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German Pages 408 Year 2017
Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.) Re/produktionsmaschine Kunst
Theater | Band 92
Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)
Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Forschungszentrums Sozial- und Kulturwissenschaften Mainz (SoCuM).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Vorwort | 9
R e / produk tion und T heaterwissenschaft Kategorienwechsel Zur jüngeren Kritik an theaterwissenschaftlichen Körperkonzepten Matthias Warstat | 15
Re/produktionsmaschine Theaterwissenschaft Herausforderungen durch immersive Theater formen Doris Kolesch | 31
K örperdiskurse , K örperpolitiken Dispositive professionellen Schauspielens Anja Klöck | 51
Nichtkönnen, Nichtverstehen Zur politischen Bedeutung einer Disability Aesthetics in den Darstellenden Künsten Benjamin Wihstutz | 61
PhänoGenoMene Ausschluss und Einstand postmigrantischer Körper Veronika Darian | 75
Kategorisierung Flüchtling Willkommenskultur und die Handlungsmacht politischer Theaterinter ventionen Anika Marschall | 89
Schauspielen und/als Kritik Sarah Ralfs | 103
I nstitutionelle R e / produk tionsmechanismen Schauspieler/innen zwischen Institution und Profession Zur Relevanz ethnischer Kategorisierungen im deutschen Sprechtheater am Beispiel des Künstler vermittlungswesens Hanna Voss | 117
Der Joker im Ensemble Zur Re/produktion von Schauspieler/innen und Typen im deutschen Stadttheater Ellen Koban | 133
Junge Kunst oder wahre Kunst? Institutionelle Reproduktion durch die Subjektivierung ›Nachwuchskünstler/in‹ in Festivalformaten Benjamin Hoesch | 147
Re-/Produktionsmaschine Bürgerbühne? Eva Holling & Katrin Hylla | 161
A lternative I nszenierungsstrategien Pascha(s) auf dem Prüfstand Überlegungen zur Besetzungspraxis in Mozar ts Die Entführung aus dem Serail Constanze Schuler | 177
Cross-Dressing und Queerness auf der Bühne Konvention versus Irritation Katharina Rost | 193
Address unknown – Return to Sender Zurückweisende Sprechakte und alternative Körperbilder in zeitgenössischen Per formances Philipp Schulte | 205
Mentale und materielle Schubladen Inszenierungsstrategien bei James Leadbitter und She She Pop als Inventur analytischer Methoden Nikola Schellmann | 217
R e / produk tion im K ontext T anz »Das große Gesetz der Wiederholung …« Zur praktischen Herstellung tanzender Körper und ihrer Kategorisierungen Stefanie Husel & Sophie Merit Müller | 231
Offene Manipulation im weißen Akt Reflexionen über race und gender in The Last Attitude Marcel Behn | 245
Funktionale Körper der Oberfläche Aktanten im Tanz Antony Hamiltons Nadine Civilotti | 259
A lternative K örperkonzepte Von der Lust im fremden Körper zu denken und zu sein Das Unheimliche der offenen Manipulation im zeitgenössischen Sprechtheater Beate Hochholdinger-Reiterer | 275
Der monströse Körper Fragmentierung und Rekombination von Figurenkörpern in Chair de ma Chair von Ilka Schönbein/Theater Meschugge Franziska Burger | 287
D ekonstruk tion durch K unst -P aare Re-Produktionsmaschine Paar? Dekonstruktionen von Beziehungsbildern in der Gegenwar tskunst Jenny Schrödl | 301
»Daß ich eins und doppelt bin?« Ähnliche Differenzen bei Abramović und Ulay Maxi Grotkopp | 313
H istorische V erhandlungen von G ender und R ace Der Körper Jesu Der Oberammergauer Christus als Chiffre alternativer Männlichkeiten im ausgehenden 19. Jahrhunder t Julia Stenzel | 325
Bob Taylor, der schwarze Major Blackface Minstrelsy im deutschen Kaiserreich Frederike Gerstner | 339
Minstrelsy Zur Ethnisierung innergesellschaftlicher Konflikte jenseits der Blackface-Maske Julian Warner & Oliver Zahn | 353
Zwischen Erscheinen und Verschwinden Reproduktion Brechts in klassenkampf (svendborg 1938/39) von Lothar Trolle Julia Lind | 365
P rak tiker / innen in der D iskussion Re/produktionsmaschine Theater? Ein Gespräch über Einstellungs- und Besetzungsfragen oder die Normierungen von Körpern M. M. Ludewig, M. Müller, R. R. Reimann, M. Yeginer & K. Becker | 381
Beiträger/innen | 399
Vorwort
Thema des vorliegenden Sammelbandes ist die soziale Unterscheidung von Menschen, die sich im Rahmen von künstlerischen Produktions- und Rezeptionsprozessen insbesondere an den sichtbar ausgestellten Körpern der Darsteller/innen1 vollzieht. Der Ausgangspunkt dieser Thematik ist die Problematisierung tradierter Strukturen und Vorstellungen als institutionelles Fundament künstlerischer Praktiken im Bereich des deutschen Sprechtheaters. Seit dessen Entstehung im ausgehenden 18. Jahrhundert re/produzieren diese nicht nur (kanonisierte) Kunst, sondern auch (privilegierte) Künstler/in nen, insbesondere Schauspieler/innen. Was es bedeutet, dass der Körper als ausführendes Agens und aufführendes Medium von Kultur und kulturellen (Identitäts-)Kategorien fungiert, wie in Anlehnung an Judith Butlers Theorie der Performativität von Geschlecht formuliert werden kann, offenbart sich im deutschen Stadttheatersystem in all seiner Ambivalenz: Während sich ›die Kunst‹ mehrheitlich auf freiheitliche Prinzipien wie Gleichberechtigung und Toleranz beruft und soziale Kategorisierungen auf der Bühne als solche auszustellen und zu verflüssigen vermag, integriert die Institution bei Weitem nicht alle darstellenden Künstler/innen. So prägen beispielsweise normative, in den (Bildungs-)Kanon eingeschriebene Vorstellungen die Erwartungen der Rezipient/innen vor sowie die Entscheidungen der Produzent/innen hinter der Bühne in Bezug auf die ›typgerechte‹ Besetzung von Rollen wesentlich mit. Gegenläufige Beispiele, wie die Darstellungen King Lears durch Marianne Hoppe oder Barbara Nüsse, die Besetzung des Prinzen von Homburg mit Samuel Koch oder die ›Verkörperung‹ Lopachins durch Taner Şahintürk, hintergehen und befragen dabei sinnfällig die eingeschriebenen Strukturen und Vorstellungen des deutschen Theatersystems.
1 | Mit der Verwendung des Slashs für jedwedes Geschlecht von Personen sowie genderneutraler Formulierungen wird im Rahmen des Sammelbandes auf eine geschlechtergerechte Sprache Wert gelegt.
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Friedemann Kreuder, Ellen Koban & Hanna Voss
Im Rahmen des Sammelbandes werden einerseits die in Praxis und Theorie aktuell viel diskutierten Paradoxien des deutschen Sprechtheaters als einer Re/produktionsmaschine sozialer Unterscheidungen von Körpern (mit Potenzial zur Umstrukturierung und Umkodierung) unter einer interdisziplinären Perspektive näher beleuchtet und andererseits das Forschungsfeld für die vielfältigen Formen Darstellender Kunst geöffnet. Wie verhält es sich beispielsweise im Tanz- und Musiktheater, in der freien Szene und Performancekunst oder im internationalen und historischen Vergleich? Welche Akteur/innen oder Strukturen tragen in den jeweiligen Feldern zur Re/produktion 2 normativer Kategorisierungen des künstlerischen Personals bei? Durch welche künstlerischen Praktiken wird die Kontingenz sozialer, körperbasierter Unterscheidungen zur Schau gestellt? Wie lassen sich Paradoxien hinsichtlich der Relevanz sozialer Unterscheidungen sowohl innerhalb der jeweiligen Felder als auch in den Darstellenden Künsten insgesamt erklären? Die in diesem Band versammelten Beiträge bilden die Vorträge und Ergebnisse des Symposiums »Re/produktionsmaschine Kunst: Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten« ab, das vom 3. bis 5. März 2016 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattgefunden hat. Das Symposium wurde von dem theaterwissenschaftlichen Teilprojekt der Mainzer DFG-Forschergruppe 1939 »Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung«3 in Kooperation mit der Dahlem International Network Junior Research Group »Kunst-Paare. Beziehungsdynamiken und Geschlechterverhältnisse in den Künsten« (FU Berlin in Kooperation mit dem MPI für Bildungsforschung) veranstaltet und durch die finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), des Forschungszentrums Sozial- und Kulturwissenschaften Mainz (SoCuM) sowie des Mainzer Instituts für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft ermöglicht. In Kooperation mit dem Staatstheater Mainz und in dessen Räumlichkeiten konnte im Rahmenprogramm des Symposiums zudem eine öffentliche Podiumsdiskussion mit Theaterpraktiker/innen zum Thema »Re/produktionsmaschine Theater?«
2 | Die Schreibweise des ambigen Begriffes der Re/produktion, der auf die potentielle Gleichzeitigkeit von repetitiven, konstruktiven und transgressiven Akten im Kontext sozialer und ästhetischer Unterscheidungen verweist, bleibt den jeweiligen Autor/innen überlassen. 3 | Die thematische Ausrichtung des Symposiums wie des Sammelbandes geht grundlegend auf das Forschungsprogramm der interdisziplinären DFG-Forschergruppe »Un/ doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung« (FOR 1939) zurück. Allen Kolleg/innen möchten wir an dieser Stelle für den fachlichen und inspirierenden Austausch danken.
Vor wor t
durchgeführt werden, die in Form eines redigierten Gesprächs am Ende des Sammelbandes abgedruckt ist. Allen Kooperationspartnern und Gästen sowie den Autor/innen des Sammelbandes danken wir für ihre produktive Beteiligung und die konstruktive Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle zudem unseren studentischen Hilfskräften, die das Symposium in seiner Vorbereitung und Durchführung tatkräftig unterstützt haben: Oliver Maaßberg, Florian Mahlberg, Mathias Müller, Yana Prinsloo und insbesondere Noa Winter und Miriam Flemming. Noa Winter und Jochen Lamb waren uns darüber hinaus eine große Hilfe bei der Erstellung dieses Bandes. Mainz, im April 2017 Friedemann Kreuder, Ellen Koban und Hanna Voss
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Re/produktion und Theaterwissenschaft
Kategorienwechsel Zur jüngeren Kritik an theaterwissenschaftlichen Körperkonzepten Matthias Warstat
Wenn man in Bezug auf die Künste nach der sozialen Unterscheidung von Menschen fragt, die an Körpern vollzogen wird, geht es im weitesten Sinne um gesellschaftliche Ein- und Ausschlussmechanismen, als deren Grundlage ein bestimmtes Körperbild fungiert. Wie werden im Theaterdiskurs Körper klassifiziert und kategorisiert, mit welchen Körperbegriffen wird gearbeitet, welche Körperkonzepte schaffen die Voraussetzung für eine Privilegierung oder Abwertung von Akteurinnen und Akteuren durch das Kunstsystem im Allgemeinen oder durch die Institution Theater im Besonderen? In einem gewissen Umfang, den man allerdings auch nicht überschätzen sollte, wirkt auch die Theaterwissenschaft am Theaterdiskurs mit. Von daher stellt sich die Frage, wie in der Theaterwissenschaft, in theatertheoretischen Diskussionen, Körper kategorisiert und klassifiziert werden. Was die deutschsprachige Theaterwissenschaft und ihren Umgang mit Körpern auf der Bühne anbelangt, bilden die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine entscheidende Phase. In den achtziger Jahren hatte die Theatersemiotik als Theorie der theatralen Zeichen die Denk- und Arbeitsweisen der Theaterwissenschaft grundlegend verändert. Ohne die Theatersemiotik als einem sich international stark etablierenden Diskurs wäre zum Beispiel die Durchsetzung der Aufführungsanalyse als Methode nicht (oder zumindest nicht ohne Weiteres) möglich gewesen. Von der Zeichentheorie ausgehend entwickelte sich auch ein anspruchsvoller Blick auf die Körper des Theaters. Die Körper der Schauspieler/innen wurden als Zeichenkörper aufgefasst, deren Bedeutungen, aber eben auch deren Konnotationen, es in Bezug auf je spezifische Rezeptionskontexte auszuloten galt. Es wurde systematisch danach gefragt, welche Bedeutungszuweisungen und Klassifikationen sich auf bestimmte Körper richten ließen. Dabei berücksichtigte man, dass Körper nicht einfach statisch im Bühnenraum stehen, sondern in Bewegungen aller Art sowie in
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gestische und mimische Interaktionen involviert sind. Das Ziel bestand darin, ein ganzes Ensemble von Zeichen zu verstehen, in welchem die Körper ein besonders dynamisches, schwer zu analysierendes Element darstellten. Da feministische Theorie und Gender Studies in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft vergleichsweise spät rezipiert wurden, ist in theatersemiotischen Analysen aus den achtziger Jahren von einer kritischen Reflexion der Klassifikationssysteme gender, race und class noch nicht viel zu merken. Ich würde dennoch behaupten, dass die Theatersemiotik das theoretische und begriffliche Potenzial hatte, Fragen nach gender, race und class zu integrieren. Ansätze dazu sind in den vorhandenen Arbeiten jedenfalls zu erkennen: Indem man sich für die sogenannte ›Dominantenbildung‹ innerhalb von Aufführungstexten interessierte, war implizit klar, dass Machtrelationen innerhalb von Wahrnehmungsdispositiven thematisiert werden mussten. Indem versucht wurde, die jeweils zentralen Signifikanten innerhalb von Zeichenensembles ausfindig zu machen, wurde danach gefragt, von welchen Körpern die Bedeutungsproduktion innerhalb der Aufführung entscheidend abhing und welche anderen Körper im Hintergrund blieben oder das System gleichsam von außen, als Ausgeschlossene, stabilisierten. In den viel gelesenen Theatersemiotik-Büchern der Zeit von Patrice Pavis1, Anne Ubersfeld2, Keir Elam3, und Erika Fischer-Lichte4 fällt eine Neigung zu Aufführungsbeispielen auf, in denen Motive von Gender und Sexualität wichtig sind, darunter die berüchtigten Vater-Tochter-Szenen aus den bürgerlichen Trauerspielen des 18. Jahrhunderts.5 So scheint es nicht übertrieben zu konstatieren, dass die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Körpern und ihren Klassifizierungen im Grundgerüst der Theatersemiotik angelegt war. Aber die Theatersemiotik blieb, gerade im deutschsprachigen Raum, nicht lange unangefochten. Schon Mitte der neunziger Jahre drängten andere Perspektiven in den Vordergrund. Die sich etablierende Phänomenologie des Theaters ging von einem völlig anderen Körperverständnis aus.6 An dieser Stelle kommt es auf genaue Formulierung an: Denn es wäre undifferenziert und letztlich auch unzutreffend, der Phänomenologie vorzuwerfen, dass sie den 1 | Pavis 1976. 2 | Ubersfeld 1977. 3 | Elam 1980. 4 | Fischer-Lichte 1983. 5 | Fischer-Lichte lässt in ihrer Semiotik des Theaters auch keinen Zweifel daran, dass mit der »Erscheinung des Schauspielers als Zeichen« komplexe gesellschaftliche Verhandlungsprozesse um »Identitäten« verbunden sind, vgl. Fischer-Lichte 1983, Bd. 1, 94-99. 6 | Vgl. Roselt 2008, bes. 214-261 in Bezug auf Körper im Theater; allgemeiner zu einem phänomenologischen Körperverständnis Waldenfels 2000.
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Blick auf Körperkategorisierungen und Klassifikationen entlang der Trennlinien von gender, race und class verstellt hätte. Es gab und gibt genügend Theaterwissenschaftler/innen, die sich gleichermaßen für Phänomenologie und Gender Studies interessieren und in ihren Forschungen, etwa zur Stimme, beide Perspektiven zu verbinden verstehen.7 Dennoch war und ist das Körperverständnis der Theaterphänomenologie mit der Erforschung von Kategorisierungsprozessen nicht leicht vermittelbar, denn an die Stelle des ›Körpers‹ rückt in vielen phänomenologischen Aufführungsanalysen der ›Leib‹. In der Tradition von Merleau-Ponty und Husserl, aber mehr noch eigentlich von Hermann Schmitz und Gernot Böhme, wird der Leib als etwas verstanden, das spürbar, aber nicht eingrenzbar und deshalb kaum kategorisierbar ist.8 Der Leib manifestiert sich in seinen Ausstrahlungen und Ekstasen, die von den Ausstrahlungen und Ekstasen des/der Wahrnehmenden nicht zu trennen sind, sodass eine Unterscheidung von Subjekt und Objekt nahezu unmöglich wird. Wo es aber kein Objekt gibt, müssen Klassifizierungen ins Leere laufen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen einerseits einer Theaterphänomenologie, die sich an Husserl und Schmitz orientiert, und andererseits den Erkenntnisinteressen der Gender Studies, aber auch der Postcolonial Theory, die eine Analyse von Körperkategorisierungen dringend erfordern, ist in der Theaterwissenschaft bis heute nicht vollständig gelöst. Angesichts gegenwärtiger Forschungsschwerpunkte wie Theater und Globalisierung, Theater und Migration, koloniale und postkoloniale Theatergeschichte, aber auch für die Zukunft der Aufführungsanalyse erscheint eine Reflexion des Verhältnisses von phänomenologischen und differenztheoretischen Perspektiven wichtiger denn je. Das Interesse an einer Phänomenologie des Theaters war – trotz Bert O. States’ Great Reckonings in Little Rooms. On the Phenomenology of Theater (1985) – im englischsprachigen Forschungsdiskurs lange nicht so ausgeprägt wie in Deutschland. Entsprechend gestaltete sich die Hinwendung zu Körperkonzepten der Gender Studies wie auch der Postcolonial Theory in der anglofonen Theaterforschung unproblematischer. Man braucht nur den in den Vereinigten Staaten in der theaterwissenschaftlichen Lehre viel verwendeten Reader Critical Theory and Performance aufzuschlagen, um sofort festzustellen, dass dort in Kapiteln zu »Postcolonial Studies«, »Critical Race Theory«, »Gender and Sexuality« oder auch »After Marx« Fragen nach sozialen Unterscheidungen, die an Körpern vollzogen werden, breit berücksichtigt sind.9 Im Zentrum 7 | Vgl. etwa Kolesch 2006 und 2008; Schrödl 2006, 2009 und 2013. 8 | Philosophische Ausarbeitungen des leiblichen Spürens finden sich etwa bei Schmitz 2011 (vgl. bes. 7-28 zur Ausdehnung und Dynamik des Leibes) oder Böhme 2008, bes. 119-163. 9 | Reinelt/Roach 2007.
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des Buches steht die Beschäftigung mit dem Körper als Politikum im Theater, mit Machtverhältnissen und Mechanismen der Exklusion und Inklusion, die auf Körperklassifizierungen beruhen. Insgesamt, so ließe sich etwas pauschal resümieren, bestand in der internationalen Community kein Mangel an Forschungen zu einer Politik der Körper im Theater, wobei institutionelle und praxeologische Fragen, wie sie in der Mainzer DFG-Forschergruppe 1939 Un/ doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung berücksichtigt werden, in der Tat zu kurz kamen. Die Fokussierung auf Fragen von Körper und Identitätspolitik war im englischsprachigen Diskurs von Theatre Studies und Performance Studies zeitweise so stark, dass sich in jüngster Zeit verständlicherweise schon wieder Absetzbewegungen und Umorientierungen zeigen. So wird zum Beispiel auf einen Sachverhalt hingewiesen, der schon in Texten zum Postdramatischen Theater von Hans-Thies Lehmann und anderen aus den neunziger Jahren häufig beschrieben wurde: Dass wir im Theater natürlich nicht immer so etwas wie ›Körper‹ vor Augen haben. Es gibt in postdramatischen Inszenierungen eine ästhetische Tendenz zur Entkörperlichung, zur Defiguration, und insbesondere auch den Versuch, anthropozentrische Körperbilder zu konterkarieren.10 Aus dem Blickwinkel der US-amerikanischen und britischen Forschungsdiskussion ist vollkommen verständlich, dass einzelne Kolleginnen und Kollegen danach fragen, wie man mit solchen Entkörperlichungstendenzen theoretisch umgehen soll. In diesem Sinne argumentiert Martin Puchner in seinem Buch The Drama of Ideas. Platonic Provocations in Theatre and Philosophy (2010). Puchner sieht das vorige Jahrhundert insgesamt als eine Blütezeit des Schreibens über Körper; er erwähnt Artaud, Foucault, Deleuze, aber auch das Interesse für körperliche Praktiken in den Gender Studies und der Sexualitätsforschung. In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts habe dieses Interesse seinen Höhepunkt erreicht. Puchner erkennt darin Manifestationen eines Phänomens, das er als »Corporealism« bezeichnet – ein schwer zu übersetzender Begriff, der zwischen Körperlichkeit und Realismus changiert.11 In seiner Bezugnahme auf Platon versucht Puchner nicht, dem Körper seinen Rang als wichtigen Gegenstand der Geistes- und Kulturwissenschaften streitig zu machen. Jedoch könne man mit Platon dem Sprechen über Körper auf der Bühne einige trügerische Sicherheiten entziehen. Die platonische Tradition mache darauf aufmerksam, dass das Theater nicht der richtige Ort sei, um auf festen Fundamenten, Funktionen und Kategorisierungen von Körpern zu beharren:
10 | Vgl. das Körperkapitel bei Lehmann 1999, 361-400. Zu Formen der Defiguration vgl. auch Brandstetter/Peters 2003. 11 | Vgl. Puchner 2010, 193f.
Kategorienwechsel »The theater, after all, would be an odd place to insist on the grounding of bodies, since it takes bodies and places them on ontologically slippery ground. In the theater, everything is up for grabs; you can’t trust your eyes, and nothing is what it seems; bodies and things are put on boards that might signify the world, as Schiller has it, but which are not, in and of themselves, the world.«12
Von einer platonischen Sicht ausgehend, die Ideen und abstrakte Formen als realer betrachtet als konkrete Körper, gelangt Puchner (mindestens implizit) zu einer Skepsis gegenüber Versuchen, den Körper in den Mittelpunkt einer Politik des Theaters zu stellen. Für die deutschsprachige Forschungslandschaft deutet sich das Problem an, dass sie von solchen skeptischen Einwänden gegen körper- und identitätspolitische Fragen zu einem Zeitpunkt erreicht wird, zu dem diese Fragen hierzulande, gerade in Bezug auf Theater, noch lange nicht ›abgearbeitet‹ sind. Und dies erscheint als ein durchaus weitreichendes Problem, weil eben nicht nur Puchner den Körperbegriff der Gender- und Postcolonial Studies in Frage stellt, sondern diverse weitere, in den Geisteswissenschaften zur Zeit einflussreiche Theorierichtungen mit andersgearteten Körperkonzepten aufwarten. In diesem Zusammenhang soll in den folgenden Abschnitten, jeweils kurz und sehr ausschnitthaft, auf Affekttheorie, Objekttheorie und Akteur-NetzwerkTheorie eingegangen werden.
A ffek t theorie Die zeitgenössische Affekttheorie stellt tradierte Körperbegriffe sehr grundsätzlich in Frage. Ich beschränke mich hier auf den Körperbegriff von Brian Massumi, der viel Einfluss gerade auf geisteswissenschaftliche Affektstudien gewonnen hat. In Massumis Nachdenken über Affekte löst sich die Bindung von Körpern an Subjektpositionen und Identitätskonzepte weitgehend auf. Sein Schreiben über Körper ähnelt der Leibphilosophie darin, dass auch er die Körper so entschieden in einem Dazwischen situiert, dass sich eine Objektivierung bzw. Klassifizierung letztlich als unmöglich erweist: »Wenn im Dazwischen begonnen wird, dann ist die Mitte, in der man sich befindet, der Bereich der Relationen. Es sind gegenwärtige Relationen, denn alles dreht sich um das Ereignis. […] Den Affekt beziehungsweise diesen gefühlten Moment der körperlichen Bewegung intersubjektiv zu nennen, führt in eine falsche Richtung, wenn intersubjektiv so verstanden wird, dass wir von einer Welt ausgehen, in der bereits vorgeschaffene Subjekte existieren beziehungsweise eine vorgegebene Struktur an subjektiven Stand12 | Puchner 2010, 194f.
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Matthias Warstat punkten besteht, die nur noch von den Subjekten eingenommen werden müssen. […] Bevor das Subjekt auftaucht, kommt es zu einer Vermischung, zu einem Feld aufkeimender Beziehungen, die zu überfüllt und heterogen sind, um intersubjektiv genannt zu werden. […] Für mich ist der Körper dieser Bereich der Vermischung, aus dem Subjektivität entsteht. Er ist das Zusammenkommen der Welt, um sie im Hier und Jetzt zu erfahren, bevor Kategorien wie Subjekt oder Objekt zugeschrieben werden können.«13
Zwei Aspekte fallen an diesem relationalen Körperbegriff auf. Erstens: Massumi ist weit davon entfernt, Begriffe wie Subjekt oder Objekt ganz aufzugeben. Seine Affekttheorie bestreitet durchaus nicht, dass in Situationen irgendwann Subjekte entstehen und Objekte behandelt werden. Zweitens aber: Der Körperbegriff steht bei Massumi gerade an einer Position, wo noch keine Subjekte, Objekte und daran sich knüpfende Identitäten erfahren werden können. ›Körper‹ ist bei ihm eine recht amorphe Kategorie der Vermischung, eigentlich eine Trans-Kategorie, transindividuell, relational, nicht eingrenzbar auf einzelne Entitäten, fest umrissene Dinge oder gar Individuen. Der Satz: »Ein Körper kommt auf die Bühne«, wäre in Massumis Terminologie absolut unsinnig. (Es ist aber auch unabhängig von Massumi kein besonders guter Satz.) Eine an Massumi orientierte, affekttheoretisch inspirierte Aufführungsanalyse müsste sich mit dem Problem herumschlagen, Körper eigentlich nicht individualisierend beschreiben zu dürfen. Sie müsste in der Deskription von einer klassifizierenden Zuweisung von Attributen ganz absehen. Ohne eine solche Zuweisung und dann Diskussion von Attributen kommen aber gerade jene Aufführungsanalysen nicht aus, die auf gendertheoretische Fragen oder Erkenntnisinteressen der Postcolonial Theory abzielen. Von Massumi ausgehend ergibt es übrigens auch keinen Sinn, dem oder der Analysierenden zu empfehlen, er oder sie müsse vor dem Schreiben erst einmal ›die eigene Subjektposition‹ klären und – bitteschön – explizit machen. Affekttheoretisch gedacht erweisen sich solche Positionen als derart instabil und per se verflochten, dass sie sprachlich gar nicht auf den Punkt gebracht werden können.
O bjek t theorie Eine zweite kurze Betrachtung soll der Objekttheorie gewidmet werden. Einige Beiträge aus dieser Richtung stehen dem Posthumanismus nahe, und dass Posthumanismus gut mit Gender Theorie vereinbar ist, ist seit Donna Haraways Cyborg-Manifesto erwiesen,14 aber es gibt auch posthumanistische Tendenzen, die identitätspolitisch schwerer anschlussfähig sind. Die Objekt13 | Massumi 2010, 71-74. 14 | Vgl. Haraway 1990.
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theorie von Graham Harman (The Quadruple Object, 2011), die ich hier anführen möchte, ist in ihren Grundzügen dem sogenannten ›spekulativen Realismus‹ zuzuordnen, denn Harman schreibt über reale Objekte, die aus seiner Sicht unabhängig von menschlicher Wahrnehmung existieren. Eine gemeinsame Überzeugung jener Philosophen (meist Männer), die der Richtung des spekulativen Realismus um Quentin Meillassoux zugerechnet werden, liegt in der Kritik an einem ›Korrelationalismus‹, der sich Objekte nur in Bezug auf wahrnehmende Subjekte vorstellen kann. Argumentationen des spekulativen Realismus sind bemüht, diese im modernen philosophischen Denken verwurzelte Bindung von Phänomenen an menschliche Wahrnehmungssubjekte aufzulösen. Im Zuge dessen gewinnen die Objekte der Welt ein neues, eigenes Gewicht. Harmans Objektbegriff ist so weit gefasst, dass darunter Äpfel, Flugzeuge, Blumen, Geister, Elfen, aber eben auch Schauspieler/innen und Dramenfiguren Platz haben. Man kann bei Harman deshalb von einem posthumanistischen Ansatz sprechen, weil sein Objektbegriff keinen substanziellen Unterschied zwischen menschlichen Körpern einerseits und unbelebten Dingen andererseits macht.15 Ein Objekt ist bei Harman autonom, in sich geschlossen und jenseits aller Relationen existent. Infolge dieser Setzung muss sich der wahrnehmende Mensch damit abfinden, dass Objekte nicht nur in seiner Wahrnehmung oder in Bezug auf seine Perspektive vorhanden sind. Ein Apfel in Kansas City hängt dort am Baum, selbst wenn wir ihn gerade nicht sehen oder schmecken können. Schauspieler/innen leben auch weiter, wenn sie nicht auf der Bühne stehen und von niemandem angeschaut werden. Um diese Autonomie der Objekte zu markieren, unterscheidet Harman zwischen sensual objects und real objects. Das Objekt, wie es von einer Betrachterin oder einem Betrachter sinnlich wahrgenommen wird, nennt er sensual object.16 Daneben gibt es bei ihm aber auch Objekte in Gestalt von real objects. Real objects sind vorhanden, auch ohne dass sie irgendjemand wahrnimmt. Umgekehrt gilt: Niemals kann ein solches Objekt umfassend oder gar vollständig wahrgenommen werden. Das reale Objekt ist stets mehr als seine sinnlichen Anmutungen und die Liste seiner einzelnen Eigenschaften.17 Auf diese Weise entsteht ein Weltbild, in dem der Mensch als Wahrnehmender keine entscheidende Rolle mehr spielt. Seine Dynamik bezieht das Harman’sche Modell nicht aus Relationen zwischen Objekten, sondern aus spezifischen Polaritäten und Spannungsverhältnissen innerhalb jedes einzelnen Objekts. Der Titel des Buches, The Quadrupel Object, ließe sich mit der Wendung »Das Objekt als Geviert« überset-
15 | Vgl. Harman 2011, 7-19. 16 | Vgl. Harman 2011, 20-34. 17 | Vgl. Harman 2011, 35-68.
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zen, denn Harman ist stark an Heideggers Idee des »Gevierts« orientiert.18 Ob er dieser Denkfigur in seiner Argumentation tatsächlich gerecht wird, kann hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Für die Beschäftigung mit Theater anregend ist jedenfalls jener viergliedrige Objektbegriff, den Harman aus der »Geviert«-Idee entwickelt. Demnach muss in Bezug auf jedes Ding unterschieden werden zwischen dem sinnlich gegebenen Objekt und dem realen Objekt, das auch unabhängig von jeder Wahrnehmung existiert. Darüber hinaus muss aber auch zwischen dem Objekt und seinen einzelnen Qualitäten unterschieden werden, wobei man hinsichtlich der Qualitäten noch zwischen den sinnlich wahrnehmbaren Anmutungen und den realen Eigenschaften zu differenzieren hat.19 So verweist das viergliedrige Objektmodell Harmans auf Spannungsverhältnisse, die an jedem einzelnen Objekt festgestellt werden können: Die Objekte, die wir wahrnehmen, verändern sich und wechseln ihre Anmutungen, obwohl sie dieselben bleiben. Ein Apfel, der allmählich verschrumpelt und farblich von sattem Rot in fauliges Braun wechselt, bleibt dennoch derselbe Apfel. Ein Mensch, der älter wird und Ansichten wie Aussehen verändert, ist immer noch derselbe Mensch. Neben diesem zeitlichen Spannungsverhältnis von Stabilität und Wandel besteht ein räumliches, das sich zwischen Relationalität und Nicht-Relationalität abspielt: Ein reales Objekt, das sich an einem bestimmten Ort befindet, kann an einem ganz anderen Ort sinnlich wirksam werden. Es fällt mir zum Beispiel nicht schwer, mir jetzt und hier den indischen Tänzer Navtej Johar vorzustellen, obwohl sich dieser gerade in New Delhi aufhält. Dort entfaltet er seine Realität, auch wenn wir ihn gerade nicht wahrnehmen, geschweige denn mit ihm sprechen können. Reale Menschen und reale Dinge, die sinnliche Qualitäten haben, existieren an Orten, an denen wir vielleicht niemals sein werden. Die Dramenfigur Ophelia ist gegeben, ohne dass wir sie gerade in einem Theater vor uns sehen. Auch die Schauspielerin Judith Rosmair20 lebt und agiert jetzt in diesem Moment, obwohl wir sie nicht sehen und sie vielleicht nicht einmal auf einer Bühne steht. Zu allen diesen Objekten kann ich eine gedankliche Beziehung herstellen, ohne mich in einer direkten Relation zu ihnen zu befinden.21 Was heißt das nun für die Verwendung von Körperkategorien in Theaterdiskursen? Es heißt sicher nicht, dass die Zuweisung von wertenden Attributen zu Körpern irrelevant würde. Die sinnlichen Qualitäten, die Harman 18 | Vgl. bes. Harman 2011, 82-94. 19 | Vgl. Harman 2011, 95-99. 20 | Sie spielte die Ophelia in der Hamlet-Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne, Premiere am 17. September 2008. Im Jahr 2014 ist die Rolle von Jenny König übernommen worden. 21 | Vgl. Harman 2011, 99f.
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als Oberflächenerscheinungen von Objekten wie Körpern beschreibt, werden weiterhin zum Gegenstand von Ein- und Ausschlussmechanismen, politischen Vereinnahmungen und sozialen Zurückweisungen werden. Zugleich jedoch widerspricht die Annahme von »realen Objekten«, die unabhängig von menschlichen Bezugnahmen und Praktiken bestünden, einem performancetheoretischen Körperbegriff eklatant. Wenn Harman darüber hinaus dazu aufruft, die Beziehungen zwischen unbelebten Gegenständen keinesfalls weniger wichtig zu nehmen als die Beziehungen zwischen Menschen,22 wird endgültig klar, dass Aufführungen aus seiner Perspektive konzeptionell neu gefasst werden müssten. Es wäre nicht mehr und nicht weniger zu leisten, als die Beziehung zwischen Zuschauer/in und Bühnengeschehen aus dem Zentrum des Aufführungsbegriffs zu verbannen. Die Relation zwischen zwei Requisiten auf der Bühne müsste dieselbe Aufmerksamkeit erhalten wie die Relation zwischen Publikum und Akteur/innen. Für die Aufführungsanalyse hätte das gravierende Konsequenzen. Die Perspektive des/der Analysierenden, aus der am ehesten Mensch-Mensch- und Mensch-Objekt-Beziehungen thematisiert werden können, indem der/die Analysierende seine/ihre eigene Sicht auf die Menschen und Objekte der Aufführung reflektiert, wäre in ihrer Bedeutung und Tragfähigkeit grundsätzlich in Frage zu stellen. Eine etwas krude politische Konsequenz aus Harmans Argumentation soll auch nicht unerwähnt bleiben: Wichtigstes Ziel für eine Politik des Theaters in Harmans Sinne müsste es im Grunde auf Jahre hinaus sein, für die Rechte von unbelebten Objekten auf der Bühne einzutreten. Diese unbelebten Objekte sind von der Theatertheorie für mehrere Jahrhunderte gegenüber den Schauspieler/innen so vehement missachtet worden, dass es in Bezug auf Theater eigentlich kein wichtigeres politisches Programm geben kann, als die Requisiten, Objekte und Dinge auf der Bühne zu rehabilitieren.
A k teur -N e t z werk -Theorie Eine solche Politik für die Dinge würde wohl auch Bruno Latour gefallen, der schon im Jahr 2001 ein »Parlament der Dinge« einberufen wollte.23 In diesem Abschnitt sollen mögliche Konsequenzen aus der Akteur-Netzwerk-Theorie für die Thematisierung von Körpern in der Aufführungsanalyse angedeutet werden. Auffallend ist, dass die Akteur-Netzwerk-Theorie für bestimmte Spielarten von Theaterhistoriografie eine Rolle spielt, während sie noch eher selten auf die Analyse des Gegenwartstheaters bezogen wurde. Je mehr allerdings 22 | Vgl. Harman 2011, 136f. 23 | Vgl. Latour 2001. Die französische Originalausgabe von 1999 war allerdings anders betitelt.
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über die institutionelle Dimension von Theater geforscht und diskutiert wird, desto naheliegender erscheint die Beschäftigung mit Akteur-Netzwerk-Theorie, denn die Analyse von Institutionen gehört zu den wichtigen Anwendungsbereichen dieser Theorie. Akteur-Netzwerk-Theorie böte auf den ersten Blick auch eine Möglichkeit, die Positionierung von Körpern entweder in der Institution Theater oder im Produktionsprozess einer Inszenierung oder vielleicht sogar in der Prozessualität einer einzelnen Aufführung zu beleuchten. Von dieser Überlegung ausgehend wäre nach dem Körperbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie zu fragen. Ein gemeinsamer Nenner in den zahllosen Versuchen, Akteur-Netzwerk-Theorie zu erklären, besteht darin, deren Quintessenz gerade nicht in einer topografischen Analyse ›fertiger‹ Netzwerke zu situieren. Man könnte sich Analysen dieser Art zu Körpern im Theater sofort vorstellen, bis hin zu Skizzen, Diagrammen oder anderen grafischen Versuchen eines ›Mappings‹, das den Körper der Schauspielerin oder des Schauspielers ins Zentrum eines weit verzweigten Netzes von Relationen rücken würde. Die Relation zur Regisseurin könnte in einem solchen Netzmodell genauso abgebildet werden wie die Beziehung zu einem bestimmten Requisit oder zum Textbuch. Latour hat jedoch vielfach darauf hingewiesen, dass ihm Netzdiagramme dieser Art zu statisch und letztlich wohl auch zu strukturalistisch erscheinen. Mehr als ganze Netzwerke, die in räumlichen Modellen abzubilden wären, sind für die Akteur-Netzwerk-Theorie zeitliche Prozesse der Assoziierung von Interesse; d.h. es geht um die Handlungsmodi oder Assoziationsweisen, mit denen heterogene Elemente in einen Zusammenhang gelangen. In seinem Buch Modes d’Existence betreibt Latour ein solches Umdenken von Netzwerken in Handlungsmodi bzw. Existenzweisen konsequent. Das Denken in Existenzweisen führt hier dazu, dass kaum noch von Entitäten oder abgrenzbaren Systemen die Rede ist und entsprechend auch der Körperbegriff wenig Verwendung findet – wenngleich viele der beschriebenen Existenzweisen durchaus körperlich grundiert sind. So deutet sich ein Begriffssystem an, das sich nicht selbst auf die problematische Operation einer Klassifizierung von Körpern einlässt, sondern stattdessen Prozesse und Handlungsweisen klassifiziert, die nicht eigens als körperlich ausgewiesen werden. Insofern ist auch in der Akteur-Netzwerk-Theorie eine gewisse Entkörperlichungstendenz zu beobachten. Die Reproduktion von Körpern klingt in Latours radikal-prozessual orientiertem Schreiben über Existenzweisen zum Beispiel folgendermaßen: »Appelons donc [REP] pour REPRODUCTION (en insistant bien sur le ›re‹ de re-production), le mode d’existence par lequel une entité quelconque franchit d’hiatus de sa répétition, définissant ainsi d’étape en étape une trajectoire particulière, l’ensemble obéissant à des conditions de félicité particulièrement exigeantes: être ou n’être plus! Sans surprise, notons [REF] (pour RÉFÉRENCE) l’établissement des chaînes définies par
Kategorienwechsel l’hiatus entre deux formes de nature différente et dont la condition de félicité consiste en la découverte d’une constante qui se maintient à travers ces abîmes successifs, dessinant une autre forme de trajectoire qui permet de rendre les lointains accessibles en tapissant le trajet par le mouvement à double sens de mobiles immuables.« 24
Die genaue Deskription und Analyse von Prozessen, Bewegungen und »Trajektorien« (unter dem Oberbegriff der Existenzweisen bzw. der modes d’existence) geht hier tendenziell zu Lasten einer Beschreibung und Thematisierung des Körpers selbst. Man kann sich gut vorstellen, dass die Re/produktionsmaschine Kunst in ihren Funktionen und Mechanismen transparent wird, wenn man sie auf die Existenzweisen befragt, die ihrem Wirken zugrunde liegen. Wenn allerdings die Körper und deren Grenzen hinter der Betrachtung von Prozessen und Bewegungen ganz zurückstehen, dann kann auch die Kategorisierung von Körpern und deren Reproduktion durch die Künste kaum durchschaut und kritisiert werden. Diese Kritik, der gerade heute eine große (theater-)politische Dringlichkeit zukommt, kann mit den Mitteln einer Akteur-Netzwerk-Theorie Latour’scher Prägung nur schwer geleistet werden. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass die Arbeit mit Latour’schen Kategorien in historiografischen Forschungszusammenhängen leichter fällt als in gegenwartsbezogenen Projekten. Wenn man sich über die Re/produktionsmaschine Kunst und insbesondere über die Institution Theater Gedanken macht, liegt es nahe, damit politische Anliegen zu verbinden: Wie können Prinzipien der Gleichberechtigung und der Toleranz, wie sie in kulturpolitischen Schaufensterreden hochgehalten werden, zumindest annähernd auch in den institutionellen Strukturen der Kunst abgebildet werden? Wie müssen die Ein- und Ausschlussmechanismen des Stadttheatersystems reformiert werden, um den Zugang von Schauspielerinnen und Schauspielern zu diesem System weniger von einer Klassifizierung der Körper abhängig zu machen? Solche Fragen zielen auf eine Analyse von Machtverhältnissen wie auch von Formen sozialer 24 | Latour 2012, 101. In der deutschen Übersetzung von Gustav Rößler lautet die Passage: »Nennen wir also [REP] beziehungsweise REPRODUKTION (indem wir sehr auf dem ›Re‹ der Reproduktion insistieren) den Existenzmodus, durch den eine beliebige Entität den Hiatus ihrer Wiederholung überschreitet und so von Etappe zu Etappe eine besondere Trajektorie definiert, wobei das Ganze besonders anspruchsvollen Gelingensbedingungen gehorcht: sein oder nicht sein! Und nennen wir, das ist keine Überraschung, [REF] (für REFERENZ) die Einrichtung von Ketten, die definiert werden durch den Hiatus zwischen zwei Formen unterschiedlicher Natur, deren Gelingensbedingungen in der Entdeckung einer Konstante besteht, die sich über diese sukzessiven Abgründe hinweg aufrechterhält; sie bilden eine andere Form von Trajektorie, die es erlaubt, die Ferne zugänglich zu machen, indem sie den Weg mit der in beiden Richtungen verlaufenden Bewegung der unveränderlichen Mobile pflastern.« (Latour 2014, 149.)
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Ungleichheit – und gerade in der Operationalisierung solcher Analysen hat die Akteur-Netzwerk-Theorie traditionell nicht ihre Stärken.
