 . 72 Dworkin, TRS, S. 26 f. 73 Vgl. Dworkin, TRS, S. 40. 74 So Bell, Understanding the Model of Rules, S. 946. 75 Dworkin, TRS, S. 27. 76 So Tapper, A Note on Principles, S. 630. 77 Dworkin, TRS, S.27f. 78 Vgl. Covai/Smith, Some Structural Properties of Legal Decisions, S. 85, die Dworkins Standardbeispiel eines Prinzips "a man may not profit from his own wrong" in eine in Allesoder-Nichts-Weise anwendbare Regel umformulieren: "Where it is the case that, under the existing rules of law, the doing of a wrong will allow a person to make a profit and that profit will tend to act as an inducement to do that kind of wrong, then the law shall proceed to re·
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So ist gegen Dworkins These, daß Prinzipien niemals in einem echten Konflikt ständen, sondern nur kollidierten, wobei das relativ gewichtigere Prinzip den Ausschlag gebe, ohne daß das relativ schwächere Prinzip dadurch ungültig werde , vorgebracht worden, daß dies nur dann gelte, wenn beide Prinzipien unstreitig zu einem (Rechts-)System gehörten. Sei aber gerade dies fraglich, so müsse die Kollision zweier Prinzipien wie ein Regelkonflikt behandelt werden. Ein Prinzip bleibe dann auf der Strecke 80. Diese Kritik macht die Zugehörigkeit zur Rechtsordnung zum entscheidenden Kriterium dafür, ob die Gegenläufigkeit zweier Prinzipien als erne (Prinzipien-)Kollision oder als ein (Regel-)Konflikt zu behandeln ist 81 . Doch damit wird Dworkins Anliegen verfehlt, denn ihm geht es gerade darum, die Vorstellung, das Recht sei eine Normensammlung, zu der ein Prinzip entweder gehöre oder nicht, anzugreifen 82. Ein Prinzip ist für Dworkin ein Rechtsprinzip, wenn es grundsätzlich in einer die gesicherten Rechtsregeln rechtfertigenden Theorie eine Rolle spielen kann 83 . Alle Prinzipien, auf die sich Juristen in der Auseinandersetzung um eine rechtliche Lösung berufen und die nicht völlig willkürlich behauptet und ohne jegliche institutionelle Unterstützung, ohne jeden Anknüpfungspunkt in der Rechtspraxis sind, sind nach Dworkin Prinzipien, die in die rechtliche Argumentation eingehen können. Ein Prinzip mit nur geringer Bedeutung ist in diesem Modell nicht ungültig, sondern un(ge)wichtig. An die Stelle der Zugehörigkeit zur Rechtsordnung als einer Normensammlung tritt bei Dworkin die Zugehörigkeit zu einer möglichen interpretativen Theorie des geltenden Rechts. Daraus erklärt sich auch, daß Dworkin nicht zwischen bloßen Prinzipienkollisionen und Prinzipienwiderprüchen, die eine Störung der Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung bewirken, indem sie an denselben Tatbestand einmal die Folge R und ein andermal die Folge non-R knüpfen, differenziert. Dworkin kann alle Kollisionsfälle über die Abwägimg der move that inducement." Diese Regel ist Ausdruck der Kollision des genannten und des Prinzips, daß der Staat nur aus generalpräventiven Gründen sanktionierend eingreifen soll. Die Möglichkeit, eine solche Regel zu formulieren, ist kein Argument gegen Dworkin. Denn Dworkin bestreitet ja nicht, daß eine Regel als Regel funktioniert, sondern daß ein Prinzip als Regel funktioniert. 79 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 64 bezeichnet diese These als Kollisionstheorem. 80 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 75 f. 81 Mit dem Begriff der Gegenläufigkeit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß es sich nicht um einen Prinzipienwiderspruch handeln darf, der sich durch die Negation eines Prinzips konstruieren ließe. Da eine konsistente Interpretation rechtlichen Materials nicht ein Prinzip und seine Negation zur Rechtfertigung anführen kann, ist solch ein Pali in Dworkins Theorie ausgeschlossen. 82 Vgl. noch einmal Dworkin, TRS, S. 343 f. 83 Dworkin, TRS, S. 342 ff. Vgl. unten II 4 und Kapitel 5 II, III.
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Prinzipien lösen, weil es in seiner Theorie unvereinbare Wertungswidersprüche, die zur Ungültigkeit eines Prinzips führen müssen84, nicht gibt. Wenn nämlich Prinzipien nicht als solche vorliegen, sondern stets interpretativ erarbeitet werden müssen, so hat es der Interpret in der Hand, seine Interpretation des rechtlichen Materials konsistent zu machen, also Prinzipienwidersprüche zu vermeiden. Wertungsmäßig nicht konsistent und kohärent einfügbare Prinzipien gehen erst gar nicht in die interpretative Theorienbildung ein. Wertungswidersprüche können somit schon im Vorfeld der Rechtsfindung beseitigt werden. Ein bislang anerkanntes, aber nicht konsistent interpretierbares Prinzip kann zudem im dritten Schritt des Dworkin'schen Interpretationsmodells als Fehler verworfen werden 85. Rechtsprinzipien sind nach Dworkin nur die Prinzipien, die in einer konsistenten Theorie des Rechts Platz haben: "The law may not be a seamless web, but the plaintiff is entitled to ask Hercules (Dworkins Idealrichter) to treat it as if it were" 86. Ein weiteres Bedenken gegen Dworkins Modell des Abwägens von Prinzipien lautet, es sei jedenfalls auf absolute Prinzipien nicht anwendbar, da diese einen Alles-oder-Nichts-Charakter hätten87. Wenn absolute Prinzipien solche Prinzipien sind, die in jedem Falle (also schon abstrakt) allen anderen Prinzipien vorgehen, dann sind sie in 84 Vgl. Canaris, Systemdenken, S. 112 f., 115 f., 121 ff. Canaris differenziert zwischen Prinzipiengegensätzen (Prinzipienkollisionen im Dworkin'schen Sinn) und Prinzipienwidersprüchen, die er als besondere Form von Wertungswidersprüchen versteht. Ob auch bei Prinzipienwidersprüchen, die aus rechtspolitischen Fehlern entstanden sind, eine Kollisionslücke wie bei den Normwidersprüchen anzunehmen sei, ist nach Canaris problematisch. Unter Hinweis auf den Gleichheitssatz (Willkürverbot) wird dies von ihm jedoch für manche Fälle bejaht; zustimmend Larenz, Methodenlehre, S. 321 Fn. 45. Engisch, Einführung, S. 163 ff., unterscheidet demgegenüber zwischen Prinzipienwidersprüchen, die bestehen bleiben können (Prinzipiengegensätzen im Sinne Canaris'), und solchen, die beseitigt werden müssen. Letztere entstünden etwa nach revolutionären Umwälzungen. Den neuen Prinzipien widersprechendes altes Rechts werde, ohne Eingreifen einer besonderen lex posterior, ausgemerzt, verfalle der Nichtanwendung. Das erinnert an Dworkins Formulierung eines Erosionsprozesses bei Prinzipien. Canaris tritt konsequenter als Engisch für eine Behebung von Wertungswidersprüchen ein, vgl. Engisch, a. a. Ο., S. 164 und Canaris, a. a. O., S. 115 Fn. 14. 85 Vgl. dazu näher unten Kapitel 5 II 1. 86 Dworkin, TRS, S. 116. 87 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 76 f., 77 Fn. 84. Alexys Definition der Absolutheit eines Prinzips ("man (kann) nicht sagen..., daß sie wegen ihres im konkreten Fall (!) geringeren Gewichts anderen Prinzipien weichen müssen") ist in sich widersinnig. Entweder ist das Prinzip absolut, also gewichtiger als alle anderen Prinzipien (zusammen), oder es ist eben nur im konkreten Fall das gewichtigste. Als Beispiel führt Alexy Art.l Abs.l GG ("Die Würde des Menschen ist unantastbar.") an. In seiner Theorie der Grundrechte", S. 94 ff. kommt Alex) dagegen zu der Schlußfolgerung, daß die Menschenwürde-Norm kein absolutes Prinzip sei und einen Doppelcharakter als Regel und Prinzip habe. Das kommt der Dworkin'schen These, daf es eine interpretative Frage ist, ob eine Norm als Regel oder als Prinzip zu behandeln ist, nahe.
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Wirklichkeit, weil der Abwägungsprozeß entbehrlich ist, Regeln mit Allesoder-Nichts-Charakter. Daraus läßt sich aber nur dann ein Argument gegen Dworkin herleiten, falls dieser die Existenz absoluter Prinzipien behauptet. Im Kontext der Regeln-Prinzipien-Diskussion äußert sich Dworkin zu dieser Frage nicht. An anderer Stelle im Rahmen der Theorie der Individualrechte aber spricht Dworkin von absoluten Rechten und absoluten Zielen 88 . Implizit wird damit auch die Existenz absoluter Prinzipien (die ja Rechte oder Ziele behaupten) als möglich eingeräumt. Und im Zusammenhang der Diskussion von John Stuart Mills O n Liberty" gebraucht Dworkin selbst den Terminus "absolutes Prinzip" 89. Dworkin unterscheidet dort zwischen der "force" (Stärke, Bedeutung) und der "range", der Reichweite eines Prinzips, seinen potentiellen Anwendungsfällen. Je eingeschränkter die Reichweite eines Prinzips sei, desto plausibler lasse sich von einem absoluten Prinzip sprechen. So habe Mill gemeint, daß das von ihm formulierte Prinzip ("daß der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen"90) absolut sei. Wenn es sich dabei aber um ein "absolutes Prinzip" für Fälle, in denen der Tatbestand (Selbstschutz) erfüllt ist, handelt, dann ist das MilTsche Prinzip in Wirklichkeit eine Regel im Dworkin'schen Sinne. Hier verwendet Dworkin den Begriff des Prinzips also in einer seiner Unterscheidung von Regeln und Prinzipien widersprechenden Weise. Konsequent durchgeführt kann es in Dworkins Regel-Prinzipien-Modell keine absoluten Prinzipien geben. Dworkins Ablehnung einer Theorie der "individuation of laws " fordert die Frage heraus, ob denn seine klassifikatorische Unterscheidung von Regeln und Prinzipien ohne eine Vorstellung davon auskommen kann, was als ein Prinzip und als eine Regel zu gelten hat. Dworkin bejaht dies, denn es geht ihm um die Unterscheidung zweier Begründungsweisen in der (richterlichen) Entscheidung, nicht um die Unterscheidung zweier Entitäten. Bei der Abwägung von Prinzipien muß zwar Klarheit darüber herrschen, welche Prinzipien gegeneinander abgewogen werden. Hierfür ist es aber irrelevant, was als eine vollständige Formulierung eines Prinzips und was etwa bloß als spezielle Ausformung eines Prinzips zu gelten hat. Nicht die Zahl der angeführten Prinzipien gibt den Ausschlag, sondern ihr Gewicht. Der Richter darf sich nur nicht von den zahlreichen, verschiedenen Formulie88 Vgl. Dworkin, TRS, S. 91 f. und oben Kapitel 3 I V 3 b. 89 Dworkin, TRS, S. 261. 90 Mill, Über die Freiheit, S. 16.
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rungen ein und desselben Prinzips blenden lassen, muß bloße Ausformungen eines Grundgedankens von neuen Prinzipien unterscheiden können91. Seine Aufgabe ist es nicht, einzelne Prinzipien in Waagschalen zu legen und zu addieren. Er hat vielmehr ihre Bedeutung abzuschätzen, und das ist eine interpretative Aufgabe. In Dworkins Ablehnung einer "individuation of laws" klingt der Gedanke an, der Wittgenstein zur Verwerfung seines sogenannten Absolutismus und Atomismus brachte: Es gibt nicht nur eine Weise der Zerlegung von etwas Zusammengesetztem in etwas Einfacheres. Was wir mit "einfach" und "zusammengesetzt" meinen, hängt vom Kontext ab 92 . Danach gibt es nichts schlechthin einfaches: Prinzipien (oder Regeln), wie immer man sie formuliert, sind nicht die einfachsten Bestandteile des Rechts93, sondern Interpretationen des Rechts, derer sich Juristen bedienen, wenn sie rechtliche Aussagen machen. Aus den eben dargelegten Gründen weist Dworkin auch eine graduelle Unterscheidung von Regeln und Prinzipien nach dem Grade der Spezifität oder Generalität der vorgeschriebenen Handlung zurück 94. Denn diese Unterscheidimg, die auf der Vorstellung einer "generischen Handlung" aufbaue, verkenne die Kontextabhängigkeit der Bestimmung dessen, was als eine Handlung anzusehen sei. c) Zum Zusammenspiel von Regeln und Prinzipien und den Folgen für die Alles-oder-Nichts-Weise von Regeln Gegen Dworkins These, daß Regeln und Prinzipien nicht in Konflikt geraten können, wurde geltend gemacht, daß der Fall, daß eine Regel tatbestandlich erfüllt sei, ihre Folgenanordnung aber in Widerspruch zu der Folgenanordnung eines Prinzips stehe, nur eine der beiden folgenden Lösun91 Zu denken ist etwa an die Flut von Prinzipien, die das Bauplanungsrecht hervorgebracht hat. Hier müssen bloße Ausformungen eines allgemeineren Prinzips von wirklich neuen Prinzipien abgegrenzt werden. Vgl. etwa Hoppe, Bauplanungsrechtliche Grundsätze, S. 133 ff. und Sendler, Zum Schlagwort von der Konfliktbewältigung im Planungsrecht, S. 211 ff., 223 ff. Sendler, a. a. Ο., S. 223 schreibt: "Ebenso wie die Rechtsprechung schwankt auch die Literatur jedenfalls verbal zwischen Grundsatz und Gebot; dies verleiht der Sache, um die es geht ...einen eigentümlich changierenden Charakter." Damit ist die Problematik der Dworkin'schen Unterscheidung von Regeln (Geboten) und Prinzipien (Grundsätzen) auf den Begriff gebracht. 92 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 46-48; erläuternd Stegmüller, Hauptströmumgen I, S. 565 f. 93 Dworkin, TRS, S. 76. 94 Dworkin, TRS, S. 78 in Erwiderung auf Raz' Vorschlag (Legal Principles and the Limits of the Law, S. 838). Vgl. auch Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 64.
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gen finden könne: Entweder werde die Regel angewandt, ihre Folgenanordnung befolgt; dann sei es aber ein bloßes Lippenbekenntnis, daß auch das entgegenstehende Prinzip angewandt w e r d e . Dieser Einwand verfehlt Dworkins Position insofern, als Prinzipien nach Dworkin nicht "angewandt", sondern als Gründe und Gegengründe bei der Entscheidungsfindung abgewogen werden. Daher ist der Fall, daß eine tatbestandlich eingreifende Regel angewandt wird und es entgegenstehende Prinzipien gibt, unproblematisch. Denn offenbar gibt es dann stärkere Gründe (Prinzipien), die die Regel stützen. Oder aber - so lautet der Einwand weiter - die Regel werde nicht angewandt und das Ergebnis über das Prinzip gefunden. Dann gebe es entweder die behauptete Regel gar nicht oder aber Prinzipien müßten in der Lage sein, Ausnahmen zu Regeln zu konstituieren. Die Alles-oder-Nichts-Weise von Regeln breche jedoch in sich zusammen, wenn man es zulasse, daß Prinzipien in einer nicht vorausberechenbaren Weise zur Nichtanwendbarkeit einer Regel führen könnten96. Gerade die Existenz von Prinzipien und ihre Funktion mache also die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien anhand des Kriteriums der Alles-oder-Nichts-Weise von Regeln unmöglich. Wenn Prinzipien Ausnahmen zu Regeln konstitutieren könnten und die Prinzipien einer Rechtsordnung nicht aufzählbar seien, so seien auch die Ausnahmen zu Regeln nicht aufzählbar, was den Alles-oder-Nichts-Charakter der Regeln untergrabe 97. Diese Kritik ist unter der Voraussetzung durchschlagend, daß das Recht einer konkreten Rechtsordnung eine Sammlung identifizierbarer Normen ist. Sie macht im Kern geltend, daß, wenn Prinzipien Einfluß auf die Anwendbarkeit von Regeln haben, eine abschließende Aufzählung aller Ausnahmen zu einer Regel wegen der dann notwendigen Abwägung von Prinzipien schon theoretisch ausgeschlossen ist. Der wunde Punkt der Dworkin' sehen Abgrenzung von Regeln und Prinzipien ist danach die unbehebbare Unsicherheit über die geltenden Rechtsregeln und ihre konkrete Fassung sowie darüber, ob ein Standard als Regel oder als Prinzip zu behandeln ist. In Reaktion auf die an seiner Regel-Prinzipien-Unterscheidung geübte Kritik hat Dworkin ein Verständnis von Regeln und Prinzipien zurückge95 Tapper, A Note on Principles, S. 630. 96 Tapper, A Note on Principles, S. 630 f. 97 Das ist wohl das am häufigsten gegen Dworkins Regel-Prinzipien-Modell vorgebrachte Argument. Vgl. Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 69 f.; ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, S. 16 f.; Raz, Legal Principles and the Limits of the Law, S. 837; Tapper, A Note on Principles, S. 631.
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wiesen, daß das Recht "as a collection of discrete propositions, each with its own canonical form" 98 begreift. Es geht Dworkin bei seiner Regel-Prinzipien-Unterscheidung um eine adäquate Interpretation der vorgefundenen richterlichen Praxis. Der Schlüssel zum Verständnis der Dworkin'schen Position ist, daß dieser nicht behauptet, daß sich die Frage, ob ein Standard eine Regel oder ein Prinzip ist, anhand der beiden Kriterien der Alles-oderNichts-Weise und des Gewichts entscheiden läßt, sondern nur, daß wenn ein Standard eine Regel ist, sie in Alles-oder-Nichts-Weise funktioniert 99. Die Regel-Prinzipien-Unterscheidung hat bei Dworkin keine heuristische Funktion und die Begriffe Regel und Prinzip stehen für keine vorfindbaren Entitäten. Sie sind nur das begriffliche Instrumentarium einer gegen die positivistische Vorstellung des Rechts als einer Normensammlung gerichteten Interpretation rechtlicher Argumentation. Bleibt zu fragen, ob von diesem Blickwinkel aus Dworkins Unterscheidung von Regeln und Prinzipien in sich stimmig ist und das leistet, was sie zu leisten vorgibt. Die Notwendigkeit der Abwägung von Prinzipien beeinträchtigt die von Dworkin behauptete - (zumindest) theoretische - Aufzählbarkeir 00 der Ausnahmen zu einer Regel dann nicht, wenn es eine beste, alle relevanten Prinzipien abwägende Interpretation gibt, die zu einer bestimmten Fassung der Regel einschließlich aller ihrer Ausnahmen führt. Genau dies ist Dworkins These 101 . Allerdings ist die Entwicklung einer solchen, das komplexe Zusammenspiel von Gründen und Gegengründen vollständig erfassenden und alle Regeln rechtfertigenden interpretativen Theorie nur idealiter denkbar. Die Aufzählbarkeit aller Ausnahmen zu einer Re1 Ω?
gel bleibt also eine bloß theoretische Möglichkeit . Die Kritik an Dworkin, daß man sich in seiner Konzeption einer Regel nie sicher sein könne, ob nicht in der Zukunft eine neue Ausnahme zu einer I M
Regel zu statuieren sei
, trifft nach allem für die Praxis zu. Diese Kritik
98 Vgl. Dworkin, TRS, S. 343 f., 76. Diese Äußerungen liegen fünf bzw.elf jähre später als die erste Veröffentlichung von The Model of Rules. 99 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 70 Fn. 69 bezeichnet Dworkins Theorie deshalb als technisch schwach. Folgt man Dworkins späteren Äußerungen (TRS, S. 76, 343 f.), so wird mit der Regel-Prinzipien-Unterscheidung selbst gar nichts behauptet. Sie ist nur das Mittel zur Darlegung seiner Konzeption des Rechts, die die Idee einer besten interpretativen Theorie des rechtlichewn Materials propagiert. Dieser Theorie aber ist kaum technische Schwäche vorzuwerfen. 100 Dworkin, TRS, S. 25. 101 Vgl. unten Kapitel 6. 102 Das bestätigt sich indirekt dadurch, daß Dworkin einen idealisierten Richter in seine Theorie einführt. Vgl. Kapitel 5 II 1 a. 103 Vgl. Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 69 (die Existenz einer Regel setze die Existenz aller ihrer möglichen Ausnahmen voraus) und ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzi-
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hat die Rechtssicherheit im Auge und versteht darunter die Vorhersagbarkeit des Inhalts und der Funktionsweise eines Standards als Regel oder Prinzip. Dworkin behauptet indessen gerade nicht, daß Regeln in irgendeinerweise für die Zukunft festliegen. Im Gegenteil, keine Regel ist in seiner Theorie vor einer veränderten Auslegung, der Statuierung von Ausnahmen oder gar ihrer Verwerfung und Nichtanwendung sicher. Dworkin sieht das Recht in einer Art Momentaufnahme. Für einen bestimmten Zeitpunkt gebe es eine beste Interpretation des Rechts, die Aufschluß darüber gebe, ob ein Standard als Regel oder als Prinzip zu behandeln sei und welche vollständige Fassung einer Regel die beste sei. Ob der Tatbestand einer Regel erfüllt ist und ob es sich bei einer Norm überhaupt um eine Regel (und nicht ein Prinzip) handelt 104 , das sind nach Dworkin interpretative Fragen, die nur unter Heranziehung und Abwägung verschiedener Prinzipien zu beantworten sind 105 . Rechtssicherheit bedeutet für Dworkin, daß es auf jede rechtliche Frage eine allein richtige Antwort gibt, nicht aber, daß diese Antwort durch einen Blick in das "rule-book 1,106 voraussagbar ist. Aus der Sicht des Rechtsunterworfenen funktioniert Dworkins Unterscheidung von Regeln und Prinzipien somit nur mit dem "benefit of hindsight" 107. Für ihn steht immer erst im Nachhinein durch die richterliche Entscheidung fest, ob ein Standard als Regel oder Prinzip zu begreifen und wie er zu fassen war. Dieses Ergebnis - was Recht ist, ist sicher, man kann aber nicht sicher sein, was Recht ist - wird sich im folgenden noch mehrfach bestätigen.
pien, S. 16 (es müsse eine Liste aller in Zukunft zu treffenden Ausnahmen erstellt werden können). Siehe auch Bell, Understanding the Model of Rules, S. 929,945. 104 Vgl. hierzu Dworkin, TRS, S. 27,79. 105 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 70 f. formuliert dies dahin, daß man in jede Regel den Vorbehalt hineinlesen müsse, daß die Regel dann nicht zur Anwendung komme, wenn gewichtigere entgegenstehende Prinzipien eine Ausnahme geböten. Das weitere Argument Alexys aber, daß, wenn man Regeln mit einer Vorbehaltsklausel lesen müsse, sich auch Prinzipien mit einer Vorbehaltsklausel versehen ließen ("wenn nicht ein Prinzip mit widersprechendem Ergebnis vorgeht"), was sie in einer Alles-oder-Nichts-Weise anwendbar und den Alles-oder-Nichts-Charakter von Regeln als Abgrenzungskriterium zunichte mache, geht an Dworkins Theorie vorbei. Prinzipien haben in Dworkins Theorie ex definitione eine solche Vorbehaltsklausel nicht nötig, weil sie immer nur prima-facie-Gründe sind. 106 Vgl. Dworkin, MP, S. 11 ff. 107 Vgl. Hutchinson/Wakefield, A Hard Look at "Hard Cases", die diesen Ausdruck für Dworkins Unterscheidung einfacher und schwieriger Fälle prägten.
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4. Rechtsprinzipien und Moralprinzipien
Die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien dient Dworkin zur Artikulation seiner Kritik der rechtspositivistischen Trennung von Recht und Moral. Hatte Dworkin in einer seiner ersten Veröffentlichungen noch geschrieben, Recht und Moral seien verschiedene, sich überlappende Standards zur Kritik menschlichen Verhaltens 108, so hält er es später für schon im Ansatz verfehlt, Regeln und Prinzipien verschiedenen Normensammlungen - dem Recht oder der Moral - zuordnen zu wollen. Das Bild vom existierenden Recht sei schlechthin falsch, es gebe keine Normensammlung, die mit dem Etikett "Recht" versehen werden könne 109 . Gleichwohl versucht Dworkin auf die beiden Fragen, ob alle Rechtsprinzipien immer auch Moralprinzipien sind und wann ein Prinzip ein Rechtsprinzip ist, eine Antwort zu geben. Zum ersten: Es sei absurd anzunehmen, daß zwischen Rechtsprinzipien und Moralprinzipien 110 kein Unterschied bestehe. Nicht alle Rechtsprinzipien seien auch Moralprinzipien, wenn damit gemeint sei, daß sie moralisch vernünftig und korrekt seien. Allerdings seien alle Rechtsprinzipien Moralprinzipien der Form nach, d.h. sie alle behaupteten Rechte und Pflichten der Bürger und könnten zur Rechtfertigung der institutionellen Geschichte der Institution "Recht" herangezogen werden 111 . Der Begriff des Moralprinzips sei nicht anders als formal zu fassen, so daß z.B. auch das Prinzip, daß Schwarze weniger Sorge verdienten als Weiße, der Form nach ein Moralprinzip sei. Später äußert sich Dworkin dagegen zweifelnd, ob nicht die beste Konzeption des Begriffs des moralischen Prinzips solche diskriminierenden Sätze von vornherein ausschließt112. Mit der zweiten Frage, unter welchen Bedingungen ein (Moral-)Prinzip ein Rechtsprinzip ist, ist der Kernpunkt des Streits zwischen Harts rechts108 Dworkin, Philosophy, Morality, and Law, S. 683. 109 Dworkin, TRS, S. 15,76,289 f., 293,343 f.; A Reply, S. 261; LE, S. 413. 110 Moralische Regeln sind in Dworkins Theorie kein Thema. Ob Dworkin für die Allesoder-Nichts-Weise von Regeln in der Moral grundsätzlich keinen Raum sieht, ist unklar. 111 Dworkin, TRS, S. 343; unklar ist, ob Dworkin unter Rechtsprinzipien hier nur Prinzipien im Sinne von principles (im Gegensatz zu policies) versteht oder Prinzipien im weiteren Sinne wie bei der Regel-Prinzipien-Unterscheidung im allgemeinen. Kritisch gegenüber der Behandlung verhaßter, abscheulicher Prinzipien als Moralprinzipien Hart, Legal Duty and Obligation, S. 152 f. 112 Dworkin, A Reply, S. 299 N.4. Vgl. oben Kapitel 3 III 3.
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positivistischer Theorie einerseits und Dworkins Gegenmodell andererseits angesprochen. Eine strikte Trennung rechtlicher und moralischer Standards ist nach Dworkin nicht möglich: Rechtsprinzip sei jedes Prinzip politischer Moral, das grundsätzlich geeignet sei oder in Frage komme, in einer rechtfertigenden Theorie zur Legitimation von Rechten und Pflichten eine Rolle zu spielen 113 . Rechtsprinzipien sind somit durch ihre Zugehörigkeit zu einer bzw. der besten, das rechtliche Material rechtfertigenden, interpretativen Theorie des Rechts - der "soundest theory of law" - als rechtliche Prinzipien ausgezeichnet114. Gegenstands- und Erkenntnisseite des Rechts fallen damit in eins 115 . Es ist eine Frage interpretativer Theorienbildung, ob einem Prinzip Rechtsqualität zukommt. Daher kann eine Interpretation die judizielle Geschichte in einem ganz neuen Lichte zeigen, indem sie ein bis dahin noch gar nicht (an)erkanntes Prinzip formuliert, das als Teil der (besten) interpretativen Theorie des Rechts selbst Recht ist 1 1 6 . Bei der Frage der Rechtsqualität neuer Prinzipien, wird der antipositivistische Kern des Dworkin'schen Ansatzes deutlich. Dworkin verzichtet zur 113 Dworkin, TRS, S. 342 ff. 114 Dworkin, TRS, S. 66, 347. 115 Vgl. zur Trennung von Gegenstands- und Erkenntnisseite Engisch, Einheit der Rechtsordnung S. 2, von objektivem und wissenschaftlichem System Canaris, Systemdenken, S. 61, von Prinzipien des Rechts und juristischen bzw. heuristischen Prinzipien Esser, Grundsatz und Norm, S. 90 ff. 116 Dworkin, "Natural" Law Revisited, S. 169. Demgegenüber anerkennt Esser, Grundsatz und Norm, S. 2,40,53 zwar die Möglichkeit, daß noch nicht positivierte Rechtsprinzipien an einem exemplarischen Fall in das juristische Denken Eingang finden. Er kritisiert aber die Vorstellung verborgen schlummernder Prinzipien als Ideologie. Die Frage sei vielmehr, von wann ab Rechtsprinzipien den Charakter positiven Rechts hätten. Es gelte, den Positivierungsvorgang ans Licht zu ziehen. Auch nach Larenz, Methodenlehre, S. 405 ff. ist die "juristische Entdeckung" nichts anderes als die erstmalige Formulierung eines Prinzips oder eines neuen Anwendungsbereiches eines bekannten Prinzips, durch die es fähig wird, Bestandteil des gegenwärtigen Rechts als eines Sinnganzen zu werden. Dieser Prozeß werde vielfach mit dem Nachweis, das Prinzip habe unerkannt schon der bisherigen Rechtsprechung zugrundegelegen befördert. Nach Esser und Larenz ist das "entdeckte" Prinzip jedoch im Zeitpunkt seiner Behauptung noch nicht Recht gewesen und wird es erst im Prozeß seiner Durchsetzung in der Rechtspraxis. Es bedürfe dazu intentionaler Rechtssetzungsakte, d.h. eines Parlamentsbeschlusses oder - wenn das Richterrecht als Rechtsquelle anerkannt sei - eines richterlichen Urteils. Prinzipien seien positives Recht, sobald und soweit sie durch rechtsbildende Akte der Legislative, der Jurisprudenz oder des Rechtslebens institutionell verkörpert seien, vgl., Esser, a. a. O., S. 132. Der Dworkin'schen Position am nächsten kommt Canaris, Systemdenken, S. 47 f., 67 - 71 und Die Feststellung von Lücken, S. 96, Fn.134.: Zwar gelten allgemeine Rechtsprinzipien, das seien die Grundwertungen der Rechtsordnung als ganzer oder einzelner Teilgebiete derselben, nicht ohne weiteres als positives Recht. Es genüge nicht, daß ein Prinzip dem geltenden Recht nicht widerspreche. Doch reiche es, damit dem Prinzip der Rang einer Rechtsquelle zukomme, aus, daß es dem gesetzten Recht als Bewertungs- oder innerer Ordnungsgedanke immanent sei oder aber auf außerpositiven Geltungskriterien wie der Rechtsidee oder der Natur der Sache beruhe. Obwohl nicht positiv gesetztes Recht, gölten solche Prinzipien als positives Recht.
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Begründung der Rechtsqualität von Prinzipien auf einen Positivierungsvorgang. Er erklärt die interpretative Stimmigkeit zum Kriterium der Rechtlichkeit. Das geht, da jede Interpretation auch eine inhaltliche Dimension hat, weit über die Forderung hinaus, ein Prinzip dürfe dem geltenden Recht nicht widersprechen.
I I I . Kein Test zur Identifizierung des existierenden Rechts
1. Die Manderen Standards" (Prinzipien) und Moral
als Problem der Trennung von Rech
Der Rechtspositivismus vertritt eine strikte begriffliche Trennung von Recht und Moral. Daher muß eine rechtspositivistische Theorie Kriterien angeben, anhand derer sich rechtliche von moralischen (und sonstigen) Standards unterscheiden lassen. Folgt man Harts Theorie des Rechts - die Dworkin zur Zielscheibe seiner Rechtspositivismus-Kritik macht -, so verfügt ein entwickeltes Rechtssystem über eine (Meta-)Regel, die sogenannte " rule of recognition" y die die Kriterien für die Geltung einer Regel als Rechtsregel des Systems enthält 117 . Dworkins Kritik an Harts rule of recognition setzt an zwei Punkten an. Der erste betrifft die in der rule of recognition figurierenden Testkriterien zur Identifikation des geltenden, positiven Rechts. Diese werden im folgenden unter III erörtert. Bei Dworkins zweitem Kritikpunkt geht es um die Fragen, warum die rule of recognition den Richter bindet und ihm die Pflicht auferlegt, das Recht anhand der durch die rule of recognition festgelegten Kriterien zu bestimmen. Diese Fragen werden von Dworkin unter dem 11Q
Stich-wort "social-rule-theory" diskutiert (dazu unten unter IV). Nach Dworkin ist es unmöglich, mittels eines Tests wie der rule of recognition Harts festzustellen, was Recht ist und was nicht. Es gebe Standards (die Dworkin'schen Rechtsprinzipien), die Recht seien, von denen aber nicht gezeigt werden könne, daß sie Recht seien. Im übrigen sei 117 Bei Kelsen erfüllt die sogenannte Grundnorm diese Funktion, vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 200 f.: "Eine Rechtsnorm gilt..., weil sie...in einer von einer vorausgesetzten Grundnorm bestimmten Weise erzeugt ist." Zu Unterschieden zwischen der rule of recognition Harts und der Grundnorm Kelsens vgl. z.B. Hart, The Concept of Law, S. 245 f.; Eckmann, Rechtspositivismus, S. 123 ff.; Ott, Der Rechtspositivismus, S. 216. Dworkin, TRS, S.
ff.
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die Vorstellung, Recht sei eine bestimmbare Menge von Standards - seien es Regeln oder Prinzipien -, schon als solche verfehlt 119 . Diese Argumentation ist vor dem Hintergrund von Dworkins Konzeption der Wahrheit zu sehen: Propositions of law können wahr sein, auch wenn ihre Wahrheit nicht gezeigt werden kann 120 . Dem Argument des Rechtspositivisten, die fraglichen Standards seien nicht Recht, weil sie den in einer Rechtsgemeinschaft akzeptierten und angewandten Test zur Identifizierung des geltenden Rechts nicht bestünden, wirft Dworkin Zirkularität vor. Ihm geht es um die normative Frage, warum ein Standard Recht ist oder nicht ist. Diese auf eine Rechtfertigung zielende Frage lasse sich weder durch einen Verweis auf die Bedeutung des Begriffes Recht 121 noch durch eine definitorische Festsetzung beantworten 2 . In Dworkins Augen übt der Rechtspositivist mit solch "semantischen Theorien", durch die er den Begriff des Rechts für eine bestimmte Klasse von Standards reserviere, eine linguistische Tyrannei aus 123 . Dworkin beansprucht dagegen, eine interpretative Konzeption des Rechts vorzulegen, die sich nicht diesem Tyranneivorwurf aussetzt. Diese interpretative Theorie des Rechts steche nicht nur den "semantischen Rechtspositivismus" aus. Sie sei auch eine attraktivere konstruktive Interpretation des Rechts als diejenige rechtspositivistische Interpretation, die Dworkin Konventionalismus nennt. Dworkins Argumentation gegen Harts rule of recognition ist unabhängig davon nachvollziehbar, ob man seiner Unterscheidung von Regeln und Prinzipien terminologisch und hinsichtlich ihrer logischen Kriterien folgt. Dworkin selbst hat betont, daß seine Kritik der rechtspositivistischen Trennung von Recht und Moral sich zwar einer spezifischen Unterscheidung von Regeln und Prinzipien bedient, auf diese aber nicht angewiesen 119 Dworkin, LE, S. 413; TRS, S. 76,343 f. 120 S. ο. Kapitel 2 unter III 2 und 3. 121 Dworkin, A Reply, S. 261 in einer Erwiderung auf Raz, für den eine Bedeutungsanalyse des Wortes "Recht" eines von mehreren Argumenten zur Stützung der rechtspositivsistischen Trennungsthese ist, vgl. Legal Positivism and the Sources of Law, S. 41. 122 Dworkin, LE, S. 32 und oben Kapitel 1 II 1. Harts positivistischer Rechtsbegriff ist eine definitorische, normative Festsetzung, nicht das Ergebnis einer Analyse des Gebrauchs des Wortes "Recht". So auch Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, S. 2481; Eckmann, Rechtspositivismus, S. 129 stellt heraus, daß Hart hinsichtlich des Begriffs Recht (anders als bei den einzelnen Rechtsbegriffen) gerade nicht seine Methode der Erläuterung von Funktion und Voraussetzungen des Wortgebrauchs benutzt, vielmehr eine Strukturanalyse vorlegt. 123 Dworkin, MP, S. 406.
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ist 1 2 4 . Hart seinerseits gebraucht den Begriff der Regel nicht in dem eng definierten Sinne wie Dworkin, so daß, wie Dworkin selbst einräumt, die "anderen Standards", die er Prinzipien nenne, durchaus unter Harts Regelbegriff fallen könnten 125 . Doch gebe es unter diesen Prinzipien solche, die von Hart nicht dem Recht zugerechnet würden, die aber Recht seien, weil sie ihren Platz in der besten interpretativen Theorie des Rechts hätten. Dworkins Kritik an Harts Regelmodell des Rechts zielt damit auf dessen Trennung von Recht und Moral, nicht auf Harts Regelbegriff. Mit diesem setzt sich Dworkin im Grunde gar nicht auseinander. Daher sollen Ungereimtheiten desselben hier auch nicht weiter verfolgt werden 126 .
2. Harts rule of recognition
a) Die rule of recognition im System der Primär- und Sekundärregeln Hart stellt sich ein entwickeltes Rechtssystem als ein System aus Pflichten auferlegenden Primärregeln und (Macht übertragenden 127) Sekundärregeln vor. Neben Änderungs- und Entscheidungsregeln gehört zu den Sekundärregeln als deren wichtigste die sogenannte rule of recognition 128. Sie soll die Unsicherheit über die Geltung der Primärregeln (und anderen 124 Dworkin, TRS, S. 71 f. und A Reply, S. 260 ff. 125 Dworkin, TRS, S. 58 f. Hart spricht in einer späteren Arbeit (Legal Duty and Obligation, S. 160), die auf Dworkins Kritik der wie of recognition als sozialer Regel antwortet, von Rechtsregeln und Rechtsprinzipien. Er gibt damit zu verstehen, daß seinem in The Concept of Law verwendeten Regelbegriff Regeln und Prinzipien im Sinne Dworkins unterfallen. 126 In The Concept of Law, S. 15 wies Hart selbst auf den schillernden Charakter des Begriffs der Regel hin. Es gibt eine Reihe von Unklarheiten, was das Verhältnis der Begriffe Regel, Standard und Prinzip bei Hart anbelangt. Es heißt, daß Regeln Standards konstituieren, daß man Regeln als Standards betrachten kann, daß Regeln ein bestimmtes Verhalten zum Standard machen, schließlich daß Regeln im Gegensatz zu Standards spezifische Handlungen verlangen; vgl. Hart, The Concept of Law, S. 32, 38, 55 f., 88, 130. Auf die Unklarheiten in Harts Begrifflichkeit haben schon Morris, The Concept of Law (Book Review), S. 1454 f. und Singer, Hart's Concept of Law, S. 209 f. hingewiesen. Vgl. zum Verhältnis von Regeln und Standards bei Hart auch Eckmann, Rechtspositivismus, S. 64. 127 Daß die rule of recognition, die wichtigste Sekundärregel, Macht übertragend ist, bezweifelt Raz, The Authority of Law, S. 93 Fn.24. 128 Rule of recognition läßt sich im Deutschen mit Erkenntnis- bzw. Anerkennungsregel übersetzen. In Bürgerrechte ernstgenommen wie auch bei Ott, Der Rechtspositivismus, S. 95 ff. wird der Begriff Erkenntnisregel benutzt. Diesem Sprachgebrauch ist zu folgen, da Hart selbst die rule of recognition als Mittel zur Identifikation des geltenden Rechts versteht. Mazurek, Analytische Rechtstheorie, S. 267 und Eckmann, Rechtspositivismus, S. 86 ff. ziehen den Begriff Anerkennungsregel vor.
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untergeordneten Sekundärregeln) 129 eines Systems beseitigen, indem sie die Kriterien bestimmt, die eine Regel erfüllen muß, damit sie eine gültige Regel des Systems ist 1 3 0 . Die Redeweise von einer rule of recognition darf indessen nicht zu der irrigen Vorstellung verleiten, man habe mit ihr ein einfach anwendbares Verfahren zur Hand 1 3 1 . In einem komplexen Rechtssystem, in dem eine Vielzahl von Rechtsquellen anerkannt sind, werden auch die von der rule of recognition stipulierten Kriterien komplex sein. In Frage kommen z.B. Bezugnahmen auf einen autoritativen Text (Verfassung), auf Akte der Gesetzgebung, auf Erklärungen bestimmter Personen, auf gerichtliche Entscheidungen in der Vergangenheit und auf gewohnheitliche Praktiken ("customary practice") 132. Wichtig zum Verständnis der Funktion von Harts rule of recognition ist dessen Unterscheidung zwischen dem internen und dem externen Standpunkt in Bezug auf Regeln. Einen internen Standpunkt nimmt ein Mitglied der Gruppe ein, das die Regel akzeptiert, d.h. die Regel als solche als einen Grund zu ihrer Befolgung ansieht. Einen externen Standpunkt nimmt ein Außenstehender bzw. ein Gruppenmitglied ein, das die Regel nicht akzeptiert. Ein Außenstehender behauptet die Existenz einer Regel, wenn er eine Verhaltensregularität und die Akzeptanz der Regel durch die Mehrheit der Gruppenmitglieder feststellt. Stellt der externe Beobachter lediglich eine Verhaltensregularität fest, so kann er diese nicht mit dem Begriff der Regel beschreiben . Neben den Begriff der Akzeptanz, der also die innere Haltung eines Gruppenmitgliedes zu einer Regel beschreibt, und dem der Existenz, der die äußere Beschreibung der Akzeptanz einer Verhaltensregularität als Regel meint, tritt bei Hart der Begriff der Geltung. Eine Primärregel (bzw. 129 Hart spricht in diesem Zusammenhang zwar gewöhnlich nur von Primärregeln; Singer, Hart's Concept of Law, S. 208 hat aber zu Recht darauf hingewiesen, daß der Begriff der Sekundärregel bei Hart zweideutig ist und die rule of recognition t als fundamentale Sekundärregel, eine Regel über Rechtsmacht übertragende Sekundärregeln und über Pflichten auferlegende Primärregeln sein muß. Ebenso Mazurek, Analytische Rechtstheorie, S. 267 f.; a.A. Eckmann, Rechtspositivismus und sprachanalytische Philosophie, S. 121. 130 Hart, The Concept of Law, S. 92. 131 So auch Baurmann/Kliemt, Rechtspositivismus auf die leichte Schulter genommen?, S. 127. Hart, Legal Duty and Obligation, S. 155 ff. spricht (auf eine Kritik Raz', The Authority of Law, S. 95 antwortend) auch von rules of recognition . 132 Hart, The Concept of Law, S. 97 f. 133 Hart, The Concept of Law, S. 86 ff.; Eckmann, Rechtspositivismus, S. 74 ff.; Kliemt, Moralische Institutionen, S. 223 ff. Zu einer weiteren Differenzierung in "committed" und "detached" interne Sätze eines die Regel akzeptierenden Gruppenmitgliedes bzw. eines sich in die Position eines die Regel akzeptierenden Gruppenmitgliedes versetzenden Außenstehenden, vgl. Raz, The Authority of Law, S. 155 f. und Hart, Legal Duty and Obligation, S. 153 ff.
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eine untergeordnete Sekundärregel) gilt nach Hart, sofern sie die Kriterien der rule of recognition erfüllt, und zwar auch dann, wenn sie im allgemeinen mißachtet wird. Der Begriff der Geltung ist also erst in einem Regelsystem sinnvoll zu gebrauchen, das über eine rule of recognition verfügt. Die rule of recognition selbst aber kann nicht gelten, weil sie nicht ihre eigenen Geltungskriterien angeben kann. Sie wird akzeptiert, wenn sie von den Amtspersonen als Test für die Geltung von Primärregeln (und anderen untergeordneten Sekundärregeln) benutzt und als Standard zur Bestimmung des geltenden Rechts anerkannt wird. Die Behauptung, daß sie existiert, ist eine externe Erklärung des Inhalts, daß eine komplexe, aber im wesentlichen übereinstimmende Praxis von Gerichten und anderen Amtspersonen besteht, das Recht durch Bezugnahme auf bestimmte Kriterien zu identifizieren . 1
Gegen diese Idee einer rule of recognition als eines "master-test , der dazu benutzt wird, das Recht einer Gemeinschaft zu identifizieren 136, richtet sich Dworkins Kritik. Er bestreitet, daß eine Erkenntnisregel formulierbar und praktizierbar ist. Es gebe keine Kriterien, die geeignet seien, die Unsicherheit darüber, welche Primärregeln (und untergeordneten Sekundärregeln) gelten, zu beseitigen. b) Harts Konzeption der rule of recognition als Herkunftstest ("test of pedigree") Dworkin faßt die von Hart beispielhaft genannten Kriterien einer rule of recognition 137 unter dem Begriff "pedigree", also Herkunft, Stammbaum oder Genese zusammen138. Hart und der Rechtspositivismus schlechthin behaupteten, daß es charakteristisch für ein Rechtssystem sei, daß es einen 134 Hart, The Concept of Law, S. 105 ff. Vgl. hierzu auch Raz, The Authority of Law, S. 92. 135 Dworkin, A Reply, S. 261; TRS, S. 40. 136 Hart, The Concept of Law, S. 92,97: "The simplest form of remedy for the uncertainty of the régime of primaiy rules is the introduction of what we shall call a 'rule of recognition'." und "...proper way of disposing of doubts as to the existence of the rule." Coleman, Negative and Positive Positivism, S. 29 und 41 f. unterscheidet eine epistemische und eine sogenannte semantische Bedeutung der rule of recognition. In der ersten Bedeutung sei die rule of recognition ein Test zur Identifikation des geltenden Rechts. In der zweiten Bedeutung spezifiziere sie die Kriterien, die eine Norm erfüllen müsse, um Teil des Rechts der Gemeinschaft zu sein. Nach Coleman kann eine Regel eine rule of recognition im epistemischen und semantischen oder auch nur in einem der beiden Sinne sein. Die Unterscheidung erinnert an die Unterscheidung von Wahrheitskriterien und -definitionen, die von Dworkins interpretativen Standpunkt aus in sich zusammenfällt; s. o. Kapitel 2 III 2 a. 137 Hart, The Concept of Law, S. 92: "This may be the fact of their having been enacted by a specific body, or their long customary practice, or their relation to judicial decisions". Dworkin, TRS, S. 1 .
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mehr oder weniger mechanischen Herkunftstest ("some more or less mechanical test of pedigree" 139) gebe, der die notwendigen und hinreichenden Bedingungen angebe für die Wahrheit von Propositionen darüber, was das Recht ist, die zu trennen seien von Propositionen über das Recht, wie es sein soll. Dworkin schreibt Hart stellvertretend für den Rechtspositivismus die Position zu, daß die Kriterien der rule of recognition rein tatsächlicher Natur sind. Zweifel, ob Hart die rule of recognition ausschließlich als Herkunftstest konzipiert, könnte allerdings folgende Textstelle aufgeben: "In some systems, as in the United States, the ultimate criteria of legal validity explicitely incorporate principles of justice or substantive moral values..."1 . Hart sieht hierin einen nicht zu bestreitenden Einfluß der Moral auf das Recht. Insofern lasse sich von einer notwendigen Verbindung zwischen Recht und Moral sprechen 141. Interpretierte man die gerade zitierte Textstelle Harts dahin, daß eine rule of recognition selbst moralische Kriterien verwenden kann, so wären ihre Kriterien nicht ausschließlich rein tatsächlicher Natur und Dworkins Interpretation der rule of recognition als Herkunftstest griffe zu kurz 142 . Gegen eine solche Interpretation Harts spricht aber dessen grundsätzliches Anliegen einer strikten Trennung des Rechts, wie es ist, vom Recht, wie es sein soll. Deshalb können in Harts Modell nur solche Standards Recht sein, die eine anerkannte Rechtsquelle (Gesetzesrecht, Richterrecht, Gewohnheitsrecht) haben. Moralische Standards sind nur dann beachtlich zur Bestimmung des geltenden Rechts, wenn eine Rechtsnorm, z.B. eine Verfassungsbestimmung, die nach dem Herkunftstest gültig ist, sie zum Kriterium der Rechtsgeltung macht 143 . Inhaltliche moralische Kriterien sind danach lediglich ein zusätzlicher, vom geltenden Recht selbst benutzter Filter, den ein Standard passieren muß, um Recht zu sein. Die rule of recognition Harts erklärt moralische Standards nur mittelbar für relevant 144.
139 Dworkin, A Reply, S. 248. 140 Hart, The Concept of Law, S. 199; vgl. auch S. 103. Zu diesen Systemen gehört auch die Rechtsordnung der Bundesrepublik. Denn das Grundgesetz hat eine ganze Reihe moralischer Prinzipien als Verfassungsprinzipien dem positiven Recht inkorporiert, so daß für die Verfassungskomformität und Gültigkeit einer Rechtsnorm ihre Übereinstimmung mit bestimmten moralischen Standards (z.B. dem Gleichheitssatz) erforderlich ist. Vgl. Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 893. 141 Hart, The Concept of Law, S. 199. 142 So Lyons, Principles, Policies, and Legal Theory, S. 422 ff., der meint, Hart beschränke die möglichen Kriterien einer rule of recognition in keiner Weise. 143 In diesem Sinne Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals, S. 54 f. Vgl. zur Verweisung von Rechtnormen auf Moralnormen auch Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, S. 2481. 144 In diesem Sinne auch Soper, Legal Theory and the Obligation of a Judge, S. 511 f.
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Dworkins Interpretation der Hart'schen rule of recognition als Herkunftstest ist somit zutreffend. Daher sind zumindest einige der von Dworkin unter dem Begriff Prinzipien zusammengefaßten Standards nicht durch die rule of recognition als Recht identifizierbar. Denn vom Herkunftstest nicht erfaßbar sind Prinzipien, die ihren Ursprung nicht in bestimmten Entscheidungen des Gesetzgebers oder eines Gerichts haben, sondern nur Ausdruck eines in der Juristenschaft und der Öffentlichkeit entwickelten "sense of appropriateness", der auch wieder verloren gehen kann, sind. Die in einer interpretativen Theorie erstmals entwickelten Prinzipien sind nach dem "test of pedigree" nicht Recht, weil sie keine rechte Herkunft haben 145 . c) Alternative Konzeptionen einer rule of recognition Eine Variante des Herkunftstests vertritt Raz mit seiner Konzeption der rule of recognition als "sources test" 146 . Danach kann der Inhalt und die Existenz des Rechts durch Bezugnahme auf soziale Tatsachen und ohne daß man auf moralische Erwägungen abstellt, bestimmt werden 147 . Raz gesteht Dworkin zu, daß Harts rule of recognition insofern zu kurz greife, als sie diejenigen Rechtsprinzipien (und Regeln) nicht erfasse, die Recht nur seien, weil sie von der Rechtsprechung akzeptiert würden 148 . Das überrascht, denn Hart selbst erkennt die autoritative Identifikation und Auslegung von Rechtsregeln (Richterrecht) durch die Gerichte als Rechtsquelle an 1 4 9 . Doch Raz wendet ein, daß Harts rule of recognition zwar auf allgemeine Gewohnheiten in der Rechtsgemeinschaft Bezug nehmen 150 , nicht aber bloß gerichtliche Gewohnheiten erfassen könne. Denn da die rule of recognition selbst eine gerichtlich-gewohnheitsrechtliche Regel sei (dazu unten IV), könne sie nicht über die Rechtsqualität anderer gerichtlicher Gewohnheiten entscheiden. Raz modifiziert Harts rule of recognition deshalb dahin, daß Recht alle Gewohnheitsregeln und -prinzipien der rechtsanwendenden und durchsetzenden Institutionen selbst und alle von diesen Gewohnheiten als Recht anerkannten Regeln und Prinzipien
145 Dworkin, TRS, S. 40. 146 Dworkin, A Reply, S. 261 stellt Raz als den einzigen heraus, der streng am Kriterium der Herkunft (bei Raz: "sources test") festhalte. Vgl. auch Dworkin, TRS, S. 64 f. 147 Raz, Legal Reasons, Sources, and Gaps, S. 53. 148 Raz, Legal Principles and the Limits of the Law, S. 852. 149 Hart, The Concept of Law, S. 94 f. 150 Vgl. Hart, The Concept of Law, S. 92. 151 Raz, Legal Principles and the Limits of the Law, S. 852 ff., 853.
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Nun sieht aber Dworkin schon darin, daß Hart eine komplexe rule of recognition überhaupt auf Gewohnheiten in der Gemeinschaft Bezug nehmen läßt, einen Systembruch. Denn daraus, daß die rule of recognition Gewohnheiten in einer Gemeinschaft als Gewohnheitsrecht anerkenne, schon bevor IM
die Gerichte diese erstmalig als Recht anerkennten , ergebe sich das folgende Dilemma. Daß die Gemeinschaft eine Gewohnheit für moralisch bindend halte, sei als Kriterium der rule of recognition untauglich, weil sich dann rechtliche und nur moralische Gewohnheitsregeln gerade nicht unterscheiden ließen. Wenn auf der anderen Seite - im Sinne der üblichen ΙM
Definition von Gewohnheitsrecht - die Frage, ob die Gemeinschaft die Gewohnheit als rechtlich bindend akzeptiere und praktiziere, zum Testkriterium gemacht werde, so verliere der Test hinsichtlich der Gewohnheiten ebenfalls seine Rechtssicherheit herstellende Funktion. Denn er besage dann lediglich, daß das, was als rechtlich bindend angesehen werde, rechtlich bindend sei 154 . Mit einer als richterliche Gewohnheit konzipierten rule of recognition lasse sich also kaum die Unsicherheit über das geltende Recht beseitigen155. Das aber sei die Aufgabe der rule of recognition. Daher sei der von Raz formulierte Test 156 als Test für den Richter in streitigen Fällen wertlos, da er lediglich festsetze, daß Recht sei, was die Gerichte einheitlich und gewohnheitsmäßig praktizierten und was durch diese Praxis als Recht anerkannt werde. In Zweifelsfällen läßt sich auch mit einer 1S7
solchen rule of recognition nicht vorher sagen, was Recht ist . Eine andere Konzeption der rule of recognition, die auf die institutionelle Abstützung des Prinzips 158 , also die Nennung in Präambeln, Gesetzgebungsmaterialien etc., abstellt, greift nach Dworkin zu kurz. Die institutionelle Ab- oder Unterstützung werde in der Argumentation zwar eine Rolle spielen. Doch lasse sich kein Test formulieren, der nur denjenigen Prinzipien Rechtsqualität zuschreibe, die in einem solchen Dokument erwähnt seien. Damit würden längst nicht alle Prinzipien erfaßt. Die institutionelle Verankerung eines Prinzips sei nicht mehr als ein Indiz für seinen 152 Dworkin, TRS, S. 42; Hart, The Concept of Law, S. 92. 153 Vgl. Larenz, Methodenlehre. S. 341. 154 Dworkin, TRS, S. 42 f. 155 Dworkin, TRS, S. 43. 156 Raz, Legal Principles and the Limits of the Law, S. 842 ff. versteht die rule of recognition durchaus als Test, also im epistemischen Sinne. 157 Vgl. zur Kritik der bloß retrospektiven Identifikation des Rechts durch den Rechtspositivismus Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 107 ff. 158 Dreier, Der Begriff des Rechts, S. 893 etwa ist der Ansicht, daß nur institutionell fixierte Basisprinzipien und daraus ableitbare weitere Prinzipien in der Rechtordnung der Bundesrepublik Rechtsprinzipien sind.
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Rechtscharakter 159. So werde ein Prinzip häufig zum ersten Mal in der Gerichtsentscheidung, die es schließlich trage, als solches entdeckt und formuliert 160 . Es ist Dworkins Ziel zu zeigen, daß sich nicht nur kein Herkunftstest im Sinne Harts, sondern überhaupt kein Test zur Bestimmung des geltenden Rechts formulieren läßt. Allenfalls ein Test folgenden Inhalts sei denkbar: Ein Prinzip sei ein Rechtsprinzip, wenn es Teil der stimmigsten Theorie des Rechts ("soundest theory of law") sei, die zur Rechtfertigung der expliziten Primär- und Sekundärregeln des betreffenden Rechtssystems entwickelt werden könne 161 . Danach wäre das Recht abschließend durch die vollständige Menge der (rechtlichen) Prinzipien definiert, die in der soundest theory of law ihren Platz haben. Dieser Test Dworkins setzt die Prinzipien "ultimate", also als den letzten, höchsten Bestimmungsgrund des Rechts. Die Prinzipien selbst bilden danach die rule of recognition . Das Ganze bleibt aber ein Gedankenexperiment. Denn nach Dworkin ist es unmöglich, alle Prinzipien aufzulisten. Einfach von der kompletten Menge der wirkenden Prinzipien zu sprechen, sei wiederum nichts weiter als die Tautologie, daß das Recht das Recht sei. Ließen sich die Prinzipien abschließend aufzählen, so gäbe es nichts mehr, was dem Test unterworfen werden könnte 162 . Das Fazit Dworkins lautet daher, daß es keinen praktikablen Test zur Trennung von Recht und Nichtrecht gebe. Er verwirft Harts Idee eher rule of recognition grundsätzlich. Ganz gleich, welche Kriterien von den Vertretern der Idee eines solchen Tests auch immer angeführt würden, es lasse sich keine Menge von Standards mittels eines handbaren Tests als Recht identifizieren. Dworkins vertritt somit einen offenen Rechtsbegriff.
3. Vorteile einer offenen Konzeption des Rechts
Es ist wichtig zu sehen, daß Dworkin die Konzeptionen der rule of recognition als Herkunftstest und als Test institutioneller Unterstützung nicht etwa deshalb verwirft, weil sich mit ihnen keine saubere Trennlinie 159 Dworkin, TRS, S. 40; S. o. unter II 2 b. 160 Dworkin, TRS, S. 65; und S. o. unter II 4. 161 Dworkin, TRS, S. 66 ff.; Dworkin spricht an dieser Stelle nicht von Primär- und Sekundärregeln, sondern von "explicit substantive and institutional rules", meint aber wohl jene, weshalb darauf verzichtet werden kann, diese neue Terminologie im Text einzuführen. 6 Dworkin, TRS, S.
f.
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zwischen dem Recht und der Moral ziehen lasse. Harts Herkunftskriterien sind hinreichend präzise um festzustellen, ob eine Norm gemäß dieser Konzeption Recht ist oder nicht. Das gleiche gilt für den Test institutioneller Verankerung. Dworkin setzt vielmehr voraus, daß die von ihm als Prinzipien bezeichneten Normen und Werte Recht sind, und kritisiert aus diesem Grunde den Hart'schen Rechtsbegriff als zu eng. Λ (L'i Anderen Versuchen zur Konzipierung einer rule of recognition kann Dworkin mit Recht vorwerfen, die von ihnen benutzten Kriterien gäben die Trennung von Recht und Moral auf oder seien zu komplex, als daß die rule of recognition als handhabarer Test funktionieren könnte. Letzteres gilt insbesondere auch für sein eigenes Gedankenexperiment, die soundest theory of law selbst zur rule of recognition zu erklären. Dworkins Anspruch, eine interpretative Theorie des Rechts zu entwickeln, die ohne Abgrenzungskriterien zur Trennung von Recht und Moral auskommt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein Begriff des Rechts im Kern eine normative Setzung und deshalb dem Vorwurf linguistischer Tyrannei ebenso ausgesetzt ist wie der von ihm attackierte Rechtspositivismus164. Dworkin lehnt eine Interpretation der Rechtspraxis, die nur bestimmten institutionalisierten Regeln und Prinzipien sozialen Zusammenlebens Rechtscharakter zubilligt, weniger deshalb ab, weil diese Interpretation seiner Auffassung nach nicht auf die Institution paßt (also in der Dimension des fit versagt) 165, als deshalb, weil sie ihm unter politischmoralischen Gesichtspunkten unattraktiv erscheint. Die Gründe Dworkins führen bereits in seine Theorie der Rechtsprechung, der hier kurz vorgegriffen sei: In Dworkins Theorie sind alle durch die soundest theory of law erfaßten Prinzipien Recht, also auch solche, die der Rechtspositivismus mangels Rechtsquelle nur zur Moral zählen würde. Dworkins Rechtsbegriff ist insofern also weiter als der rechtspositivistische. Aus diesem weiten Rechtsbegriff leitet Dworkin die Legitimation richterlichen Handelns ab. Da die Prinzipien der soundest theory of law Recht sind, setzt ein Richter, der dem Dworkin'schen Modell interpretativer Theorienbildung folgt, immer schon existierendes Recht durch. Diese Sichtweise gipfelt in der von
163 Gemeint ist die von Lyons, Principles, Positivism, and Legal Theory, S. 423 ff. vertretene Konzeption einer rule of recognition. 164 Vgl. zur Begriffsbestimmung als normativer Festsetzung Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, S. 2481; Ott, Der Rechtspositivismus, S. 174 ff. 165 Kern der Kritik Dworkins, LB, S. 130 ff. ist, daß der Rechtspositivismus (Konventionalismus)richterliches Handeln in schwierigen Fällen nicht als durch rechtliche Standards gebundenes Handeln interpretieren könne. Vgl. unten IV 3.
148
Viertes Kapitel
Dworkin sogenannten rights thesis, die besagt, daß Richter immer existierende subjektive Rechte durchsetzen (sollen) .
IV. Kritik der Begründung des Rechts durch Konventionen
1. Die sogenannte "social-rule-theory" recognition
und ihre Anwendung auf die rule of
Bevor Dworkins Theorie der Rechtsprechung näher betrachtet wird, ist der zweite Pfeiler seiner Kritik des Hart'schen Regelmodells vorzustellen. Unter dem Titel "social-rule-theory" 167 diskutiert Dworkin die Frage, warum Harts rule of recognition den Richter bindet und ihm die Pflicht auferlegt, das Recht anhand bestimmter Kriterien zu identifizieren. Eine Problematik dieser Fragestellung liegt darin, daß es zweifelhaft ist, ob denn die rule of recognition in Harts Theorie dem Richter tatsächlich Pflichten auferlegt. Dieser Frage ist zunächst nachzugehen. Es schließt sich eine Auseinandersetzung mit Dworkins Kritik der social-rule-theory an. Im Kern geht es dabei um die Behauptung des Rechtspositivismus, daß die Wahrheit einer proposition of law in gewöhnlichen historischen Fakten über individuelles oder gesellschaftliches Verhalten, eingeschlossen vielleicht Fakten über Glaubensüberzeugungen und Einstellungen bestehe, "but in nothing metaphysically more suspicious"168. Anders gewendet lautet das Problem, ob die rule of recognition , deren Existenz eine rein tatsächliche Frage ist, dem Richter die Pflicht auferlegen kann, das Recht anhand bestimmter Kriterien zu identifizieren und dementsprechend zu urteilen (unten 2). Die Kritik der social-rule-theory kleidet Dworkin im Grunde nur in eine neue Form, wenn er den Rechtspositivismus als interpretative Theorie unter dem Stichwort "Konventionalismus" diskutiert (unten 3). a) Die Idee der Verpflichtung/Pflicht bei Hart Hart entwickelt die von Dworkin sogenannte social-rule-theory, um die Idee der Pflicht bzw. Verpflichtung 1 allgemein, unabhängig von der
166 Vgl. unten Kapitel 5IV. 167 Dworkin, TRS, S. 48 ff. 168 Dworkin, A Reply, S. 249. 169 Hart gebraucht die beiden Begriffe "duty" und "obligation" meist synonym.
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Existenz eines entwickelten Rechtssystems, zu erklären . Eine soziale Regel sei durch ein gleichförmiges, regelkonformes Verhalten (in) einer Gruppe und dadurch definiert, daß die Gruppenmitglieder einen internen Standpunkt hinsichtlich der Anforderungen der Regel einnähmen, diese also akzeptierten. Wenn die soziale Regel erstens für das gemeinschaftliche Leben wesentlich sei, zweitens durch gesellschaftlichen Druck gestützt und drittens auch gegen den Willen einzelner durchgesetzt werde, so erlege sie den Gemeinschaftsmitgliedern die Verpflichtung zur Regelbefolgung auf 171 . Demnach erlegen nicht alle, sondern nur solche sozialen Regeln Pflichten auf, die die genannten drei Kriterien erfüllen. Nicht darunter fallen ζ. B. Anstandsregeln und sprachliche Regeln, nach denen man etwas nur tun sollte 172 . Diese allgemeine Erklärung des Begriffs der Verpflichtung ist nicht ohne weiteres in Harts zweistufiges Regelmodell zu integrieren. In einem entwickelten Rechtssystem unterscheidet Hart - wie schon erläutert - zwischen Rechtspflichten auferlegenden Primärregeln und Sekundärregeln ("rules of recognition, change and adjudication"), die dazu dienen, Primärregeln und damit Rechtspflichten für den einzelnen zu schaffen, zu verändern und sie gerichtlich durchzusetzen173. Eine nach der rule of recognition des Systems gültige Primärregel eines Rechtssystems erlegt den Individuen Rechtspflichten auf 174 . Problematisch ist, ob dies unabhängig davon gilt, ob der Primärregel eine soziale Regel korrespondiert oder nicht 175 . Wenn letzteres der Fall ist, so ist Harts allgemeine Erklärung der Idee der Verpflichtung zum Zwecke der Erklärung rechtlicher Verpflichtung in Bezug auf Primärregeln überflüssig. Die Gültigkeit einer Rechtsregel allein impliziert dann schon ihren rechtlichen Verpflichtungscharakter . Wenn dagegen zur Gültigkeit der Rechtsregel noch eine entsprechende soziale Regel kommen muß, damit diese Primärregel eine rechtliche Verpflichtung auferlegt, so gibt es Fälle gültiger
170 Vgl. Hart, The Concept of Law, S. 84. 171 Hart, The Concept of Law, S. 83 ff., 89 - 91. 172 Hart, The Concept of Law, 80, 84 f.; ähnlich auch schon Hart, Legal and Moral Obligation, S. 100 ff. Die Unterscheidung von "ought" und "obligation" bei Dworkin (TRS, S. 48) deckt sich mit Harts Unterscheidung von "to be obliged" und "to have an obligation". 173 Hart, The Concept of Law, S. 91 ff.; vgl. auch Eckmann, Rechtspositivismus, S. 65. 174 Hart, Legal Duty and Obligation, S. 160. 175 Vgl. hierzu Hoffmaster, Professor Hart on Legal Obligation, S. 1314. 176 So interpretieren Hill, Legal Validity and Legal Obligation, S. 51,58 ff. und wohl auch Eckmann, Rechtspositivismus, S. 79, Hart. Hierfür spricht auch die Textstelle Hart, Legal Duty and Obligation, S. 160.
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Primärregeln eines Rechtssystems, die mangels Befolgung durch die Rechtsunterworfenen keine Pflichten auferlegen . Welche Interpretation der Position Harts bezüglich des verpflichtenden Charakters von Primärregeln gerecht wird, kann für die hier interessierende Frage des Verpflichtungscharakters der rule of récognition indessen auf sich beruhen. Dworkins Kritik an Hart setzt nämlich an der anderen Frage an, ob die Sekundärregeln des Hart'schen Systems und insbesondere die rule of recognition als soziale Regeln dem Richter überhaupt Pflichten auferlegen können. b) Die rule of recognition Harts als Pflichten auferlegende soziale Regel In Harts Theorie kann die rule of recognition keine gültige Rechtregel sein, weil es hierzu wiederum eine Metaregel zu ihr geben müßte. Sie existiert vielmehr als Regel einer sozialen Gruppe. Ihre Existenz ist eine reine Tatsachenfrage 178. Damit in einer Gruppe eine rule of recognition einfachster Form (z.B.: "Was X sagt, ist Recht") existiert, muß einmal das Recht allgemein anhand dessen, was X gesagt hat, identifiziert werden. Die Regel, daß X' Worte das Recht definieren, muß als Verhaltensstandard akzeptiert und Abweichungen davon müssen kritisiert werden. Ein Abweichen von der Regel, daß das Recht anhand von X's Worten zu identifizieren ist, muß einen Grund zu repressiven Maßnahmen gegenüber von der Regel abweichenden Personen abgeben179. Eine rule of recognition besteht somit in dem übereinstimmenden Verhalten der rechtsanwendenden und rechtsprechenden Offiziellen bei der Identifikation des Rechts ("a firmly settled practice of adjudication"). Die als Standard akzeptierte Praxis wird durch einen gewissen gesellschaftlichen Druck gestützt ("demands for compliance") und Abweichungen von ihm werden sanktioniert ("breach of duty one not only warranting criticism but counter-action") 180. Die rule of recognition ist somit
177 So Hoffmaster, Professor Hart on Legal Obligation, S. 1314,1324. In den Fällen einer Primärregel, der eine soziale Regel entspricht, werden nach dieser Interpretation die Rechtlichkeit der Verpflichtung durch die Rechtsregel und der Verpflichtungscharakter selbst durch die soziale Regel erklärt. 178 Hart, Legal and Moral Obligation, S. 90 und The Concept of Law, S. 106 f. 179 Hart, Legal and Moral Obligation, S. 88 - 91 und The Concept of Law, S. 105 -107. 180 Hart, Legal Duty and Obligation, S. 158 f. spricht ausdrücklich von einer "duty as a judge". Bei den Gegenmaßnahmen ist ist an die Korrektur einer Entscheidung durch die nächste Instanz, aber auch an eine Sanktionierung aufgrund des Straftatbestandes der Rechtsbeugung zu denken.
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eine dem Richter Pflichten auferlegnde soziale Regel. Hiervon geht auch Dworkin in seiner Auseinandersetzung mit Hart aus Ob die von der rule of recognition dem Richter auferlegte Pflicht eine Rechtspflicht ist 1 8 2 , obwohl die rule of recognition selbst rechtlich nicht gültig, sondern nur existent ist, kann hier dahinstehen183, da Dworkin in seiner Kritik an der H arischen rule of recognition nicht zwischen der rechtlichen und der moralischen Verpflichtung zur Regelbefolgung unterscheidet.
2. Dworkins Kritik der social-rule-theory recognition
in ihrer Anwendung auf die rule of
Dworkin macht im wesentlichen zwei Argumente gegen die Begründung von Pflichten durch soziale Regeln geltend. Er bestreitet erstens, daß es zur Begründung einer Pflicht einer sozialen Regel bedarf. Pflichten ließen sich sinnvoll gerade auch gegen bestehende soziale Regeln behaupten184. Die social-rule-theory sei schon in ihrem Grundgedanken verfehlt, weil sie ein als Standard akzeptiertes Verhalten zur Quelle von Pflichten mache, statt es 181 Ebenso Raz, The Authority of Law, S. 91 ff.; Hoffmaster, Professor Hart on Legal Obligation, S. 1309; Hughes, Professor Hart's Concept of Law, S. 332. Α. Α. ist Eckmann, Rechtspositivismus, S. 61, der für die hier vorgetragene und belegte Interpretation keine hinreichende Stütze in Harts Ausführungen sieht. Nach Coleman, Legal Duty and Moral Argument, S. 403 f. ist die rule of recognition weder eine soziale noch eine normative Regel. Sie lege als semantische Regel lediglich die Kriterien der Legalität fest. Erst die diese semantische Regel betreffende Praxis konstitutiere eine soziale Regel. 182 So ausdrücklich Hoffmaster, Professor Hart on Legal Obligation, S. 1309. 183 Der Begriff der Pflicht/Verpflichtung ist nach Hart, Legal and Moral Obligation, S. 82 f., 101; Legal Duty and Obligation, S. 160 f. primär ein rechtlicher. Moralische Verpflichtungen gebe es nur ausnahmsweise, etwa aufgrund von Versprechen. Die Ausdrücke Pflicht und Verpflichtung hätten verschiedene Bedeutungen in rechtlichen und moralischen Kontexten, wenn sie auch gemeinsame Züge trügen (Hart, Legal Duty and Obligation, S. 147; Legal and Moral Obligation, S. 100). Bei diesen Gemeinsamkeiten handelt es sich um die drei Merkmale, die durch die allgemeine Erläuterung des Begiffs der Verpflichtung herausgearbeitet wurden. In Legal Duty and Obligation, S. 160, seiner jüngsten Veröffentlichung zum Thema, definiert Hart rechtliche Pflichten als solche Handlungsweisen, die nach rechtlichen (Primär-)Regeln oder Prinzipien (Antwort auf Dworkin!) vom einzelnen gefordert werden können. Bezüglich des Richters, der die nach der rule of recognition identifizierten Rechtsregeln, deren Verpflichtungsadressat er nicht ist, handhabt und das Verhalten anderer nach ihnen beurteilt, benutzt Hart die Formel, daß der Richter einen "specific kind of reason", einen "authoritative legal reason" habe "for himself conforming to such laws". Mit der Pflicht des Richters, das Recht anhand der Kriterien der rule of recognition zu identifizieren, setzt sich Hart nicht ausdrücklich auseinander, obwohl sie sich aus seiner social-rule-theory und seinem Modell eines Regelsystems implizit ergibt. 184 Dworkin. TRS, S. 52 ff.
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nur als Argument bei der Rechtfertigung einer Pflichten auferlegenden Regel zu benutzen185. Zum zweiten sei die social-rule-theory auch dort unzureichend, wo eine soziale Regel bestehe. Denn sie vermöge nicht zu erklären, wie ein Streit über die Reichweite der sozialen Regel und der Pflicht 1 fi/>
entstehen könne
.
Das begriffliche Instrumentarium der Dworkin'schen Kritik wie auch die Argumente selbst sind aus seiner Theorie der Interpretation und der Moral inzwischen geläufig 187: Dworkin unterscheidet Gesellschaften mit "conventional morality" und solche mit "concurrent morality" (übereinkommender Moral) 188 . Eine Gemeinschaft zeige eine "übereinkommende Moral", wenn die Mitglieder in etwa dieselbe normative Regel behaupteten, aber das Faktum ihres gleichen Verhaltens und ihrer Übereinstimmung in ihrer inneren Haltung nicht als Grund für ihre Behauptung der normativen Regel ansähen. Sie zeige eine "Konventions-Moral", wenn sie dieses Faktum als TxQ
Grund zählten . Diese Unterscheidung liegt parallel zur Unterscheidung von Paradigmen und Konsens als der Übereinstimmung in Überzeugungen einerseits und Konventionen andererseits 190. Die Unterscheidimg eines internen und eines externen Standpunktes drückt Dworkin auch mit den Begriffen einer normativen und einer sozialen Regel aus. Ein außenstehender Beobachter behaupte eine soziale Regel· Die Behauptung sei wahr, wenn die soziale Regel tatsächlich bestehe . Das sei eine von einem exter185 Dworkin, TRS, S. 57. 186 Dworkin, TRS, S. 54; dazu Coleman, Negative and Positve Positivism, S. 39 f., 43 f. 187 Vgl. oben Kapitel 1 III 2 und Kapitel 2 II 3 und 5, III 3 und 4. 188 Die Übersetzung des Begriffs der "concurrent morality" mit "übereinkommender Moral" (Bürgerrechte ernstgenommen, S. 102) ist übrigens insofern unglücklich, als besser von "übereingehender" oder "zusammenlaufender" Moral im Gegensatz zur "conventional morality" als übereinkommender Moral die Rede wäre. 189 Dworkin, TRS, S. 53. 190 Eine Konvention existiert nach Dworkin, "when people follow certain rules or maxims for reasons that essentially include their expectation that others will follow the same rules or maxims, and they will follow rules for that reason when they believe that on balance having some settled rule is more important than having any particular rule". Konsens und Paradigmen seien von Konventionen dadurch unterschieden, daß ein agreement in conviction vorliege und sie jederzeit in Frage gestellt werden könnten. Ein Rechtssystem sei auf Paradigmen, nicht aber auf Konventionen angewiesen. Dworkin, LE, S. 138 f., 70 ff., 145. 191 Dworkin, TRS, S. 51. Ungenau ist Dworkins Wiedergabe der Hart'schen Position insofern, als er behauptet, Harts außenstehender Beobachter stelle, wenn er eine soziale Regel einer Gruppe behaupte, lediglich fest, daß ein bestimmtes regelmäßiges Verhalten vorliege, nicht aber die innere Haltung der Gruppenmitglieder hierzu (Dworkin, TRS, S. 51). Darauf beschränkt sich bei Hart aber lediglich der den "extrem externen" Standpunkt einnehmende Beobachter, der das Beobachtete daher gerade nicht mit dem Begriff der (sozialen) Regel wiedergeben kann (Hart, The Concept of Law, S. 87). Der Grund für Dworkins ungenaue Wiedergabe mag darin liegen, daß Dworkin den Hart'schen Begriff der Akzeptanz für unklar hält; vgl. Dworkin, LE, S. 35. Auch Eckmann, Rechtspositivismus, S. 84 kritisiert, daß sich
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nen Standpunkt zu beantwortende rein tatsächliche Frage. Ein die Regel akzeptierendes Gruppenmitglied dagegen behaupte eine normative Regel. Seine Behauptung innerhalb der Institution des Rechts sei wahr, wenn tatsächlich eine Pflicht bestehe, also eine bestimmte normative Lage gegeben sei 192 . a) Verpflichtungen ohne soziale Regel Am Beispiel eines Vegetariers in einer Fleisch konsumierenden Gesellschaft, der behauptet, die Gemeinschaftsmitglieder hätten eine Pflicht, Tiere nicht um des Fleisches willen zu töten, versucht Dworkin zu zeigen, daß Pflichten sinnvoll behauptet werden und bestehen können, auch wenn gerade kein entsprechendes Verhalten der Gruppe zur Begründimg dienen kann 193 . Die social-rule-theory erlaube es aber gerade in den streitigen Fällen, in denen keine gemeinsame Praxis als Argument dienen könne, nicht, von Pflichten zu sprechen, obwohl gerade dann, wenn das richtige Verhalten umstritten sei, die Berufung auf Pflichten ein besonders starkes Argument darstellen soll 194 . Hart würde in dem Vegetarierbeispiel einen typischen Fall dafür sehen, daß man etwas vielleicht nicht tun soll(te), aber gerade keine Pflicht zum Unterlassen besteht. Der Begriff der Pflicht werde in einem solchen Fall fälschlich gebraucht 195. Für Dworkin aber ist die social-rule-theory gerade deshalb eine unzureichende Theorie zur Erklärung der Idee der Pflicht, weil sie in Fällen wie dem Vegetarierbeispiel den "appeal to duty" oder den "claim to duty" nicht erkären kann 196 . In einer Gesellschaft mit einer übereinkommenden Moral - wie z.B. den 1Q7
USA - könne man Pflichten nicht aus sozialen Regeln begründen, da hier gerade nicht an soziale Regeln appelliert werde, um ein Verhalten für verbindlich zu erklären 198 . Indem Dworkin als Moral einer Gemeinschaft nicht die positive, sondern nur die kritische Moral zählt, können Pflichten grundsätzlich nicht aus faktisch befolgten sozialen Regeln begründet werden. Harts Ausführungen hinsichtlich der Primärregeln nur andeutungsweise, hinsichtlich der Sekundärregeln überhaupt nicht entnehmen lasse, welche psychischen Erscheinungen unter dem Begriff der Anerkennung zu verstehen seien. 192 Dworkin, TRS, S. 51. 193 Dworkin, TRS, S.52f. 194 Dworkin, TRS, S. 55. 195 Vgl. etwa Hart, Legal and Moral Obligation, S. 82 ff. 196 Dworkin, TRS, S. 52. 197 Vgl. oben Kapitel 2 II 3 a. 198 Dworkin, TRS, S. 53 f.
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Eine gesellschaftliche Übung (und ihre allgemeine Akzeptanz) könne lediglich eine Argumentationshilfe bei der Rechtfertigung einer normativen Regel sein, nicht aber deren Ursprung 199 . Aber auch wenn man die social-rule-theory auf Gruppen beschränke, die eine Konventions-Moral zeigten, sei sie unzureichend, da sie nicht erklären könne, wie es zu Streitigkeiten über die Reichweite der sozialen Regel kommen könne 200 . Auch wenn es eine Übereinstimmung im Verhalten in einer solchen Gemeinschaft im großen und ganzen gebe - im allgemeinen scheine das Verhalten der Richter bei der Identifizierung des geltenden Rechts ja konform zu sein 201 -, erweise sie sich als unhaltbar im streitigen Detail. b) Streit über die Reichweite einer sozialen Regel Die social-rule-theory könne nämlich nicht erklären, warum, wenn über den Grund der Pflicht - das gemeinschaftlich-akzeptierende Befolgen von Regeln - Einigkeit bestehe, gleichwohl Streit über den Inhalt der Pflicht entstehen könne. Hart selbst schließt "Unsicherheit" in der rule of recognition nicht völlig aus. Er führt als Beispiel die Frage an, ob die Suprematie des Parlaments in der englischen Verfassimg die Gewalt des Parlaments einschließt, seine Macht selbst zu beschränken. Die "open texture" 202 der Erkenntnisregel habe zur Folge, daß es auf diese wie auf andere Fragen keine allein richtige Antwort, vielmehr nur mehrere vertretbare Antworten geben könne 203 . Dworkin betont, daß auftretende Meinungsverschiedenheiten meist gar keine Frage der sprachlichen Fassung der sozialen Regel seien und nicht auf den Streit über bestimmte Schlüsselwörter reduziert werden könnten. Wenn eine Person eine normative Regel für eine gegebene Situation behaupte, so unterscheide sich diese Regel nämlich typischerweise hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs und ihrer Details von der Behauptung einer normativen Regel durch eine andere Person, weshalb nicht davon gespro-
199 Dworkin, TRS, S. 57. 200 Dworkin, TRS, S. 54. S. o. unter b. 201 Dworkin, TRS, S. 53. Das Richterverhalten scheint nur konform zu sein, ist es aber nach Dworkin nicht, wie sich aus seinen Argumenten zum Streit über die Auslegung der rule of recognition ergibt, vgl. TRS, S. 62 und im Text unter b. 202 Vgl. zum Begriff der open texture oben Kapitel 1 II 1 b. 203 Hart, The Concept of Law, S. 144 -147.
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chen werden könne, daß sie dieselbe soziale Regel behaupteten204. Die rule of recognition auf einer abstrakten Ebene für von den Amtspersonen allgemein akzeptiert und nur die Anwendung im Einzelfall für kontrovers zu erklären 205 , hält Dworkin für Augenwischerei. Denn eine Übereinstimmung auf einer abstrakten Ebene (etwa: Entscheidungen müssen so getroffen werden, wie sie getroffen werden sollen), lasse sich immer konstruieren. Auf sie abzustellen bedeute, die rule of recognition zu trivialisieren 206. Besonders scharf stellt sich nach Dworkin das Problem des streitigen Anwendungsbereichs der rule of recognition für den Fall, daß über die Bezugnahme durch bestimmte rechtliche Normen inhaltliche Maßstäbe der Moral zum Kriterium der Rechtsgeltung gemacht werden. Das habe, weil diese Kriterien notwendig umstritten seien, zur Folge, daß die rule of recognition überhaupt keine soziale Regel sein könne2 . Denn die einzelne Konzeption eines jeden Anwenders davon, was die rule of recognition eigentlich verlange, sei keine soziale, sondern eine normative Regel. Und die gesamte Praxis der Entwicklung von Konzeptionen der rule of recognition lasse sich nicht als soziale Regel begreifen, ohne daß man diese Sinn entleerte. In allen Fällen kontroverser Kriterien gebe es somit keine soziale Regel, vielmehr nur verschiedene Konzeptionen eines Tests zur Bestimmung des geltenden Rechts 208 . Die Unsicherheit über die Reichweite der sozialen Regel läßt sich in Dworkins Augen auch nicht dadurch beheben, daß man stipuliert, Pflichten bestünden insoweit, als sie aus den in der Gemeinschaft akzeptierten und praktizierten sozialen Regeln "folgten" 209. Denn bei dem Kriterium, daß eine Pflicht aus der sozialen Regel folge, handele es sich um kein rein faktisches. Was aus einer sozialen Regel "folgt", sei eine interpretative Frage. Die Attraktivität der social-rule-theory bestehe aber gerade darin, daß die
204 Es sei denn, man beschränkte die soziale Regel auf einen unstreitigen Kernbereich, was aber hieße, daß es außerhalb desselben keine Pflichten geben könnte. Vgl. Dworkin, TRS, S. 63,74,55. 205 Das ist Colemans Argumentation, Negative and Positive Positivism, S. 43 f. und Legal Duty and Moral Argument, S. 403 f.; ähnlich Benditt, Law as Rule and Principle, S. 80 ff. 206 Dworkin, A Reply, S. 253 auf Coleman antwortend. Es geht hier um das Problem, auf weicher Abstraktionsstufe konventionale Überzeugungen gemessen werden sollen, sofern sie für die Formulierung einer rule of recognition für relevant gehalten werden. Dieses Problem hat Dworkin schon in einer seiner ersten Schriften, hier hinsichtlich der Auslegung von Begriffen, die implizit auf moralische Standards Bezug nehmen, beschäftigt; vgl. Philosophy, Morality, and Law, S. 688 f. 207 Vgl. hierzu Coleman, Negative and Positive Positivism, S. 38 f.43 f. 208 Dworkin, TRS, S. 66 ff. 209 So der Vorschlug Niiniluotos, Truth and Legal Norms, S. 184.
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Frage, ob eine Pflicht aufgrund einer sozialen Regel bestehe, eine rein tatsächliche Frage sei 210 . Dworkin sieht in Meinungsverschiedenheiten über die Pflichten des Richters mithin kein Indiz dafür, daß es unsicher ist, ob eine soziale Regel den Fall erfaßt (Frage des Anwendungsbereichs der Regel), sondern gerade einen Beleg dafür, daß überhaupt keine soziale Regel besteht. Denn eine soziale Regel setze Übereinstimmung hinsichtlich der Pflichten voraus. Dworkin betont, daß "disagreements among judges of this sort are very frequent, and indeed can be found whenever appellate tribunals attempt to decide difficult and controversial cases"211. Jeder kontroverse Fall ist für Dworkin ein Indiz dafür, daß es keine übereinstimmende Praxis der Identi919
fikation des Rechts gibt, daß eine soziale Regel also gänzlich fehlt . Andererseits bedeute die Unsicherheit darüber, was Pflicht des Richters im konkreten, streitigen Fall sei, nicht, daß er überhaupt keine Pflicht habe . Eine normative Regel könne sehr wohl bestehen. In dieser letzten Feststellung Dworkins klingt seine antiverifikationistische Konzeption von Wahrheit durch: Daraus, daß es genuin streitig ist, ob eine Pflicht existiert, kann nicht geschlossen werden, daß keine Pflicht besteht. Um zusammenzufassen: Dworkin bestreitet die rechtspositivistische Trennungsthese. In Harts Theorie wird diese These in der Form vertreten, daß das Recht durch die Kriterien der rule of recognition , die als soziale Regel praktiziert werde, von moralischen Standards geschieden sei. Dworkin greift, indem er den Pflichten auferlegenden Charakter einer rule of recognition bestreitet, mittelbar die rechtspositivistische Trennungsthese an. Während Hart die Idee der Pflicht aus einer als Standard akzeptierten faktischen Übung begründet 214, ist dies für Dworkin eine normative Frage. Hinsichtlich des Problems der Trennung von Recht und Moral bedeutet 210 Vgl. Dworkin, LE, S. 123. Vgl. zum Problem, ob Konsequenzen aus Konventionen selbst wieder Konventionen sind, Lewis, Konventionen, S. 80 ff. 211 Dworkin, TRS, S. 62. Es läßt sich nicht etwa einwenden, in manchen streitigen Fällen sei nur die Auslegung eines übereinstimmend als Recht identifizierten Standards streitig. Denn nach Dworkin sind diese beiden Schritte nicht strikt zu trennen. 212 Raz, The Authority of Law, S. 94 meint demgegenüber, daß eine wie of recognition trotz ihrer "Unvollständigkeit" existieren könne. Auch nach Lewis, Konventionen, S. 77 ff. scheitert die Annahme einer Konvention nicht daran, daß nur "nahezu" jeder eine Verhaltensregularität befolgt, dies nur von "nahezu" jedem anderen erwartet etc. 213 Dworkin, TRS, S. 62 ff. 214 Dworkins Kritik ginge insoweit gegen Kelsens Rechtspositivismus ins Leere. Denn der von Dworkin kritisierte Seins-Sollens-Schluß wird vom Neukantianer Kelsen vermieden, indem er die Grundnorm als Sollenssatz voraussetzt. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 202 ff.