P erspek tiven Mit Affekttheorie, Objekttheorie und Akteur-Netzwerk-Theorie sind drei jüngere theoretische Entwicklungen bzw. Strömungen benannt, die der Analyse, Diskussion und Kritik von Körper-Klassifizierungen nicht automatisch entgegenkommen. Alle drei Richtungen nehmen Einfluss auf gegenwärtige Theaterdiskurse und werfen methodologische Fragen auf; dabei lenken sie den Blick zunächst eher weg vom einzelnen, begrenzten, sozial situierten Körper. Die konkrete Situation und die Grenzen des Körpers müssen jedoch erfasst und analysiert werden, wenn aus der Analyse heraus Impulse für die politische Diskussion gesetzt werden sollen. Dagegen weisen gerade affekttheoretische Ansätze, aber mit Einschränkungen auch Objekttheorie und Akteur-NetzwerkTheorie, auf eine ständige Überschreitung und Relativierung von Körpergrenzen hin: Körper treten aus sich heraus, affizieren ihre Umgebung (auch über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg), sperren sich gegen begrenzende Zuschreibungen und sind schon deshalb politisch und sozial nicht leicht zu lokalisieren und zu kategorisieren. Gerade in den performativen Künsten kommt es nicht selten zu einer Transgression von zuvor klar fassbar erscheinenden Konturen, Grenzen und Positionen von Körpern. Mit Körpern auf der Bühne verbindet sich fast regelmäßig das Versprechen einer Überschreitung, und diese Überschreitungen können unterschiedliche Richtungen einschlagen: von der mimetischen Figuration über Prozesse der Verwandlung und Hybridisierung bis hin zur Auflösung von Körpergrenzen oder gar zur Erfahrung von Entkörperlichung. Diese Potenziale des exponierten Körpers in Aufführungen hervorhebend, kommt man trotzdem nicht umhin, die institutionellen Restriktionen und das heißt die Exklusionsprinzipien des Theatersystems zu konstatieren, mit denen Schauspielerinnen und Schauspieler schon konfrontiert sind, bevor sie die Bühne einer konkreten Kunst- bzw. Theaterinstitution überhaupt ein erstes Mal betreten haben. Der potenziellen ästhetischen Offenheit von Aufführungen steht eine restriktive und selektive Geschlossenheit der Institution Theater gegenüber. Für die Theaterwissenschaft besteht die Herausforderung darin, wie sie beide Phänomene gleichermaßen in den Blick nehmen und zueinander in Beziehung setzen kann. Auf methodischer Ebene verweist dies auf die Frage nach möglichen Verbindungen von Aufführungsanalyse und Institutionengeschichte: Wie kann man es schaffen, dass die Beschreibung der performativen Prozesse und ästhetischen Erfahrungen in Aufführungen einerseits und die Analyse von institutionellen Rahmenbedingungen und Exklusionsmechanis-
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men andererseits nicht einfach unverbunden nebeneinander stehen bleiben? Die Antwort der Akteur-Netzwerk-Theorie auf diese Herausforderung liefe vermutlich darauf hinaus, Beschreibungen immer mehr zu verfeinern und zu erweitern und, einem oft wiederholten Appell Latours folgend, nie aufzuhören zu beschreiben. Dies könnte bedeuten, die Beschreibung der (Kunst-)Institution bzw. ihrer Regeln und Mechanismen nach Möglichkeit direkt aus der Beschreibung des Aufführungsgeschehens und des Inszenierungsprozesses heraus zu entwickeln. Es dürfte keine größere Kluft zugelassen werden zwischen der Beschreibung einer Aufführung und der Analyse eines institutionellen Kontextes; oder, noch abstrakter gesagt: Phänomen und Kontext dürften gar nicht erst als zwei verschiedene Bereiche betrachtet werden. Sich aus der Theaterwissenschaft heraus mit Körperkategorisierungen zu beschäftigen, kann in eine komplizierte Diskussionslage münden, vor allem wenn die politische Situation an den Theatern und Kunstinstitutionen mitbedacht wird. Auf der einen Seite leisten Theaterwissenschaftler/innen Beiträge zu einer Diskussion, die endlich verstärkt an den Theatern selbst geführt wird. Die vergleichsweise breit rezipierte Blackfacing-Debatte, das Aufgreifen kolonialgeschichtlicher Themen in den Spielplänen und die Diskussion über die Frage, wie Geflüchtete auf der Bühne repräsentiert werden können, sind Anzeichen dafür, dass die nach wie vor virulenten Exklusionsmechanismen des Theatersystems in Deutschland genauer wahrgenommen und hinterfragt werden. Auch die beruflichen Diskriminierungen von älteren Schauspielerinnen werden häufiger als früher in den Theatern zur Sprache gebracht. Betrachtet man diese Entwicklung vor dem Hintergrund der in den vorangegangenen Abschnitten geschilderten theoretischen und diskursiven Tendenzen, dann zeigt sich einmal mehr, dass die Diskussion über Körper in den Geisteswissenschaften anderen Rhythmen folgt und andere Schwerpunkte setzt als die körperpolitische Debatte an den Theatern. Während die Ein- und Ausschlussmechanismen der Institution Theater entlang von gender, race und class etwa in Podiumsdiskussionen und Publikumsgesprächen an den Theatern selbst vermehrt zur Sprache kommen, zeichnen sich in der Theaterwissenschaft derzeit Theorieentwicklungen ab, die es eher wieder erschweren, Körper in den Registern von gender, race und class zu kategorisieren und zu lokalisieren. Daraus ergibt sich nicht zuletzt die Aufgabe, die politischen Implikationen von Affekttheorie, Objekttheorie und Akteur-Netzwerk-Theorie – und von deren Weisen, Körper zu konzeptualisieren und zu beschreiben – aufmerksam zu verfolgen. Veränderte theoretische Bezüge bedeuten in der Aufführungsanalyse nicht einfach eine permanente Erweiterung und Verfeinerung des Blicks, sondern eine Verschiebung der Perspektive, die auch neue blinde Flecken hervorbringen kann.
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Re/produktionsmaschine Theaterwissenschaft Herausforderungen durch immersive Theaterformen Doris Kolesch
Der Sammelband Re/produktionsmaschine Kunst problematisiert das deutsche Stadt- und Staatstheatersystem mit seinen institutionalisierten, sowohl offenen als auch verdeckten Ein- und Ausschließungen. Dabei wird nicht zuletzt die Reproduktion normativer Vorstellungen von Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit, Ethnizität und weiteren hierarchisierten wie hierarchisierenden Kategorien in der Institution Theater thematisiert. Ein solches Unterfangen ist wichtig und keineswegs selbstverständlich, fußt doch das gegenwärtige (Selbst-) Verständnis von Theatermacher/innen, Theaterkritiker/innen wie auch Theaterbesucher/innen in nicht unerheblichem Maße darauf, Theater als eine kulturelle Institution zu verstehen – und gelegentlich wohl auch misszuverstehen –, die gesellschaftliche Normen, Werte und Vorstellungen nicht einfach nur darstellt und affirmiert, sondern vielfach kritisch hinterfragt und insofern, zumindest im Vergleich mit anderen Institutionen wie Schule, Rechtsprechung oder Militär, eher unverdächtig scheint, gesellschaftliche Normen, Werte und etablierte Vorstellungen bloß zu reproduzieren. Mein Beitrag adressiert das deutsche Theatersystem nicht direkt, sondern gleichsam indirekt, von seinen Rändern, seinen Entgrenzungserscheinungen und Überschreitungen her, indem eine Tendenz des Gegenwartstheaters in den Blick genommen wird, die sich in den letzten Jahren zunehmender Verbreitung und Popularität erfreut und deren Spezifikum wie Bedeutung die Theaterwissenschaft gerade erst zu erforschen beginnt. Es handelt sich um immersive Theaterformen, die derzeit so virulent und umjubelt wie umstritten zugleich sind und von so unterschiedlichen Künstler/innengruppen wie Interrobang, Lundahl & Seitl, Ontroerend Goed, Punchdrunk, Rimini Protokoll, SIGNA oder Shunt – um nur einige wenige zu nennen – bespielt und erprobt werden. Ein wesentlicher Grund für den Erfolg ebenso wie für die geradezu seismografische Signifikanz dieser relativ jungen Ausprägung des Gegenwartstheaters liegt meines Erachtens darin, dass sie Verhaltens- und Rezeptionsweisen, Erfahrungen des Involviertseins und affektive Dynamiken auf-
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ruft, hybridisiert und modifiziert, die sowohl aus den neuen Medien wie Video, Computerspiel oder Virtual Reality vertraut erscheinen, zugleich aber auch aus lebensweltlichen Bereichen wie Assessment Centern, Life-Rollenspielen, Themenparks, Murder-Mystery-Weekends oder Geocaching sowie schließlich aus Theater und Performance-Kunst. Mithin wäre die variierte und in einen neuen medialen, künstlerischen oder institutionellen Rahmen transferierte Re/produktion unterschiedlichster Wahrnehmungs- und Handlungsweisen, die ansonsten vermeintlich klar geschiedenen Bereichen zugeordnet sind (entweder Kunst oder Lebenswelt; entweder Assessment Center oder Kunst), ein Charakteristikum wie Erfolgsmerkmal immersiver Aufführungsformate. Im Kontext dieses Beitrags werde ich exemplarisch auf eine Arbeit der Künstlergruppe SIGNA eingehen, die seit gut einem Jahrzehnt sehr erfolgreich PerformanceInstallationen entwickelt und damit eine Spielart immersiver Theaterformen wesentlich mitprägt. Einem größeren Publikum bekannt geworden sind SIGNA durch ihre Arbeit Die Erscheinungen der Martha Rubin, die 2008 zum Theatertreffen eingeladen worden war und in der gut 40 Performer/innen ein Containerdorf neun Tage lang rund um die Uhr bewohnt haben, dort gelebt, gegessen und geschlafen haben und vielfältigen Tätigkeiten nachgegangen sind: von der Friseurin über den Barmann, die Peepshow-Mitarbeiterin oder die Wahrsagerin bis hin zum militärischen Wachpersonal. Die Besucher/innen von Ruby Town waren eingeladen, am Leben der Bewohner/innen teilzunehmen und konnten sich mit ihrer Theaterkarte bis zu zwölf Stunden am Stück in dem Dorf aufhalten und frei bewegen. Weitere Arbeiten wie Die Hades Fraktur (2009), Die Hundsprozesse (2011), Club Inferno oder Schwarze Augen, Maria (beide 2013), um nur einige nachfolgende Produktionen zu nennen, entwickelten das Prinzip der performativen Installation einer Parallelwelt, in der es um Begierden, Ängste und Abgründe, um Erotik, Sexualität, Abweichung und Todesangst ebenso gehen kann wie um kafkaeske Perversionen von Bürokratie, Macht oder Arbeit, weiter. Die Theaterbesucher/innen sind dabei keine still im verdunkelten Zuschauerraum sitzenden Zuschauer/innen mehr, sondern sie werden zu Teilnehmer/innen, Mitspieler/innen, ja Mitarbeiter/innen an und in dieser Parallelwelt. Dabei werden sie im Wortsinne mobilisiert, indem sie entweder von Performer/innen bzw. sprachlichen, akustischen, gestischen oder visuellen Anweisungen, bisweilen auch Aufgaben durch das inszenierte Geschehen geführt werden oder indem sie relativ frei ihren je eigenen Parcours durch die inszenierten Räume verfolgen. Die konkreten Bewegungen, Handlungen, Nachfragen oder Aktivitäten der Besucher/innen, die sich mehr oder weniger auf die unbekannten Situationen einlassen können, gestalten entsprechend das Kunstereignis wesentlich mit. In Hamburg war von November 2015 bis Januar 2016 Söhne & Söhne zu erleben, ein »uraltes, weltumspannendes Familienunternehmen« (so die Ankün-
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digung auf der Webseite des Schauspielhauses Hamburg), dessen Geschäftsmodell bis zuletzt unklar und diffus blieb, doch dessen Hamburger Filiale sich offenbar in einer nicht näher spezifizierten Krise befand: Immer wieder waren Mitarbeiter/innen spurlos verschwunden und der Kontakt zur »Urfiliale« war seit Wochen oder gar Monaten unterbrochen. Doch dazu später mehr. Zunächst erlaube ich mir, erneut zum Titel Re/produktionsmaschine Kunst zurückzukehren und diesen inspirierenden Titel noch etwas auszuweiten, denn nicht nur die Kunst, sondern auch die sich mit den Künsten beschäftigenden Wissenschaften stellen nicht nur Produktions-, sondern ebenso Reproduktionsmaschinen dar. Eine Problematisierung der Re/produktionsmaschine Theaterwissenschaft müsste beispielsweise fragen: Wie tragen wir Theaterwissenschaftler/innen mit unserer Arbeit, mit unseren Begriffen, Konzepten, Beschreibungen und Methoden ebenso wie mit der Institutionalisierung und Praxis der Theaterwissenschaft an Universitäten, auf Kongressen, in Publikationen und in Seminaren zur Perpetuierung bestimmter Vorstellungen von Kunst, von Kunstproduktion wie Kunsterfahrung sowie damit zusammenhängender Vorstellungen von Subjektivität, von Tradition und Innovation, von Kritik oder auch vom Zusammenhang von Genre, Wissen und Erfahrung bei? Wie schreiben wir etablierte Ein- und Ausgrenzungen fort, wann und warum halten wir unhinterfragt an vermeintlich Selbstverständlichem fest, wo doch die umfassende kritische Prüfung und Analyse Ziel jeglicher wissenschaftlicher Anstrengung sein sollte? Haben wir in der Theaterwissenschaft geeignete Verfahren, Methoden und Begrifflichkeiten entwickelt, um aufmerksam zu sein für Neues, um Augen, Ohren und Sinne zu schärfen für bislang Nicht-Bemerktes, um Ignoriertes zu erkennen? Am Beispiel eines aktuellen Grenzfalls der Gegenwartskunst, nämlich der Performance-Installation Söhne & Söhne von SIGNA, unternimmt der vorliegende Beitrag den Versuch, bestimmte Selbstverständlichkeiten der Theaterwissenschaft zu hinterfragen und kritisch auf ihre Voraussetzungen, Implikationen und Begrenzungen hin zu diskutieren. Angesichts rezenter Kunstereignisse und Kunsterfahrungen bedürfen meines Erachtens insbesondere zwei zentrale Konzepte der Theaterwissenschaft einer kritischen Betrachtung: Es handelt sich erstens um den theaterwissenschaftlichen Aufführungsbegriff, zweitens um die theaterwissenschaftliche Thematisierung des Zuschauens und das Wissen (bzw. Nichtwissen) der Theaterwissenschaft über das Publikum.
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E rste H er ausforderung : D ie A ufführung e xistiert nicht Der Aufführungsbegriff kann mit Fug und Recht als ein, wenn nicht als das zentrale Konzept der Theaterwissenschaft gesehen werden – und zwar sowohl mit Blick auf ihre Entstehung und institutionelle Etablierung zu Beginn des letzten Jahrhunderts als auch mit Blick auf ihre Professionalisierung und nachhaltige Verankerung im Konzert geisteswissenschaftlicher Disziplinen in den letzten fünf Jahrzehnten. Bekanntlich ging die Theaterwissenschaft aus der Abgrenzung vor allem von der Literaturwissenschaft und ihrem Gegenstand, dem Drama, hervor. Hierzu wurde die Aufführung als »soziales Spiel […] – ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem Alle Teilnehmer sind, – Teilnehmer und Zuschauer«1, wie Max Herrmann dies zu Beginn der 1920er-Jahre postulierte, als genuiner Gegenstand der neuen Disziplin gesetzt. Die Anerkennung des Aufführungsgeschehens als einer eigenständigen künstlerischen Leistung, die gleichwertig zu anderen künstlerischen Hervorbringungen aufgefasst wurde, war ein entscheidendes Moment in der Entwicklung und Etablierung der Theaterwissenschaft als einer eigenständigen Disziplin mit entsprechenden Begrifflichkeiten und Methoden. Seit den 1960er-Jahren wurde diese Bewegung gleichsam unter anderen Bedingungen noch einmal wiederholt und weitergeführt, indem die Methode der Aufführungsanalyse entwickelt wurde. Zudem intensivierte die Theaterwissenschaft den Dialog und Austausch sowohl mit anderen Geisteswissenschaften als auch mit den Sozialwissenschaften und prägte in diesem Zusammenhang die kulturwissenschaftlichen Leitbegriffe des Performativen und der Theatralität entscheidend mit, in denen Situationen und Szenen des Aufführens in künstlerischen wie außerkünstlerischen Zusammenhängen einen geradezu paradigmatischen Stellenwert einnehmen. Es wäre fahrlässig, die Relevanz und Leistung dieser Etablierung und Ausarbeitung des Aufführungsbegriffes in wissenschaftshistorischer, theoretischer und analytischer Hinsicht klein zu reden. Was jedoch problematisiert werden muss, ist zum einen die historische wie theoretische Bedingtheit des Aufführungsbegriffes. Zum anderen muss hinterfragt werden, ob und inwiefern der Aufführungsbegriff auch für gegenwärtige künstlerische Ereignisse, die – wie eingangs am Beispiel immersiver Theaterformen benannt – etablierte Gattungs-, Genre- und Kunstgrenzen überschreiten, eine ähnlich produktive Wirkung zu entfalten vermag, wie er dies für theatrale Ereignisse vom 18. bis 20. Jahrhundert getan hat und noch heute tut. Während zahlreiche durchaus prominente Stimmen in der Theaterwissenschaft den Aufführungsbegriff geradezu ontologisieren und essentialisieren, indem sie ihn auf ein flüchtiges, emergentes Geschehen in leiblicher Ko-Prä1 | Herrmann 1981, 19.
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senz von Akteur/innen und Zuschauer/innen zurückführen, von dem es – im Unterschied zu anderen Künsten wie der Literatur oder dem Gemälde – kein materielles Artefakt oder Substrat gibt, ist mit Ulf Otto daran zu erinnern, dass das inzwischen in der Theaterwissenschaft etablierte Verständnis von einer Aufführung eine historische Unterscheidung in Anschlag bringt, die auf massive diskursive und wissenschaftspolitische Interessen zurückgeführt werden kann. Die Theaterwissenschaft grenzt sich – und zwar sowohl in ihren Anfängen um 1910 bis 1930 als auch in ihrer Konsolidierungsphase ab den 1960erund 1970er-Jahren – nicht nur vom Drama und von der Literaturwissenschaft ab, sondern zugleich auch von den jeweils neuen Medien Film, Video, Fernsehen und Computer. Mit dem Begriff der Aufführung verklärt die Theaterwissenschaft ihren Gegenstand zu einem vermeintlich »antimedialen« Geschehen, wie Ulf Otto dies prägnant formuliert: »Mit dem paradoxen Konstrukt der Aufführung als flüchtiges Werk werden die Auftritte nicht nur in ihrer Leibhaftigkeit von den Vorschriften des Literaturtheaters befreit, sondern zeitgleich zum Schutz vor der kunstlosen Reproduktion der Medien und ihrem Hang zur profanen Popularität in Schutz und damit auch in Haft genommen. Erst aus der Abgrenzung von den alten und neuen Medien, von Schrift und Film, gewinnt die Theaterwissenschaft in ihren Anfängen Profil und Legitimation. Und an dieser Argumentationsfigur scheint sich in den letzten hundert Jahren nicht viel geändert zu haben.« 2
Die Fixierung auf den Aufführungsbegriff resultiert also aus Abgrenzungsstrategien der Theaterwissenschaft, die ihren Gegenstand sowohl vom Drama und der dafür zuständigen Literaturwissenschaft als auch vom Film und der sich etablierenden Film- bzw. Medienwissenschaft sowie schließlich von der vermeintlich kunstlosen Populärkultur zu separieren trachtet. Neben dieser wissenschaftsgeschichtlich wie diskursiv-theoretisch orientierten Kritik am Aufführungsbegriff stellt sich des Weiteren die Frage, inwiefern aktuelle Erscheinungen und Phänomene in Kunst und Populärkultur den Aufführungsbegriff an seine Grenzen bringen. So ist es wohl kein Zufall, dass Ulf Ottos Kritik des Aufführungsbegriffes aus seiner Beschäftigung mit Auftrittsphänomenen in den sogenannten neuen Medien, in Computerspielen, im Internet und in Sozialen Medien hervorgegangen ist. Ich möchte argumentieren, dass auch immersive Theaterformen wie SIGNAs Söhne & Söhne angeführt werden müssen, wenn es um die Grenzen des Aufführungsbegriffes geht. Um dies zu veranschaulichen, beschreibe ich im Folgenden zunächst einige wesentliche Charakteristika von Söhne & Söhne, um dann in einem weiteren Schritt mögliche Konsequenzen für das Konzept der Aufführung herauszuschälen. 2 | Otto 2013, 50f.
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Immersives Theater – und ich benutze diesen Begriff nicht als Gattungsbegriff, sondern zur Bezeichnung einer bestimmten Spielart der performativen Gegenwartskunst – bespielt häufig urbane Räume, welche nicht als Orte von Kunst institutionalisiert sind, wie leerstehende Fabrik- oder Bürogebäude, Brachflächen, U-Bahn-Tunnel oder S-Bahn-Bögen etc. Im Falle von Söhne & Söhne handelte es sich um die ehemalige Gewerbeschule für Bauhandwerker in Hamburg. Immersive Theaterformen kombinieren Darstellungsmuster aus Schauspiel-, Performance- und Installationskunst mit Elementen aus der Populärkultur, aus Film, Fernsehen und Unterhaltungsindustrie, aber auch mit Elementen aus der Arbeitswelt, dem Gesundheitssystem, der Psychotechnik, der Rechtsprechung und Bürokratie oder auch der Sexindustrie. In durchgestalteten, atmosphärisch dichten Räumlichkeiten, die nicht nur visuell, sondern auch akustisch, olfaktorisch, gustatorisch und materiell bezüglich der verwendeten Gegenstände, Stoffe und Texturen einen ganzheitlichen Wahrnehmungseindruck erwecken und perfekt durchinszeniert sind, werden begehbare Parallelwelten erzeugt, in denen sich die Teilnehmer/innen häufig für mehrere Stunden aufhalten, wobei sie mit den Performer/innen ebenso wie mit anderen Teilnehmer/innen interagieren. Bei Söhne & Söhne agierten pro Abend knapp 50 Performer/innen für und mit jeweils 70 Besucher/innen. In der gut sechsstündigen Performance-In stallation wurden die Besucher/innen als neue Beschäftigte der Firma Söhne & Söhne adressiert, dabei blieb die ganze Zeit über unklar, um welche Firma es sich bei Söhne & Söhne handelt, was sie herstellt oder welches Geschäft sie verfolgt. Die Theaterbesucher/innen als die neuen Firmenmitarbeiter/innen mussten an ihrem ersten Arbeitstag, oder besser: Arbeitsabend, einen individuell festgelegten Parcours durch verschiedene Abteilungen der Firma absolvieren. An präzise festgelegten Zeitpunkten, also beispielsweise um 19:07 Uhr und 30 Sekunden hatte man sich in den je vorgeschriebenen Bereichen der Firma einzufinden, wobei schon die Orientierung in dem weitläufigen Gebäude eine Herausforderung darstellte. In immer wieder neu zusammengesetzten Kleingruppen von sechs bis acht Personen waren dann unterschiedlichste Szenen und Situationen zu erleben. Es gab ein »Büro für interne Gesetze«, eine »Zentralabteilung für Expansions- und Potentialentwicklung« sowie eine »Abteilung für Resistenz-Schulung«; darüber hinaus existierte ein »Freizeitzentrum«, eine »Krankenstation«, eine »Abteilung für Kindheitsangelegenheiten« und eine »Abteilung für romantische Anliegen« sowie eine »Kantine« und natürlich das Büro des Filialleiters, den alle nur »Oikonomos«, also sinngemäß den obersten Haushälter, nannten (übrigens verkörpert durch Signa Köstler, mithin eine gegengeschlechtliche Besetzung in einem Kontext, der nicht zuletzt durch den Titel Söhne & Söhne männerbündische Strukturen deutscher Firmen thematisiert). Die Besucher/innen mussten in ihrem Status als neue
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Mitarbeiter/innen in jeder Abteilung unterschiedliche, sich in ihrer Sinnfälligkeit nicht erschließende Aufgaben erfüllen und wurden dabei verdeckt getestet und beurteilt, denn die Performer/innen, die als schon länger beschäftigte Angehörige von Söhne & Söhne agierten und jeweils mit einer umfassenden Arbeitsbiografie, einem »söhnlichen« Namen und einer persönlichen Geschichte individualisiert waren, bewerteten an jeder Station das Verhalten jeder einzelnen Teilnehmer/in auf einem eingangs ausgeteilten Fragebogen, dessen Kategorien und Bewertungsraster jedoch ebenfalls kryptisch blieben. Die Räume und die in ihnen erzeugten Atmosphären erinnerten an eine längst vergangene, aber nicht präzise zu datierende Zeit zwischen den 1960erund 1980er-Jahren. Ein wesentliches Moment insbesondere der Arbeiten von SIGNA scheint dabei zu sein, dass nicht einfach bekannte oder real existierende Räume in einem künstlerischen Kontext nachgebaut oder imitiert werden. Vielmehr werden Räume realisiert und begehbar, erfahrbar gemacht, die aus Filmen, aus Wach-, Wunsch- oder auch Alpträumen sowie aus Klischee- und Vorstellungsbildern vertraut scheinen. In einer Zeit, die von Debatten und Entwicklungen im Bereich der Virtual und Augmented Reality stark geprägt ist, in der Realitätserlebnisse zunehmend virtuell, insbesondere durch technologische Möglichkeiten zu erzeugen gesucht werden, geht SIGNA gleichsam den entgegengesetzten Weg und realisiert bis dato virtuell gebliebene Räume. Entsprechend wäre zu überlegen, ob die unbestritten vorhandene Faszinationsund Überzeugungskraft von SIGNAs performativen Rauminstallationen weniger darin besteht, dass hier andere, bekannte Räume künstlerisch akribisch in materieller Realität als konkret vorhanden und begehbar gestaltet werden, bis hin zur angestaubten Spinnwebe in der Zimmerdeckenecke, sondern dass die inszenierten Räume zum ersten Mal das Begehen, das Durchleben und die Berührung und ganzheitliche Wahrnehmung einer Welt ermöglichen, die ansonsten zumindest zu einem Großteil virtuell, imaginiert und eben nicht real existent ist – und zwar weil dieser inszenierte Raum die Realisierung verschiedener, sowohl individueller als auch kollektiver Imaginationen darstellt, die überlagert und ineinandergeschoben erscheinen.3
3 | SIGNAs Rauminstallationen machen sich einen Effekt zunutze, der u.a. auch von Cindy Shermans Film Stills bekannt ist. Diese Fotografien erzeugen einen irritierenden Effekt von Vertrautheit, insofern sie bezüglich ihrer Ikonografie, Cadrierung, Ausleuchtung und Posen der abgebildeten Figur, die immer von Sherman selbst verkörpert wird, wie Film Stills von bekannten Filmen wirken, die die Betrachter/in zu kennen und zu gesehen haben glaubt. Diese vermeintlich bekannten Filme jedoch existieren nicht. Sherman ist mithin einem kollektiven filmischen Imaginären auf der Spur. Was bei Sherman im zweidimensionalen Medium des Bildes realisiert wird, transponieren SIGNA in die dreidimensionale, mit allen Sinnen wahrnehmbare Realität.
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So erinnerte das vergilbte, überall leicht bis stark heruntergekommene Ambiente mit den strengen Performer/innen in beigen und mausgrauen, schlecht sitzenden Anzügen und Kostümen an eine Mischung aus sozialistischer Kaderschmiede, religiöser Sekte und Stasizentrale. Auf den Schreibtischen der Firma Söhne & Söhne gab es kaum Computer – und wenn, dann schienen sie direkt aus dem Technikmuseum geholt –, sondern analoge Telefone, alte Rechenmaschinen, Rechenschieber und andere Utensilien eines inzwischen längst vergangenen Arbeitsalltags. Selbst das allerorten benutzte Papier war konsequent vergilbt und angeschmutzt; es wirkte wie ein materieller Gruß aus einer unbestimmbaren Vergangenheit. In der »Abteilung für Kindheitsangelegenheiten« dominierten blau-rosa Pastelltöne und in primitiven, ausrangierten Eisenkinderbetten, die Assoziationen an Bilder rumänischer Kinderheime kurz nach dem Fall der Mauer weckten, lagerten bergeweise ausrangierte Stofftiere, während sich die neuen Mitarbeiter/innen mit zwei resoluten Kindergärtnerinnen in einen Stuhlkreis setzen und reihum vor allen Anwesenden ihre Mutter mit einem Spielzeugtelefon anrufen mussten, um ihr zu sagen, was man ihr schon immer einmal sagen wollte. Im »Freizeitzentrum« standen Partyhütchen, Luftschlangen und billiger Sekt bereit und die penetrant nach Krankenhaus riechende »Krankenstation«, in der die Teilnehmer/innen sich in Betten legen und das eigene Sterben imaginieren sollten, erinnerte weniger an ein reales, funktionsfähiges Krankenhauszimmer als vielmehr an die Räume in Ilya Kabakovs »›totaler‹ Installation« Treatment with Memories.4 Die verschiedenen Aufgaben, die von den Teilnehmer/innen in den Abteilungen zu erfüllen waren, erzeugten den Eindruck einer Mischung aus Assessment Center, therapeutischer Sitzung sowie Rollenspiel-Simulation. Immer wieder aber war man einfach auch nur Zuschauer/in einer nicht wirklich durchschaubaren Vorführung, konnte man obskure Rituale der Bestrafung oder auch eine Art Eheschließung beobachten, wurde Ohrenzeuge einer gewalttätigen Szene. Zwar wirkten einzelne Elemente oder partielle Sequenzen dieser Situationen durchaus vertraut und bekannt, doch war den Besucher/innen niemals wirklich klar, was bzw. wie hier gespielt und nach welchen Regeln agiert wurde. Während der gesamten Performance-Installation wurden die Teilnehmer/in- nen kontinuierlich mit unterschiedlichsten Verhaltens- und Rollenerwartungen konfrontiert, und zwar sowohl seitens der Performer/innen, seitens anderer Teilnehmer/innen ebenso wie seitens sich selbst; diese Verhaltens- und Rollenerwartungen verblieben jedoch konsequent im Impliziten und es war durchgängig unklar, welche Verhaltens- und Rollenerwartungen jeweils konkret zum Tragen kamen und welche der zahlreichen palimpsestartig übereinandergelagerten Rahmungen in einer Situation gültig waren: War man Theaterpublikum einer Hochzeitsaufführung, Teil einer Hochzeitsgesellschaft, unbeteiligte Zeu4 | Vgl. Kabakov 1995 und Weidemann 1998.
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gin einer Hochzeit oder keine dieser drei Optionen – oder alle drei auf einmal? Bis zuletzt blieb offen und unvorhersehbar, was jeweils als nächstes geschah. Einzig klar war schnell, dass die Beteiligung, die Verhaltensweisen, Antworten, Handlungen oder auch Handlungsverweigerungen der Teilnehmer/innen integraler Bestandteil des Geschehens waren, auf die alle, Performer/innen wie Teilnehmer/innen, reagieren mussten. Dafür sei exemplarisch ein Beispiel angeführt: Im »Büro für interne Gesetze« fragt die sich als »Ronda Sohn« vorstellende Leiterin, die resolut und diktatorisch auftritt und keinerlei Abweichung duldet, nachdem sie uns einige Gesetze und Regeln der Firma vermittelt hat, die Gruppe der Neuankömmlinge: »Möchten Sie etwas trinken, Mineralwasser mit oder ohne?« Zwei Männer in meiner Gruppe sagen: »Oh gerne, bitte mit!« Es wird ein Glas Wasser gereicht – dessen trübes Aussehen mit körnigem Bodensatz so zweifelsfrei wie plötzlich anzeigt, dass die Frage »mit oder ohne« nicht auf die erwartete Kohlensäure, sondern auf Salz bezogen war. Die Durstigen weigern sich, das Salzwasser zu trinken, Ronda Sohn doziert darüber, welch inakzeptable Verschwendung es angesichts der weltweiten Wasserknappheit sei, das Glas nicht zu trinken und duldet keinen Widerspruch. Es entspinnt sich ein kurzer Disput zwischen Performerin und Besuchern, gutes Zureden, Argumentieren und Bitten seitens der beiden Besucher zeigt keinerlei Wirkung auf Ronda, im Gegenteil: Sie kündigt an, dass die Gruppe – zu der neben den beiden durstigen jungen Männern noch eine Frau und ich selbst gehören – das Büro für interne Gesetze erst verlassen dürfe, wenn das Wasser ausgetrunken ist. Sie stellt darüber hinaus die Drohung in den Raum, dass wir vier durch die Verzögerung eventuell zu spät zu unseren Folgeterminen kämen. Eine Zeitlang bewegt sich gar nichts, unsere Kleingruppe steht unschlüssig vor der kleinen Küchenzeile des Büros, Ronda Sohn hält das Glas mit Salzwasser in der ausgestreckten Hand und den beiden Männern entgegen. Schließlich erbarmt sich die neben mir stehende Frau und trinkt das Glas mit fester Miene aus. Später, auf dem Gang frage ich sie, weshalb sie das Glas ausgetrunken hat und sie antwortet, sie wollte einfach, dass es weitergeht. Es ist wenig wahrscheinlich, ja eher unmöglich, dass diese Situation sich an anderen Abenden genau so wieder ereignet hat. Vielleicht wurde gar nicht gefragt, ob man etwas trinken wolle, vielleicht sagte niemand ja, vielleicht wurde auch eine andere Flüssigkeit gereicht – eine Besucherin einer anderen Aufführung von Söhne & Söhne berichtete davon, dass sie ein mit Haaren verschmutztes Wasserglas austrinken sollte.5 Nicht nur konstellieren sich die Be5 | Den Mitgliedern meines Hauptseminars zu »Immersion« sowie meines Forschungskolloquiums im Wintersemester 2016/17 danke ich dafür, dass sie zahlreiche Aufführungserlebnisse von Söhne & Söhne mit mir geteilt haben. Viele Erkenntnisse über Zuschauer/innenreaktionen verdanke ich Theresa Schütz, die im Rahmen des von mir
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sucher/innengruppen in den Abteilungen immer neu, auch die Szenen und Situationen, welche die Performer/innen in Grundzügen einstudiert haben und in die sie die Aktivitäten und Handlungen der Besucher/innen improvisatorisch integrieren, unterscheiden sich. Beispielsweise scheint es für einige Abteilungen unterschiedliche Skripte und Szenen zu geben, so konnte man in der »Abteilung für romantische Anliegen« mal einer Art Eheschließung beiwohnen, mal einer Unterwerfungs- und Vergewaltigungsszene, die in einem den Blicken entzogenen Wandschrank stattfand. Der für die Besucher/innen vorgeschriebene Parcours durch die Firmenabteilungen von Söhne & Söhne, der zu Beginn der Veranstaltung auf einem Klemmbrett ausgehändigt wird, ist individualisiert, sodass keine weitere Besucher/in den exakt gleichen Ablauf erlebt. Nach jeder Station werden die Gruppen aufgelöst und neu gemischt, niemand durchläuft alle Abteilungen der Firma, sondern jede/r verpasst einzelne Bereiche und hat dort keinen Zutritt. Zudem ändert sich jede Situation nicht nur durch das unvorhersehbare Verhalten der neuen Mitarbeiter/innen, sondern die Performer/innen greifen immer wieder einzelne oder auch zwei Teilnehmer/innen zu sogenannten one-to-ones oder eben one-to-twos heraus, sie verschwinden mit ihnen durch eine Seitentür oder in ein Nebenzimmer und führen dort eine Aktion durch, die allen anderen verborgen bleibt, während die Auswahl einzelner Personen durchaus offen für alle sichtbar durchgeführt wird. Noch mehr verkompliziert sich das Ganze durch die Tatsache, dass bei mehrmaligem Besuch erneut ganz andere Erfahrungen zu machen waren. Wer Söhne & Söhne zweimal oder gar mehrmals mitmachte, wurde als Performer/in integriert und mit kleinen Aufgaben betraut. Diese Personen wurden mit ihrem »söhnlichen« Namen – der ihnen am Ende des ersten Aufführungsbesuches verliehen worden war – angesprochen und innerhalb der Fiktion als neue Mitarbeiter/innen behandelt, ein Verfahren, das in Theater- und Performancekontexten noch weitgehend unbekannt ist, allerdings vergleichbar der Struktur von Computerspielen erscheint, in denen man durch Geschick, Können und Erfahrung jeweils höhere Spielelevels mit anderen Aufgaben und Herausforderungen erreichen kann. Diese ausführliche Schilderung zentraler Aspekte von Söhne & Söhne war notwendig, um darzulegen, dass es hier in einem radikalen Sinn keine Aufführung, schon gar nicht mehr im Singular, gibt. Wir sind konfrontiert mit einer extremen Diversität unterschiedlicher Aufführungen, doch die 70 unterschiedlichen Parcours, Narrationen und Rezeptionserfahrungen, die allabendgeleiteten Forschungsprojekts »Reenacting Emotions. Strategies and Politics of Immersive Theatre« im Sonderforschungsbereich »Affective Societies« u.a. zu SIGNA arbeitet und dabei auch Zuschauer/innenbefragungen und qualitative Interviews durchgeführt hat. Die Anekdote mit dem Wasserglas mit Haaren stammt von Joanna Noga.
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lich bei Söhne & Söhne zu erleben waren, gehen weit über die immer vorhandene Subjektivität individueller Wahrnehmung, Achtsamkeit und Sensibilität hinaus, die wir bei Prozessen der Kunstrezeption und bei Wahrnehmungserfahrungen allgemein immer mitbedenken müssen. Bei Performance-Installationen wie Söhne & Söhne handelt es sich vielmehr um Kunstereignisse, die strukturell darauf angelegt sind, den Wahrnehmungsgegenstand zu diversifizieren und zu individualisieren. Statt einer Aufführung am Abend gibt es eine unüberschaubare Serie von Aufführungsversionen, die sich in Struktur und Gesamtanlage ähneln, in ihrer konkreten Ausgestaltung jedoch signifikant unterscheiden. Die Multi- bzw. Polyperspektivik, die notwendig ist, um die konstitutive Diversität dieser Aufführungsversionen zu erfassen und in einem weiteren Schritt dann zu analysieren, ist von der Theaterwissenschaft bislang noch nicht einmal in Ansätzen entwickelt. So provozieren immersive Formate der Gegenwartskunst folgende Fragen: Wie kann die strukturelle Serialität und zugleich radikale Singularität einzelner Aufführungsversionen angemessen beschrieben und untersucht werden? Welchen Stellenwert können Beobachtungen und Überlegungen, die aus der Erfahrung einer einzelnen, konkreten Aufführungsversion resultieren, im Hinblick auf das künstlerische Gesamtereignis beanspruchen? Wie können wir Aussagen anderer Teilnehmer/innen überprüfen, die im Widerspruch zu eigenen Aufführungserfahrungen stehen? Die Theaterwissenschaft ebenso wie angrenzende Kunstwissenschaften müssen hier geeignete Methoden, Verfahren und Beschreibungsweisen entwickeln, um diese und ähnliche Fragen zu beantworten. Prägnant könnte die Herausforderung durch immersive Performance-Installationen und vergleichbare Formate wie folgt auf den Begriff gebracht werden: Der zentrale Gegenstand der Theaterwissenschaft, die Aufführung, löst sich in eine fast endlose Serie unterschiedlicher Aufführungsfacetten bzw. -versionen auf. Oder anders formuliert: Die Aufführung existiert nicht. Der gesellschaftlich-mediale Kontext dieser Entwicklung sei hier zumindest kurz vergegenwärtigt: Non-lineare, interaktive Erzähl- und Spielformen sind aus digitalen Medien, aus dem digital storytelling oder Computerspielen ebenso bekannt wie die Individualisierung von Internetnutzung durch sogenannte Tracking-Verfahren. Dabei wird jeder Aufruf einer Internetseite, jedes Versenden einer E-Mail oder jede Nutzung einer Smartphone-App gespeichert und analysiert, um aus dem konkreten Surfverhalten ein individuelles Nutzungsprofil zu erstellen. Die Aufzeichnung und Auswertung der im Netz hinterlassenen Spuren wird dazu verwendet, Internetnutzer/innen beim nächsten Surfen im World Wide Web mit individualisierten Werbe- und Seitenangeboten zu konfrontieren, die auf bisweilen gespenstische, bisweilen groteske Weise auf das bisherige Nutzungsverhalten abgestimmt sind – ein Verfahren, das insbesondere von Werbedienstleistern und anderen kommerziellen Anbietern genutzt und zu Geld gemacht wird. Wie schon bezüglich der Raumgestaltung
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lässt sich folglich insgesamt resümieren, dass die Arbeiten von SIGNA sich auf ebenso subtile wie grundsätzliche Weise mit avancierten Medientechniken und -technologien und deren Nutzung auseinandersetzen – und das, obgleich jede Besucher/in zu Beginn von Söhne & Söhne ihr Handy abgeben muss und die Performance-Installation – im Unterschied zu Arbeiten beispielsweise von machina eX oder Interrobang, die verschiedenste aktuelle Medientechniken in ihren Produktionen einsetzen und auch explizit thematisieren – bis auf wenige Ausnahmen gänzlich ohne Medientechnik auszukommen scheint.6 Es wäre also zu diskutieren, ob wir es bei SIGNAs Performance-Installationen, aber auch bei vergleichbaren Experimenten der Gegenwartskunst mit Arbeiten zu tun haben, die sich dem Aufführungsdispositiv entziehen, ohne dass dieses gänzlich unwirksam wird. Immersive Theaterformen zeigen mithin auf, dass das Aufführungskonzept nicht nur den Blick öffnet und Phänomene wahrnehmbar macht, sondern dass es unseren Blick und unser Denken zugleich auch begrenzt. Denn Aufführen ist im Deutschen entweder ein reflexives oder ein transitives Verb: Man kann sich aufführen, oder man kann etwas (ein Spektakel, eine Szene, ein Stück etc.) aufführen. Der Aufführungsbegriff ist also noch immer auf einen – wenn auch bisweilen immateriellen – Gegenstand (z.B. ein Thema) bezogen, der bzw. das aufgeführt wird. Was aber geschieht, wenn – wie bei Söhne & Söhne und zahlreichen vergleichbaren Performance-Installationen und Theaterformaten – gar nichts aufgeführt wird, sondern es um die Ermöglichung unterschiedlicher Szenen sozialen Kontakts und sozialer Interaktion geht? Hier sind Konzepte und Begrifflichkeiten zu entwickeln, die das konstitutiv theatrale Handeln in sozialen Situationen, das immer Auftritts-, Aufführungs- und Darstellungsdimensionen umfasst, wie Erving Goffman in The Presentation of Self in Everyday Life 7 ausgeführt hat, trennscharf vom Aufführungshandeln in Performance-Installationen und vergleichbaren Theaterformaten unterscheiden – denn die bislang für die Differenzierung von Aufführungshandeln im Alltag und Aufführungshandeln im Theater in Anschlag gebrachte Kategorie des Rahmens bzw. der jeweiligen situativen Rahmung erscheint hier, aus den oben angeführten Gründen, nicht mehr hinreichend.
6 | Zu diesen wenigen Ausnahmen gehören der Einsatz eines Mikrofons im Versammlungssaal sowie die Nutzung von (unsichtbarer) Audiotechnik, um das Gebäude der ehemaligen Gewerbeschule mit einem pulsierenden Basston, dem »Herzschlag der Firma«, zu durchziehen. 7 | Goffman 1959.
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Z weite H er ausforderung : W er trit t an die S telle › des Z uschauers ‹? Die Hinterfragung des Aufführungsbegriffes bringt zugleich ›den Zuschauer‹ und die Relation zwischen Akteur/in und Zuschauer/in ins Spiel, denn das Aufführungsdispositiv stellt die leibliche Ko-Präsenz von Akteur/innen und Zuschauer/innen zentral und erhebt damit die Zuschauer/in von einer bloß Zuschauenden zur Teilnehmer/in, ohne die eine Aufführung nicht stattfinden kann. Eine wichtige, wenn nicht dominante Strömung der Theaterwissenschaft der letzten Jahrzehnte kreiste entsprechend um die Entdeckung des Zuschauers, um eine bekannte Publikation von Erika Fischer-Lichte zu zitieren.8 Die im Rahmen der Performance-Kunst seit den 1960er-Jahren stattfindende Modifikation und Transgression des etablierten Verhältnisses von Akteur/innen und Zuschauer/innen gab dieser Entwicklung weitere Impulse. Die Relevanz der Zuschauer/in und des Publikums für die theaterwissenschaftliche Theoriebildung kann also nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch dieser herausgehobenen und zentralen Position der Zuschauer/in im Theoriegefüge steht eine eigentümliche Ignoranz gegenüber: Was weiß die Theaterwissenschaft konkret von der Zuschauer/in, vom Publikum? Es gibt kaum empirische Kenntnisse über das Publikum, seine Verhaltensweisen, Angewohnheiten, Ansichten oder auch Emotionen.9 Die existierenden Zahlen gehen kaum über Angaben zu Geschlecht, Einkommensverhältnissen, Bildungshintergrund sowie Häufigkeit von Theaterbesuchen hinaus und sind zumeist nicht aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive erhoben worden, sondern aus der Sicht der Marketing- und Öffentlichkeitsarbeit von Theatern 8 | Fischer-Lichte 1997. 9 | Der Soziologe Hubert Knoblauch untersucht Publikumsemotionen als kollektive Formen von Affektivität und kommunikativem Handeln am Beispiel von Publika bei Großveranstaltungen in Sport und Religion. Dabei werden unterschiedliche qualitative Methoden eingesetzt, unter anderem auch die Videoanalyse des Publikumsverhaltens (beispielsweise bei der La-Ola-Welle, bei Fangesängen oder anderen Formen koordinierter körperlicher Handlungen), vgl. Knoblauch 2017. Ein derartiges Untersuchungsdesign ist in der Theaterwissenschaft nicht gebräuchlich und wäre aufgrund spezifischer situativer Umstände wohl auch nur in einigen wenigen Aufführungssituationen anwendbar. Die meisten Theater und Künstler/innengruppen untersagen kategorisch den Einsatz solcher Mittel; bei SIGNA z.B. sind auch die aufwendig inszenierten Fotografien, die die Ausschnitte der Performance-Installationen mit Performer/innen, aber konsequent ohne Teilnehmer/innen zeigen, und für die zumeist der Fotograf Erich Goldmann verantwortlich ist, Teil der Gesamtinszenierung sowohl der jeweiligen Produktion als auch der ästhetisch-inszenatorischen Handschrift des von Signa und Arthur Köstler gegründeten Künstler/innenkollektivs.