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dies, daß Hart nach Dworkin nicht erklären kann, warum der Richter verpflichtet sei, das geltende Recht anhand der durch die rule of recognition festgelegten Kriterien zu identifizieren 215. Dworkin seinerseits behauptet zwar eine Pflicht des Richters in jedem Rechtsfall. Diese Pflicht bezieht sich aber nicht auf die Trennimg rechtlicher und moralischer Standards, sondern darauf, im Wege konstruktiver Theorienbildung die allein richtige Entscheidung zu finden. Diese Pflicht begründet Dworkin aus einer normativen Regel, anders ausgedrückt: aus dem Bestehen eines entsprechenden Individualrechts.
3. Der sogenannte Konventionalismus als interpretative Rechtspositivismus
Version des
Dworkins Kritik der Begründung von Pflichten aus sozialen Regeln mündet in eine Kritik der Begründung des Rechts aus Konventionen216. Bei Lewis - auf dessen Standardwerk Dworkin hinweist, ohne sich mit diesem 917
näher auseinanderzusetzen - sind Konventionen auf gegenseitige Erwartungen gestützte Verhaltensregularitäten, von denen wir glauben, daß man sie befolgen sollte. Lewis' Definition des Begriffs der Konvention anhand bestehender Präferenzen und gegenseitiger Erwartungen kommt ohne normative Begriffe aus und formuliert gleichwohl eine Art von Norm, die mit gesellschaftlichem Druck ausgestattet ist 2 1 8 . Sein Begriff der Konvention deckt sich somit in den entscheidenden Punkten - Deskriptivität der Begriffsmerkmale und normative Folgerungen - mit Harts Begriff einer Pflichten auferlegenden sozialen Regel. 215 Zu Dworkins Kritik der in der rule of recognition Bestimmung des geltenden Rechts, vgl. oben unter III.
festgelegten Kriterien zur
216 Dworkin, LE, S. 136 ff., 145. Moore, A Natural Law Theory of Interpretation, S. 298 betitelt Dworkin gleichwohl als "deep conventionalist", weil seine oben vorgestellte Theorie der Konzeptionenbildung zu Begriffen bei der konventionalen Übereinstimmung der Sprachbenutzer einsetze. Leader, Monism, Pluralism, Relativism, and Right Answers in the Law, S. 279 spricht davon, daß "Dworkin navigates between naturalism and conventionalism". Auch Blackstone, The Relationship of Law and Morality, S. 1385 meint, Dworkins Theorie unterscheide sich nicht "from traditional moral and legal conventionalism". Dworkin selbst stellt den Unterschied zwischen konsensualer und konventionaler Übereinstimmung heraus (vgl. oben Kapitel 1 III 1). Daß allerdings schon die Übereinstimmung über die Paradigmen eines Begriffs, die nach Dworkin das Plateau darstellt, von dem aus Konzeptionen zu bilden sind, eine konsensuale sein soll, deutet darauf hin, daß Dworkin den Grad der Reflektion sprachlicher und anderer sozialen Praktiken überschätzt. 217 Dworkin, LE, S. 431 N.3; S. 433 N.14. 218 Vgl. Lewis, Konventionen, S. 97 ff., 79.
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Indem Dworkin seine Kritik des Rechtspositivismus als Kritik des Konventionalismus ("law as convention" ) fortführt, variiert er nur ein und dasselbe Thema. Er unterstellt, der Konventionalismus sei eine interpretative Theorie, und untersucht, inwieweit eine konventionale Interpretation der anglo-amerikanischen Rechtspraxis dieser gerecht wird und ob sie ein unter dem Gesichtspunkt politischer Moral attraktives Bild derselben zeichnet. Er versucht zu zeigen, daß der Konventionalismus in beiden Dimensionen der Interpretation (fit und value) versagt, also weder ein zutreffendes noch ein attraktives Bild der Rechtspraxis gibt 2 2 0 . a) Der Konventionalismus in der Dimension des fit Für den Konventionalismus ist das Recht eine Frage bestimmter sozialer Konventionen, insbesondere solcher Konventionen, die bestimmen, welche Institutionen die Macht haben, Recht zu setzen und in welchen Verfahren dies zu geschehen hat 2 2 1 . Der Konventionalismus vertrete zwei postinterpretative Thesen in Bezug auf die Rechtspraxis. Richter müßten erstens (außer in seltenen Ausnahmefällen) die rechtlichen Konventionen der Gemeinschaft beachten. Auf diese bestehenden Konventionen stützten sich Erwartungen. Und geschützte Erwartungen lägen der Idee individueller Rechte zugrunde 222. Richter müßten zweitens dort, wo keine Konventionen bestünden, das Recht also lückenhaft sei, Ermessen ausüben223. Dworkin unterscheidet zwei Formen des Konventionalismus, einen strikten und einen weichen ("soft conventionalism"). Der weiche Konventionalismus sei eine Theorie, die die Konventionen so abstrakt ansetze, daß auch im kontroversesten Fall noch eine Konvention vorliege. Diese Form des Konventionalismus ist nach Dworkin nicht wirklich eine konventionalistische Theorie - ebensowenig wie eine soziale Regel existiere, wenn ihr Anwendungsbereich streitig sei .
219 Dworkin, A Reply, S. 252. Die Vertreter des Konventionalismus sind dieselben (Coleman, Lyons, Soper), die Harts rule of recognition durch eine Modifikation des Herkunftskriteriums zu verteidigen suchen. 220 Dworkin, LE, S. 150. Die Theorien, die Dworkin als zur Verteidigung von Harts rule of recognition untauglich zurückgewiesen hat (Coleman, Soper, Lyons), sind dieselben, die Dworkin unter dem Begriff "soft conventionalism" faßt. Dworkin, LE, S. 125,431, N.4. 221 Dworkin, LE, S. 114 f. 222 Dworkin, LE, S. 117. 223 Dworkin, LE, S. 116. Das ist eine Neuformulierung der zweiten These seines Rechtspositivismus-Konstrukts, vgl. oben unter I. 224 Vgl. Dworkin, LE, S. 126 ff. und auch schon A Reply, S. 253.
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Der strikte Konventionalismus dagegen akzeptiere als Konvention nur die sogenannte "explizite Extension" einer Konvention, d.h. die Propositionen, die (fast) jeder, der an der Konvention teilnehme, als Teil der Extension der Konvention anerkenne 225. Dieser strikte Konventionalismus liefert nach Dworkin eine schlechte Interpretation der Rechtspraxis, weil er den Richter paradoxerweise als weniger an Konventionen interessiert zeigen müsse als es dieser tatsächlich sei. Denn wenn sich Juristen nicht einig über den Status einer Norm als Rechtsquelle seien und über deren Interpretation stritten dann gebe es wegen dieses Streits eben keine Konvention im srikten Sinne . Daraus ziehe der Konventionalismus den unzutreffenden Schluß, 997
daß der Richter in solchen Fällen Ermessen habe . Dworkin jedoch geht davon aus, daß Richter auch in kontroversen Fällen keinerlei Ermessen haben 228 . Auch gebe der Konventionalismus keine adäquate Interpretation der Fortentwicklung eines Rechtssystems über die Zeit. Denn Änderungen, z.B. in den Methoden der Gesetzesauslegung (wie Dworkin sie anstrebt 229 ), würden als bloß faktische Veränderungen der konventionellen Grundregeln des enterprise der Rechtspraxis verstanden, nicht aber als durch inhaltliche Argumente bewirkte, um- und erkämpfte Veränderungen im Konsens der Rechtsgemeinschaft über die Interpretation dieser Grundregeln. b) Der Konventionalismus in der inhaltlichen Dimension der Interpretation: Rechtfertigung der Rechtspraxis Was den Konventionalismus nach Dworkin als interpretative Theorie auf den ersten Blick attraktiv erscheinen läßt, ist, daß er mit dem Ideal geschützter Erwartungen und der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen erklären kann, warum frühere politische Entscheidungen über die gegenwärtigen Rechte von Individuen entscheiden230. 225 Die implizite Extension einer Konvention erstrecke sich demgegenüber auf alle Propositionen, die aus der besten Interpretation der Konvention "folgten", vgl. Dworkin, LE, S. 123. 226 Dworkins Beschreibung des strikten Konventionalismus ähnelt Krieles Interpretation des Rechtspositivisus als retrospektivem Reduktionismus, der nur die erledigten und endgültig entschiedenen, nicht aber die noch offenen Rechtsfragen als "Rechtsfragen" begreife. Vgl. Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 108 f. 227 Dworkin, LE, S. 130,124 f. 228 Zur "no-discretion thesis" Dworkins vgl. unten Kapitel 6. Auch Coleman, Negative and Positive Positivism, S. 39 stellt fest, daß Dworkins Argumentation schon voraussetzt, daß Richter kein Ermessen haben. 229 Siehe unten Kapitel 5 II 3. 230 Dworkin, LE, S. 139 ff.
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Dworkin macht jedoch geltend, daß Überraschungen nur dann unfair seien, wenn die Erwartungen durch den hervorgerufen würden, der sie nachher enttäusche231. Solche berechtigten Erwartungen, die in einen Vertrauensschutz münden könnten, würde es aber nur geben, wenn der Konventionalismus die einzige Interpretation der Rechtspraxis wäre. Da aber der Konventionalismus nur eine unter mehreren Interpretationen der Rechtspraxis sei, gebe es keine Konvention, auf die das Vertrauen gestützt werden könnte, daß die Rechtspraxis sich gemäß dem konventionalistischen Ideal verhalten werde 232 . Nach Dworkin ist das Ideal auf bestehende Konventionen gestützter Erwartungen also gerade deshalb kein Ideal der (amerikanischen oder englischen) Rechtspraxis, weil der Konventionalismus nicht die allein herrschende Interpretation dieser Rechtspraxis ist. Zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen sei eine andere Theorie als der strikte Konventionalismus geeigneter. Dieser nämlich gebe dem Richter Ermessen, wenn die explizite Extension der Konvention erschöpft, der Fall also streitig sei. Ermessen aber bedeute Rechtsunsicherheit für den Rechtssuchenden. Ein sogenannter "unilateraler Konventionalismus" dagegen, der bestimme, daß der Kläger gewinnen müsse, wenn es eine explizite Konvention dieses Inhalts gebe, sonst aber der Beklagte, garantiere Rechtssicherheit. Eine Praxis, die dem unilateralen Konventionalismus nahekomme, sei das anglo-amerikanische Strafrecht mit seinem Bestimmtheitsgebot, nicht aber das Zivilrecht 233 . Der Unilateralismus sei daher zwar eine attraktive, aber keine treffende Beschreibung der Rechtspraxis als Ganzer. Der Rechtspositivismus in jeder Spielart krankt nach Dworkin daran, daß er den Richter, wenn die Regeln oder Konventionen in kontroversen Fällen die Entscheidung nicht klar determinieren, als rechtlich nicht mehr gebunden sehe und damit der Idee individueller subjektiver Rechte nicht gerecht werde. Dies ist der Kern des kritischen Teils der Dworkin' sehen Theorie des Rechts. Diese wird jetzt verlassen und der konstruktive Teil, Dworkins eigene Konzeption des Rechts, im folgenden betrachtet.
231 Daß eine soziale Praxis "gives rise to espectations" bestreitet Dworkin nicht. Vgl. TRS, S. 57 232 Dworkin, LE, S. 141. 233 Dworkin, LE, S. 142 f.
Fünftes Kapitel
THEORIE DER RECHTSPRECHUNG
I. Das Prinzip Integrität in Rechtsprechung, Gesetzgebung und Verwaltung
Dworkins "theory of adjudication" ist eine umfassende Theorie der Rechtsprechung, ihrer Aufgabe, ihrer Methode und Legitimation. Sie ist das eigentliche Herzstück der Dworkin' sehen Rechtsphilosophie, in deren Brennpunkt der Richter steht1. Der Gerichtssaal stellt für Dworkin ein "forum of principle" zur Konfliktlösung dar, in dem Bürger ihre unterschiedlichen Hypothesen darüber, was Recht ist, testen können2. Die Rechtsprechung, aber auch die Gesetzgebung werden von Dworkin dem Integritätsideal institutioneller Moral unterstellt . Das Ideal judikativer Integrität prägt Dworkins Theorie richterlicher Methodik; das Ideal legislativer Integrität ist Ansatzpunkt für eine Theorie der Gesetzgebung. Die Integrität der Gesetzgebung hat wiederum Folgen für den integren Umgang des Richters mit dem Gesetz. Zunächst zur legislativen Integrität: Sie verbiete es, sogenannte "checkerboard* -Gesetze4 zu erlassen. Das seien Gesetze, die einer Spaltung der öffentlichen Meinung in der Gesellschaft (z.B. in der Frage der moralischen Zulässigkeit der Abtreibung bzw. eines Rechts hierauf) dadurch
1 Dworkin, LE, S. 11. 2 Dworkin, TRS, S. 216 f., 338; LE, S. 211; MP, Kapitel 2. Für den Bürger, der vor Gericht Recht bekommen möchte und der u.U. ein erhebliches Kostenrisiko eingeht, mag "the development and testing of the law through experimentation" (TRS, S. 216 f.) nach intellektueller Spielerei klingen. Doch da Gerichte nach Dworkin ausschließlich Rechte durchsetzen (sollen), wird der Bürger in seinen Rechten ernst genommen. 3 Vgl. zur allgemeinen Herleitung und Begründung dieses Prinzips Kapitel 2 II 3 b. 4 Ein "checkerboaixr ist ein Damebrett. Die Metapher steht für eine schematische Verteilung.
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Rechnung trügen, daß sie - statt einer der beiden vorherrschenden alternativen Meinungen zu folgen (z.B. durch ein totales gesetzliches Verbot oder eine totale gesetzliche Erlaubnis der Abtreibung) - einen willkürlichen "internen Kompromiß" träfen 5. Ein Beispiel wäre ein Gesetz, das Frauen gerader Geburtsjahrgänge die Abtreibung erlaubte, sie aber Frauen, die in ungeraden Jahren geboren sind, verböte . "Intern" sei der Kompromiß, weil es kein (externer) Kompromiß darüber sei, welches Gerechtigkeitsmodell ("scheme of justice") angenommen werden solle, vielmehr an der Gerechtigkeit selbst Abstriche gemacht würden 7. Die Unterscheidung interner und externer Kompromisse bringt nur unvollkommen zum Ausdruck, worauf es Dworkin ankommt8; nämlich darauf, daß dem checkerboard-Gosetz überhaupt kein Gerechtigkeitsmodell zugrundeliegt. Es verfehlt nicht nur die gerechte Lösung, strebt sie vielmehr gar nicht erst an. Unser Mißbehagen an einem internen gesetzgeberischen Kompromiß im Sinne der checkerboard-Lösung sei zwar berechtigt, lasse sich aber nicht auf Gründe der Gerechtigkeit (hier verstanden im Sinne gerechter Ergebnisse) und erst recht nicht auf Gründe der Fairneß (hier verstanden als gerechte Verteilung politischer Macht) stützen. Was an checkerboard-Lösungen falsch sei, sei vielmehr nur durch das Ideal der Integrität, also das Ideal prinzipiengetreuen, konsistenten Handelns des Staates erklären. Zwar halte jede der beiden Gruppen (im Beispiel die Gegner und Befürworter der Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch) die checkerboard-Lösung für ungerechter als die von ihnen selbst propagierte Lösung. Doch checkerboard- Lösungen produzierten aus der Sicht der Abtreibungsgegner und der der Befürworter der Erlaubnis zur Abstreibung immerhin weniger Fälle von Ungerechtigkeit (nur die Hälfte der Frauen, die ihre Schwangerschaft abbrechen wollen, dürfen es bzw. dürfen es nicht) als es nach der Lösung der Gegenmeinung der Fall wäre (alle Frauen dürfen abtreiben bzw. keine Frau darf abtreiben). Gerechtigkeitserwägungen sprächen mithin nicht allgemein gegen checkerboard- Lösungen9.
5 Dworkin, LE, S. 179 f. Dworkin nimmt in seinem Beispielsfall an, die Zahl der Befürworter und Gegner halte sich in etwa die Waage. 6 Dworkin, LE, S. 178 ff. 7 Dworkin, LE, S. 179. 8 Denn da Dworkin eine beste Moraltheorie postuliert (vgl. oben Kapitel 2 III 4,5, macht jede Lösung, also auch ein sogenannter externer Kompromiß, die nicht völlig den Forderungen der Gerechtigkeit, also dem besten "scheme of justice" entspricht, Abstriche an diesem. 9 Dworkin, LE, S. 180 f. Es müsse auch niemand im Gesetzgebungsprozeß aktiv an dem Zustandekommen aus seiner Sicht ungerechter Ergebnisse mitwirken. Es seien Stimmmauszahlverfahren vorstellbar, die den checkerboard-Kompromiß hervorbringen, ohne daß irgendjemand für diesen Kompromiß selbst gestimmt haben müßte.
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Fairneßgründe sprächen schließlich sogar für checkerboard-Lösungen, da sie fairer im definierten Sinne seien als ein "winner-take-all scheme". Wenn nämlich die Mehrheit ihre Lösung durchsetze, habe die Minderheit weniger Einfluß auf die Entscheidung, als wenn es jeder Gruppe erlaubt sei, "to choose some part of the law of abortion, in proportion to their numbers" 10. Der Grund, checkerboard- Lösungen in jedem Fall abzulehnen, sei vielmehr, daß der Staat hier "in an unprincipled way" handele und damit das Ideal der Integrität, der konsistenten Anwendung der Prinzipien der Gerechtigkeit, verletze 11. Das Prinzip legislativer Integrität ist also als an den Gesetzgeber gerichtetes Willkürverbot zu verstehen12. Dworkin bleibt jedoch, da ihm die Argumentation aus der Natur der Sache13 fremd ist, eine Erklärung schuldig, warum der Gesetzgeber bei dem im Beispiel erwähnten Gesetz - trotz des "Prinzips", daß Frauen gerader Geburtsjahrgänge abtreiben dürfen, die anderen aber nicht - "unprincipled" handelt. Die Anforderungen legislativer Integrität führt Dworkin näher aus. Da sowohl Gerechtigkeit und Fairneß als auch Integrität (gleich wichtige) Ideale institutioneller Moral seien14, dürfe der Gesetzgeber das Recht durch eine gesetzgeberische Entscheidung u. U. auch einmal inkonsistenter machen als es ohnehin schon sei. Eine inkonsistente, partiell gerechte Rechtslage sei manchmal einer konsistent ungerechten Lage vorzuziehen, so daß ein ungerechter Zustand schrittweise behoben werden könne 15 . Legislative Integrität fordere schließlich nur Konsistenz in der Beachtung und Festschreibung von Prinzipien (im engeren Sinne), nicht aber von politischen Zielvorstellungen (policies) . Der Gesetzgeber könne 10 Dworkin, LE, S. 179,182. 11 Dworkin, LE, S. 183 f., 167. 12 Vgl. die Begriffsbestimmung des Bundesverfassungsgerichts, nach der willkürlich eine Differenzierung ist, für die "ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund sich nicht finden läßt" (BVerfG 1, 14, (52)), seither ständige Rechtsprechung. 13 Die Natur der Sache, die Sachlogik oder Sachgerechtigkeit spielen bei Dworkin als Argumentationstopoi überhaupt keine Rolle. Es besteht ein Zusammenhang zu dem Unvermögen der Dworkin'schen Theorie, dem konkreten Sachproblem einen adäquaten Platz in der Methodik der Rechtsanwendung einzuräumen. Vgl. unten unter II 1 d. 14 S. o. Kapitel 3 II 3 b. 15 Dworkin, LE, S. 217 f. 16 Zur Unterscheidung von arguments of principle und arguments of polity s. ο. Kapitel 3 I V 3 c.
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seine Entscheidung sowohl auf arguments of principle als auch auf arguments of policy stützen, unterliege aber nur bei der Verwendung ersterer dem Konsistenzgebot legislativer Integrität, während letztere seine eigentliche Domäne seien17. Allerdings dürfe die jeweilige Zielsetzung (policy ) nicht mit Prinzipien kollidieren. Und das Prinzip gleicher Achtung verlange, daß der Gesetzgeber eine einheitliche Konzeption der Gleichheit auch in seinen auf arguments of policy gegründeten Entscheidungen verfolge 18. Von der klassischen Gewaltenteilungslehre her gedacht ist es erstaunlich, daß Dworkin das Ideal der Integrität nicht auch für den Bereich des Verwaltungshandelns des personifiziert gedachten Staates - vielleicht unter dem Titel "administrative integrity" - diskutiert 19. Manche Textstellen20 legen es zwar nahe, daß Dworkin mit judikativer und legislativer Integrität urteilsfällende und rechtsetzende Aktivitäten staatlicher Stellen schlechthin meint, so daß auch die Verwaltung in ihrer "adjudicative" und ihrer "rule making" Funktion 21 damit erfaßt wäre. Andere Textstellen22 machen indessen deutlich, daß Dworkin auf den Gesetzgeber und die Gerichte als Institutionen abzielt. Das Ideal der Integrität könnte indessen eine ausgezeichnete Interpretation und Rechtfertigung des Grundsatzes der Selbstbindung der Verwaltung und des Satzes "keine Gleichheit im Unrecht", der verschiedenen Ausprägungen des Vertrauensschutzgedankens und der Ermessensfehlerlehre im bundesdeutschen Verwaltungsrecht abgeben23. Eine Umsetzung der Dworkin'schen Theorie für das deutsche Recht müßte jedenfalls eine Konzeption administrativer Integrität entwickeln. Am stärksten ausgearbeitet hat Dworkin die Idee der Integrität in der Rechtsprechung:
17 Dworkin, TRS, S. 84 ff., 303; LE, S. 221. 18 Dworkin, TRS, S. 108; LE, S. 222 f. 19 Auch Hart spart in The Concept of Law die Verwaltung aus der Betrachtung aus, obwohl er auf in der Verwaltung wirkende, öffentliche Macht übertragende Regeln hinweist (S.
28).
20 Dworkin, LE, S. 167,176. 21 Vgl. dazu Davis, Administrative Law Treatise, Bd. 2, S. 4 ff. 22 Dworkin, LE, S. 218. 23 Vgl. dazu ζ. Β. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 21 f., 30, §11 Rn. 21 ff., 39 ff. mit weiteren Nachweisen.
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II. Judikative Integrität
1. Umsetzung der Theorie der Interpretation
im Recht
a) Hercules Dworkin bedient sich der mythischen Figur des Hercules, um seine Theorie judikativer Integrität, das ist eine bestimmte Art und Weise des Problemzugangs24, vorzustellen. Diese ist so komplex, daß ihre konsequente Durchführung menschliches Denkvermögen übersteigt. Daher ist Dworkins alter ego Hercules ein mit übermenschlichen intellektuellen Fähigkeiten ausgestatteter Richter, der, ohne durch zeitliche Begrenzungen oder eine starke Arbeitsbelastung in der Wahrheitsfindung beschränkt zu sein, Rechtsfragen durchdenkt und entscheidet. Er unterliegt z. B. auch nicht Störfaktoren wie dem Kompromißzwang in Kollegialgerichten 25. Daß dieser von Dworkin als störend eingeschätzt wird, reflektiert seinen Wahrheitsbegriff: nicht das Faktum des Konsenses, sondern die Konsistenz der Gründe macht ein Urteil richtig oder wahr. Reale Richter können Hercules' Methode nur in begrenztem Maße imitieren 26 . Den Einwand, daß eine hochkomplexe Methodik, die Hercules angemessen ist, untauglich für den Normalrichter sein mag, der besser bei seinem Leisten bliebe , antizipiert Dworkin. Er macht dagegen geltend, daß eine Ausrichtung des Normalrichters an Hercules' Methode am ehesten garantiere, die Fehlerquote niedrig zu halten28. Überdies glaubt Dworkin sogar, daß Richter "unterbewußt" und "instinktiv" ohnehin der herkulischen Methode folgen 29. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Reduktion von
24 Dworkin, LE, S. 239: "...law as integrity consists in an approach, in questions rather than answers, and other lawyers and judges who accept it would give different answers from his (Hercules; C. B.) to the questions it asks". 25 Dworkin, LE, S. 380 f. 26 Dworkin, LE, S. 245. 27 Vgl. Greenawalt, Discretion and Judicial Decision, S. 379, der geltend macht, daß wir umso eher von allgemein anerkannten Prämissen abweichen und unsere Neigung, uns selbst zu betrügen, umso mehr wachse, je höher das Abstrakionsniveau unseres Denkens sei. Davon zu unterscheiden ist die dem abstrahierenden Denken in einem abstrakt begrifflichen System innewohnende Tendenz zur Sinnentleerung, auf die Larenz, Methodenlehre, S. 436 ff. hinweist. Ein Modell des Zusammenspiels von Prinzipien birgt nach Larenz aber gerade nicht diese Gefahr, a. a. O., S. 456 ff. 28 Dworkin, TRS, S. 130. 29 Dworkin, LE, S. 245,256,265 f. und unten III 1 b.
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Komplexität typisch für das Handeln eines Normalrichters sein dürfte, während die herkulische Methode ihren Richtigkeitsanspruch gerade aus der möglichst hohen Komplexität des interpretierten Materials bezieht. Hercules besitzt zwar übermenschliche intellektuelle Fähigkeiten, hat aber, wie jeder andere Richter auch, politische Überzeugungen, die seine Entscheidung überall dort, wo politisch-moralische Erwägungen relevant sind, beeinflussen. Verschiedene Richter vom Format eines Hercules könOrt
nen daher in schwierigen Fällen zu verschiedenen Ergebnissen gelangen . Darin spiegelt sich die Relativität aller interpretativ gewonnenen Ergebnisse. Hercules setzt Dworkins Theorie der Interpretation in die rechtliche Praxis um. Es finden sich daher in seinem Vorgehen die drei Stufen (präinterpretative, interpretative, postinterpretative Phase) und die beiden Dimensionen Çfit" und "value") rechtfertigender Interpretation wieder. b) Präinterpretative Phase: Konsens über das Ausgangsmaterial Die erste Phase rechtlicher Interpretation verlangt eine Identifikation des relevanten Materials, der "brute facts of legal history" 31. Dworkin geht, indem er das Recht als eine interpretative Praxis deutet, davon aus, daß im großen und ganzen Konsens bestehen wird, welche Materialien in einem bestimmten Fall einschlägig sind. Es seien dies Materialien mit lokaler Priorität, also solche aus dem Umfeld der zu entscheidenden Frage 32. Hercules' Methode setzt stets an einem Punkt an, an dem das relevante Material (Gesetze, Verfassungsbestimmungen, Präjudizien) schon herausgefiltert und die Fallentscheidung auf die Anwendbarkeit einer bestimmten gesetzlichen Bestimmung oder einer Reihe von Präjudizien zugespitzt ist 33 . Mit Präjudiz ist hier der entschiedene Fall, nicht aber die in dem Präjudiz niedergelegte Regel gemeint. Denn die Regel eines Falles liegt nicht als solche fest, muß vielmehr argumentativ entwickelt werden. Die Argumentation für eine bestimmte Regel kann nach Dworkin wichtiger sein als die Argumentation von der Regel zum Fall. Auch kann es nach Dworkin ja streitig sein, ob der Rechtssatz eines Präjudizes als rule oder als principle
30 Dworkin, LE, S. 263 f.,412; TRS, S. 127; MP, S. 143. 31 Dworkin, LE, S. 255. Oben (Kapitel 1 II 2 a und 3 c wurde gezeigt, daß die Roheit des Materials relativ zur interpretierten Institution ist. 32 Dworkin, LE, S. 245,250 ff. 33 Dworkin, LE, S. 66,242,338.
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zu lesen ist, ob ihm also unmittelbare Bindungswirkung zukommt oder ob er nur als prima facie-Grund abzuwägen ist 34 . e) Interpretative Phase: Konsistente und kohärente Rechtfertigung Hercules' Hauptarbeit besteht in der konsistenten und kohärenten Interpretation des rechtlichen Materials. Im Falle von Gesetzesrecht muß Hercules nach einer Reihe von principles oder policies (Prinzipien im weiten Sinne35) suchen, die die beste konstruktive Interpretation der gesetzlichen Norm oder des Gesetzes als Ganzen36 ergeben. Die Rechtfertigung des in der ersten Phase als einschlägig bestimmten gesetzlichen Materials soll, wenn möglich, mit anderen in Kraft befindlichen Gesetzen konsistent sein. Die Verfassungsinterpretation ist dabei nach Dworkin nur eine besondere Form der Gesetzesinterpretation 37. Besonders ist sie insofern, als die Verfassung ihrerseits Grundlage des einfachen Gesetzesrechts ist und ihre Interpretation daher die grundlegendsten Fragen der Verteilung politischer Macht in einer Gemeinschaft beschreiben und rechtfertigen muß. Die verfassungsrechtliche Argumentation des Juristen sei daher im wesentlichen rechtsphilosophische Argumentation 38. Im Falle von Präjudizien muß Hercules zunächst die wenigen als einschlägig zugrundegelegten Präjudizien zu rechtfertigen versuchen und, wenn dieser enge Blickwinkel verschiedene Rechtfertigungstheorien (Interpretationen) erlaubt, fortschreiten zu einer Interpretation der rechtlichen Praxis insgesamt und schließlich der politischen Struktur der Gemeinschaft als Ganzer 39. 34 Dworkin, TRS, S. 112, 27, 79 und oben Kapitel 4 II 3 c, d. Auch Esser, Grundsatz und Norm, S. 184 f., 194 ff. bezeichnet es als Fiktion, daß die rule als Bestandteil des materiellen Rechts festliege; eine Fiktion, die die amerikanischen Rechtsrealisten durchschaut, dabei aber verkannt hätten, daß dem übergreifenden Prinzip der Rang einer positiven Rechtsquelle zukomme. Allerdings sei das principle als "gleichsam übergreifender" Rechtsgedanke bindendes Recht nicht als selbständiger Grundsatz, sondern nur als Ausgangspunkt der Rechtfertigung der ratio decidendi und der mit ihr integrierten Regel. Oft bleibe es späterer Rechtsprechung überlassen, eine Begründung als rule oder als principle zu interpretieren und damit selbst den Umfang der ratio zu bestimmen. 35 Dworkin, TRS, S. 22 und oben Kapitel 4 II 1. 36 Dworkin, TRS, S. 107; LE, S. 338. 37 Dworkin, LE, S. 379: "The Constitution is, after all, a kind of statute, and Hercules has a way with statutes"; TRS, S. 106 ff. 38 Dworkin, TRS, S. 106; LE, S. 380,358. Dworkin, LE, S. 245.
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Dieses noch sehr grobe Bild von Hercules' Vorgehen zeigt diesen in dem Bemühen, eine in den rechtlichen Materialien vorgefundene rechtliche Geschichte (history) 40 konsistent und kohärent zu interpretieren. Solange verschiedene Interpretationen 41 des zugrundegelegten Materials möglich sind, muß Hercules den Kreis des zu rechtfertigenden Materials erweitern, bis schließlich nur noch eine Interpretation mit diesem kompatibel ist. Eine rechtliche Interpretation benennt ein oder mehrere Prinzipien, die einen bestimmten Teil institutioneller Geschichte mit Gründen der Gerechtigkeit rechtfertigen. Je nachdem, wie weit der Kreis des zu rechtfertigenden Materials gezogen wird, sind die rechtfertigenden Prinzipien neu zu formulieren. Hercules' konstruktive Interpretation umfaßt die beiden Dimensionen des fit mit dem Ausgangsmaterial und dessen politisch-moralische Rechtfertigung. Da die Dimension desfit keine rein formale Frage 42, sondern abhängig von den Vorstellungen des Richters von Zweck und Funktion des Rechts und seinen gesamten übrigen Überzeugungen ist, werden verschiedene Richter unterschiedliche Vorstellungen davon haben, ob und wann eine Interpretation auf das interpretierte Material paßt 43 . Dworkin sieht indessen keine Notwendigkeit, unsere intuitiven Vorstellungen darüber, wasfit erfordert, auf eine präzise Formel zu bringen 44. Immerhin differenziert er zwischen Fällen des Gesetzes- und des Präjudizienrechts. Eine Interpretation einer Präjudizienreihe passe dann nicht auf diese, wenn sie sich allein auf /?o//cy-Erwägungen stütze. Bei der Interpretation von Gesetzen könnten dagegen auch Interpretationen, die das Gesetz allein durch /?o//cy-Erwägungen rechtfertigen, passen45. Dieser Unterschied erklärt sich aus dem Dworkin'schen Ideal einer community of principle, in der der Gesetzgeber Zielvorgaben macht und der Richter allein über das Bestehen von Rechten entscheidet, also auf arguments of principle beschränkt ist. Das komplexe Zusammenspiel zwischen fit und inhaltlicher Rechtfertigung (να/we)46 bringt Dworkin auf die Formel, daß eine Interpretation 40 Die vorgefundene Geschichte (history) ist als story of principle zu interpretieren. Vgl. Dworkin, LE, S. 227 f., 346; TRS, S. 298 ff. 41 Nach Dworkin, LE, S. 240 geht Hercules schon mit Interpretationshypothesen an das Material heran, bevor er es überhaupt gesichtet hat. 42 So noch Dworkin, MP, S. 407 Ν. 5; vgl. aber oben Kapitel 1 II 3 b. 43 Dworkin, MP, S. 161; LE, S. 235,247. 44 Dworkin, LE, S. 231. 45 Vgl. Dworkin, LE, S. 244,339,448 N. 8 und TRS, S. 108 f. 46 Vgl. schon oben Kapitel 1 II 3 b und Dworkin, LE, S. 231.
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insgesamt besser sei, wenn sie weniger Schaden an der Konsistenz bzw. Integrität des Gesamtzusammenhangs anrichte als eine konkurrierende Interpretation 47. Unklar aber bleibt, ob eine unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit und Fairneß (geringfügig) schlechtere Interpretation nicht doch als beste Interpretation vorzuziehen ist, weil sie unter dem Gesichtspunkt desfit besser ist, also mehr des gesicherten Rechts ("settled law") zu rechtfertigen vermag 48, oder ob alle Interpretationen, die überhaupt den Schwellenwert des fit passieren, allein noch unter dem Gesichtspunkt politisch-moralischer Attraktivität (größerer Gerechtigkeit und Fairneß) betrachtet werden 49. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Interpretation von Gesetzesrecht und Richterrecht besteht nach Dworkin in der unterschiedlichen Begrenzung der interpretativen Aufgabe. Bei ersterer sei nur das in Rede stehende Gesetz selbst zu rechtfertigen, und andere Akte der Gesetzgebung seien nur dann heranzuziehen, wenn zwei Interpretationen die Schwelle desfit passierten50 - so Dworkins erste Version. Oder aber nur das Gesetz selbst und "wenn möglich" andere Akte der Gesetzgebung seien zu rechtfertigen 51 - so Dworkins zweite Version. Bei der Interpretation von Präjudizien hingegen müsse Hercules eine Menge von Prinzipien finden, die nicht nur den einen Fall oder die Präjudizienkette, sondern alle anderen richterlichen Entscheidungen und Gesetze, soweit sie auf arguments of principle beruhten, zu rechtfertigen vermöge 52. Während dem Aufsatz "Hard Cases" zufolge Hercules diese wahrhaft herkulische Aufgabe in jedem Falle auf sich nehmen muß und Dworkin ihn die Rechtfertigungstheorie sogar im voraus ausarbeiten läßt 53 , ist in Law's Empire Hercules' Aufgabe einer realistischen Methode angenähert. Hier geht Hercules vom konkreten Fall aus und erweitert das zu rechtfertigende Material in konzentrischen Kreisen solange, wie es notwendig ist, um eine Interpretation als beste zu ermitteln 54. 47 Dworkin, LE, S. 246 f. 48 Diese Lesart legt Dworkin, LE, S. 246 f. nahe. 49 Diese Lesart wird durch Dworkin, MP, S. 161 gestützt. 50 Dworkin, TRS, S. 116. 51 Dworkin, LE, S. 338. 52 Dworkin, TRS, S. 116. 53 Dworkin, TRS, 116 f. 54 Dworkin, LE, S. 245 ff., 250. Die Vorstellung einer Erweiterung des betrachteten Materials in konzentrischen Kreisen dürfte Dworkin von Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 296 übernommen haben: "So läuft die Bewegung des Verstehens vom Ganzen zum Teil und zurück zum Ganzen. Die Aufgabe ist, in konzentrischen Kreisen die Einheit des verstandenen Sinns zu erweitern. Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen ist das jeweilige Kriterium für
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Die unterschiedlichen Konsistenzanforderungen an das Gesetzes- und Fallrecht sind einerseits ein Ausfluß des unterschiedlichen Gewichts des Integritätsideals in den Institutionen der Gesetzgebung und Rechtsprechung. Da policy- Erwägungen des Gesetzgebers nicht dem Integritätsgebot unterfallen, sind die Anforderungen an die Konsistenz gesetzgeberischer Entscheidungen weniger groß als die Anforderungen an richterliche Entscheidungen, die allein auf principle- Aigpmznten beruhen sollen. Neben dieser immanenten Erklärung im Rahmen des Dworkin'schen Denkmodells bietet sich eine Erklärung aus der Tradition des anglo-amerikanischen statute law an. Folgt man Esser 55, so macht insbesondere das englische statute law in seinen Interpretationsmethoden auf den kontinentalen Juristen einen geradezu anachronistischen Eindruck. Es bleibe von den im common law erarbeiteten Rechtsprinzipien und Konstruktionen unberührt 56 . Das Statute law sei eine strikte Enklave geschlossenen Denkens, zu welcher die common /aw-Prinzipien keinen Einlaß erhielten, weil die Autonomie der politischen Legislative betont werde 57. Im statute law gelte nicht der Gedanke einer kontinuierlichen Ordnung, die von principles zusammengehalten werde, und common law und statute law erschienen zumindest in England als zwei politisch und kulturell disparate Ordnungskreise; die innerstaatliche Rechtsordnung werde nicht als ein System begriffen. Daher seien die jurisprudentiellen Prinzipien machtlos in der Fortbildung und Korrektur des statute law. Statutes seien enactments, deren Kraft weder durch Zeitablauf noch durch Kasuistik vermindert werde. Alle Auslegung im Bereich des statute law sei bloße Text-, ja eine "hasardierende Wortexegese", die nicht zu einheitlicher Fortbildung und Anpassung gelange58. Dworkins Theorie behält insofern den von Esser beschriebenen verengten Blickwinkel bei, als Dworkin offenbar das Statute law (Gesetzesrecht) als einen eigenständigen "Ordnungskreis" betrachtet, muß doch Hercules nur die Richtigkeit des Verstehens. Das Ausbleiben solcher Einstimmung bedeutet Scheitern des Verstehens." 55 Esser, Grundsatz und Norm, behandelt statutes allerdings nur am Rande. Auch Dworkin diskutiert nur einen einzigen Zivilrechtsfall, der ein Fall von statute law ist: Riggs v. Palmer (TRS, S. 23). Mit den Besonderheiten eines kodifizierten Zivilrechts setzt er sich nicht auseinander. 56 Esser, Grundsatz und Norm, S. 129 ff. 57 Esser, S. 228 f. Hierher gehört auch die Ablehnung einer analogen Anwendung von statute law, vgl. hierzu Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 70. 58 Esser, Grundsatz und Norm, S. 264 f. Vgl. auch Schlüchter, a.a.O., S. 71. Doch kommt es auch im Bereich des statute law zur richterlichen Entscheidung und damit zur Präjudizienbildung, vgl. Schlüchter, a. a. O., S. 70.
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eine Rechtfertigung des einzelnen statute und wenn möglich anderer statutes , nicht aber des gesamten statute law und common law entwickeln59. Im übrigen aber liest sich Essers Darstellung des Umgangs mit statutes im anglo-amerikanischen, vor allem aber englischen Recht wie eine Beschreibung des Dworkin'schen Feindbildes einer blinden Wortklauberei. Nichts könnte Dworkins Ideal des "law as integrity" mehr entgegenstehen als diese streng textexegetisch, ohne Blick auf übergreifende Prinzipien arbeitende Interpretationslehre. Dworkins Methode der Gesetzesinterpretation ist damit als radikaler Reformvorschlag zu der bestehenden Praxis zu verstehen. Bei der schrittweisen Erweiterung des betrachteten Materials richtet sich Hercules nach traditionellen Bereichs- oder Gebietseinteilungen im Recht ("departments of law"), sofern diese die populäre Moral in der Juristenschaft (noch) widerspiegeln60, also nicht tote Dogmatik sind. Dworkins holistische Theorie der Rechtsprechimg weist mithin traditionellen Rechtsgebietseinteilungen eine über die bloße Ordnung des Rechtsstoffs hinausgehende methodische und Erkenntnisfunktion zu. Zwar stehe die allgemeine Idee des Rechts als Integrität einer Aufteilung des Rechts in Rechtsgebiete entgegen, da das Recht als Ganzes so kohärent und konsistent wie möglich interpretiert werden solle61. Um aber die Aufgabe der Interpretation überhaupt in den Griff zu bekommen, gehe Hercules von einem traditionell begrenzten Bereich des Rechts aus und teste seine Interpretationshypothesen zunächst an diesem begrenzten Bereich. d) Postinterpretative Phase: Fallentscheidung und Fehlertheorie Hercules dritter Schritt führt ihn zu der Entscheidung, was im konkreten Fall Recht ist 62 . Die Kluft zwischen der notwendigerweise sehr abstrakten interpretativen Theorie der Rechtspraxis als Ganzer und dem Fallproblem muß Hercules überbrücken, indem er so lange Konzeptionen zu Begriffen, die in der abstrakten Interpretation der Rechtspraxis figurieren, entwickelt, 59 Dworkin, TRS, S. 108; LE, S. 338. Bei der Interpretation des common law hält Dworkin diese strikte Trennung allerdings nicht durch. Hier muß Hercules zur Interpretation eines Präjudizes oder einer Präjudizienreihe den Kreis des zu rechtfertigenden Materials auch auf auf arguments of principle gestützte Gesetze ausdehnen. Dworkin,TOS,S. 116; LE, S. 245. 60 Dworkin, LE, S. 245, 250 f., 253 f. Hercules stellt in der Frage der departmentalization oder compartmentalization auf die positive Moral, nicht die Gemeinschaftsmoral ab, die ja selbst schon eine Rechtfertigung vorgefundener institutioneller Gegebenheiten ist. Vgl oben Kapitel 2 II 3 a. 61 Dworkin, LE, S. 251. 62 Dworkin, LE, S. 239,241,358.