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oder aus soziologischer bzw. kultur- und bildungspolitischer Perspektive, was ihre begrenzte Aussagekraft für genuin theaterwissenschaftliche, insbesondere ästhetische Überlegungen zur Folge hat.10 Die ambivalente Position der Zuschauer/in in theaterwissenschaftlichen Überlegungen spiegelt sich auch in der zentralen Untersuchungsmethode der Aufführungsanalyse wider. Die Aufführungsanalyse ist die einzige wissenschaftliche Methode, durch welche sich die Theaterwissenschaft auch methodisch von angrenzenden Kunstwissenschaften unterscheidet, wie der Kunstgeschichte, der Literatur- oder auch der Musikwissenschaft. Angesichts der Entgrenzung und Hybridisierung der Künste, die eine Unterscheidung der wissenschaftlichen Disziplinen anhand inhaltlicher Kriterien wie Kunstformen oder Kunstgattungen zunehmend problematisch macht, ein nicht trivialer Umstand. Die Methode der Aufführungsanalyse kommt bis heute nicht ohne die implizite Fiktion eines »idealen Zuschauers« aus, dessen Ähnlichkeit zum »impliziten« und »idealen Leser« der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik augenscheinlich ist. Die konsequente und notwendige Subjektivierung der Wahrnehmungsposition in der Aufführungsanalyse steht dabei in einem ungelösten Kontrast zu Verallgemeinerungen bestimmter Wahrnehmungen, Erfahrungen oder Erkenntnisse, die im Zuge von Aufführungsanalysen vielfach rege gemacht werden. Noch immer gilt also für ›den Zuschauer‹, was Dennis Kennedy in seiner Publikation The Spectator and the Spectacle aus dem Jahr 2009 so lakonisch wie provokant formuliert hat: Der Zuschauer sei »a pale hypothetical inference of the commentator’s imagination«11. Darüber hinaus muss mit Blick auf immersive Theaterformen die neue Rolle, die gänzliche andere Aktivität der Teilnehmer/innen thematisiert und reflektiert werden. Die dichotomische Gegenüberstellung von Akteur/in und Zuschauer/in sowie die durch die Vierte Wand induzierte ästhetische Distanz des bürgerlichen Theaters ist schon seit den historischen Avantgarden und weiter verstärkt mit dem Aufkommen der Performance-Kunst eingerissen worden. Im Bewusstsein, dass das Publikum in solchen Kunstereignissen zugleich als Zuschauende und als Partizipierende agiert, versuchten wichtige Theorieimpulse der letzten Jahre die Qualität und Modalität von Partizipation zu hinterfragen.12 Immersive Theaterformen wie SIGNAs Söhne & Söhne radikalisieren diese Entwicklung dadurch, dass in ihnen die Handlungen und Aktionen der Teilnehmer/innen zum integralen Bestandteil des künstlerischen Gesche10 | So legt beispielsweise der Deutsche Bühnenverein seit über fünfzig Jahren sehr detaillierte Theaterstatistiken vor. 11 | Kennedy 2009, 11. Vgl. auch Balme 2014, 12-14. 12 | Vgl. Bishop 2012; Miessen 2012; Rogoff 2005.
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hens werden. Meine bisherigen Ausführungen zeigten dies durch die Verwendung der synonym gesetzten Bezeichnungen Besucher/in, Zuschauer/in und Teilnehmer/in an. Mit Augusto Boal könnte man diesen neuen, anderen Zuschauer/innen-Typus als Spect-actor, als ›Zuschauspieler/in‹ bezeichnen.13 Boals Bezeichnung hat sich jedoch nie über den Kontext seines Unsichtbaren Theaters und seines Theaters der Unterdrückten hinaus durchgesetzt. Eine Übertragung des Boal’schen Begriffs auf immersive Theaterformate ist zudem aus einem anderen Grund problematisch. Dadurch würde nämlich der entscheidende Umstand verschleiert werden, dass die Spielregeln, nach denen die Zuschauspieler/innen hier agieren können bzw. agieren müssen, nicht bekannt sind. Der Spielbegriff, für den die klare Abgrenzung vom Alltag ebenso konstitutiv ist wie die Existenz und geteilte Akzeptanz von Spielregeln, führt daher auf andere Weise in die Irre, als dies für den Begriff der Zuschauer/in im Hinblick auf die in Rede stehenden Theaterformen der Fall ist, insofern das Publikum hier weit mehr und vielfach auch noch anderes tut als zuschauen. Die in rezenten Kunstereignissen etablierten wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse können – je nach spezifischer Verfasstheit der jeweiligen Aufführung – als Komplizenschaft oder als flexible und prekäre Mitarbeit des Publikums an und in der Performance bezeichnet werden. Ein zunächst in medienwissenschaftlichen und ökonomischen Zusammenhängen geprägter Begriff bietet sich des Weiteren anstelle des bisherigen ›Zuschauers‹ an, um die komplexe und veränderte Rolle sowie Tätigkeit des Publikums in einem Wort einzufangen: der des Pro-sumers, wodurch vergegenwärtigt wird, dass die Besucher/in zugleich Produzent/in und Konsument/in des Kunstereignisses ist, für das sie Eintritt bezahlt hat.14 Dies sind erste, tentative Versuche, um die neuen Anforderungen an das Publikum und seine veränderten Verhaltensweisen im Kontext immersiver Theaterformate zu beschreiben und auf einen Begriff zu bringen. In interdisziplinärer Zusammenarbeit mit angrenzenden Disziplinen wie der Kunstgeschichte, der Musikwissenschaft, der Kulturwissenschaft, aber auch der Soziologie und der Geschichtswissenschaft15 ist die Theaterwissenschaft hier aufgefordert, weiter an der Differenzierung, Beschreibung und Analyse jeweiliger Publika und ihrer Verhaltensweisen zu arbeiten. Es steht zu vermuten, dass situations- und produktionsspezifische Differenzierungen vorgenommen werden müssen, um die Heterogenität von
13 | Boal 1996. 14 | Vgl. u.a. Harvie 2013. 15 | So sind beispielsweise die Forschungen des Historikers Sven Oliver Müller zum Konzertpublikum im 19. Jahrhundert auch für theaterwissenschaftliche Fragestellungen höchst relevant und anregend, vgl. z.B. Müller 2012 und 2014.
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Theaterpublika16 einzufangen. Zudem stellen sich bei der Beschäftigung mit aktuellen Theaterformaten Fragen wie die folgenden: Welche Auswirkungen auf die Theatererfahrung zieht der Umstand nach sich, dass das gemeinhin kollektive Theater- und Performance-Publikum in zahlreichen immersiven Theaterarbeiten vereinzelt wird? Welche Formen von Handlung, Verantwortung, Responsivität und sozialer Interaktion kommen in diesen Kunstereignissen zum Tragen? Die Offenheit und das Interesse für solche und angrenzende Fragen werden nicht unerheblichen Einfluss darauf haben, ob und inwiefern die Re/produktionsmaschine Theaterwissenschaft auch weiterhin fähig bleibt, angesichts dramatisch sich wandelnder Theaterkulturen, künstlerischer wie medialer Formate und Rezeptionsweisen zur gesellschaftlichen Selbstverständigung und (Selbst-)Reflexion beizutragen.
L iter atur Balme, Christopher B. (2014): The Theatrical Public Sphere. Cambridge: Cambridge University Press. Bishop, Claire (2012): Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London/New York: Verso. Boal, Augusto (1996): Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fischer-Lichte, Erika (1997): Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. Tübingen/Basel: Francke. Goffman, Erving (1959): The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Anchor. Harvie, Jen (2013): Fair Play – Art, Performance and Neoliberalism. Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan. Herrmann, Max (1981): »Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Instituts. Vortrag vom 27. Juni 1920.« In: Klier, Helmar (Hg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Darmstadt: wbg, 15-24. Kabakov, Ilja (1995): Über die »totale« Installation. Ostfildern: Canz. Kennedy, Dennis (2009): The Spectator and the Spectacle. Audiences in Modernity and Postmodernity. Cambridge: Cambridge University Press. Knoblauch, Hubert (2017): »Publikumsemotionen: Kollektive Formen kommunikativen Handelns und die Affektivität von Großpublika in Sport und Religion.« In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 46:4, 547-565. 16 | Damit meine ich sowohl die Heterogenität der Publika unterschiedlicher Theater und theatraler Aufführungsformate (Stadttheater, Performance, Tanztheater, immersives Theater) als auch die Heterogenität innerhalb des Publikums einer Veranstaltung.
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Miessen, Markus (2012): Albtraum Partizipation. Berlin: Merve. Müller, Sven Oliver (2012): »Die Politik des Schweigens. Veränderungen im Publikumsverhalten in der Mitte des 19. Jahrhunderts.« In: Geschichte und Gesellschaft 38, 48-85. Müller, Sven Oliver (2014): Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Otto, Ulf (2013): Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien. Bielefeld: transcript. Rogoff, Irit (2005): »Looking Away: Participations in Visual Culture.« In: Butt, Gavin (Hg.): After Criticism. New Responses to Art and Performance. Malden: Blackwell, 117-134. Weidemann, Friedegund (Hg.) (1998): Ilja Kabakov – Treatment with memories. Ausstellungskatalog. Berlin: Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart.
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Wenn man über professionelles Schauspielen spricht, besteht die Gefahr, reflexartig auch über dilettantisches Schauspielen oder Laienspiel zu sprechen. Ich möchte vorschlagen, dieses Oppositionspaar erst einmal zu vergessen und stattdessen professionelles Schauspielen als ein historisch kontingentes Dispositiv zu verstehen, und also von Dispositiven professionellen Schauspielens zu sprechen, die sich nicht ablösen und gegenseitig ausschließen, sondern beeinflussen, gegenseitig hervorbringen und, als analytische Hilfsmittel, auch historische Veränderungen aufzeigen helfen können.
P rofessionalisierung und D ispositiv Der Begriff des professionellen Schauspielens bezeichnet dabei mehr als Schauspielen als Erwerbstätigkeit: Er verweist auf historisch kontingente Verschaltungen in der Konzeption eines professionell ausgebildeten Berufsschauspielers. Diese Verschaltungen lassen sich mindestens bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen und sind in der Institutionalisierung von Fachwissen und -können moderner Gesellschaften zu historisieren. Andrew Abbott hat grundlegende Aspekte einer Professionalisierung im Sinne von Institutionalisierung innerhalb moderner Industriestaaten herausgearbeitet. Zu ihnen zählen: • die Einrichtung von speziellen Schulen zur Weitergabe des Expertenwissens und -könnens • die Herausbildung von Ethikkodizes • die Einrichtung universitärer Studiengänge • die Gründung von Vereinen, Fachgesellschaften, nationalen Berufsverbänden und Gewerkschaften • die Anerkennung eines staatlich unterstützten Zulassungsrechts • die Einrichtung staatlicher oder staatlich anerkannter Prüfungen
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• die Gründung von Fachzeitschriften • die Akkreditierung von Schulen und Studiengängen.1 Hinzuzufügen wäre noch die Absicherung im Sozialsystem. Diese Vorgänge bedingen sich wechselseitig und sind miteinander verschaltet. Sie sind, mit Abbott, »ways occupational groups control knowledge and skill«2. In ihrer Verschaltung bedingen sie eine Profilierung, und zwar von bestimmten occupational groups hin zu professionals. Im Unterschied zu den allgemein Erwerbstätigen zeichnen sich nach Abbott professionals durch Exklusivität aus: Sie sind sich durch Exklusivität auszeichnende, erwerbstätige Gruppen, die ein abstraktes Wissen in konkreten Fällen anwenden.3 Im Falle von professionellen Berufsschauspieler/innen haftet diesen Institutionalisierungsprozessen immer auch eine bestimmte normative Vorstellung von Theater als Institution und Praxis an und – insbesondere über die Zulassungskriterien – ein konkretes, exklusives Menschenbild. Derartige Verschaltungen von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken mit staatlichen Institutionen entfalten eine große Wirkungsmacht und sind in ihrer machtpolitischen Dimension zu befragen. Dafür eignet sich der von Giorgio Agamben in Anknüpfung an Michel Foucault entwickelte Begriff des Dispositivs.4 Im Kontext der Frage nach der machtpolitischen Dimension sogenannten professionellen Schauspielens ist besonders Agambens Hinweis auf das ›theologische Erbe‹ des Foucault’schen Terminus stichhaltig. Der Foucault’sche Begriff Dispositiv werde, so Agamben, von jenem Bruch grundiert, »der in Gott Sein und Praxis […] zugleich teilt und artikuliert«5. An diese Erkenntnis knüpft Agamben an, wenn er – ohne allerdings die Terminologie der Theologie zu verlassen – zwischen der »Ontologie der Geschöpfe« einerseits und der »oikonomia der Dispositive« andererseits differenziert.6 Die »oikonomia der Dispositive« ziele darauf ab »jene zu regieren und zum Guten zu führen«7. Dazwischen sieht er als Drittes das Subjekt. Dadurch erweitert Agamben den auf Netze konkreter Machtausübung bezogenen Foucault’schen Begriff zu Folgendem:
1 | Vgl. Abbott 2014, 16-18. 2 | Abbott 2014, 8. 3 | Vgl. Abbott 2014, 8. Paraphrasiert wird hier Abbotts offene Definition für profession. 4 | Vgl. Agamben 2008. 5 | Agamben 2008, 23. 6 | Agamben 2008, 26. 7 | Vgl. Agamben 2008, 26.
Dispositive professionellen Schauspielens »Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern.« 8
Gerade in Bezug auf Schauspielschulen, die sich gegenwärtig durch Initiationsrituale wie mehrstufige Aufnahmeverfahren auszeichnen, stellen die von Agamben artikulierten Aspekte der Weihe und des Glaubens in der Ontologisierung von Machthandeln im Schauspielschüler-Geschöpf wichtige Aspekte einer Analyse dar. Und die Schauspielschulen für Menschen mit Behinderung wie etwa bei Theater HORA in Zürich oder an der Akademie für darstellende Kunst in Ulm sind von diesen Verschaltungen nicht ausgeschlossen und somit ihrerseits Mitproduzent/innen ganz spezieller professioneller Dispositive.
H istorische K ontingenz und gegenwärtige W irkmacht : die E ntkoppelung von W issenschaf t und P r a xis , der K alte K rieg und die P rofessionalisierung des S chauspielens Betrachten wir nun im ersten Schritt jenes gegenwärtig wirkmächtige Dispositiv des professionellen Schauspielens, das von staatlichen Schauspielschulen und Studiengängen sowie von Subventionstheaterbetrieben mitproduziert, reproduziert und zum Teil auch transformiert wird. Historisch gesehen bildete es sich im Zuge der professionellen Profilierung der Theaterwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus. Die sich bereits im 19. Jahrhundert anbahnende Entkoppelung von theaterwissenschaftlicher und schauspielerischer Ausbildung findet in Berlin im Jahr 1923 einen entwicklungsgeschichtlichen Höhepunkt: Im selben Jahr, da in Berlin das Theaterwissenschaftliche Institut an einer staatlichen Universität entstand, wurde auch die Staatliche Schauspielschule an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik gegründet. Sie stand unter der Leitung von Leopold Jessner und nahm am 1. Oktober 1925 mit Lehrkräften wie Lucie Höflich, Tilla Durieux, Erich Engel, Julius Bab und Emil Pirchau den Unterrichtsbetrieb auf.9 Diskursiv wird diese Entkoppelung durch die theaterwissenschaftliche Definition von Schauspielen als ›Kunst-Praxis‹ vollzogen. Die Etablierung der Theaterwissenschaft als Kunstwissenschaft ist abhängig von der Definition von Schauspielen als Kunst, zugleich grenzt sie den eigenen Ausbildungsanspruch von jenem des berufsmäßigen Schauspielkünstlers ab. »Schauspielkunst hat mit der Universität nichts zu tun«, betont
8 | Agamben 2008, 26. 9 | Vgl. Fischer-Defoy 2001, 329.
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Max Herrmann in seiner Rede »Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Instituts«10 1920: Dafür »reicht eine Fachschule aus«11. Der Mehrwert des Dispositiv-Begriffs liegt nun darin, die Ebene derartiger Oppositionen – also die Ebene der Ideologien und der Ideologiekritik – zu verlassen und stattdessen die Frage zu stellen, wie derartige Oppositionen überhaupt wirksam werden, welchen Machtgefügen sie zuarbeiten, wie sie in die Formation diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken hineinspielen und sich mit Subjektivierungsprozessen verweben. Das gegenwärtige Dispositiv des professionellen, ausgebildeten Schauspielens ist in Deutschland und anderen westlichen Industrienationen nicht ohne das geopolitische Machtgefüge zu verstehen, das sich seit 1947 unter dem Schlagwort des Kalten Kriegs formierte.12 Amy Lynn Steiger hat die containment-Politik der USA gegenüber dem im Kalten Krieg angelegten Szenario einer kommunistischen Bedrohung als Bedingungsgefüge der StanislawskiAneignungen in den USA der späten 40er- und 50er-Jahre herausgearbeitet.13 Auch Bruce McConachie historisiert den großen Erfolg von Lee Strasbergs Method und den Professionalisierungsschub im Bereich des Schauspielens in den USA der 1950er-Jahre im Kalten Krieg:14 und zwar im Generalverdacht kommunistischer Aktivitäten gegen Theater- und Filmleute durch das House Committee on Un-American Activities15. Als Absicherung gegen diesen empfahl Strasberg seinen Schauspieler/innen nämlich ihre Professionalität: »Professionalism was Strasberg’s first line of defense in the advice he gave to fellow actors hounded by HUAC.«16 Zu dieser Absicherung gehörten der Verweis auf methodisches Training, die Verwendung einer Spezialistensprache, die Kultivierung einer Tradition, um den Status der eigenen Arbeit zu erhöhen, und die Befolgung eines Ethikkodexes. Wichtige Aspekte dieser Professionalität waren weiterhin der absolute Glaube des Schauspielenden an die zu spielende Rolle sowie Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit nicht nur auf der Büh10 | Herrmann 1981 [1920], 5-24. 11 | Herrmann 1981 [1920], 20. 12 | Vgl. Stöver 2007, 11-15. 13 | Vgl. Steiger 2006. 14 | Vgl. McConachie 2000. 15 | Das House Committee on Un-American Activities (HUAC) zur Untersuchung »unamerikanischer Umtriebe« beim Repräsentantenhaus der USA verurteilte Anfang 1948 zehn Drehbuchautoren, Schauspieler und Regisseure aus Hollywood zu Haftstrafen, weil sie sich geweigert hatten, vor dem Ausschuss über Mitgliedschaften in der kommunistischen Partei auszusagen. Bertolt Brecht wurde am 30. Oktober 1947 von dem Ausschuss zu möglichen Verbindungen zur kommunistischen Partei befragt, vgl. das Transkript unter http://en.wikisource.org/wiki/Brecht_HUAC_hearing_(1947-10-30)_transcript. 16 | McConachie 2000, 58.
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ne, sondern auch im Alltag. So kommt McConachie zu dem Schluss: »At the Studio, actors learned not only how to represent themselves on stage, but also in the larger arena of public life.«17 Im Kontext des Kalten Kriegs spielte der Glaube des Schauspielenden eine systemische Rolle. In Deutschland war die Apotheose wirklichkeitsabbildender, ›natürlicher‹, ›menschlicher‹ und wahrhaftiger Spielweisen nach 1945 ein transzonales Phänomen. Es war einerseits eine Gegenreaktion auf die vermeintlich ›unmenschliche‹, ›unnatürliche‹ ›falsche‹ Spielweise auf den nationalsozialistischen Bühnen und andererseits Teil eines transnationalen Strebens nach Wahrheit und Überlegenheit des eigenen Systems, das im Ost-West-Konflikt und damit in eine Konkurrenzsituation globalen Ausmaßes eingebettet war. So schickte Hans Gebhardt, Freund des langjährigen Intendanten der Münchner Kammerspiele Otto Falckenberg, Anfang 1949 ein Memorandum an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, in dem er vor der Schauspielausbildung am Deutschen Theaterinstitut (DTI) in Weimar warnt, das 1947 auf Befehl der sowjetischen Militäradministration gegründet worden war: »Kein Zweifel: Die Arbeit dieses Theater-Instituts läuft unter richtiger Einschätzung der gesellschaftlichen Funktion des Theaters auf die Bildung politisch gestimmter Schauspielereinheiten hinaus, die in der erwarteten Expansion für die Besetzung der westlichen Theater vorgesehen sind. Kein Zweifel aber auch, daß in Weimar künstlerisch hochwertige und systematische Arbeit geleistet wird, die sich damit legitimiert, in das Vakuum des westlichen Theaters zu stoßen. Um sich dagegen zu behaupten gibt es nur ein Mittel: Die Einrichtung einer öffentlichen Theaterschule mit einer Erziehung, die dem abendländischen und christlichen Menschen angemessen ist und einem System, das dem Stanislawskis mindestens gewachsen ist.«18
Die geforderte Professionalisierung des Schauspielnachwuchses in dem amerikanisch besetzten München verknüpft sich hier mit der Rhetorik des Kalten Kriegs der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Grundmuster dieser Rhetorik sind hier: • Angst vor transnationaler (hier transzonaler) kommunistischer Expansion mit der Hilfe des Theaters; • eine empfundene Konkurrenzsituation zwischen Ost und West; • Streben nach dem eigenen technischen Aufstieg, Fortschritt und nach systematischer Modernisierung, das in dieser Konkurrenzsituation verhaftet ist. 17 | McConachie 2000, 56. 18 | BayHStA: MK 50662.
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Es ist kein Zufall, dass noch im ersten Quartal 1949 eine Delegation der OttoFalckenberg-Schule der Kammerspiele München19 dem DTI in Weimar einen Besuch abstattete, um sich über die Ausbildung dort einen Überblick zu verschaffen. Es ist ebenso kein Zufall, dass der Schulleiter der Falckenberg-Schule vom Leiter des Cultural Affairs Branch des Office of Military Government für das Jahr 1949 ausgewählt wurde, »to study advanced methods of teaching and staging to be applied to leading dramatic school in Munich upon his return«20. Unter anderem dadurch findet, ähnlich wie in der Sowjetischen Besatzungszone, aber unter anderen ideologischen Vorzeichen, ein Rückgriff auf realistische und naturalistische Theaterformen statt. Die darin verwobene, idealisierte künstlerisch-ästhetische Praxis des Schauspielenden als wirklichkeitsabbildend und ›wahrhaftig‹ wird als fortschrittlicher gegenüber den ›antiquated methods‹ der Lehrer/innen an den deutschen Schauspielschulen positioniert. Damit partizipieren Schauspielkunst und Schauspielausbildung in der allgemeinen Modernisierungsideologie des Kalten Kriegs, wodurch die Supermächte ihre ideologische, militärische, wirtschaftliche, technische und kulturelle Fortschrittlichkeit und Überlegenheit behaupteten.21 Die staatlich subventionierten Theater, staatliche Schauspielausbildung, öffentliche Verwaltungsstrukturen und Interessensverbände verschalteten sich innerhalb dieser Konkurrenzsituation nach der Gründung zweier deutscher Staaten in Deutschland besonders wirkmächtig in der Professionalisierung von Schauspielen als Beruf. In der Bundesrepublik bestimmten der Deutsche Bühnenverein (DBV: Interessen- und Arbeitgeberverband der Theater und Orchester) und die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA: gewerkschaftliche Organisation der am Theater Arbeitenden) die länderübergreifenden Rahmenbedingungen für die Schauspielausbildung maßgeblich mit. Die staatlichen Bühnenreifeprüfungen der Absolvent/innen wurden durch diese Interessensverbände abgenommen.22 Die GDBA-Führung forderte sogar einen Prüfungszwang, klagte in den 1950er-Jahren wiederholt
19 | Die Otto-Falckenberg-Schule in München wurde 1946 eröffnet und 1948 postum nach Otto Falckenberg benannt. 20 | BayHStA: OMGB, 10/48-3/5, Fiche 1, Schreiben vom 6. November 1948, Cultural Affairs Branch. 21 | Vgl. Guilbaut 1984, 101-163. 22 | Exemplarisch sei hier die Situation an der Max-Reinhardt-Schule Berlin (MRS) erwähnt. Hier wurden in den späten 1950er-Jahren auch die Eignungsprüfungen von der Bühnengenossenschaft abgenommen; erst nach dort bestandener Eignungsprüfung konnten Bewerber/innen die Aufnahmeprüfung an der MRS absolvieren (vgl. »Schreiben an einen Interessenten« z.B. vom 30.12.1957. UdK Archiv: Bestand 13, Allgemeiner Schriftwechsel A-G 1. April 1957 bis 31. März 1959).
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über eine »Verwilderung des Unterrichtsbetriebes«23 und versuchte, den »Zulauf zur Bühne«24 zu kontrollieren. Der avisierte Prüfungszwang für alle staatlichen Schulen hatte allerdings allzeit nur auf dem Papier Bestand. Zugleich versuchte die GDBA, die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung »für den Aufbau einer zentralen, abgabenfreien Monopolvermittlung zu gewinnen«25. Es gab zwar weiterhin entgeltliche Agenturbetriebe, jedoch erwirkten GDBA und DGB (Deutsche Gewerkschaftsbund) im Jahr 1959 die Einrichtung einer Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) in Frankfurt a.M. mit entsprechenden Außenstellen in anderen Großstädten.26 Mit diesen kooperierten wiederum und kooperieren heute noch die staatlichen Institutionen für Schauspielausbildung: Die Absolvent/innenvorspiele der staatlichen Schauspielschulen werden häufig auch ZAV-Vorspiele genannt. In der DDR fanden ähnliche Verschaltungen hinsichtlich einer Professionalisierung statt: 1948 wurde das Büro für Theaterfragen gegründet, das 1951 der Stakuko (Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten) unterstellt wurde.27 Es war sowohl für Bildungs- und Nachwuchsfragen verantwortlich als auch für die juristische, finanzielle und personelle Steuerung der staatlichen Theaterbetriebe. Nachwuchsfragen wurden damit an den Bedürfnissen der Theaterbetriebe orientiert und an einem daraus entwickelten Berufsbild des Schauspielers/der Schauspielerin. Schauspielausbildung wurde funktional auf dieses Berufsbild bezogen und als Ergebnis einer systematischen Studienplanung und eines mehr oder weniger zweckorientierten methodischen Auf baus institutionalisiert.
C onclusio In den 1950er-Jahren verschalteten sich also sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik Organe für die Berufsprüfung von Schauspieler/innen, für die Vermittlung staatlich geprüfter Schauspieler/innen, für ihre soziale Versorgung und gewerkschaftliche Organisationen mit den Ausbildungseinrichtungen. Dies geschah in beiden deutschen Staaten auf je unterschiedliche Weise bei gleichzeitiger Bezogenheit durch die allgemeine deutsch-deutsche Konkurrenz-Situation im Kontext des Kalten Kriegs und die ihr anhaftenden Modernisierungs- und Überlegenheitsideologien.
23 | Rübel 1992, 279. 24 | Rübel 1992, 279. 25 | Rübel 1992, 299. 26 | Vgl. Rübel 1992, 300. 27 | Vgl. Schumann, www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DR-100-375301/index.htm.
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Diese historisch kontingenten Verschaltungen entsprechen Abbotts eingangs zitierten Kriterien der Professionalisierung. Sie durchwirken gegenwärtige Dispositive professionellen Schauspielens, denn durch sie sind die Ausbildungseinrichtungen in der Lage und auch im Legitimationszwang, im Rahmen einer künstlerisch-ästhetischen und pädagogischen Ausbildungspraxis »die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der [Schauspieler/innen-]Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern«28 – um nochmals Agambens Dispositiv-Begriff ins Spiel zu bringen. Es sind diese historisch situierten Verschaltungen im Dispositiv des professionellen Schauspielens, die Richard Schechner und andere zu vermeiden suchten, als sie ihre Theaterpraxis aus den Institutionen herauslösten, die professional training betrieben. Freilich, mit der Institutionalisierung einer anderen Theaterpraxis in den Performance Studies wie auch in der Angewandten Theaterwissenschaft, wurde ein anderes Dispositiv professionellen Schauspielens geschaffen, das, wie wir wissen, das ältere Dispositiv nicht abgelöst, sondern sich auf mannigfache Weise mit ihm verwoben und in Abgrenzung davon profiliert hat. Insbesondere mit Blick auf das aktuelle Interesse an professionell arbeitenden Theatern mit geistig oder körperlich beeinträchtigten Schauspieler/innen wie etwa dem Theater HORA in Zürich scheint es mehr als angemessen, von Dispositiven professionellen Schauspielens zu sprechen. In der Theaterwissenschaft wurden behinderte Schauspieler/innen bislang hauptsächlich im Kontext der Authentizitätsdebatte unter den Schlagworten des Nicht-Perfekten, des Nicht-Könnens und des Scheiterns diskutiert. Das Theater HORA und die seit 2009 bestehende, angeschlossene Schauspielschule jedoch legitimieren sich dadurch, dass sie »jungen Erwachsenen mit einer kognitiven Beeinträchtigung eine zweijährige Schauspiel-Berufsausbildung«29 und anschließend einen potenziellen Arbeitsplatz im Ensemble anbieten: »Die von der SVA/IV und dem Berufsverband INSOS anerkannte Ausbildung für junge Menschen mit besonderen darstellerischen Fähigkeiten sieht, in Ausbildungs- und Projektphasen, die Auseinandersetzung mit dem ›schauspielerischen Handwerk‹ sowie das Erarbeiten von Bühnenproduktionen vor.« 30
Selektionsmechanismen, Zulassungskriterien, Zertifizierung, Berufsverband und systematischer Auf bau der Ausbildung sind auch hier gegeben: Es geht auch hier um die Vermittlung eines mehr oder weniger abstrakten Wissens 28 | Agamben 2008, 26. 29 | www.hora.ch/2013/index.php?s=1&l1=526&produktion=699. 30 | www.hora.ch/2013/index.php?s=1&l1=526&produktion=699.
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und Könnens an eine exklusive Gruppe, und damit immer auch um eine Einflussnahme auf Gesten, Betragen, Meinungen und Reden von Lebewesen. Oder, wie Michael Elber, Gründer und künstlerischer Leiter von Theater HORA, es treffend formuliert: »Die Form von Selbständigkeit, die wir uns von ihnen [den HORAs] wünschen und an der wir mit ihnen arbeiten, ist in den meisten Fällen nichts anderes als eine Konditionierung. Der Wunsch, dass sie sich auch von selbst so verhalten, wie wir es von ihnen erwarten.« 31
L iter atur Abbott, Andrew (2014) [1988]: The System of Professions: An Essay on the Division of Expert Labor. Chicago: University of Chicago Press. Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv? Zürich/Berlin: Diaphanes. Bugiel, Marcel/Elber, Michael (2014): Freie Republik HORA (Programmtext). Fischer-Defoy, Christine (2001): »Kunst, im Auf bau ein Stein.« Die Westberliner Kunst- und Musikhochschulen im Spannungsfeld der Nachkriegszeit. Berlin: Hochschule der Künste. Gebhardt, Hans (1949): »Gedanken zu einer Theaterschule.« BayHSta: MK 50662 (unpubliziertes Manuskript). Guilbaut, Serge (1984): »The Creation of an American Avant-Garde, 1945-1947.« In: Ders.: How New York Stole the Idea of Modern Art. Abstract Expressionism, Freedom, and the Cold War. Chicago/London: University of Chicago Press, 101-163. Herrmann, Max (1981) [1920]: »Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Instituts.« In: Klier, Helmar (Hg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Texte zum Selbstverständnis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 15-24. McConachie, Bruce (2000): »Method Acting and the Cold War.« In: Theatre Survey 41:1, 47-68. »Projects for 1949/50« (14. März 1949). BayHStA: Office of Military Government for Bavaria (OMGB), 10/48-3/5 (»Exchange projects 1948/49«), Fiche 1, Schreiben vom 6. November 1948, OMGB, Cultural Affairs Branch. Rübel, Joachim (1992): Geschichte der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehörigen. Hamburg: Verlag Bühnenschriften-Vertriebs-GmbH. »Schreiben an einen Interessenten« (30.12.1957). UdK Archiv: Bestand 13, Allgemeiner Schriftwechsel A-G 1. April 1957 bis 31. März 1959.
31 | Bugiel/Elber 2014.
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Schumann, Florian: »Findmittel-Information zum Bestand ›Büro für Theaterfragen‹.« BArch: DR 100 (1948-1958), Berlin, März 2013. In: www.argus. bstu.bundesarchiv.de/DR-100-375301/index.htm [09.08.2015]. Steiger, Amy Lynn (2006): Actors as Embodied Public Intellectuals: Reanimating Consciousness, Community and Activism Through Oral History Interviewing and Solo Performance in an Intertextual Method of Actor Training. Austin: University of Texas (Diss.). Stöver, Bernd (2007): Kalter Krieg 1947-1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters. München: Beck. www.hora.ch/2013/index.php?s=1&l1=526&produktion=699 [01.09.2016]. http://en.wikisource.org/wiki/Brecht_HUAC _hearing_(1947-10-30)_tran script [23.02.2017].
A rchiv verzeichnis BArch BayHSta UdK-Archiv
Bundesarchiv Berlin Bayerisches Hauptstaatsarchiv Archiv der Universität der Künste Berlin
Nichtkönnen, Nichtverstehen Zur politischen Bedeutung einer Disability Aesthetics in den Darstellenden Künsten Benjamin Wihstutz
»Der Künstler ist ein Könner eigentümlicher Art«1, schreibt Christoph Menke in seinem Buch Kraft. »Was er kann, ist nicht zu können. Der Künstler kann das Nichtkönnen.«2 Menke bezieht sich hier auf Friedrich Nietzsches Ausführungen zum Rausch sowie zum Genie. Demnach vollzieht der Künstler mit seinem Schaffen keine intentionale Handlung, seine künstlerische Tätigkeit ist nicht zweckgerichtet, sie verfolgt kein Ziel. Vielmehr entstehe Kunst durch den Übergang vom selbstbewussten Vermögen zum entfesselten Rausch; ein Übergang, der die Dinge in Kunst verwandelt und den Menke mit dem Begriff Kraft assoziiert. Der Künstler kann das Nichtkönnen, weil er Vermögen und Kraft zugleich ist, weil er gelernt hat, einerseits sein Können zu vergessen und andererseits, den Rausch zu spielen.3 Kunst basiert also, folgt man Menke, weder auf Können noch allein auf Nichtkönnen, sondern auf jenem ästhetischen Spiel der Kraft, das keinen intentionalen Regeln folgt und sich auch nicht vom Sozialen, Moralischen oder Politischen vereinnahmen lässt.4 Bereits fünfzehn Jahre früher, 1994, veröffentlicht Hans-Thies Lehmann im Merkur die in der Theaterwissenschaft inzwischen berühmte und vielfach zitierte Kolumne »Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens«5. Der gesamte Text ist geprägt von einer antisemantischen bzw. antisemiotischen Stoßrichtung. So stellt Lehmann dem Ausbuchstabieren von Bedeutung im Theater das Nichtverstehen als Erfahrung gegenüber und grenzt die Theaterkunst vom Handwerk des ›Regiefachs‹ ab. Gegenwärtige Theaterarbeit, so 1 | Menke 2008, 113. 2 | Menke 2008, 113. 3 | Vgl. Menke 2008, 113. 4 | Vgl. Menke 2013, 14. 5 | Lehmann 1994.
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Lehmann, gehe wesentlich von einem Refus des Verstehens aus und setze an die Stelle der Aufklärung und Verständigungsbildung ein »Stolpern« und »die Zersetzung des frame of reference«.6 Das Theater sei folglich ein Ort, an dem der »Schiff bruch des Verstehens«7 erfahren werde. Hier könne man das Nichtverstehen verstehen lernen.8 So unterschiedlich beide Texte in formaler wie inhaltlicher Hinsicht sind – auf der einen Seite ein Buch, auf der anderen eine Kolumne, Menkes Text verzichtet nahezu vollständig auf Beispiele und setzt sich aus philosophischer Sicht mit Begriffen wie Vermögen und Kraft, Handlung und Leben auseinander, Lehmann polemisiert in einer Salve von Beispielen postdramatischer Inszenierungen gegen ein spezifisch semiotisches Theaterverständnis –, so sehr eint sie ein gemeinsames Anliegen, das sich in mehrere Aspekte auffächert: Erstens machen beide Texte einen normativen Anspruch von Kunst geltend, der sich im Sinne Adornos von Kulturindustrie ebenso abgrenzen lässt wie von einer moralischen Bildungsanstalt. Es geht nicht um Moral, es geht nicht um Aufklärung, es geht um Kunst als widerständiges, kritisches Moment, als eine Art Widerlager der Gesellschaft. Zweitens vertreten beide die These, dass sich etwas von der Kunst bzw. von den Künstler/innen lernen lässt. Dieses Etwas widerspricht insofern einem traditionellen Kunstverständnis, als dass Kunst laut Menke nicht auf Können basiere bzw. der Zweck von Kunst laut Lehmann nicht darin bestehe, eine Erklärung oder ein Verstehen geschweige denn eine Botschaft zu vermitteln. Das, was wir von der Kunst lernen können, ist hingegen etwas, das sich nur in einem Paradox formulieren lässt, womit der dritte Punkt genannt ist, der die beiden Texte verbindet: These A) Menke: Was wir vom Künstler lernen können, ist das Können des Nichtkönnens. These B) Lehmann: Was der Zuschauer im Theater lernen kann, ist das Verstehen des Nichtverstehens. Viertens operieren beide Texte mit einer Allegorie des Blinden, was zum eigentlichen Thema dieses Beitrags führt, nämlich zum Verhältnis von Ästhetik und Behinderung in den Darstellenden Künsten. Lehmann bezeichnet die Blinden als »Archetypen des Theaters«9, weil ihnen jenes Verstehen des Nichtverstehens eignet, das auch die ästhetische Erfahrung der Zuschauer/innen im Theater auszeichne. Er erwähnt hier Figuren großer Tragödien, »von Agamemnon, Ödipus über Lear und Hamlet bis zu Brechts Courage und Becketts Gestalten«10, allesamt Figuren, deren Blindheit unmittelbar mit einem Erkenntnis6 | Vgl. Lehmann 1994, 429. 7 | Lehmann 1994, 431. 8 | Vgl. Lehmann 1994, 431. 9 | Lehmann 1994, 431. 10 | Lehmann 1994, 431.
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prozess verknüpft ist, welcher eine Aporie oder ein Moment des Nichtverstehens einschließt. Menke bezeichnet hingegen das künstlerische Schaffen selbst als blinde Tätigkeit. Er zitiert hier Nietzsche mit den Worten: »Das Genie ist wie ein blinder Seekrebs, der fortwährend nach allen Seiten tastet und gelegentlich etwas fängt, er tastet aber nicht, um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen.«11 Nun handelt es sich offenbar weder für Menke beim blinden Seekrebs noch für Lehmann beim blinden Helden um einen Sonderfall oder eine Abweichung von der Norm. Es sind daher auch nicht die Körper der Künstler/innen oder Protagonist/innen, die als behindert erscheinen, es geht nicht um die echten Blinden auf der Bühne wie etwa um jenen Experten, der bei Rimini Protokoll den Zuschauer/innen aus der Brailleschrift-Ausgabe von Karl Marx’ Kapital oder von Adolf Hitlers Mein Kampf vorliest.12 Es ist vielmehr die ästhetische Tätigkeit selbst, die von der Norm abweicht, weil sie als andere, nicht zweckgerichtete, blinde Tätigkeit verstanden wird. Nicht die Künstler/innen oder die Zuschauer/innen sind behindert, sondern das Können und Verstehen wird in der Kunst durch eine Ästhetisierung behindert, Ästhetisierung hier im Sinne Menkes gefasst als ein »Unbestimmtmachen«13. Mehr noch: Dieses Behindern des Könnens und Verstehens ist in seiner Negativität positiv zu begreifen; der kritische Gehalt liegt in der ästhetischen Indifferenz selbst, d.h. im Durchstreichen jeglicher Bestimmung, jeglicher Vereinnahmung durch soziale, moralische oder politische Zwecke. Abgesehen vom allegorischen Verweis auf die Blinden wird eine Ästhetik der Behinderung weder bei Menke noch bei Lehmann thematisiert. Ich möchte dennoch im Folgenden versuchen, jenes Unbestimmtmachen von Können und Verstehen im Sinne einer Disability Aesthetics auf das Verhältnis von Performance und Behinderung zu beziehen. Performance verstehe ich dabei nicht als ein künstlerisches Genre, sondern als jede Art szenischer Darbietung, sei es ein Tanzsolo, ein Schauspiel, eine Kunstperformance oder eine Opernarie. Performance bezieht sich im Englischen darüber hinaus auf die weitaus ältere Bedeutung einer vollzogenen Handlung und insbesondere auf eine mit dieser Handlung vollbrachten Leistung, auf ein accomplishment, was auf die Kategorie des Könnens, auf die ability to perform, verweist.14 11 | Nietzsche zitiert nach Menke 2008, 117. 12 | Es handelt sich um Christian Spremberg, der sowohl in Das Kapital, Erster Band (2006) als auch in Mein Kampf, Band 1 & 2 (2015) als Vorleser der Braille-Ausgaben auftritt. 13 | Menke 2008, 87. 14 | Der Begriff performance im Sinne von accomplishment ist bereits aus dem 5. Jhdt. überliefert, performance im Sinne von Aufführung, performing a play, ist erst ab dem 16. Jhdt. nachweisbar, vgl. u.a. www.etymonline.com/index.php?term=performance
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Auch den Begriff Behinderung möchte ich im Sinne des englischen Bedeutungsspektrums von disability fassen. Wortwörtlich verweist der Begriff disability zunächst auf die Negation des Begriffes ability und somit explizit auf die Kategorie des Nichtkönnens. In den Disability Studies wird der Begriff in Abgrenzung zu impairment, welches eine physische, geistige oder sinnliche Beeinträchtigung einer Person bezeichnet, als eine Einschränkung an der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben aufgrund von äußeren Faktoren, von gesellschaftlichen Normen und Barrieren definiert.15 Darüber hinaus wird das kulturelle Potenzial von disability betont: Menschen mit Behinderungen tragen zu einer größeren Vielfalt und Heterogenität der Gesellschaft bei, indem sie eigene Zugangs- und Umgangsweisen zu/mit Kultur sowie eigene mediale und künstlerische Praktiken hervorbringen (wie etwa besonders deutlich in der Deaf Culture mit einer eigenen Sprache und in der Blinden-Community mit einer eigenen Schrift).16 Die negative Konnotation des dis- in disability wird in den Disability Studies in der Regel abgelehnt und kritisiert respektive positiv gewendet. Ich möchte hingegen dafür plädieren, gerade jenes Dis- als ein kulturelles und politisches Potenzial von Disability Performance zu begreifen. Ich meine, dass die im ambivalenten Wortsinn der Begriffe performance und disability eingeschriebene Relation von Können und Nichtkönnen eine neue Perspektive auf Kunst/Theater mit behinderten Akteur/innen eröffnet, eine Perspektive, die sich wesentlich von etablierten Standpunkten in den Disability Studies unterscheidet und dennoch an ihren politischen Diskurs anknüpfen kann. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Disability Performance somit in einem doppelten Sinne: als szenische Darbietung von Behinderung einerseits und in Bezug auf die Relation von Leistung und Nichtkönnen andererseits. Die politische Bedeutung von Disability Performance, so lautet meine These, besteht weniger in einer – wie auch immer gearteten – Repräsentation sozialer Gleichheit als vielmehr in einer ästhetischen Gleichheit, die das Aushebeln der Differenzierungen von Können und Nichtkönnen, von Verstehen und Nichtverstehen impliziert. Die Präsenz behinderter Körper auf der Bühne ist für eine solche Disability Aesthetics freilich nicht zwingend, die Negation von ability als leitendes Prinzip einer Leistungsgesellschaft jedoch schon. *** sowie den Eintrag im Webster Wörterbuch: www.merriam-webster.com/dictionary/per formance. Zum Verhältnis von Performance und Leistung siehe Eikels 2013, 307-314. 15 | Vgl. Goodley 2011, 5-11 sowie Waldschmidt 2005. 16 | Diesen letztgenannten Ansatz bezeichnet Anne Waldschmidt als das »kulturelle Modell« von Behinderung, vgl. Waldschmidt 2005, 24. Zum Verhältnis von Gehörlosenkultur und einer eigenen Ästhetik des Gehörlosentheaters siehe Ugarte Chacón 2015.