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bis diese konkret genug sind, um den Fall zu entscheiden . Allerdings ist auch auch diese Konzeptionenbildung nicht Arbeit am Fall, sondern interpretative Theorienbildung bezüglich der Rechtsmaterialien und der Institution als Ganzer. Wie die Konkretisierung auf das Fallproblem stattfindet und wie der zu entscheidende Sachverhalt überhaupt irgendeinen Einfluß auf die interpretative Theorienbildung entfaltet, bleibt dunkel. Dworkin problematisiert nicht - was in der juristischen Hermeneutik ein zentraler Gegenstand ist 64 - inwiefern das konkrete Problem des zu entscheidenden Falles die Theorienbildung leitet. Er sagt schon gar nichts zur Konstruktion des Sachverhaltes (der aus der Sicht der juristischen Hermeneutik überhaupt erst in einem Wechselwirkungsprozeß mit der Interpretation des Rechts konstituiert wird 65 ). Hercules beginnt seine interpretative Arbeit, wenn der Sachverhalt unabhängig davon schon feststeht. Dworkin setzt somit voraus, daß eine saubere Trennung zwischen Tat- und Rechtsfrage möglich ist, und schenkt ersterer regelmäßig keine Beachtung66. Eine rechtliche Entscheidung erwächst in Dworkins Theorie somit nicht aus einer Interaktion bzw. Annäherung von Sachverhalt und Norm, sondern aus der Entwicklung immer umfassenderer Rechtfertigungen historischen Rechtsmaterials in immer größeren Bereichen. Es schließt sich eine Konzeptionenbildung zu Begriffen, die in der abstrakten Theorie Verwendung fanden, an. Hiermit bricht Dworkins Methodologie ab. Der Fall ist jedoch noch nicht entschieden: Aus der so erarbeiteten Theorie als Ganzer ist überhaupt erst die auf den Fall anwendbare Norm zu gewinnen, unter die dann offenbar einfach subsumiert werden können soll. Dieser Schritt von der Theorie in die Dezision aber beschäftigt Dworkin nicht. Dann, wenn sich nicht das gesamte zu rechtfertigende rechtliche Material konsistent und kohärent legitimieren läßt, muß Hercules auf eine Theorie institutioneller Fehler zurückgreifen 67. Dworkin geht unausgesprochen davon aus, daß "Fehler" ein relativer Begriff ist. Er ist relativ in Bezug auf einen bestimmten Bereich, ein "department" des Rechts bzw. auf die dieses Rechtsgebiet rechtfertigende Interpretation. Eine bestimmte politi63 Dworkin, TRS, S. 106 f. Besondere Probleme werfen contested concepts (i. e. umstrittene Begriffe; vgl. oben Kapitel 1 II 1 b auf, die Hercules nicht schätzt. Er muß sie vom Standpunkt derer, "who value the concept" interpretieren; vgl. Dworkin, TRS, S. 127 f. 64 Vgl. z.B. Kaufmann, Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik, S. 84 ff.; ders., Die Geschichte des Rechts im Licht der Hermeneutik, S. 50 ff. 65 Vgl. z.B. Kaufmann, Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik, S. 86. 66 Vgl. Dworkin, LE, S. 11 f. 67 Dworkin, TRS, S. 121 ff.; MP, S. 161.
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sehe Entscheidung (ein Gesetz, ein Präjudiz) dieses Bereichs, die sich nicht - auch nicht durch eine weitere Ausdehnung der betrachteten Rechtsmaterialien - mit den anderen politischen Entscheidungen desselben konsistent rechtfertigen lasse, sei ein Fehler in Bezug auf das betrachtete Rechtsgebiet68. Eine Theorie institutioneller Fehler hat Dworkin nur rudimentär entwickelt, aber doch zwei Forderungen formuliert. Eine ausgearbeitete Theorie institutioneller Fehler müßte nach Dworkin erstens angeben, wie sich die Aussonderung eines institutional event als Fehler auf die weitere Argumentation auswirkt. Hierzu unterscheidet Dworkin zwischen der "specific authority of an institutional event" und seiner "gravitational force" . 7Π
Paßt ein Gesetz, richtiger eine gesetzliche Bestimmung , nicht in die beste Rechtfertigungstheorie und stellt sie daher einen Fehler in bezug auf diese dar, so behält sie nach Dworkin gleichwohl ihren Gesetzescharakter, also ihre Bindungswirkung für den Richter. Die gesetzliche Bestimmung ist aber nicht analog oder sinngemäß anzuwenden, entwickelt mithin keine "gravitational force". Auch bei einem Präjudiz bleibe - in einem System strikter Präjudizienbindung - nur die spezifische Autorität des Präjudizes bestehen, u. U. also nur die sogenannte "enactment force", das ist die Bindungswirkung einer in der Entscheidung ausformulierten Regel des Falles71. "Gravitational force" komme ihm dagegen nicht zu. Die Regel des Falles sei also nicht auf andere Fälle, die dem entschiedenen Fall nicht in allen Merkmalen entsprächen, zu übertragen 72. In einem Rechtssystem ohne echte Präjudizienbindung, d. h.
68 Vgl. Dworkin, LE, S. 248 und TRS, S. 121 ff. Als Beispiele für Fehler nennt Dworkin nur Präjudizien und Gesetze. Eine Verfassungsbestimmung als einen Fehler einzustufen, geht Dworkin offenbar zu weit. Welche politische Entscheidung zu einem Fehler erklärt wird, ist abhängig von der konstruierten Rechtfertigungstheorie; verschiedene Theorie werden den wunden Punkt an verschiedenen Stellen sehen. Vgl. dazu schon oben Kapitel 1 II 2 c. 69 Dworkin, TRS, S. 121. Sie entspricht im Bereich der Präjudizien der Unterscheidung einer "binding authority" von einer "persuasive authority", die auf die Bindungswirkung innerhalb einer Präjudizienpyramide und die weiterreichende Wirkung außerhalb derselben abstellt, vgl. zu letzterem Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 73. Im Bereich strenger Bindung sind Fehler nach Dworkin, TRS, S. 121, "embedded", außerhalb "corrigible mistakes". 70 Dworkin müßte statt von einem statute von einer gesetzlichen Bestimmung sprechen. Denn wenn die Rechtfertigungstheorie nur das eine Gesetz zu rechtfertigen hat (s. o. unter II 1 c, dann kann nicht das Gesetz als solches ein Fehler sein. 71 Dworkin, TRS, S. 111. 72 Dworkin, TRS, S. 121 f. Der Richter bedient sich dazu der Methode des "distinguishing", vgl. dazu Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 94 ff.
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ohne stare decisis Regel, wie dem deutschen , kommt einer früheren Entscheidung nicht einmal die sogenannte "enactment force" zu; d.h.: auch wenn ein exakt gleichgelagerter Fall wieder zu entscheiden ist, muß die Regel des früheren Falles den Richter nicht binden. Ebenso verhält es sich in einem System mit echter Präjudizienbindung im Ausnahmefall des "overruling . Eine Fehlertheorie muß nach Dworkin zweitens die Zahl und der Charakter der politischen Entscheidungen begrenzen, die der Richter als Fehler verwerfen kann, da andernfalls das Konsistenzerfordernis der Integrität leerliefe . Dworkin formuliert hierzu zwei Richtlinien. Die erste Maxime besagt, daß wenn eine Entscheidung innerhalb der "pertinent branch of the profession" überwiegend bedauert werde, eine konsistente Anwendung durch das Integritätsideal nicht mehr geboten sei 76 . Die zweite Maxime erinnert Hercules daran, daß sich die politische Moral nicht in einem Konsistenzerfordernis erschöpft, sondern neben der Integrität bzw. durch das Ideal der Integrität die Ideale der Gerechtigkeit und Fairneß zu verfolgen sind, weshalb aus Gerechtigkeitsgründen manchmal das Konsistenzerfordernis zurücktreten müsse77.
2. Die Rechtslage in Abhängigkeit von der Stellung des entscheidenden Gerichts
Eine interessante Konsequenz des Dworkin'schen Integritätsideals einerseits und der unterschiedlichen Präjudizienbindung der Gerichte einer
73 Es gibt allerdings auch im deutschen Recht positivrechtliche Sonderregeln, vgl. hierzu Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 24 ff.: Im Falle des § 31 Abs. 1 BVerfGG nehme das BVerfG selbst eine strikte Präjudizienbindung an. 74 Vgl. zur unterschiedlichen Selbst- und Fremdbindung verschiedener Gerichte in der Präjudizienpyramide in England und in den USA Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 72 ff. Zur Beschränkung der Macht zum "overruling" auf wenige hohe Gerichte vgl. auch Raz, The Authority of Law, S. 189. 75 Dworkin, TRS, S. 121 f.; Dworkin spricht an der zitierten Stelle statt von Integrität noch von Fairneß, meint aber damit die Idee, die er in LE mit dem Begriff Integrität belegt. 76 Dworkin, TRS, S. 122; Dworkin stellt hier, wie bei der "departmentalization" des Rechts (vgl. LE, S. 253), auf die positive Moral in der Juristenschaft ab. 7 Dworkin, TRS, S. 12.
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Gerichtsbarkeit 78 andererseits ist, daß das Recht nicht für alle Gerichte das gleiche ist und sich also nicht einfach von "der Rechtslage" sprechen läßt. Das Recht, an das ein höheres Gericht gebunden ist, kann sich von dem Recht, an das ein unteres Gericht gebunden ist, unterscheiden79. Die unterschiedlichen institutionellen Bindungen der "doctrine of precedent" setzten dem Richter unterschiedliche Schranken in der Verwirklichung des Ideals politischer Integrität. So könne ein Gericht, das an seine eigenen Entscheidungen nicht zwingend gebunden sei 80 , das Ideal der Integrität radikaler verfolgen als ein Gericht, das an seine eigenen und alle höherinstanzlichen Entscheidungen gebunden sei. Das von dem höheren Gericht durchzusetzende Recht könne daher dem Integritätsideal näher sein als das von dem unterinstanzlichen Gericht durchzusetzende Recht. Die Verwerfung eines Präjudizes durch ein hierzu befugtes Gericht ist danach, wenn denn die beste Interpretation des bestehenden Rechts diese Verwerfung gebietet, aus der Sicht des betreffenden Gerichts keine Änderung der Rechtslage. Die alte Unterscheidung zwischen Findimg und Erfindung von Recht erweist sich als "unhelpful" . Recht ist, soweit keine zwingende Bindung besteht, nicht das, was einmal entschieden wurde, sondern das, was die soundest theory of law aus dem vorliegenden Material macht. Aber nur ein Richter, der von den institutionellen Bindungen gänzlich frei wäre, könnte eine reine Form von Integrität ("pure integrity") anstreben, d.h. die Gerechtigkeitsprinzipien, die die beste Interpretation des bestehenden Rechts abgeben, ohne Abstriche völlig konsistent durchsetzen82. Die richterliche Bindung an Gesetze und Präjudizien stellt sich danach als Fessel dar, die einerseits zwar der Verwirklichung reiner Integrität im Wege steht, die dem "Normalrichter" aber angelegt werden muß, weil er nicht wie Hercules zur Konstruktion der idealen, umfassenden Interpretation des bestehenden Rechts in der Lage ist.
78 Die Art und Weise, wie Entscheidungen andere Gerichte durch die "doctrine of precedent" binden, variiert je nach "jurisdiction". Aber auch innerhalb einer jurisdiction sind Gerichte verschiedener Stufen unterschiedlich stark gebunden. Vgl. Schlüchter, a.a.O., S. 72 ff. und zum englischen Recht Farrar/Dugdale, Introduction to Legal Method, S. 96 ff. 79 Vgl. Dworkin, LE, S. 401,452 f. 80 Vgl. dazu Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 77 ff. 81 Dworkin, LE, S. 225. 82 Dworkin, LE, S. 404 ff.; TRS, S. 113. Gerechtigkeit und Fairneß garantieren nach Dworkin idealiter auch die Integrität politischen Handelns, vgl. dazu oben Kapitel 2 II 4 a.
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3. Wille des Gesetzgebers und Gesetzesmaterialien
Dworkin beschäftigt sich mehrfach mit zwei methodischen Problemen der Gesetzesinterpretation 83, die Gegenstand des Streits zwischen den sogenannten subjektiven und objektiven Auslegungstheorien sind 84 . Es sind dies erstens die Frage, ob und wie der Intention des Gesetzgebers bei der Gesetzesinterpretation Rechnung getragen werden soll (a). Zum zweiten geht darum, ob und wie Materialien des Gesetzgebungsprozesses und der Rezeption des Gesetzes in der Interpretation desselben zu berücksichtigen sind (b). Dworkin verficht eine - in der Terminologie der deutschsprachigen Diskussion - "objektiv geltungszeitliche" Position85. Er trägt keine Sachargumente gegen die Subjektivisten vor, die aus der langen Diskussion um die richtige Gesetzesauslegung nicht schon bekannt wären. Interessant ist daher allein seine Neubegründung einer objektiven Auslegung aus dem Ideal staatlicher Integrität. a) Die Intention des Gesetzgebers Nach Dworkin muß jede Theorie der Gesetzesauslegung, die (auch) auf die Intention des Gesetzgebers abstellt, drei Fragen politischer Moral beantworten: Erstens, wer der Gesetzgeber ist, d. h. welche Personen als Gesetzgeber zählen; zweitens, wie die Intentionen der Personen festzustellen sind und was überhaupt eine Intention ist; drittens schließlich, wie die Intentionen der verschiedenen Personen, die als Gesetzgeber zählen, zu einer Intention des Gesetzgebers zu kombinieren sind 86 . Diese Fragen hängen miteinander zusammen. Wenn man wie Dworkin eine "mental-state"-Konzeption gesetzgeberischer Intention ablehnt - den Willen des Gesetzgebers also nicht im Sinne einer Gesprächs-Theorie der Interpretation als Sprecher-Intention versteht 87 - und stattdessen auf die dem Gesetz zugrundeliegenden und durch konstruktive Interpretation dem
83 Das zur Gesetzesinterpretation Gesagte gilt entsprechend für die Verfassungsinterpretation, vgl. noch einmal Dworkin, LE, S. 379. 84 Vgl. Zur Unterscheidung subjektiver und objektiver Theorien Engisch, Einführung, S. 88 ff. mit weiteren Nachweisen. 85 Vgl. zu diesem Begriff etwa Engisch, Einführung, S. 245 N. 96a, S. 246 N. 96c; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428 f.; Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlauts, S. 162 ff. 86 Dworkin, LE, S. 316. 87 Vgl. oben Kapitel 112 und Dworkin, LE, S. 335.
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Gesetzgeber normativ zugeschriebenen Überzeugungen abhebt, so erweisen sich die erste und die dritte Frage als überflüssig . Dworkin entwickelt daher keine eigene Konzeption des Gesetzgebers, die angäbe, welche Personen dazu zählen sollen. Er zeigt lediglich auf, daß dies keineswegs a priori klar ist 89 . So könne man fragen, ob alle Abgeordneten der gesetzgebenden Körperschaften oder nur die, die für das Gesetz gestimmt haben, ob auch Persönlichkeiten einflußreicher Lobbies, die den Gesetzgebungsprozeß maßgeblich beeinflußt haben, oder ob sogar diejenigen als Gesetzgeber zählen sollen, die die Macht hatten, das Gesetz später zu ändern oder außer Kraft zu setzen, es aber nicht taten 90 . Eine Konzeption des Gesetzgebers könne nicht ohne eine politisch-moralische Theorie darüber, was ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren auszeichne, entwickelt werden 91. Zirkulär sei das Argument, es komme darauf an, was der Gesetzgeber selbst meinte, auf wessen Intentionen es ankommen solle 92 . Diese Zirkularität könne vom Gesetzgeber selbst nur überwunden werden, indem er ein Gesetz erließe, das in klarer Sprache Richter darauf verpflichtete, die Intention des Gesetzgebers zu erforschen und dieser zu folgen, und gleichzeitig eine bestimmte Konzeption der Intention des Gesetzgebers, also auch der Personen, die zählen, festschriebe 93. Ausgehend von dem (in der hiesigen Diskussion sogenannten) Willensargument94, daß es sich bei dem Willen des Gesetzgebers jedenfalls nicht um einen psychologischen Willen irgendwelcher an der Gesetzgebung beteiligter Personen (ihrer "mental states"95) handelt, erübrigt sich für Dworkin auch die dritte oben unterschiedene Frage, wie sich die Geistesverfassungen der verschiedenen Personen zur Intention des Gesetzgebers kombinieren lassen96. Es bleibt demnach für Dworkins eigene Position nur die zweite Frage zu erörtern, was überhaupt eine Intention ist. Dworkin entwickelt eine 88 Dworkin, LE, S. 335 ff. 89 Dworkin, MP, S. 43 f.; LE, S. 318 ff. 90 Engisch, Einführung, S. 95 ζ. Β. plädiert für die "eigentlichen Gesetzesverfasser", Larenz, Methodenlehre, S. 314 für die "am Gesetzgebungsakt Beteiligten". 91 Dworkin, LE, S. 319. 92 Dworkin, LE, S. 319. 93 Dworkin, MP, S. 53 ff.; LE, S. 319,334. 94 Vgl. dazu etwa Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, S. 23,32 ff.; Keller, a.a.O., S. 88 ff. 95 Dworkin, LE, S. 321. 96 Vgl. zur Problematik der Kombination verschiedener "Einzelwillen" Dworkin, LE, S. 320 f.; MP, S. 47 f., 322 f.
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Konzeption gesetzgeberischer Intention als Überzeugung. Sie erlaubt eine konstruktive Interpretation des Gesetzes. Daneben verfolgt er aber noch eine zweite Argumentationslinie, indem er den Rekurs auf die Intention des Gesetzgebers überhaupt verwirft. Er sei vor unüberwindliche praktische Schwierigkeiten gestellt. Auch sei er gar nicht wünschenswert, da demokratietheoretische Argumente nur scheinbar für diesen methodischen Schritt sprächen97. Dworkins Argumentation springt zwischen diesen beiden Polen - der Entwicklung einer eigenen Konzeption gesetzgeberischer Intention als Überzeugung und der Ablehnimg, überhaupt auf die Intention des Gesetzgebers (die unausgesprochen als "mental state"-Intention verstanden wird) abzustellen, - hin und her. Im Ergebnis laufen der konstruktive und der kritische Argumentationsstrang zusammen. Eine "mental-state version" einer gesetzgeberischen Intention diskutiert Dworkin - um die Komplikationen der ersten und dritten Frage auszuklammern - so, als handele es sich bei dem Gesetzgeber um eine einzelne Person bzw. um eine Anzahl von Personen mit exakt denselben Intentionen. Auch das Problem, daß manchmal keine Indizien für die Intention einer Person vorliegen, klammert er argumentationshalber aus. Er konzentriert sich auf die Fragen, ob die Hoffnungen oder Erwartungen, ob die konkreten oder abstrakten Intentionen einer Person als Intention zählen sollen98. Die Hoffnungen einer (gesetzgeberischen) Person, wie sie von den Gerichten als Rezipienten verstanden werden möchte, und ihre Erwartungen, wie sie vermutet, von ihnen verstanden zu werden, können auseinanderfallen. Daher sei eine Wahl zu treffen, was als Intention zählen soll 99 . 1ΠΠ
Wähle man die "Erwartungslösung" , so gerate man in eine endlose Kette gegenseitiger Erwartungen. Ein Gesetzgeber könne nur dann ver97 Dworkin, LE, S. 313 ff. Zur Frage der Demokratiefeindlichkeit der Dworkin'schen Theorie siehe unten III 2 c und V. 98 Dworkin, LE, S. 318, 321. Zur Problematik kontrafaktischer (hypothetischer) Intentionen vgl. Dworkin, vgl. MP, S. 15 ff., 20 ff., 50 ff.; LE, S. 325 ff. 99 Dworkin, MP, S. 44 f.; LE, S. 321 ff. Insofern Dworkin darauf abstellt, daß die gesetzgebende Person u. U. gar keinen Einfluß auf die Formulierung des Gesetzes hatte, kann er nicht gänzlich von dem Problem abstrahieren, daß im Gesetzgebungsprozeß verschiedene Personen unterschiedliche Intentionen an einen Gesetzgebungsakt knüpfen. 100 Diese nehme an, daß "speaker's meaning is determined by what the speaker expects the hearer to understand the speaker as intending him to understand" (MP, S. 44). Vertreter einer solchen Konzeption erfolgreicher Kommunikation als eines Erkennens der kommunikativen Absicht des Sprechers und einer angemessenen, d. h. den Erwartungen des Sprechers entsprechenden Reaktion sind Grice und Strawson. Vgl. Lyons, Semantik, S. 47. Lewis (Konventionen, S. 157 ff.) faßt intentionales Meinen im Sinne von Grice als konventionelle Signalisierung auf. Dworkin, MP, S. 400 Ν. 13 zweifelt indessen an, ob es sich bei der Stimmabgabe in der Gesetzgebung überhaupt um einen Sprechakt handelt.
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wertbare Erwartungen über das Verhalten von Richtern haben, wenn er davon ausgehe, daß Richter einer anderen Methode zur Bestimmung der gesetzgeberischen Intention folgten als der, die Erwartungen des Gesetzgebers zu erforschen 101. Auch wenn die Spieltheorie vielleicht Lösungen zu Modellsituationen gegenseitiger Erwartungen zu entwickeln vermöge, so seien diese bei der Gesetzesinterpretation doch nicht praktikabel 1 0 2 . Die "Hoffnungslösung" sei vielversprechender, schon weil "Wille" mehr eine Frage von Hoffnungen als von Erwartungen sei 103 . Gegen sie spreche aber, daß "congressman's hopes very often do them no credit" 104 . Gemeint ist damit zum Beispiel der Fall, daß eine gesetzgeberische Person die Hoffnung hat, das Gesetz möge so eng wie möglich ausgelegt werden, weil sie es für unsinnig oder für bestimmte Interessengruppen schädlich hält, und nur aus wahltaktischen Gründen für das Gesetz gestimmt hat. Die Motive, für ein Gesetz zu stimmen, müßten nichts mit dem Gesetzesinhalt zu tun haben, und die für das Gesetz stimmende gesetzgeberische Person könne die Hoffnung haben, das Gesetz möge am besten gar keine Wirkung entfalten. Ein mit der Hoffhungs/Erwartungs-Problematik verquicktes Problem würfen die Fälle auf, in denen der Gesetzgeber zwar eine abstrakte Intention bezüglich eines Gesetzes, aber keine konkrete Intention, ob ein bestimmter Fall darunter fallen soll, habe 105 . Verstehe man die Intention des Gesetzgebers als politische Überzeugung, dann lasse sich aus einer vorhandenen abstrakten Überzeugung konsistent eine konkrete Überzeugung entwickeln106. Statt die schwierige hypothetische Frage zu beantworten, was die Person für eine Intention gehabt hätte, wenn sie den konkreten Fall bedacht hätte, wird die normative Frage gestellt, welche Überzeugung die 101 Dworkin, LE, S. 323 f. 102 Dworkin, LE, S. 324. Vgl. etwa Lewis, Konventionen, S. 24 ff., der meint, daß Koordinationsprobleme sich dadurch lösen lassen, daß man die Gedanken anderer Personen repliziert, sich also in diese hineinversetzt und ihre Gedanken nachvollzieht. 103 Dworkin, LE, S. 323. Das wird von Dworkin nicht weiter begründet und ist um so fragwürdiger, als er ausnahmsweise hier vom Willen, nicht von der Intention des Gesetzgebers spricht, die denn doch eher eine Frage der Erwartungen sein könnte. 104 Dworkin, LE, S. 323. 105 Die Problematik konkreter und abstrakter Intentionen wird etwa von Larenz (Methodenlehre, S. 314) anhand der Unterscheidung konkreter Normvorstellungen eines engeren und Grundentscheidungen eines weiteren Kreises von an der Gesetzgebung Beteiligten diskutiert. 106 Dworkin, LE, S. 328. Damit könne auch die problematische Lösung über die Konstruktion kontrafaktischer (hypothetischer) Intentionen vermieden werden, vgl. dazu Dworkin, MP, S. 50 ff.; LE, S. 325 f.
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Person, ihre sonstigen Überzeugungen in Rechnung gestellt, konsistenterweise haben müßte. Dworkin konzipiert die gesetzgeberische Intention somit als diejenige Überzeugung, die das Verhalten einer gesetzgeberischen Person zu rechtfertigen vermag. Er nähert sie damit dem herkulischen Ideal konstruktiver Gesetzesinterpretation an. Habe eine Person einander widersprechende abstrakte und konkrete ..
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Intentionen (Uberzeugungen) , so müsse eine Wahl zwischen diesen getroffen werden. Da Überzeugungen konsistent sein sollen, sei auf die abstrakte gesetzgeberische Intention abzustellen. Diese konkretisiere der Richter anhand seiner eigenen politisch-moralischen Überzeugungen 108. Das Gegenargument, daß der konkrete Wille des Gesetzgebers vorgehe, sei zirkulär, weil es ja gerade die Frage sei, ob entscheidend sei, was der Gesetzgeber konkret wollte. Die Frage, was als gesetzgeberische Intention zählen soll, stehe eben logisch vor der Ermittlung derselben 109. In seiner Argumentation für die Maßgeblichkeit der abstrakten Intention bedient sich Dworkin einerseits der Unterscheidung von concepts und conceptions (Ausdruck abstrakter Üerzeugungen seien concepts , Ausdruck konkreter Überzeugungen conceptions ) und andererseits der Quine' sehen Unterscheidung zwischen "transparent" und "opaque constructions" 111 . Einmal setzt er die beiden Unterscheidungen gleich, an anderer Stelle bezeichnet er sie als nur miteinander verwandt 112. Die Bezugnahme auf Quine kann am ehesten dahin verstanden werden, daß Überzeugungen transparent konstruiert werden sollen. D. h. die abstrakte Überzeugung wird als Zeichen dafür gewertet, daß die richtigerweise daraus folgende konkrete Überzeugung - selbst gegenteiligen Erklärungen zum Trotz ebenfalls vorliegt 3 . Es genüge eben nicht, daß eine Person denke, ihre konkrete Überzeugung sei in Einklang mit ihren abstrakten Überzeugungen. Sie müsse es tatsächlich sein, um als Überzeugung zu zählen 114 . 107 Dworkin, MP, S. 48 ff.; LE, S. 329 ff. 108 Dworkin, MP, S. 48 ff. (für den Verfassungsgeber); TRS, S. 134 ff.; LE, S. 329 ff. Eine dominante Intention nämlich lasse sich nicht, auch nicht anhand kontrafaktischer Fragen, ermitteln; vgl. Dworkin, MP, S. 51, LE, S. 325 f. 109 Dworkin, MP, S. 52 ff. 110 Dworkin, TRS, S. 134 ff. 111 Vgl. Quine, Word and Object, S. 144 f. 112 Dworkin, MP, S. 49,401 Ν. 17; LE, S. 331,450 N. 8. 113 Quine, Word and Object, S. 145 weist allerdings gerade darauf hin, daß "beliefs'* sowohl "transparently" als auch "opaquely" konstruiert werden können. 114 Dworkin, LE, S. 333.
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Dworkins Kritik subjektiver Auslegung und seine eigene Konzeption des Willens oder der Intention des Gesetzgebers laufen nach allem in dem Schluß zusammen, daß es bei der Gesetzesauslegung auf die Überzeugungen, die das Gesetz als solches zu rechtfertigen vermögen, sowie die daraus ableitbaren konkreteren Überzeugungen ankommt. Der Begriff der Überzeugung gehört in eine Reihe mit den Begriffen des Paradigmas und des Konsenses: Entscheidend ist, daß es Gründe gibt, die eine Praxis oder eine Entscheidung stützen. b) Zur Bedeutung von Gesetzesmaterialien Im folgenden geht es um Dworkins Versuch "einer sachgerechten Einordnung der Gesetzgebungsmaterialien in ein methodologisches Konzept" 11 . Bestimmten Äußerungen im Gesetzgebungsprozeß kommt besondere Bedeutung zu. Offizielle "statements of purpose", die in der durch die Rechtspraxis herausgebildeten, in diesem Sinne kanonischen Form gemacht werden, sollen nach Dworkin als Akte des personifizierten Staates verstanden werden, die unter dem Gebot der Integrität zu interpretieren sind 116 . Die Gesetzesmaterialien seien interpretierende Erklärungen des Staates, ohne selbst Gesetz (im Sinne eines performativen legislativen Akts 11 ) zu sein. Die Materialien dienen nach Dworkin nicht etwa dazu, zu erkennen, "was man sich bei Abfassung des Gesetzes gedacht hat" 118 , sondern werden als eigenständige Handlungen des personifiziert gedachten Staates mit dessen Gesetzgebungsakten zu einer Theorie des konsistenten, integren Handelns des Staates zusammengefaßt. Dabei sind nicht nur Materialien aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zu berücksichtigen. Denn in Hercules' Theorie der Gesetzesinterpretation gibt es keinen Zeitpunkt, zu dem "das wahre Gesetz geboren ist". Gesetze haben nach Dworkin vielmehr ein eigenes Leben, das beginnt, bevor das Gesetz Recht wird und das fortdauert, nachdem es Recht geworden ist 1 1 9 , so daß auch spätere Materialien einzubeziehen sind. Dworkin erforscht in den Gesetzgebungsmaterialien weder subjektivistisch den Willen oder die Bewußtseinsinhalte des Gesetzgebers. Noch ha115 Vgl. zur Forderung nach einem solchen Konzept Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, S. 469. 116 Dworkin, LE, S. 343. In der Praxis der bundesdeutschen Gesetzesauslegung werden insbesondere die Gesetzesentwürfe und ihre Begründungen, Beratungsprotokolle und Parlamentsberichte als Materialien anerkannt. Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 315. 117 Dworkin, LE, S. 346 f. Der Begriff des performativen Aktes nimmt auf J.L. Austins Lehre Bezug, vgl. Austin, How to Do Things with Words, S. 4 ff. 118 So Engisch, Einführung, S. 95. Dworkin, LE, S. 3 4 .
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ben die Materialien für ihn eine bloß allgemein informatorische Bedeutung wie ein Nachschlagewerk. Denn anders als für denjenigen Objektivisten, der einer Äußerung im Gesetzgebungsprozeß dieselbe belehrende Funktion zumißt wie einer Äußerung einer anderen fachkundigen Person 120, hat erstere für Dworkin einen besonderen Stellenwert, da alle staatlichen Erklärungen als Akte einer integer handelnden Person konsistent und kohärent zu interpretieren sind. Die dargelegten Eigenarten der Dworkin'schen Theorie der Gesetzesinterpretation sind in seiner allgemeinen Theorie der Interpretation schon angelegt. Die Verwerfung eines Gesprächsmodells der Interpretation führt weg von einem Verstehen des Willens, der Absichten oder Intentionen des Gesetzgebers hin zu einer Konstruktion konsistenter Überzeugungen, die das gesetzgeberische Tun als Ganzes rechtfertigen. Das Ideal judikativer Integrität verlangt vom Richter, eine Theorie zu entwickeln, was der Staat durch seine Amtspersonen kollektiv getan hat 121 .
I I I . "Hard cases" und die Legitimation richterlicher Rechtsfortbildung in einer Demokratie
i. Problemaufriß
" Hard case" (schwieriger Fall) ist ein in Dworkins Theorie zum terminus technicus avancierter Begriff. Dworkin führte Hercules' Methodik ursprünglich als eine Methode für hard cases ein 1 2 2 . Es entspann sich eine Diskussion darüber, wie hard cases denn von einfachen Fällen ("easy cases") abzugrenzen seien und ob nach Dworkins Theorie der Rechtsprechung mehr Fälle als hard cases einzustufen seien als nach rechtspositivistischer Doktrin. Diese Frage schien vielen Kritikern von großer praktischer Relevanz zu sein. Denn sie nahmen an, erst die Kategorisierung eines Falles als hard case mache dem Richter den Weg frei, nach der herkulischen Methode konsistenter Theorienbildung vorzugehen; einer Methode, die den
120 Vgl. zur Bedeutung der Materialien nach der objektiven Methode Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlauts, S. 165 ff. 121 Dworkin, LE, S. 337; zum Topos des kollektiven Tuns vgl. Dworkin, LE, S. 63, MP, S. 159. Dworkin, TRS, S. 1 ff.
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Richter weniger strengen Bindungen unterwerfe und ihm mehr Macht einräume als eine "herkömmliche" Methodik der Normanwendung. Der Verlauf der Debatte um den Begriff hard cases ist typisch für die Eigendynamik Dworkin'scher Begrifflichkeit. Zunächst bot Dworkin eine Reihe von Abgrenzungskriterien für hard cases an und pflegte die Benutzung der herkulischen Methode mit der Feststellung einzuleiten, es läge ein hard case vor 1 2 3 . Eine genauere Betrachtung der von Dworkin genannten Kriterien für hard cases ergab indessen, daß sie ungeeignet sind für eine der eigentlichen Entscheidungsfindung vorhergehende Aussonderung schwieriger Fälle (unten 1 a). In neueren Veröffentlichungen erklärt Dworkin die Unterscheidung von hard cases und easy cases daher für ein als bloßes Mittel der Darstellung ("expository device")124. Hercules' Methode sei eine Methode für alle Fälle, da die Unterscheidung schwieriger und leichter Fälle nicht im vorhinein, vor der Anwendung der herkulischen Methode getroffen werden könne. Die Frage ist deshalb jetzt, ob das Modell Hercules' eine adäquate Beschreibung richterlichen Handelns (auch) in einfachen Fällen ist (unten 1 b). Das Problem, die herkulische Methode zu legitimieren, wird für Dworkin durch das Eingeständnis, es gebe keine ex ante zu ziehende Linie zwischen hard cases und easy casesy noch verschärft. Problematisch ist insbesondere, ob Dworkins Theorie der Rechtsprechung den politischen Vorstellungen des Richters mehr Raum gibt als eine "herkömmliche" Methodenlehre (unten 2). a) Die fehlgeschlagene ex ante Unterscheidung von hard cases und easy cases In den frühen Schriften, in denen Dworkin das positivistische Modell des Rechts als Regelsystem attackierte, werden hard cases als solche Fälle definiert, in denen ein Rechtsstreit nicht unter eine klare, von einer Institution im voraus niedergelegte Rechtsregei zu bringen sei, also als Fälle sprachlicher Unklarheit oder von Lücken im Recht 125 . Hard cases sind hiernach Fälle, in denen das Recht "unsettled" ist. Wann das Recht "settled" ist und
123 Vgl. z. B. Dworkin, A Reply, S. 299; LE, S. 106; The Law of the Slave-Catchers, S. 1437 Spalte 2. 124 Dworkin, LE, S. 351. 125 Dworkin, TRS, S. 81,83,4; MP, S. 13; Judicial Discretion, S. 627.
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wann unsettled, ist aber eine Frage, zu deren Beantwortung Dworkin keine einfach handhabbaren Kriterien bereitstellen konnte 126 . So ermöglicht die Definition von easy cases als solchen, in denen die gesamte Argumentation in die Form eines oder mehrerer Syllogismen gekleidet werden könne 127 , keine klare Vorabtrennung von hard und easy cases. Denn eine "rein" syllogistische Argumentation setzt voraus, daß der potentielle Obersatz Recht ist. Ob aber eine Norm eine rechtliche ist, ist nach Dworkin davon abhängig, ob sie durch die soundest theory of law konsistent rechtfertigbar ist. Das wäre also zunächst festzustellen. Es ist damit im Rahmen von Dworkins Theorie ausgeschlossen, daß das gesamte Argument nur aus Syllogismen besteht. Wenn dies das Merkmal einfacher Fälle sein sollte, dann gibt es keine 128 . Eine andere Begriffsbestimmung Dworkins hebt auf den fehlenden und unerreichbaren Konsens der Juristen und die Unverfügbarkeit zwingender Argumente in hard cases ab 1 2 9 . Wenn die bloße Strittigkeit seiner Lösung einen hard case definierte, so wäre die Unterscheidung von schwierigen und leichten Fällen eine empirische, die nichts über die Eigenart von hard cases selbst aussagte. Auch ist es keinesfalls klar, was das Kriterium der Strittigkeit meint. So können nicht alle vor Gericht verhandelten Rechtsfälle als - genuin - streitige Fälle eingestuft werden, wenn nicht die Unterscheidung von hard cases und easy cases in sich zusammenbrechen soll 130 . Zwar sind sich Juristen hier gerade nicht einig über das Ergebnis, aber das kann seine Gründe auch in mangelndem Tatsachenwissen oder mangelnden Rechtskenntnissen haben oder auch bloß taktisch motiviert sein. Umgekehrt kann die Feststellung, daß innerhalb der juristischen Profession eine bestimmte Fallgestaltung einheitlich beurteilt wird, - Dworkins sonstiger Argumentationslinie folgend - kein zwingender Grund sein, anzunehmen, die einheitliche Beurteilung sei auch richtig. Denn die Problematik des Falles könnte verkannt worden sein. Die Kontroversität der Lösimg ist daher kein Kriterium, das es dem Richter erlauben würde, hard cases von easy cases zu sondern.
126 Vgl. die Kritik von Hart, Law in the Perspective of Philosophy, S. 549 f. 127 Vgl. Dworkin, Judicial Discretion, S. 625 f. 128 Zu diesem Ergebnis kommen auch Hutchinson/Wakefield, A Hard Look at "Hard Cases", S. 100,102. Mit "Argument" sind die zur Rechtfertigung der Entscheidung notwendigen Gründe gemeint. Daß Richter sich u. U. auf die Wiedergabe einiger Syllogismen beschränken werden, steht auf einem anderen Blatt. 129 Dworkin, MP, S. 74; TRS, S. XIV. 130 Vgl. Hutchinson/Wakefield, A Hard Look at "Hard Cases", S. 94.
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Am überzeugendsten scheint da noch Dworkins Vermutung, hard cases seien vielleicht solche Fälle, in denen die Dimension desfit noch verschiedene Lösungen erlaube 131 . Hiernach wären hard cases solche, in denen die Entscheidung auf Fragen politischer Moral beruht. Da aber die Dimension desfit mit der Dimension inhaltlicher Rechtfertigung verknüpft und verwoben ist, läßt sich auch mit diesem Abgrenzungskriterium praktisch nicht viel anfangen. Vor allem aber wäre mit dem Kriterium "Fälle, in den mehrere Interpretationen die Schwelle des fit passieren" die Unterscheidung von hard cases und easy cases ebenso funktionslos geworden wie im Falle des Kriteriums "rein syllogistische Argumentation". Denn der Richter muß sich in jedem Falle derselben Methode interpretativer Theorienbildung bedienen, nur daß diese einmal schneller und einmal langsamer zu einem eindeutigen Ergebnis führt: "So easy cases are, for law as integrity, only special cases of hard ones"132. Erst im Nachhinein kann der Richter mit dem "benefit of hindsight" einen Fall als hard oder easy einstufen. Die Diskussion um Dworkins Unterscheidung von hard cases und easy cases erinnert bis in die Formulierungen hinein an die in der lnteressenjurisprudenz geführte Debatte um die Frage, ob in einfachen Fällen ohne weiteres eine formallogische Subsumtion erfolge und der Richter nur in zweifelhaften Fällen die Interessenlage prüfe oder ob die Methode der Interessenjurisprudenz auch in einfachen Fällen insofern Bedeutung habe, als hier das Ergebnis der logischen Subsumtion mit dem der Interessenprüfung übereinstimme. Heck nahm letzteres an: Das interessengemäße Ergebnis sei ohne weiteres evident 134 . Auf der gleichen Linie argumentiert Dworkin, nur daß in seiner Theorie statt einer Interessenwertung eine interpretative Theorienbildung vorzunehmen ist. b) Hercules' Methode als Interpretation richterlichen Handelns in hard cases und easy cases Die zehnjährige Diskussion um den Begriff hard cases hat am Ende ergeben, daß ihm nicht die Funktion einer Weichenstellung für ein Umschalten von "herkömmlicher" Rechtsanwendung auf Hercules' Methode
131 Dworkin, MP, S. 161. 132 Dworkin, LE, S. 266. 133 Sartorius, Bayes' Theorem, Hard Cases, and Judicial Discretion, S. 1271; Hutchinson/Wakefield, A Hard Look at "Hard Cases", S. 93. 134 Heck, Begriffsbildung, S. 115 f.; hierzu kurz Schapp, Hauptprobleme der Methodenlehre, S. 68.
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interpretativer Theorienbildung zukommt . Dworkins Theorie der Rechtsprechung beansprucht, Erklärungswert für alle Rechtsfälle zu haben 136 . Der Begriff hard cases bezeichnet nicht den Ausgangspunkt, sondern das Resultat der Anwendung der Methode interpretativer Theorienbildung 137. So sei ζ. B. eine Gesetzesbestimmung unklar, wenn es zweifelhaft und strittig sei, welche Interpretation das gesetzgeberische Handeln in einem besseren Licht erscheinen lasse, welches also die beste Interpretation dieser Gesetzesbestimmung sei. Das Streitigkeitskriterium dient zwar weiter zur Abgrenzung von hard cases und easy cases. Nur ist klargestellt, daß für die richterliche Methode nichts von dieser Grenzziehung abhängt. Wenn die Interpretation einer Gesetzesbestimmung keine Probleme aufwerfe, dann sei das Gesetz klar "not because Hercules has some distinction, outside his general method, for distinguishing clear from unclear uses of a word, but because the method he always uses is then so easy to apply. It applies itself' 138 . Eine Methode, verstanden als überlegtes, regelgeleitetes Vorgehen, kann sich nicht selbst anwenden. Wenn der Richter in einfachen Fällen gar nicht 139
mehr merkt "that any theory is at work at all" und er von seinem "Instinkt" geleitet wird, so wird mit Hercules' Methode nicht beschrieben, was der Richter bewußt tut, sondern nur, was er tun müßte, würde er das offensichtlich richtige Interpretationsergebnis methodisch herleiten und rechtfertigen. Dworkin räumt ein, daß reale Richter mehr ihrem Judiz folgen und weniger methodisch vorgehen als Hercules. Dessen Methode zeige aber die "verborgene Struktur" der Urteile in easy cases auf 140 . Damit kommt Dworkin für law as integrity wiederum zu einem ganz ähnlichen Ergebnis wie Heck für die Interessenjurisprudenz. Heck zufolge fehlt
135 Dworkin, LE, S. 353. So auch schon Dworkin, Philosophy and the Critique of Law, S. 159. 136 Dworkin, LE, S. 266; ebenso schon Hutchinson/Wakefield, A Hard Look at MHard Cases", S. 88. 137 Dworkin, LE, S. 351. 138 Dworkin, LE, S. 353. 139 Dworkin, LE, S. 449 N. 14, S. 245,256, 265 f. Mit "Instinkt" ist wohl Intuition gemeint. Die Entscheidung einfacher Fälle, deren Lösung offensichtlich sei, werde je nach Können und Erfahrung des Richters instinktiv und unterbewußt getroffen. Dworkin vergleicht den Richter mit einem Schachspieler, der seine Züge um so selbstverständlicher vornimmt, je besser er spielt. Dieser Vergleich zeigt an, daß die Schwierigkeit eines Falles nicht (nur) eine Qualität des Falles, sondern (auch) des mit ihm konfrontierten Richters ist. 14 Dworkin, LE, S. .
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in einfachen Fällen nicht etwa die Interessenprüfung. Nur vollziehe sie sich intuititv und trete nicht in das Oberbewußtsein des Richters 141 . Von anderer Warte aus betrachtet, stellt Dworkin das Bild der Rechtsprechung indessen auf den Kopf. Von der amerikanischen rechtssoziologischen Schule wird in schwierigen Fällen von einem sogenannten "hunch" (Ahnung, Vermutung) des Richters gesprochen. Der "hunch" bezeichnet eine intuitive Gerechtigkeitsentscheidung, die anschließend konstruktiv verkleidet werden muß, um juristisch akzeptabel zu sein 142 . In Hercules' Modell dagegen handelt der Richter "instinktiv" gerade in den einfachen Fällen, in denen "die Lösung im Gesetz steht". Der Fall einer zweifellos erfüllten gesetzlichen Norm oder eines in allen Merkmalen des Falles übereinstimmenden und noch nie in Frage gestellten Präjudizes wird von Dworkin so interpretiert, als stelle der Richter - wenn auch unterbewußt und intuitiv - erst die Rechtfertigung dieser Norm oder dieses Präzedenzfalles durch die soundest theory of law fest. Der "hunch" (jetzt verstanden als eine intuitiv richtige Rechtsentscheidimg) ist bei Dworkin damit ein Phänomen einfacher, klarer Fälle, während in hard cases die bewußt angewandte Methode interpretativer Theorienbildung zum Ziel führt und die Entscheidung legitimiert.
2. Die politische Macht des Richters
Dworkins Theorie der Rechtsprechung ist einerseits vorgeworfen worden, sie räume dem Richter zu viel Macht ein, seine eigenen politischen Überzeugungen durchzusetzen, und sei daher undemokratisch . Andererseits wurde die das bestehende Recht konservierende Tendenz ("extremer 1AA
Konservativismus") des Dworkin'schen Modells bemängelt . Interessanterweise beanspruchen beide Kritiken, ihrerseits von einem rechtspositivistischen Standpunkt aus zu argumentieren. Das könnte darauf hindeuten, 141 Vgl. Heck, Begriffsbildung, S. 115 f.; ders., Die Leugnung der Interessenjurisprudenz, S. 246 ff.; dazu kurz Schapp, Hauptprobleme, S. 68. 142 Vgl. hierzu Esser, Grundsatz und Norm, S. 235 ff.; Radbruch, Anglo-American Jurisprudence through Continental Eyes, S. 542; Hutcheson, The Judgment Intuitive, S. 531 ff.; Cardozo, Jurisprudence, S. 26 ff. 143 Mackie, The Third Theory of Law, S. 13 ff. 144 Raz, Professor Dworkin's Theory of Rights, S. 133 ff. Dabei darf nicht übersehen werden, daß sowohl der "unpolitische", das bestehende Recht konservierende Richter politische Macht ausübt als auch derjenige, der seine eigenen politischen Überzeugungen umsetzt, die vielleicht "intensely conservative and protective of established forms of authority" (vgl. Dworkin, MP, S. 28) sind.