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Der 2015 verstorbene Theoretiker der Disability Studies Tobin Siebers hat mit seinem Begriff der Disability Aesthetics vorgeschlagen, den Topos Behinderung vom Rand ins Zentrum der Ästhetik zu rücken.17 Anhand zahlreicher Beispiele legt Siebers die Präsenz und Bedeutung von Behinderung bzw. von Repräsentationen körperlicher Differenz dar, wobei er sich insbesondere auf die jüngere Geschichte Bildender Kunst bezieht. So habe die klassische Moderne – Siebers erwähnt hier Portraits von Picasso und Modigliani, die Skulpturen Giacomettis oder die Bilder Francis Bacons – häufig versehrte, fragmentierte oder imperfekte Körperbilder thematisiert bzw. eine Ästhetik propagiert, deren Schönheitsideal immer schon zerbrochen sei.18 Entsprechend dieser Beispiele geht es Siebers mit dem Begriff Disability Aesthetics weder vorrangig um die Anerkennung behinderter Künstler/innen noch um das Aufzeigen einer Marginalisierung von behinderten Körpern in der Kunst.19 Indes zielt sein Ansatz auf eine Anerkennung von disability als ästhetischem Wert an sich. »Good Art«, so Siebers, »incorporates disability.«20 »[D]isability enlarges our vision of human variation and difference, and puts forward perspectives that test presuppositions dear to the history of aesthetics.«21 Siebers Disability Aesthetics richtet sich somit gegen eine bestimmte, idealistische Konzeption von Ästhetik, die sich unkritisch auf Begriffe wie Harmonie, Schönheit und Unversehrtheit beruft. Auch ist das Ästhetische, anders als bei Menke, für Siebers nicht auf eine Vorstellung von Autonomie oder Negativität bezogen, Ästhetik sei vielmehr prägend für unseren alltäglichen und affektiven Umgang mit anderen Menschen, so auch für Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Die Agenda von Siebers Disability Aes thetics bleibt damit, trotz zahlreicher Kunst-Beispiele, letztendlich eine soziale: Es geht um die Anerkennung und den Wert körperlicher Differenzen sowie um einen Begriff von Schönheit, genauer »zerbrochener Schönheit«22, der behinderte Körper nicht ausschließt, sondern inkludiert. Das Feld der Kunst ist nach Siebers insofern der sozialen Welt voraus, als hier (insbesondere seit den Avantgarden) ein Interesse für die Abweichung von der Norm, für ein anderes
17 | Vgl. Siebers 2010, 4. 18 | Vgl. auch Siebers 2009. 19 | Siebers behauptet ganz im Gegenteil, dass es eine solche Marginalisierung behinderter Körper in der Kunst nie gegeben habe. Man müsse lediglich die Perspektive ändern, um auf zahlreiche Beispiele von disability in der Kunstgeschichte zu treffen – von der Venus von Milo bis zur Performance-Kunst des späten 20. Jahrhunderts, vgl. die Einleitung von Siebers 2010, 1-20. 20 | Siebers 2010, 4 21 | Siebers 2010, 3. 22 | Siebers 2010, 10.
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(Körper-)Bild bestehe, welches sowohl Ausgangspunkt ästhetischer Erfahrung als auch treibende Kraft für die Produktion von Kunst sei.23 Die Kategorien des Nichtkönnens und Nichtverstehens spielen in Siebers Disability Aesthetics keine nennenswerte Rolle. Lediglich in einem seiner wenigen Texte über Darstellende Kunst verweist Siebers auf eine ideology of ability im Theater, die sich insbesondere in den Methoden des Schauspielunterrichts niederschlage.24 So sei es aufgrund der Vorstellung eines neutralen, perfekt kontrollierbaren Körpers von Schauspieler/innen – eine Konzeption, welche die Theaterwissenschaftlerin Carrie Sandahl als »Tyranny of Neutral«25 beschrieben hat – nahezu unmöglich, nicht-behinderte Rollen mit behinderten Schauspieler/innen zu besetzen. Behinderte Körper würden auf der Bühne vielmehr per se als markierte, hyper-sichtbare Körper wahrgenommen. Wie Sandahl zeigt, basieren insbesondere die Übungen des Method Acting auf einem von der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts herrührenden Körperbild des effizienten und normierten Körpers, das andere, von der Norm abweichende Körper von vornherein exkludiert.26 So wichtig diese Kritik an der Schauspielausbildung von Seiten der Disability Studies ist, so bedauerlich ist es, dass Siebers und Sandahl ihre Kritik an einer ideology of ability ausschließlich auf eine Norm des unversehrten Körpers beziehen. Die problematische Verschränkung von Performance und Können beziehungsweise die Grundannahme, dass es in den Performing Arts um die Darbietung von Können gehe, bleibt damit unangetastet.27 Wie die Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser in ihrem Essay Körper 2.0 gezeigt hat, ist das vorherrschende Körperbild in den westlichen, postfor23 | Siebers definiert Kunst diesbezüglich deutlich hinsichtlich einer sozialen Intention: Es geht um die Reflexion der Erfahrung körperlicher Vielfalt. »[…] [A]rt is also materialist in its obsession with the embodiment of new conceptions of the human. […] Art is the active site designed to explore and expand the spectrum of humanity that we will accept among us.« (Siebers 2010, 10.) 24 | Vgl. Siebers 2012, 21f. 25 | Siebers 2012, 16 sowie Sandahl 2005. 26 | Vgl. Sandahl 2005, 262. 27 | Dass der Leistungsaspekt bei Siebers Disability Aesthetics keine nennenswerte Rolle spielt, überrascht umso mehr, wenn man bedenkt, dass sich der Text in erster Linie auf Beispiele aus der Bildenden Kunst beruft, in der spätestens seit den 1960er-Jahren, anders als im Theater, von einem Paradigma des Könnens kaum noch die Rede sein kann. So wird heute weder in der zeitgenössischen Kunstkritik noch an den Kunsthochschulen angenommen, dass Künstler/innen ein Repertoire bestimmter handwerklicher Fähigkeiten erlernen müssen, das sie anschließend einem Publikum präsentieren. In der Gegenwartskunst geht es nur in den seltensten Fällen um die Präsentation eines Könnens, vielmehr um die Präsentation von Konzepten, Situationen und Ideen.
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distisch geprägten Gesellschaften heute weitaus weniger von Begriffen wie Schönheit und Unversehrtheit geprägt als vielmehr von einer »Ideologie der permanenten Selbstoptimierung«28. Ironischerweise wird diese Ideologie im 21. Jahrhundert insbesondere mithilfe medialer Inszenierungen behinderter Körper vorangetrieben. So erscheint der homo protheticus, wie er sowohl von den Paralympics als auch von Computerspiel- oder Filmreihen wie Deus Ex und X-Men in Szene gesetzt wird, längst nicht mehr als Mensch mit Einschränkungen. Hingegen wird die Behinderung zum Ausgangspunkt einer technischen Erweiterbarkeit des Menschen, die ihm neue Fähigkeiten und Superkräfte verleiht, sei es der Terminator-Blick von Google Glass, die Cheetah Legs von Oscar Pistorius oder die Verwandlung einer Armprothese in eine Schusswaffe. Die Ideologie des homo protheticus treibt das Paradigma des Könnens auf die Spitze: Die Paralympics werden zum Wettbewerb von Superhumans29 und die Behinderten beweisen ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft dadurch, dass sie aufgrund von technischen Hilfsmitteln noch mehr können als ›normale‹ Menschen. Der Preis dieser Ideologie ist nach Harrasser hoch: Gesellschaftlich ist er die »Ausdehnung der Wertschöpfungskette auf die ganze Persönlichkeit«, individuell ist er die Verherrlichung »absolute[r] Selbstbemeisterung« und die »Affirmation der Konkurrenz als Triebkraft des Sozialen«.30 Betrachtet man das Feld der Disability Performance aus dieser Perspektive, zeigt sich die Notwendigkeit einer Positionierung: Entweder der behinderte Akteur/die behinderte Akteurin auf der Bühne operiert innerhalb der Logik eines Paradigma des Könnens und einer Ideologie der Selbstoptimierung, indem er/sie wie der Prothesensprinter beweist, dass er/sie mindestens genauso gut performen kann wie ein nichtbehinderter Schauspieler/eine nichtbehinderte Schauspielerin. Oder aber die Disability Performance positioniert sich von vornherein außerhalb einer solchen Ideologie, indem sie sich der Logik einer Leistungsgesellschaft entzieht und zugleich deren Normen und Prinzipien entlarvt. Als Christoph Schlingensief im Jahr 2003 in seinem Film Freakstars 3000 geistig behinderte Menschen ihre Lieblingslieder in einer improvisierten Castingshow vorsingen ließ, handelte es sich weniger um eine Wiederbelebung 28 | Harrasser 2013, 48. Auch die Soziologin Paula-Irene Villa spricht von der »Hegemonie eines spezifischen ökonomisch inspirierten Optimierungsangebots« (Villa 2008, 249), welche zunehmend als Subjektivierungsweise dient. Villa bezieht sich hier auf eine von Körper- und Geschlechternormen geprägte body politics zwischen Selbstermächtigung und Rohstoffisierung – eine Tendenz, die ebenso auf gesellschaftliche Sicht- und Umgangsweisen mit körperlichen Behinderungen bezogen werden könnte. 29 | Die Paralympics 2012 in London wurden vom Fernsehsender Channel 4 mit dem Slogan »Meet the Superhumans« beworben, vgl. Harrasser 2013, 35f. 30 | Vgl. Harrasser 2013, 48.
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der Freakshow im Medium Fernsehen als vielmehr um eine Persiflage, welche die lächerlichen Normen und Prinzipien von TV-Castingshows schonungslos aufdeckte und ad absurdum führte.31 Als der Juror Thomas Thieme beim Theatertreffen 2012 Julia Häusermann vom Theater HORA als beste Nachwuchsschauspielerin für ihre Performance in Disabled Theater auswählte, hatte dies weniger mit ihrer beeindruckenden Leistung zu tun. Vielmehr ging es um eine Kritik an den »gelackten Technikvorführungen« von Schauspielschulabsolvent/innen, dem Thieme das »selbstvergessene Spiel« einer Performerin mit Down-Syndrom gegenüberstellte.32 Die beiden Beispiele zeigen: Mit einer positiven Umwertung von disability im Sinne des kulturellen Modells (Anne Waldschmidt) als ästhetisches Potenzial und Marker einer pluralen und heterogenen Gesellschaft ist es nicht getan. Es kommt hingegen darauf an, die Verknüpfung von Performance und Leistung sowie von Kunst und Verstehen zu hinterfragen. Eine Thematisierung der Begriffe Nichtkönnen und Nichtverstehen im Kontext einer Disability Aesthetics erweitert Siebers Perspektive auf sinnvolle Weise und befreit sie zugleich von ihrer Einschränkung auf Aspekte von Schönheit und Affektivität. Darüber hinaus führt sie dazu, die avantgardistische Brille Siebers abzusetzen und auch zeitgenössische, von der Ästhetik der klassischen Moderne weit entfernte Beispiele ins Blickfeld zu rücken. Das politische Potenzial einer auf diese Weise erweiterten Disability Aesthetics besteht in der Hinterfragung eines Paradigmas des Könnens und der Selbstoptimierung, das sowohl in den Darstellenden Künsten vorherrschend als auch insgesamt für unsere Leistungsund Kontrollgesellschaft prägend ist. Anstelle der bloßen Anerkennung einer sozial hervorgebrachten Differenz – der Anerkennung des von der Norm abweichenden Körpers –, geht es um die Würdigung ästhetischer InDifferenz, um eine, mit Jacques Rancière gesprochen, Gleich-gültigkeit des Ästhetischen,33 welche die Kategorien des Könnens und Verstehens als Ideologien entlarvt. Ich möchte im Folgenden auf zwei Beispiele aus dem Gegenwartstheater zu sprechen kommen, die das Potenzial des Nichtkönnens bzw. Nichtverste31 | Vgl. Kroß 2015. 32 | Vgl. Thieme 2014, 19. 33 | Vgl. Rancière 2008, 41: »Nur in diesem [dem ästhetischen] Regime existiert die Kunst als solche, und nicht mehr einfach die Künste oder die schönen Künste, nur in diesem Regime hat die Kunst eine Geschichte (die sich von den Leben berühmter Künstler unterscheidet) und eigene Institutionen: Die Statue eines griechischen Gottes, eine Darstellung der Kreuzigungsszene, ein Königsporträt oder eine flämische Wirtshausszene unterstehen im Museum alle der gleichen, indifferenten Betrachtung der ursprünglichen Zielsetzung der Werke und der Ausarbeitung ihrer Sujets; die Musik gibt sich im Konzertsaal einfach als Musik, ohne Zusammenhang mehr zwischen einer künstlerischen Normativität und einer hierarchischen Aufteilung des Sinnlichen.«
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hens für eine Disability Aesthetics genau in dieser Hinsicht veranschaulichen. Beim ersten Beispiel handelt es sich um eine fingierte Probenszene aus dem Stück Ganesh versus the Third Reich des australischen Back to Back Theatre, in welcher der mit Trisomie 21 geborene Schauspieler Mark Deans von einem seiner Mitspieler des Nichtverstehens bezichtigt wird. Beim zweiten Beispiel handelt es sich um die Produktion Gala des französischen Choreografen Jérôme Bel, in der Akteur/innen mit ganz unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen verschiedene standardisierte Tanzfiguren sowie ein selbst entwickeltes Solo vorführen. *** Das Back to Back Theatre gehört seit Jahren zu den weltweit erfolgreichsten Theaterkompanien mit geistig behinderten Schauspieler/innen und ist neben der Sydney Theatre Company das einzige australische Theater mit einem fest angestellten, professionellen Ensemble. Regisseur Bruce Gladwin, mit dem die Gruppe seit 1999 zusammenarbeitet, entwickelt und schreibt alle Stücke gemeinsam mit den Performer/innen, wobei nicht selten der prekäre Status von Menschen mit geistiger Behinderung in den Stücken (oftmals ironisch) thematisiert wird. So widmet sich das 2011 uraufgeführte Stück Ganesh versus the Third Reich mit einer szenischen Begegnung zwischen Josef Mengele und der elefantenköpfigen Hindu-Gottheit Ganesha dem Thema Euthanasie. Im Zentrum des Stückes steht jedoch die Gier nach Macht und Autorität. Ganesha reist nach Nazideutschland, um das von Hitler gestohlene Hakenkreuz zurück nach Indien zu bringen, was ihm schließlich auch gelingt. Diese dramatische Haupthandlung wird mehrfach unterbrochen von fiktiven Probenszenen, die den Entstehungsprozess der Inszenierung thematisieren und bei denen es ebenfalls um Fragen symbolischer und praktischer Machtausübung geht. David Woods, der einzige nichtbehinderte Schauspieler auf der Bühne, spielt dabei den sozial eingestellten, aber autoritären Regisseur, der den geistig behinderten Schauspieler/innen seine Vorstellungen richtigen Schauspiels aufzwingen will. Mehrmals geht es um den Vorwurf des Nichtverstehens, wobei dieser nicht nur vom Regisseur, sondern vor allem auch von Seiten des Ensembles geäußert wird. So beschwert sich der mit Autismus und Tourette-Syndrom diagnostizierte Schauspieler Scott Price in einer Probenszene über den geistig behinderten Schauspieler Mark Deans mit den Worten: »Mark should be, like, removed. He doesn’t understand what is fiction and what is not. […] Mark doesn’t understand what is going on. It is really problematic.« Marks Hirn, so Price weiter, gleiche wahrscheinlich dem eines Goldfischs. Die beiden anderen anwesenden Schauspieler protestieren laut und nehmen Mark in Schutz, der nichtbehinderte ›Regisseur‹ David Woods jedoch kündigt an, den Konflikt lösen zu können, indem er Mark selbst mit dem Vorwurf konfrontiert: »Mark«,
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so David Woods, »do you think of yourself as having the mind of a goldfish?« Mark lächelt und nickt. Als Woods die Frage erneut mit anderen Worten stellt, wiederholt Mark das Wort »Goldfish«, und beginnt mit ruhiger Stimme weitere Fische und Meerestiere aufzuzählen. Dazu ahmt er gestisch die Schwimmbewegungen der Fische nach. »Seal. Whale. Shark.« usw. Durch sein verblüffendes Kopfnicken spielt der Schauspieler Mark Deans nicht nur mit den Erwartungen der Zuschauer/innen, von denen sich womöglich viele einen Widerspruch erhoffen. Er führt vielmehr exemplarisch vor, auf welche Weise eine Disability Performance vermag, die Kategorie des Verstehens selbst infrage zu stellen. Wir verstehen nicht, was Mark Deans in diesem Moment versteht. Wir können lediglich ahnen, dass es sich um ein einstudiertes, inszeniertes oder dargestelltes Nichtverstehen handelt, da die Szene ja offenbar keine echte Probe ist, sondern fester Bestandteil einer, viele Male aufgeführten, Theaterproduktion. Aber da ist noch mehr: Die Position des einzig nichtbehinderten Akteurs auf der Bühne, der hier die Rolle des wissenden und überlegenen Regisseurs spielt, kippt in dieser Szene unerwartet in die Position des Nichtverstehenden, als Deans beginnt, neben dem Goldfisch auch andere Fische und Meeresbewohner wie Robbe, Wal oder Hai aufzuzählen. Die Reihung ergibt als Antwort keinen erkennbaren Sinn und kann je nach Interpretation ebenso als Idiotie des Antwortenden wie auch als Veräppelung des Fragenden ausgelegt werden. Beachtet man schließlich noch, dass der ursprüngliche Vorwurf des Nichtverstehens durch den Schauspieler Scott Price die Verwechslung von Realität und Fiktion betrifft, stellt sich die Frage, ob nicht die Szene in Wahrheit wiederum auf ein solches Nichtverstehen bei den Zuschauer/innen zielt. Denn ob die Probenszene rein fiktiv ist oder tatsächlich die Proben des Stückes widerspiegelt, ob der Vorwurf an Mark, er könne Realität und Fiktion nicht auseinanderhalten, ausgedacht oder einen wahren Kern hat, ob die Figur des Regisseurs Aspekte des echten Regisseurs, Bruce Gladwin, beinhaltet – all das sind Fragen, die sich für die Zuschauer/innen weder beantworten noch aufklären lassen. Vor allem aber zeigt das Beispiel, auf welche Weise die Zuschreibung geistiger Behinderung von den Performer/innen selbst genutzt werden kann, das hierarchische Verhältnis von Verstehen und Nichtverstehen auf der Bühne zu thematisieren und zu destabilisieren. Das Nichtverstehen entzieht den Zuschauer/innen hier nicht einfach den Boden der Sinn- und Bedeutungsstiftung, sondern dekonstruiert gewissermaßen die ästhetischen und sozialen Zuschreibungen, die sich auf die Performance der geistig behinderten Schauspieler/innen beziehen. Die Dekonstruktion des Verstehens geht also über Lehmanns Ästhetik des Nichtverstehens noch hinaus, indem die Szene in letzter Konsequenz eine Hinterfragung der Kategorien behindert/nichtbehindert erzwingt. Genau dies wird verkörpert mit der irritierenden Haltung des Nichtverstehens durch die Figur Mark Deans: Es geht um eine Verweigerung,
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sich in Kategorien behindert/nicht-behindert, schwachsinnig/intelligent pressen zu lassen und um die Möglichkeit, sich diesseits jener Kategorisierungen in Szene zu setzen. *** Jérôme Bel widmet sich in seinen Arbeiten der Dekonstruktion von Normen, Konventionen und institutionellen Bedingungen von Tanz und Theater. In ähnlicher Weise wie sich die institutional critique seit den 1970er-Jahren mit den Rahmenbedingungen der Herstellung und der Präsentation von Bildender Kunst befasst hat, legen es Bels Stücke darauf an, die Bedingungen theatraler Präsentation und Rezeption aufzudecken und zur Disposition zu stellen. Bereits in Jérôme Bels Disabled Theater, eine Produktion mit elf geistig behinderten Schauspieler/innen des Theater HORA, ging es um das Hinterfragen eines Paradigma des Könnens auf der Bühne. Sandra Umathum hat dies als eine »Subversion der Logik des Trotzdem«34 beschrieben, jener Logik, mit der Peter Sloterdijk den berühmten Geiger ohne Arme, Carl Hermann Unthan, als »Sieger über seine Behinderung«35 darstellt. Die Logik des Trotzdem, in die laut Umathum auch das sogenannte inklusive Theater immer wieder droht zurückzufallen – jemand kann trotz seiner Behinderung Hamlet spielen oder trotz seiner Behinderung virtuos tanzen –, wird von Bel insofern außer Kraft gesetzt, als es bei ihm gerade nicht um die Darbietung einer außergewöhnlichen Leistung geht, sondern um ein disabling, um ein Behindern von Performance. Gala setzt nun dieses Motiv des disabling fort, unterscheidet sich aber von Disabled Theater in der Auswahl der Performer/innen, deren Diversität hier umso deutlicher eine ästhetische Gleichheit bzw. Gleich-gültigkeit betont. Es treten Profis und Laien, Erwachsene und Kinder auf, nur zwei von ihnen haben eine sichtbare Behinderung, fast alle sind jedoch mit einem Nichtkönnen auf der Bühne konfrontiert. Ja selbst die Ballettschülerin und die beiden ehemaligen Tänzer der Forsythe Company, die zu Beginn noch mit Leichtigkeit eine Pirouette drehen oder den Moonwalk von Michael Jackson ausführen, scheitern im weiteren Verlauf der Aufführung an der Nachahmung der Choreografien ihrer Mitspieler/innen, was vor allem daran liegt, dass diese Arbeit Bels nicht auf wochenlangen Proben, sondern auf dem Konzept beruht, jedem der Performer/innen unabhängig seines technischen Könnens die Möglichkeit zu geben, ein selbständig für dieses Stück entwickeltes Solo gemeinsam mit dem Ensemble aufzuführen.36 34 | Umathum 2015, 102. 35 | Vgl. Sloterdijk 2009, 69. 36 | Bel hat sich in der Vorbereitung der Produktion von den nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel gecasteten Performer/innen (Anzahl Männer-Frauen, zwei pro-
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Das, was Jérôme Bel mit diesem Konzept darlegt, ist ein Paradox, nämlich, dass Imperfektion als Tanz-Performance gelingen kann. Die Performance auf der Bühne besteht mitnichten in einer dargebotenen Leistung, die Tänzer/innen haben weder mithilfe des Choreografen an ihrer Performance gefeilt noch bedienen sie sich technischer Hilfsmittel, um ihr Nichtkönnen zu überwinden. Die Performance präsentiert vielmehr eine Heterogenität von Körpern und Bewegungen im Hinblick auf ein kulturelles Repertoire von Tanzfiguren, welche in einer perfekten Darbietung eines professionellen Ensembles jeden Reiz verlieren würden und erst in der Wiederholung und Singularität der jeweilig imperfekten Ausführung eine Schönheit erkennen lassen. Die Ästhetik der Imperfektion, die Performance des Nichtkönnens, die uns bei Gala präsentiert wird, lässt sich vielleicht tatsächlich treffend mit Christoph Menkes Begriff Kraft beschreiben. Es geht um eine Kraft, die in der Lage ist, auch das Imperfekte, Unfertige und Dilettantische durch eine Ästhetisierung in Kunst zu verwandeln, durch ein Unbestimmtmachen, welches das Paradigma des Könnens aussetzt.37 Egal wie dilettantisch der grand jeté oder der Walzer auf der Bühne getanzt wird, egal wie einfach und naiv das Solo eines achtjährigen Performers aussieht: Im Kontext der Heterogenität und Gleich-gültigkeit der Figuren wird die dargebotene Dis-ability zur Kunst – eine Kunst, die ganz im idealistischen Sinne als schön erscheint, als ein Spiel der Kräfte. Das Können des Nichtkönnens, Disability Performance, verwandelt Differenz in Indifferenz, Beeinträchtigung in Gleichheit. Diese Gleichheit ist jedoch keine soziale Errungenschaft, sie ist auch kein politisches Ziel, sie ist lediglich ästhetisch und gerade darin politisch.
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fessionelle zeitgenössische Tänzer, eine Leistungssportlerin, eine Balletttänzerin, zwei Kinder, ein Rollstuhlfahrer, eine Frau mit einer geistigen Behinderung etc.) das ausgedachte Solo jeweils als Videoaufzeichnung zuschicken lassen und lediglich eine Auswahl von zehn Soli und deren Reihenfolge festgelegt. 37 | Vgl. Siegmund 2015.
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PhänoGenoMene Ausschluss und Einstand postmigrantischer Körper Veronika Darian
U mgang mit (sichtbarer) F remdheit In der Berichterstattung nach der Kölner Silvesternacht 2015 war vor allem in den ersten Artikeln zwar noch verhalten, aber dennoch durchgehend von mutmaßlichen Tätern die Rede, die »dem Aussehen nach« aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum zu stammen schienen.1 Mit diesem Einstieg ist mir nicht daran gelegen, eine höchst notwendige soziopolitische Diskussion anzustoßen, deren fragwürdige Grundlagen bis heute in aktuellen Äußerungen erschreckend präsent sind.2 Vielmehr geht es mir in erster Linie um ein Phänomen, das sich auch in gegenwärtigen Theaterdebatten wiederfindet und das im wahrsten Sinne am Phänotyp eines Menschen ansetzt: Es geht mir um den Umgang mit sichtbarer Fremdheit im Theater und um seine diskursive Auffächerung. Arbeitet man sich durch Blogs, Artikel und Rezensionen, die sich in den letzten Jahren mit postmigrantischem Theater auseinander setzten, tauchen früher oder später zwei Spielarten sichtbarer Fremdheit auf: Zum einen wird postmigrantisches Theater selbst als weithin sichtbares und dadurch auch wirksames »Label«3 präsentiert. Spätestens seit Shermin Langhoffs Übernahme des Ballhaus Naunynstraße im Jahr 2008 fungiert postmigrantisches Theater als »Schlagwort, das Aufmerksamkeit erregen soll – und es auch tut«4. Hierfür wurde Langhoff, die 2013 zusammen mit Jens Hillje die künstlerische 1 | Vgl. dpa 2016. 2 | Siehe hierzu die aktuelle Debatte um racial profiling im Zusammenhang mit der Silvesternacht 2016 und die polizeiliche Verwendung des Begriffes »Nafri« für »Menschen eines bestimmten Phänotyps«, vgl. Neeb, www.spiegel.de/panorama/justiz/silvesterkontrollen-in-koeln-was-bitteschoen-ist-ein-nafri-a-1128172.html. 3 | Vgl. u.a. Behrendt 2014, 7. 4 | Simon, www.zeit.de/2014/39/gorki-theater-berlin.
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Leitung des Berliner Gorki Theaters übernahm, durchaus auch kritisiert, indem diese Strategie als Finanzierungsgarantie diffamiert wurde, die sicherstelle, dass »ein Migrationshintergrund im steuergeldfinanzierten Staatskulturbetrieb ein Abonnement auf lebenslange Absahne bedeutet«5. Darüber hinaus birgt dieserart Labeling unbenommen die Gefahr der Vereinfachung, einer neuerlichen Stereotypisierung und Reduktion, gegen die man sich mit der schlagkräftigen Marke eigentlich zur Wehr setzen wollte. In Kenntnis dieser Vorwürfe und Schwierigkeiten wird das Label trotzdem oder gerade deswegen von engagierten Theatermachenden dezidiert programmatisch eingesetzt – und zwar gegen die zweite Art der Sichtbarkeit, auf die ausnahmslos kritisch Bezug genommen wird: die ambivalente Sichtbarkeit von Darstellenden mit Migrationshintergrund. Ambivalent ist diese Sichtbarkeit deshalb, weil sie sich faktisch entweder als Unsichtbarkeit, das heißt als weitgehende Abwesenheit solcher Darstellenden auf den Bühnen des deutschen Sprechtheaters, zeigt oder diese schlicht in Dienst nimmt im Sinne einer stellvertretenden, weithin sichtbaren interkulturellen Fremderfahrung.6 Einerseits finden sich Darstellende mit offensichtlichem Migrationshintergrund also von den immer noch recht unerschütterlichen, auf ›bio-deutsche‹ Schauspieler/innen ausgerichteten Strukturen des Theatermarktes – von den Ausbildungsstätten bis hin zu Engagements an den Häusern – verhältnismäßig ausgeschlossen.7 Andererseits sollen sie, wenn sie denn eingesetzt werden, – so die mehrheitliche Wahrnehmung der ›betroffenen‹ Theatermachenden – oftmals lediglich ein möglichst authentisches Bild fremder Kulturen vermitteln und für ihren, wenn auch nur zugeschriebenen, fremdkulturellen Hintergrund oder allgemeiner für Migra-
5 | Akif Pirinçci zitiert nach Simon, www.zeit.de/2014/39/gorki-theater-berlin. 6 | Unbedingt lesenswert sind in diesem Zusammenhang die Schriften von Bernhard Waldenfels, über seine grundlegenden Studien Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie (1997) und Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden I (2006) hinaus insbesondere der Aufsatz »Fremderfahrung, Fremdbilder, Fremdorte. Phänomenologische Perspektiven der Interkulturalität« (2010). 7 | Eine Erhebung aktueller Zahlen steht meines Wissens für alle genannten Bereiche zwar noch aus. Doch auch wenn sich die Situation gegenwärtig langsam ändert, verweist beispielsweise Azadeh Sharifi in ihrem Beitrag zu »Theater und Migration« in der kürzlich erschienenen, von Manfred Brauneck und dem deutschen Zentrum des Internationalen Theaterinstituts (ITI) herausgegebenen Anthologie Das freie Theater im Europa der Gegenwart. Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik (2016) darauf hin, dass Theatermachende mit sichtbarem Migrationshintergrund bereits in der schulischen und später in der künstlerischen Ausbildung durchgängig Rassismus und Diskriminierung ausgesetzt sind, wodurch ihnen der Weg auf die Bühne wenn nicht verweigert, so doch massiv erschwert wird, vgl. Sharifi 2016, insb. 404-409.
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tionsthemen einstehen.8 Ein sichtbarer und hörbarer Migrationshintergrund auf der Bühne sei immer noch ein »Faktor, der [durchs Publikum und in den Feuilletons] negativ ausgelegt werden könnte«9, so die Theaterwissenschaftlerin Azadeh Sharifi. Damit sind die Ängste und Vorbehalte von Theatermachenden angesprochen, die bei mancher Inszenierung und vorangegangenen Besetzungsentscheidung am Werke sind. Im günstigsten Fall würden Darstellende mit sichtbarem Migrationshintergrund – wenn überhaupt – »als Gäste engagiert, die kommen und gehen«10. Nicht gekommen, um zu bleiben beziehungsweise bleiben zu dürfen, sondern lediglich als Gäste lassen sich solche Darstellenden auf Zeit akzeptieren. Dieses Verständnis ähnelt auffällig einer Beschreibung, mit der Georg Simmel bereits vor knapp 100 Jahren in seiner Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung den Fremden definierte – allerdings nur dem ersten Teil, denn der zweite folgenreichere bleibt ausgespart: »Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinne gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt [Herv. d. Verf.].«11 Von der notwendigen und bereits in Gang gesetzten Veränderung infrastruktureller und personeller Gegebenheiten abgesehen,12 interessiert mich seit Längerem das diskursive Hintergrundrauschen, das die aktuelle Diskussion um die Bedingungen der Möglichkeiten postmigrantischen Theaters begleitet und grundiert und das sozio- und kulturpolitische Realitäten dezidiert mitbestimmt. Die maßgeblichen Schlagworte der Debatte – seien es Fremd erfahrung, Exklusion, Integration, Partizipation, Leitkultur oder kultureller Rassismus, um nur einige wesentliche zu nennen – betrafen und betreffen allgemeiner gefasst den Umgang mit jeglichem marginalisierten Teil unserer Gesellschaft. In den letzten Jahren sind vor allem alte Menschen, Menschen 8 | Vgl. Hallmayer, www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=ar t icle&id=8851:muenchner-diskussion-ueber-menschen-mit-migrationshintergrundam-theater&catid=101:debatte&Itemid=84, oder Coltrane, http://blog.triptown.de/ ?p=867. 9 | Azadeh Sharifi zitiert nach Uludag, www.nachtkritik.de/index.php?view=article& id=5600:migranten-spielen-auf-den-sprechbuehnen-keine-rolle&option=com_con tent&Itemid=84. 10 | Perumal, www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id = 8 8 8 0 :d e b a t t e - m i g r a n t e n - a n - d e u t s c h e n - t h e a t e r n - e i n - o f f e n e r- b r i e f - d e s schauspielers-murali-perumal-an-die-sueddeutsche-zeitung&catid=101:debatte&Ite mid=84. 11 | Simmel 1923, 509. 12 | Siehe beispielsweise das Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes 360° Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft, www.kulturstiftung-des-bundes.de/ cms/de/projekte/nachhaltigkeit_und_zukunft/agenten_stadtgesellschaft.html.
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mit Behinderung und eben Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund als von der Gesellschaft an den Rand gedrängte Gruppen auch in den Fokus der kulturwissenschaftlichen und künstlerischen Auseinandersetzung geraten. Weit davon entfernt, diese Diskurse undifferenziert vermischen oder graduelle Fremdheiten vereinheitlichen zu wollen, scheint doch auffällig, dass viele Forschungsergebnisse und Erkenntnisse, die beispielsweise den Gender Studies, den Ageing Studies, den Disability Studies oder den Postcolonial Studies zu verdanken sind, maßgebliche und offenkundige Parallelen aufweisen zur aktuellen Debatte um den Umgang mit migrantischen und postmigrantischen Realitäten auf der Bühne. Mein knapper Systematisierungsversuch folgt markanten Spuren innerhalb einiger der erwähnten Diskurse. Es ist ein Versuch, darin angelegte übertragbare Parallelen, aber auch die bezeichnenden Unterschiede herauszuarbeiten. Bereits diskutierte und realisierte Modelle gilt es vorzustellen, die für die aktuelle Debatte um postmigrantisches Theater fruchtbar zu machen sind.
B ehinderung (en) des S ehens Dreh- und Angelpunkt dieser Debatte ist nicht zuletzt der Körper, der im Raum des Theaters in Aktion tritt und dabei unwillkürlich auch ins Spiel gebracht wird. Dieser Raum des Theaters ist zu allererst als Raum einer symbolischen Ordnung anzuerkennen. »Der ›gemachte‹ oder gestaltete, aber auch der bewußt ›naturbelassene‹ Raum ist ein zeichenhafter, bezeichneter und symbolischer Raum, in dessen Gestalt(ung) – mehr oder minder deutliche – Hinweise auf seine Erbauer, Ausstatter oder Eigner eingeschrieben sind. Und: Entsprechend sozialisierte (kulturell kompetente) Akteure können und müssen den ›sinngeladenen‹ Raum ›lesen‹, ›entschlüsseln‹ sowie in Bezug auf ihn handeln. Als eine materielle und kulturelle Tatsache verweist der Raum auf eine Vielfalt von Kontexten und Strukturen von Praxis: Er ist ein Indikator und Generator von Macht, Herrschaft, Sanktion, Gesundheit und Krankheit, Normalität und Abweichung, Exklusion und Inklusion, Wissen und Nicht-Wissen, Status, Autorität, Disziplin, Intimität, Furcht, Sicherheit (u.a.m.).«13
Theater nun hat fraglos als ein solcher symbolischer Raum zu gelten. Ihm sind ebenfalls spezifische Praktiken eingeschrieben, denen sich die Akteur/innen auf und auch vor der Bühne zu beugen haben. Theater als symbolischer Raum unterliegt spezifischen, historisch und soziokulturell geprägten Dispositiven vor allem des Sehens, Erkennens und Deutens und vermag diese gleichzeitig 13 | Willems/Eichholz 2008, 865f.
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auch selbst zu setzen.14 Damit ist auch Theater Indikator und Generator von Macht und Herrschaft, Normalität und Abweichung, Exklusion und Inklusion. Mehr noch: Theater ist ein Raum der produzierten Sichtbarkeit von Körpern und ihrer gleichzeitigen Unsichtbar-Machung. Tobin Siebers, einer der führenden Forscher der Disability Studies, die Behinderung als soziale, historische und kulturelle Konstruktion begreifen, formuliert bezüglich des behinderten Körpers auf der Bühne: »Was sieht das Publikum im Theater? Das Publikum sieht vor allem natürlich Körper, aber was sieht es von den Körpern? Was für Körper sind auf der Bühne sichtbar? Welche sind unsichtbar? Wenn diese Fragen im Kontext von Behinderung auf der Bühne gestellt werden, lassen sie ein grundsätzliches Paradox von Un/Sichtbarkeit erkennen. Denn Theater ist ein Theater von nicht-behinderten Körpern, sie sind angeblich die sichtbars ten auf der Bühne; da sie aber die Norm sind, sind sie de facto unsichtbar. Es bedeutet fast nichts, wenn ein nicht-behinderter Körper die Bühne betritt. […] Mit dem behinderten Körper ist das anders. Sobald er die Bühne betritt, ist er sichtbar, vielleicht sogar hypersichtbar. […] Der behinderte Körper hat Bedeutung – und zwar notwendigerweise –, da das Publikum, sobald etwas so Sichtbares wie ein behinderter Körper ohne Begleitbedeutung oder -erklärung die Bühne betritt, das Stück bemängelt. […] Der behinderte Körper droht die Funktion des Theaters als Ort des Sehens zu behindern.«15
Theater kann auf diese Doppellogik der Sichtbar- bzw. Unsichtbar-Machung reagieren, indem es sich nicht nur als ein Raum der Bedeutungsproduktion, sondern auch als ein Raum des ausgestellten Sehens und Zeigens versteht, neben einem symbolischen Raum also auch im Brecht’schen Sinne ein »Ausstellungsraum« zu sein vermag.16 Die Verfasstheit des Theaters als symbolischer Raum der Bedeutung(-sproduktion) auf der einen oder als ein Ausstellungsraum des Zeigens auf der anderen Seite kann sich nahezu diametral auf die Wahrnehmung von Körpern auf der Bühne auswirken, indem dem Verschwinden des Körpers hinter (s)einer zeichenhaften Bedeutung entgegen gearbeitet wird. Denn wenn es sich um Körper handelt, die einer zu erwartenden Norm nicht entsprechen, greift noch viel zu oft die Logik des Theaters als eines symbolischen Raumes der Bedeutungszuschreibung. Die von Siebers beschriebene Behinderung des Sehens scheint mir eine dem entgegenwirkende künstlerische Praktik zu sein, die übertragbar ist auf jeglichen Körper, der den gewohnten Normen nicht entspricht und sie entsprechend stört. Behin14 | Siehe weiterführend das aktuelle Forschungsprojekt Theater als Dispositiv. Ästhetik, Praxis und Episteme der darstellenden Künste am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der JLU Gießen unter der Leitung von Gerald Siegmund. 15 | Siebers 2012, 16. 16 | Vgl. Benjamin 1989, 520.
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derung des Sehens bedeutet zunächst eine Störung der Erwartungshaltung, die eigentlich mit einem normierten Körper rechnet. Damit wird die Norm als solche ersichtlich und als plötzlich wahrnehmbare hinterfragt. Eine solche Behinderung des Sehens unterläuft darüber hinaus auch die im Zitat beschriebene erwartete Bedeutungszuweisung, die das Ungenormte, das abseits der Norm Liegende, das mitunter sogar als abnorm Wahrgenommene nahezulegen scheinen. Das, was Siebers hinsichtlich behinderter Körper auf der Bühne konstatiert, wird in verblüffend ähnlichen Begrifflichkeiten in Bezug auf die Körper von Darstellenden mit sichtbarem Migrationshintergrund beschrieben: Als reflexartige Reaktion werde automatisch und unhinterfragt eine »Abstraktionsleistung«17 vom Publikum gefordert, die die sichtbare Andersheit unsichtbar zu machen, sie zum Verschwinden zu bringen hat. Da dies im körpernormierten und körpernormierenden Bedeutungsraum des Theaters kaum möglich sei, werde oftmals stattdessen diese sichtbare Andersheit dahingehend gewendet, dass die Darstellenden »für eine bestimmte Spezialität, die sie biografisch mitbringen«18, eingesetzt würden. Tatsächlich berichten viele professionelle Schauspieler/innen mit sichtbarem Migrationshintergrund von spezifischen Rollen, in die sie nahezu ausnahmslos gepresst werden, Rollenklischees, die sich im Großen und Ganzen auf die »Rolle Migrant« reduzieren lassen.19 Der migrantische Körper und seine Geschichte verschwinden hinter der HyperSichtbarkeit der »Rolle Migrant«.20 Zu der im Februar 2016 auf Kampnagel stattgefundenen internationalen Flüchtlingskonferenz war etwas ganz Ähnliches zu lesen, das zum Kern der Debatte um aufgesetzte Schablonen führt: »Flüchtling. Dieser Begriff ist mittlerweile so sehr in den deutschen Alltag hineingewachsen, dass jeder zu wissen glaubt, was sich dahinter verbirgt. Er haftet den Men17 | Uludag, www.nachtkritik.de/index.php?view=ar ticle&id=5600:migranten-spie len-auf- den-sprechbuehnen-keine-rolle&option=com_content&Itemid=84. 18 | So äußerte sich der Intendant des Thalia Theaters Hamburg, Joachim Lux, zitiert nach Uludag, www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=5600:migranten- s pie len-auf-den-sprechbuehnen-keine-rolle&option=com_content&Itemid=84. 19 | Vgl. Perumal, www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=ar t icl e &id=8 8 80:debat t e -mig r ant en-an- deu t s chen-t heat er n- ein- of fener-br ief- de s schauspielers-murali-perumal-an-die-sueddeutsche-zeitung&catid=101:debatte&Ite mid=84. 20 | Es muss selbstverständlich unterschieden werden zwischen konventionalisierten dramatischen Rollen, tradierten Theatermitteln wie dem Blackfacing und weitergehend den Rollen, die heutzutage Darstellenden mit migrantischem Hintergrund oftmals aufgezwungen werden.
PhänoGenoMene schen nach ihrer Flucht an wie ein Etikett. Ein Flüchtling ist ein Fremder, der Teil eines großen Problems ist. Wer genau diese Neuankömmlinge sind, was sie für Qualitäten haben, was für politische Ansichten, das geht unter in den ausführlichen Debatten, in denen sich die Europäer vor allem um sich selbst drehen.«21
Dies kehrt auch die unumgängliche andere Seite der Medaille hervor, die Tatsache eurozentristischer Selbstbespiegelung.
K ultureller R assismus Die oben genannten Rollenbilder lassen sich auch in historischen Zusammenhängen wiederfinden. Exotismus und Exotisierung haben eine lange, nicht gerade glorreiche Tradition sowohl im Sprech-, vor allem aber auch im Musiktheater, im Ballett und in anderen Formen des Bühnentanzes. Den perfiden Dreh einer »doppelten, sich verkehrenden Exotisierung«22 schildert beispielsweise die Tanzwissenschaftlerin Susanne Foellmer im Zusammenhang mit afrikanischen oder lateinamerikanischen Tänzerinnen Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts, die in Europa und Amerika die afrikanische Schönheit (z.B. Josephine Baker) oder die klassische Latina (z.B. Carmen Miranda) zu geben hatten. Dabei handelte es sich nicht nur um »eurozentristisch überformte Wunschvorstellungen«23 seitens des Publikums; die Tänzerinnen arbeiteten eigens daran, das exotische Bild ihrer selbst herzustellen und aufrecht zu erhalten, wie beispielsweise Miranda, die »mit schwerem Kunstakzent ihr immer besser werdendes Englisch vertuschen musste, um noch als ›Brasilianerin‹ zu gelten«24. Andererseits wurde ihr in ihrer Heimat Brasilien gleichzeitig vorgeworfen, »keiner originären brasilianischen Kultur mehr anzugehören, die ohnehin nur als Wunschvorstellung« existierte, wie Foellmer weiter ausführt.25 Auch hier hatten die Darstellenden also für eine bestimmte Kultur einzustehen, die, unabhängig von der Perspektive, immer noch von einem Ursprünglichen, Reinen, Authentischen Auskunft geben sollte.26 21 | Hahn 2016. 22 | Foellmer 2009, 185. 23 | Foellmer 2009, 185f. 24 | Roberto Pereira zitiert nach Foellmer 2009, 185. 25 | Vgl. Roberto Pereira zitiert nach Foellmer 2009, 186. 26 | Nebenbei bemerkt war das Interkulturalitätsmodell, das v.a. in den 1990er-Jahren das vorher debattierte Multikulturalitätsmodell ersetzen sollte, von ganz ähnlichen Vorstellungen monadischer, voneinander getrennter Kulturen geprägt, die in dieser utopischen Vorstellung miteinander in fruchtbaren Austausch und einen paritätisch geführten Dialog treten sollten, anstatt ›Multi-Kulti‹ nebeneinander her zu existieren.