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daß das Unbehagen an Dworkins Theorie weniger rechtstheoretisch als politisch motiviert ist 1 4 5 . a) Konservativismus-Vorwurf Dworkins Modell der Rechtsprechung wird von Raz als "most conservative interpretation of the judicial role" bezeichnet: "Judges are neither legally nor morally entitled to assume a reforming role" . Vergleicht man Dworkins Modell hinsichtlich seiner Behandlung des Präjudizienrechts mit Raz' erklärt positivistischem Entwurf der Präjudizienrechtsprechung, so fällt auf, daß dieser der herkulischen Methode (die Raz als "analogical reasoning" beschreibt) zwar einen Platz einräumt, diesen aber begrenzt. Dort, wo die Regel eines Präjudizes direkt bindet, weil der zu entscheidende und der entschiedene Fall in allen relevanten Merkmalen übereinstimmen, bleibt nach Raz nur die Anwendung der bindenden Regel. Nur wenn das betreffende Gericht die Macht zum "overruling" habe und in Fällen des "distinguishing", also der einschränkenden Veränderung der Regel hinsichtlich einer neuen Fallgestaltung, sei, um bestehende und neue Regeln aufeinander abzustimmen, analog zu argumentieren. Aber auch hierbei ist die Integrität des Rechts nach Raz kein rechtliches Erfordernis, sondern lediglich ein "general advice"147. Raz' Konservatismusvorwurf lautet, daß das die "settled rules" rechtfertigende Prinzpienbündel, die sogenannte soundest theory of law, notwendigerweise die allgemeine Ideologie hinter diesen Regeln widerspiegele und sie perpetuiere . In die gleiche Richtung geht die Kritik, daß Dworkin Hercules in einer Art juristischer Spiegelhalle gefangenhalte, indem er neue Regeln aus den die alten Regeln rechtfertigenden Prinzipien gewinnen müsse, so daß nicht ersichtlich sei, wie Hercules das Recht weiterenwickeln könne 149 . Diese Einwände übersehen, daß Dworkin mit seiner Fehlerlehre einer Erstarrung des Rechts in historischen Entscheidungen, Wertungen und 145 So Dworkin in Bezug auf Mackie, TRS, S. 359 und im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Diskussion in den USA Law's Ambitions, S. 175. 146 Raz, The Authority of Law, S. 206 Fn. 19; ähnlich Pannick, A Note on Dworkin and Precedent, S. 43 f. 147 Raz, The Authority of Law, S. 180,186, 201 ff. Raz spricht a. a. O., S. 206 zwar nicht von Integrität · diesen Begriff hatte Dworkin noch nicht geprägt ·, meint aber in der Sache mit "harmony of purpose" diese Prinzipientreue. 148 Raz, The Authority of Law, S. 205; ders., Professor Dworkin's Theory of Rights, S. 133 ff. 149 Hutchinson/Wakefield, A Hard Look at "Hard Cases", S. 109.
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Irrtümern vorbaut. Auch kann der Richter in der (Er-)Findung rechtfertigender Prinzipien kreativ sein 150 . Ein Präjudiz, von dem man bisher dachte, daß es auf einer bestimmten Wertung beruhe, kann durch ein neues Prinzip besser gerechtfertigt sein. Eine Änderung in der Rechtfertigung früherer Entscheidungen, eine veränderte Interpretation kann es unnötig machen, ein Präjudiz zu verwerfen 151. Richtig an dem Konservativismus-Vorwurf ist allerdings, daß Dworkins Denken in Institutionen grundsätzlich systembewahrend ist, da die Institution nur von innen heraus interpretativ entwickelt, nicht aber revolutionär gesprengt werden soll. Dworkin selbst sieht den Hauptunterschied zwischen seinem eigenen und einem positivistischen Modell der Rechtsprechung darin, daß letzteres ein Vorgehen des Richters in zwei Stufen annehme: Zunächst müsse der Richter das Recht zu ermitteln versuchen, und dann, wenn das Recht lückenhaft oder unklar sei bzw. keine Konvention im fraglichen Punkt bestehe, Recht schaffen. Dabei übe der Richter Ermessen aus 152 . Harts IO
Vorstellung einer "open texture" der Rechtsregeln legt in der Tat ein solches Zwei-Phasen-Modell nahe. Und Raz sieht zwar Rechtsanwendung und -Schöpfung kontinuierlich und in einer verwickelten Verbindung, besteht aber doch auf einer strikten begrifflichen Trennimg dieser beiden Aktivitäten 154 . Der Streit wäre ein bloß terminologischer, wenn er allein darum ginge, ob der Richter dann, wenn seine Entscheidung auf Urteile abstrakter politischer Moral angewiesen ist, noch eine Rechtsentscheidung trifft. Nach Dworkin ist der entscheidende Unterschied zwischen seiner eigenen und etwa Raz' Position aber der, daß in seinem Modell der Richter auch und gerade dann, wenn die Rechtsregeln oder expliziten Konventionen ihn nicht klar leiten, über das rechtfertigende Prinzipienbündel der soundest theory of law Konsistenz mit der Vergangenheit sucht. Der rechtspositivistische oder konventionalistische Richter verliere dagegen in solchen Fällen angeblich freier Rechtsschöpfung das Interesse an der Vergangenheit, weil sie ihn rechtlich nicht mehr binde 155 .
150 Dworkin, LE, S. 225: "So law as integrity rejects as unhelpful the ancient question wether judgesfind or invent law". 151 Dworkin, TRS, S. 118. 152 Dworkin, TRS, S. 125; LE, S. 119,130. 153 Vgl. Hart, The Concept of Law, S. 121 ff., insbes. S. 124,132. 154 Raz, The Authority of Law, S. 206 - 209. 155 Dworkin, LE, S. 130 und oben Kapitel 4 I V 3.
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Dworkin ist insoweit zuzustimmen, als seine eigene und Raz' Theorie der Rechtsprechung sich hinsichtlich des von Dworkin postulierten Integritätsgebots unterscheiden. Doch damit ist noch nicht zwingend ein praktischer Unterschied zwischen Hercules' Vorgehen und dem eines rechtspositivistischen Richters aufgezeigt. Denn es ist denkbar, daß ein Richter das Recht positivistisch als abgeschlossene und identifizierbare Menge von Normen oder Konventionen begreift, darüber hinaus aber eine Theorie politischer Moral vertritt, die auf das Ideal politischer Integrität baut 156 . Zwischen einem solchen positivistischen Richter und Hercules besteht - vorausgesetzt sie sind sich einig darüber, welche Fälle easy cases sind 157 - nur ein begrifflicher Streit. Der Rechtspositivist versteht die kontroversen Fälle richterlicher Rechtsschöpfung, in denen er, ebenso wie Hercules, Konsistenz mit der Vergangenheit sucht, als Fälle rückwirkender Anwendung neu geschaffenen Rechts; Hercules dagegen begreift sie als Anwendung schon bestehenden Rechts. · b) Größerer politischer Spielraum des Richters Zur Frage, ob ein Vorgehen im Stile eines Hercules dem Richter gegenüber dem Zwei-Stufen-Modell, das zwischen Rechtsanwendung und Rechtsschöpfung trennt, mehr Möglichkeiten gibt, seine eigenen politischmoralischen Vorstellungen durchzusetzen, verhält sich Dworkin ambivalent 158 . Einerseits bestreitet er dies, indem er darauf hinweist, daß so, wie Hercules, je nachdem, was für eine Konzeption des fit er entwickelt, die Schwelle desfit höher oder niedriger ansetzen kann, womit er sich weniger oder mehr Raum zu Entscheidungen politischer Moral schafft, der positivistisch-konventionalistische Richter eine Konzeption bindender Konventionen entwickeln kann, die mehr oder weniger streng ist 1 5 9 . Sobald aber nach der jeweiligen Konzeption des Rechtspositivisten keine Konvention vorliege, müsse dieser Recht schöpfen 160. Die Dimension des fit in Hercules' Theorie und der Begriff der Konvention in einer rechtspositivi156 Rechtspositivimus bedeutet nicht Enthaltsamkeit in moralischen Fragen. Vgl. z. B. Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, S. 2481. 157 Dazu unter b. Der Rechtspositivist begründet das Vorliegen eines easy case mit der Anwendbarkeit klarer Regeln, Hercules mit der Möglichkeit einer einfachen, intuitiv richtigen Interpretation. 158 Dworkin, TRS, S. 362. 159 Dworkin, "Naturar Law Revisited, S. 179. Nach Dworkin vertritt aber nur ein sogenannter strikter Konventionalist wirklich einen rechtspositivistischen Standpunkt. In allen streitigen Fällen aber gibt es keine explizite Konvention. S. o. Kapitel 4 I V 3 a. 160 Dworkin, LE, 124 f., 127.
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stischen Theorie haben danach genau entgegengesetzte Funktionen: Je stärker die Anforderungen an denfit, desto weniger Interpretationen passieren diesen ersten Test und können allein unter Gesichtspunkten politischer Moral bewertet werden. Je strenger dagegen die Anforderungen an das Bestehen einer Konvention sind, desto eher kann der positivistische Richter Recht schöpfen. Andererseits weist Dworkin auf Fälle hin, in denen Hercules eher als der positivistische Richter geneigt sein wird, Präjudizien zu verwerfen und gesetzliche Bestimmungen nicht anzuwenden. So werde z. B. ein Konventionalist im Falle einer in sich kohärenten Präjudizienkette, die sich aber nicht mit anderen Bereichen des Rechts konsistent vertrage, eine Änderung der Rechtslage dem Gesetzgeber überlassen 161. Hercules, der das Integritätsideal so umfassend wie möglich zu verwirklichen suche, werde dagegen die Präjudizien, wenn möglich, verwerfen. Da in Hercules' Augen grundsätzlich keine Doktrin und keine Praxis vor kritischer Überprüfung gefeit ist, kann das Integritätsideal sehr weitgehend durch Verwerfung von Präjudizien und Nichtbeachtung von Gesetzesbestimmungen verfolgt werden. Hart hat diese grundsätzliche Infragestellung aller Rechtspraktiken vorausgesehen, als er schrieb: "Wenn man... die mysteriöse Behauptung aufstellt, daß zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein sollte, irgendeine unauflösliche Einheit besteht, so bringe man damit zum Ausdruck, daß im Grunde alle Rechtsfragen den Problemen der Schattenzone gleichen"162. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß ein positivistischer Richter das Recht aus moralischen Gründen nicht anwendet. Er ersetzt dann aber bewußt die (unmoralische) Rechts- durch eine moralische Entscheidung. Die Schwelle vor der Verwerfung einzelner Rechtnormen und Präjudizien liegt für den Rechtspositivismus höher als in law as integrity. Darin liegt der praktische Unterschied zwischen den beiden Theorien.
161 Dworkin, "Natural" Law Revisited, S. 180. Ein Beispiel findet sich in The Law of the Slave-Catchers, S. 1437 Spalte 2, wo Dworkin über einige Fälle aus der Zeit vor dem Sezesssionskrieg, in denen gegen die Sklaverei eingestellte, positivistisch denkende Richter Gesetze über die Auslieferung geflüchteter Sklaven an die Südstaaten anwandten, schreibt: "The slaveiy cases are interesting and puzzling only because they were not easy cases; the law was not already settled against the slaves, though the judges said it was.* (Hervorhebung C. B.) Vgl. auch Dworkin, "Justice Accused". 162 Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, S. 39 (Positivism, Law, and Morals, S. 71 f.).
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c) Zur Demokratiefeindlichkeit der herkulischen Methode Hercules mißachtet daher in der Tat häufiger als andere Richter explizite und für sich genommen klare gesetzliche Vorschriften, weil sie mit dem übrigen Recht nicht konsistent und kohärent vereinbar oder obsolet sind. Hiergegen wird der Vorwurf erhoben, Hercules handele undemokratisch (und verletze das Rechtsstaatsprinzip), weil er seine eigenen politischen Vorstellungen an die Stelle der des demokratisch legitimierten Gesetzgebers setze . Der Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit knüpft auch an Dworkins Ablehnung einer subjektiv-historischen Auslegung164 an. Dworkin hält dem zunächst entgegen, daß der Richter immer politisch handele. Der Rechtspositivist verkenne, daß Richter um Entscheidungen politischer Moral nicht herumkommen. Auch der Umstand, daß verschiedene Richter in Fragen politischer Moral zu unterschiedlichen Entscheidungen gelangen werden, spreche nicht gegen Hercules' Methode 165 . Politische Überzeugungen könnten allerdings auf unterschiedliche Weise eine Rolle in der richterlichen Argumentation spielen. Zum einen könne sich der Richter auf eine - wie auch immer ermittelte oder nur behauptete Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung berufen oder aber die Tatsache, daß er selbst einer bestimmten politischen Auffassung sei, als Argument benutzen. Daß beides eine richterliche Entscheidung nach Dworkin nicht zu rechtfertigen vermag, ist vor dem Hintergrund seiner Theorie moralischen Begründens klar. Zur Rechtfertigung einer Entscheidung habe sich der Richter vielmehr auf die Wahrheit oder Stimmigkeit einer Überzeugung zu berufen - und sei es der Überzeugung, daß in bestimmten Fragen auf die Mehrheitsmeinung abzuheben sei1 . Dworkins Hauptargument aber ist, daß Rechtsprechung eine Frage der Respektierung und Durchsetzung individueller Rechte sei. Auch dann, wenn Hercules' Entscheidung auf Urteilen politischer Moral beruhe, gehe es ihm doch immer noch um die Rechte der Parteien. Dworkin hält sein Modell der Rechtsprechung für mit dem demokratischen Ideal sogar besser vereinbar als das rechtspositivistische Zweistufen-Modell, weil es im Gegensatz zu diesem die sogenannte "rights thesis " respektiere. Diese ist da163 Dworkin, MP, S. 18; TRS, S. 123 In "Bürgerrechte ernstgenommen", S. 210 wird (ebenso wie auf S. 540, die TRS, S. 338 entspricht) rule of law fälschlich mit Rechtsregel statt mit Rechtsstaatsprinzip übersetzt. 164 Siehe oben unter II 3. 165 Dworkin, MP, S. 9 ff., 29; TRS, S. 117,124. 166 Dworkin, TRS, S. 124.
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her zunächst zu betrachten, bevor auf die Frage der Demokratiefeindlichkeit der Dworkin'schen Theorie eine Antwort gegeben werden kann 167 .
IV. Die "rights thesis"
1. Die These: Erster Überblick
Dworkins sogenannte rights thesis ist eine These darüber, was Richter in Zivilrechtsstreitigkeiten tun bzw. tun sollen. Sie hat mithin eine deskriptive und eine normative Seite. In ihrem deskriptiven Teil besagt sie, daß Gerichtsentscheidungen auch in schwierigen Fällen existierende politische Rechte durchsetzen, nicht neue Rechte schaffen und rückwirkend auf den Fall anwenden. Ihr normativer Teil besagt, daß Gerichte Rechte durchsetzen, nicht neue Rechte schaffen sollen ; so die erste Lesart der rights thesis . Neben dieser ersten Version findet sich eine zweite Lesart der rights thesis. Nach dieser stützen Gerichte ihre Entscheidungen auf arguments of principle , nicht auf arguments of policy (deskriptiver Aspekt) und sollen sie auch nur auf arguments of principle stützen (normativer Aspekt). Die gerichtliche Entscheidung werde durch arguments of principle erzeugt ("generated") und solle durch diese erzeugt werden 169 . Wie oben erläutert, rechtfertigen arguments of principle eine politische Entscheidung, indem sie zeigen, daß diese ein Recht schützt. Sie sind Rechte beschreibende Argumente. Arguments of policy rechtfertigen eine politische Entscheidung, indem sie zeigen, daß diese kollektive Ziele befördert. Sie beschreiben gesellschaftliche Zielsetzungen170. Dworkin hält kritischen Einwänden zum Trotz beharrlich an diesen Kategorien fest. Sie sind ein Grundpfeiler seines rechtsphilosophischen Denkens: Recht ist für Dworkin eben "a matter of principle" 171 .
167 Vgl. dazu unten IV 4 am Ende und V. 168 Dworkin, TRS, S. 81,87,123. 169 Dworkin, TRS, S. 84 170 Vgl. oben Kapitel 3 V. 171 Vgl. die Einleitung zu MP, S. 1 ff.
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Dierights thesis (gleich welcher Lesart ) beansprucht Geltung für alle Zivilrechtsstreitigkeiten und - mit Einschränkungen - für alle richterlich zu entscheidenden Fälle, in denen Individualrechte nur auf einer der beiden Seiten im Prozeß eine Rolle spielen (wie ζ. B. im Strafpozeß). Dworkin bezeichnet solche Fälle als asymmetrisch 173. Die Unterscheidung symmetrischer und asymmetrischer Fälle ist in Bezug auf sogenannte negative arguments of principle von Bedeutung. Ein negatives arment of principle behaupte das Nichtbestehen eines Rechtes. In einem Zivilrechtsstreit könne eine Entscheidung gegen den Kläger damit gerechtfertigt werden, daß gezeigt werde, daß der Kläger kein Recht auf das habe, was er beanspruche 7 4 . Ein solches negatives argument of principle könne indessen nur in symmetrischen Fällen den Ausschlag geben, weil nur in diesen aus dem Fehlen eines Rechts auf der einen Seite zwingend ein Recht der Gegenseite auf eine ihr günstige Entscheidung folge 175 . Dworkin stellt sich mit derrights thesis zum einen gegen die Tradition des englischen Rechts, nach der das subjektive Recht im Denken des Richters keine wesentliche Rolle spielt. Dieser denke von der "remedy", der Abhilfe, nicht vom subjektiven Recht her 176 . Vor allem aber ist die rights thesis als Gegenthese zu der dritten These des Dworkin'schen Rechtspositivismus-Konstrukts zu verstehen, wonach der Richter in Fällen, die von keiner Rechtsregel klar erfaßt werden, Ermessen ausübe und aufgrund von Zielsetzungsargumenten entscheide177.
172 Der unterschiedliche Gehalt der beiden Versionen wird von Dworkin nicht problematisiert; vgl. dazu unten 2. 173 Dworkin, TRS, S. 100; MP, S. 95 ff. Vgl. zur Problematik asymmetrischer Fälle unten Kapitel 6 II 4 a. 174 Dworkin, TRS, S. 304 f., 311. Als Kläger ist nach Dworkin der substantielle Kläger, d. h. die Person zu verstehen, die den Staat um Intervention angeht, auch wenn sie nominell, etwa aus prozessualen Gründen, als Beklagter auftritt. Vgl. LE, S. 432 Ν. 8. 175 Dworkin, TRS, S. 100 mit folgendem Beispiel: In einem Strafprozeß (asymmetrischer Fall) sei der Umstand, daß ein Angeklagter kein Recht auf die Zulassung eines bestimmten Beweismittels habe, noch kein hinreichendes Argument, dieses Beweismittel nicht zuzulassen, da der Anklageseite keine Individualrechte zustehen. Sieht man Dworkins Behandlung negativer arguments of principle im Zusammenhang mit seiner Verwerfung eines sogenannten "unilateralen Konventionalismus" (vgl. oben Kapitel 4 I V 3 b), so zeigt sich, daß das Bestehen eines Rechtes für Dworkin nicht vom Bestehen einer entsprechenden expliziten Konvention oder, anders gewendet, einer klaren Rechtsnorm abhängt. Denn während das Fehlen einer expliziten Konvention zugunsten des Klägers nach Dworkin kein hinreichender Grund gegen ihn ist, ist ein negatives argument of principle ein hinreichender Grund zur Klagabweisung. 176 Vgl. hierzu etwa Lawson, Das subjektive Recht, S. 24 ff., 27. 177 Siehe Dworkin, TRS, S. 17 und oben Kapitel 4 I. Zu Zielsetzungsargumenten des Richters vgl. Hart, Positivism and the Separation of Law and Morals, S. 71; Ott, Der Rechtspositivismus, S. 178.
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Eine kritische Auseinandersetzung mit derrights thesis kann von drei Ansatzpunkten ausgehen. Sie kann sich erstens mit ihrem deskriptiven Aspekt 178 befassen. Die rights thesis wäre widerlegt, wenn gezeigt werden könnte, daß Richter charakteristischerweise nicht aufgrund von arguments of principle , sondern aufgrund von arguments of policy entscheiden bzw. daß richterliche Entscheidungen in schwierigen Fällen nicht lediglich bereits existierende politische Rechte durchsetzen. Der Kritiker müßte Gegenbeispiele finden, die Dworkins Interpretation der Richterpraxis als verfehlt erscheinen lassen. Da eine repräsentativ angelegte Analyse der Richterpraxis unter diesem Aspekt Spezialuntersuchungen vorbehalten bleiben muß 179 , wird im folgenden nur diskutiert, was überhaupt als Gegenbeipiel zu Dworkins rights thesis gelten kann (unten 3). Zweiter Ansatzpunkt ist der normative Aspekt derrights thesis . Wenn es sich begründen ließe, daß Richter in schwierigen Fällen, die von einem rechtspositivistischen Standpunkt als Fälle richterlicher Rechtsschöpfung interpretiert werden, aufgrund von arguments of policy und nicht aufgrund von arguments of principle entscheiden sollten bzw. daß Gerichtsentscheidungen nicht Rechte durchsetzen, sondern gesellschaftliche Ziele befördern sollten, wenn also dieses Vorgehen unter dem Gesichtspunkt politischer Moral "attraktiver" wäre, so wäre damit dierights thesis in ihrem normativen Teil erschüttert (dazu unten 4). Zuvörderst aber ist dierights thesis auf ihren Erklärungswert hin zu betrachten. Es wäre ihr jegliche Aussagekraft abzusprechen, wenn die Unterscheidung von Rechten und Zielen bzw. von arguments of principle und arguments of policy sich als nicht tragfähig erwiese. Im folgenden wird davon ausgegangen, daß Dworkin Rechte und Ziele zwar nicht anhand des Trumpfcharakters von Rechten (der nur ein typisches Attribut, aber kein Definiens von Rechten ist), wohl aber anhand des Kriteriums der Individualisierung des politischen Ziels oder Interesses begrifflich unterscheiden kann 180 . Aber auch von diesem Ausgangspunkt her ist der Gehalt der rights thesis noch klärungsbedürftig.
178 Dworkin TRS, S. 123. 179 Vgl. etwa die Oxforder Dissertation von Bell, Policy Arguments in Judicial Decisions, deren zentrale These es ist, daß "the limitation of judicial law making to questions of principle proves to be an inadequate description of the English judicial practice" (S. 334). 180 Vgl. oben Kapitel 3 I V 2 c.
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2. Gehalt und Erklärungswert
der rights thesis
a) Zwei Versionen der rights thesis Die beiden Lesarten der rights thesis , die erste, die auf die Durchsetzung existierender politischer Rechte abstellt, und die zweite, die auf die Verwendung von arguments of principle abhebt, sollen zwei Formulierungen ein und derselben These sein. Indessen besagen sie nur dann dasselbe, wenn ein argument of principle ein Recht nicht nur behauptet, sondern als ein argument of principle nur zählt, wenn das behauptete Recht tatsächlich besteht und die Entscheidung, die sich auf das arment of principle stützt, daher ein existierendes Recht durchsetzt. Einer solchen Interpretation der zweiten Lesart derrights thesis steht aber entgegen, daß diese von Dworkin stets dahin formuliert wird, daß das Recht nur behauptet, gezeigt, argumentativ zu belegen versucht wird 1 8 1 . Allerdings sind von einem internen interpretativen Standpunkt182 aus die Behauptung eines Rechtes durch ein arment of principle und das "tatsächliche" Bestehen eines Rechtes nicht zu trennen. Ergibt die beste Interpretation der Rechtslage, daß das behauptete Recht nicht besteht, so bleibt die Behauptung des Rechts gleichwohl ein arment of principle. Es erweist sich lediglich als ein schlechtes argument of principle 18 . Die beiden Lesarten der rights thesis sind in ihrer Aussage folglich nur insofern identisch, als genau dann ein Recht besteht, wenn die beste Interpretation des Rechts in ein entsprechendes arment of principle mündet. Aber nicht jedes argument of principle ist zutreffend, so daß die beiden Lesarten derrights thesis sich insoweit nicht decken. Näher betrachtet formuliert also nur die erste Lesart derrights thesis eine Gegenthese zur rechtspositivistischen These, daß der Richter in schwierigen Fällen Ermessen habe und keine existierenden Rechte durchsetze. Sie ist, da die Existenz der Rechte nicht zwingend bewiesen werden kann und ihre argumentative Herleitung auf kontroverse Annahmen politischer Moral angewiesen ist 1 8 4 , weder belegbar noch widerlegbar . Vor 181 Dworkin, TRS, S. 90 ("arguments intended to establish an individual right"), S. 294 ("showing that the person or group has aright to the benefit"); MP, S. 2 f. ("claim...that particular programs must be carried out...because of their impact on particular people"), S. 75 ("means to claim that he is entitled to win"), S. 375 ("argue that a particular rule is necessaiy in order to protect an individual right"). 182 Vgl. oben Kapitel 1 III 2. 183 Dworkin, TRS, S. 297. In Fallen, in denen ein abstraktes Recht falsch gewichtet oder gänzlich verkannt werde, liege ein "mistake of principle" vor. 184 Dworkin, TRS, S. 81. 185 So auch Brilmayer, The Institutional and Empirical Basis of the Rights Thesis, S. 1181.
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dem Hintergrund des Dworkin'schen Wahrheitsbegriffs ist die mangelnde Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit derrights thesis (erste Lesart) allerdings kein Manko. Es zeigt sich jedoch die Fragwürdigkeit der Dimension desfit als formaler Hürde jeder Interpretation: Es gibt keine Möglichkeit, intersubjektiv zu überprüfen, ob die rights thesis (erste Lesart) als Interpretation der Rechtspraxis auf diese paßt. Dierights thesis in ihrer ersten Version kann daher allein unter dem Gesichtspunkt ihrer politisch-moralischen Attraktivität diskutiert werden. Die zweite Lesart derrights thesis verspricht dagegen in ihrem deskriptiven Anspruch anhand der richterlichen Entscheidungsbegründungen in Zivilrechtsurteilen überprüfbar zu sein. b) Das Problem der Ersetzbarkeit von arguments of policy durch arguments of principle Die zweite Version derrights thesis steht allerdings vor der Schwierigkeit, genuine arguments of principle von bloßen Lippenbekenntnissen unterscheiden zu müssen. Wenn schon ein Richter, der seine policy Argumentation 186 damit abschließt, zu behaupten, der Kläger habe "daher" ein Recht auf X, ein arguent of principle vorbrächte, so besagte die rights thesis nur, daß sich Richter eines bestimmten Jargons befleißigten. Hinzu kommt das Problem der Ersetzbarkeit von arguments of policy durch arguments of principle . Ein Einwand lautet, daß arguments of policy beliebig ersetzbar seien durch arguments of principle^ 1\ so daß der Richter seine Entscheidung immer in die Form von arguments of principle kleiden könne. Dem hält Dworkin entgegen, daß ein argument of policy , das in ein arment of principle transformiert werde, dadurch typischerweise an Überzeugungskraft verliere. Zwar versuche eine Partei im Prozeß, ein argument of principle zu formulieren, weil der Appell an ein Recht im Regelfall das ausschlaggebende Argument sei. Wenn es der Gegenpartei nämlich nicht gelinge, ebenfalls ein Prinzipienargument für sich geltend zu machen, so setze sich das einzige arment of principle in der Regel durch . Wenn aber die gegnerische Partei ihrerseits ein argument of 186 Darunter fallen handlungsutilitaristische, nicht aber regelutilitaristische Erwägungen, vgl. oben Kapitel 3IV 3 c. 187 So ζ. B. Umana, Dworkin's "Rights Thesis", S. 1176. Kritisch vor allem aber Greenawalt, Policy, Rights, and Judicial Decision, S. 1016 ff., wonach Dworkins Unterscheidung von arguments of principle und arguments of policy vor allem daran krankt, daß Dworkin keinen Anhaltspunkt gibt, ob und inwieweit die Interessen Dritter als arguments of principle in der Abwägung des Richters berücksichtigt werden können. 188 Dworkin, TRS, S. 95 f. Zum Trumpfcharakter von Rechten siehe oben Kapitel 3 III 1.
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principle vorzubringen habe, dann sei nichts damit gewonnen, ein argument of policy in ein wenig plausibles, schwaches arment of principle zu übersetzen. Denn bei der dann notwendigen Abwägung der Rechte gegeneinander - ein Abwägungskriterium ist offenbar der Grad der ihnen drohenden Gefahr - vermöge sich das mühsam konstruierte Recht nicht durchzusetzen 189. Dworkin geht mithin davon aus, daß ein Argument, das "an sich" ein argument of policy ist, dem eine Formulierung als policy- Argument angemessen ("appropriate") wäre 190 , nicht an Stärke gewinnt, wenn es als ein Argument über Individualrechte formuliert wird. Dieses Phänomen, daß policy- Argumente durch die Umformulierung in principle-Asgumente an Stärke verlieren, läßt sich dadurch erklären, daß /?ö//cy-Argumente Sammelbecken von Interessen, Präferenzen und deren möglichen Gefährdungen sind, die jeweils für sich genommen zu geringfügig bzw. zu wenig individual- und autonomiebezogen sind, um ein argument of principle zu stützen. Wird ein arment of policy in ein principle- Aigumzni transformiert, so fallen daher die meisten Interessen und ihre Gefährdungen unter den Tifcch 191. Der Willkür in der Konstruktion von arguments of principle sind nach Dworkin einmal dadurch Grenzen gesetzt, daß sich nicht für jede gesellschaftspolitische Zielsetzung, die für eine Entscheidung zugunsten des Klägers spricht, ein individuelles Interesse und eine Rechtsträgerschaft des Klägers finden läßt. Insofern erinnert die Unterscheidung von arguments of principle und arguments of policy an die Anforderungen der Klagebefugnis im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, die nach h. M. verlangt, daß der Kläger eine Behauptung aufstellt, die es möglich erscheinen läßt, daß er in eigenen Rechten verletzt ist 1 9 2 .
189 Dworkin, TRS, S. 96. Dworkins Beispiel: Eine Minderheit stützt die Befürwortung eines Antidiskriminierungsgesetzes auf ein Recht auf Gleichheit. Die Mehrheit kann nur policy-Gründe der allgemeinen Wohlfahrt (Vermeidung von Unbequemlichkeiten und Belästigungen der Mehrheit) entgegenhalten. Diese policy- Argumente würden nicht stärker dadurch, daß sie hinter einem argument of principle versteckt werden, das das Recht auf Leben geltend macht, welches durch Aufhebung der Segregation gefährdet sei. Die drohende Gefahr für das Recht auf Leben sei zu gering, als daß sich dieses Recht gegen das Gleichheitsrecht der Minderheit durchzusetzen vermöge. 190 Dworkin, TRS, S. 96. 191 Ähnlich Regan, Glosses on Dworkin, S. 131. 192 Siehe hierzu Tschira/Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, S. 84 f. mit weiteren Nachweisen.
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Zum zweiten ist dierights thesis eine These im Rahmen der herkulischen Methodenlehre. Daher ist als ein arment of principle nur ein Argument zu zählen, das die institutionelle Geschichte zu interpretieren sucht, nicht aber die blinde Behauptung irgendeines Rechts. Andernfalls nämlich stellte sich dierights thesis als bloße Verbalbehauptungstheorie dar: Ein argument of principle läge immer dann vor, wenn eine Partei oder der Richter ein Recht behauptete, sei diese Behauptung in irgendeiner Weise interpretativ gestützt oder nicht. Dworkin wurde vielfach dahin mißverstanden, daß arguments of principle Argumente seien, die im Gegensatz zu arguments of policy nicht auf die gesellschaftlichen Folgen einer politischen Entscheidung abstellten193. Doch können Folgenargumente Dworkin zufolge in der Begründung von Rechten sehr wohl eine Rolle spielen, ohne daß dadurch dem Argument sein Prinzipiencharakter genommen würde. Arguments of principle seien Argumente, die auf die Frage, ob ein Recht auf etwas besteht, antworteten. Wenn ein Richter einer Theorie anhänge, die zur Beantwortung dieser Frage die Folgen bestimmter Verhaltensweisen betrachten müsse, so werde deshalb aus dem Argument kein argument of policy 19*. Diese Argumentation Dworkins spiegelt seine Position im Streit um die Unterscheidung deontologischer und teleologischer Theorien wieder, in dem er den Primat des Rechten oder Gerechten über das Gute vertritt 195 . c) Die von derrights thesis bezeichneten Rechte Gerichtsentscheidungen setzen nach Dworkin existierende politische Rechte durch. Politische Rechte seien Trumpfrechte, die sich entweder gegen Entscheidungen der Gesellschaft als Ganzer (sog. Hintergrundsrechte) oder gegen Entscheidungen konkreter in der Gemeinschaft bestehender Institutionen, wie der Gesetzgebung ("legislative rights") und der Rechtsprechung ("legal rights") richteten. Aber auch Rechte gegen Mitbürger ("rights against fellow citizens") sind politische Rechte im Dworkin'schen Sinne 196 . Dworkins Argumentation für dierights thesis schwankt zwischen der Diskussion von "legal rights" einerseits, also Rechten gegen den Richter, zugunsten des Rechtsinhabers zu entscheiden, und von Rechten gegen die gegnerische Partei im Zivilprozeß andererseits 197. Mit 193 Vgl. z. B. Greenawalt, Policy, Rights, and Judicial Decision, S. 1022. 194 Dworkin, TRS, S. 295 ff.; A Reply, S. 267 f. 195 S. ο. Kapitel 31. 196 Dworkin, TRS, S. 93,94 Fn. 1; A Reply, S. 268 f. 197 Dworkin, TRS, S. 94, 81. Dieser Doppelcharakter der "legalrights"erinnert an die Anfang dieses Jahrhunderts diskutierte Konstruktion eines Rechtsschutzanspruchs zum einen
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der Unterscheidung dieser beiden Rechte ließe sich der Fall beschreiben, daß eine Partei zwar ein Recht ("claim-right" 198) gegen einen Mitbürger hat, daß dieser Anspruch aber nicht vor Gericht durchsetzbar ist, also kein "legal right" gegen den Richter besteht. Dworkins Sprachgebrauch jedoch legt nahe, daß immer dann, wenn ein Recht des Klägers gegen den Beklagten besteht, der Kläger auch ein Recht gegen den Richter hat, zu seinen Gunsten zu entscheiden, und daß, wenn kein Recht des Klägers gegen den Beklagten besteht, dieser ein Recht gegen den Richter auf eine ihm günstige Entscheidung hat. Ebenso wechselnd ist Dworkins Perspektive in Bezug darauf, ob es um abstrakte oder konkrete Rechte geht. Abstrakte Rechte geben noch nicht an, wie das Recht gegenüber konkurrierenden Rechten und Zielen zu gewichten ist, während ein konkretes Recht das Abwägungsergebnis ausdrückt 199 . Soweit Dworkin den Fall konkurrierender arguments of principle behandelt200, können nur abstrakte Rechte gemeint sein, weil konkrete Rechte ex definitione nicht konfligieren. Die Prinzipienfrage der rights thesis : "Does the plaintiff, all things considered, have a right to what he asks?"201 dagegen zielt auf das konkrete Recht des Klägers. Schließlich unterscheidet Dworkin manchmal, nämlich dort, wo Recht und Moral in eklatanter Weise auseinanderfallen, zwischen rechtlichen lui ("legal") und moralischen Rechten ("moral rights") . In durch und durch unmoralischen Rechtssystemen ist das Recht, d. h. die soundest theory of law, noch nicht einmal eine ansatzweise Umsetzung von Gerechtigkeit und Fairneß, den Idealen abstrakter politischer Moral. Konsequenterweise läßt sich in bezug auf solche Systeme kaum noch von einer soundest theory of law sprechen, weil die beste Interpretation des rechtlichen Materials hier nur solche Prinzipien zur "Rechtfertigung" anführen kann, die diesen Namen
gegen den Beklagten, zum anderen gegen den Richter, vgl. Rosenberg/ Schwab, Zivilprozeßrecht, S. 12 ff. Allerdings kann das "legal right" gegen den Richter im Sinne Dworkins nicht nur dem Kläger, sondern auch dem Beklagten zustehen. Es ist ein Anspruch auf die richtige Entscheidung; vgl. dazu unten Kapitel 6. 198 Vgl. Dworkin, TRS, S. 308. An dieser Stelle übernimmt Dworkin explizit die Hohfeld'schen Kategorien, die er meist nur implizit voraussetzt. Vgl. oben Kapitel 3 I V 3 a. 199 Dworkin, TRS S. 93,98,199 f. Siehe auch schon oben Kapitel 3 I V 2 c. 200 Dworkin, TRS, S. 96,309. 201 Dworkin, A Reply, S. 263 f. 202 Hier hat der Ausdruck "legal right" die Funktion, auf eine Diskrepanz zwischen Recht und Moral aufmerksam zu machen. Soweit Dworkin ihn aber als Gegenbegriff zu "legislative right" gebraucht, zeigen die beiden Begriffe ("legalVlegislative right") die verschiedenen Institutionen (Richter/Gesetzgeber) an, gegen die das Recht sich richtet.
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eigentlich nicht verdienen 203. In solchen Systemen kann es Dworkin zufolge die Pflicht des Richters sein, hinsichtlich des Bestehens und des Nichtbestehens der "legal rights" zu lügen und Rechte abstrakter politischer Moral durchzusetzen .
3. Zum deskriptiven Aspekt der rights thesis: Gegenbeispiele
Der deskriptive Teil der rights thesis (zweite Lesart) behauptet, daß Richter aufgrund von arguments of principle entscheiden. Eine gewisse Einschränkung erfährt diese These schon dadurch, daß Dworkin selbst das Problem diskutiert, wie mit Präjudizien umzugehen ist, deren Entscheidung nicht auf arguments of principle beruht 205 . Damit räumt Dworkin implizit ein, daß Richter nicht immer aufgrund von arguments of principle entscheiden. Von verschiedener Seite wurde versucht, dierights thesis in ihrem de9ΠΑ
skriptiven Anspruch mit Gegenbeispielen zu widerlegen . Der Fall, daß der Richter ein Gesetz anzuwenden hat, das auschließlich auf arguments of policy gestützt wurde, ist, wie die Diskussion einer regelutilitaristischen Begründung von Rechten gezeigt hat, improblematisch 207. Dworkin selbst zufolge kommen als Gegenbeipiele zurrights thesis nur zwei Typen von Fällen in Frage: erstens solche, in denen für den Kläger entschieden wurde, das Gericht aber nicht glaubte (oder es sehr unwahrscheinlich ist, daß das Gericht glaubte), daß der Kläger ein konkretes Recht auf die Entscheidung hatte 208 ; zweitens solche, in denen für den Beklagten
203 Dworkin, LE, S. 106 f. Zur Frage unmoralischer Moralprinzipien vgl. Dworkin, TRS, S. 343; A Reply, S. 257,299 Ν. 4; LE, S. 106 ff. und schon oben Kapitel 4 II 5. 204 Dworkin, TRS, S. 326 f., 341; A Reply, S. 257; LE, S. 101 ff., 106. Ob man die "moral rights" als Trumpfrechte in einer politischen Theorie bezeichnen kann, hängt davon ab, ob es unmoralische Moralprinzipien gibt, die eine prima facie-Rechtfertigung unmoralischer politischer Entscheidungen erlauben (so Dworkins frühere Position), oder ob unmoralischen Prinzipien noch nicht einmal ein prima facie-Rechtfertigungscharakter zukommt (so Dworkins neuere Position); vgl. oben Kapitel 3 III 3. 205 Dworkin, TRS, S. 111 ff. 206 Vgl. Greenawalt, Policy, Rights, and Judicial Decision, S. 1003 ff.; Pannick, A Note on Dworkin and Precedent, S. 37 ff.; Umana, Dworkin's "Rights Thesis", S. 1179 ff.; Bodenheimer, Hart, Dworkin, and the Problem of Judicial Lawmaking Discretion, S. 1159. 207 Vgl. oben Kapitel 3 I V 3 c. 8 Dworkin, TRS, S.
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entschieden wurde, obwohl das Gericht meinte, daß der Kläger ein legal right auf eine Entscheidung zu seinen Gunsten hatte 209 . Zur Widerlegung der rights thesis genüge es dagegen nicht zu zeigen, daß das Gericht eine Lösung, von der es glaubte, daß ein kluger Gesetzgeber sie für die Zukunft wählen würde, rückwirkend auf den ihm vorliegenden Fall anwandte. In einem solchen Falle sei vielmehr zusätzlich zu belegen, daß das betreffende Gericht nicht der (unplausiblen) Theorie anhänge, wonach wir nur die 'moral' rights hätten, die ein Gesetzgeber uns für die Zukunft zuerkennen würde 210 . Dworkin geht in der Immunisierung seiner rights thesis gegen Gegenbeispiele schließlich so weit, die vom Richter gewählte Formulierung seiner Argumente für unerheblich zu erklären. Solange der Richter nur glaube, daß der Kläger ein Recht habe, sei seme Entscheidung für den Kläger eine /?wzrip/e-Entscheidung211. Damit ist die rights thesis auch in ihrer zweiten Lesart einer Überprüfung anhand des Texts von Gerichtsentscheidungen entzogen. Eine empirische Überprüfung müßte die richterlichen Überzeugungen erforschen, womit man bei einem Rechtsrealismus psychologischer Prägung angelangt wäre. Doch Dworkin geht noch einen Schritt weiter: Die rights thesis ist als eine Interpretation richterlicher Praxis zu verstehen, die versucht, diese im besten Licht zu zeigen, indem sie sie als eine "story of principle" darstellt 212 . Die Frage des fit einer solchen Interpretation ist Dworkin zufolge nicht anhand der tatsächlich verwendeten Argumente des Richters zu beantworten. Vielmehr sei zu fragen "which (characterization; C. Β.) fits better with political and moral theories that we can plausibly attribute to those whose practice we are trying to describe" 213. Der sogenannte deskriptive Teil der rights thesis ist danach gar nicht beschreibend, sondern zuschreibend. Er sagt nichts anderes, als daß Richter der Überzeugung oder - negativ gewendet - der Ideologie anhängen, sie setzten auch in schwierigen, kontroversen Fällen existierende Rechte durch.
209 Dworkin, TRS, S. 305. 210 Dworkin, A Reply, S. 263 f. 211 Dworkin, TRS, S. 84,98 f. 212 Dworkin, TRS, S. 298. Hier stellt Dworkin als Beispiel zwei Interpretationen von common law-Fällen vor, in denen es um die Regelung von Streitigkeiten über die Nutzung eines Flusses ging. Eine Interpretation erzählt eine story of policy, die andere eine story of principle. 1 Dworkin, TRS, S.
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4. Zum normativen Aspekt der rights thesis: politisch-moralische Attraktivität
Die Überzeugungskraft des normativen Teils der rights thesis hängt entscheidend davon ab, daß die den Richtern zugeschriebene Einstellung unter dem Gesichtspunkt politischer Moral attraktiver ist als die alternative Überzeugung, daß Richter in schwierigen Fällen wie ein Gesetzgeber policy Entscheidungen treffen sollen 214 . Dabei soll dierights thesis nicht nur ein ideologischer Deckmantel sogenannter "as-if legal rights" sein 215 . D. h. Richter sollen in schwierigen Fällen nicht nur so tun, als habe ein Recht auf die Entscheidung bestanden. Sie sollen vielmehr tatsächlich bestehende legal rights durchsetzen. Dworkin möchte zeigen, warum die Idee legaler Rechte auch in schwierigen Fällen politisch-moralisch attraktiv ist. Er holt dazu weit aus 216 : Viele unserer politischen Einstellungen offenbarten, daß wir Bürger uns in der Rolle der Autoren der von unserer Regierung gefällten Entscheidungen sähen. Zumindest meinten wir einen Grund zu haben, uns so zu sehen. Ein Bürger könne sich indessen nur dann als Autor einer Sammlung von Gesetzen verstehen, wenn diese in ihren Prinzipien konsistent seien. Diese Konsistenz der Prinzipien bedeute wiederum, daß Bürger die aus der besten Interpretation dieser Prinzipien ableitbaren Rechte hätten. Diese habe der Richter durchzusetzen. Die Attraktivität derrights thesis ergibt sich danach aus dem Kant'schen Ideal der Selbstgesetzgebung, das der Idee der Integrität zugrundeliegt 217. Einen anderen Begründungsweg zur Rechtfertigung der Forderung nach arguments of principle schlägt Dworkin mit der Frage ein, wie es uns denn möglich ist, in einer politischen Gesellschaft zusammenzuleben und gleichwohl unabhängig, d. h. in unserem Handeln frei von den Forderungen ande-
214 Letztere Auffassung gründet im kontinentalen Recht auf dem Kodifikationsgedanken. Vgl. Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, S. 194 ff. Siehe auch unten Kapitel 6 II 2. 215 Dworkin (LE, S. 152 ff., 162) schreibt dem "legal pragmatism" (der interpretativen Version des amerikanischen "legal realism") folgende pragmatische Einstellung zu: Richter sollen in schwierigen Fällen wie ein Gesetzgeber die beste Lösung für die Zukunft suchen und diese rückwirkend auf den Fall anwenden. Damit behandelten sie diesen so, als habe ein Recht auf die Entscheidung bestanden. Das klingt nach Dworkin zunächst einmal sehr plausibel. Daher sei es begründungsbedürftig, warum die Idee legaler Rechte (nicht nur solcher "as-if legalrights")dennoch attraktiv sei. 216 Dworkin, LE, S. 162,186 ff.; TRS, S. 324 f.; A Reply, S. 265 ff.; 217 Dworkin, LE, S. 189,218.
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rer zu sein . Es seien zwei verschiedene Domänen individueller Entscheidung zu unterscheiden: Im Bereich individueller moralischer Souveränität sei der einzelne unabhängig. Einen solchen Bereich moralischer Unabhängigkeit müsse es geben, solle nicht der Einzelne bloßes Objekt ("only something") für die anderen sein 219 . In einem anderen Bereich dagegen müsse das Individuum seine Entscheidungen mit Rücksicht auf die Ansprüche anderer treffen. Gäbe es diesen Bereich der Regelung nicht, so würde es auch die Domäne individueller moralischer Souveränität nicht geben, da unsere Pläne und Vorhaben ständig durch andere durchkreuzt würden. Moralische Rechte und Pflichten sind nach Dworkin die Instrumente, mit deren Hilfe wir tagtäglich die Grenze zwischen diesen beiden Domänen ziehen. Überzeugungen über Rechte und Pflichten seien nichts anderes als Überzeugungen darüber, wo diese Grenze verlaufen solle. Es sei weder notwendig noch wünschenswert, daß ein allgemeiner Konsens darüber bestehe, welche Rechte wir haben. Notwendige Bedingung für eine funktionierende gesellschaftliche Organisation aber sei es, daß das sogenannte "subjective principle of rights" allgemein akzeptiert werde, wonach jedermann in Übereinstimmung mit seinen eigenen Überzeugungen darüber, welche Rechte ihm und anderen zustehen, handeln soll. Amtspersonen ("officials") hätten darüber hinaus aufgrund einer allgemeinen Theorie "which can be said to be the theory that underlies the laws of the community as a whole" zu handeln . Um dieses Argument Dworkins auf die Frage der politisch-moralischen Attraktivität der rights thesis zuzuspitzen: Richter sollen aufgrund von arguments of principle entscheiden, weil sie, indem sie die legalen Rechte aus den das gegebene Recht rechtfertigenden Gerechtigkeitsprinzipien der soundest theory of law konsistent herleiten, die politische Gemeinschaft als eine integer handelnde Person behandeln. Diese Prinzipientreue legitimiert nach Dworkin die richterliche Entscheidung. Auch der deskriptive, zuschreibende Teil derrights thesis ist damit als Interpretation plausibel gemacht: Die legalen Rechte, die der Richter durchsetzt, "existieren" in dem Sinne schon vorher, als sie die richtige Grenzziehung zwischen individueller moralischer Souveränität und gemeinschaftlicher Gebundenheit ausdrücken, die zu finden Aufgabe des Richters ist.
218 Dworkin, A Reply, S. 266 f. Zu Dworkins Freiheitsbegriff Unabhängigkeit) siehe oben Kapitel 2 II 4 c.
(Freiheit als
219 Dworkin, A Reply, S. 266; Dworkins Bezugnahmen auf Kant sind hier nur implizit. 220 Dworkin, A Reply, S. 266 f.
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Von diesem Verständnis derrights thesis ausgehend kann das Problem der angeblichen Demokratiefeindlichkeit der Dworkin'schen Theorie der Rechtsprechung neu betrachtet werden. Dworkin hält seine Theorie für mit dem demokratischen Ideal sehr wohl vereinbar, weil der Richter ja gerade nicht Recht schöpfe wie ein Gesetzgeber, der sich (auch) auf arguments of policy berufen könne, sondern existierende Rechte durchsetze 2 1 . Diese Argumentation ist in sich schlüssig, wird aber nur den überzeugen, der Dworkin in seinem Verständnis der "Existenz" von Individualrechten zu folgen geneigt ist. Nur wenn man Dworkin in seiner Idee der die bestehende Rechtspraxis rechtfertigenden soundest theory of law folgt, ist es einsichtig, daß der Richter auch in kontroversen Fällen ein schon "existierendes", wenn auch nicht durch den Gesetzgeber explizit geschaffenes Individualrecht durchsetzt 222. In keiner Weise gebannt ist allerdings die Gefahr, daß Richter ihre persönlichen politischen Meinungen und Zielvorstellungen hinter einer Rhetorik der Rechte verbergen. Diesbezüglich kann Dworkin nur darauf verwiesen, daß die von solchen Richtern vorgebrachten arguments of principle typischerweise schwach sein werden 223 . Doch die Gefahr eines richterlichen Machtmißbrauchs bleibt insofern ein spezifisches Problem der Dworkin'schen Theorie, als sie mehr Fälle als "unsettled" einstuft als das Zweistufen-Modell der Rechtsfindung und Rechtsfortbildung 224. Dem Einwand, seine Theorie richterlicher Methodik sei demokratiefeindlich, begegnet Dworkin daher mit einem weiteren Argument. Er fragt, welche Konzeption der Demokratie dieser Kritik eigentlich zugrundeliegt. Dieser stellt er seine eigene Konzeption entgegen, die allerdings von einer ausgearbeiteten Demokratietheorie weit entfernt bleibt. Auch macht sich Dworkin nicht die Mühe, seine Demokratie-Konzeption interpretativ aus den Institutionen und Praktiken der US-amerikanischen politischen Gemeinschaft zu entwickeln. Er sucht vielmehr abstrakt nach Kriterien ("kind 90s
of case"), anhand derer sich verschiedene Konzeptionen bewerten lassen
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221 Vgl. Dworkin, TRS, S. 84 ff. 222 Zu den nicht Überzeugten gehört Pannick, A Note on Dworkin and Prececdent, S. 40, der geltend macht, daß wenn die rights thesis zutreffend wäre, Richter also nicht Recht schöpfen, sondern lediglich existierende Rechte durchsetzen würden, die "doctrine of precedent" überflüssig wäre. Dworkin erklärt diese "doctrine" aus dem Verfahrensprinzip Fairneß, das mit dem Prinzip Integrität konkurriere. Vgl. oben II 2. Auch das spricht dafür, daß law as integrity nicht extrem konservativ ist. 223 S. o. unter IV 2 b. 224 S. o. unter III. Dworkin,
, S. 5 ff.
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V· Dworkins Konzeption der Demokratie
1. Demokratie als Frage der Gleichheit
Der Begriff "Demokratie" ist nach Dworkin ein contested concept , also offen für verschiedene Konzeptionen226. Dem gegen Hercules erhobenen Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit liege eine Konzeption der Demokratie zugrunde, die auf die politische Verantwortlickeit der politischen Entscheidungsträger abstelle2 . Dworkin jedoch hält eine DemokratieKonzeption, die lediglich besagt, daß "in a democracy all unsettled issues, including issues of moral and political principle, must be resolved only by institutions that are politically responsible in the way that courts are not"2 , für unattraktiv. Bei der Wahl zwischen mehreren Demokratie-Konzeptionen komme es auf inhaltliche Kriterien politischer Moral an, sie müsse "substance-based" sein. Entscheidend für die politisch-moralische Attraktivität einer Demokratie-Konzeption sei die politisch-moralische Richtigkeit der im demokratischen Prozeß schließlich erreichten Ergebnisse ("outcome cases ) 2 2 9 . Daher dürfe eine Demokratie-Konzeption nicht ausschließlich Verfahren bereitstellen, ohne sich um die möglichen Resultate dieser Verfahren zu kümmern 230 : Legitimation nicht durch Verfahren, sondern durch Ergebnisse.
226 Vgl. zum Begriff "contested concept" Kapitel 1 II 1. 227 Dworkin, TRS, S. 141. Überdies sei es mit der Verantwortlichkeit des Gesetzgebers gegenüber dem Volk in vielen Staaten nicht so weit her, wie es manche Demokratietheorien annähmen. 228 Dworkin, TRS, S. 141. 229 Dworkin, Commentary Constitutional Adjudication, S. 540 f.; MP, S. 60 f. 230 Daher könne sich die höchstrichterliche Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit ("judicial review") auch nicht auf eine Kontrolle der Fairneß der demokratischen Verfahrensweisen beschränken, sondern müsse auch die Gerechtigkeit der Ergebnisse des demokratischen Prozesses kontrollieren. Dworkin rechtfertigt "judicial review" dadurch, daß die Verfassung Hüter der Demokratie (LE, S. 399) und der Richter Hüter der Verfassung (und also auch der Demokratie) sei: "in fact the Court can enforce what the Constitution says only by making up his own mind" (MP, S. 134 ff.; vgl. auch TRS, S. 131 ff.). Es ist offensichtlich, daß die Macht des Richters zum "judicial review" schwerer zu rechtfertigen ist, wenn man von einer Konzeption der Demokratie als Selbstbestimmung eines Volkes entsprechend dem jeweiligen Mehrheitswillen ausgeht, zumal wenn höchstrichterliche Entscheidungen nicht durch einfache gesetzgeberische Entscheidungen revidierbar sind. So auch Brilmayer, The Institutional and Empirical Basis of the Rights Thesis, S. 1177.
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Die Richtigkeit der Ergebnisse wiederum ist nach Dworkin am Ideal gleicher Sorge und Achtung zu messen. Denn die Institutionen repräsentativer Demokratie seien dazu da, das Recht auf Behandlung als Gleicher in der Gesetzgebung zu verwirklichen 231. Dworkin vertritt eine egalitäre, aber passive Konzeption von Demokratie. Denn nicht die Teilhabe und Mitgestaltung des einzelnen an den Entscheidungen der politischen Gemeinschaft, sondern die Behandlung als Gleicher ("treatment as an equal") ist in Dworkins Augen das demokratische Ideal. Eine grundsätzliche Schwäche eines demokratisch organisierten Prozesses sieht Dworkin indessen darin, daß dieser gerade nicht prinzipiengeleitet abläuft: "democracy works without principle, forming institutions and compromises as a river forms a bed on its way to the sea" 232 . Dworkins Kohärenzmodell der Wahrheit zugrundegelegt, garantieren demokratische Verfahren also gerade nicht die Richtigkeit der Ergebnisse. Zudem seien demokratische Entscheidungsverfahren in Gefahr, in ihrem egalitären Charakter durch Vorurteile korrumpiert zu werden, weil die Institution der Demokratie einen nicht korrigierten ("overall or unrefined") Utilitarismus umsetze. Sie bedürften daher der Korrektur durch eine Theorie der Rechte 233 - das aus der Utilitarismus-Diskussion bekannte Argument 234 . Danach liegt der Demokratie zum einen das Ideal gleicher Sorge und Achtung zugrunde. Zum anderen aber weisen ihre Verfahren systematische Defekte auf, denen mit der Anerkennung von Individualrechten gegenzusteuern ist. So ist für Dworkin das Recht jeder Person, von ihrer Regierung als Gleicher behandelt zu werden, zwar einerseits die zentrale Idee auch der Demokratie 235 und ist es Aufgabe des politischen Prozesses in einer Demokratie, die Anforderungen des Rechts auf gleiche Achtung und Sorge in die Gesetzgebung zu übersetzen 236. Andererseits aber bedeute Demokratie, daß die Mehrheit die Macht habe, effektiv das, was sie für das allgemeine Interesse halte, zu verfolgen. Diese Macht werde durch von der Verfassung garantierte Individualrechte eingeschränkt 237. Der demokratische Mehrheitswille kann also mit dem vorgeblich demokratischen Recht auf "Behandlung als Gleicher" kollidieren. 231 Dworkin, "Natural" Law Revisited, S. 180; Social Sciences and Constitutional Rights, S. 10; Commentaiy Constitutional Adjudication, S. 541; MP, S. 596.4. 232 Dworkin, TRS, S. 145. 233 Dworkin, TRS, S. 276 f. 234 Dworkin, Social Science and Constitutional Rights, S. 10; vgl. oben Kapitel 3 II. 235 Dworkin, "Natural" Law Revisited, S. 180. 236 Dworkin, Social Science and Constitutional Rights, S. 10. 237 Dworkin, MP, S. 391.
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Um seine Konzeption der Demokratie als Behandlung als Gleicher plausibel zu machen, müßte Dworkin zeigen, daß - richtig interpretiert - nicht das Mehrheitsprinzip und nicht das Prinzp der Verantwortlichkeit der politische Entscheidungen treffenden Instanzen, sondern das Recht des equal concern and respect den demokratischen Institutionen als solchen zugrundeliegt. Stattdessen deuten die von der rechtsprechenden Gewalt durchzusetzenden Trumpfrechte eher auf einen Antagonismus zwischen der Durchsetzung des Mehrheitswillens (Mehrheitsprinzip) und dem Schutz individueller Rechte hin. Der Eindruck drängt sich auf, daß Dworkin das für Hercules zentrale Ideal abstrakter politischer Moral, das Prinzip der Behandlung als Gleicher, ohne weiteres auch zum demokratischen Ideal erklärt, obwohl gemeinhin als demokratisch verstandene Verfahren die Behandlung als Gleicher gerade nicht garantieren. Das Gleichheitsrecht ist nach Dworkin aber auch das Ideal der rule of law, denn Dworkin vertritt eine "rights" conception des Rechtsstaatsprinzips238. Und es erscheint nicht ausgeschlossen, daß Dworkin die Gleichheit nicht nur als Grundlage des Rechts auf Freiheit als Unabhängigkeit, des Liberalismus und des Utilitarismus , der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch als Kern weiterer Prinzipien und Institutionen entdeckt. Die Frage, ob Hercules' Methode undemokratisch ist, ist nach allem dahin zu beantworten, daß sie es nicht ist, wenn man Dworkins Konzeption der Demokratie als Gleichheit zum Maßstab nimmt. Denn dann sind Rechtsprechung und Demokratie auf dasselbe Ideal gleicher Achtung und Sorge gerichtet und ist Hercules der Vollstrecker des demokratischen Ideals. Sehr überzeugend hat Dworkin diese Konzeption aber nicht dargetan.
2. Ziviler Ungehorsam in einer Demokratie Dworkin hat sich wiederholt mit den beiden Problemen auseinandergesetzt, einerseits ob es eine Pflicht zum Gesetzesgehorsam, und andererseits ob es ein Recht, das Gesetz zu brechen, gibt 240 . Er beschäftigt sich mit der 238 Dworkin, MP, S. 11 f. 239 S. ο. Kapitel 2 II 4 und Kapitel 3 II 3. 240 Dworkin, TRS, S. 184 ff.; 206 ff.; Philosophy and the Critique of Law, S. 160 ff.; MP, S. 104 ff. Der letzte Aufsatz ist Dworkins Beitrag zu einer Veranstaltung des "Kulturforums der Sozialdemokratie" im September 1983. Die Beiträge der anderen Teilnehmer finden sich in Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat.
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Legitimität und Legalität 241 zivilen Ungehorsams sowie einer adäquaten staatlichen Reaktion. Ziviler Ungehorsam ist ein Begriff aus dem anglo-amerikanischen Raum, der eine spezifische Situation des Widerstandes meint, mit Dreier ein "sozusagen 'kleines' Widerstandsrecht der 'Normallage'" 242. Dworkin versteht unter zivilem Ungehorsam Handlungen, die bestimmte politische Entscheidungen (z. B. Gesetzgebungsakte und gerichtliche Entscheidungen) mißachten, nicht durch gewöhnliche kriminelle Antriebe motiviert sind und typischerweise von Menschen begangen werden, die die Autorität und Legitimität der Gemeinschaft und ihrer Regierung nicht grundsätzlich in Frage stellen. Ziviler Ungehorsam manifestiere sich als Verstoß gegen einzelne Gesetze und Einzelakte in einem grundsätzlich bejahten Gemeinwesen, dessen Institutionen und Grundregeln im allgemeinen akzeptiert würden 243 . Der zivile Ungehorsam selbst sei Teil der politischen Kultur der USA 2 4 4 . Dworkin diskutiert sowohl Fälle unmittelbaren als auch solche mittelbaren zivilen Ungehorsams, in denen ein anderes Gesetz gebrochen wird als dasjenige, gegen das protestiert wird 2 4 5 . In seinem jüngsten Beitrag zum Problem des zivilen Ungehorsams unterscheidet Dworkin verschiedene Typen zivilen Ungehorsams und entwickelt abgestufte Anforderungen an die Rechtfertigungsfähigkeit einer Ungehorsamshandlung in den verschiedenen Fallgruppen . Interessant im Rahmen 241 Der zivile Ungehorsam ist Dworkin zufolge nicht begriffsnotwendig illegal, vgl. MP, S. 115. Vgl. ausführlich zur rechtlichen Rechtfertigung zivilen Ungehorsams Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 206 ff. 242 Dreier, Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, S. 57. Vgl. auch die Begriffsbestimmung von Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 186: "Ziviler Ungehorsam ist ein politisch-moralisch motivierter, öffentlicher, friedlicher Akt des Protestes gegen das Verhalten der staatlichen Gewalt, der zumindest eine tatbestandliche Rechtsverletzug beinhaltet". 243 Daß sich Gewalt und Terrorismus nicht unter dem Begriff des zivilen Ungehorsams rechtfertigen lassen, ist für Dworkin offenbar so selbstverständlich, daß es keiner Begründung bedarf. Unklar ist, ob Dworkin Gewaltakte schon aus dem Begriff des zivilen Ungehorsams ausklammert oder ihnen nur die Rechtfertigungsfähigkeit abspricht. Vgl. Dworkin, MP, S. 108. 244 Dworkin, MP, S. 105; TRS, S. 206. Ebenso Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 399 ff.; vgl. auch Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 53. 245 Vgl. zu dieser Unterscheidung Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 401; Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 164 ff. 246 Dworkin, MP, S. 104 ff. unterscheidet integrìty-based , justice-based und poliçy-based Formen des zivilen Ungehorsams. Die erste Form - eine Person weigert sich zu tun, was ihr Gewissen ihr verbietet - sei rein defensiv und am ehesten zu rechtfertigen. Dworkin anerkennt aber kein allgemeines Recht, dem eigenen Gewissen zu folgen, vgl. TRS, S. 190. Die beiden letzten Formen könnten entweder eine auf die Überzeugung der Mehrheit abzielende Stategie verfolgen ("persuasive strategy") oder aber die Durchsetzung der Mehrheitspolitik so kostspielig zu machen versuchen, daß die Mehrheit aus Nützlichkeitserwägungen ihre Politk aufgebe ("nonpersuasive strategy"). Der Protest gegen die Stationierung der Pershing II-
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der hier erörterten Theorie der Rechtsprechung Dworkins sind aber nicht diese Differenzierungen, sondern allein die Grundgedanken. Eine Theorie zivilen Ungehorsams sei nutzlos, wenn sie lediglich besage, daß die Ungehorsamshandlung moralisch richtig sei, wenn die Entscheidung, gegen die sie sich richte, völlig verwerflich sei 247 . Denn in Fällen zivilen Ungehorsams sei typischerweise die Vernünftigkeit und Gerechtigkeit des fraglichen Gesetzes gerade strittig. Die Moralität einer Handlung zivilen Ungehorsams dürfe daher nicht von der politisch-moralischen Beurteilung der politischen Entscheidung, gegen die sie sich richte, abhängig gemacht werden 248 . Dworkin strukturiert die Problematik zivilen Ungehorsams anhand zweier Fragen. Erstens: Was sollen die tun, die eine bestimmte politische Entscheidung, etwa eine gesetzliche Bestimmung, für amoralisch halten? Zweitens: Wie sollen der Staat und insbesondere die Gerichte auf die Ungehorsamshandlung reagieren? Dworkins Antworten bleiben merkwürdig diffus. Das liegt nur zum Teil darin begründet, daß die Kategorie rechtlicher Rechtfertigungsfähigkeit, wie sie in den USA gebraucht wird, nicht ohne weiteres in die bundesdeutsche Rechtsordnung übertragbar ist 2 4 9 . a) Die Ungehorsamshandlung des Bürgers Dworkin unterscheidet die Frage privater (politischer) Moral, was zu tun richtig ist ("right thing to do"), von der Frage politischer Moral 2 5 0 , ob ein Recht besteht, etwas zu tun ("right to do something"). Etwas könne für eine Person das Richtige zu tun sein, ohne daß sie ein Recht hierauf hätte. Eine Person könne andererseits ein Recht haben, etwas zu tun, obwohl es das Falsche für sie zu tun wäre . Für die Entscheidung des Bürgers müsse maßgeblich sein, was zu tun für ihn richtig sei. Eine Ungehorsamshandlung könne moralisch falsch sein, Raketen in der Bundesrepublik Deutschland sei policy-based und "nonpersuasive" (MP, S. I l l f.). Ungeachtet einer salvatorischen Klausel - "We cannot be dogmatic that no argument, better than I have been able to construct, will be found for civil disobedience in these circumstances" (MP, S. 113) - hält Dworkin Gesetzesüberschreitungen im Rahmen dieses Protestes für nicht gerechtfertigt. 247 Darauf läuft etwa die Radbruch'sche Formel (Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, S. 345) hinaus. 248 Dworkin, MP, S. 106. 249 Vgl. zu den Schwierigkeiten der Transformation Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 206 ff. 250 Vgl. zu den verschiedenen Begriffen privater und politischer Moral bei Dworkin oben Kapitel 2 II 1. 251 Dworkin, TRS, S. 188 f.
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weil die Handlung als solche falsch sei. Oder sie könne falsch sein, weil sie (auch) durch das Recht verboten sei. Aber nicht jede Rechtsverletzung sei eo ipso moralisch falsch, denn es gebe keine allgemeine moralische Pflicht, dem Gesetz zu gehorchen 252. Aus der Anerkennung von Individualrechten in einer Gemeinschaft folge nämlich, daß es in dieser Gemeinschaft ein moralisches Recht geben müsse, unter bestimmten Bedingungen das Gesetz zu brechen. Dieses Recht sei ein Aspekt oder eine Ableitung aus der allgemeinen Anerkennung von Individualrechten. Ein moralisches Recht, das Gesetz zu mißachten, bestehe immer dann, wenn das staatliche Handeln ein Recht des Bürgers gegen den Staat verletze 253. Allerdings gebe es in vielen Gemeinschaften eine Loyalitätspflicht gegenüber dem Recht 254 bzw. eine prima facie moralische Verpflichtung des Bürgers, das Recht seiner Gemeinschaft zu befolgen . Diese Loyalitätspflicht bestehe indessen gegenüber dem Recht selbst und nicht gegenüber irgendjemandes Ansicht (etwa der der Gerichte) darüber, was das Recht sei. Man verhalte sich daher solange richtig, wie man den eigenen überlegten und vernünftigen Überzeugungen davon, was das Recht verlange, folge 256 . Dworkin vermeidet es einerseits, dem Bürger einen Freibrief zu erteilen, das Recht und das, was die Gerichte für Recht erkannt haben, zu mißachten, und verneint ein allgemeines Recht, dem eigenen Gewissen zu folgen 257 . Andererseits aber behauptet er ein Recht, dem eigenen Urteil zu folgen, weil auch die Gerichte fehlbar seien 258 . 252 Dworkin, TRS, S. 9, 192 ff. Eine moralische Pflicht zum Gesetzesgehorsam kann übrigens auch ein Rechtspositivist verneinen. Vgl. etwa Raz, The Authority of Law, S. 233 ff., der dies mit dem bloß instrumentellen Charakter des Rechts in der Institution sozialer Kooperation begründet. Allein die soziale Praxis als solche könne Gründe für eine Befolgung ihrer Standards liefern. Das sei gegen Seuffert, Rezension zu Bürgerrechte ernstgenommen, S. 38 gesagt, der die Frage, "ob Menschen eine moralische Verpflichtung haben, das Recht zu befolgen", für eine nach unserer Rechtslehre unzulässige Fragestellung hält. 253 Dworkin, TRS, S. 192 ff. 254 Dworkin, TRS, S. 214. 255 Dworkin, The Elusive Morality of Law, S. 634. 256 Dworkin, TRS, S. 214. 257 Dworkin, TRS, S. 190. 258 Dworkin, TRS, S. 215,219. Keine Rolle dürfe es spielen, ob ein juristischer Laie in der Lage sei, von der Immoralität auf die Ungültigkeit eines Gesetzes zu schließen oder nicht. Dieser Schluß ist auch nach rechtspositivistischer Doktrin dann berechtigt, wenn bestimmte moralische Standards durch die Verfassung zur Gültigkeitsvoraussetzung für ein Gesetz gemacht werden. Vgl. oben Kapitel 4 III 2 und 3.
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b) Die Reaktion des Staates Für die Reaktion des Staates muß es darauf ankommen, was zu tun für den Staat richtig ist. Das aber hängt entscheidend davon ab, ob der Bürger ein Recht zu seiner Ungehorsamshandlung hatte. Denn mit dem Begriff des Individualrechts impliziert Dworkin, daß es falsch wäre, die Handlung zu unterbinden, oder daß es zumindest spezieller Gründe hierzu bedürfte 259 . Der Staat stehe in einer speziellen Verantwortung gegenüber Menschen, die zivilen Ungehorsam übten. Daraus erwachse ein Toleranzgebot, aber keine Pflicht, stets Immunität zu gewähren 260. Für den Gesetzgeber, die Staatsanwaltschaft und die Gerichte bedeute dieses Toleranzgebot Unterschiedliches 261 . Hier soll nur auf die Konsequenzen für die Rechtsprechung eingegangen werden. Nimmt man Dworkins Unterscheidung des "right thing to do" und des "right to do something" auf, so sind zwei Fallgruppen des zivilen Ungehorsams zu betrachten. Im ersten Fall hat der Bürger das Richtige getan und er hatte ein abstraktes oder konkretes Recht, so zu handeln; im zweiten Fall hat er das Richtige getan, aber er hatte kein Recht so zu handeln 262 . Diesen zweiten Fall behandelt Dworkin nicht. Anscheinend geht er davon aus, daß Gerichte hier die Ungehorsamshandlung zu bestrafen haben. Im ersten Fall ist diejenige Konstellation unproblematisch, in der das Gericht zu der Überzeugung gelangt, das mißachtete Gesetz sei verfassungswidrig und damit ungültig. Hier sei die Mißachtung rechtmäßig 263. Interessant sind die typischen Fälle, daß der Dissident und das Gericht nicht einer Meinung über die Gültigkeit des mißachteten Gesetzes sind. Habe jemand, wenn man seine politisch-moralischen Überzeugungen zugrundelege, wie es die Idee gleicher Sorge und Achtung verlange, moralisch richtig gehandelt, so könne es falsch sein, ihn dafür zu bestrafen 264. Ein
259 Dworkin, TRS, S. 188 und oben Kapitel 3 III, IV 3 b. 260 Dworkin, TRS, S. 216 ff., 222. 261 Dworkin, TRS, S. 221 f. 262 Fälle, in denen der Bürger nach eigener Einschätzung das Falsche getan hat, fallen schon aus dem Begriff des zivilen Ungehorsams heraus. Dworkin, MP, S. 113. 263 Fragen der Kompetenz zur Erklärung der Verfassungswidrigkeit sollen hier nicht interessieren. 264 Dworkin, MP, S. 106, 113 ff. Wenn der einzelne ein konkretes Recht hätte, seiner eigenen Vorstellung davon, was Recht ist, zu folgen, so wäre es nach der allgemeinen Definition eines Trumpfrechtes stets falsch, ihn daran zu hindern oder dafür zu bestrafen. Das
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abstraktes Recht, eine staaliche Anordnung, ζ. B. ein Gesetz, zu mißachten, bestehe, wenn diese ein Recht gegen den Staat verletze 265. Danach ist also zunächst zu entscheiden, ob der Staat ein Recht des Bürgers verletzt. Tut er dies, so hat der Bürger ein Recht, das Gesetz zu mißachten. Dieses Recht ist lediglich gegen konkurrierende Rechte anderer und ausnahmsweise gegen politische Ziele abzuwägen266. Diese recht weitgehende Rechtfertigung zivilen Ungehorsams wird von Dworkin jedoch wieder eingeschränkt: Einmal heißt es, nach einer höchstrichterlichen Entscheidung, die das mißachtete Gesetz für gültig erkläre, müßten weitere Zuwiderhandlungen bestraft werden. Zwar habe die höchstrichterliche Entscheidung das Recht nicht endgültig festgesetzt ("will not have finally settled the law"). Doch sei alles geschehen, was überhaupt getan werden könne, um es festzusetzen. Durch die Entscheidung gebundenen Gerichten bleibe nur die Möglichkeit, den Besonderheiten zivilen Ungehorsams durch eine Strafmilderung Rechnung zu tragen 267 . Demnach schafft die (falsche) höchstrichterliche Entscheidung nicht Recht. Das Gericht legt lediglich seine Konzeption des Rechts vor. Seiner Entscheidung sei nicht deshalb zu folgen, weil sie eine authentische Interpretation des Rechts sei, sondern allein "aus praktischen Gründen" 268 . In einer späteren Veröffentlichung wandelt Dworkin diese Aussage dahingehend ab, daß höchstrichterliche Entscheidungen sehr wohl das Recht geändert haben können. Die Präjudizienpraxis bewirke, daß auch die falsche gerichtliche Entscheidung Teil der Quellen werde, die bei künftigen Entscheidungen zu berücksichtigen seien. Ob eine (falsche) gerichtliche Entscheidung das Recht geändert habe oder nicht, sei daher abhängig von der Stellung des Gerichts im Gerichtsaufbau und der damit zusammenhängenden Präjudizienbindung 269. Dworkins Auseinandersetzung mit dem Problem zivilen Ungehorsams läßt sich dahin zusammenfassen, daß der Bürger schon selbst sehen muß, was zu tun für ihn richtig ist, und daß die Gerichte den zivilen Ungehorsam Leistenden freispechen können, wenn er ein Recht zur Gesetzesübertretung hatte, bzw. mit Strafmilderungen reagieren können, wenn er kein Recht Recht, der eigenen Konzeption davon, was das Recht verlange, zu folgen, kann konsistenterweise also nur ein abstraktes Recht sein. 265 Dworkin, TRS, S. 192. 266 Dworkin, TRS, S. 193. 267 Dworkin, TRS, S. 222. 268 Dworkin, MP, S. 115: "for practical reasons". 269 Dworkin, Philosophy and the Critique of Law, S. 160 f. und s.o. I l l d sowie Dworkin, LE, S. 452 f. Ν. 1.
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dazu hatte. Ob der Bürger aber ein Recht auf zivilen Ungehorsma hatte, hängt davon ab, ob der Staat seinerseits ein Recht des Bürgers verletzte und das ist eine schwierige Frage institutioneller Moral. Legt man Dworkins eigene Denkkategorien zugrunde, so bietet sich eine Fallgruppenbildung in der Weise an, daß man Fälle, in denen schon prima facie kein Recht besteht, von Fällen eines abstrakten Rechts und solchen eines konkreten Rechts zur Ungehorsamshandlung unterscheidet. Dworkin selbst aber hat das Problem zivilen Ungehorsams nur unzureichend systematisiert, so daß seine Ergebnisse für die hiesige Diskussion über das "Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Recht" 270 im demokratischen Rechtsstaat kaum ergiebig sind.
270 Vgl. Dreier, Der Rechtsstaat im Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Recht, der sich S. 357 ff. mit der wachsenden Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam auseinandersetzt.
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DIE THESE VON DER RICHTIGEN ANTWORT: RIGHT-ANSWER THESIS
Ι . Voraussetzungen und Kontext der "right-answer thesis"
L Gegen Skeptizismus und Relativismus
Dworkin verficht die These, daß es auf (fast) jede Rechtsfrage ("question of law"1) eine allein richtige Antwort und für jeden Rechtsfall eine allein richtige Lösung gibt. Diese sogenannteright-answer thesis gehört zu seinen am heftigsten umstrittenen Thesen2. Sie geht über das Dogma der Geschlossenheit der Rechtsordnung hinaus, wenn dieses bedeutet, daß auf jede rechtliche Frage auch eine rechtliche Antwort möglich sein muß3. Denn sie behauptet nicht nur die Möglichkeit einer rechtlichen Antwort, sondern einer allein richtigen rechtlichen Antwort. Die right-answer thesis stellt eine radikale Absage an jeden moralischen Skeptizismus dar 4. Die Rechtsgewinnung, d. h. die Entwicklung einer besten Interpretation des Rechts (soundest theory of law) erfordert nach Dworkin moralische Urteile. Es ist mithin eine notwendige Bedingung der right-
1 Dworkin, MP, S. 119. Insoweit Dworkin davon spricht, daß Fälle richtige Antworten haben, ist mit "Antwort" die allein richtige Lösung des Falles gemeint, die oft von den Antworten auf mehrere Rechtsfragen abhängen wird. 2 Mit derright-answer thesis sympathisieren: Smith, Rights, Right Answers, and the Constructive Model of Morality, S. 411; Sartorius, Bayes* Theorem, S. 1269 ff. Die überwiegende Reaktion ist kritisch. Vgl. die in Abschnitt III zitierte Literatur. 3 Vgl. hierzu etwa Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 643; Engisch, Einheit der Rechtsordnung, S. 1. 4 Siehe schon oben Kapitel 2 III 3 und 4.
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answer thesis , daß moralische Urteile überhaupt wahr oder richtig sein können (Anti-Skeptizismus)5. Auch einem moralischen Relativimus erteilt Dworkin eine Absage6. Oben wurde jedoch schon gezeigt, daß die im Rahmen des Dworkin'schen Modells der Interpretation gewonnenen Ergebnisse relativ in mehrerer Hinsicht sind7. Der Dworkin* sehen "Metaethik" ist insbesondere ein Relativismus im Hinblick auf das der Interpretation zugrundegelegte Material, das sind im Falle rechtlicher Interpretation die politischen Institutionen einer Gemeinschaft, und ein Relativimus im Hinblick auf den axiomatisch gesetzten letzten Wert abstrakter politischer Moral (Gleichheit) inhärent 8. Die Relativität eines Urteils im Unternehmen der rechtlichen Begründung zwingt nach Dworkin allerdings zu keinerlei Abstrichen an dessen absolutem und ausschließlichen Richtigkeitsanspruch. Denn wenn es keine Objektivität im Sinne von Externalität interpretativer Urteile gibt und wir überhaupt nur interne interpretative Urteile fällen können, dann ist die Relativität in bezug auf die institutionellen Vorgaben dem interpretativen Urteil zwar inhärent. Sie tut seinem alleinigen Richtigkeitsanspruch innerhalb der Institution aber keinen Abbruch. Hinsichtlich des axiomatisch gesetzten höchsten Wertes politischer Moral, der ja gerade nicht institutionell vorgegeben ist, bedeutet die Relativität dagegen eine Einschränkung des Gehalts der right-answer thesis . Denn je nachdem, welcher politisch-moralische Wert als fundamental angesehen wird, kann es verschiedene, vom jeweiligen Standpunkt aus allein richtige Interpretationen ein und derselben Institution geben. Wenn Dworkin gleichwohl meint, daß sich die Richtigkeit eines moralischen Urteils nicht nur im Rahmen einer bestimmten Wert- oder Weltanschauung, sondern mit absoluter Gültigkeit behaupten läßt, so bleibt er hierfür Argumente schuldig.
5 Das betonen auch Greenawalt, Policy, Rights, and Judicial Decision, S. 1039 ff. und Leader, Monism, Pluralism, Relativism, and Right Answers in the Law, S. 283. 6 Dworkin unterscheidet dabei allerdings nicht streng zwischen Skeptizismus und Relativimus. Vgl. Dworkin, A Reply, S. 278 f. und oben Kapitel 2 III 4,5. 7 Vgl. oben Kapitel 2 III 5 und Kapitel 3 I V 2 c. 8 Indem Dworkin gegen einen moralischen "Objektivimus" argumentiert - es gebe keinen neutralen, externen Standpunkt, und ein Urteil sei nur innerhalb einer bestimmten Institution richtig oder wahr - gesteht er implizit diese Relativität jedes auf politische oder moralische Wertungen angewiesenen interpretativen Urteils zu. Vgl. insbesondere Dworkin, MP, S. 167 ff.; A Reply, S. 278 f.; "Naturar Law Revisited, S. 173 ff.
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Von Dworkins eigenem Standpunkt aus, wonach die Gleichheit der Fundamentalwert politischer Moral ist, ist unter den verschiedenen möglichen Interpretationen des Rechts diejenige die beste und damit absolut richtige, welche die politischen Institutionen als Ausprägungen des Prinzips gleicher Achtung und Sorge deutet. Dieses interpretative Urteil ist aber absolut wahr nur von Dworkins eigenem internem Standpunkt aus. Seine kategorische Behauptung der rightanswer thesis darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß alle interpretativen rechtlichen Aussagen relativ auf den von jeden Interpreten axiomatisch gesetzten letzten Wert sind. Warum es einen besten, höchsten und in diesem Sinne wahren Wert geben soll, obwohl Wahrheit nach Dworkin eine Frage interpretativer Konsistenz ist, dieser Wert aber gerade nicht mehr interpretativ herleitbar ist, vermag Dworkin nicht zu begründen. Es bleibt daher bei einem politischen Credo. Die Wert-Relativität eines jeden interpretativen Urteils im Bereich der Moral und also auch des Rechts ist im folgenden bei der Erörterung der right-answer thesis stets im Auge zu behalten . Dworkins Interesse an derright-answer thesis ist allein negativ10. Sie sei lediglich das Resultat einer Bestandsaufnahme, der für die Gegenthese (noright-answer thesis ) vorgebrachten Argumente 11. Dworkin versucht sie nicht zu beweisen und begnügt sich mit einer umfassenden Kritik der Gegenthese. In Dworkins interner, institutionenabhängiger Konzeption von Wahrheit ist dieright-answer thesis indessen auch gar nicht zu beweisen. Denn Argumente, die zu zeigen trachten, daß es auf jede Rechtsfrage eine allein richtige Antwort gibt, müßten in bezug auf das Unternehmen des legal reasoning externe epistemologische oder metaphysische Argumente sein, die Dworkin weder für nützlich noch überhaupt für möglich hält 12 . Eine konsequent interne Argumentation für dieright-answer thesis kann deshalb nur darin bestehen, für jede Rechtsfrage die richtige Antwort zu finden und als solche zu begründen - eine Aufgabe, die Dworkins Theorie nur punktuell zu leisten vermag und auch nicht zu leisten vorgibt. Es zeigt sich hier, inwiefern Rechtpraxis und Rechtsphilosophie ein und dasselbe Unternehmen sind. Der Rechtsphilosoph behauptet dieright-answer thesis, aber nur der Rechtspraktiker oder besser die Rechtspraxis als ganze können sie plausibel machen. 9 Vgl. oben Kapitel 3IV 2 c. 10 Dworkin, A Reply, S. 280. 11 Dworkin, MP, S. 145. 12 Dworkin, A Reply, S. 280 und oben Kapitel 1 III und Kapitel 2 II 5, III.
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2. Die right-answer thesis im Kontext der Rechtspositivismus-Kritik und no-discretion thesis)
(rights thesis
Dieright-answer thesis ist im Kontext der Dworkin'schen Kritik des Rechtspositivismus zu sehen . Dworkin schreibt dem Rechtspositivismus die These zu, daß Richter in bestimmten, schwierigen Fällen in ihrer Entscheidung rechtlich nicht gebunden seien und daher Ermessen ausübten 14 . Diese These sei falsch, die Gegenthese (no-discretion thesis ) richtig. Mit der Bindungsproblematik einher geht das Problem, ob Gerichte immer "legal rights" durchsetzen - so die von Dworkin vertretene rights thesis (in ihrer ersten Version 15) - oder ob - wie der Rechtspositivist annnehmen müsse - dann, wenn keine oder vage rechtliche Standards zur Fallentscheidung zur Verfügung stünden, der Richter eine Ermessensentscheidung treffe, die keine zuvor schon bestehenden Rechte durchsetze16. Es gibt somit drei Thesen Dworkins, die alle um die Frage kreisen: "Is there really no right answer in hard cases?"17. Da ist einmal die These, daß Richter bei ihrer Entscheidung kein Ermessen haben (no-discretion thesis ). Zum zweiten behauptet Dworkin, daß Richter immer bestehende rechtliche Rechte durchsetzen (sollen) (rights thesis). Und zum dritten vertritt er die These, daß es auf jede Rechtsfrage stets eine allein richtige Antwort gibt (i right-answer thesis ). Die Diskussion dieser drei Thesen ist nicht ganz einfach zu durchschauen, da Dworkin sie nicht säuberlich getrennt hält. Sie scheinen vielmehr in einem ständigen Verwandlungsprozeß zu stehen. Problematisch ist, ob alle drei Thesen Formulierungen ein und desselben Gedankens sind oder Unterschiedliches besagen sollen. Hinzu kommt, daß auch unter den Kritikern die Allianzen verworren sind. So hat z. B. Raz die Auffassung vertreten, daß der Rechtspositivismus, der in einem bestimmten Fall ein Ermessen des Richters behaupte, gleichwohl die rights thesis vertreten
13 Vgl. oben Kapitel 41 und Dworkin, TRS, S. 17. 14 Vgl. die zweite These von Dworkins Rechtspositivismus-Konstrukt, Dworkin, TRS, S. 17 und oben Kapitel 41. 15 S. o. Kapitel 5 I V 1,2 a. 16 Vgl. oben Kapitel 41. 1 Dworkin,
, S. 1 .
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könne . Und Sartorius ist mit Dworkin der Auffassung, daß Richter kein Ermessen haben, ohne aber Dworkinsright-answer thesis zu teilen 19 . Im folgenden ist zunächst zu klären, was die no-discretion thesis besagt und in welchem Verhältnis sie zu den beiden anderen genannten Thesen steht.