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Hier greift das Schlagwort des »kulturellen Rassismus«27, das Vertreter/ innen der postkolonialen Theorie durchweg stark beschäftigte. Denn damit würden »primär Unterschiede in Kultur, Lebensweise, Glauben, ethnischer Identität und Tradition [fokussiert], die viel tiefer greifen in der Differenz und Abgrenzung als frühere Formen von Rassismus bezogen auf biologische und genetische Unterschiede«28, wie es Caroline Düvel mit Verweis auf Stuart Hall formuliert. Die Postcolonial Studies verwehrten sich gegen dieserart koloniale Kulturansätze, die unter der Zuschreibung der sogenannten Otherness einer Abgrenzungspolitik der Exklusion Vorschub leisteten und kulturelle Hegemonie – mit Erfolg – aufrechtzuerhalten suchten. Im Gegensatz dazu führten Denker wie William Edward Burghardt Du Bois oder Paul Gilroy beispielsweise »die Gemeinsamkeiten in der Ästhetik [afroamerikanischer Künstler/innen; Anm. d. Verf.] vielmehr auf eine bestimmte Sozialgeschichte zurück, die sich in die Körper und Ausdrucksweisen als eine Form des Wissens und kultureller Identität eingeschrieben«29 habe. »This subculture often appears to be the intuitive expression of some racial essence but is in fact an elementary historical acquisition produced from the viscera of an alternative body of cultural and political expression that considers the world critically from the point of view of its emancipatory transformation.« 30
Es ist also keine Frage einer vermeintlichen Ursprungskultur, sondern eine dynamischer Prozesse der Transformation und Emanzipation.31
27 | Die Debatte um kulturellen Rassismus hat in den 1980er-Jahren in unterschiedlichen Ländern verschiedene Ausprägungen angenommen und differenzierte Begrifflichkeiten hervorgebracht. In Frankreich wurde beispielsweise der Begriff des Neo-Rassismus geprägt durch Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein (1991); in England waren u.a. Paul Gilroy (1993) und Stuart Hall (1989) mit ihren Schriften zum Rassismus als ideologischem Diskurs federführend. 28 | Düvel 2009, 177. 29 | Regus 2009, 134. Christine Regus bezieht sich auf Du Bois’ Publikation The Souls of the Black Folk (1903), in der er den Schleier und das doppelte Bewusstsein als die zwei zentralen Metaphern für die psychosoziale Selbsterfahrung von Afroamerikaner/inn en aufdeckt, und auf Gilroys Publikation The Black Atlantic (1993), in der er den Schwarzen Atlantik über seine metaphorische Bedeutung hinaus als Analyseinstrument einführt. 30 | Gilroy zitiert nach Regus 2009, 134f. 31 | Schlagworte wie Schwarzer Atlantik (Gilroy) und Diaspora (Gilroy und Hall) werden als notwendigerweise neu zu findende Metaphern für fluidere, hybridere Formen der Transformation eingeführt. Vgl. auch Hall 2000.
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E manzipatorische Tr ansformation Ein Ausdruck dieser emanzipatorischen Transformation war die Strategie des sogenannten Writing back32. Entgegen dem verschriebenen Einstehen für eine vermeintlich authentische, ursprüngliche Heimat-Kultur, die als vermeintlich genetisch abgespeichert galt, stand man nun für sich selbst ein. Writing back wandte sich gegen hegemoniale Strukturen und Deutungshoheiten und diente dem Empowerment der ehemals Kolonisierten, der Übernahme der eigenen Rede und dem Einnehmen einer eigenen Position im Diskurs. Zuallererst ist es der Strategie des Writing back also daran gelegen, selbst die Stimme zu erheben und nicht immer nur andere über oder sogar für sich sprechen zu lassen. Dies scheint mir eine Strategie zu sein, die sich in Formen partizipativen Einbezugs auch im Theater wiederfinden lässt. Interessanterweise tauchen genau diese Stichworte in der jüngst veröffentlichten Begründung für die Vergabe des Theaterpreises Berlin 2016 an Langhoff und Hillje wieder auf: »Selbstermächtigung, Diversität und Partizipation sind mittlerweile beliebte Begriffe geworden. Shermin Langhoff und Jens Hillje haben sie früher als andere zu Grundvoraussetzungen ihres Theaters erklärt.«33 Unter vielen anderen Praktiken scheint hier der Einbezug von Lai/innen beziehungsweise Expert/innen des eigenen Alltags und der eigenen Geschichte maßgeblich, die in den letzten Jahren sowohl im Theater mit Älteren und mit Menschen mit Behinderung, aber auch in postmigrantischen Zusammenhängen zunehmend auf den Bühnen auftauchten. Doch allzu oft bedient die Arbeit mit Lai/innen immer noch die Sehnsucht nach Authentizität oder liefert ein wohlmeinendes Podium für ›Betroffene‹. Prekär werden diese Strategien dann, wenn nach wie vor die Anwesenheit fremder Körper und Geschichten auf der Bühne verwechselt wird mit einer erwünschten und vermeintlich erfahrbaren Sichtbarkeit und Präsenz fremder Kulturen. Die emanzipatorische Transformation, von der gerade die Rede war, erschöpft sich eben nicht dar in, eine Bühne zu bieten, auf der die Körper und Geschichten lediglich dafür einzustehen haben, auf dem (vermeintlich) Eigenen und dem (vermeintlich) Fremden zu beharren. Diese über lange Zeit tradierten Konstruktionen verfolgen bestimmte Ziele, die zu kulturellem Rassismus führen, ob sie nun auf Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund, alte Menschen oder Menschen mit Behinderung zielen.
32 | Der Ausdruck geht u.a. zurück auf den Artikel von Salman Rushdie »The Empire Writes Back with a Vengeance«, der 1982 in The Times veröffentlicht wurde. Vgl. auch Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1989. 33 | Stiftung Preußische Seehandlung, www.stiftung-seehandlung.de/wp-content/ uploads/2016/02/Begruendung-Preisvergabe.pdf.
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In Abgrenzung zu postkolonialem Theater agiert postmigrantisches Theater meiner Beobachtung nach weniger nach dem Motto The Empire writes back, sondern eher nach dem versuchsweise formulierten Motto Writing back and forth. Den englischen Übersetzungen der Redewendung folgend, handelt es sich um eine tastende Bewegung des Vor und Zurück, Hin und Her, Auf und Ab. Eine solche Bewegung weist nicht lediglich in eine bestimmte Richtung oder verfolgt ein bestimmtes Ziel, wie beispielsweise als pure Gegenbewegung gegen kulturelle, geschichtliche oder gesellschaftliche Deutungshoheiten und Machtzusammenhänge. Vielmehr spiegelt sich darin eine fortlaufende Suchbewegung, die unter anderem kulturellen Rassismus als strukturellen Rassismus ausmacht und diesem ein eigenes Verständnis von kulturellen Prozessen entgegenhält. Das Label postmigrantisch macht beim Einsatz für das Marginalisierte nicht Halt. Es beharrt darauf, dass heutige Realitäten grundsätzlich und ohne jegliche Einschränkung post-migrantische Realitäten sind, die nur unter der Maßgabe der Migrationserfahrung aller Beteiligten als einer Transformationserfahrung des Einzelnen wie der Gesellschaft und ihrer Kulturen begriffen werden können. Unsere Realitäten sind per se ›glokal‹ – im Sinne lokaler und globaler Verschränkungen –, sie sind transkulturell34 und hybride und sie bleiben dauerhaft in Transformation begriffen. Auf sie ist im und mit Theater nur mit einer eigensinnigen Behinderung des Sehens zu reagieren, indem Erwartungshaltungen gebrochen, Normen hinterfragt und tradierte symbolische Ordnungen unterlaufen werden. Postmigrantisches Theater hat sich in besonderem Maße der oben genannten Suche verschrieben: der Suche nach »neuen deutschen Geschichten«35, neuen Protagonist/innen, neuen Formaten,36 neuen Ästhetiken – und es produziert dadurch bestenfalls auch neue Rezipierende. Diese Suche scheint mir Konzepte etwa der Integration (wie in der gesellschaftlichen Debatte) oder Inklusion (wie in den Disability Studies diskutiert) maßgeblich zu erweitern, wenn nicht sogar zu überschreiten. Man könnte es als eine Strategie der Immersion bezeichnen, die die stattfindende kulturelle Durchdringung spiegelt und Fremdheitserfahrungen nicht auf dem Abstellgleis konstruierter Bilder von fremden Körpern und daran ablesbaren Kulturen ruhigstellt – stattdessen: embedded actors, embedded audiences.37 34 | Auch die Theaterwissenschaft reagiert auf diese Realitäten und Herausforderungen mit der Einrichtung entsprechender Studiengänge (beispielsweise in Leipzig) und weitergehender Forschung, siehe die für 2017 angekündigte Publikation Das transkulturelle Theater von Günther Heeg. 35 | Sharifi 2011, 39. Siehe auch das Interview von Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung mit Shermin Langhoff zur Gründung des »Exil Ensembles« am Berliner Gorki Theater. 36 | Vgl. Coltrane, http://blog.triptown.de/?p=867. 37 | Ähnlich formuliert bei Behrendt 2014.
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Postmigrantisches Theater kann Ausstellungsraum des Sehens und Zeigens und »Podium«38 theaterspezifischer Erfahrungen von Fremdheit sein, wenn es sich nicht auf Körper als unhinterfragte Zeichen verlässt, sondern vielmehr auf Körper als Träger von Geschichten und Geschichte setzt – individuell, singulär und darin plural erzählend. Postmigrantisches Theater ist entsprechend keinesfalls lediglich als ein theoretisches Konstrukt zu begreifen, sondern vielmehr als eine konkrete Arbeits- und Vorgehensweise, die organisatorische, institutionelle und strukturelle Aspekte zu verknüpfen sucht mit sozialem Engagement, neuen ästhetischen Ansätzen und einer rastlosen künstlerischen Neugier.
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Kategorisierung Flüchtling Willkommenskultur und die Handlungsmacht politischer Theaterinterventionen Anika Marschall
Etwa 890.000 Asylsuchende haben 2015 die Grenze nach Deutschland überquert, davon ca. 50.000 Personen im Juni, 100.000 im August und 160.000 im September.1 Die spezifische kulturelle Atmosphäre jenes Sommers ist geprägt durch eine Art »Willkommenskultur«2, die durch verschiedene Akteur/innen, durch Rhetorik, Symbolik und Handlungsmuster produziert wird und für welche in Aufnahmen und Videos im Internet sowie in Nachrichtenbeiträgen und Reportagen Szenen illustrativ verwendet werden, in denen an Bahnhöfen neu ankommende Flüchtlinge von lokal engagierten Ehrenamtlichen bejubelt und beklatscht werden. Die zujubelnden Körper ordnen sich im Raum so an, dass die Ankommenden durch dicht gedrängte Menschenschneisen über die Bahngleise laufen, in denen ihnen Bananen in Plastiktüten und Wasserflaschen in die Hand gedrückt werden, ihnen mit bunter Farbe bemalte Plakate und Banner mit Willkommensgrüßen entgegen wehen. Auf der anderen Seite ist diese gesellschaftliche Sphäre ebenso geprägt von Formen des Alltagsrassismus, der sich beispielsweise in den Skandierungen gegen Asylmissbrauch 1 | Die Zahlen entsprechen internen Statistiken der Bundesregierung auf Basis des sogenannten EASY-System, das die Einreise von Asylsuchenden registriert, nicht aber die Zahl tatsächlicher Asylanträge, vgl. Brenke 2016, 246f. 2 | Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge richtet sich mit diesem Begriff »an alle legalen Zuwandernden« und verwendet insofern interessanterweise eine genderneutrale Form von Zuwander/innen, jedoch zugleich die kategoriale und problematische Spezifizierung »legal« und verweist damit auf die politisch-motivierte Exklusivität dieser »Willkommenskultur«. Außerdem wird mit dem Begriff der »Zuwandernden« ebenso wie mit Willkommenskultur auf das temporär begrenzte Moment des Kommens und die temporär begrenzte Gastgeber/innenschaft verwiesen, vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2013, 6.
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wie Ausländerkriminalität und in Montagsdemonstrationen durch den Verein Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes ausdrückt und dessen nationalsozialistische Radikalisierung im Frühjahr 2015 ebenso medial präsent zu sein scheint wie Figuren der Willkommenskultur. In ihrer anthropologischen Diskursanalyse politischer Reaktionen auf die Flüchtlingskrise3 im Sommer 2015 definieren Heide Castañeda und Seth Holmes die Rolle Deutschlands als diejenige der medialen Diskurshoheit in Europa. »Exercising often controversial leadership as Europe’s largest economy, Germany played an especially important role in responding to the crisis in the summer and fall of 2015, occupying an important political and rhetorical position within media narratives. […] Germany has responded with an ambivalent hospitality that is uniquely nuanced and conditioned by memories (and some present-day realities) of xenophobia and fascism.« 4
Wie Castañeda und Holmes im Rückgriff auf Antonio Gramscis theoretisches Konzept des »war of position«5 aufzeigen, wird der rhetorische Terminus der Krise durch unterschiedliche Akteur/innen interpretiert und interessengeleitet instrumentalisiert, um eine Diskurshoheit zu wahren oder aber auch politische Legitimität zu erwirken.6 So betonen etwa neoliberal argumentierende Diskurse die Leistungsfähigkeit und den ökonomischen Wert der Flüchtlinge und wenden sich damit zwar gegen das Stigma des armen, hilfsbedürftigen Flüchtlings, während sie jedoch ebenso normativ zwischen dem guten, das heißt arbeitswilligen, arbeitsfähigen und dem schlechten, unfähigen Flüchtling unterscheiden.7 Wie Holmes und Castañeda aus anthropologischer Perspektive herausarbeiten wird ›der Flüchtling‹ durch politische Rhetorik und Krisenmanagement als eine Figur konstruiert, deren juristische Begriffsdefinition und Anerkennung als ebensolche davon abhängig gemacht wird, inwiefern sie die Kategorie ›Flüchtling‹ »verdienen« 8 und sich als Flüchtling performativ herstellen, das heißt sich narrativieren und vor entsprechenden Behörden ›in Szene setzen‹.9 Im Vergleich zu der politisch/juristischen und verwaltungstechnisch-funktionalisierenden Begriffsdefinition ›Flüchtling‹ und im Vergleich zur normativen Kategorisierung von Körpern als ebendiese bürokratisch verwaltbaren Men3 | Vgl. Kehr 2015. Zur Perspektive der Flüchtlingsschutzkrise vgl. Hruschka 2016. 4 | Castañeda/Holmes 2016, 2. 5 | Gramsci 1971, 206. 6 | Vgl. Castañeda/Holmes 2016, 2. 7 | Vgl. Nassehi 2015. 8 | Castañeda/Holmes 2016, 2. 9 | Vgl. Jeffers 2012, 17.
Kategorisierung Flüchtling
schengruppen in gegenwärtigen deutschen Asylverfahren und europäischen Verteilungsschlüsseln, werden in künstlerisch-theatralen Öffentlichkeiten kritische Betrachtungen der komplexen performativen Herstellung von Geflüchtet-Sein besonders als (selbst-)reflexive Praxis und als professionalisierte Differenzierungspraktiken im Rahmen einer Verkörperung des Anderen sichtbar – so die Grundannahme meines Beitrages.10 Bemerkenswerterweise nehmen die Theater als kulturpolitische Institutionen seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 eine besondere Rolle ein und verhandeln die Kategorie ›Flüchtling‹ nicht nur im theatralen Spielplan, sondern wirken darüber hinaus an sozialgesellschaftlichen Initiativen und Aktionen mit, wodurch sie möglicherweise ihre gesellschaftliche Relevanz als politisierte Versammlungsorte erneuern und stärken und womöglich ihre eigenen Darstellungsrassismen zu hinterfragen beginnen. Als ein paradigmatisches, aber nicht unproblematisches Beispiel hierfür können die interventionistischen11 Performances des Zentrums für Politische Schönheit12 betrachtet werden. Das in Deutschland prominent gewordene Performancekollektiv13 mit dem Standort Berlin versteht sich wörtlich als »Sturmtruppe«14 und beruft sich darauf, dass ihr Verantwortungsbewusstsein zum Handeln aus dem historischen Erbe besteht, nie wieder einen Genozid nicht verhindert haben zu können.15 Während die Mitglieder des ZfPS die privilegierte Rolle von Agent/innen für geflüchtet kategorisierte Körper einnehmen, stellt sich das Performancekollektiv mit überwiegend männlichen, ausschließlich weißen, akademisch gebildeten rechtmäßigen Bürger/innen selbst als ein Akteur dar, dessen Programmatik übergeordnete moralische Standards von politischen
10 | Vgl. Kreuder 2013, 91f. 11 | Ohne darauf zu zielen, an einem Definitions- und Kategorisierungsprozess zu partizipieren, welcher den Arbeiten des Zentrums für Politische Schönheit ein Schlagwort verleiht, eröffnet sich doch durch das Zusammendenken von Intervention und Invasion ein Raum, in dem sowohl die sozial-gesellschaftlich orientierte Theaterarbeit mit dem Ziel politischer Veränderung als auch die Inklusion und Exklusion des Fremden verhandelt werden können. Zum Konzept des interventionistischen Theaters vgl. Warstat et al. 2015. 12 | Zentrum für Politische Schönheit [im Folgenden ZfPS genannt]. 13 | Obwohl die Künstler/innen den Begriff des Kollektivs selbst verwenden, erscheint er in Bezug auf dieselben wiederholt öffentlich auftretenden Mitglieder problematisch. 14 | Homepage ZfPS, http://politicalbeauty.de/Zentrum_fur_Politische_Schonheit. html. 15 | Vgl. Homepage ZfPS, http://politicalbeauty.de/Zentrum_fur_Politische_Schonheit.html.
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Repräsentant/innen sowie von seinen Publika16 einfordert. Ihre Appelle suchen sie als Reaktion auf die von ihnen behauptete politische Apathie der deutschen Bevölkerung seit dem Zweiten Weltkrieg zu legitimieren. Mit strenger Seriosität wenden sich die Künstler/innen in schriftlicher sowie verbaler Form mit politischen Forderungen an ihre Publika, dabei erinnern ihre mit schwarzer Farbe bestrichenen Wangen an körperlich-harte Minenarbeit, jedoch sind ebendiese Gesichter durch Businesskleidung gerahmt und öffentlich auf HighendFotografien abgebildet. Ihre Performances wie Die Toten kommen (2015) entziehen sich Kategorisierungsversuchen der künstlerischen Form in Intervention, Partizipation oder Mimesis, die aufgrund ihrer distribuierten Ästhetik sowohl für den theaterwissenschaftlichen als auch politischen Diskurs redundant und wenig bedeutend scheinen. Hingegen werden die Arbeiten erst dann theaterund kulturwissenschaftlich fruchtbar und politisch relevant, wenn man ihre spezifischen Differenzierungspraktiken und deren jeweils hervortretende (und somit auch ausgeblendete) Öffentlichkeiten betrachtet. In welchem Handlungsspielraum inszeniert das ZfPS körperliche und normative Kategorien des Geflüchtet-Seins und Nicht-Geflüchtet-Seins? Inwiefern problematisieren die Performances eine biodeutsche Form dessen, was Evelyn Annuß im Rückgriff auf Hannah Arendt als »Volksfigur« bezeichnet, eine Ordnungsfigur, die als »integral begriffene[r] politische[r] Körper […]« operiert?17 Der folgende Beitrag untersucht vor diesem zeitgenössischen politischen Kontext, wie die als künstlerisches Material für spezifische Publika eingesetzten Körper des ZfPS normativ als geflüchtet/nicht-geflüchtet re/produziert werden und argumentiert anhand des ersten Teils der Performance Die Toten kommen (2015) und mit Bezug auf Emma Cox und Marilena Zaroulia, dass sich, ohne auf ein exklusives und problematisches uns Rückgriff zu nehmen, keine (ethische) Handlungsmacht konzeptualisieren lässt.
D ie Toten kommen – Z wischen I nvasion und I ntervention Die Toten kommen ist eine interventionistische Performance des ZfPS, die in Deutschland während des Sommers 2015 allein aufgrund ihres Titels am gesellschaftlichen und hoch-emotional geführten Diskurs um die sogenannte Flüchtlingskrise partizipiert. Doch wer sind die Toten, die da angekündigt werden und kommen sollen? Und wie kommen sie, wenn sie doch tot sind? Mit 16 | Publika wird in diesem Beitrag aufgrund der »distribuierten Ästhetik« des ZfPS grundsätzlich im Plural verwendet, da hier das ›Verortet-Sein‹ einer theatralen Gemeinschaft immer nur ›vorübergehend‹ in spezifischen raum-zeitlichen Situationen gedacht werden kann, vgl. Balme 2010, 48. 17 | Vgl. Annuß 2014, 9.
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welcher Übermacht, die sich wider die Natur zu stemmen versucht, werden sie kommen gemacht? Woher und wohin kommen die Toten? In der konkreten und im Folgenden zu analysierenden Aktion werden am 16. und 19. Juni 2015 zwei Leichname und ein leerer weißer Kindersarg auf dem Friedhof Berlin-Gatow bestattet. Dabei handelt es sich um Menschen, die bei der Überfahrt von Libyen nach Lampedusa ertrunken und von den Akteur/innen des ZfPS in Kooperation mit einem italienischen Bestattungsunternehmen aus einem Massengrab exhumiert worden sind. Die Identitäten der Leichname sind recherchiert und in Absprache mit ausfindig gemachten Verwandten nach Berlin überführt worden, wo ihnen in einer öffentlichen Beerdigungszeremonie ihre »Würde zurückgegeben«18 werden soll. Noch vor Durchführung dieser Aktion ist in der Form eines Eintrags auf der Crowdfunding-Plattform indiegogo für die Performance geworben und damit gezielt ein Publikum angesprochen worden, das ebenjene zuallererst durch eine Finanzierung ermöglicht und dadurch auch in gewisser Hinsicht als künstlerische Arbeit legitimiert – die Künstler/innen selbst bezeichnen dies als »Mandat«19 und situieren sich damit zumindest rhetorisch im Kontext eines Menschenrechtsdiskurses um Fragen der Legalität und Legitimität. Die Toten kommen macht dabei in gewisser Weise das Scheitern des Flüchtens sichtig, das in der Regel – und im Rückgriff auf Sophie Nield – durch die internationale »border machine« unsichtbar gemacht wird und somit eine Krise der Repräsentation auslöst.20 Denn während Repräsentationen und Figurationen der Kategorie ›Flüchtling‹ täglich medial präsent sind und ehrenamtliche Helfer/innen in Deutschland verschiedene Formen von Gastgeberschaft und/oder Gemeinschaft praktizieren und proklamieren, emotionalisiert diese Performance besonders über ihre Inszenierung von bzw. über ihren Umgang mit toten Körpern – Körper, die u.a. durch professionalisierte Regularien des Gesundheitswesens, das deutsche Bestattungsgesetz und informelle Verhaltensnormen reguliert und normiert werden. Damit schafft die Performance eine unangenehme und verstörend-affizierende Atmosphäre, die jedoch zugleich geprägt ist durch eine kaum erträgliche Eventisierung des trauervollen Sargtragens als Festakt, der als entscheidender Teil der Performance für verschiedene Medien und eine distribuierte Öffentlichkeit21 in Szene gesetzt wird.22 18 | ZfPS 2015a. 19 | ZfPS 2014. 20 | Vgl. Nield 2008, 139. 21 | Zum Konzept der »distribuierten Ästhetik« vgl. Balme 2010, 48. 22 | Fast 190.000 Follower auf Facebook und 51.000 Follower auf Twitter verfolgen die beinahe täglichen Postings der Akteur/innen. Die Postings werden kommentiert, untereinander diskutiert und in ihren Netzwerken geteilt. Darüber hinaus umfasst der
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Während der Bestattung der Flüchtlinge sind auf dem Muslimischen Friedhof um das Grab herum Absperrungsmarkierungen für die anwesenden Journalist/innen installiert; mit prominenter Sicht auf das Grab stehen auf ausgelegtem rotem Teppich schwarze Konferenzstühle akkurat aufgereiht, die mit Sitzplatzreservierungen versehen sind, auf denen der Bundesadler neben der politischen Amtsbezeichnung und Personennamen klebt. Laut Sitzplatzreservierungen sind diese Plätze unter anderem für Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Mann, Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit Frau, für Staatssekretäre und Ministerialbeamte des Bundesinnenministeriums freigehalten. Jedoch bleiben die gesamten Reihen unbesetzt. Ebenso veröffentlicht das ZfPS online vorgefertigte Grabreden, welche die geladenen Politiker/innen hätten halten sollen. Neben diesen besteht die ›Trauergemeinde‹ aus Sargträgern, in schwarzen Anzügen gekleideten weißen älteren Männern, und den Akteur/in nen des ZfPS, die als Erkennungsmarker – wie schon in ihren vorhergehenden Performances – rußbeschmierte Gesichter haben. Zudem wohnen den Gästen etwa ein die Zeremonie abhaltender Imam, Frauen mit Kopftüchern und in Takke gekleidete Männer bei. Die Multivalenz religiöser Zeichen irritiert und löst Befremdlichkeit aus, insofern die Künstler/innen hier islamische und christliche Praktiken miteinander verschränken, ohne dass diese innerhalb der hoch stilisierten Ästhetik explizit oder implizit satirisch gerahmt oder komisch gebrochen werden. Dabei wird die Flüchtlingskategorie als primäres Identitätskriterium durch die Inszenierung und Narration der Künstler/innen hergestellt und mit religiösen und ethnischen Symbolen intersektional verschränkt. Das ZfPS schafft mit der aktivistischen Bestattungszeremonie, einer Form von »grief-activism«23, eine neue materielle und politische Realität, die Staatenlosigkeit als Kehrseite der Volkfigur unwiderruflich innerhalb nationaler Grenzen integriert. Trotz dieses Auf begehrens der Künstler/innen gegen etablierte Gedenk- und Trauerkulturen und ihres Hinterfragens europäischer Gemeinschaftsrhetorik vernachlässigen sie es in der performativen Form, kritisch mit ihrer eigenen Handlungsmacht umzugehen, die bedingt wird durch nationalstaatliche Identitätskategorien unserer politisch-juridischen Ordnung. Ohne die politische Wirkmächtigkeit performativer Praktiken in diesem Prozess zu verhandeln, fokussiert Die Toten kommen den Moment und Modus der Pressespiegel für Die Toten kommen neben Ankündigungen, kulturellen Rezensionen, Leser/innenbriefen und Interviews mit den Künstler/innen auch mehrteilige Berichterstattungen in regionalen (ca. 70) und überregionalen (ca. 120) deutschen Tageszeitungen sowie Beiträge in Rundfunkmedien (ca. 50) und internationale Besprechungen (ca. 50) auf Englisch, Französisch, Spanisch, Persisch, Dänisch, Ägyptisch, Griechisch und Italienisch. Eine genaue Auflistung der Nachweise befindet sich auf der Webseite des Zentrums für Politische Schönheit, vgl. ZfPS 2015c. 23 | Stierl 2016, 174.
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Ankunft von Flüchtlingen bzw. dessen Scheitern und invertiert die propagierte Willkommenskultur, die ebendieses Moment als empathisches Fluchtende zelebriert und dadurch die Weltordnung als teleologischen Prozess narrativiert. Doch die Bedeutung der Ankunft für die sogenannte Ankunftsgesellschaft lässt die langfristigen, ebenso lebenswichtigen Konsequenzen der Asylverfahren für die jeweiligen Bewerber/innen außer Acht: »[W]hat’s at stake is not ultimately the mode of arrival but what happens afterwards. When you may become living dead. Arrived and in detention or arrived without access to the legal labour force. You may disappear. Why are we celebrating the arrival? Or denouncing failed arrival? This potentially renders the migrant journey, the perilous crossing a game for our imaginaries.« 24
Insofern auch unsere Willkommenskultur und politische Rhetorik die gescheiterte Ankunft u.a. nicht als staatliches Versagen begreifen, kritisiert die Performance ebendiese auf Ankunft fokussierte Kategorie ›Flüchtling‹ und ermöglicht so eine performative Differenzerfahrung zu ihrer Herstellung auf bürokratischer Ebene, im Rückbezug auf gesellschaftlich etablierte Leistungsprinzipien und Repräsentationsparadigmen. Zwar prangert Die Toten kommen hierbei zugleich die numerische Quantifizierung von toten und gescheiterten Flüchtlingen an, jedoch thematisiert sie in diesem Zusammenhang nicht auch die Problematik innerhalb der z.T. Jahre andauernden, menschenunwürdigen Asylverfahrensprozesse und die zusammenhängenden Gesetzeslagen. Paradoxerweise re-inszeniert sie die politisch praktizierte Quantifizierung individueller Körperlichkeit und komplexer Identitäten sogar, indem die Einladung zur Bestattung die Flüchtlingskörper ebenso numerisch inszeniert wie die Massengräber, aus denen die Leichname exhumiert worden sind: »Beerdigung #1 & 2 – Mutter und 2-jähriges Kind«25.
24 | Zaroulia/Cox 2016, 148. 25 | ZfPS 2015a.
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Abb. 1: »Beerdigung #1 & 2 – Mutter und 2-jähriges Kind.« © Nick Jaussi Insofern registriert und inszeniert das ZfPS den Flüchtlingskörper ebenso als eine nominelle Größe und quantitative Einheit, die sich auch in dem von ihnen kritisierten politischen Diskurs wiederfindet in Form von Asylanträgen oder der eingangs zitierten Anzahl eingereister Asylsuchender. Jedoch emotionalisieren sie diese Größe durch das Ritual der Bestattungszeremonie und klagen währenddessen nicht nur gezielt Politiker/innen als Schuldige an den Toten an, sondern vollziehen einen symbolischen Akt gesamtgesellschaftlichen Betrauerns, um ein Bewusstsein für die eigene Verantwortlichkeit der sogenannten Ankunftsgesellschaft hervorzurufen. Die Künstler/innen provozieren dadurch die Frage danach, inwiefern die Kategorisierung des Flüchtlings als homogenisierte Gruppe oder Masse gerade in ästhetischen Repräsentationspraktiken immer gebunden ist an eine national-staatliche Identitätspolitik.26 Das ZfPS adressiert in seinen Performances aktuelle Regierungspolitiker/innen persönlich und verwendet beispielsweise Guerillakommunikationsstrategien, um in deren Namen politische Kampagnen zu provozieren. In Die Toten kommen fordern die Künstler/innen darüber hinaus ihre Publika dazu auf, »die bürokratische Grausamkeit eines psychopathischen Bundesinnenministers (zu) stoppen«27, ohne auf die teilweise Jahre andauernden Asylverfahren und bürokratischen Hürden einzugehen, die Flüchtlinge nach dem erfolgreichen Überwinden der Grenzpolitik, die die Künstler/innen hier angreifen, zu erwarten 26 | Vgl. Butler 2010, 49. 27 | ZfPS 2015b.
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haben. Zwar operiert die Performance mit einem pejorativ stigmatisierten Bild des armen und gescheiterten Flüchtlings, doch reichen ihre physischen und materiellen Konsequenzen hinein in die Wirklichkeit: Die Gräber der bestatteten Flüchtlinge werden auf Jahre hinaus von einer gleichzeitig deutschen/ europäischen/islamischen Gemeinschaft gepflegt und dienen sowohl als private und öffentliche Gedenkstätte. Trotz der ethisch-politischen Ambivalenzen zielt Die Toten kommen somit auf ein solidarisierendes Anteilnehmen mit dem Flüchtlingskörper und langfristig physisch-konkretes Aufnehmen in die Ankunftsgesellschaft, das gleichzeitig gegen gegenwärtige nekropolitische Praktiken der EU und Regierung protestiert.
K ollek tives A nteilnehmen Der Umgang mit einem Toten ist in der heutigen westlichen Gesellschaft eine kulturelle Praktik, die zunehmend losgelöst vom gesellschaftlichen Alltag von Expert/innen vollzogen wird. In der Performance wird diese Beerdigung nun initiiert und vollzogen von Künstler/innen, die – gleichwohl an den Randbereichen – in einer Sphäre des ›Als Ob‹ operieren. Sie fordern durch den explizit theatral gesetzten und ästhetisch stilisierten Rahmen der religiösen Inszenierung ihre verschiedenen Publika dazu heraus, zu moralischen Kompliz/innen zu werden und ebenjene körperlich-affektiven Gratwanderungen zwischen Trauern, Befremden und sukzessivem Empören durch die ritualisierte Bestattungszeremonie zu erfahren. In gewisser Weise vermag die Performance ebenjene inszenierte Trauergemeinde als eine temporäre, prekäre Gemeinschaft und als solidarischen, prozessierenden Körper hervorzubringen, der trotz der Unmöglichkeit die verlorenen Anderen in die politische Gemeinschaft aufzunehmen ein politisches Moment kreiert: die Möglichkeit einer alternativen Gemeinschaft jenseits geopolitischer Grenzziehungen und damit verbundener exklusiver Identitätskategorien.28 Mieke Bals Konzept der »migratory aesthetics« begreift Migration losgelöst von Migrant/innen und Flüchtlingen als eine Ästhetik der Mobilität und als Standarderfahrung.29 Zwar inszeniert das ZfPS ›den Flüchtling‹ als gesellschaftlichen Teil gegenwärtiger kultureller Transformation und ästhetischer 28 | In seiner soziologischen Analyse verschiedener Formen des »grief-activism« argumentiert Maurice Stierl in Bezug auf Judith Butlers Konzept der grievability und Jacques Rancières Politikkonzept, dass kollektives und solidarisierendes Trauern – entgegen nekropolitischer Praktiken der EU und entgegen öffentlich-staatlicher Gedenkfeiern für spezifische nationale Opfer – vermögen, eine Gemeinschaft »beyond borders« zu imaginieren, vgl. Stierl 2016. 29 | Vgl. Bal 2007, 23.
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Prozessionen und damit im Sinne ebendieses ›postmigrantischen‹ Konzepts, aber die ästhetische Begegnung bleibt dabei gebunden an personifizierte, geopolitische und kolonialistisch geordnete Ethnizitäten und Rassismen. Die Toten kommen lässt kaum Räume der Selbstermächtigung und Selbstdarstellung zu, sondern bleibt in der kategorialen Zuordnung ›Flüchtling‹ als Objekt für unser Verständnis verhaften. Mit diesem Rückbezug auf ein exklusives uns reproduziert die Performance die Idee einer eurozentristischen Kultur. Vor diesem Hintergrund wird eine doppelte Ambivalenz des Fremden inszeniert, des Flüchtlings und des Toten als eine doppelt äußerliche Figur, die auf ethisch problematische Weise vergemeinschaftet wird.30 Die toten Körper werden zu imaginierten Verkörperungen einer Protestperformance. Sie werden durch die Akteur/innen des ZfPS in dieser Weise inszeniert und nehmen unmittelbar physisch sowie symbolisch einen Raum ein, in welchem die Akteur/innen ihre eigene Forderung öffentlichkeitswirksam verlautbaren können: Die deutsche parlamentarische Regierung müsse gegen die militärische Abschottungspolitik an den europäischen Außengrenzen handeln. Diese politische Forderung suchen die Künstler/innen mit der auf ästhetisch irritierende Art und Weise stilisierten und multivalent religiösen Inszenierung der Beisetzung öffentlichkeitswirksam zu legitimieren. Damit evozieren sie nicht nur plurimediale Protestreaktionen und politische Sanktionen, sondern schaffen zudem eine distribuierte Öffentlichkeit, in der die theatrale Handlungsmacht ebenjener Künstler/innen erst durch die hergestellte Abständigkeit zu der Figur des Anderen hervorgebracht wird. Der leblose Flüchtlingskörper dient einerseits als Projektionsfläche für ein exklusives trauerndes Publikum, wird andererseits aber im Sinne des wörtlichen, körperlich-materiellen Anteil-nehmens31 an der Beerdigung als gebender und nicht als passiver Teil dieser Gemeinschaft verortet. Die Performance Die Toten kommen spielt mit der temporären Herstellung und Unterbrechung von Denkfiguren wie Gemeinde, Publikum, Volk und Staat und damit mit dem, was wir vermeintlich unter europäischer Identität verstehen. Die Dokumentation der Performance verwendet beispielsweise ikonografische Symbole in Form von dunkelblauen Balken und gelben Sternen, die an die europäische Flagge erinnern. Mit Blick auf die geografische, wörtliche Neu-Verortung der Leichname von südeuropäischen Randzonen (wie Griechenland, Spanien, Italien) nach Berlin, das als Zentrum Europas inszeniert wird, markiert die Prozessionsdramaturgie außerdem eine Legitimationsproblematik innerhalb 30 | Vgl. Baumann 1992, 15. 31 | Im Rahmen des Crowdfundings für die Performance haben potentielle Zuschauer/innen für ihren Finanzierungsbeitrag als »Perks« u.a. ein psychiatrisches Gutachten über De Maizières Geisteszustand oder eine Anleitung für »3 schöne Rituale für einen tödlichen Fluch gegen den Innenminister« erstanden, vgl. ZfPS 2015b.
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europäischer Zugehörigkeit selbst. Diese durch die Körperlichkeit der Leichname aufgeladene Markierung re-inszeniert beziehungsweise verkörperlicht und materialisiert das Gefälle und den gegenwärtigen politischen Diskurs um europäisch-nationale Hegemonie, wie Marilena Zaroulia und Emma Cox zugespitzt formulieren: »The crisis of migration haunts and marks contemporary politics in the continent, as demonstrated by the incidents of xenophobia and racist violence in countries of the ›New Europe‹ (Serbia, Croatia, Hungary) and the ›sneering‹ of the Old Continent (Austria, Germany) towards such countries for their inability to respond adequately.« 32
Während ihrer Recherche zu der Performance entdeckten die Künstler/innen, wie Flüchtlingsleichname auf prekäre Weise in kommunalen italienischen Krankenhäusern untergebracht wurden, die aufgrund ihrer infrastrukturellen Überlastung die Aufbewahrungskammern nicht kühlen konnten. Dieser Eindruck forderte ihre Performance überhaupt erst heraus und die Künstler/innen postulierten, dass Europa so mit den Toten umgehe.33 Dabei wird jedoch mit kritischem Blick auf die inszenierte Prozessionsbewegung der Leichname das Vermögensgefälle sichtig zwischen den europäischen Ländern im Süden und im Norden, wodurch Länder und Menschen alltäglich und physisch konkret ebenjener Frage ausgesetzt sind, wie man mit den angespülten Toten an den Küsten Europas umgeht. Die sogenannte Flüchtlingskrise und das politische und kulturelle Verhandeln über angemessene Reaktionen ist in diesem innereuropäischen Diskurs geprägt von Praktiken ethnischer und infrastruktureller Demarkation zwischen uns und denen, zwischen dem Zentrum Europas und seinen südlichen Rändern. Pointiert formuliert: »Europe’s Others do not only arrive in boats from the East; they also reside in the Eastern of Southern countries of the continent.«34 Die Performance inszeniert damit politische Identitätskonflikte nicht mit Blick auf eine realpolitisch längst überkommene Idee einer nationalen ›Volksfigur‹, sondern vor allem innerhalb der europäischen Gemeinschaft selbst und lädt provokativ unterschiedliche Akteur/innen zum gemeinsamen Anteilnehmen ein, um sie gleichzeitig zum politischen Handeln aufzufordern. Diese theatral gerahmte und multiplikatorische Form des Anteilnehmens zielt nicht nur auf eine politische Verantwortlichkeit der durch die Künstler/innen angeklagten politischen Akteur/innen, sondern sie zielt ebenso auf die gleichzeitig physisch-materielle und symbolische Vergemeinschaftung ›des Flüchtlings‹ als zu betrauerndes Gemeindemitglied. Emotionale Reaktio-
32 | Zaroulia/Cox 2016, 144. 33 | Vgl. ZfPS 2015a. 34 | Zaroulia/Cox 2016, 144.
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nen der Publika über diese Inszenierung des radikal Anderen35 in Verschränkung mit der Kategorisierung ›Flüchtling‹ reichen von Fürsorge, Zärtlichkeit, Faszination über Formen von Unbehagen, Nervosität, Angst bis hin zu Entrüstung, Agitation und Wut. Jenseits gesetzter Grenzen von Verständlichkeit und Signifikanz können die Erfahrungen dieser Performance trotz ihrer prozessierenden Gemeinde (communality) nur einen exklusiven und temporären Gemeinsamkeitsglauben (commonality) erzeugen.36 Die affektive Körperlichkeit der Kategorie ›Flüchtling‹ scheint dabei paradoxerweise eine gesellschaftliche Dringlichkeit nach Repräsentation und Re-Kategorisierung hervorzurufen, die die irregulären und insbesondere gescheiterten Migrationsbewegungen erst verständlich und intelligibel machen. Diese gesellschaftliche Notwendigkeit verweist jenseits der temporär zelebrierten Willkommenskultur jedoch einmal mehr auf die strukturellen und kulturhistorisch gewachsenen Abwesenheiten visueller und tangibler Erfahrungsräume und Begegnungsmöglichkeiten mit einem als unsichtbar und unterrepräsentiert geglaubten Anderen.37 Mit der performativen Verhandlung der Kategorie ›Flüchtling‹ in Die Toten kommen und deren Repräsentationsparadigmen wird der herrschende nekropolitisch institutionalisierte Migrationsdiskurs in Kontinentaleuropa konfrontiert mit der Frage danach, was wir zurzeit überhaupt als Europa bezeichnen und welches Bedeutungspotential von grenzüberschreitenden Körpern innerhalb und jenseits etablierter Repräsentationsparadigmen und Grenzen auszugehen vermag. Mit dem »grief-activism« von Die Toten kommen problematisiert das ZfPS die bürokratische und politische Konstruktion von Grenzen und wirkt ihnen entgegen. Obwohl die performative Form scheinbar kaum einen Versammlungsort zum direkten politischen Dialog zulässt, entfacht dabei doch gerade der ethisch problematische Handlungspragmatismus der Künstler/innen eine wertvolle kritische Neuverhandlung der ›Volksfigur‹.
L iter atur Annuß, Evelyn (2014): »›Fähren statt Frontex‹ nach dem ersten europäischen Mauerfall. Über Volksfiguren und deren Kehrseite.« In: Maske und Kothurn 60, 7-17. Bal, Mieke (2007): »Lost in Space, Lost in the Library.« In: Durrant, Sam/Lord, C. M. (Hg.): Essays in Migratory Aesthetics. Cultural Practices Between Migration and Art-Making. New York: Rodopi, 23-35.
35 | Vgl. Nancy 1991, 15. 36 | Vgl. Hirschauer 2014, 171. 37 | Vgl. Zaroulia/Cox 2016, 146.
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A bbildungsverzeichnis Abb. 1: »Beerdigung #1 & 2 – Mutter und 2-jähriges Kind.« © Nick Jaussi 2015.
Schauspielen und/als Kritik Sarah Ralfs
A uf tak t : R ol and B arthes und das The ater »Ich habe das Theater immer sehr geliebt«, schreibt Roland Barthes, »und dennoch gehe ich fast nicht mehr hin. Das ist ein Wandel, der mich selbst stutzig macht. Was ist geschehen? Wann ist es geschehen? Habe ich mich verändert? Oder das Theater? Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?«1 Barthes schildert in dieser berüchtigten Äußerung über das Theater von 1965 eine Erfahrung und formuliert hiermit verbundene Fragen, die vielen Theaterwissenschaftler/innen ebenso wie Theaterliebhaber/innen nicht unbekannt sein dürften. Er beschreibt die Veränderung seiner Liebesbeziehung zum Theater, in der sich ein Abstand zwischen ihm und dem Theater auftut, welcher sein Fernbleiben gegenüber dem Theater begründet. Diesen Abstand befragt er auf seine Ursachen hin. Das Interessante für den hiesigen Kontext ist, dass Barthes’ Abkehr vom Theater, sein Liebesentzug, seine enttäuschte Liebe gegenüber dem Theater – und dies zieht sich wie ein Leitmotiv durch viele seiner Theaterschriften – in besonderen Maße vom Schauspiel herrührt. Zunächst einmal ist es die Begegnung mit Brechts Theater, 1954 im Théâtre Sarah Bernhard in Paris, bei einem Gastspiel des Berliner Ensembles, welche Barthes das französische Theater seiner Zeit altmodisch, affirmativ und opportun erscheinen lässt: »Brecht hat mir das Gefallen an jedem unvollkommenen Theater ausgetrieben«, so Barthes, »und seit diesem Moment gehe ich, glaube ich, nicht mehr ins Theater.«2 Was nach Barthes in Brechts Theater gelingt und was es für ihn von allem anderen Theater wesenhaft, ja historisch kategorial unterscheidet, ist die bis dato nicht realisierte Vereinigung von einem vom Marxismus aufgeklärten, populären Theater und einer strengen Überwachung der Zeichen, eine Dramaturgie, die politisches und semantisches Denken verbindet. Dieses in Brechts Theater erlangte höhere Gleichgewicht 1 | Barthes 2001a, 19. 2 | Barthes 2001a, 23.
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von »politischer Bedeutung und anspruchsvoller Form«3, ist es zugleich, die Barthes jedes Schauspiel unvollständig erscheinen lässt und, Zitat Barthes, »offen gesagt, im eigentlichen Sinn des Wortes verfehlt«4. Die Vereinigung von politischem Anspruch und anspruchsvoller Form bzw. von einem politischen Gehalt, der sich auch in der Form reflektiert und ihr nicht äußerlich bleibt, hat entsprechende Konsequenzen für das Schauspiel. Denn der politische Anspruch reflektiert sich für Barthes auch im Ausdruck der Schauspieler/innen, in der für sie und von ihnen gewählten Form der reflexiven Darstellung in Brechts Theater.5 Das ist es auch, was Barthes das übrige, nicht nur die französischen Theater seiner Zeit dominierende, psychologische, anti-reflexive, illusionäre6, bürgerliche Schauspiel »außerordentlich affektiert«7, anachronistisch und verfehlt erscheinen lässt.8 Mit anderen Worten: Schauspiel kann hiernach nur dann in seiner formulierten Kritik glaubhaft sein, kann nur dann als kritische Praxis funktionieren und ist nur dann als politisch zu begreifen, wenn es diese Kritik in seiner eigenen Form reflektiert und in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst tritt.
3 | Barthes 2001a, 23. 4 | Barthes 2001a, 23. 5 | Vgl. Barthes 2001a, 19f. Barthes plädiert für ein ihm nach in Frankreich im Untergang begriffenes Schauspiel, indem die Schauspieler/innen nicht hinter ihrer Rolle verschwinden, sich zeigten, die Rollen sich selbst anpassten und die Sprache als fremde Rede zum Ausdruck brächten. Das verkörpert für ihn Charles Dullin, der »seine Rollen nicht verkörperte« (Barthes 2001a, 19), sondern dessen Rollen sich an seinen Atem anpassten. Auch die Schauspieler Georges Pitoeff und Louis Jouvet bilden für Barthes eine Darstellungsordnung der Diktion, die nicht psychologisch ist. 6 | Vgl. Barthes 2001b, 129. 7 | Barthes 2001a, 23. 8 | Vgl. Barthes 2001b, 129 sowie Barthes 2001a, 23. Dass politischer Anspruch und künstlerische Form in der Kunst in ein immer wieder neu zu findendes und doch historisch verankertes Verhältnis gebracht werden müssen, ja die Politik in der Kunst gar nicht von der Form zu trennen ist, wurde gerade im Kontext der Ästhetik-Schriften des französischen Philosophen Jacques Rancière vor einigen Jahren massiv in den Kunstwissenschaften diskutiert. Rancière verschiebt die politische Frage der Kunst gänzlich auf die Formfrage, wogegen Barthes hier noch zwischen Form und Inhalt unterscheidet und von einem Gleichgewicht, einer Entsprechung, einer Korrelation spricht. Vgl. Rancière 2006.
Schauspielen und/als Kritik
S prechthe ater heute : K ritik und A usdruck Im deutschsprachigen, europäisch verankerten Sprechtheater lässt sich gerade mit Blick auf die Form/Inhalt-Frage unter politischen Vorzeichen nach wie vor häufig ein missliches Ungleichgewicht feststellen, das in besonderem Maße das Schauspiel betrifft, und das unter Expert/innen wie Liebhaber/innen gleichermaßen eine Abkehr vom Theater zur Folge haben kann. Dem Verhältnis von Form und Inhalt, von politischer Forderung, sozialer oder institutioneller Kritik und ihrem Ausdruck im Schauspiel haftet oft auch deshalb eine anachronistisch anmutende Verfehlung im Sinne Barthes’ an, weil hierin ein Repräsentationsdispositiv sedimentiert ist, das die Sprecher/innenposition der Schauspieler/in, ihre Souveränität, schwächt. Wenn die strukturelle Subordination der Schauspieler/innen noch kaschiert und damit zugleich unfreiwillig exponiert wird, etwa durch überbordendes Pathos wie authentische Emotionalität, die der Schauspieler oder die Schauspielerin auf der Bühne darstellt und/ oder erlebt anstelle der jeweiligen Figur, die hier zur Verkörperung gebracht und zum Leben erweckt werden soll, und dabei im Namen der jeweiligen Regisseur/innen sowie Autor/innen im weitesten Sinne ›Kritik an den bürgerlichen Verhältnissen‹ übt, die es eigentlich nur noch im Theater zu geben scheint, dann kann einem das im Publikum derart historisch wie politisch dissonant vorkommen, dass man künftig das Theater meidet. In einem Interview zum Schauspielen fordert der Schauspieler Fabian Hinrichs die Abschaffung der Produktionshierarchien im Theater. In diesem Zusammenhang schildert er seinem Interviewpartner Matthias Dell seine Anfänge als Ensembleschauspieler an der Volksbühne, wo er bei sehr geringem Einkommen keinerlei Einfluss auf die Wahl und Anzahl der Produktionen, an denen er mitwirkte, sowie auf die Disponierung seiner Auftritte, sprich auf die Verfügung seiner Arbeitskraft hatte.9 Der Schauspieler ist in dem Produktionsapparat des Ensembletheaters ›weisungsgebunden‹ und untersteht den verschiedenen Entscheidungsträgern wie der Intendanz, der Geschäftsleitung, der Dramaturgie, der Regie usw., die ihm auch ökonomisch höhergestellt sind. Nach Hinrichs gerät dabei der Status des Schauspielers oder der Schauspielerin als Ko-Autor/in bzw. Künstler/in vollkommen aus dem Blick. Ihm nach werde die Subordination des Schauspielers oder der Schauspielerin im theatralen Produktionsgefüge durch die Fokussierung der schauspielerischen Tätigkeit auf körperliche und stimmliche Techniken und Fertigkeiten gestützt, wie sie bereits in der Schauspielschule einstudiert und reproduziert werde. In diesem Sinne fordert er eine Angleichung der Gehälter der Ensembleschau9 | Fabian Hinrichs im Interview mit Matthias Dell in: Spielweisen/Acting Methods. Gespräche mit Schauspielern, DVD, herausgegeben von der Akademie der Künste, Berlin, 2014.
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spieler/innen gegenüber den anderen Positionen ebenso wie eine künstlerische und intellektuelle Aufwertung der Position des Schauspielers bzw. der Schauspielerin.10
S chauspiel ausbildung und S chauspieltheorie In dem von Christel Weiler und Jens Roselt 2011 herausgegebenen Tagungsband Schauspielen heute lässt sich in einem Gespräch mit drei Schauspielschuldirektoren bzw. Ausbildungsleitern11 nachlesen, an welchen vorausgesetzten Berufsanforderungen die Ausbildung von Schauspielstudierenden nach wie vor ausgerichtet ist, um sie auf die Arbeitswelt vorzubereiten.12 Ihre Ausbildung ist maßgeblich orientiert an körperlicher Tüchtigkeit, psychischer Stärke wie Sensibilität und Flexibilität, um dem öffentlichen Druck standhalten und den jeweiligen Anforderungen der unterschiedlichen Regisseur/innen Genüge leisten zu können. Es handelt sich folglich um eine im Wesentlichen handwerklich ausgerichtete Ausbildung, die mit den technischen und sozialen Anforderungen des Berufsprofils der Theaterschauspieler/in begründet wird. Inwiefern die Schauspielschulen durch ihre Ausbildungsentscheidungen und -strukturen dieses Berufsprofil, diese Anforderungen und diese Position und Rolle der Schauspieler/innen diesseits und jenseits des Stadttheaterbetriebs reproduzieren, bleibt dabei weitgehend unterbeleuchtet. Diese Art der Ausbildung wie der hierin implementierte Begriff des Schauspielens – und des Theaters – haben freilich eine lange Tradition. Die historischen Schauspieltheorien insbesondere des 18. und 19. Jahrhunderts liefern ein eindrückliches Tableau des Nachdenkens über die Schauspielkunst als Vermittlerin literarischer Figuren und ihrer Sentimente, um die bürgerlichen Subjekte im Publikum zu ebensolchen zu erziehen. Viele Gedanken werden sich dabei darüber gemacht, ob die Schauspieler/innen nun die Gefühle fühlen sollen, die sie darstellen, oder gerade nicht, und wie sie am glaubwürdigsten 10 | In der Ausgabe von Theater heute von Oktober 2016 ist in diesem Zusammenhang ein Gespräch mit Schauspielvertreter/innen vom ensemble-netzwerk und der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger zum Thema Gagen, Arbeitsbedingungen und Ausbeutung im Ensembletheater nachzulesen, welches diese Einschätzungen, besonders was die Arbeitsbedingungen sowie das Verhältnis von Arbeitszeiten und Bezahlungen von Schauspieler/innen im Stadttheater anbelangt, bestätigt, vgl. Jopt/Rudolph/ Löwer 2016. 11 | Bernd Stegemann von der Ernst Busch, Hans-Ulrich Becker von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst FFM, damals Folkwang Universität der Künste Bochum, Imanuel Schipper von der Zürcher Hochschule der Künste. 12 | Vgl. Becker/Schipper/Stegemann 2011.
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in ihrer Rollendarstellung erscheinen.13 Es wird in den Schauspieltheorien viel darüber nachgedacht, wie die Schauspieler/innen stehen und sprechen müssen, um verständlich und emphatisch zu sein, wie sie sich zu ihren Rollen zu verhalten haben und wie sie sich überhaupt zu betragen und zu disziplinieren haben. Dass sie primär dem Text und damit dessen Autor/in zu dienen haben, darüber herrscht weitgehend Konsens. Ob ihnen in der Performanz ihrer Darstellung eine Ko-Autor/innenschaft zukommt, insofern sie über das im Text Geschriebene und Gedachte hinausgeht oder nicht; und ob die Position der Schauspieler/in überhaupt eine der Handlungs- oder Gestaltungsmacht ist, das bleibt eine Streitfrage, die auch einem historischen Wandel unterzogen ist. In den Schauspieltheorien wie in den Argumenten der Schauspielschuldirektor/innen und -ausbilder/innen spielen immer wieder auch die stimmlichen und körperlichen Anforderungen, die der analoge Theaterraum und die Bühnenbedingungen an die Schauspieler/innen stellen, eine maßgebliche Rolle. Ein ungelernter Schauspielender ohne stimmliche und körperliche Techniken sei für das Publikum akustisch nicht zu verstehen und nicht in der Lage, lesbare körperliche und gestische Zeichen durch den großen Saal zu transportieren. In dem oben genannten Interview beschreibt Hinrichs, wie er sich auf der Suche nach einer Deklamation befindet, die der Spezifik der Bühnensituation des Theaters Rechnung trägt. Aus diesem Grund könne er auch keine realistischen oder naturalistischen Texte sprechen, weil man sich hier permanent in der paradoxalen Situation des künstlichen Sprechens unter dem Schein des Realismus befände.14 Dass seine Suche an der Berliner Volksbühne ihren Ausgangspunkt nimmt, einen Ausflug in das dem Tanz nahestehende Theater Laurent Chétounanes beinhaltet und schließlich in der Kooperation mit René Pollesch, auf die ich am Ende noch einmal gesondert zurückkommen möchte, geradezu kulminiert, erscheint dabei nur konsequent. So eint doch diese unterschiedlichen Bezugspunkte, dass sie sich alle einer am ›Realismus‹ geschulten Darstellungsordnung kategorial verweigern. Hinrichs benennt ein Paradox des psychologischen Realismus und insbesondere des Naturalismus, bürgerliche Alltagserfahrung und Gefühlswelten 13 | Einen guten Überblick über die Kerndiskussionen der historischen Schauspieltheorien in Europa bietet der von Jens Roselt herausgegebene Band Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum Postdramatischen Theater, vgl. Roselt 2009. Wie Bettina Brandl-Risi verdeutlicht, ist es besonders die Figur des Virtuosen, der im 19. Jahrhundert seine Idiosynkrasien in der Rollendarstellung selbst markiert und damit ein vollkommenes ›Verschwinden der Schauspielerpersona hinter der Figur‹ offensiv und produktiv subvertiert und seine Ko-Autorschaft auf der Bühne unterstreicht, vgl. Brandl-Risi 2011. 14 | Hinrichs 2014 in: Spielweisen/Acting Methods. Gespräche mit Schauspielern (DVD).
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›authentisch‹ darstellen und ausdrücken zu wollen und dafür einen gänzlich künstlichen, der Alltagssituation vollkommen zuwiderlaufenden und allein den Bühnenbedingungen geschuldeten Ausdruck wählen zu müssen. Auch die Schauspieltheorien versuchen dieses Paradox immer wieder in den Griff zu bekommen. Besonders im Zeitalter digitaler Medien, welche scheinbar mühelos unterschiedliche Teile der Welt miteinander verbinden und durch die wir ohne große körperliche und stimmliche Anstrengung von hier nach dort miteinander kommunizieren können, mag die analoge Bühnensituation umso anachronistischer erscheinen, wo Nähe und Ferne ein der Alltagssituation entgegengesetztes auditives, visuelles und physiologisches Kommunikationsverhältnis eingehen. Denn obwohl die physische Nähe von Schauspieler/innen und Zuschauer/innen, ihre leibliche Ko-Präsenz, immer als Besonderheit des Theaters gegenüber den mit anderen Medien(-Praktiken) arbeitenden Künsten hervorgehoben wird, kann es gerade irritierend, entfremdend, ja im Sinne Barthes ›entfernend‹ wirken, dass hier geschrien werden muss, um vernehmbar zu sein, dass nur eine Seite spricht und, im Fall der Vierten Wand, die Darstellungsordnung dabei suggeriert, dass die Rezipient/innenseite gar nicht anwesend wäre. So können technische Medien und auf ihnen basierende künstlerische Praktiken in bestimmten Fällen viel eher den Eindruck von Nähe, aber auch den Ausdruck einer ›realistischen‹ Kommunikationssituation erzeugen als dies die spezifische und artifizielle Kommunikationssituation auf der Bühne vermag. Das heißt nun nicht, dass analoges Sprechen auf der Bühne vor dem Hintergrund neuer oder technischer Medien überflüssig wird, im Gegenteil: Hinrichs verwehrt sich hier auch gegen Mikrofonverstärkung als einfache Lösung des Problems, aber man solle offensiv damit umgehen und das Bühnen-Sprechen auch in seiner Alterität markieren und nicht als universellen und a-historischen, emotiven menschlichen Ausdruck darstellen.15 Barthes erscheint der schauspielerische Ausdruck auf dem Theater auch vulgär, affektiert und »beinahe prähistorisch«16, wie er sagt, angesichts des zeitgleich erstarkenden europäischen Autorenfilms und der zurückgenommenen Subjektivität des in den gezeigten großen (Post-)Industrielandschaften verschwindenden, stummen Menschen, dessen Innerlichkeit nicht durch menschlichen Ausdruck entäußert wird, sondern sich, wenn überhaupt, in Landschaften, Einstellungen, Montagen und technischer Tonmodulation reflektiert.17 Neue technische Medien und künstlerische Praktiken, die mit ih15 | Hinrichs 2014 in: Spielweisen/Acting Methods. Gespräche mit Schauspielern (DVD). 16 | Barthes 2001a, 23. 17 | »Ich füge hinzu, daß es mir heute möglich erscheint, genau zu definieren, was ein vulgäres Werk ist: heute, und nicht gestern, weil uns die strukturale Analyse die Mit-
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nen umgehen, stellen tradierte Kommunikationsformen, Darstellungs- und Wahrnehmungsparadigmen auf die Probe und zwingen das künstlerisch Bestehende zur kritischen Selbstreflexion und -erweiterung, zu einer Stellungnahme, die auch eine Verweigerung sein kann. Die andere Position, die das Neue dem Alten im Gefüge des Denk-, Sag-, Zeig- und Wahrnehmbaren dabei zuweist, will aber in jedem Fall darinnen zu Bewusstsein gebracht und verhandelt sein. Die technischen Produktionsmittel, wie hier das Mikrofon im Besonderen, können aber durchaus zu einem emanzipatorischen Mittel auch auf der Bühne werden, womit wir bei den Performer/innen angelangt wären.
P erformer /innen Jens Roselt äußert in seinen 2012 auf Nachtkritik veröffentlichten Hildesheimer Thesen die Hoffnung, dass in Zeiten technischer Möglichkeiten und digitaler Medien die Unterscheidung von Schauspieler/innen, die »besser sprechen können als Performer«18, die »im Gegensatz zu Schauspielern dafür wissen, was sie sagen«19, zunehmend obsolet werde, da sie die Bedingungen von handwerklicher Professionalität im Schauspiel als historische markierten. Auch Mieke Matzke konstatiert in ihrem Aufsatz »Zur Aufgabe einer souveränen Darsteller-Position im zeitgenössischen Performance-Theater« 20, dass die Grenzen zwischen Schauspieler/innen und Performer/innen in Auflösung begriffen seien und professionelle Schauspieler/innen in der freien Szene ebenso arbeiteten, wie nicht ausgebildete Schauspieler/innen an den Theatern Karriere machten. Hiervon kann aber nach wie vor kaum mehr die Rede sein, als dass Ausnahmen die Regel bestätigen. Die Stadttheater rekrutieren nach wie vor nahezu ausschließlich von den renommierten staatlichen Schauspielschulen und hier ausgebildete wie am Theater erfolgreich arbeitende Schauspieler/innen verlieren sich in der Regel eher als Ausflug in die so genannte freie Szene. Performer/innen bearbeiten bestimmte Defizite des Stadttheaters produktiv. Sie tragen meist selbst die Verantwortung für die künstlerischen Enttel zur Verfügung stellt, die Vulgarität als ein semantisches Dysfunktionieren, als eine schlechte Ökonomie der Zeichen zu definieren; bald deshalb bin ich mir sicher, wird der Geschmack nicht mehr als eine anachronistische Gnade erscheinen, sondern als ein technisches Problem des Codes (was er übrigens bereits in der Zeit der Klassik war).« (Barthes 2001a, 23.) 18 | Roselt, www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=7426%3Ahildesheimerthesen-iii-&option=com_content&Itemid=84. 19 | Roselt, www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=7426%3Ahildesheimerthesen-iii-&option=com_content&Itemid=84. 20 | Matzke 2011.
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scheidungen, für die Themen und Aussagen, die sie in der Regel selber verfassen und gestalten; sie sprechen in ›ihrem Namen‹. Dafür spielen sie häufig in anders organisierten Spielstätten und sie sind auch für die Finanzierung meistens selber verantwortlich. Schon allein weil sie in der Regel keine ausgebildeten Schauspieler/innen sind, wählen sie andere Modi der Verwandlung, nutzen technische Verstärker und stürzen sich nicht in akrobatisches Pathos. Dass ihnen dabei manche manchmal auch bestechende Virtuosität abhanden kommen kann, was sie oftmals als ästhetisches Prinzip rückübersetzen, oder es auch bedauerlich sein kann, dass sie nicht auch finanziell in das Stadttheatersystem eingespeist sind, handwerklich-künstlerische Ausbildung und Professionalität auch eine gewisse Sicherheit und Schutz gewährleisten, also das eine durch das andere nicht zu ersetzen und nicht gegeneinander auszuspielen ist, soll nicht in Abrede gestellt werden. Wie eine produktivere Ineinanderwebung dieser beiden Pole, Schauspiel und Performance, auch institutionell aussehen könnte und welche Rolle Wissenschaft und Theoriebildung dabei spielen, wie sie umgekehrt auch künstlerisch und ›handwerklich‹ weitergedacht und praktiziert werden könnten, ist, so meine ich, trotz den beiden Instituten für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und Hildesheim noch lange nicht geklärt, dafür sind die Produktionswirklichkeiten zwischen Stadttheater, freier Szene und Universität, zumindest was die Bühnensituation anbelangt, nach wie vor zu stark voneinander getrennt.
Z um E nde kommend In einem anderen kurzen Text zum Theater schreibt Roland Barthes: »Zum Glück ist die Schauspielkunst nicht ewig: Es gab Diderot, es gab Stanislawski, es gibt Brecht.«21 Der Schauspieler und Regisseur Jean Vilar versuche ihm nach eine Brücke zwischen diesen unterschiedlichen Schulen der Teilhabe und der Verfremdung, wie Barthes diese verschiedenen Schauspielrichtungen differenziert, zu schlagen. Deswegen löse diese neue Schauspielkunst, an der Vilar arbeite, bei der traditionellen Kritik Unbehagen aus, so Barthes, man verdächtige sie der »Intelligenz [Herv. d. Verf.]«22 . Um ein Gleichgewicht zwischen politischem Anspruch und ästhetischer Form auf dem Theater zu erlangen, also die Politik auch auf die Form zu beziehen, bedarf es, so ließe es sich mit Barthes weiterdenken, auch einer souveränen Schauspieler/innenposition, die nicht ›nur‹ im Namen von jemand anderem Kritik formuliert und dabei selbst als instrumentelles Medium mit 21 | Barthes 2001c, 126. 22 | Barthes 2001c, 126.
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poetischem Überschuss begriffen wird, sondern es bedarf vielmehr eines, im Sinne Barthes’, intelligenten und selbstbestimmten Ausdrucks. Was immer das im Einzelfall heißt, muss je individuell bestimmt werden; es bedarf dafür aber auch der institutionellen Verankerung einer intelligent und souverän begriffenen Schauspieler/innenposition in den Ausbildungs- und Produktionsstätten. Bei Barthes ist diese mit ›Intelligenz‹ – und nicht (nur) mit körperlicher Tüchtigkeit und Virtuosität – besetzte Schauspielposition, die Vilar für ihn bekleidet, zu seinem Bedauern eine einsame, sprich keine strukturell verankerte, und es erscheint fraglich, ob das heute mit Blick auf Schauspielschulen und Stadttheater im Wesentlichen anders ist. Dass dies nicht so ist, darauf deutet die Singularität der Schauspielerposition Fabian Hinrichs’ hin, der für mich unter heutigen Parametern diese ›Intelligenz‹ und viel von dem, wofür Barthes plädiert – ein selbst-bewusstes Schauspiel, das sich als solches zeigt und hinter keiner Rolle zu verschwinden sucht sowie eine anti-psychologische, alteritäre Deklamation – verkörpert. Hinrichs’ ›Einsamkeit‹ auf dieser Position reflektiert sich in dem Solo-Format, das er gemeinsam mit René Pollesch an der Volksbühne entwickelt hat.23 Hinrichs souveräne Darstellerposition stellt zugleich eine Autorschaft dar, die selber Entscheidungen trifft, die sich Regie und Dramaturgie jederzeit auch widersetzen kann bzw. diese auch selbst mitübernimmt, die die Aufführung und die Begegnung mit dem Publikum offen hält und stets eine Diktion wählt, die angemessen erscheint, zeitgenössisch, selbstbestimmt. Bei der letzten Produktion, Keiner findet sich schön von 2015, wird diese Form als selbst schon wieder im Verschwinden begriffen, als historisch vergängliche Konstellation dargestellt. Der in legerer Alltagskostümierung auftretende Hinrichs widmet sich den existenziellen Alltagsfragen des Postbürgertums und ist als menschlicher Akteur auf der Bühne von einem kategorialen Abgang betroffen, an dessen Stelle die Überlebensgröße von Bert Neumanns aufgeblasenen Plastikbären tritt, der uns ermutigt, keine Angst vor unserem (menschlichen) Ende zu haben, diesseits und jenseits der Bühne. Form und Ausdruck, die Hinrichs und Pollesch gefunden haben, und die in meiner Rezeption als Barthes’scher Umbruchspunkt fungieren, werden hier auch als his-
23 | Es ist zugleich zu betonen, dass es vereinzelt viele Schauspieler/innen gibt, die eine solche intelligente und intellektuelle Schauspielposition für sich in ihrem Spiel sowie grundsätzlich in der Produktion beanspruchen und eine Ko-Autor/innenschaft einfordern und praktizieren. Es geht hier um das Fehlen einer institutionellen Verankerung einer so begriffenen Schauspiel-Rolle. Gerade an der Volksbühne lässt sich ein hohes Aufkommen solcher Schauspielpositionen beobachten und die Untersuchung des spezifischen Schauspiels unter der Intendanz von Frank Castorf wäre ein eigener Untersuchungsgegenstand, den es in der Zukunft zu beleuchten gilt.
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torische Kategorien reflektiert, deren Aktualität begrenzt ist, und bald schon wieder Theatergeschichte geworden sein werden.
L iter atur Barthes, Roland (2001a): »Äußerung über das Theater.« In: Ders.: Ich habe das Theater immer sehr geliebt und dennoch gehe ich fast nie mehr hin. Berlin: Alexander, 19-24. Barthes, Roland (2001b): »Warum Brecht.« In: Ders.: Ich habe das Theater immer sehr geliebt und dennoch gehe ich fast nie mehr hin. Berlin: Alexander, 129-133. Barthes, Roland (2001c): »Macbeth.« In: Ders.: Ich habe das Theater immer sehr geliebt und dennoch gehe ich fast nie mehr hin. Berlin: Alexander, 126-128. Becker, Hans-Ulrich/Schipper, Imanuel/Stegemann, Bernd (2011): »›Schauspieler sind professionelle Menschen.‹ Ein Gespräch über Schauspielausbildung.« In: Roselt, Jens/Weiler, Christel (Hg.): Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten. Bielefeld: transcript, 239-258. Brandl-Risi, Bettina (2011): »›Ich bin nicht bei mir, ich bin außer mir.‹ Die Virtuosen und die Imperfekten bei René Pollesch.« In: Roselt, Jens/Weiler, Christel (Hg.): Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten. Bielefeld: transcript, 137-156. Jopt, Lisa/Löwer, Jörg/Rudolph, Sebastian (2016): »Sonst gehen wir kaputt!« In: Theater heute 10, 4-12. Matzke, Annemarie (2011): »Inszenierte Co-Abhängigkeit. Zur Aufgabe einer souveränen Darstellerposition im zeitgenössischen Performance-Theater.« In: Roselt, Jens/Weiler, Christel (Hg.): Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten. Bielefeld: transcript, 109-124. Rancière, Jacques (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books, 21-75. Roselt, Jens (2009): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum Postdramatischen Theater. Berlin: Alexander. Roselt, Jens: »Nachahmung im Theater ist kein Frevel. Hildesheimer Thesen III, Was die unfreiwillige Gemeinsamkeit zwischen Stadttheater und Freier Szene bringen kann.« In: www.nachtkritik.de/index.php?view=ar ticle&id=7426%3Ahildesheimer-thesen-iii-&option=com_content&Itemid=84 [04.10.2016].
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V ideoverzeichnis Spielweisen/Acting Methods. Gespräche mit Schauspielern, DVD, hg. v. Akademie der Künste, Berlin, 2014.
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Institutionelle Re/produktionsmechanismen
Schauspieler/innen zwischen Institution und Profession Zur Relevanz ethnischer Kategorisierungen im deutschen Sprechtheater am Beispiel des Künstlervermittlungswesens Hanna Voss »Wenn jetzt gemeinhin eine Anfängerin gesucht wird, würde man nicht unbedingt eine schwarze Schauspielerin hinschicken.«1 – Diese Aussage eines behördlichen Vermittlers führt direkt in das Thema dieses Beitrags: das Verhältnis von Theater und Ethnizität, dem am Beispiel des Künstlervermittlungswesens in Deutschland nachgegangen werden soll und zwar aus historischer, sozial-empirischer und theoretischer Perspektive. Zunächst sei der Blick jedoch auf einen Textauszug gerichtet, der einen ersten Einblick in diesen Gegenstandsbereich gewährt und zugleich Aufschluss hinsichtlich der Erforschung von Theater als Institution gibt. Der Verfasser äußert darin nämlich die Ansicht, dass für das zeitgenössische Theater neben der Etatunsicherheit »auch ein anderer Unruhefaktor [verdiene] öffentlich benannt zu werden. Das sind die gewerbsmäßigen Theateragenten. Sie lenken unauffällig, dennoch höchst wirksam die Fluktuation in unseren Opern- und Schauspielhäusern. Das Interesse der Agenten am Theater ist vorwiegend wirtschaftlich, privat-wirtschaftlich. Jeder Bühnenangehörige, der durch einen Agenten ›vermittelt‹ worden ist, muß diesem fortlaufend einen bestimmten Prozentsatz der Monatsgage als Provision zahlen. Das Theater zahlt dem Agenten noch einmal denselben Satz. […] Kein Wunder also, daß sich die Tätigkeit der Bühnenvermittler so auswirkt: Sie forcieren die Sucht zu gastieren, sie begünstigen den 1 | Der Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Projekts »Praktiken der ethnischen Ent/ Differenzierung im zeitgenössischen deutschen Sprechtheater« (2014-2017, Leitung: Friedemann Kreuder) an der JGU Mainz, assoziiert an die Mainzer DFG-FOR 1939 »Un/ doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung« (Sprecher: Stefan Hirschauer). Das Zitat stammt aus einem Gespräch, das im Kontext der Forschergruppe im Frühjahr 2015 geführt wurde.
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Hanna Voss hochbezahlten Star, und sie sind um der Höhe der Provision willen interessiert, ihre Schützlinge möglichst jedes Jahr an eine andere Bühne zu bringen. Diese drei Folgen der Agentenbemühungen stehen im Gegensatz zur notwendigen Bildung und Konsolidierung von künstlerisch homogenen Ensembles. […] Manche Theaterleiter arbeiten [sogar] mit einem einzigen Stellenvermittler zusammen, der ihnen gleichwohl nicht untersteht. Sie fahren, wenn sie ›auf Engagementsreisen‹ gehen, in dessen Vorführraum und ›kaufen ein‹, was der Leibagent an Menschenmaterial am Lager hat.«2
Das Berufsbild der »gewerbsmäßigen Theateragenten« wird hier also durch vier Aspekte charakterisiert: das vorwiegende Interesse am eigenen Profit, den Status der Künstler/innen als Ware, den Vorwurf der Schädigung der ›Kunst‹ durch die Geschäftspraktiken der Agent/innen und ihre machtvolle Einflussnahme, die sich jedoch im Verborgenen vollzieht. Diese Profilzeichnung entspricht weitestgehend jener, welche Stefanie Watzka in ihrer grundlegenden Studie über diesen Berufszweig zwischen der allgemeinen Gewerbefreiheit von 1869 und dem restriktiven Stellenvermittlergesetz von 1910 detailliert herausgearbeitet hat. Allein die von ihr als gängiges Stereotyp identifizierte Markierung der Agent/innen als jüdisch (und somit als ›rassisch‹ different) fehlt hier gänzlich.3 Trotzdem ist dieses Dokument höchst bemerkenswert, denn die wenige theaterwissenschaftliche Forschung konstatiert eigentlich übereinstimmend, dass das »Arbeitsnachweisgesetz von 1922 mit Wirkung zum 1. Januar 1931 […] die knapp hundertjährige Geschichte der umstrittenen privatgewerblichen Engagementsvermittlung durch Theateragenten beenden [sollte]«4. Der hier angeführte Artikel mit dem Titel »Die Menschenbörse« erschien jedoch erst 1956 in der Wochenzeitung Die Zeit. Angesichts dieser offenkundigen Kontinuitäten ist es nun mehr als erstaunlich, dass bislang fast keine theaterwissenschaftliche Forschung vorliegt, die sich mit der Entwicklung des Künstlervermittlungswesens nach 1930 beschäftigt. Dies verwundert umso mehr, als es heute ein spezielles öffentliches Vermittlungsangebot sowie eine gewerbliche Branche von über 300 privaten Agenturen gibt. Ein erster Erklärungsansatz für dieses Desiderat liegt mit Watzka in der notwendigen Verborgenheit der Vermittler/innen begründet, da im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert »Kunst und Geschäft […] in den Augen der Öffentlichkeit als zwei grundsätzlich gegenläufige, nicht miteinander in Einklang zu bringende Strukturen [galten]. […] Die Bühnenbetriebe dieser Zeit gerieten so in einen Zwiespalt […]. In dem stets vielschichtiger werdenden Theatersystem des 19. Jahrhunderts nahmen die Theateragenten die Position 2 | Jacobi 1956, 5. 3 | Vgl. Watzka 2006, 25-33, 88-100 und 124-154. 4 | Hildebrandt 2000, 167.
Schauspieler/innen zwischen Institution und Profession der wirtschaftlich orientierten Zwischenhändler ein. […] Damit für die Öffentlichkeit der Schein von einem modernen, anspruchsvollen Kulturtheater gewahrt werden konnte, mussten [jedoch] jegliche ökonomischen Motive verborgen werden. Deshalb durfte die Existenz der Agenten nicht sichtbar werden.« 5
Die analoge Nicht-Erwähnung der Theateragent/innen in der Theatergeschichtsschreibung wertet sie wiederum als »einen aktiven Akt des Vergessens im theaterhistorischen Gedächtnis«, und zwar basierend auf einer »theatergeschichtliche[n] Anschauungsweise, die geprägt ist von der im 19. Jahrhundert verwurzelten und bis heute in Ansätzen noch vorhandenen Kategorisierung in Kultur- und Geschäftstheater«.6 In diesem Kontext ist weiterhin bedeutsam, dass die deutschsprachige Theaterwissenschaft zum Zeitpunkt ihrer Institutionalisierung in den 1910er- und 1920er-Jahren nicht nur »das sogenannte ›Kulturtheater‹ […] zum alleinigen Gegenstand ihrer Wissenschaft er[hob]«, sondern in Abgrenzung zu »allen anderen Künsten« – und insbesondere zur Literatur und zum Film – zudem »das Erleben der singulären Aufführung […], d.h. das transitorische Theaterereignis« in den Mittelpunkt stellte.7 All dies habe »eine extreme Eingrenzung des Gegenstands ›Theater‹ zur Folge« gehabt.8 Ein zweiter Erklärungsansatz scheint daher die bis heute tradierte fachwissenschaftliche Praxis zu sein, die konkreten Produktions- und Rezeptionsbedingungen in Bezug auf unser zeitgenössisches ›institutionelles‹ Theater weitgehend auszublenden. Außerhalb des Blickfeldes liegen somit tendenziell jene Organisationen und individuellen Akteur/innen, die die Institution Theater im Sinne »standardisierte[r] und relative[r] stabile[r] Verhaltensmuster« alltäglich re/produzieren.9 Im Falle des deutschen Sprechtheaters und mit Fokus auf professionelle Schauspieler/innen sind dies konkret die staatlichen Schauspiel(hoch)schulen, Künstlervermittlungen, die öffentlichen Theaterhäuser mit ihren festen Ensembles sowie professionelle und nicht-professionelle Zuschauer/innen. Gemeinsam bilden sie – im Anschluss an Paul DiMaggio und Walter Powell – ein organisationales Feld, das sich u.a. durch ein Zusammengehörigkeitsgefühl und die Herausbildung isomorpher Strukturen auszeich-
5 | Watzka 2006, 84f. 6 | Vgl. Watzka 2006, 87. 7 | Vgl. Kirschstein 2007, 184-186. 8 | Vgl. Kirschstein 2007, 187. 9 | Der Begriff »Institution« wird hier im Anschluss an den soziologischen Neo-Institutionalismus verwendet, vgl. Heintz/Nadai 1998, 77. Hinsichtlich erster Beiträge zu diesem Forschungsgebiet siehe insbesondere jene von Benjamin Hoesch, Eva Holling und Katrin Hylla, Anja Klöck, Ellen Koban sowie Constanze Schuler in diesem Band, die jedoch nicht explizit aus einer institutionentheoretischen Perspektive argumentieren.
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net.10 Im Zuge einer Erweiterung des traditionellen Gegenstandsbereichs der Theaterwissenschaft gilt es daher empirisch zu erforschen, inwiefern die mitunter historisch gewachsenen »Bedingungskonstellationen«11 dieses Feldes beeinflussen, dass sich Humandifferenzierungen nach Ethnizität bzw. ›Rasse‹ hier heute als relevant und ›behäbig‹ erweisen können, situativ überwunden werden oder aber schlichtweg irrelevant sind.12 Die Betrachtung des Künstlervermittlungswesens erscheint dabei aus zwei Gründen als besonders erkenntnisgewinnträchtig: Zum einen wird anhand des Funktionswandels der Vermittlerposition die zunehmende Strukturation des Feldes deutlich und zum anderen trifft hier der ›normale‹ Arbeitsmarkt auf den speziellen Arbeitsmarkt für professionelle Schauspieler/innen.
H istorische (D is -)K ontinuitäten : D as K ünstlervermit tlungswesen in D eutschl and Das Künstlervermittlungswesen wurde in den letzten knapp 200 Jahren einerseits durch gesamtwirtschaftliche Veränderungsprozesse beeinflusst: Den ersten Eckpfeiler stellt die allgemeine Gewerbefreiheit von 1869 dar, die den Aufstieg der Theater sowie gleichsam des Theateragenturwesens maßgeblich beförderte.13 Der zweite Eckpfeiler ist das Arbeitsnachweisgesetz von 1922, das die private Arbeitsvermittlung aufgrund der »teilweise bestehenden Mißstände« zum 1. Januar 1931 verbot und unter Strafe stellte.14 Gemäß den damaligen Sozialisierungstendenzen im Bereich der Wirtschaft zielte diese Gesetzgebung nämlich auf eine »Zentralisierung und Monopolisierung des gesamten Arbeitsvermittlungswesens«.15 Daher wurde der private Geschäftszweig zunehmend durch einen allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweis ergänzt, der diesen von 1931 an ersetzen sollte und nun auch an die Arbeitslosenversicherung gekoppelt war.16 Den dritten Eckpfeiler bildet die Wiederaufhebung dieses staatlichen Arbeitsvermittlungsmonopols zum 1. April 1994, weil dieses gemäß einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes von 1991 nicht mit dem EWG/EU-Recht vereinbar war.17 Andererseits gab es jedoch auch signifikante 10 | Vgl. DiMaggio/Powell 1983, insbes. 148. 11 | Vgl. Heintz 2008, insbes. 241f. 12 | Zur zweifachen Kontingenz von Humandifferenzierungen vgl. Hirschauer 2014. 13 | Vgl. Watzka 2006, 18-20. 14 | Vgl. Bodié 1933, 27f. und 42-44. 15 | Vgl. Bodié 1933, 4f. und 27f. 16 | Vgl. Bodié 1933, 4f. und 27f. 17 | Vgl. Thiele 2005, 93-95; Russ 1994, 316f. Vgl. weiterhin EuGH, Urteil vom 23.04.1991, C-41/90.
Schauspieler/innen zwischen Institution und Profession
Abweichungen von diesen allgemeinen Entwicklungen: Da die Vermittlung künstlerischer Berufe durch den öffentlichen Arbeitsnachweis schon früh als »aussichtlos« bewertet wurde – u.a. aufgrund der fehlenden Spezialkenntnisse der Vermittler/innen und des »Nichttrennen[s] von Vermittlung und Versicherung« –, wurde für »Bühnenkünstler« ab Oktober 1930 der Paritätische Stellennachweis der deutschen Bühnen G. m. b. H. (kurz: Bühnennachweis) mit der Vermittlung beauftragt.18 Dieser wurde unter Aufsicht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) und dem Deutschen Bühnenverein (DBV) gemeinsam organisiert. Als Vorbild diente dabei der ebenfalls paritätisch organisierte Stellennachweis dieser beiden Berufsverbände, der bereits im September 1919 seine Arbeit aufgenommen hatte und für diesen »größeren Zwecke« »im wesentlichen nur« weiter ausgebaut wurde.19 Die angestrebte »Uebersicht über den Arbeitsmarkt« wurde durch die Einrichtung einer »Zen tralkartothek« aller Künstler/innen und mit Hilfe »einer ausgedehnten Reisetätigkeit der Mitarbeiter (Disponenten)« zu den einzelnen Theatern – »nach Möglichkeit von jedem Kunstfach, also Oper, Operette, Schauspiel je ein Vertreter« – gewährleistet.20 Die Provisionssätze konnten infolge dieser Konzentration im Vergleich zu vorher wesentlich gesenkt werden.21 Außerdem hatte der Bühnennachweis noch »die besondere Aufgabe der Sorge für den Nachwuchs«, weshalb »Kontakt […] mit guten Lehrern und Schulen« geschaffen werden sollte, um »den nicht qualifizierten Zustrom des Nachwuchses zu drosseln«.22 Neben der Zentralstelle in Berlin wurden zwei Vertreterstellen in Mainz und München eingerichtet, wobei es sich um vormals selbstständige Agenturen handelte. Als Vermittler/innen engagierte der Bühnennachweis nämlich die »besten früheren Theateragenten«.23 Von einem Abbruch der Tradition der »privatgewerblichen Engagementsvermittlung« nach 1930 kann daher also keine Rede sein.24 Zumal der Paritätische Stellennachweis nur wenige Jahre eigenständig tätig war und nach dessen Okkupation durch die 1933 gegründete Reichstheaterkammer (RTK) und politischer Gleichschaltung ab 1938 auch wieder private Vermittler/innen zugelassen wurden: »Der nationalsozialistische, nordisch-reinrassige Agent durfte unter der Oberaufsicht der Reichstheaterkammer germanischer Profitgier frönen – Gewerkschaften, die 18 | Vgl. Bodié 1933, 28-32 und 44-46. 19 | Vgl. Bodié 1933, 46f. und 50. Vgl. weiterhin Lennartz 1996, 116 und 119; Rübel 1992, 184f. 20 | Vgl. Bodié 1933, 26 und 47f. 21 | Vgl. Bodié 1933, 47 und 53. 22 | Vgl. Bodié 1933, 52. 23 | Vgl. Bodié 1933, 48 und 53. 24 | Vgl. Hildebrand 2000, 167.
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den Geschäftsbetrieb hätten stören können, gab es nicht mehr.«25 Parallel dazu wurde der Bühnennachweis der RTK stark abgebaut: Während in der Spielzeit 1936/37 in Berlin sowie in den sechs Vermittlungsstellen von Breslau über Frankfurt bis Wien insgesamt 32 Disponent/innen tätig waren, arbeiteten 1938/39 bereits 13 von diesen ›auf eigene Rechnung‹ und nur 6 (sowie 3 weitere) waren noch für die RTK tätig. 1942/43 war hier dann nur noch ein Disponent für alle Bereiche zuständig, der sich überdies »z.Zt. im Felde« befand; demgegenüber standen 20 gewerbliche Agenturen mit insgesamt 24 Vermittler/innen.26 Die damaligen Vermittler/innen agierten aber, wie Bärbel Schrader beispielhaft gezeigt hat, nicht alle zwangsläufig gemäß den ideologischen Vorgaben der RTK.27 Die Erlaubnis zur Berufsausübung war für Bühnenangehörige nämlich grundsätzlich an deren Mitgliedschaft in der RTK gekoppelt und diese konnte ›Juden‹ bzw. ›Nichtariern‹ unter Berufung auf bestimmte Gesetze verweigert bzw. wieder entzogen werden, was ab 1935 auch mit Nachdruck umgesetzt wurde.28 Ein solch formal legitimierter beruflicher Ausschluss von Menschen entlang ethnischer bzw. ›rassischer‹ Prinzipien war und blieb für das sich in dieser Zeit zunehmend strukturierende organisationale Feld des deutschen Sprechtheaters jedoch ein einmaliger Umstand.29 Nach dem Ende des Naziregimes und der Auflösung des zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr funktionsfähigen Bühnennachweises »herrschte im Bereich der Künstlervermittlung Rechtsunsicherheit«, weshalb sich die privaten Agenturen »in den Westzonen frei entfalten« konnten und »die altbekannten Mißstände« schon bald wieder auftraten.30 Erst nach der Gründung der BRD im Jahre 1949 wurde die gewerbsmäßige Vermittlung im Bereich Bühne ausdrücklich gestattet und von der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung kontrolliert.31 In diesen Kontext ist somit auch der eingangs zitierte kritische Zeit-Artikel von 1956 einzuordnen. Auf Drängen der GDBA richtete die Bundesanstalt ab 1960 eine spezielle Abteilung bei der 1954 gegründeten Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) in Frankfurt a.M. ein, »die ohne Mitwirkung der Theaterverbände Arbeitsver-
25 | Vgl. Rübel 1992, 185, 237 und 299, hier: 185; Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1938 (Jg. 49), 978f. 26 | Vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 1937 (Jg. 48), 140f., 1939 (Jg. 50), 1004f. und 1943 (Jg. 54), 810f. 27 | Vgl. Schrader 2008, 156-162. 28 | Vgl. Rübel 1992, 236-242; Schrader 2008, 169-211. 29 | Zur Entwicklung des deutschen Stadttheatersystems vgl. Balme 2010. 30 | Vgl. Rübel 1992, 299. 31 | Vgl. Rübel 1992, 299.