II. Richterliches Ermessen
1. Verschiedene Formen von " discretion " Der Begriff "discretion " (Ermessen20) wird nach Dworkin in Kontexten gebraucht, in denen eine Person Entscheidungen zu fällen hat, die grundsätzlich den von einer Autorität gesetzten Standards unterliegen, in einem bestimmten Bereich diesen Bindungen aber nicht unterworfen sind. Daher sei Ermessen ein relativer Begrifr 1 , der immer nur in Bezug auf bestimmte autoritative Standards zu verstehen sei. Dworkins Ermessensbegriff umfaßt sowohl Fälle, die von der deutschen Verwaltungsrechtsdogmatik und Methodenlehre als Fälle eines Beurteilungsspielraums bei der Anwendung einer Norm auf einen Sachverhalt bezeichnet würden, als auch solche eines Ermessensspielraums bei der Wahl der Rechtsfolgen 22. Dworkin differenziert seinen Ermessensbegriff unter einem anderen Blickwinkel aus. Daß eine zur Entscheidung befugte Person discretion habe, könne auf dreierlei Weise verstanden werden:
18 Raz, Legal Principles and the Limits of the Law · Postscript, S. 84 f. Für Raz ist Dworkins Verneinung richterlichen Ermessens außerdem nicht etwa das Ergebnis, sondern eine nicht begründete Prämisse seines Arguments. 19 Sartorius, Bayes' Theorem, Hard Cases, and Judicial Discretion, S. 1275. 20 Der englische Ausdruck "discretion" bedeutet sowohl "Ermessen", "Belieben", "Verfügungsfreiheit" als auch "Urteilskraft", "Besonnenheit", "Klugheit". Vgl. auch die Anm. der Übersetzerin in Bürgerrechte ernstgenommen S. 47 Fn. la. 21 Aus der Relativität des Ermessensbegriffs folgt für Dworkin, daß dem Begriff des "begrenzten Ermessens" keine eigenständige Bedeutung zukommt: Volles Ermessen, unter erfahrenen Männern fünf für eine Aufgabe auszuwählen, sei gleichbedeutend mit (durch das Kriterium der Erfahrung) begrenztem Ermessen, fünf Männer für diese Aufgabe auszuwählen. Vgl. TRS, S. 32; Judicial Discretion, S. 629,631. 22 Vgl. zur Unterscheidung von Beurteilungsspielraum und Ermessen etwa Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 und Larenz, Methodenlehre, S. 281 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen.
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Erstens könne dies einfach bedeuten, daß die entscheidende Person irgendeine Art von Beurteilung ("judgment") vornehmen müsse, daß es auslegungsbedürftig sei, was zu tun ihre Pflicht sei (Ermessen 1). Zweitens könne discretion bedeuten, daß die zur Entscheidung aufgerufene Person die Instanz zur letztverbindlichen Entscheidung sei (Ermessen 2). Discretion in diesen beiden "schwachen" Bedeutungen ist offensichtlich in fast allen Situationen, in denen eine endgültige Entscheidung zu treffen ist, gegeben und wird von Dworkin nicht bestritten 23. Bei seiner Kritik der rechtspositivistischen Ermessensthese geht es Dworkin vielmehr um Ermessen in einem dritten, starken Sinne, um Wahlfreiheit 24. Die zur Entscheidung berufene Person habe Ermessen in diesem Sinne, wenn sie bei ihrer Entscheidung nicht durch von einer Autorität gesetzte Standards gebunden sei, weil diese nicht soweit reichten, daß sie die zu entscheidende Frage kontrollieren könnten. Dworkin veranschaulicht das mit dem Satz: "Discretion, like the hole in a doughnut, does not exist except as an area left open by a surrounding belt of restriction" 25. Der offenkundigste Fall von Ermessen in diesem Sinne ist die ausdrückliche Einräumung von Ermessen durch gesetzliche Vorschriften, etwa bei der Strafzumessung oder in manchen prozessualen Fragen. Dworkin gesteht zu, daß hier starkes Ermessen ausgeübt wird und klammert solche Fälle eingeräumten Ermessens aus der Diskussion der Ermessensproblematik aus26. Dworkins Unterscheidung dreier Ermessensbegriffe sieht sich dem Einwand ausgesetzt, daß sich zwar graduell zwischen schwachem und starkem Ermessen unterscheiden, aber keine klare Trennlinie zwischen Ermessen (1) und (3) ziehen lasse. Es gebe vielmehr ein kontinuierliches Spektrum, das von einer strengen Gebundenheit im Rahmen einer einfachen Subsumtion bis zu einer weitgehenden Wahlfreiheit bei der Entscheidung reiche 27.
23 Dworkin, TRS, S. 31 f. 24 Dworkin, TRS, S. 31 f., 69; Judicial Discretion, S. 624 f. Vgl. die Dworkins Unterscheidung von Ermessen (1) und (3) entsprechende Abgrenzung Bullingers, Das Ermessen der öffentlichen Verwaltung, S. 1009. Es gebe eine quantitative wie qualitative Steigerung zwischen einer bloß wertenden Verdichtung von Vorschriften und der gestaltenden Ausfüllung von Leitentscheidungen (Ermessen). 25 Dworkin, TRS, S. 31. 26 Dworkin, Judicial Discretion, S. 631,634 Fn. 6; TRS, S. 70 f., 33. 27 Vgl. Tapper, A Note on Principles, S. 633; Greenawalt, Discretion and Judicial Decision, S. 365 f.
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Diese Bedenken schlagen jedoch nicht durch, wenn man Dworkins klassifikatorische Abgrenzung von schwachem und starkem Ermessen vom Ergebnis her betrachtet: Wenn es nur eine allein richtige Lösung, d. h. Handlung des Richters, gibt, hat dieser nach Dworkin kein starkes Ermessen. Gibt es aber entweder keine allem richtige Lösung, sondern mehrere gleich richtige Lösungen28, oder gar keine richtige Lösung29, so hat der Richter starkes Ermessen . Außerdem ist der obige Einwand, daß die Unterscheidimg von Ermessen (1) und (3) nur eine graduelle Unterscheidung sein könne, weil der Übergang zwischen Fällen, in denen keine rechtlichen Standards zur Verfügung stehen (Lücken) und solchen, in denen die vorhandenen Standards schwierige Auslegungsprobleme aufwerfen, fließend sei, nach Dworkin zur Verteidigung eines rechtspositivistischen Standpunktes ein zwei-schneidiges Schwert. Denn je mehr Gewicht der Einwand auf die Interpretationsbedürftigkeit rechtlicher Standards legt, desto inhaltsleerer wird die Maxime, der Richter müsse das Recht anwenden31. Es ist ja gerade Dworkins Punkt, auf die Interpretationsbedürftigkeit jeder rechtlichen Bestimmung und des Rechts als Ganzen hinzuweisen. Nur bedeute die Vagheit einer rechltlichen Bestimmimg eben nicht, daß es nicht doch eine beste Interpretation derselben geben könne32. Wenn Juristen darüber stritten, was Recht ist, sei dies aber etwas grundsätzlich anderes, als wenn sie wüßten, daß es im fraglichen Punkt kein Recht und damit Ermessen gebe33.
2. Fälle starken Ermessens Es ist nach Dworkin eine Kernthese des Rechtspositivismus, daß Richter manchmal starkes Ermessen (3) ausüben. Der Rechtspositivist verweise zur Stützung dieser These einmal darauf, daß alles Recht von Menschen ge machtes Recht sei. In einer Frage, in der keine rechtssetzende Autorität gehandelt habe, gebe es daher kein Recht. Der von Dworkin sogenannte 28 Dworkin, TRS, S. 330. 29 Dworkin, MP, S. 122. 30 Ob aber nur einige, die meisten oder gar alle Rechtsfälle eine allein richtige Lösung haben, ist zu trennen von der Frage, wie Dworkin starkes und schwaches Ermessen begrifflich unterscheidet und ob diese Unterscheidung haltbar ist. 31 Dworkin, LE, S. 114. 32 S. ο. Kapitel I I I l a . 33 Dworkin, LE, S. 114; TRS, S. 68 f.
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strikte Konventionalismus drücke dies dahin aus, daß in einem strittigen Punkt keine Konvention bestehe und also auch kein Recht 34 . Das Recht sei ή
insoweit lückenhaft (Lückenargument) . Ein zweites rechtspositivistisches Argument begründe das Ermessen des Richters aus der sprachlichen Offenheit oder Unbestimmtheit jeder oder vieler rechtlicher Bestimmungen (Vagheitsargument). Der Rechtspositivismus nehme Ermessen aber auch noch "for some other reason" an 36 . Die von Dworkin am häufigsten genannten Fälle angeblichen Ermessens (Lücken und sprachliche Unbestimmtheit) sind indessen keine, auf die ein Rechtspositivist notwendig festgelegt wäre. Raz etwa bejaht (starkes) Ermessen in Fällen unklarer Sprache und ungelöster Konflikte zwischen verschiedenen rechtlichen Gründen (Rechtsquellen), die zu Lücken im Recht führen. Er verneint aber Lücken im Recht und damit starkes Ermessen des Richters, wenn die Rechtsquellen selbst lückenhaft seien, das Recht also schweige. Denn in solchen Fällen schlössen sogenannte "closure rules" die Lücken . Eine differenzierte Erarbeitung von Fallgruppen, in denen der Richter angeblich Ermessen habe, überläßt Dworkin dem Rechtspositivisten und all denen, die dieses Ermessen behaupten. Für ihn zählt allein, daß der Fall angeblich keine allein richtige Lösung hat. Ihm geht es um Fälle schwieriger Auslegung, um Fälle, die hierzulande unter dem Stichwort "Beurteilungsspielraum bei unbestimmten Rechtsbegriffen" 38 diskutiert werden, Fälle der Lückenfestellung und -füllung und um andere Fälle richterlicher Rechtsfortbildung, kurz um Fälle, die Dworkin unter dem schillernden Begriff hard cases zusammenfaßt. In hard cases bestünde nach Dworkin nur dann starkes Ermessen des Richters, wenn es in der betreffenden Rechtspraxis eine Entscheidungsregel gäbe, die dem Richter dieses Ermessen einräumte. Im englischen und amerikanischen Recht gebe es eine solche Regel jedenfalls nicht. Dworkin 34 S. ο. Kapitel 4 I V und Dworkin, LE, S. 124 ff. 35 Nach Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 237 ff. vertritt zumindest die erste Auflage der Reinen Rechtslehre Kelsens die These starken Ermessens aufgrund des Lückenarguments. Vgl. zum Streit um den Zusammenhang von (fiktiven) Lücken im Recht und starkem Ermessen des Richters bei Kelsen die bei Bydlinski, a.a.O., S. 239 ff. zitierte Literatur. 36 Dworkin, TRS, S. 17. In Judicial Discretion, S. 627 unterscheidet Dworkin fünf Fallgruppen, in denen der Rechtspositivismus Ermessen annehme. Sie stellen ein Sammelsurium unterschiedlicher methodischer Probleme dar. 37 Raz, The Authority of Law, S. 74. ff. Vgl. unten III 2 b. 38 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 281 ff., 351 ff.
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gesteht allerdings ein, daß es Rechtsordnungen geben könne, die über eine solche Regel verfügten 39. Als Beispiel könnte Art. 1 Abs. 2 des schweizerischen ZGB in Frage kommen. Hier wird dem Richter aufgetragen, im Falle einer Regelungslücke des Gesetzes nach Gewohnheitsrecht und, wo solches fehlt, wie ein Gesetzgeber zu entscheiden40. Folgt man Dworkin in seiner Theorie interpretativer Theorienbildung, so kann eine solche Gesetzeslücke indessen stets durch die soundest theory of law geschlossen werden. Mit Entscheidungsregel meint Dworkin denn auch eine andere als eine dem Art. 1 Abs. 2 SZGB entsprechende Regel. Er hat eine Regel im Auge, die es dem Richter erlaubt, dann Ermessen auszuüben, wenn der Fall - ein "very hard case" - den Juristen als zu schwierig über den Kopf wächst. Eine solche Regel wird sich aber schwerlich in irgendeiner Rechtsordnung finden lassen. Die prima facie-Plausibilität der Dworkin'schen no-discretion thesis beruht zu einem Gutteil darauf, daß Dworkin die dem Richter gestellte Frage stets als entweder-oder-Frage (A oder non-Α) formuliert. Die paradigmatischen Fälle von Ermessen (Bsp. Strafzumessung), die auch Dworkin anerkennt, lassen indessen eine Vielzahl verschiedener Entscheidungen zu. Die no-discretion thesis büßt an Plausibilität ein, wenn man den Richter nicht vor eine entweder-oder-Entscheidung (tertium non datur), sondern vor eine Wahlentscheidung zwischen einer Vielzahl von Möglichkeiten gestellt sieht. Das ließe sich - so wurde geltend gemacht - etwa für eine Entscheidung im common law annehmen. Denn hier stehe der Richter bei der Urteilsbegründung, die für die rule des Falles ebenso entscheidend sei wie die Dezision selbst, vor einer Vielzahl von Wahlmöglichkeiten. Es sei äußerst unplausibel anzunehmen, es gebe nur eine allein richtige Art und Weise, die Entscheidimg zu begründen und damit die rule des Falles zu formulieren 41. Dieser letzte Einwand trifft Dworkin deshalb nicht, weil er der sprachlichen Fassung von Urteilen keine große Bedeutung zumißt. Die rule des Falles werde nicht vom den Fall entscheidenden Richter, der lediglich über das Bestehen oder Nichtbestehen von Rechten befinde (rights thesis ), festgelegt, sondern durch nachfolgende Richter immer neu konstruiert.
39 Dworkin, Judicial Discretion, S. 636 ff.; TRS, S. 71. 40 Vgl. Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlauts, S. 232 f. (mit weiteren Nachweisen), demzufolge der Richter wie ein idealer Gesetzgeber zu handeln habe. Engisch, Der Begriff der Rechtslücke, S. 98 Fn. 55, der darauf hinweist, daß Art. 1 SZGB kein Ermessen einräume nach freiem Belieben zu entscheiden. Zur Ergänzungsnorm des § 7 ABGB vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 237 ff. 41 Vgl. Greenawalt, Discretion and Judicial Decision, S. 378 ff.
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Scchstcs Kapitc!
3. Das Verhältnis der no-discretion thesis zur rights thesis
In Fällen starken Ermessens - wenn es sie denn außer in den Fällen eingeräumten Ermessens gäbe - hat der Richter nach Dworkin keine Pflicht, in einer bestimmten Weise zu entscheiden. Das bedeute allerdings nicht, daß die Entscheidung willkürlich getroffen werden dürfe und keiner Kritik unterzogen werden könne. Jede Entscheidung sei den Standards der Rationalität, Fairneß, Effektivität, Zweckmäßigkeit und "sense" unterworfen. Diese seien aber keine speziell für die zur Entscheidung anstehende Frage von einer Autorität gesetzten Standards, sondern allgemeine Richtlinien rationalen menschlichen Handelns, die nicht in die Formulierung von Handlungsrichtlinien aufgenommen werden müßten, um maßgeblich zu sein 42 . Es taucht hier wieder der Gedanke eines "unabhängigen", universalen Rationalitätsgebots auf, das von Dworkins internem Standpunkt aus so schwierig zu begründen ist 43 . Die Verletzung dieser allgemeinen Rationalitäts- und Fairneßanforderungen durch den Richter mache dessen Entscheidung zwar fehlerhaft, stelle aber weder einen Fall richterlicher Pflichtverletzung dar noch würden einer Partei damit ihre Rechte vorenthalten 44. Dort, wo keine speziellen (rechtlichen) Standards den Richter bänden, habe er keine Pflichten und die Parteien hätten keine Rechte. Dworkin verknüpft also dierights thesis (in ihrer ersten Version 45) und die no-discretion thesis : Ein Richter habe dann Ermessen, wenn keine Partei in einem Rechtsstreit ein Recht auf eine bestimmte Entscheidung habe und der Richter daher 46 keine Pflicht habe, in einer bestimmten Weise zu entscheiden47.
42 Dworkin, TRS, S. 31 ff. Diese Unterscheidung in allgemeine Standards (die die Entscheidung auch im freien Loch des Doughnut kontrollieren) und spezielle ist in Judicial Discretion, S. 625 Fn. 2 nur angedeutet. 43 Siehe oben Kapitel 2 II 5. 44 Dworkin, TRS, S. 33: "Someone who has discretion in this third sense can be criticized, but not for being disobedient. ... He can be said to have made a mistake, but not to have deprived a participant of a decision to which he was entitled.." 45 Vgl. zur Unterscheidung zweier Versionen derrìghts thesis oben Kapitel 5 I V 2 a. 46 Dworkins Theorie istright-based(s. ο. Kapitel 3 IV). Pflichten werden daher aus Rechten begründet. Dworkin geht meist stillschweigend davon aus, daß dem legalright gegen den Richter eine Pflicht des Richters gegenüber dem Inhaber des Rechts korrespondiert. Vgl. TRS, S. 124 f.; LE, S. 244. 47 Dworkin, MP, S. 119,122 f.; LE, S. 24; A Reply, S. 262; TRS, S. 49, 69, 81, 330. Wenn Dworkin in TRS, S. 125 davon spricht, daß der dem rechtspositivsitischen Zweistufen-Modell folgende Richter "has a duty, when exercising a legislative discretion,...", so ist das zumindest
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Dworkin drückt diesen Zusammenhang zwischen Rechten, Pflichten und Ermessen in sehr eigenwilliger Weise aus, wenn er formuliert, die Begriffe der Pflicht und des Rechts (right) seien - im Gegensatz zu allen anderen Rechtsbegriffen - dreiwertig. Entweder bestehe eine Pflicht, A zu tun, oder eine Pflicht, non-Α zu tun, oder aber es bestehe keine Pflicht, sondern Ermessen48. Wie die Dreiwertigkeit des Begriffs "Recht" (right) zu formulieren ist, läßt Dworkin offen. Gemeint ist wohl, daß entweder der Kläger oder der Beklagte das Recht auf eine Entscheidung zu seinen Gunsten hat oder keiner von beiden, so daß der Richter Ermessen hat. Diese Betrachtungsweise gibt aber nichts für eine angebliche Dreiwertigkeit der Begriffe Recht und Pflicht her. Denn genauso gut ließe sich von einer Fünfwertigkeit dieser Begriffe sprechen, wenn nämlich entweder A oder Β oder C oder D oder keiner der vier ein Recht (ζ. B. auf eine Erbschaft) und deshalb der Richter Ermessen hätte. Die behauptete Dreiwertigkeit der Begriffe Recht und Pflicht ist nichts weiter als eine verunglückte Anleihe bei der mehrwertigen Logik. Das Verhältnis zwischen der rights thesis (in ihrer ersten Version) und der no-discretion thesis Dworkins ist nach dem Gesagten das einer logischen Abhängigkeit. Wenn die rights thesis richtig ist, Richter also stets Rechte der Parteien durchsetzen, dann haben sie in Fällen, für die die rights thesis gilt, kein Ermessen und ist folglich auch die no-discretion thesis richtig 49 . Dieser Verknüpfung von Rechten und Ermessensausschluß tritt Raz entgegen, wenn er behauptet, daß der Rechtspositivist gleichzeitig ein Ermessen des Richters annehmen und glauben könne, daß Gerichte alle Fälle aufgrund der Rechte der Parteien entschieden (rights thesis ). Nur seien diese Rechte in Ermessensfällen eben keine rechtlichen Rechte50. Für Raz also bedeutet Ermessen, daß die Entscheidung nicht rechtlich determiniert ist. Ob es aber im Bereich der Moral eine allein richtige Lösimg gibt, ist für den Rechtspositivisten offen: "...legal positivism is compatible with any coherent view of morality" 51. Mit diesem Einwand ist man wieder bei dem schon oben angesprochenen Problem angelangt, ob Dworkins Theorie und die rechtspositivistische Theorie ζ. B. von Raz etwa nur terminologisch voneinander abweimißverständlich. Offenbar hat Dworkin damit nicht die rechtliche Pflicht gemeint, die den Richter trifft, der rechtliche Rechte ("legal rights") durchsetzt. Eine Pflicht zum Ermessensgebrauch bzw. ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung wird von Dworkin nicht erwogen. 48 Dworkin, MP, S. 119,122 ff. 49 Dworkin, A Reply, S. 262 gegen Raz' Vorwurf, die no-discretion nicht eine Folgerung Dworkin'scher Argumentation.
thesis sei die Prämisse,
50 Raz, Legal Principles and the Limits of the Law - Postscript, S. 85; ebenso Baurmann/Kliemt, Rechtspositvismus auf die leichte Schulter genommen, S. 134 f. 51 Raz, Legal Principles and the Limits of the Law - Postscript, S. 84.
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β
chen . Es besteht jedenfalls dann in der Sache ein Unterschied, wenn Dworkin Ermessen nur in Fällen des Fehlens einer allein richtigen Antwort gegeben sieht, während der Rechtspositivist Raz Ermessen dadurch definiert sieht, daß der Bereich des Rechts verlassen und moralisch argumentiert wird 53 . Manche Textstellen rufen indessen Zweifel hervor, ob nach Dworkin daraus, daß kein Recht besteht, nicht nur Ermessen, sondern auch das Fehlen einer richtigen Antwort folgt. Dieser Frage ist im folgenden nachzugehen.
4. Das Verhältnis der no-discretion thesis, der rights thesis und der right-answe thesis zueinander
Oben wurde Dworkins Begriff starken Ermessens vom Ergebnis her erklärt: Dort, wo es keine allein richtige Entscheidung gebe, habe der Richter Ermessen (3). Zum zweiten wurde festgestellt, daß der Richter nach Dworkin dann Ermessen hat, wenn kein Recht auf eine bestimmte Entscheidung besteht. Zum dritten schließlich hieß es, daß es nach Dworkin eine allein richtige Lösung des Falles stets gebe, wenn ein Recht auf eine bestimmte Entscheidung bestehe. Diese drei Thesen sind auf Fälle zugeschnitten, in denen beide Parteien als potentielle Rechtsträger ein Recht auf eine ihnen günstige Entscheidung haben können und eine der beiden Parteien im konkreten Fall ein Recht auf eine ihr günstige Entscheidung hat. Es gibt nach Dworkin aber auch Fälle, in denen keine Partei ein Recht auf eine bestimmte Entscheidung hat, sei es, daß keine der Parteien ein potentieller Rechtsträger ist 54 . sei es, daß keiner Partei im konkreten Fall ein Recht zusteht55. Fraglich ist nun, ob daraus, daß in einem Fall keine der Parteien ein Recht auf eine bestimmte 52 Vgl. oben Kapitel 5 III 4 a. 53 Vgl. oben unter II 1 und Dworkin, TRS, S. 330; MP, S. 122. 54 Die Existenz dieser - von Dworkin nicht problematisierten - Fälle, in denen Individualrechte gar nicht zur Debatte stehen, ergibt sich aus Dworkins Begriff eines (Individual-)Rechts, das staatlichen Instanzen nicht zustehen kann, s. o. Kapitel 3 III. Auch vermeidet Dworkin, A Reply, S. 265, die Diskussion von Fällen, in denen die Gerichte eher behördenähnliche Funktionen ausüben : "I will not explore those cases, though they are different from ordinary civil cases in ways that might allow the conclusion that even they are decided on principle". 55 Dies kann der Fall sein in sogenannten asymmetrischen Fälle. Vgl. zum Begriff symmetrischer und asymmetrischer Fälle schon oben Kapitel 5 I V 1 .
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Entscheidung hat, nicht nur folgt, daß der Richter Ermessen, sondern auch, daß der Fall keine allein richtige Lösung hat, mit anderen Worten, ob für alle Fälle richterlichen Ermesssens dieright-answer thesis widerlegt ist. Dworkins mit missionarischem Eifer vorgetragenes Plädoyer für die right-answer thesis legt es nahe anzunehmen, daß ein Fall eine richtige Antwort haben kann, auch wenn kein Recht auf eine bestimmte Entscheidung und damit Ermessen besteht. a) Die Problematik sogenannter "asymmetrischer Fälle" Dworkin entwickelte seine Theorie der Rechtsprechung am Beispiel von Zivilrechtsstreitigkeiten, d. h. symmetrischen Fällen, für die dierights thesis uneingeschränkt gilt. In diesen Fällen folge daraus, daß der Kläger kein Recht auf eine seiner Klage stattgebende Entscheidung habe, daß der Beklagte ein Recht auf eine klageabweisende Entscheidung habe. Anders sei es in sogenannten asymmetrischen Fällen wie im Strafrecht oder in manchen Verfahrensfragen. In einem Strafverfahren etwa stehe dem Individualrecht des Angeklagten, freigesprochen zu werden, sofern er unschuldig sei, kein Recht des Staates gegenüber, zu verurteilen, wenn der Angeklagte schuldig sei 56 . Denn der Staat kann nach Dworkin nicht Träger eines Individualrechts sein57. Daher könne ein Gericht z. B. in der Frage der Verwertbarkeit eines illegal erlangten (die Schuld des Angeklagten beweisenden) Beweismittels "on an argument of policy" zugunsten des Angeklagten entscheiden und ihn deswegen freisprechen, ohne anzunehmen, daß der Angeklagte ein Recht auf Freispruch habe58. Wenn also überhaupt nur eine der beiden streitenden Parteien potentieller Träger eines Individualrechts ist, das Gericht aber zu dem Ergebnis kommt, daß dieser Partei im konkreten Fall das Recht nicht zusteht, so kann es nicht aufgrund bestehender Rechte entscheiden, sondern muß seine Entscheidimg auf arguments of policy stützen. Damit ist ein grundsätzliches Problem der Dworkin'schen Theorie in asymmetrischen Fällen aufgezeigt, das sich kurz wie folgt umreißen läßt: Gesetzt den Fall, ein Gericht kommt in einem asymmetrischen Fall zu dem 56 Dworkin, TRS, S. 100. 57 S. o. Kapitel 3 III. Das Problem, daß auch der Staat Partei einer Zivilrechtsstreitigkeit sein kann, behandelt Dworkin nicht. 58 Dworkin, TRS, S. 100. Das argument of polity \ besteht hier darin, den Strafverfolgungsbehörden nicht noch einen Anreiz zur rechtswidrigen Beschaffung von Beweismitteln zu geben. Ein mögliches Recht auf Nichtverwertung eines illegal erlangten Beweismittels faßt Dworkin a. a. Ο. nicht ins Auge. Ihm geht es allein um das Recht auf Freispruch eines nicht schuldigen Angeklagten.
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Ergebnis, es bestehe kein Recht der Partei, die potentieller Rechtsträger ist, auf die Entscheidung A. Mangels eines entgegengesetzten Rechts der anderen Partei, die nicht Träger eines Rechts sein kann, folgt daraus nicht, daß ein Recht dieser Gegenseite auf die Entscheidung non-Α besteht59. Dem Gericht bleiben, da keine Rechte bestehen, nur policy-Argumente und der Richter muß - wenn Dworkin konsequent bleibt - eine Ermessens-Entscheidung treffen. Denn Ermessen wird von Dworkin (u. a.) als Fehlen eines Rechts und damit einer Pflicht des Richters definiert 60. Diesem Schluß versucht Dworkin später mit dem Argument zu entgehen, daß die anzustellenden Erwägungen insgesamt doch principle- Erwägungen seien. Die Entscheidung soll in asymmetrischen Fällen gefallen sein, sobald in Anbetracht aller Umstände feststeht, daß kein Recht besteht. Die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Beweismittels in einem Zivilrechtsstreit etwa habe nur scheinbar /?o//cy-Charakter habe. Zwar folge daraus, daß eine Partei kein Recht auf Zulasssung eines bestimmten Beweismittels habe, nicht, daß die Gegenpartei ein Recht auf Nichtzulassung dieses Beweisstücks habe (asymmetrischer Charakter). Denn es gebe kein Recht gegen Verfahrensweisen, die genauer seien als es dem durch die Rechte der Parteien geforderten Niveau entspreche61. Doch sei die Entscheidung insgesamt eine /?wzcipfe-Entscheidung, weil sie die Frage beantworte, ob die Partei "all things considered" ein Recht auf die Zulassung des Beweismittels habe62. Die allein zu beantwortende Frage sei, wieviel Gewicht dem moralischen Schaden einer fälschlich das Beweismittel nicht zulassenden Entscheidung beigemessen werden solle. Demzufolge werde also nicht in einem ersten Schritt eine principle- Entscheidung getroffen, ob das Recht auf einen bestimmten Grad von Verfahrensgenauigkeit gewahrt wäre, auch wenn das Beweismittel ausgeschlossen würde, und, wenn dies der Fall wäre, in einem zweiten Schritt eine policy Entscheidung gefällt, ob das Beweismittel trotzdem zugelassen werden sollte 63 . Gleich also, was der Richter an utilitaristischen Folgenerwägungen anstelle, seine Argumentationen bleibe ein argument of principle, solange es ihm um das Bestehen oder Nichtbestehen des Rechts der Partei gehe . Im
59 In asymmetrischen Fällen gibt ein negatives argument of principle nach Dworkin nicht den Ausschlag, vgl. Dworkin, TRS, S. 100; MP, S. 95 ff. 60 Siehe oben II 3. 61 Dworkin, MP, S. 96. 62 A Reply, S. 263,267. 63 Dworkin, MP, S. 97. 64 Hier taucht der oben behandelte Gedanke einer utilitaristischen Begründung von Rechten wieder auf, allerdings ohne die wesentliche Differenzierung, daß nur eine regel-, nicht
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Ergebnis läuft diese Argument darauf hinaus, daß auch in asymmetrischen Fällen, ein negatives argument of principle die Entscheidung trägt: Wenn kein Recht auf die Entscheidung A besteht, ist die Entscheidung non-Α zu fällen, auch wenn kein Recht hierauf besteht. Dworkin deckt somit die zunächst erarbeiteten Unterschiede zwischen symmetrischen und asymmetrischen Fällen wieder zu. b) Die Problematik der Fälle, in denen keine Individualrechte tangiert sind Ins Wanken gerät Dworkins System aber endgültig dann, wenn man Fälle betrachtet, in denen keine Rechte (im Dworkin'schen Sinne) in Rede stehen - man denke etwa an Streitigkeiten zwischen Staatsorganen. In Fällen, in denen keine der Parteien ein Individualrecht überhaupt innehaben kann, kann der Richter niemals aufgrund von arguments of principle entscheiden. Dierights thesis wird für solche Fälle von Dworkin nicht behauptet und trifft für sie auch nicht zu 65 . Problematisch ist, ob - obwohl keine der Parteien ein (Individual-)Recht auf eine bestimmte Entscheidung hat - es gleichwohl eine allein richtige Entscheidung in solch einem Falle gibt. Das nimmt Dworkin an 66 . Der Richter habe in solchen Fällen zwar Ermessen. Es gebe aber gleichwohl dann eine allein richtige Entscheidung, wenn die gegebenen Daten komplex genug seien, um die Konstruktion einer allein richtigen Lösung zu erlauben 67. Das sei in Ermessensfragen wie z. B. der Festlegung einer Frist zur Wiederanberaumung der Verhandlung nicht der Fall, lasse sich aber für komplexere Fragen wie die Zulässigkeit eines Beweismittels bejahen68. Gegen eine allein richtige Lösung zu einem Problem, das allein unter policy-Gesichtspunkten betrachtet werden kann, spricht allerdings, daß policy-Argumente Dworkin zufolge gar nicht unter dem Integritätsideal, also dem Erfordernis konsistenten und kohärenten Zusammenspiels, oder aber eine handlungsutilitaristische Begründung von Rechten dem Trumpfcharakter von Rechten gerecht wird. Vgl. oben Kapitel 3 I V 3 c. 65 Das gilt selbstverständlich nur, wenn man Dworkins Begriff eines right als Individualrecht zugrundelegt. Das bundesdeutsche Verfassungsrecht aber kennt auch Rechte des Staates und seiner Organe, vgl. etwa Art. 931 Nr.l, 3,4,4b GG. 66 Vgl. etwa Hercules' Lösung eines Falles, in dem eine Umweltschutzgruppe forderte, der Bau einer fast vollendeten Talsperre solle eingestellt werden, weil bei Inbetriebnahme des Staudamms ein kleiner, biologisch wenig interessanter Fisch seinen Lebensraum verlöre. Grundlage für dieses Begehren war ein Gesetz zum Schutz gefährdeter Arten. Vgl. Dworkin, LE, S. 20 ff., S. 337 ff. 67 Zur Komplexität als Voraussetzung interpretativer Theorienbildung, vgl. Dworkin, MP, S. 170. 68 MP, S. 122. Gespräch am 15.5.86.
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doch unter schwächeren Konsistenzanforderungen stehen69. Es ist daher wenig einleuchtend, daß eine interpretative Theorienbildung hier stets eine allein richtige Lösung hervorbringen können soll. Schließlich ist, wenn es trotz starken Ermessens eine allein richtige Lösung geben sollte, einer der beiden Begriffe unklar. Denn starkes Ermessen wurde von Dworkin u. a. als freies Loch des Doughnut beschrieben. Eine richtige, d. h. eine rechtlich richtige Lösung, kann es nur geben, wenn es rechtliche Argumente gibt, die die zu entscheidende Frage kontrollieren. Gibt es rechtliche Argumente, die nur eine richtige Entscheidung erlauben, so ist es unverständlich, warum der Richter Ermessen haben sollte. Dworkin steht es auch nicht offen, zwischen richtigen Antworten und rechtlich richtigen Antworten zu unterscheiden. Denn das "enterprise" des Rechts verlangt immer nach rechtlichen Antworten. Nach allem gerät in den von Dworkin so genannten asymmetrischen Fällen sein Denkgebäude ins Wanken und ist es völlig untauglich für Fälle, in denen Individualrechte gar nicht betroffen sind. Regelungsbereichen, wie dem Umweltschutzrecht, die auf Gemeinwohlerwägungen angewiesen sind und in denen es oft kein in seinen Rechten unmittelbar betroffenes Indivi.
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duum gibt, vermag Dworkins Begrifflichkeit nicht gerecht zu werden . Entweder gibt es in diesen Fällen manchmal, nämlich dann, wenn niemand ein Recht auf eine ihm günstige Entscheidung hat, keine allein richtige Entscheidung. Oder aber es müssen auch policy-Aigumentc unter dem (gleichen) Gebot konsistenter Abstimmung stehen. Sollte dem aber so sein, so fällt ein entscheidender Grund weg, weshalb Richter sich in Zivilrechtsstreitigkeiten auschließlich auf arguments of principle stüzen sollen. I I I . Die right-answer thesis
1. Einschränkung der right-answer thesis durch sogenannte UnentschiedenFälle ("tie cases")
Klammert man die genannten Unstimmigkeiten und Unzulänglichkeiten der Dworkin'schen Theorie einmal aus, bleibt dieright-answer thesis als
69 S. ο. Kapitel 5 II 1 c. Vgl. insbesondere Dworkin, TRS, S. 109, 85, 303 und LE, S. 222 f., 166; A Reply, S. 271. 70 So auch Mazurek, Analytische Rechtstheorie, S. 274.
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solche zu diskutieren. Nach Dworkin haben - fast - alle Rechtsfälle eine allein richtige Antwort oder Lösung. Die Einschränkung auf fast alle Fälle ist dadurch bedingt, daß die Wahrheit von propositions of law 71 in einem Kohärenzmodell der Wahrheit von einem gewissen Grad an Komplexität abhängt. Die - äußerst seltenen, ja kaum vorstellbaren - Fälle, in denen in einem entwickelten Rechtssystem die rechtlichen Materialien nicht hinreichend komplex seien72, um eine Interpretation dieser Materialien als beste auszuweisen, nennt Dworkin "tie cases" 13. Ein tie judgrnent liegt nach Dworkin vor, wenn exakt genauso viel für die eine Entscheidung (für den Kläger) wie für die andere Entscheidung (für den Beklagten) spricht, so daß die richtige Antwort auf die zu entscheidende Frage lautet, daß ein tie case vorliegt, also weder die eine noch die andere Entscheidung richtig ist 74 . Wesentlich an dieser Definition sei, daß dastie judgrnent eine von drei auf gleicher Ebene konkurrierenden Antworten sei und dieselben ontologischen und epistemologischen Annahmen mache wie die beiden konkurrierenden Antworten. Es sei ein Urteil innerhalb des enterprise 75. Welche Annahmen Dworkin hier im Auge hat, läßt er im Dunkeln. Gemeint ist sicherlich auch die Annahme einer zweiwertigen Logik. Eintie case ist mithin ein Fall, in dem sich die Argumente für die beiden alternativen Entscheidungsmöglichkeiten exakt die Waage halten. Es gibt keine Antwort auf die Frage, ob der Kläger oder der Beklagte ein Recht hat, zu gewinnen. Die richtige Antwort ist, daß es keine richtige Antwort gibt. Dworkin begegnet dem Problem dertie cases mit verschiedenen Überlegungen; zum eben mit einer Setzung. In einem komplexen Rechtssystem, in dem es wahrscheinlicher sei, daß Richter sich irrten als daß eintie case vorliege, sei es rational, eine Grundregel einzuführen, die die rie-Antwort
71 Zum Begriff der proposition of law vgl. oben Kapitel 1 II 1 c. Dworkin geht unausgesprochen davon aus, daß propositions of law, die doch Aussagen über Gebote, Verbote und Erlaubnisse machen, Wahrheitswerte haben und logisch wie andere Aussagen auch behandelt werden können. Vgl. zu den verschiedenen Begründungsweisen einer Logik der Sollenssätze (deontischen Logik) Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 179 ff. 72 Dworkin, TRS, S. 286 f.; MP, S. 143, 169 f. Insoweit zustimmend Greenawalt, Policy, Rights, and Judicial Decision, S. 1038. 73 Dworkin, MP, S. 143 ff.; TRS, S. 285 ff., 359 f.; Bürgerrechte ernstgenommen, S. 457: "Unentschieden-Fälle". 74 Dworkin, TRS, S. 285. Dworkin, TRS, S. 8 .
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als mögliche Antwort des enterprise eliminiere . Danach muß ein Richter so tun, als habe jeder Fall einer allein richtige Lösung, wenn er schon nicht die wenigen Fälle identifizieren kann, in denen das nicht zutrifft. Doch läuft diese Argumentation, tfe-Antworten nur stipulativ auszuschließen, die richtige Antwort also nur als regulatives Prinzip einzuführen, anderen Überlegungen Dworkins zuwider, wonach es tie cases schon gar nicht gibt. Das eine Mal möchte Dworkin die theoretische Möglichkeit solcher Fälle zwar nicht ausschließen, meint aber, daß Richter "given the complexity of the legal materials at hand...if they think long and hard enough" schon zu dem Ergebnis kommen werden, daß eine Seite die geringfügig besseren rechtlichen Argumente für sich habe77. Dahinter steht der Gedanke, daß nicht sein kann, was nicht sein darf: Weil das Verbot der Rechtverweigerung zu den Grundregeln der Institution gerichtlicher Entscheidung gehört, muß der Richter nun einmal eine Entscheidung zugunsten einer Partei treffen (können). Wenn aber, wie Dworkin schreibt, eine Seite tatsächlich "the better of the case"78 hat, und nicht nur die Richter zu diesem Ergebnis kommen, so liegt eben gar keintie case vor. Später schließt Dworkin denn auch konsequent schon die theoretische Möglichkeit solcher Fälle aus. Das wird aus seiner Antwort auf Mackie deutlich, der geltend gemacht hatte, ein tie case könne seinen Grund auch darin haben, daß die Argumente für und gegen die Lösungen zwar nicht in völligem Gleichgewicht, jedoch inkommensurabel seien79. Dworkin selbst müsse diese Auffassung vertreten. Denn er nehme an, daß, wenn zwei das vorhandene rechtliche Material rechtfertigende Interpretationen beide die Schwelle des fit passierten und sie beide politisch moralisch exakt gleich gut seien, ein altes, unbedeutendes, erst jetzt entdecktes Präjudiz nicht den Ausschlag zwischen den beiden Interpretationen geben solle. Daran zeige sich, daß die rfe-Situation nicht eine Frage exakter Gleichgewichtigkeit, sondern der Inkommensurabilität der Argumente sei 80 . Dworkin bestreitet, eine Theorie der Inkommensurabilität politisch-moralischer Argumente zu vertreten. Das Gegenteil sei der Fall. Er behaupte 76 Dworkin, TRS, S. 286. Ähnlich argumentieren Sartorius, Bayes' Theorem, Hard Cases, and Judicial Discretion, S. 1269 und Peny, Contested Concepts and Hard Cases, S. 35; vgl. dazu unten unter 3. 77 Dworkin, TRS, S. 286. 78 Dworkin, TRS, S. 286. 79 Mackie, The Third Theory of Law, S. 165; ihm folgend Peczenik, Is There Always a Right Answer to a Legal Question?, S. 256 f. 80 Dworkin, TRS, S. 359 f. gibt hier ein Beispiel wieder, das Mackie im Gespräch ihm gegenüber erwähnt habe.
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die Kommensurabilität verschiedener Moraltheorien, also die Möglichkeit, Gründe zu finden, warum die eine der anderen moralischen Theorie vorzu81
ziehen sei . Mackies Beispiel verkenne, daß in der Dimension des fit nicht Bits institutioneller Geschichte zu zählen seien, sondern daß die Bedeutung und der Charakter der Materialien erfaßt werden müßten. Die Dimension des fit sei so formal nicht und deshalb mache eine unbedeutende Verbesserung des fit durch ein weiteres Präjudiz eine Interpretation nicht automatisch besser82. Wer allerdings die no-right-answer thesis vertreten wolle, der müsse entweder von einem (internen) Skeptizismus oder aber einer Unvergleichbarkeit moralischer Theorien ausgehen83. Schließlich spekuliert Dworkin: Wenn man ihm nicht nur in seiner Theorie der Interpretation folge, sondern auch darin, daß die beste Theorie politischer Moral auf die Idee des gleichen Respekts gegründet sei, so sei es kaum vorstellbar, daß zwei Interpretationen in dieser Hinsicht gleich attraktiv seien84. Einft'e-Fall wäre somit schon theoretisch ausgeschlossen85. Folgt man diesem letzten Argument, so ist die Einschränkung der rightanswer thesis auf - fast - alle Rechtsfälle bloß eine halbherziges Zugeständnis Dworkins, der im Grunde an die richtige Antwort auf alle Rechtsfragen glaubt.
2. Dworkins Kritik der no-right-answer thesis a) Überblick über die verschiedenen Versionen der no-right-answer thesis (Gegenthese) Da dieright-answer thesis nicht positiv zu beweisen ist, beschränkt sich Dworkin auf eine Kritik der Argumente für die Gegenthese86. Diese Kritik 81 Dworkin, TRS, S. 360. 82 Vgl. oben Kapitel 5 II 1 c. 83 Dworkin, MP, S. 145. Zum internen Skeptizismus s. o. Kapitel 2 I V 2 b. 84 Dworkin, MP, S. 144. 85 Diesbezüglich zweifelnd etwa Hart, Law in the Perspective of Philosophy, S. 551; Weinberger, Die Naturrechtskonzeption von Ronald Dworkin, S. 510. 86 Vgl. Dworkin, TRS, S. 279 ff.; No Right Answer? (1977 veröffentlicht) und die überarbeitete und erweiterte Fassung des Artikels in MP, S. 119 ff. (Is There Really No Right Answer in Hard Cases?).
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der no-right-answer thesis ist komplex und facettenreich. Im folgenden wird nur eine Argumentationslinie Dworkins herausgegriffen, die zu zeigen versucht, daß der Rechtspositivismus selbst dann, wenn man ihm seine Grundannahmen argumentationshalber als richtig zugesteht, die no-right-artswer thesis nicht zu stützen vermag (Kritik des sogenannten Positivismus-Arguments)87. Zunächst aber sei dieses Argument in den Gesamtzusammenhang der Dworkin'schen Argumentation gegen die no-right-answer thesis eingeordnet. Dworkin unterscheidet zwei Versionen dieser These. Die erste, sogenannte semantische Version besage, daß es Fälle gebe, in denen die scheinbar kontradiktorischen Antworten, nämlich die propositions of law (ρ) und (-ρ), beide falsch seien. (An einem Beispiel: Sowohl der Satz "Der Vertrag ist gültig" (p) als auch der Satz "Der Vertrag ist nicht gültig" (-p) könnten falsch sein, weil es etwas drittes neben Gültigkeit und Ungültigkeit gebe.) Die erste Version der no-right-answer thesis sei eine semantische These, weil sie die Existenz von Rechtsbegriffen behaupte, die sich zwar gegenseitig ausschlössen, aber gleichwohl nicht kontradiktorisch seien, weil sie Raum für ein Drittes ließen. Diese erste Version der no-right-answer thesis ist wenig überzeugend. Denn allein daraus, daß nicht alle Rechtsbegriffe in einem kontradiktorischen Gegensatz zueinander stehen, folgt noch nicht, daß die Frage, ob ein Begriff zutrifft oder nicht, keine richtige Antwort haben kann. Dworkin allerdings argumentiert verschlungener. Rechtsbegriffe (ausgenommen die Begriffe Recht und Pflicht) seien sogenannte "dispositive" Begriffe 88 . Wenn ein dispositiver Begriff zutreffe, habe der Richter eine bestimmte prima facie-Pflicht, und wenn er nicht zutreffe, habe der Richter die entgegengesetzte prima facie-Pflicht. Dispositive Begriffe hätten damit
87 Dworkin, MP, S. 131 ff. und 405 Ν. 4. 88 Dworkin, MP, S. 119,122 ff., 125. Dworkin operiert in seinem Beispiel aus ungenanntem Grund teils mit untechnischen Begriffen. So spricht er von "valid", "not valid", "invalid" und "inchoate contracts" (MP, S. 122 ff.), statt von "valid", "void" und "voidable contracts". Im deutschen Recht jedenfalls folgt daraus, daß der Satz "Der Vertrag ist gültig/wirksam" nicht wahr ist, nicht, daß der Satz "Der Vertrag ist unwirksam/nichtig" wahr ist. Denn der Vertrag kann auch schwebend unwirksam sein. Doch hat die Frage, ob der Vertrag wirksam ist, nicht schon wegen dieser "Dreiwertigkeit" des Begriffs "Wirksamkeit", keinerichtigeAntwort. Der Vertrag ist entweder wirksam oder unwirksam oder schwebend unwirksam. Letztlich will wohl auch Dworkin in seinem Argument hierauf hinaus. Seine sog. "dispositive concepts" sind übrigens nicht mit Dispositionswörtern im Sinne der sprachanalytischen Theorie gleichzusetzen. Vgl. zu letzteren Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie, Bd. I, S. 1120 ff.