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mittlung betreiben sollte«.32 Da sich die Bühnenvermittlung Frankfurt aber »noch nicht in der Lage sah, den ganzen Arbeitsmarkt der Schauspieler abzudecken, übertrug sie 1961 zwölf bereits bestehenden Bühnenagenturen einen Teil der Vermittlungstätigkeit«33. Trotz wiederkehrender Kontroversen wurde diese Praxis der Sonderbeauftragung und Lizenzierung bis zur Wiederaufhebung des staatlichen Monopols fortgeführt und zeitweise auch ausgeweitet.34 Diese historischen (Dis-)Kontinuitäten haben letztlich dazu geführt, dass das heute stark ausdifferenzierte Parallelsystem einer privaten und einer speziellen öffentlichen Arbeitsvermittlung in Bezug auf professionelle Schauspieler/innen signifikante Asymmetrien aufweist. Die wichtigsten sind wohl, dass die ZAV-Künstlervermittlung in der Abteilung Schauspiel/Bühne über etablierte zentralistische Strukturen und Netzwerke verfügt und sich über Beiträge der Arbeitslosenversicherung finanziert. Deshalb gilt sie innerhalb des Feldes als wichtiger Ansprechpartner für den Berufseinstieg und wird von den privaten Agenturen zu Teilen als »staatlich subventionierte Konkurrenz« wahrgenommen.35 Offen ist hingegen, inwiefern die heutigen Organisationsprinzipien und Handlungsmuster dieser Einrichtung die Relevanz ethnischer Kategorisierungen im Rahmen der Vermittlung von professionellen Schauspieler/innen beeinflussen. Dem soll daher anhand der alltäglichen Praktiken der ZAV-Vermittler/innen nachgegangen werden. Als primäre Quelle dienen mir dabei vier explorative Interviews, die ich Ende 2014 bzw. Anfang 2015 mit zwei langjährigen Vermittler/innen – in einem Fall ergänzt durch einen/eine Teamleiter/in – geführt habe sowie kontrastierend Anfang 2016 mit zwei Vertreter/innen privater Agenturen.36
32 | Vgl. Rübel 1992, 300. 33 | Rübel 1992, 300. Die Sonderbeauftragung lässt sich aber bereits ab der Spielzeit 1958/59 belegen und die Agenturen vermittelten nicht nur im Bereich Schauspiel, sondern auch für Oper, Operette, Ballett, Tanz und Fernsehen, vgl. Deutsches BühnenJahrbuch 1959 (Jg. 67), 635f. und 1961 (Jg. 69), 655f. 34 | Vgl. Fohrbeck/Wiesand 1975, 199-212; Rübel 1992, 300; Russ 1994, 313. 1973 wurde diese Abteilung der ZAV in die Zentrale Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung (ZBF) überführt, die 2007 mit den Künstlerdiensten der Landesarbeitsämter zu einem Fachbereich Künstlervermittlung bei der ZAV (nun: Zentrale Auslands- und Fachvermittlung) zusammengefasst wurde. Die ZAV-Künstlervermittlung ist heute in den Bereichen Schauspiel/Bühne, Film/Fernsehen, Oper/Operette, Chor, Musical, Tanz, Show, Orchester, Musiker, Models, Komparsen und Visagisten vermittelnd tätig. 35 | Vgl. Jensen 2014, 39-42. 36 | Wenn nicht anders angegeben, stammen die direkten wie indirekten Wiedergaben im folgenden Abschnitt aus den Gesprächen mit den ZAV-Vertreter/innen.
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D ie P r ak tiken der ZAV-V ermit tler /innen In der Kartei der Abteilung Schauspiel/Bühne befinden sich derzeit die Profile von circa 9000 Schauspieler/innen, auf die die rund 15 Fachvermittler/innen der sechs Standorte (Berlin, Hamburg, Köln, Leipzig, München und Stuttgart) zugreifen können. Die Bezeichnung »Schauspieler/in« ist jedoch keine geschützte Berufsbezeichnung. Um Aufnahme bewerben kann sich jede/r, der/ die eine mindestens dreijährige Ausbildung an einer staatlichen oder staatlich anerkannten privaten Schauspielschule absolviert hat. Bei diesen »Vorsprechen« gehe es, so betonen beide Vermittler/innen fast schon einem Credo gleich, daher nicht um die Feststellung, »ob jemand Schauspieler ist oder nicht«, sondern ausschließlich um die Frage, »ob wir vermitteln können«, um die Feststellung der »Vermittelbarkeit«. So werde beispielsweise vorausgesetzt, dass die Bewerber/innen »gemäß den Anforderungen des deutschsprachigen Theaters« dialektfrei Hochdeutsch bzw. »Bühnendeutsch« sprechen. Die jährlich circa 220 Absolvent/innen der 21 staatlichen Schauspiel(hoch)schulen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz werden jedoch aufgrund deren größerer Objektivität und der mehrstufigen Aufnahmeprüfung zunächst ›automatisch‹ in die Kartei aufgenommen und mittels des ZAV-Absolventenkatalogs dem »Markt« exklusiv präsentiert.37 Neben einer Porträt-Fotografie findet man im Katalog 2014/15 u.a. folgende Angaben: Vor- und Nachname, Geburtsjahr, Geburtsort, Größe, Figur, Haarfarbe, Augenfarbe, Staatsangehörigkeit, Gesang/Instrumente, Fremdsprachen (differenziert nach: Grundkenntnisse, erweiterte Kenntnisse und verhandlungssicher), Dialekte, Tanz und Sonstige Fähigkeiten. Das »Menschenmaterial«38 wird in diesem ersten Schritt also nicht nur nach leistungsbezogenen Aspekten kategorisiert, sondern auch nach individuellen körperlichen Merkmalen. Diese laut den Vermittler/innen über Jahre bzw. Jahrzehnte tradierte Darstellungsform »richtet sich nach den Bedürfnissen der Theater«, »das sind einfach die Sachen, die abgefragt werden«. Grundlage für diese ›marktkonforme‹ Präsentation sei dabei der sogenannte »Kontaktbogen« bzw. »Vermittlungsbogen«, der von den Bewerber/innen ausgefüllt werden müsse. Bezüglich der Frage, ob in diesem Zuge auch Ethnizität bzw. Hautfarbe intern erfasst wird, da dies – wie auch Geschlecht – nicht explizit im Absolventenkatalog aufgeführt ist, geben beide Vermittler/innen an, dass dieses »Merkmal« gemeinsam mit den anderen im »Datensatz« gespeichert werde.39 Eine/r zeigt sich sogar erstaunt, dass Ethnizität nicht auch im Katalog zu finden ist, äußert aber erklärend: »Ja, weil man 37 | Vgl. zur Aufnahmepraxis weiterführend: Sozialgericht Berlin, Urteil vom 14.11.2014. 38 | Jacobi 1956, 5. 39 | Die ›ethnische Zugehörigkeit‹ wird auch in den etablierten Casting-Portalen standardmäßig erfasst.
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es ja sieht. Da ist ja nun ein Foto dabei.« Aufschlussreich ist, dass die erfassten Kriterien bei der ZAV-Künstlervermittlung laut dem/der Teamleiter/in je nach Abteilung variierten und so mitunter auch Merkmale erfasst würden, die zwar jeweils »für den Beruf erforderlich« seien, wie z.B. Körpermaße im Modelbereich, die aber in anderen Abteilungen nach dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) nicht zulässig wären. Obgleich die öffentlichen Theaterhäuser des deutschsprachigen Raumes sowie auch die Hochschulen von je einer Person intensiviert betreut werden – u.a. in Form einer »Sprechstunde« für das Ensemble –, seien es in erster Linie die kleinen und mittleren Theater, die auf das Vermittlungsangebot zurückgriffen: »Bundesliga geht selten über uns.« Die Intensität der Zusammenarbeit hänge jedoch nicht zuletzt vom persönlichen Kontakt und den biografisch gewachsenen »Netzwerken« der Vermittler/innen ab. Denn die Fachvermittler/innen der ZAV kommen »alle aus den Bereichen, in denen sie vermitteln, das ist die Voraussetzung«. Es handelt sich bei ihnen laut Stellenprofil um sogenannte »Fachexperten mit besonderem beruflichen Hintergrund«, die dadurch in der Lage sein sollen, in Bezug auf die Bewerber/innen eine »künstlerisch-ästhetische Eignungseinschätzung« vorzunehmen. Damit korrespondiert folgendes, in einem Bericht von 2015 dokumentiertes Selbstverständnis: »Wir sind das verlängerte Auge der Theater. Wir kennen die Anforderungen sehr genau und entscheiden daraufhin, wen wir vermitteln können […].«40 Nicht nur hinsichtlich der Organisationsprinzipien, sondern auch hinsichtlich der geltenden Handlungsmuster weist diese Einrichtung somit erstaunliche Parallelen zum Bühnennachweis von 1930 bzw. zur damaligen Einschätzung auf: »Der Fachvermittler für künstlerische Berufe sollte selbst ein Künstler sein, um Leistungen nach ihrer Qualität beurteilen zu können; er muß wissen, wie man die einzelnen Künstler zusammenstellen muß […]. Er muß genau die Arbeitsstätten kennen, um zu wissen, welche Arbeitnehmer er dort hinschicken kann, und welche nicht.« 41
Trotz der heutigen »Mitwirkungspflicht« der Schauspieler/innen, die neben der regelmäßigen Kontaktaufnahme und Aktualisierung der Daten auch ein gewisses Maß an Eigeninitiative umfasse – »Ein großer Teil am Theater ist immer Eigeninitiative, Theater ist immer ein relativ kleiner abgeschlossener Arbeitsmarkt.« –, sind solche Selektionsprozesse auch für die Arbeit der ZAVVermittler/innen charakteristisch. Besonders anschaulich wird dies in einem Urteil des Berliner Sozialgerichts – Klägerin war eine Absolventin einer privaten Schauspielschule:
40 | Jensen 2014, 39. 41 | Bodié 1933, 31. Vgl. weiterhin Bodié 1933, 48.
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Nun stellen Schauspielensembles – wie ein/e Vermittler/in es formuliert – grundsätzlich »ein geschicktes Konglomerat von Fähigkeiten« dar, »eine Ansammlung von Menschen, die vielfältige Aufgaben bedienen können«. Die Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen scheinen in diesem organisationalen Feld jedoch auch mit dem Pigmentierungsgrad von Haut und Haaren in Verbindung zu stehen. Dies wird von beiden Vermittler/innen grundsätzlich bestätigt. Begrifflich aufschlussreich ist dabei insbesondere folgende Beschreibung des Feldes, die sich im Gesprächsverlauf abzeichnete: So gebe es innerhalb der Ensembles der öffentlichen Häuser neben dem nicht eigens bezeichneten »Normalfall«, dem »blonden Mitteleuropäer«, den »romanischen Typ«, der auf Nachfrage in Bezug auf Haare, Augen und tendenziell auch Haut als »dunkel« bzw. »dunkler« beschrieben wird. Auffällig ist, dass diese erste Stufe der Devianz noch als ›Typ‹ modelliert und fester Bestandteil des Systems ist. ›Auf der Grenze‹ steht dagegen der »Schauspieler mit Migrationshintergrund«, da dieser zwar oftmals schnell fest engagiert werde – jedoch häufig bei Kinder- und Jugendtheatern, die so »einen Teil ihres Publikums« erreichen wollten –, aber auch, da die als ethnisch wahrgenommene Devianz hier potentiell mit Bedeutung versehen werde. ›Jenseits der Grenze‹ befindet sich dagegen im doppelten Sinne der »schwarze Schauspieler«, da dieser primär gezielt als Gast eingestellt werde und es sich dabei zumeist um ›ethnische‹ Rollen oder konzeptionelle »Setzungen« handele. Eine Festanstellung sei von Seiten der Schauspieler/innen aber aufgrund attraktiverer Angebote teilweise auch nicht gewünscht. Trotz oder gerade wegen der aufgezeigten Logiken der In- und Exklusion benennt ein/e Vermittler/in »farbige Schauspieler« als ein »klassisches Gebiet«, bei dem sich auch die größeren Theater an die ZAV wendeten. Die Frage, ob Hautfarbe bei den Anfragen generell eine Rolle spiele, also ob beispielweise explizit gefordert würde, dass jemand »weiße Haut« habe, wird von beiden Vermittler/innen aber entschieden verneint. »So etwas« werde von den Theatern nur hinzugefügt, wenn es »eine Ausnahme« sei, und ansonsten »vorausgesetzt«. Als Vertreter/innen der Bundesagentur für Arbeit wäre nun eigentlich zu erwarten, dass sich die ZAV-Vermittler/innen gegen diese Einstellungs- und Besetzungspraktiken wenden, die allgemein als diskriminierend zu bewerten wären. Im Bühnennachweis von 1930 zumindest war eine solche Vermengung 42 | Sozialgericht Berlin, Urteil vom 14.11.2014, 8. Vgl. auch Bodié 1933, 49.
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»künstlerische[r] und soziale[r] Gesichtspunkte« jedoch nicht erwünscht, vielmehr galt die freie Arbeitnehmerwahl als ein wichtiger Vorteil »gegenüber einem öffentlichen Nachweis«.43 Und dieses Handlungsmuster findet sich auch in den heutigen Vermittlungsprozessen wieder, bei denen offiziell stets »eine Abwägung zwischen den Interessen des Arbeitssuchenden an der Realisierung seines Berufswunsches und den Interessen der Arbeitgeber an einer bestmöglichen Besetzung [Herv. d. Verf.] ihrer offenen Stellen vorzunehmen«44 ist. Diese Prozesse beruhen nämlich zum einen auf einer gemeinsamen ›Fachsprache‹ von Auftraggeber/innen und Fachvermittler/innen, sodass am Anfang – neben konkret zu besetzenden Rollen – von Seiten der Theater teilweise »Typologisierungen« stünden wie »Julia« oder »Ophelia«. An solche »Arbeitshypothesen«, so betont ein/e Vermittler/in, knüpften sich jedoch zumeist intensive Aushandlungs- und Vertiefungsprozesse, wobei es vor allem um die zu erfüllenden Aufgaben ginge. Auffällig ist aber, dass ›ethnische‹ Schauspieler/innen dabei anscheinend nicht automatisch ›mitgemeint‹ sind. Denn diese Prozesse beruhen zum anderen auf einem geteilten ›Feldwissen‹. So wird etwa die Anfrage nach einem »Schauspieler mit Migrationshintergrund« von einem/einer Vermittler/in wie selbstverständlich als »türkisch« interpretiert: »das ist eigentlich meistens […] hier und überall so gemeint«. Folglich wird – wie bereits im Eingangszitat ersichtlich – auch die eigentlich ethnisch neutrale »typische Anfrage«: »Wir suchen zwei junge Männer, zwei junge Frauen. Also einfach Anfänger.« von den Vermittler/innen gemäß der geltenden Normalitätserwartung potentiell als »weiß« gedeutet. Und dies führt letztlich dazu, dass gemäß den künstlerischen Logiken des Feldes bereits vorab eine Auswahl entlang ethnischer Prinzipien getroffen wird. Danach gefragt, ob sie manchmal auch unaufgefordert ›ethnische‹ Schauspieler/innen zum Vorsprechen schickten (z.B. für »Ophelia«), geben beide Vermittler/innen aber an, dass man dies – in Kenntnis der jeweiligen Theater – in Ausnahmefällen tue bzw. sich vorstellen könne und man es den Auftraggeber/innen dann jedoch vorher ankündige und zu Teilen auch »erkläre«, d.h. mit einer Regieidee verbinde. Trotz der aufgezeigten habitualisierten Handlungsmuster gibt es also einen gewissen Handlungsspielraum. So habe ein/e Vermittler/in einen Schauspieler aus dem Sudan, der »nicht so dunkle Haut« habe, schon öfter als »romanischen Typ« vorgeschlagen und das Theater würde schauen, ob der Schauspieler gefalle, ob man ihn »gut« finde. Dieses Beispiel verdeutlicht nicht nur, dass die skizzierte Skalierung der Devianzen sich verschieben kann bzw. dem Einzelnen eine gewisse Mobilität zugestanden wird, sondern auch, dass ethnische Kategorisierungen selbst im Theater potentiell hinter solche nach Leistung zurücktreten können. 43 | Vgl. Bodié 1933, 25 und 49f. 44 | Sozialgericht Berlin, Urteil vom 14.11.2014, 3.
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P rozesse der (D e -)I nstitutionalisierung Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die heutige ZAV-Künstlervermittlung in der Abteilung Schauspiel/Bühne starke Ähnlichkeiten zum Paritätischen Stellennachweis der frühen 1930er-Jahre aufweist und zwar sowohl hinsichtlich der Organisationsprinzipien (zentrale Kartei, Betreuung der Theater und Schulen vor Ort und Personalpolitik) als auch hinsichtlich der geltenden Handlungsmuster (Selbstverständnis als ›Experten‹, Selektionsprozesse und Vorrang künstlerischer gegenüber sozialen Prinzipien). Inwiefern dies Anfang der 1960er-Jahre bereits so bezweckt war oder sich erst im Laufe der Zeit entwickelt hat – in Abgrenzung bzw. in Konkurrenz zu den stets koexistenten privaten Agenturen – kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden und wäre weitergehend zu erforschen. Bekannt ist lediglich, dass die Bundesanstalt Mitte der 1950er-Jahre aufgrund »ihrer mangelnden Kompetenz in künstlerischen Angelegenheiten« das »Modell der zwanziger Jahre – eine von GDBA und DBV getragene und verwaltete paritätische Einrichtung – [favorisierte], zu dessen Wiederbelebung und Betrieb sie Zuschüsse gewähren wollte«; dies wurde jedoch vom DBV abgelehnt.45 In Folge dieser Entwicklungen fungierte diese öffentliche Einrichtung – wie zuvor gezeigt werden konnte – in den letzten Jahren nur begrenzt als Korrektiv, was die Relevanz ethnischer Kategorisierungen im Rahmen der Vermittlung von professionellen Schauspieler/innen angeht. Allerdings hat sich die Funktion der Vermittlerposition innerhalb des betrachteten Gefüges aus Organisationen und individuellen Akteur/innen insgesamt auch maßgeblich verändert: Während Stefanie Watzka in ihrer Studie noch zu dem Schluss kommt, »dass die Vermittler […] entscheidend auf das Theatersystem des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einwirkten« und »den Stellenwert einer mitgestaltenden, beinahe als kreativ zu bezeichnenden Instanz«46 hatten, würde man ihnen heute im Sprechtheater wohl vornehmlich eine reproduktive Funktion zuschreiben bzw. sogar einen tendenziellen Funktionsverlust konstatieren. So spielen die privaten Agenturen, die je circa 30 Schauspieler/innen entgeltlich in allen beruflichen Angelegenheiten vertreten und beraten, für die eigentliche Vermittlung an die öffentlichen Theater heute fast keine Rolle mehr. Denn über Vakanzen sind sie – so ein/e private/r Vermittler/in – »aus der Tradition heraus« schlichtweg nicht informiert: dass »wir aktiv vorschlagen, das kommt in 99 Prozent aller Fälle nicht vor. So werden halt keine Leute besetzt. Das war vielleicht früher mal so«. In Bezug auf das organisationale Feld des deutschen Sprechtheaters kann dieser tendenzielle Funktionsverlust der Vermittlerposition jedoch zugleich als Strukturationsgewinn interpretiert werden. Die Erforschung des Künstlervermittlungswesens 45 | Vgl. Rübel 1992, 299f. Vgl. weiterhin Lennartz 1996, 126. 46 | Vgl. Watzka 2006, 99f.
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ist daher trotz dessen heute vermeintlich marginaler Position wichtig für das Verständnis dieses spezifischen Institutionalisierungsprozesses. Außerdem tritt anhand dieses Gegenstandes besonders deutlich zu Tage, dass Schauspieler/innen sich im deutschen Sprechtheater in einem Spannungsfeld zwischen Institution und Profession bewegen.47 Im Anschluss an die differenzierungstheoretisch ausgerichtete Professionssoziologie von Bettina Heintz gilt für ›moderne‹ Gesellschaften nämlich gemäß »dem Prinzip der Gleichberechtigung und der[en] spezifische[r] Inklusionslogik« sowie speziell für das soziale Feld der Erwerbsarbeit, dass »funktionsindifferente Merkmale wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder Herkunft als Inklusionskriterien an Bedeutung verlieren (müssten), zumindest dann [Herv. d. Verf.], wenn sie zum Funktionszweck der Institution keinen Bezug haben, d.h. nicht sachimmanent begründbar sind«.48 So habe etwa die Durchsetzung des Gleichberechtigungsprinzips dazu geführt, dass »Geschlechtsasymmetrien nicht mehr kulturell und rechtlich abgesichert sind und damit zunehmend illegitim« würden, was Heintz als De-Institutionalisierung der Geschlechterdifferenz beschreibt.49 Letzteres sei jedoch nicht automatisch gleichzusetzen mit der Auflösung dieser Institution, sondern verweise nur auf die Veränderung ihrer Reproduktionsmechanismen: von routinisiert zu bewusst und von direkt zu indirekt, u.a. weil das Verhalten des Einzelnen zunehmend begründungspflichtig werde. Infolgedessen könnten sich Geschlechterhierarchien heute nur noch unter bestimmten Bedingungen (sogenannten »Bedingungskonstellationen«) auf bauen und stabilisieren.50 Im deutschen Sprechtheater jedoch werden individuelle körperliche und auch ethnische Merkmale in Bezug auf Schauspieler/innen grundsätzlich nicht einmal versuchsweise professionell übersehen, sondern stellen stattdessen zentrale Merkmale der funktionalen Anforderung dar, an die im Rahmen von beruflichen Interaktionen und Entscheidungsprozessen angeschlossen werden kann. Dabei beruht diese Institutionalisierung und somit potentielle Relevanz von körperbasierten Humandifferenzierungen nicht etwa auf formalen Vorgaben, sondern allein auf informalen Regeln des Feldes. In Bezug auf Ethnizität bzw. ›Rasse‹ ist den letzten Jahren aber auch hier eine langsam einsetzende De-Institutionalisierung zu beobachten, die durch Debatten um als ethnisch 47 | Auch wenn letztere Rahmung sicherlich zu diskutieren ist, sprechen einige Aspekte – wie die Akademisierung der Ausbildung und die damit verbundene Berufsaufwertung, eine faktische berufsständische ›Schließung‹ sowie die Dominanz der Expertenbewertung – dafür, die Tätigkeit von Schauspieler/innen nicht nur als Erwerbsarbeit, sondern analytisch auch als Profession zu fassen, vgl. Pfadenhauer/Sander 2010, 361f. und 370-373. 48 | Vgl. Heintz 2008, 246. Vgl. weiterhin § 8 Abs. 1 AGG. 49 | Vgl. Heintz 2008, 231f. 50 | Vgl. Heintz 2008, 233-235.
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bzw. ›rassisch‹ diskriminierend wahrgenommene Einstellungs-, Besetzungsund daraus resultierende Darstellungspraktiken sowie einzelne organisationale Entwicklungen (Schauspiel Köln, Maxim Gorki Theater) ›angeschoben‹ wird.51 Zur Debatte steht dabei letztlich die Funktionalität dieses Merkmals, dessen Status als relevantes Kriterium, dessen Legitimität. So berichtete auch ein/e Vermittler/in der ZAV, dass man sich 2011 im Rahmen einer Podiumsdiskussion bereits intensiv mit dieser Thematik beschäftigt habe: »Das Interessante war, was dabei rauskam und was ich seitdem auch mehr oder minder immer wieder höre, dass wenige Theater den Punkt eingehen zu sagen, über die Setzung hinaus, also ich habe jetzt – Standardbeispiel – für den Hamlet einen schwarzen Schauspieler. Wenn ich das einmal mache, dann werden alle sagen, das ist aber natürlich eine unglaubliche konzeptionelle Entscheidung, […] ist ein Außenseiter wie auch immer, was das auch bedeutet, was man damit verbindet. Aber fast kein Theater geht den Punkt ein zu sagen, ich hole mir den, weil ich den gut finde und beim vierten Mal wird keiner, das Publikum nicht mehr darauf achten, welche Hautfarbe er hat. […] Also ich persönlich finde die Debatte etwas verrückt, weil jedem Theater steht es ja offen, das zu versuchen.«
Wie sich diese (De-)Institutionalisierung auf den unterschiedlichen ›Stufen‹ des organisationalen Feldes auswirkt, hängt jedoch – auch vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen – von den jeweiligen Bedingungskonstellationen und den dort geltenden, mehr oder weniger ›künstlerisch‹ geprägten Handlungslogiken ab und ist daher je eigens zu erforschen. Nachtrag: Im Rahmen von Folgegesprächen mit den ZAV-Vertreter/innen im April 2017 wurde bereits evident, dass sich der »Markt« in Bezug auf die Relevanz ethnischer Kategorisierungen im Laufe der letzten zwei bzw. zweieinhalb Jahre verändert hat und infolgedessen auch die Praktiken der Vermittler/innen. So gebe es aufgrund neuer Themen und Stücke von Seite der Theater eine steigende Nachfrage nach ›ethnischen‹ Schauspieler/innen – aber auch für Festengagements – und dementsprechend veränderte Anforderungen. Als Reaktion auf diese Entwicklungen wurde im Rahmen einer Überarbeitung des Absolventenkatalogs neben dem Geburtsort das Merkmal »Aufgewachsen in« hinzugefügt und anstatt Fremdsprachen werden nun allgemeiner die beherrschten Sprachen erfasst, differenziert nach: Muttersprache, Gut und Grundkenntnisse. Außerdem hätten sich die Aufnahmekriterien der ZAV – so ein/e Vermittler/in – insofern gewandelt, als die Beherrschung der deutschen Sprache zwar immer noch vorausgesetzt würde, jedoch nicht mehr zwangsläufig akzentfreies »Bühnendeutsch«. Zudem gibt es seit Ende 2016 eine »Sonderkartei«, über die 51 | Vgl. den Beitrag von Veronika Darian in diesem Band und zur Blackfacing-Debatte: Voss 2014, 85-130.
Schauspieler/innen zwischen Institution und Profession
immigrierte Personen in die Vermittlung aufgenommen würden, die in ihrem Heimatland eine Qualifikation bzw. Berufserfahrung als Schauspieler/in nachweisen können, jedoch die allgemeinen Kriterien der Abteilung Schauspiel/ Bühne nicht erfüllen.
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Der Joker im Ensemble Zur Re/produktion von Schauspieler/innen und Typen im deutschen Stadttheater Ellen Koban
Der vorliegende Beitrag stellt sowohl einen theaterpraktischen als auch -historischen Zusammenhang zwischen der »Subjektivation«1 von Schauspieler/innen und der Reproduktion von Typen im Feld des deutschen Stadttheaters her und sucht dessen Schnittstelle im Kontext des Ensemble-Prinzips aufzuspüren.2 Unter einer kultur- und subjekttheoretischen Perspektive wird dabei angenommen, dass sich die Produktion von Kunst und Künstler/innen – speziell Schauspieler/innen im deutschen Theatersystem – nur vor dem Hintergrund von dessen Genese und spezifischer »Logik«3 rekonstruieren lässt. Betrachtet man die Logik eines Feldes im Anschluss an Pierre Bourdieu »als seine gesamte, in Institutionen und Mechanismen objektivierte Geschichte«4, legt diese Annahme den Blick auf das historische Gewordensein eines spezifischen Systems frei, das sich als Ensemble- und Repertoiretheater organisiert. Die Ver1 | Butler 2001, 8f.: »›Subjektivation‹ bezeichnet den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung. Ins Leben gerufen wird das Subjekt, sei es mittels Anrufung oder Interpellation im Sinne Althussers oder mittels diskursiver Produktivität im Sinne Foucaults, durch eine ursprüngliche Unterwerfung unter die Macht. […] In jedem Fall nimmt die Macht, die zunächst von außen zu kommen und dem Subjekt aufgezwungen und es in die Unterwerfung zu treiben [scheint], eine psychische Form an, die die Selbstidentität des Subjekts ausmacht.« 2 | Die hier präsentierten (Zwischen-)Ergebnisse sind im Kontext des theaterwissenschaftlichen Teilprojektes »Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen« der DFG-Forschergruppe »Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung« (FOR 1939) entstanden. Allen Kolleg/innen möchte ich an dieser Stelle für ihre inspirative und konstruktive Kritik danken. 3 | Bourdieu 1999, 367. 4 | Bourdieu 1999, 367.
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schränkung von sowohl strukturellen als auch kulturellen (Vor-)Bedingungen begründet das öffentliche (Stadt-)Theaterwesen als einen »spezialisierten und sachlich differenzierten Praktikenkomplex«5 – wie Andreas Reckwitz soziale Felder definiert –, der das Stadttheatersystem in seiner Entstehungsphase zwischen 1871 und 19196 als ein paradoxes, relativ autonomes Feld konstituiert: Nach außen behauptet es seine kulturelle Position und gesellschaftliche Funktion in Relation zu sogenannten Geschäfts- und Unterhaltungstheatern; nach innen gründet es auf einem nach Christopher Balme »produktiven Spannungsverhältnis […] zwischen den Zwängen der öffentlichen Verwaltung und der Ausübung der Kunstfreiheit«7 – ein Spannungsverhältnis, das sich bis heute in der Organisationsstruktur der kommunalen Theater widerspiegelt.8 Als Betriebssystem der Re/produktionsmaschine Stadttheater rückt mein Beitrag das (Schauspiel-)Ensemble in das Zentrum der Betrachtung. Als Bindeglied zwischen Bühne und Publikum verkörpert es nach außen »das Herz des Theaters«9, wie es etwa in einem unlängst erschienenen Themenheft der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne zu lesen war, und verleiht dem jeweiligen Theater öffentlich sichtbar ein Gesicht – eine »Identität«10 sogar, folgt man dem Vorwort des Heidelberger Intendanten, welche die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit eines jeden Hauses, nämlich »das, was ein Theater ausmacht und es von allen anderen Theatern unterscheidet«11, repräsentieren soll. Dies entspricht wohl mehr einer künstlerisch-idealistischen als theaterpraktisch-realistischen Perspektive, wie die Besetzungspraktiken im deutschen 5 | Reckwitz 2011, 54. 6 | Beide Jahre markieren für die Konstitution des deutschen Stadttheaters historische Einschnitte: Mit Einführung der Gewerbefreiheit 1871 im gesamten Deutschen Reich boomt der Theaterbau sowie die Gründung von Theater-Aktienvereinen nicht nur in den großen, sondern auch in den mittleren und kleineren deutschen Städten; mit Inkrafttreten der Weimarer Verfassung sowie des zwischen dem Deutschen Bühnenverein und der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger verabschiedeten Normalvertrages (Tarifvertrag vom 12. Mai 1919) beginnt darüber hinaus die Konsolidierungsphase der städtischen respektive kommunalen Theater hin zu einem relativ autonomen, sozialen Feld; vgl. auch den bei Balme skizzierten Prozess der »Sozialisierung« des öffentlichen Theaterwesens, der schließlich »[u]nter den Nazis […] die vollständige Kommunalisierung der Stadttheater erreicht« (Balme 2010, 75). 7 | Balme 2010, 76. 8 | Die Organigramme städtischer respektive kommunaler Theater weisen in der Regel drei Bereiche der Binnenorganisation auf: Verwaltung, Technik und Kunst, vgl. auch Heinrichs 2006, 225. 9 | Deutscher Bühnenverein 2015, 88. 10 | Schultze 2015, 5. 11 | Schultze 2015, 5.
Der Joker im Ensemble
Theaterbetrieb des 21. Jahrhunderts und insbesondere die Praxis der Ensemblezusammenstellung weiterhin unschwer erkennen lassen. Denn stärker als im Musiktheater oder Tanz basiert die Kommunikation vieler Sprechtheaterinszenierungen nach wie vor – auch in postmodernen und postdramatischen Zeiten – auf der »Idee der Identifikation/Einfühlung«12, die im Schauspiel primär durch Sprache und Körper, das heißt durch sprachlich und körperlich repräsentierte Figuren, vermittelt wird. Innerhalb eines solchen »dramatischen Dispositivs«13, das Hans-Thies Lehmann als Verflechtung von Drama und Mimesis im Kontext von bürgerlich-realistischen Theaterformen beschreibt, fungiere der Schauspieler als »Medium kultureller Identität, Kultur verkörpert sich in ihm und er verkörpert sie, indem er sein ›Selbst‹ zur Geltung bringt«14. Welches ›Selbst‹, welche ›Identität(en)‹ im Hinblick auf Schauspieler/innen im deutschen Stadttheater gesucht und re/produziert werden, soll die Zielfrage der nachfolgenden Ausführungen sein. Dabei möchte ich die These von Lehmann um die empirische Frage nach der Re/produktion von Schauspieler/in nen und Typen im deutschen Ensemble- und Repertoiretheater erweitern und eine zugespitzte Annahme formulieren: Denn es scheint sich hierbei primär um ein bürgerliches Geschlechterdispositiv zu handeln, das als normatives Ideal nicht nur die Zusammenstellung von Ensembles und die Subjektivation von Schauspieler/innen reguliert, sondern zugleich geschlechtsindifferente (Anti-) Subjekte – wie etwa den Joker – prämiert. Dieser Annahme wird nachfolgend sowohl empirisch als auch vergleichend dazu historisch nachgegangen. Methodisch basiert die Untersuchung damit einerseits auf historischem Quellen-, andererseits auf empirischem Datenmaterial, das auf Basis von explorativ geführten Interviews mit Vertreter/innen der Intendanz, Dramaturgie, Regie und Schauspielervermittlung gesammelt und im Sinne des ethnografischen »Erkenntnisstil[s] […] des Entdeckens«15 ausgewertet worden ist.16 Folgende Fra12 | Lehmann 2009, 16. 13 | Lehmann 2009, 16. 14 | Lehmann 2009, 13. 15 | Hirschauer/Amann 1997, 8. 16 | Zur Methodik und Motivation von offenen, explorativ geführten Interviews in der qualitativen Sozialforschung vgl. Hopf 1978. Im Rahmen meiner Studie habe ich mit zehn ›Expert/innen‹ im Bereich der Ensemblezusammenstellung und Besetzung ausführliche Gespräche geführt; bei der Auswahl der befragten Personen – in ihrer Funktion als Repräsentant/innen einzelner Häuser – ist insbesondere darauf geachtet worden, Informationen und Erzählungen über die jeweiligen Strategien und Praktiken sowohl von großen Theatern (mit über 25 Ensemblemitgliedern) als auch von mittleren (mit 10-25 Mitgliedern) sowie kleinen Stadttheatern und Landesbühnen (mit drei bis neun festen Schauspieler/innen) zu erhalten. Alle nachfolgend zitierten Aussagen von Befragten werden aus Rücksicht auf die einzelnen Personen anonym behandelt, sofern sie
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gen haben hierbei die Studie angeleitet: Wie funktioniert das Ensemble als Betriebssystem der Re/produktionsmaschine Stadttheater? Welche Positionen und Funktionen nehmen Schauspieler/innen darin ein und mit welchen Kapitalformen wird im Feld gehandelt?
B e triebssystem E nsemble In Bezug auf die künstlerische Leistung deutscher Stadttheater wird gerne auf das »Ensemble-Prinzip«17 als Erfolgsgarant verwiesen, das im schnell wechselnden Repertoirebetrieb nicht nur einen bestimmten Kanon an Stücken, sondern auch eine bestimmte Gruppe an Abonnent/innen zu bedienen vermag. Begründet wird die Organisation des Personals in Form eines festen Ensembles dabei nur selten mit dem ökonomischen Druck. Im Gegenteil: In Bezug auf das sich etablierende Ensembletheater im 19. Jahrhundert heißt es schon 1926 in Hans Doerrys Schrift Das Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts geheimnisvoll, es liege »ein tieferer Sinn in diesem Wort«18. Knapp 100 Jahre später scheint die Leistung und Bedeutung des Ensembles auf ebendieser Idee zu basieren, nämlich auf einem »gegenseitige[n] Versprechen«19, auf »gemeinsame[n] Verabredungen«20, auf einer »Vereinbarung zwischen Spielern und Theaterleitung [zur Zusammenarbeit] über einen längeren Zeitraum hinweg«21, welche die künstlerisch Mitarbeitenden weniger mittels eines formalen als vielmehr sozialen Vertrages an das jeweilige Theaterunternehmen bindet. Schauspieler/innen sind dabei in besonderer Weise auf die Akkumulation von Sozialkapital angewiesen, das mit Bourdieu als »Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind«22, verstanden werden kann. So heißt es vonseiten einer Theaterpraktiker/in in Leitungsfunktion exemplarisch: nicht bereits in anderen Publikationen veröffentlicht worden sind. In den nachfolgenden Quellenangaben zu den einzelnen Aussagen wird aus ebendiesem Grund ausschließlich auf das Datum der unveröffentlichten Interviews verwiesen. 17 | Heinrichs 2006, 215. 18 | Doerry 1926, 104. 19 | Holger Schultze zitiert nach Brandenburg 2015, 27. 20 | Dieter Dorn im Gespräch mit der FAZ vom 31.10.2015, vgl. Hintermeier/Kaube, www. faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/ein-gespraech-mit-dieter-dorn-inten dant-ist-was-ganz-furchtbares-13885126.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2. 21 | Holger Schultze zitiert nach Brandenburg 2015, 27. 22 | Bourdieu 1983, 191.
Der Joker im Ensemble »Natürlich schaut man auch darauf, was die schon gemacht haben, wo die gespielt haben. […] Wenn ich sehe, dass jemand mit Regisseuren zusammengearbeitet hat, die ich gut finde, dann interessiert mich auch der Schauspieler oder die Schauspielerin sicher erstmal mehr, als wenn ich sehe, das ist jemand, der oder die mit Regisseuren oder Regisseurinnen zusammengearbeitet hat, die mir nicht so gefallen.« 23
Bourdieu nennt diese praktische Konsequenz einen »Multiplikatoreffekt auf das tatsächlich verfügbare Kapital«24, dessen Wirkung im Feld des Theaters folglich unter zwei Bedingungen in Gang gesetzt werden kann: wenn Schauspieler/innen einen Zugriff auf das bereits existierende (Beziehungs-)»Netz«25 erhalten und wenn sie selbst über entsprechende materielle oder symbolische, das heißt öffentlich anerkannte Ressourcen verfügen und mit diesen in den »Tauschbeziehungen«26 zwischen Scouts und Spieler/innen gewissermaßen als gewinnbringende Gegenleistung zu operieren vermögen. Die Analogie zum Feld des Sports ist nicht zufällig gewählt. Einerseits gibt es bekanntlich (und durch die Interviews bestätigt) ein Ranking unter den etablierten Theatern nach erster und zweiter Liga. Andererseits – und für dessen Funktionieren wesentlich – wird das Ensemble seitens der Verantwortlichen auffallend häufig als Mannschaft oder Team beschrieben. Als »Team, in dem es verschiedene Aufgaben zu bewältigen gibt«27, verweist die Metapher stärker auf das soziale Zusammenspiel in der alltäglichen Theaterpraxis. Demgegenüber werden im Begriff der Mannschaft organisatorische Probleme formuliert (»Wer tut was miteinander?«28) und zugleich Körperkategorien reproduziert. So läuft die Ensemblezusammenstellung im Stadttheater exemplarisch nach folgendem Schema ab, welches auch durch andere Interviews in ähnlicher Weise bestätigt wird: »Interviewte Person: Sie können sich das so vorstellen: Es ist im Grunde wie eine Mannschaftsaufstellung, also wie eine Fußballmannschaftsaufstellung. Sie gehen jetzt von der Zahl 10 aus, dann sind das quasi 2/3 zu 1/3, also 2/3 Männer, 1/3 Frauen. Interviewerin: Gesetzt? Interviewte Person: Ja, weil – warum auch immer – die Weltliteratur ungerechterweise mehr Männerrollen zur Verfügung stellt als Frauenrollen. Jetzt haben Sie zehn Frauen und Sie haben 20 Männer. Und jetzt gehen Sie von oben nach unten durch: Sie wissen, dass die Literatur in der Regel im Alter zwischen 22 und 30 mehr Frauenrollen verlangt 23 | Unveröffentlichtes Interview vom 22.09.2014. 24 | Bourdieu 1983, 192. 25 | Bourdieu/Wacquant 1996, 127. 26 | Bourdieu 1983, 191. 27 | Unveröffentlichtes Interview vom 22.09.2014. 28 | Unveröffentlichtes Interview vom 12.01.2015.
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Ellen Koban als im hohen Alter. Das heißt, Sie brauchen drei Frauen bis knapp 30. Ab 30 verengt sich die Auswahl der Rollen, also das Angebot der Rollen bei Frauen – das ist wie ein Trichter. So. Dann brauchen Sie zwischen 30 und 40 zwei bis drei, dann macht es nochmal (zusammenziehendes Geräusch), dann brauchen Sie zwischen 40 und 50 eigentlich zwei. Und ab 50 aufwärts brauchen Sie eine und dann bräuchten Sie eigentlich noch eine ab 60 – die haben wir nicht. Und dann sind Sie ganz schnell bei diesen zehn Leuten.« 29
Eine mit dem literarischen Rollenangebot begründete Positionierung von Schauspieler/innen erstens nach Geschlechtszugehörigkeit und zweitens nach Alter nimmt die hier zu Wort kommende Person anschließend auch bei den männlichen Darstellern vor, jedoch unter umgekehrtem Vorzeichen: »Da gibt es ein paar junge Helden und dann wird das aber eigentlich immer breiter«30, das heißt, das Fachangebot wird größer. Im Vergleich der Interviews fällt auf, dass die Theaterschaffenden in Bezug auf die Einstellung und Zusammenstellung von Schauspieler/innen auf dieselben Standardtypen und klassischen Rollenfächer rekurrieren – und zwar auf die Väter und Mütter, auf die mädchenhafte Luise, die damenhafte Lady Milford, auf Typ Ferdinand, auf den »bisschen scheppen«31 Wurm oder doch einfach den »potenten jungen Mann und am besten gleich drei davon, die dann den Don Carlos und den Marquis Posa spielen können und am besten ist auch noch einer da, der in der Parallelproduktion grad einen Romeo spielen kann«32. Auf zwei Aspekte möchte ich hier näher eingehen: Erstens scheint sich der Begriff des Typs im Rahmen der Selektion von Schauspieler/innen weniger auf ursprünglich literarische Typen zu beziehen. Vielmehr werden in der Alltagspraxis des Stadttheaters die Körper von Schauspieler/innen nach verschiedenen Typen kategorisiert und damit subjektiviert. Primär als solche nach Geschlechts-, Alters- und Attraktivitätsgraden differenzierte Körper nehmen sie während der Vorbereitungsphase der Mannschaftsaufstellung jeweils eine der zuvor aufgelisteten Positionen ein, im Sinne einer Funktion, die der jeweilige Akteur/die jeweilige Akteurin besetzt. »So ein gewisses Vertrauen in die Qualität«33 sei ja selbstverständlich, wie seitens der befragten Expert/innen meist eher beiläufig im Hinblick auf die Praxis der Ensemblezusammenstellung geäußert wird. In der Phase der (Mannschafts-)Aufstellung fungiert der Körper von Schauspieler/innen, so lässt sich schlussfolgern, als (Spiel-)Material oder im Bourdieu’schen Sinne als ökonomisches Kapital, welches sich primär aus als attraktiv und effektiv geltenden Körperkategorien und sekundär aus tech29 | Unveröffentlichtes Interview vom 12.01.2015. 30 | Unveröffentlichtes Interview vom 12.01.2015. 31 | Unveröffentlichtes Interview vom 18.02.2015. 32 | Unveröffentlichtes Interview vom 03.07.2014. 33 | Unveröffentlichtes Interview vom 20.05.2014.