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gerade die Funktion, die (behauptete) Dreiwertigkeit der Begriffe Recht und Pflicht zu unterdrücken 89. Gegen Dworkins Argumentation spricht, außer der wenig einleuchtenden Behauptung einer Dreiwertigkeit der Begriffe Recht und Pflicht 90 , daß, wenn die sogenannten dispositiven Rechtsbegriffe eine Weichenstellungsfunktion für Rechte und Pflichten haben, dann auch der Begriff des Rechts (right) in Dworkins auf Rechten bauender (right-based) Theorie ein dispositiver Begriff sein muß, da er über das Vorliegen/Nichtvorliegen einer Pflicht entscheidet. Dworkins Konzeption dispositiver Rechtsbegriffe zur Überspielung einer angeblichen Dreiwertigkeit der Begriffe Recht und Pflicht ist überflüssig und unstimmig. Ihr wird hier nicht weiter nachgegangen. Die ernstzunehmendere zweite, sogenannte logische Version der noright-answer thesis behauptet nach Dworkin, daß es Fälle gibt, in denen (p) und die Negation dieser Aussage (-p) beide weder wahr noch falsch sind . Dworkin diskutiert drei Argumente, die für diese These vorgebracht werden. Seine Erwiderung auf das Argument fehlenden und nicht erreichbaren Konsenses in schwierigen Fällen (sog. Kontroversitäts-Argument) und auf das Argument von der mangelnden Eindeutigkeit der (Rechts-)Sprache (sog. Vagheits-Argument) sind aus seiner Theorie der Wahrheit und der Konzeptionenbildung schon bekannt92. Das dritte von Dworkin kritisierte sogenannte Positivismus-Argument93 besagt, daß Recht nur aufgrund menschlichen Handelns existiert. Dort, wo keine zur Rechtsetzung befugte Autorität gehandelt habe, gebe es kein Recht und demzufolge auch keine rechtlich richtigen Antworten 94 . Argumentationshalber gesteht Dworkin die Richtigkeit dieser These zu und fragt, ob sie tatsächlich die zweite Version der no-right-answer thesis zu stützen vermag.
89 Dworkins Kritik der ersten Version der no·right-answer mend Woozley, No Right Answer, S. 174 f.
thesis grundsätzlich zustim-
90 Vgl. hierzu schon oben unter II 3. 91 Dworkin, MP, S. 121 f., 128. 92 Zum Vagheits-Argument s. o. Kapitel 1 II 1 b und zum Kontroversitäts-Argument s.o. Kapitel 2 III 2 b. 93 Raz, The Authority of Law, S. 53 ff. nennt das von Dworkin sogenannte PositivismusArgument die rechtspositivistische Quellenthese. Dworkin,
, S. 11.
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Scchstcs Kapitel
b) Wider das Positivismus-Argument (Quellen-These) Dworkin formalisiert das Positivismus-Argument95: (p) steht für eine proposition of law und L (p) repräsentiert die Tatsache, daß die rechtsetzende Autorität so gehandelt hat, daß (p) wahr ist, (p) also eine Rechtsquelle hat 96 , (p) sei nur wahr, wenn L (p) wahr sei. Danach scheine der Positivismus die zweite Version der no-right-answer thesis zu stützen. Denn da es Fälle gebe, in denen weder L (p) noch L (-p) wahr sei, weil die rechtsetzende Autorität bezüglich der Frage "(p) oder (-p)?" untätig war, scheine weder (p) noch (-p) wahr zu sein97. Das Positivismus-Argument stützt nach Dworkin die no-right-answer thesis indessen nur scheinbar. Der Positivismus nämlich müsse annehmen, .
OR
daß (p) und L (p) stets dieselben Wahrheitswerte hätten . Daraus folge: Wenn (p) und L (p) in ihren Wahrheitswerten äquivalent seien, dann seien auch (-p) und L (-p) sowie (-p) und -L (p) zueinander äquivalent. Da aber L (p) und L (-p) beide zu (-p) äquivalent seien, seien sie auch zueinander äquivalent. Das aber heiße nichts anderes, als daß, wenn immer es wahr ist, daß die rechtsetzende Autorität nicht so gehandelt hat, daß (p) wahr ist (-L (p)), es wahr ist, daß sie so gehandelt hat, daß (-p) wahr ist (L (-p)) 9 9 . Für Dworkin ist damit gezeigt, daß der Rechtspositivismus in sich unschlüssig ist. Denn einerseits nehme er an, daß Recht nur aufgrund eines Rechtsetzungsaktes existiere. Andererseits aber müsse er annehmen, daß, wenn immer die rechtsetzende Autorität nicht so gehandelt hat, daß (p) wahr sei, deren Negation (-p) aufgrund eines Aktes L (-p) wahr sein müsse. Das aber ist offensichtlich falsch, weil es auch und gerade nach Auffassung des Positivismus sein kann, daß weder L (p) noch L (-p) der Fall ist, das Recht also lückenhaft ist 1 0 0 .
95 Dworkin benutzt in seiner Formulierung dieses Arguments logische Verknüpfungszeichen für Disjunktion und Konjunktion. Auf ihren Gebrauch kann getrost verzichtet werden. 96 Genauer müßte Dworkin davon sprechen, daß L (p) die Aussage macht, daß (p) aufgrund eines Rechtsetzungsaktes wahr ist, nur dann nämlich kann er aussagenlogisch argumentieren. 97 Dworkin, MP, S. 131. 98 Dworkin unterscheidet verschiedene Versionen des Positivismus, die die Identität der Wahrheitswerte von L (p) und (p) unterschiedlich begründen: einen semantischen, der behauptet, daß (p) und L (p) dasselbe bedeuten (hier ließe sich wohl von deflatorischer Äquivalenz sprechen), einen Positivismus gegenseitiger Folgerungsrelationen, demzufolge aus L (p) die Wahrheit von (p) und aus (p) die Wahrheit von L (p) folgt, und schließlich einen Positivismus der Äquivalenz der Wahrheitswerte von (p) und L (p); vgl. MP, S. 132 f. 99 Dworkin, MP, S. 133. 100 So auch Raz, The Authority of Law, S. 55.
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Wolle sich der Rechtspositivist diesem falschen Schluß, daß wenn (p) keine Rechtsquelle hat, stets (-p) eine Rechtsquelle hat, entziehen, so müsse er begründen, warum eine proposition of law (ρ) wahr ist, wenn der entsprechende Rechtsetzungsakt stattgefunden hat (L (p)), aber nicht zwingend falsch ist, wenn der entsprechende Rechtsetzungsakt nicht stattgefunden hat (-L (p)) 1 0 1 . Darauf läßt sich erwidern: Der die no-right-answer thesis vertretende Positivist gelangt deshalb nicht zu dem offensichtlich falschen Schluß, weil er gerade annimmt, daß in den problematischen Fällen, in denen die rechtsetzende Autorität nichts getan hat, die Antwort auf die Rechtsfrage "(p) oder (-p)?" offen ist 1 0 2 . Für (-L (p) und -L (-p)) haben weder (p) noch (-p) einen Wahrheitswert. Das läßt sich nicht prädikatenlogisch begründen, sondern nur dadurch, daß man sich vergegenwärtigt, wofür -L nach Dworkin eigentlich steht: -L bedeutet, daß die rechtsetzende Autorität nicht gehandelt hat. Wenn aber Recht nur durch das Handeln der rechtsetzenden Autorität geschaffen wird, so gibt es in einer Frage, bezüglich derer kein Recht gesetzt wurde, kein Recht und keine rechtlich richtigen oder unrichtigen Antworten. Es läßt sich eine Parallele zu einem klassischen Problem der Sprachphilosophie ziehen: So wie Aussagen über nicht existente Entitäten weder wahr noch falsch sind 103 , so sind auch die propositions of law (ρ) und (-ρ) nach der rechtspositivistischen Grundannahme im Falle von (-L (p) und -L (-p)) weder wahr noch falsch, weil das Recht, über das (p) bzw. (-p) eine Aussage machen, mangels eines entsprechenden rechtsetzenden Handelns inexistent ist. Danach ist notwendige und hinreichende Bedingung für die Wahrheit von (p), daß L (p) und notwendige und hinreichende Bedingung von (-p), daß L (-p). Dworkins Gleichsetzung der internen Negation L (-p) und der externen Negation -L (p) ist nicht zulässig, weil im Falle von -L (p) das Recht lückenhaft ist. Nach Dworkin haben alle Versuche des die no-right-answer thesis verwenden Rechtspositivisten, diese "special one-way connection" zwischen der proposition of law (ρ) und dem entsprechenden Rechtsetzungsakt L (p) 101 Dworkin, MP, S. 133 f. 102 Alexander/Bayles, Hercules or Proteus?, S. 270 f. 103 Vgl. etwa v. Savigny, Philosophie der normalen Sprache, S. 177 ff.; Hannappel/Melenk, Alltagssprache, S. 185. Auch Dworkin, TRS, S. 289 f. spricht dieses Problem an und legt dar, daß der Vergleich zwischen propositions of law und Aussagen über nicht existente Entitäten (etwa: "Der gegenwärtige (!) französische König ist kahlköpfig") nicht trägt. Da Dworkin aber in dem hier diskutierten Zusammenhang dem Positivismus seine Grundannahmen argumentationshalber zugesteht, muß er sich diesen Vergleich gefallen lassen. Dworkin weist auch auf eine nicht näher bezeichnete Tradition in der Sprachphilosophie hin, die annehme, Aussagen über nicht Existentes seien immer falsch.
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plausibler zu machen104, so daß eine proposition of law (ρ) wahr ist, wenn L (p), ihre Negation (-p) aber nicht notwendig falsch ist, wenn -L (p), eines gemein: Sie gäben bestimmte Grundregeln in einer bestimmten Rechtsordnung an. Nach dieser Grundregel sei eine proposition of law (ρ) nur dann wahr, wenn die rechtsetzende Autorität entsprechend gehandelt habe, und nur falsch, wenn die rechtsetzende Autorität die kontradiktorische proposition of law (-ρ) zu Recht gemacht habe. Der Rechtspositivist könne die noright-answer thesis somit zwar für eine Rechtsordnung mit dementsprechender Grundregel behaupten, nicht aber für alle möglichen Rechtsordnungen. Es sei nicht schwer, sich Rechtssysteme vorzustellen, in denen andere Grundregeln gelten und die right-answer thesis richtig sei. Ob etwa das amerikanische Rechtssystem Grundregeln habe, wie der die no-right-answer thesis vertretende Rechtspositivist sie annehmen müsse, um sich nicht in Widersprüche zu verstricken, sei gerade die Frage. Nach Dworkin ist eine solche Interpretation der amerikanischen Rechtspraxis unzutreffend 105. Übrigens kann auch ein Vertreter eines, allerdings nicht streng durchgeführten, Rechtspositivismus schlüssig die right-answer thesis für eine bestimmte Rechtsordnung vertreten. Er muß lediglich annehmen, daß die Rechtsordnung Regeln zur Verfügung stellt 106 , die auch in den Lückenfällen (-L (p) und -L (-p)) die Herleitung eines eindeutigen Ergebnisses erlauben. So meint etwa Raz, daß auch dann, "when the law is silent", keine Lücken vorliegen, weil in solchen Fällen (analytisch wahre, nicht unbedingt positiv gesetzte) "closure rules" die Lücken schlössen107. Für jeden Fall, in dem mangels eines Rechtsetzungsaktes Unsicherheit über die Wahrheit einer proposition of law bestehe, stelle die Institution des Rechts Regeln bereit, die diese Unsicherheit beseitigten108.
104 Dworkin, MP, S. 134. 105 Dworkin, MP, S. 135 f. 106 Man denke an die Regeln "Was nicht verboten ist, ist erlaubt", nulla poena sine lege, "Kein Anspruch ohne Anspruchsgrundlage", den Vorbehalt des Gesetzes etc. Diese Regeln werden auch unter dem Begriff des "allgemeinen negativen Satzes" zusammengefaßt. Vgl. hierzu Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 236 ff. und mit weiteren Nachweisen Canaris, Die Peststellung von Lücken, S. 49. 107 Raz, The Authority of Law, S. 75 ff. Ausgeblendet bleiben hier des Kontroversitätsund das Vagheits-Argument. Raz vertritt die noright-answer thesis aufgrund des Vagheits-, nicht aber aufgrund des Positivismus-Arguments, vgl. The Authority of Law, S. 72 ff. 108 Ob man die Schließung von Lücken durch die Interpretationsregeln des allgemeinen negativen Satzes oder nur durch positive Normen, die diese Interpretationsregeln positiv rechtlich verankern, oder überhaupt nicht für mit der rechtspositivistischen Doktrin vereinbar hält, ist die Frage danach, wie streng, konsequent oder rein man den Rechtspositivismus konzipiert. Vgl. hierzu Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 222, 234 ff. Dworkin attackiert eine strenge Version des Rechtspositivismus.
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Eine Rechtsaussage (ρ) ist danach wahr, wenn es entweder einen rechtsetzenden Akt gibt, der dies bestimmt (L (p)), oder aber wenn es keinen Akt gibt, der bestimmt, daß (-p) wahr ist (-L (-p)). D. h.: (-L (-p) oder L (p) = (P)) u n d (-L(p) oder L (-p) = (-p)). Daraus folgt nicht der falsche Schluß -L (p) = L (-p) 1 0 9 . Ein so konzipierter Rechtspositivismus nimmt an, daß auch in Fällen von -L (p) bzw. -L (-p) sich sinnvoll von (p) und (-p) sprechen läßt, weil die Geschlossenheitsregeln Rechtsquellencharakter haben. Er gelangt damit schlüssig zurright-answer thesis. Ob dieright-answer thesis oder die no-right-answer thesis richtig ist, ist nach allem eine interpretative Frage, bei der es darauf ankommt, welche Interpretation auf die Institution des Rechts in einer bestimmten Gesellschaft besser paßt und sie in einem besseren Licht zeigt. Dworkin ist es jedenfalls nicht gelungen, den Rechtspositivismus schon einer logischen Widersprüchlichkeit zu überführen. Argumentationshalber hatte Dworkin die Richtigkeit des PositivismusArguments zugestanden. Wie gezeigt, bestreitet er aber auch den Ausgangspunkt selbst, macht also geltend, daß es propositions of law (bzw. Rechte und Prinzipien) gibt, die wahr (bzw. existent) sind, ohne daß es einen entsprechenden Rechtsetzungsakt gäbe 110 . Der Rechtspositivist macht zur Verteidigung geltend, daß er ja nicht behaupte, daß Gerichte niemals Erwägungen anstellten, die keine Rechtsquelle hätten. Nur stützten sich Gerichte, die solche Erwägungen ihren Entscheidungen zugrundelegten, eben nicht auf rechtlich verbindliche Erwägungen, sondern auf sonstige Gesichtspunkte, übten also Ermessen im Dworkin'schen Sinne aus 111 . Dem entgegnet Dworkin, daß die rechtspositivistische Interpretation der Rechtspraxis diese unter dem Gesichtspunkt politischer Moral in einem schlechten Licht zeige, weil sie ein beträchtlichen Teil richterlicher Argumentation als nicht-rechtliches Argumentieren abtun müsse. Richter hätten aber allein 109 Alexander/Bayles, Hercules or Proteus?, S. 270 f. Raz, The Authority of Law, S. 65 ff., zeigt einen anderen Weg zur Widerlegung Dworkins au f. Jener führt allerdings auch von der simplen Annahme, Rechtsätze existierten ausschließlich aufgrund einer positiven Setzung (p) = L (p) weg: Raz bestreitet, daß das Verhältnis zwischen ρ und L (p) das einer Folge oder einer Bedeutungsidentität sei. Eine Rechtsquelle sei vielmehr ein rechtlicher Grund für eine Person, eine bestimmte Handlung vorzunehmen. Wo ein rechtlicher Grund für eine Handlung bestehe, gebe es eine Rechtsquelle. Der Rechtssatz, daß eine Person einen rechtlichen Grund habe, eine Handlung vorzunehmen, sei wahr, wenn der rechtliche Grund bzw. die Rechtsquelle bestehe. Wo aber kein rechtlicher Grund für eine Handlung bestehe, gebe es auch keine Rechtsquelle. Daher folge daraus, daß kein rechtlicher Grund zu einer Handlung bestehe, nicht, daß es eine entsprechende Rechtsquelle geben müsse. Bestimmte Rechtssätze, nämlich solche, die sagten, es bestehe kein rechtlicher Grund für eine bestimmte Handlungsweise, sie sei also weder geboten noch verboten, hätten niemals eine Rechtsquelle. 110 Vgl. Dworkin, MP, S. 405 f. Ν. 4 und oben insbesondere Kapitel 4IV. 111 Raz, The Authority of Law, S. 59.
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Recht zu sprechen. Damit sind die politisch-moralische Attraktivität der right-answer thesis und ihre Funktion in Dworkins Theorie angesprochen.
3. Zur Bedeutung der right-answer thesis
Dworkin sieht die Relevanz seinerright-answer thesis in der Legitimation richterlichen Handelns begründet. Weil uns bestimmte Rechte zustehen, haben Richter kein Ermessen, sondern die Pflicht, die richtige Entscheidung zu treffen, mit der sie existierende Rechte durchsetzen 1 2 . Die right-answer thesis ist für Dworkin also keine bloß akademische Frage. Taking rights seriously bedeutet für Dworkin, daß der Richter die bestehenden Rechte durchzusetzen und damit die richtige Entscheidung zu treffen hat. Die richtige Antwort nur als regulative Idee anzunehmen, genügt Dworkin daher nicht. Die regulative Idee der richtigen Antwort setzt lediglich voraus, daß es in manchen Fällen eine allein richtige Antwort gibt, der Richter aber doch in jedem Fall die allein richtige Antwort zu suchen hat, weil er nicht weiß, in welchen Fällen es eine allein richtige Antwort gibt und in welchen nicht . Dieses Verständnis der richtigen Antwort als eines bloßen Leitgedankens richterlicher Arbeit ist auch dann noch sinnvoll, wenn man der Ansicht ist, daß ein Richter, der nicht Hercules' Qualitäten hat, die richtige Entscheidung in schwierigen Fällen bloß zufällig, aber nicht durch Beherrschung der herkulischen Methode finden kann. Dann ist die richtige Antwort in jedem Rechtsfall zwar ein für ihn unerreichbares Ideal 114 , das es aber gleichwohl zu erstreben gilt. Dworkin indessen hält diese Argumentation für unschlüssig. Zwar kann es auch seiner Meinung nach nur darum gehen, daß der Richter versucht, die richtige Entscheidung zu finden: "the attempt to reach the right decision" 115 ; "duty to try to identify these rights" 116 . Dieser Versuch setze jedoch 112 Dworkin, TRS, S. 335 f. 113 So Sartorius, Bayes' Theorem, S. 1275; Alexy, Ermessensfehler, S. 715 (in Bezug auf das Verwaltungsermessen) und mit weiteren Nachweisen; zweifelnd hinsichtlich der sozialen Nützlichkeit der nght-answcr thesis Greenawalt, Policy, Rights, and Judicial Decision, S. 1042 ff. 114 So Aarnio, On Truth and the Acceptability of Interpretative Propositions, S. 43; Greenawalt, Policy, Rights, and Judicial Decision, S. 1044. 115 Dworkin, Judicial Discretion, S. 637. Dworkin, A Reply, S. 2 .
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voraus, daß es die richtige Entscheidung auch wirklich gebe. Das Ringen um die richtige Lösung sei nur sinnvoll, wenn man überzeugt sei, es gebe auch eine richtige Lösung 117 - so Dworkin in seiner Polemik gegen Woozley: O f course his hard-headed lawyers, who say that there is a right answer even while denying that there can be a right answer, might have in mind the right answer to two different questions. They might mean that there is a right answer to what the law should be though no right answer to what it is. But they cannot think there both is and is not a right answer to the same question unless they are a touch harder in the head than they should be" 118 . Das ist gegen die Ansicht der richtigen Antwort als regulativer Idee ein schwaches Argument. Denn deren Vertreter suchen ja nicht in einem Fall, von dem sie wissen, daß er keine allein richtige Lösung hat, nach der richtigen Lösung, sondern in Fällen, von denen sie nicht wissen (können), ob sie eine allein richtige Lösung haben. Und wenn es entgegen Dworkin Fälle geben sollte, die keine allein richtige Lösung haben, so steht der der Dworkin'schen Theorie folgende Richter, der kein Ermessen ausüben darf, vor der Unmöglichkeit, die richtige Entscheidung treffen zu müssen, obwohl es sie nicht gibt. Der maßgebliche Grund, warum sich Dworkin einem Verständnis seiner right-answer thesis als bloß regulativer Idee widersetzt, ist, daß er damit die Idee individueller Rechte verkannt sieht. Dworkin beansprucht, daß man allein mit derright-answer thesis als einer Behauptung über das Recht, wie es ist, der Idee individueller Rechte gerecht wird. Dworkins Antwort auf Munzer, der die handlungsleitende Funktion bestehender Rechte sowohl für den Rechtsinhaber als auch für potentielle Eingreifer betont und herausstellt, daß diese Funktion in kontroversen Fällen gerade nicht zum Zuge 119 komme, ist typisch für das Dilemma, in dem die Diskussion steckt: Munzers "argument misconceives what an argument about rights is about. It is about rights" 120 . Einem bestehenden Recht kommt nach Dworkin nicht nur die Funktion zu, potentiell Zuwiderhandelnde zu warnen - diese Funktion kann ein Recht, wenn es kontrovers ist, nicht erfüllen -, es sei vielmehr normalerweise ein entscheidender Grund (Trumpf) für eine Entschei-
117 S. o. unter III 1. 118 Dworkin, A Reply, S. 275 f. gegen Woozley, No Right Answer, S. 176 f., dem es an der angegebenen Stelle aber um etwas ganz anderes geht, nämlich um Dworkins Gleichsetzung von "Wahrheit" und "vernünftiger Behauptung"; vgl. dazu oben Kapitel 2 III 3. 119 Munzer, Right Answers, Preexisting Rights, and Fairness, S. 1062 f., 1068. Dworkin, TRS, S.
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dung zugunsten des Rechtsinhabers. Es sei daher ein wesentlicher Unterschied, ob der Richter nur die beste Ermessensentscheidung zu treffen suche, die lediglich rational, fair, effektiv, zweckmäßig und sinnvoll zu sein habe , oder ob er die allein richtige rechtliche Entscheidung zu treffen suche, die ein vorher bestehendes Recht durchsetze. Da aber in schwierigen Fällen kein Konsens über das Bestehen eines •
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Rechts zu erzielen ist, niemand einen "knock down case for a right" geltend machen kann, legitimiert Dworkinsright-answer thesis das richterliche Handeln nur für den, der ihm darin folgt, daß auch in jedem streitigen Fall ein Recht auf eine bestimmte Entscheidung besteht. Das aber setzt voraus, daß man Dworkins Theorie interpretativer Theorienbildung, die damit verknüpfte Konzeption der Wahrheit und der Existenz kontroverser Rechte akzeptiert. In all den Fällen, in denen Individualrechte nicht involviert sind, läßt sich die Relevanz derright-answer thesis nicht aus der Existenz individueller Rechte begünden. Und selbst wenn man der Dworkin'schen Konzeption in symmetrischen Individualrechts-Fällen Schlüssigkeit zugesteht, darf doch der seinem Interpretationsmodell inhärente Relativimus im Hinblick auf die Werte politischer Moral, die nicht mehr interpretativ gewonnen werden können, nicht übersehen werden. Zwar meint Dworkin, daß es auch im Bereich politischmoralischer Werte mit dem Prinzip gleicher Achtung und Sorge eine beste Lösung gibt. Dies aber vermochte er noch nicht weiter zu begründen 123. Schließlich: An praktischer Relevanz für den Richter hat Dworkins rightanswer thesis der richtigen Antwort als regulativem Prinzip nichts voraus. Denn ob der Richter bei der Suche nach der rechtlich richtigen Antwort und den Rechten der Parteien davon ausgeht, daß in jedem Fall ein Recht auf eine bestimmte Entscheidung besteht, oder davon, daß er jeden Fall so zu behandeln hat, als bestehe ein Recht auf eine bestimmte Entscheidung, auch wenn es Fälle geben mag, in denen das nicht der Fall ist, ändert an seinem Vorgehen nichts. Daher kann sich der Skeptiker getrost mit der richtigen Antwort als regulativer Idee begnügen. Die weitgehend ablehnende, teils empörte Reaktion auf Dworkins These von der richtigen Antwort ist am ehesten daraus zu erklären, daß Dworkin allgemein anerkannte Grundregeln wissenschaftlicher Auseinandersetzung in Frage stellt: Hier nimmt es sich einer heraus, mit einem absoluten Wahr121 S. o. II 1 und Dworkin, TRS, S. 33. 122 Dworkin, TRS, S. 338. 123 Vgl. Dworkin, In Defense of Equality, S. 31 ff.
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heitsanspruch in Fragen politischer Moral aufzutreten, obwohl er seine Wahrheiten nicht beweisen kann, j a sie einer Verifikation oder Falsifikation überhaupt nicht zugänglich sind . Gerade in der Domäne analytischer Philosophie mußte Dworkin, in dem er sein eigenes politisches Credo zur Grundlage rechtsphilosophischer Argumentation machte, auf Widerstand stoßen.
124 Zugunsten der Gleichheit als höchstem Wert kann Dworkin lediglich ins Feld führen, daß es "unclear" sei, "how some system of rights could be thought to be antagonistic to the principle of equality", vgl. Dworkin, In Defense of Equality, S. 35.
ZUSAMMENFASSUNG
Ronald Dworkin beansprucht, eine allgemeine Theorie des Rechts zu entwickeln, die weder - wie das Naturrecht - unhaltbare metaphysische Annahmen macht noch - wie der Rechtspositivismus - Fragen politischer Moral aus dem Rechtsbegriff ausklammert. Dem Anspruch einer in diesem Sinne dritten Theorie wird Dworkins Rechtstheorie gerecht, wenn sie auch eine Gratwanderung darstellt, bei der Dworkin einmal ins rechtspositivistische1 ein ander Mal ins naturrechtliche Lager 2 zu fallen droht. Die allgemeine Theorie des Rechts bedient sich eines Modells der Interpretation. Interpretation im Dworkin'schen Sinne ist nicht hermeneutisches Verstehen, das sich an einem Sprecher-Hörer-Modell orientiert, sondern kreative bzw. konstruktive Theorienbildung. Allerdings gibt es Hinweise darauf, daß Dworkin selbst wie in einem Gespräch, und nicht konstruktivkreativ, verstanden werden möchte. Insoweit wird Dworkin seinen eigenen interpretationstheoretischen Grundsätzen untreu, nach denen Interpretation gerade kein kommunikatives Handeln ist. Dworkin versteht sein Modell der Interpretation nicht nur als Herangehensweise an das Recht, sondern das Recht selbst als eine interpretative Praxis: Rechtsbehauptungen sind interpretative Urteile "and therefore combine backward- and forward-looking elements; they interpret contemporary legal practice seen as an unfolding political narrative". Die alte Frage, ob Richter das Recht finden oder erfinden, ist damit als "unhelpful" erledigt 3. Jede konstruktive Interpretation hat nach Dworkin zwei Dimensionen. In der formalen Dimension (fit) geht es darum, auf das interpretierte Objekt
1 Dem positiven Recht verhaftet bleibt Dworkins Theorie, insofern sie einen konventionalistischen Kern hat. Jegliche Interpretation geht von einem durch Konventionen gebildeten Plateau an gemeinsamen Oberzeugungen und Verhaltensweisen aus. 2 Einen naturrechtlichen Einschlag hat Dworkins Theorie, insofern er den höchsten Wert politischer Moral, das Ideal des equal concern and respect , für in der üblichen Form nicht mehr begründbar hält und axiomatisch setzt. 3 Vgl. Dworkin, LE, S. 225.
Zusammenfassung
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passende Interpretationen zu finden; in der inhaltlichen Dimension (value) ist unter den passenden Interpretationen die in bezug auf die Institution, in der der Interpret sich bewegt, attraktivste Interpretation zu ermitteln. Auch die interpretatve Frage des fit ist aber schon von normativen Elementen durchsetzt. Die Interpretation des Rechts, wie es ist, wird durch eine Vision des Rechts, wie es sein sollte, überlagert. Diese Verquickung von Sein und Sollen ist ein durchgehendes Charakteristikum des Dworkin' sehen Denkens. Indessen war es Dworkins Hauptanliegen zu zeigen, daß diese Verbindimg nicht nur seinen eigenen methodischen Ansatz bestimmt, sondern unausweichlich ist. Wir kommen nach Dworkin um moralische und politische Urteile nicht herum. Wichtiger noch, sie werden uns schon bei elementaren Fragen, wie der nach einer Methode der Interpretation, abverlangt. Im Falle rechtlicher Interpretation ist die Frage der Attraktivität einer Interpretation eine politisch-moralische Frage. Die politische Moral ist nach Dworkin ihrerseits interpretativ zu gewinnen; auf der Ebene institutioneller Moral durch eine konsistente und kohärente Interpretation der politischen Institutionen einer Gesellschaft, auf der Ebene abstrakter politischer Moral durch eine konsistente und kohärente Interpretation unserer Gerechtigkeitsintuitionen. Nach der institutionellen Moral einer Gemeinschaft bemißt sich die Attraktivität der Interpretation in einem konkreten Rechtsfall. Die Attraktivität einer institutionellen Moral ist ihrerseits an der abstrakten politischen Moral zu messen. Den in diesem Interpretationsmodell angelegten infiniten Regreß auf eine immer abstraktere Ebene, d. h. die Verlagerung der politischmoralischen Wertentscheidung auf eine immer höhere Abstraktionsstufe, bricht Dworkin durch die axiomatische Setzung des Prinzips gleicher Sorge und Achtung (equal concern and respect) ab. Dieses Prinzip ist kein bloß formaler Gleichheitssatz, sondern ein inhaltlich-moralischer Maßstab, der seinerseits auf eine Theorie der Autonomie des Menschen, also eine anthropologische Grundlegung, angewiesen ist. Insoweit aber hat Dworkin bislang nur Andeutungen gemacht. Auch überstrapaziert er die fundamentale Idee der gleichen Sorge und Achtimg: Die Idee der Individualrechte, die Freiheit, den Liberalismus, den Utilitarismus, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit (rule of law) auf dieselbe Wurzel zurückzuführen, harmonisiert die politische Philosophie Über Gebühr. Insbesondere Dworkins Konzeption der Demokratie als Behandlung als Gleicher vermag nicht zu überzeugen.
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Zusammenfassung
Konstruktive Interpretation verlangt Widerspruchslosigkeit und Stimmigkeit. Konsistenz und Kohärenz sind für Dworkin nicht nur methodische Leitlinien, sondern zugleich die Kriterien der Richtigkeit oder Wahrheit interpretativer Urteile. Darüberhinaus erhebt er die Konsistenz und Kohärenz der Entscheidungen politischer, d. h. auch rechtlicher Instanzen selbst zu einem politisch-moralischen Wert, der - "Integrität" benannt - mit anderen Werten der politischen Moral einer Gemeinschaft Gerechtigkeit und Fairneß - konkurriert. Der ideale Staat bzw. die ideale Gemeinschaft werden personifiziert, als "integer" handelnde Person vorgestellt. Die Theorie der Interpretation, die Konzeption der Wahrheit als Konsistenz und Kohärenz und die Propagierung politischer Integrität des personifizierten Staates sprechen nicht nur für eine "Unlust kognitiver Dissonanz"4 Dworkins, sondern sind Ausdruck eines konsequent durchgeführten holistischen Ansatzes für Wahrheit und Methode. Kernstück der Theorie politischer Moral Dworkins ist die Diskussion von Deontologie und Teleologie, konkreter einer Theorie der Rechte einerseits und des Utilitarismus als der herrschenden Theorie moralischer Rechtfertigung politischer Entscheidungen andererseits. Dworkin propagiert eine right-based , eine an der Idee individueller Rechte ausgerichtete Uberale politische Theorie, die dem Individuum als autonomem Wesen bestimmte poütische Rechte zuerkennt, die Vorrang auch vor kollektiven gesellschaftlichen Zielsetzungen haben. Den Primat des Individualrechts (right) gegenüber politischen Zielen (goals) drückt Dworkin plastisch im Trumpfcharakter der Rechte aus. Eine umfassende politische Theorie stellt sich Dworkin als ein Paket aus einem allgemeinen Rechtfertigungsprinzip politischen Handelns und korrigierenden Trumpfrechten vor. In der idealen politischen Theorie werden beide Bestandteile des Pakets aus dem Ideal gleicher Achtung und Sorge abgeleitet. In einer an den vorherrschenden utilitaristischen Rechtfertigungsmustern orientierten working political theory stehen den utilitaristischen Argumenten aus dem Gleichheitsrecht abgeleitete Rechte gegenüber. Die Kritik des Utilitarismus einerseits und die Theorie der Individualrechte andererseits sind ein typisches Beispiel für das Ineinandergreifen kritischer und konstruktiver Elemente in Dworkins Theorie. Dem Empiris4 Vgl. zu diesem Ausdruck Kliemt, Moralische Institutionen, S. 251.
Zusammenfassung
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mus stellt Dworkin eine Theorie der Interpretation und eine Kohärenztheorie der Wahrheit und dem Rechtspositivismus die Theorie des Rechts als Integrität entgegen. Die Auseinandersetzung Dworkins mit dem Rechtspositivismus ist nicht bloß ein Streit um Worte, auch wenn die Diskussion manchmal in bloß terminologische Streitigkeiten abgleitet. Der Kern der Kritik des Rechtspositivismus liegt in der Absage an einen Rechtsbegriff, der das Recht als Menge vorfindbarer und als Recht identifizierbarer Normen begreift. Dworkin verficht die nur scheinbare Paradoxie, das das Recht zwar einerseits nicht in Form von Verhaltens- und Entscheidungsstandards festliegt, daß es aber andererseits auf jede Rechtsfrage eine allein richtige Antwort gibt. Dworkins im deutschsprachigen Raum bislang am stärksten rezipierter Gedanke, die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien, bestätigt in vielen Punkten die Arbeiten von Engisch, Esser, Canaris und Larenz. Sie ist aber weit weniger zentral für Dworkins Theorie als gemeinhin angenommen. Dworkin stellt mit dieser Unterscheidung insbesondere kein RegelPrinzipien-Modell des Rechts vor. Die Vorstellung des Rechts als eines Normensystems ist ihm fremd. Seine auf die Einheit und Geschlossenheit der Rechtsordnung abzielende Konzeption von law as integrity baut allein auf die problemlösende und wahrheitserzeugende Kraft konsistenter und kohärenter Interpretation. Im Mittelpunkt der allgemeinen Theorie des Rechts als Integrität steht die Theorie richterlichen Handelns. Die politisch-moralische Attraktivität von law as integrity , die in der ganzheitlichen Betrachtungsweise des Rechts hegt, ist zugleich ihre Schwäche: Richter, die nicht das Format eines Hercules haben, kommen nicht ohne Reduktion von Komplexität aus. Dworkins Modell der Richtigkeit interpretativer Urteile lebt aber von der Bewältigung einer größtmöglichen Komplexität. Dworkins Modell der Rechtsprechung bindet den Richter weniger streng als eine positivistische Methode, insofern es keine Fälle gibt, in denen politisch-moralische Erwägungen keine Rolle spielen. Es bindet den Richter aber strenger, insofern die relevanten politisch-moralischen Erwägungen aus einer Interpretation des bestehenden Rechts und der gesellschaftlichen Institutionen zu gewinnen sind. Das gibt der Theorie der Rechtsprechung einen systembewahrenden und staatstragenden Charakter.
Zusammenfassung
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Die Ideen der Individualrechte, der Integrität, der Wahrheit und der Interpretation münden in das Theorem der soundest theory of tow5, Dworkins Antwort auf die Frage "Was ist Recht?": Recht ist die beste Interpretation aller rechtlichen Materialien. Die interpretationstheoretischen, erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Grundlagen der soundest theory of law müssen stets mitgedacht werden, will man Dworkins Thesen einer richtigen Antwort auf jede Rechtsfrage und seine These über die Existenz kontroverser Rechte (rights thesis ) richtig verstehen: "Consistency in principle "6 ist nach Dworkin selbst eine Quelle rechtlicher Rechte. n t Im Gegensatz etwa zu Rawls bezieht Dworkin mit einer Reihe höchst umstrittener Annahmen der Sprach-, Moral- und Erkenntnisphilosphie offensiv Stellung8. Die Abhängigkeit der Dworkin'schen Theorie von diesen kontroversen Positionen9 macht sie ebenso angreifbar wie unanfechtbar. Angreifbar ist Dworkins Theorie, weil sie zugleich politische- und Moralphilosophie, Erkenntisphilosophie und unausgesprochen auch Anthropologie ist. Fast unanfechtbar ist sie, weil Dworkins Argumentation im wesentlichen stimmig ist und seine Konzeption interner Wahrheit wenig Einfallstore für skeptische Einwände bietet. Diese Polarität zwischen dem zum Widerspruch herausfordernden Charakter und der inneren Geschlossenheit der Schriften Dworkins erklärt vielleicht auch das Ausmaß der Diskussion, die sie ausgelöst haben. Auch Dworkinsright-answer thesis , seine These, daß es in (fast) jedem Rechtsfall eine allein richtige Entscheidung gibt, ist im Rahmen seiner Interpretationstheorie schlüssig behauptet. Allerdings ist ihr ein WertRelativismus inhärent, der von Dworkin nicht offengeigt wird. Unstimmigkeiten und Unzulänglichkeiten ergeben sich, wenn man Fälle betrachtet, in denen nur einer der beiden streitenden Parteien oder aber gar keiner Partei Individualrechte im Dworkin'schen Sinne zustehen können10. Hier zeigen sich die Grenzen des Dworkin'schen Denkgebäudes, das das Recht auf den Schutz der Autonomie des Individuums reduziert. 5 Dworkin, TRS, S. 67 f., 79,283,340. 6 Dworkin, LE, S. 134. 7 Mit dessen liberaler Theorie der Gerechtigkeit hat Dworkins Theorie gleicher Achtung und Sorge einiges gemein. 8 Rawls versucht kontroverse philosophische Fragen möglichst zu umgehen. Vgl. Rawls, Justice as Fairness: Political not Metaphysical, S. 230 f.: "method of avoidance". 9 Dworkin, TRS, S. VIII. 10 Man denke an den Bereich staats- und verwaltungsorganisationsrechtlicher, planungsrechtlicher Fragen.
Zusammenfassung
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Wie die vorliegende Arbeit zu zeigen versucht hat, ist Dworkins allgemeine Theorie des Rechts, ungeachtet der Schwierigkeit, der Dworkin'schen Positionen habhaft zu werden, erstaunlich geschlossen. Sie ist eine Art Gesamtkunstwerk11: "politics, art, and law are united, somehow in philosophy"12, das von der Vision einer besseren Zukunft getragen wird. Diese hegt in einem durch das Ideal gleicher Achtung und Sorge geprägten Liberalismus. Diesen egalitären Liberalismus meint Dworkin durch die evolutionäre, interpretative Umgestaltung eines in den Grundstrukturen bejahten politischen Gemeinwesens erreichen zu können.
11 Vgl. zur Definition eines Gesamtkunstwerkes als eine Vereinigung und Überlagerung von Politik und Kultur unter Vorgabe einer besseren Zukunft Verspohl, Funkkolleg Kunst, SBBVI, S. 11. 12 Dworkin, MP, S. 166.
Verzeichnis der Schriften Ronald Dworkins
Die in den beiden Sammelbänden Taking Rights Seriously und A Matter of Principle zusammengefaßten, schon zuvor veröffentlichten Aufsätze Drorkins sind nicht nochmals einzeln in das Verzeichnis aufgenommen, es sei denn sie wurden für die Wiederveröffentlichung wesentlich überarbeitet. Dworkins wichtigste Schriften Taking Rights Seriously A Matter of Principle und Lan?s Empire werden abgekürzt mit den Kürzeln TRS, MP und LE zitiert. Judicial Discretion, in: 60 (1963) The Journal of Philosophy 624 - 638 Does Law Have a Function? A Comment on the Two-Level Theory of Decision, in: 74 (1965) Yale Law Journal 640 - 651 Philosophy, Morality, and Law - Observations Prompted by Professor Fuller's Novel Claim, in: 113 (1965) University of Pennsylvania Law Review 668 - 690 The Elusive Morality of Law, in: 10 (1965) Villanova Law Review 631 - 639 There Ought Be a Law, in: The New York Review of Books, 14.3.1986, S. 18 - 22 Philosophy and the Critique of Law, in: Wolff, Robert Paul (Hrsg.); The Rule of Law, New York 1971, S. 147 -170 The Law of the Slave Catchers, in: London Times Literary Supplement, 5.12.1975, S. 1437; und: "Justice Accused" (Leserbrief), in: London Times Literary Supplement, 9.1.1976, S. 35, Spalte 1 (Hrsg.) The Philosophy of Law, Oxford 1977 Seven Critics, in: 11 (1977) Georgia Law Review 1201 -1267 No Right Answer?, in: Hacker, P./Raz, J. (Hrsg.); Law, Morality, and Society, Essays in Honour of H. L. A. Hart, Oxford 1977 Social Science and Constitutional Rights: the Consequences of Uncertainty, in: 6 (1977) Journal of Law & Education 3-12 The Rights of Myron Färber, in: The New York Review of Books, 26.10.1978, S. 34ff; und: The Rights of Myron Färber: An Exchange, in: The New York Review of Books, 7.12.1978, S. 39 ff. Taking Rights Seriously, 2. erweiterte Auflage, London 1978 (zitiert als TRS); deutsch: Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt/M. 1984 Soulcraft, Rezension zu George F. Will, The Pursuit of Happiness, and Other Sobering Thoughts, in: The New York Review of Books, 19.10.1978, S. 18 f. How to Read the Civil Rights Act, in: The New York Review of Books, 20.12.1979, S. 37 - 43; und: How to Read the Civil Rights Act: An Exchange, Ronald Dworkin Replies in: The New York Review of Books, 15.5.1980, S. 44 f. What is Equality?; Part 1: Equality and Welfare, in: 10 (1981) Philosophy and Public Affairs 185 - 246; Part 2: Equality of Resources, in: 10 (1981) Philosophy and Public Affairs 283 - 345 Commentary (Diskussionsbeiträge), in: 56 (1981) New York University Law Review 525 - 544 "Natural" Law Revisited, in: 34 (1982) University of Florida Law Review 165 -188 Law as Interpretation, in: 9 (1982) Critical Inquiiy 179 - 200 My Reply to Stanley Fish (and Walter Benn Michaels): Don't Talk about Objectivity Any More, in: Mitchell, W. J. T.; The Politics of Interpretation, Chicago 1983, S. 287 - 313
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mit
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