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nischen bzw. handwerklichen Kompetenzen zusammensetzt. Davon, dass sich »[b]ereits im 19. Jahrhundert, endgültig im Regietheater des 20. Jahrhunderts […] das Ordnungsprinzip Rollenfach als historisch überholt«34 erweist, wie es im Theater-Lexikon von Henning Rischbieter heißt, kann vor dem Hintergrund dieses bis heute praktizierten Organisationsprinzips wohl nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Die Definition des Rollenfachs für den Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts trifft auch im 21. Jahrhundert noch zu. Es ist, wie Doerry 1926 schreibt, »eine auf der verschiedenen Zusammensetzung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten beruhende Einteilung der schauspielerischen Talente. Es hat eine künstlerische und eine wirtschaftliche Seite«35. In der Verknüpfung beider Seiten liegt die Bedeutung des Rollenfachsystems im zeitgenössischen deutschen Sprechtheater begründet. So habe ich im Laufe mehrerer Gespräche nicht nur einmal die folgende Anleitung für eine hinsichtlich des Repertoiresystems praktikable Ensemblezusammenstellung gehört: »Man sagt: ›Wenn du zweimal Kabale und Liebe durchbesetzen kannst, dann hast du erstmal ein Stammensemble, was die meisten Sachen spielen kann.‹«36 Und damit komme ich auf den zweiten Aspekt zu sprechen, wie er aus den Beschreibungen der Theaterschaffenden hervorgeht, und zwar auf den Rekurs auf die klassisch-dramatischen Typen, im Speziellen auf die Figurenkonstellation des bürgerlichen Trauerspiels. Erneut zeichnet sich eine frappierende Parallele zu den Rollenfächern des 19. Jahrhunderts ab. Denn während sich die Wandertruppen des 18. Jahrhunderts noch eindeutig nach dem französischen und stark ausdifferenzierten, etwa nach Ethnizität, Nationalität und Klasse differenzierten Fächerkanon strukturierten,37 orientieren sich die in Teilen nun sesshaft gewordenen Ensembles im 19. Jahrhundert an einem auf die Geschlechter- und Altersdifferenz reduzierten Schema: auf die »Liebhaber, Helden und Väter und ihre Entsprechungen im weiblichen Personal«38, die Doerry in diesem Zusammenhang als »die Urelemente des Dramatischen«39 bestimmt. Er begründet diese Reduktion von Typen übergeordnet mit dem zeitgleich ablaufenden Bedeutungsverlust des Fachsystems durch die »Entwicklung der Schauspielkunst im 19. Jahrhundert […] als ein Weg von Idealismus zum Realismus«40 sowie mit der »Entdeckung der Regie«41 als einer neuen Position, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – gegen den 34 | Rischbieter 1983, 1082. 35 | Doerry 1926, 2. 36 | Unveröffentlichtes Interview vom 22.09.2014. 37 | Vgl. Diebold 1913, 93. 38 | Doerry 1926, 36. 39 | Doerry 1926, 36. 40 | Doerry 1926, 23. 41 | Doerry 1926, 53-70.
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Willen von (mit ihrem Fach erfolgreichen) Schauspieler/innen – eine »Besetzung nach Individualität«42 einfordert. Der von Doerry nachgeordnete, strukturelle Erklärungsansatz, nämlich die Neustrukturierung der deutschen Theaterlandschaft seit den 1830er-Jahren, erscheint mir jedoch in Bezug auf die Typenreduktion respektive Klassiker(re)produktion bis in die Gegenwart tragfähig und damit weitreichender zu sein. So fordert etwa die Institutionalisierung von stehenden, durch bürgerliche Aktienvereine finanzierten Theatern aus Rentabilitätsgründen ein breiteres Repertoire und zugleich größeres sowie spezialisiertes Personal. Die erforderliche Produktivität des Alltagsgeschäfts führt erst im Weiteren zur Trennung von Oper und Schauspiel, zur »Auflösung dieser Personalunion«43, das heißt eines einzigen Ensembles in zwei relativ autonome, auch personell getrennte Kunstgattungen. Denn während Bühnenkünstler/innen zuvor »amphibisch«44 und ausschließlich nach dem jeweiligen Spezialfach eingesetzt worden sind, werden sie infolge dieser Umstrukturierung sowie im Zuge der ästhetischen Neuorientierung des Realismus nach allgemein verständlichen, für das nun vornehmlich bürgerliche Publikum wiedererkennbaren Kategorien besetzt: nach Geschlechts-, Altersund Attraktivitätskategorien, die in ihrem wechselseitigen Zusammenspiel bis heute eine normative Orientierungsmatrix konstituieren – mit wirkmächtigen Ein- und Ausschlusskriterien für nicht ins Schema oder ins Bild passende Schauspieler/innen. Im Kontext gegenwärtiger Normalitätserwartungen kann das innerhalb von Auswahl- bzw. Einstellungsverfahren etwa bedeuten, »dass man sich so ärgert, wenn man jemanden total gut findet und der schon wieder nur 1,75m ist. Und man drei echt große Frauen im Ensemble hat und immer denkt – was ja auch klischiert ist aber egal – dass man den jetzt nicht als Romeo neben einer Julia besetzen kann, die eben auch 1,75m ist oder sowas. Das ist lächerlich, aber es ist irgendwie was, woran man denkt. Und gerade wenn man wirklich so eine Tendenz dazu hat, wie es sie hier manchmal gab, immer lauter Jungs zu haben, die eher zierlich sind, freut man sich und ist glücklich, wenn man von diesen etwas stattlichen Männern auch noch den einen oder anderen kriegt.« 45
Demnach funktioniert das Mannschaftsensemble als Betriebssystem der Re/ produktionsmaschine Stadttheater möglichst optimal, wenn es einer sowohl nach außen als auch nach innen relationalen und kategorialen Aufstellung folgt, nach den Regeln des Kanons und der Konformität seitens von Produ-
42 | Doerry 1926, 65. 43 | Doerry 1926, 33. 44 | Doerry 1926, 32. 45 | Unveröffentlichtes Interview vom 03.07.2014.
Der Joker im Ensemble
zent/innen und Rezipient/innen. Doch wo bleibt da noch Platz für den Joker? Welche Position nimmt er innerhalb dieser Matrix ein?
D er J oker im S piel Auch der Begriff des Jokers ist nicht zufällig gewählt. Er entstammt meiner Feldforschung und meint – um in der Metapher der Fußballmannschaft zu bleiben – einen Offensivspieler, der in entscheidenden Momenten eingewechselt wird, der von außen in das Spiel geholt wird, um eine erfolgsversprechende Wende zu bringen. Sogenannte Joker existieren vornehmlich im Profifußball, sie sind technisch versiert, flexibel, das heißt auf allen Positionen einsetzbar – und sie sind teuer. Auch für das Feld des Stadttheaters lässt sich beobachten, dass der Einsatz von Jokern auf die A-Liga, also die größeren, finanziell und traditionell besser ausgestatteten Theaterhäuser beschränkt bleibt, die sich sowohl den Zukauf von Stars aus der deutschen Theater- und Fernsehszene als auch die Integration von Jokern leisten können. Durch seine Sonderposition im Ensemble – als Gast oder festes Mitglied – kann der Joker schnell lokal wie überregional zu einem Star der Theaterszene werden; umgekehrt ist nicht jeder Fernstehstar zugleich befähigt als Joker zu fungieren. Denn letztere zeichnen sich, so meine abschließende These, durch ihre physische, quasi körperkategoriale Flexibilität aus, das heißt durch die Möglichkeit, die nach Geschlechts-, Alters- und Attraktivitätsgraden vorstrukturierte Matrix in einer diese bzw. die in ihr inkorporierten Normalitätserwartungen unterlaufenden Weise zu überwinden. In diesem Sinne besitzen sie ein Übermaß an Körperkapital, doch scheint das Sozialkapital in ihrem Fall nicht weniger wertvoll zu sein, da sie nicht nur entdeckt, sondern auch durch Besetzungen attraktiver und lukrativer Rollen in ihrem Sonderstatus beglaubigt werden müssen. Ein abschließendes Fallbeispiel soll diese These veranschaulichen und die kontingente, künstlerische Position des Jokers im Ensemble-Spiel verdeutlichen. So lässt sich etwa die Schauspielerin Jana Schulz als eine solche Joker-Figur und zugleich Offensivspielerin deuten, wie sich einerseits an überregionalem Pressematerial ablesen, andererseits den lokalen Stimmen im Kontext des Schauspielhaus Bochum, wo Schulz nach Beendigung ihres Festengagements am Hamburger Schauspielhaus seit 2011 regelmäßig gastiert, entnehmen lässt: Im Rahmen einer Publikumsbefragung betonen Zuschauer/innen beispielsweise die Wandelbarkeit und Vielseitigkeit der Schauspielerin,46 während 46 | Im Rahmen meines Promotionsprojektes ist neben der oben skizzierten Interviewstudie mit Theatermacher/innen auch eine Befragung mit Zuschauer/innen speziell im Kontext des von Jana Schulz getragenen Soloabends [fi’lo:tas] (R: Roger Vontobel) am Schauspielhaus Bochum durchgeführt worden, vgl. auch Koban 2016.
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man in der Dramaturgie des Hauses von der »unglaubliche[n] Energie, mit der sie sich in etwas rein gibt, also fast schon hingibt in so eine Rolle, wie wenige das tun«47, spricht; zudem habe Jana Schulz »einfach einen sehr besonderen Ausdruck, der zwischen Frau und Mann, zwischen Jung und Alt nicht so bestimmt«48 sei. Dagegen fällt mit Blick auf die Rezeption einzelner, von Schulz dargestellter Figuren durch die Fachkritik einerseits der Rekurs auf die Rollentradition – sowohl der Rollen selbst als auch der Schauspielerin –, andererseits die Widersprüchlichkeit auf, mit welcher deren schauspielerische Leistung besonders im klassisch-weiblichen Rollenfach, etwa in der Darstellung der Hedda Gabler49 oder der Käthe Vockerat aus Gerhart Hauptmanns Drama Einsame Menschen50, beurteilt wird. So schreibt die Spiegel Online-Rezensentin Anke Dürr mit Blick auf »Jana Schulz als Käthe«51 nach der Premiere von Roger Vontobels Inszenierung der Einsame[n] Menschen am Schauspielhaus Bochum im November 2014: Sie sei, »das muss man leider so sagen, eine Fehlbesetzung. Dass ihre Körpersprache, angefangen bei der Sitzhaltung, so gar nicht zu dem Etuikleid passt, in das man sie gesteckt hat, ist nur eine Ungenauigkeit. Aber sie vermittelt auch kaum etwas von dem Leiden der depressiven, überängstlichen Mutter, eher vom Fremdeln mit der Rolle«52. Anders nimmt Martin Krumbholz dies wahr, der in der Süddeutschen Zeitung Roger Vontobels Besetzung der Käthe mit Jana Schulz als »Coup«53 bezeichnet: »[M]ehr als in ihren vielen Paraderollen beweist Jana Schulz ausgerechnet hier, in der scheinbar so penetranten Engführung eines Heimchens am Herd, was für eine große Schauspielerin sie ist.«54 Rekonstruiert man ihre Karriere anhand der Kritiken, können als derartige »Paraderollen«, mit denen Jana Schulz immer wieder und noch Jahre später assoziiert wird, etwa ihre echten Hosenrollen wie die Tellheim- oder MacbethDarstellung unter der Regie von Karin Henkel,55 ihre verkleidete Hosenrolle als Viola in Roger Vontobels Was ihr wollt-Inszenierung56 oder ihre falschen Hosen47 | Unveröffentlichtes Interview vom 17.10.2014. 48 | Unveröffentlichtes Interview vom 17.10.2014. 49 | Schauspielhaus Bochum, Premiere am 14.03.2014. 50 | Schauspielhaus Bochum, Premiere am 09.11.2014. 51 | Dürr, www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/hauptmann-inszenierung-einsame-me ns chen-am-schauspielhaus-bochum-a-1001879.html. 52 | Dürr, www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/hauptmann-inszenierung-einsame-me ns chen-am-schauspielhaus-bochum-a-1001879.html. 53 | Krumbholz 2014. 54 | Krumbholz 2014 55 | Minna von Barnhelm, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 27.10.2007; Macbeth, Münchner Kammerspiele, Premiere am 18.06.2011. 56 | Schauspielhaus Bochum, Premiere am 05.11.2011.
Der Joker im Ensemble
rollen wie die Penthesilea57 oder Kriemhild58 – ebenfalls unter Vontobels Regie – verstanden werden.59 In all diesen Produktionen wird bewusst auf Jana Schulz gesetzt: auf ihre mal ganzkörperlich offensive, mal situativ oder stimmlich defensive, stets hingebungsvolle Art der Figurenwerdung sowie auf ihre Sonderposition im Ensemble als ›Eigenmarke Schulz‹. Im Gespräch mit dem Intendanten des Schauspielhauses Bochum frage ich vor dem Hintergrund des dort praktizierten Ensemble-Prinzips schließlich nach: »Interviewerin: Und Jana Schulz? Welches Rollenfach? Interviewte Person: Jana ist der … Jana ist der Joker. Sie wird jetzt das erste Mal mit [der Regisseurin; Anm. d. Verf.] Lisa Nielebock zusammenarbeiten, die – sage ich jetzt mal – den Mut gehabt hat, sie einfach zu fragen. Was eine ganz tolle Idee ist, weil wir Hiob machen. In dem Roth-Roman, da gibt es doch dieses behinderte Kind, den Menuchim, und den spielt sie. Und das ist natürlich eine total tolle Besetzung. Plötzlich kriegt das ganze Stück eine unglaubliche … Das merkst du richtig. Bei dem Gedanken, dass Jana Schulz das spielt, macht es richtig Tack! Aber das sind auch die Geheimnisse, glaube ich, dieses Berufs.« 60
Die Geheimnisse zum Erfolg von Kunst und Künstler/innen innerhalb der Re/ produktionsmaschine Stadttheater scheinen in einem ganzen Netz aus Beziehungen und Relationen zwischen den das Theaterereignis begleitenden Erwartungen, den dadurch vorstrukturierten Ensemblepositionen und jenen oben skizzierten, vormarkierten Körperkategorien begründet zu liegen. In diesem funktionierenden System kann nur der Joker in Analogie zu seiner Etymologie als eine »beliebig einsetzbare […] [K]arte«61 gespielt werden. Wie im Kartenspiel stellt er das Surplus dar, die nachträglich eingeführte und den Normwert überschreitende 53. Karte, welche die aktuellen Situationen und Konstellationen neu zu codieren und zu transformieren vermag. Er ist die Wild Card im Poker, die Carte blanche im ursprünglichen Sinne, die als genuin weiße Karte alle anderen Farben und Werte zu absorbieren vermag. Im Kontext einer nicht nur nach Geschlechts-, Alters- und Attraktivitätsgraden selektierenden, sondern zugleich europäische, vornehmlich hellhäutige Typen privilegierenden Matrix des deutschen Repertoire- und Ensembletheaters darf der Joker scheinbar alles. Er kann alles – aber er darf nicht 57 | Ruhrfestspiele Recklinghausen/Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Premiere am 10.06.2010. 58 | Die Nibelungen, Schauspielhaus Bochum, Premiere am 03.10.2013. 59 | Zur Differenzierung der Hosenrolle nach den drei literarischen Typen echt, verkleidet, falsch vgl. de Ponte 2013, 15f. 60 | Unveröffentlichtes Interview vom 12.01.2015. 61 | Kluge 1999, 411.
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schwarz oder behindert sein. Denn seine pure Präsenz lässt ihn nie unsichtbar erscheinen: Den Joker zu (be-)setzen, funktioniert eben nur in jenem durch Körper- sowie Leistungskategorien vordefinierten und geregelten (Ensemble-) Spiel.
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Der Joker im Ensemble
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Junge Kunst oder wahre Kunst? Institutionelle Reproduktion durch die Subjektivierung ›Nachwuchskünstler/in‹ in Festivalformaten Benjamin Hoesch Zu Ostern gehören die Bühnen des Maxim Gorki Theaters Berlin dem Nachwuchs: Ein Zusammenkommen für alle, die junges Theater sehen wollen, eine Möglichkeit für teilnehmende Künstler, sich ohne Druck zu präsentieren […].1 Das Publikum ist eingeladen, eine Reise in die Zukunft des Theaters zu unternehmen, neue Handschriften zu entdecken, vertraute und überraschende Spielformen zu erleben und sich von jungen Theatermachern begeistern zu lassen. 2 Eine fachkundige Jury kürt KünstlerInnen, die die Chance bekommen, ihre Produktionen im Rahmen des Best of 100° noch einmal zu zeigen. Seid dabei – beim 100° Berlin, dem Marathon, dem Runway, dem Fest der Berliner Freien Szene. 3 Feiern Sie mit uns die Zukunft des Theaters!4
Folgt man aktuellen Krisendiskursen in Theaterpraxis, Wissenschaft und Öffentlichkeit, erscheint die Zukunft des Theaters alles andere als gesichert. Vielmehr bedrohten Unterfinanzierung, Bauverfall und öffentlicher Legitimie1 | www.gorki.de/spielplan/festivals/osterfestival-der-kunsthochschulen-2013/. 2 | www.staatstheater.karlsruhe.de/programm/schauspiel/premieres/. 3 | www.ballhausost.de/produktionen/100grad-2015-ausschreibung-de/. 4 | www.festivalpremieres.eu/festival/pg/vorwort-intendanten.
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rungs- und Effizienzdruck die ästhetische Produktivität des Theaterbetriebs schon in der Gegenwart.5 Ein dazu gänzlich entgegengesetztes Bild vermittelt genau eine Produktions- und Präsentationform des Gegenwartstheaters: Es sind jährlich stattfindende Festivals, auf denen über einen Zeitraum von mehreren Tagen in räumlicher und zeitlicher Verdichtung die Arbeiten ausschließlich junger Theaterschaffender gezeigt werden. Seit der Jahrtausendwende ist allein im deutschsprachigen Raum eine zweistellige Anzahl entsprechender Festivals institutionalisiert worden, an denen oft gerade renommierte Häuser beteiligt sind. Das Spektrum der dabei entwickelten Formate reicht von Studierendentreffen der künstlerischen Ausbildungsgänge wie das Körber Studio Junge Regie am Hamburger Thalia Theater oder das Osterfestival der Kunsthochschulen am Maxim Gorki Theater Berlin über Produktionsfestivals wie PLATEAUX am Frankfurter Mousonturm oder Treibstoff in der Basler Kaserne, im Theater Roxy und im jungen theater basel, über die international ausgerichteten Regiefestivals OUTNOW! in der Schwankhalle und dem Theater Bremen, Fast Forward am Staatstheater Braunschweig sowie Premières zwischen dem Théâtre National de Strasbourg und dem Badischen Staatstheater Karlsruhe bis hin zum Off-Theaterfestival 100 Grad im Hebbel am Ufer, im Ballhaus Ost und in den Sophiensaelen Berlin. Es läge nun nahe, in diesen ›Nachwuchsfestivals‹, wie sie im Feld und teils in Eigenbezeichnung genannt werden, nur eine Nische im wachsenden Markt der Kulturevents zu sehen und sie als eine Unterkategorie der bereits umfangreich vorliegenden Diskussion des Theaterfestivals zuzuschlagen. Damit blieben jedoch weitreichende Folgen, die ihr Charakteristikum der Festlegung auf junge Theaterschaffende für das Kunstfeld mit sich brachte, unbeleuchtet. Ich möchte demgegenüber zeigen, wie Nachwuchsfestivals im Zusammenwirken mit Ausbildungsinstitutionen, den Arbeitsangeboten des Theaterbetriebs sowie nicht zuletzt mit den jungen Theaterschaffenden selbst eine spezifische Subjektivierung von Künstler/innen eingeführt haben, die historisch neuartig ist und sich trotzdem einer kritischen Analyse bislang weitgehend entzogen hat. Dies dürfte verschiedene Gründe haben: Die vorliegende Literatur zum Theaterfestival hat sich auf dessen Veranstalter/innen und Publikum konzentriert und besonders transformatorische Wirkungen des Festivalrahmens auf das soziale und ästhetische Ereignis der Theateraufführung stark gemacht, das vermehrt der kultur- und aufmerksamkeitsökonomischen Logik des Events unterliege.6 Darüber vernachlässigt wurden die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Seite der künstlerischen Produktion, die zu häufig als 5 | Vgl. etwa Schmidt 2017, 3-46; Schneider 2013. 6 | Vgl. Fischer-Lichte/Warstat/Littmann 2012; Drewes 2010, 119-194; Elfert 2009; Hauptfleisch et al. 2007.
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stabil gegeben und unabhängig von Präsentationsformaten mit ihren spezifischen und selbstreferentiellen Teil-Öffentlichkeiten vorausgesetzt wird. Diese Formate betreffen dagegen auch die künstlerischen Subjekte, die besonders von spezialisierten Festivals als ein bestimmter Typ Künstler/in definiert werden. Das Feld der Nachwuchsfestivals greift auf eine weitreichende Naturalisierung dieses Typs zurück, die sich in der biologistischen Rhetorik vom Nachwuchs, der sich zu entwickeln habe, niederschlägt. Junge Künstler/innen, die ihr Schaffen zunächst als Übung, Versuch oder Ausbildung verstanden und verstanden wissen wollten, hat es schließlich immer gegeben. Nachwuchsfestivals würden demnach nur ohnehin stattfindende Prozesse der institutionellen Rekrutierung und individuellen Reifung am Theater öffentlich transparent machen. Doch gerade in dieser scheinbaren Transparenz formieren sie – mit Pierre Bourdieus Regeln der Kunst gesprochen – ein Glaubensfeld, in dem Institutionen eine Konsekrationsmacht über das künstlerische Subjekt reklamieren und ausüben und dabei sowohl dessen als auch ihr eigenes symbolisches Kapital vermehren.7 Verschleiert werden dabei die gesellschaftlichen Bedingungen und implizit herrschenden Spielregeln sowie die Folgen dieser stets vorläufigen gesellschaftlichen Bestätigung als »Konsekration auf Kredit«8. Diesen konstitutiven Verschleierungen in der öffentlichen Präsentation des künstlerischen ›Nachwuchses‹ möchte ich mit einer Analyse seiner Subjektivierung durch Theaterfestivals begegnen. Dafür versuche ich zunächst, mit Bezug auf den Diskurs der Festivals und die darin getroffenen Humandifferenzierungen, verbindende Grundregeln der Produktion von Nachwuchskünstler/innen zu ermitteln. Anschließend will ich an ausgewählten Beispielen zeigen, wie die Subjektivierung durch verschiedene institutionelle Praktiken umgesetzt und ausgestaltet wird.
›N achwuchskünstler /in ‹ als privilegiert - prek äres P ar adox Mein Verständnis von Nachwuchskünstler/in als Subjektivierung setzt tiefer an als etwa die Konzepte Position, Identität oder soziale Rolle.9 Basal bezeichnet Subjektivierung die Formierung einer sprachlichen Funktion, durch die 7 | Vgl. Bourdieu 1999, 340-445; Bourdieu 1993, 97-121. Zum Begriff des symbolischen Kapitals vgl. Bourdieu 1993, 205-221. 8 | Hänzi 2013, 261. 9 | Diese werden zwar längst ebenfalls relational und prozessual gefasst, setzen aber das Bestehen von sozial-kommunikativen Beziehungen, in denen sie sich formieren, voraus. Vgl. Schulz-Schäffer 2016; Straub 2016.
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in einen Diskurs eintritt, was bisher von diesem ausgeblendet war: Vormals nichtbeachtete Künstler/innen bekommen eine öffentliche Sicht- und Hörbarkeit. Subjektivierung zeigt das Prozessuale und Konstruierte dieser Formierung an, führt aber bereits auf die naturalisierte Funktion des Subjekts hin, das als dem Diskurs vorgelagert erscheint: Vorgeblich werden Nachwuchskünstler/innen quasi ›natürlich‹ vorgefunden und bieten sich von sich aus mit ihren ästhetischen Potentialen einer Beachtung an. Subjektivität ist schließlich Grundlage und Bedingung für Sprach- und Handlungsfähigkeit, die ich als ambivalent begreife.10 Denn um sich äußern und ästhetisch tätig sein zu können, müssen Nachwuchskünstler/innen ihre Subjektivierung selbst affirmativ vollziehen. Egal wie eigensinnig oder auch kritisch sie sich zum Theaterbetrieb verhalten wollen, ist dies nur auf der Grundlage einer Akzeptanz ihrer Subjektivität als Nachwuchskünstler/in möglich. Diese definiert damit sowohl ihre Rede wie die Rede über sie, ihre persönliche Geschichte wie berufliche Zukunftsperspektive, ihre Arbeitsbedingungen wie die Wahrnehmung der Ergebnisse ihrer Arbeit. Obwohl also Grundlage weitreichender Zu- und Festschreibungen, bleiben die Humandifferenzierungen, die mit dieser Subjektivierung einhergehen, äußerst unbestimmt: Das Attribut ›jung‹ bezieht sich zunächst auf das biologische Alter, ohne – als relativer Begriff – darin für sich genommen aussagekräftig zu sein. Erst durch ›stumm‹ mitlaufende Unterscheidungen nach (Leistungs-)Klasse und einer Position im sozialen Reproduktionsprozess erhält die Differenzierung ihren Sinn. ›Nachwuchs‹ ist demnach, wer seine Initiation zu einer elitär-künstlerischen Leistungsklasse noch nicht abschließend vollzogen hat, aber ausreichend kulturelles Kapital mitbringt, um für die Akzeptanz durch Mitglieder dieser Klasse in Frage zu kommen. In der Regel geben Ausbildungsstand sowie berufliche Karriere-Etappen für diesen ›Bewerber/innen‹-Status einen klaren Bezugsrahmen. Für künstlerische Berufsprofile haben sich jedoch bis heute keine normierten Ausbildungswege oder Arbeitsverhältnisse dauerhaft als verbindlich und kalkulierbar durchgesetzt. Dadurch werden Entgrenzungen der Unterscheidung, die Nachwuchsfestivals treffen, unvermeidlich: 18-Jährige und 40-Jährige, Hochqualifizierte wie Niedrig- oder Fremdqualifizierte können gleichermaßen der Subjektivierung ›Nachwuchskünstler/in‹ unterliegen. Die genannten Festivalformate haben sehr verschiedene, aber teils recht klare Vorstellungen von den Ausbildungsphasen und entsprechenden Altersklassen, die sie anvisieren. Die diversen Verständnisse von Nachwuchskünstler/innen treffen sich jedoch in zwei zentralen Formulierungen, die sich so oder synonym in der öffentlichen Kommunikation aller genannten Festivals
10 | Vgl. Foucault 2005; Reckwitz 2008, 5-22.
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wiederfinden. Sie legen die diskursive Grundlage der Subjektivierung, auf der dann im Einzelnen je unterschiedliche Ausgestaltungen beruhen. Auf der einen Seite ist immer wieder die Rede von einem »bemerkenswerten Spektrum junger künstlerischer Handschriften«11, »neuen Wegen im Bereich der performativen Kunst«12, der »Vielfalt von Begabungen und Visionen der zukünftigen Regiegeneration«13 oder »Entwürfe[n] einer jungen Generation für das Theater von morgen«14, die auf Nachwuchsfestivals zu sehen seien. Hierin wird davon ausgegangen, dass junge Theaterschaffende per se ein anderes Theater machen, als die beteiligten Häuser regulär zeigen. Diese angenommene Differenz wird als Innovation, Experiment, gar als »die Zukunft des Theaters«15 gefeiert. Damit erscheint die künftige ästhetische und institutionelle Dominanz der Nachwuchskünstler/innen gesichert, unabhängig vom Zutun des Theaterbetriebs. Gleichwohl lässt das ›Nachwachsen‹ in gegenwärtige Strukturen der Institution auch deren Bestätigung und Neubelebung erwarten. ›Nachwuchs‹ markiert in dieser Rede ästhetische Eigenqualität und ein gleichsam natürliches Privileg, das jedoch auf die Zukunft verschoben wird. In der Gegenwart bieten Nachwuchsfestivals auf der anderen Seite Künstler/innen »die einmalige Möglichkeit, [ih]re künstlerische Arbeit auf einer unserer Bühnen zu präsentieren und [si]ch einem interessierten und fachkundigen Publikum zu zeigen«16. Diese Formulierung impliziert einen Bedarf, eine Situation des Mangels – bezeichnenderweise nicht an Produktivität, sondern einzig an Aufführungsgelegenheiten und öffentlicher Wahrnehmung. Nachwuchsfestivals bieten sich – scheinbar ohne eigene Notwendigkeit – an, diesen Mangel für die Teilnehmer/innen zumindest vorübergehend zu beheben. Im Unterschied zu Künstler/innen in (anderen) professionellen Kontexten leisten diese damit keine Arbeit, sondern kommen in den Genuss einer Chance. ›Nachwuchs‹ markiert hier ein Prekariat sowie die Aussicht auf symbolischen Aufstieg daraus, zugleich jedoch ein Defizit gegenüber etablierter, professioneller Kunst. Die institutionellen Sprechweisen changieren unentwegt zwischen den Logiken der unabhängigen zukünftigen Dominanz von ›Nachwuchskünstler/in nen‹ und ihres förderungsbedürftigen Perspektivmangels. Das diskursive Feld der Nachwuchsfestivals stellt sich in dieser privilegiert-prekären Subjektivierung 11 | www.outnow-bremen.de/. 12 | www.deutsche-bank-stiftung.de/kultur_archiv_plateaux.html. 13 | www.koerber-stiftung.de/kultur/koerber-studio-junge-regie/festival/2015.html. 14 | http://staatstheater-braunschweig.de/festivals/fast-for ward-europaeischesfestival-fuer-junge-regie/. 15 | www.festivalpremieres.eu/festival/pg/vorwort-intendanten. 16 | www.ballhausost.de/produktionen/100grad-2015-ausschreibung-de/.
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als paradox verfasst dar und kann folglich zur Legitimierung verschiedenster institutioneller Praktiken dienen. Doch selbst wenn Festivalformate einzelne der genannten Aspekte herausstellen, ist stets auch die andere Seite des Paradoxes mitzudenken und bereits mitgedacht, wie die folgenden Beispiele zeigen.
K örber S tudio J unge R egie – »Treffpunk t für die The atermacher der Z ukunf t« Das Körber Studio Junge Regie wurde 2003 als gemeinsame Initiative der namengebenden Körber-Stiftung, des Thalia Theaters, der Universität Hamburg und des Deutschen Bühnenvereins gegründet, um »begabte Nachwuchskünstler [zu] fördern und ihnen ein Forum [zu] bieten, auf dem sie ihre Leistungen präsentieren können«, sowie »Konzepte und Visionen einer zukünftigen Regie-Generation sichtbar zu machen«.17 Diese Initiative reagierte auf Veränderungen der Ausbildung für die Theaterregie, deren Schwerpunkt sich im Laufe der 1990er-Jahre aus dem Theaterbetrieb hinaus in die Akademien und Hochschulen verschoben hat.18 Bis dahin setzte die berufsspezifische Regie-Ausbildung zumeist erst nach einem abgeschlossenen Hochschulstudium an, und zwar als mehrjährige Regieassistenz an einem Haus. Die Aspiranten oder – deutlich seltener – Aspirantinnen auf den Regieberuf blieben dabei öffentlich unsichtbar, waren aber im Theaterbetrieb persönlich bekannt, in dem sie sich intern bewähren mussten, bevor sie dort die Möglichkeit zu ersten eigenen Regiearbeiten bekamen. Die Abnahme von Assistenzstellen im Theaterbetrieb sowie Gründung und Ausbau weiterer Studiengänge für Regie veränderten dies: Die Regieausbildung an Hochschulen sieht mehrere Inszenierungsarbeiten bereits während des Studiums – und damit in meist jüngerem Alter – vor. Die Folgen stellen sich für den Theaterbetrieb und die Auszubildenden ambivalent dar: Zwar verschoben sich Kosten und Risiken der Ausbildungsproduktionen auf die Hochschulen, doch verlor der Betrieb damit auch die persönliche Bekanntschaft mit den Regisseuren und – jetzt auch vermehrt – Regisseurinnen sowie die Kontrolle über ihre Arbeitsweisen. Die Studierenden konnten deutlich früher eigenverantwortliche Regiepositionen einnehmen, blieben dabei aber unbezahlt und in ihrer Produktivität von Öffentlichkeit und Theaterbetrieb weitgehend unbeachtet.
17 | Vgl. www.koerber-stiftung.de/kultur/koerber-studio-junge-regie/festival/2003. html. 18 | Vgl. Hänzi 2013, 157-162.
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Angesichts des beidseitigen Kontaktbedarfs ist es nicht erstaunlich, dass sich das Körber Studio als »Festival für den Regienachwuchs«19 auf Anhieb etablierte. Dabei halten sich die Veranstalter/innen aus Besetzung und Inhalt weitgehend heraus. Stattdessen kooperiert das Körber Studio im Gründungsjahr mit sieben, mittlerweile mit zwölf Regieschulen, die jeweils eine bei ihnen entstandene Produktion zur Teilnahme an diesem »Treffpunkt für die Theatermacher der Zukunft«20 auswählen. Doch gerade die Abtretung von Verantwortung für die Selektion infrage kommender Künstler/innen an die Ausbildungsinstitute ist eine folgenreiche subjektivierende Setzung: Nachwuchskünstler/innen müssen damit zunächst den spezifischen Erwartungen der Auswahlverfahren von Regieschulen entsprechen, Quereinstieg oder Spätqualifikation werden ausgeschlossen. Die Nominierung zum Körber Studio macht Nachwuchskünstler/innen zu Repräsentant/innen ihrer Ausbildungsgänge – mitsamt ihren spezifischen Arbeitsweisen und ästhetischen Prinzipien, deren Konflikte und Grabenkämpfe die Podiumsdiskussionen und Werkstattgespräche wesentlich strukturieren.21 Die Studierenden präsentieren sich selbst im vollen Einklang mit ihrer Ausbildung und ihre Arbeit als möglichst ebenbürtig mit den erfolgreichen Vorbildern ihrer Schule. Hinter dieser Gelegenheit einer öffentlichen Selbstpräsentation als quasiprofessionelle Regisseur/innen stehen beim Körber Studio jedoch Mechanismen, die die Differenz zwischen ›Professionellen‹ und ›Nachwuchskünstler/in- nen‹ absichern. Hierzu gehören Arbeitsbedingungen und Wettbewerbsform des Körber Studio: Das Festival zahlt keinerlei Honorare oder Aufwandsentschädigungen für die gezeigten künstlerischen Arbeiten. Dafür zeichnet eine Fachjury die beste Inszenierung aus, die mit einem Produktionskostenzuschuss in Höhe von 10.000 Euro für eine kommende Regiearbeit an einem Stadt- oder Staatstheater oder in der Freien Szene belohnt wird. In Anerkennung der geleisteten künstlerischen Arbeit wird also die Suche nach einer künftigen professionellen Arbeitsgelegenheit dadurch erleichtert, dass für den Theaterbetrieb der Eigenanteil an Kosten und Risiken gemindert wird. Die Nicht-Ausgezeichneten müssen sich dagegen mit der Hoffnung begnügen, mit ihrer Produktion Intendant/innen oder Chefdramaturg/innen zu beeindrucken, die Anschlussengagements anbieten könnten. Angesichts der Rolle des Körber Studio für den Theaterbetrieb, der nur hier Einblicke in das ästhetische und personale Potential verschiedener Ausbildungsgänge erhält, ist dies zwar ein realistisches Szenario, aber dennoch eine völlig intransparente und unkalkulierbare Währung. Die Aussicht auf bezahlte Arbeit wird in allen Fällen in eine unbestimmte Zukunft aufgeschoben. 19 | www.koerber-stiftung.de/kultur/koerber-studio-junge-regie/festival/2003.html. 20 | www.koerber-stiftung.de/kultur/koerber-studio-junge-regie/festival/2015.html. 21 | Vgl. Hänzi 2013, 191-215; Gronemeyer/Stegemann 2009, 58-105.
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Studierende, die unbezahlt im Wesentlichen ihre Zugehörigkeit zu einer institutionellen und ästhetischen Schule aufführen, stehen Entscheidungsträger/innen des Theaterbetriebs gegenüber, die im Publikum sitzen (oder eben nicht) und daraus Perspektiven über eine irgendwann mögliche professionelle Zusammenarbeit ableiten: Das Körber Studio Junge Regie reproduziert und festigt das bestehende Verhältnis zwischen Ausbildungsinstitutionen und Theaterbetrieb. Seine wesentliche Leistung dürfte folglich darin bestehen, durch die Subjektivierung von Nachwuchskünstler/innen in Abhängigkeit der Institutionen Zweifel an der Funktionalität institutioneller Rekrutierungs- und Reproduktionsverfahren zu zerstreuen.
R adik al J ung – »P erspek tiven einer The aterl andschaf t von morgen « Gegenüber diesem Interessenschwerpunkt auf den Ausbildungsinstitutionen nehmen andere Nachwuchsfestivals die individuelle Subjektivierung der Künstler/innen in den Fokus, so etwa Radikal Jung – Das Festival junger Regisseure, das seit 2005 vom Münchner Volkstheater ausgerichtet wird. Hier steht am Anfang das Bestreben, junge Regisseur/innen nach ihren ersten Inszenierungen im Theaterbetrieb kennenzulernen und bekannt zu machen. Dafür wurde zunächst ein Symposium, kurz darauf ein Gastspielfestival probiert, das als derart erfolgreich gewertet wurde, dass es seither jährlich wiederholt wird. Eine dreiköpfige Jury wählt jeweils sechs bis zwölf bereits fertiggestellte Produktionen aus, nach der Maßgabe: »Das Festival gewährt einen Überblick über die nachwachsenden Generationen der Theaterschaffenden, stellt ihre thematischen und ästhetischen Vorlieben, Handschriften und künstlerischen Zugänge zur Diskussion und will die Perspektiven einer Theaterlandschaft von morgen aufzeigen.«22
Dieses Interesse führte bald über die Neulinge im öffentlichen Sprechtheaterbetrieb hinaus, die Sichtungen und Einladungen der Jury überschritten nach und nach die Grenzen zur Freien Szene, zu anderen Genres und hybriden Formen sowie zum nicht-deutschsprachigen Ausland. Künstler/innen des Radikal Jung wurden dabei immer heterogener in Herkunft, Ausbildung, Alter – und Stellung in der Öffentlichkeit. Radikal Jung stellt abwechselnd heraus, dass einige von ihnen erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt würden, oder dass einige von ihnen bereits umfangreich in den Medien besprochen seien.
22 | Engels/Sucher 2008, 7.
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Die Veranstalter/innen verstehen die Einladung zu dem Festival in jedem Fall explizit als Fördermaßnahme. Dafür mobilisieren sie ihre institutionelle Konsekrationsmacht: Neben einer breitflächigen Präsenz in Presse und Rundfunkgehört dazu auch die eigene Publikation, die zu jeder Ausgabe im Henschel-Verlag herausgegeben wird. Hierin werden die eingeladenen Regisseur/innen porträtiert, ihre Arbeitsweisen und Produktionen wohlwollend diskutiert und ihre Lebensläufe veröffentlicht. Zwei gegenläufige subjektivierende Diskursstrategien sind dabei auffällig: Zum einen werden die Regisseur/innen individuell mit plakativen Subjektivierungen versehen – etwa »die Textwütige«23, »die Menschenforscherin«24 oder »der Postironische«25. Zum anderen wird trotz des Verweises auf unverwechselbare ästhetische Handschriften auch immer an kollektiven Subjektivierungen gearbeitet, die die Individuen in ein Generationenporträt eingliedern. So wird ihnen pauschal mal »eine Rückkehr zum Text und zu durchgehenden Figuren«26 bescheinigt, mal werden sie einer »Generation Cross Media«27 zugeschlagen und immer wieder nach dem gesellschaftspolitischen Engagement dieser, ›ihrer‹ Generation befragt.28 Nicht nur der Widerspruch zwischen individuell-exzeptionellen Subjektivierungen und ihrer Verortung in einem Generationenkollektiv als exemplarisch und damit austauschbar bleibt dabei unreflektiert. Auch wird verschwiegen, dass die Produzent/innen dieses Diskurses mit der Selektion und Einladung von Inszenierungen die institutionellen und ästhetischen Tendenzen selbst bestimmt haben, die ihre Diagnosen nur zu konstatieren scheinen. In den dokumentierten Gesprächen zwischen Nachwuchskünstler/innen, Kurator/innen sowie Intendant/innen ist viel die Rede von einem ›Hype‹ um junge Regisseur/innen. Dieser gehe jedoch einher mit einem steigenden Konkurrenzdruck, der Ausbildung persönlicher ›Labels‹ in der Öffentlichkeit sowie mit der Angst davor, vom Theaterbetrieb auch schnell wieder fallengelassen zu werden.29 Radikal Jung beklagt zwar unablässig die Probleme delokalisierter und diskontinuierlicher Arbeitsverhältnisse unter verschärften Wettbewerbsbedingungen, begründet jedoch an keiner Stelle, wie ausgerechnet ein Gastspielfestival diesen Verhältnissen entgegenwirken soll. Vielmehr verschafft sich das Münchner Volkstheater als Veranstalter durch die entgrenzte Subjekti23 | Roeder/Sucher 2005, 37. 24 | Engels/Sucher 2013, 13. 25 | Engels/Sucher 2014, 40. 26 | Engels/Sucher 2006, 16. 27 | Engels/Sucher 2006, 26. 28 | Vgl. Roeder/Sucher 2005, 111-117; Engels/Sucher 2008, 11-14. 29 | Vgl. Roeder/Sucher 2005, 7, 53-59, 167-187; Engels/Sucher 2006, 104-147; Engels/Sucher 2013, 9f.
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vierung von Nachwuchskünstler/innen Zugang zu künstlerischen Arbeiten aus verschiedensten Produktionskontexten und erhofft sich damit öffentliche Aufmerksamkeit und die Profilierung des eigenen Hauses als Bühne für den jungen Zeitgeist und Sprungbrett für künstlerische Talente.
100 G rad B erlin F estival – »The atermar athon des F reien The aters « 30 Dass eine solche Profilierung von Theaterinstitutionen über ein Nachwuchsfestival ambivalente Ergebnisse zeitigen kann, soll ein letztes Beispiel zeigen: Das 100 Grad Berlin Festival – Langes Wochenende des Freien Theaters wurde 2003 vom Hebbel am Ufer, den Sophiensaelen sowie dem Ballhaus Ost konzipiert, um »die große Bandbreite der frei arbeitenden Theater- und Performancekünstler dieser Stadt wider[zuspiegeln]«31. Damit gar nicht als Nachwuchsfestival gedacht, hat es aufgrund seiner Organisation vor allem junge Künstler/innen angesprochen, die sich in nicht-professionellen Arbeitsverhältnissen bewegen. Die Teilnahme am 100 Grad Festival ist nicht kuratiert, maßgeblich ist einzig die rechtzeitige Anmeldung, rigide zeitliche Vorgaben für die Vorstellung und Auf- und Abbau sowie die Eigenleistung von allem, was die technische Grundausstattung der Bühnen übersteigt. Obwohl das Festival keinerlei Honorare, Produktionszuschüsse oder Kostenerstattungen für Anfahrt und Unterkunft zahlt, wurden zuletzt innerhalb von vier Tagen auf fünf Bühnen 120 Aufführungen durch Künstler/innen aus ganz Europa gezeigt. Deutlicher als hierin könnte sich nicht zeigen, dass die Zunahme der Nachwuchsfestivals und ihrer Nachfrage nach künstlerischem Personal diesem keine stärkere Marktposition verschafft hat, sondern durch eine unvergleichbar höhere Steigerung des Angebots übererfüllt wird. Das 100 Grad Festival, ungeplant als Nachwuchsfestival genutzt und wahrgenommen, sah sich angesichts dieses Bilds vereinzelt dem Vorwurf ausgesetzt, die Marktmacht des Theaterbetriebs für ein publikumswirksames, überdosiertes und gewissermaßen seriell subjektivierendes Event auszunutzen. Trotz des noch überwiegend positiven öffentlichen Echos entschlossen sich die Veranstalter/innen, das 100 Grad Festival nach der 13. Ausgabe 2015 einzustellen. An seiner Stelle richtete der Landesverband freie darstellende Künste Berlin erstmals 2016 das Performing Arts Festival aus. Es sieht bezeichnenderweise eine Nachwuchsplattform nur als klar ausgezeichnete und limitierte Sparte vor und ruft alle freien Theater und Spielstätten der Stadt zur Beteiligung auf. Gegenüber seinem Vorgänger vergibt dieses Festival keineswegs mehr Mittel – nur Koordination und 30 | www.ballhausost.de/produktionen/100grad-2015-ausschreibung-de/. 31 | www.hebbel-am-ufer.de/programm/spielplan/100grad-festival-2015/.
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Öffentlichkeitsarbeit werden geleistet –, dezentralisiert aber die Trägerschaft. Die Vermehrung ihres symbolischen Kapitals sehen HAU, Sophiensaele und Ballhaus Ost also offenbar nicht mehr in der Expansion des mit ihnen identifizierten Nachwuchsfestivals erreichbar, sondern eher durch Verknappung des Angebots in diffuser kulturpolitischer Verantwortung.
F a zit : N achwuchsfestivals und gesellschaf tspolitische
Ö ffnung
Der eingangs postulierte Boom des Nachwuchsfestivals könnte mit dem 100 Grad Festival seinen Höhe- und Endpunkt erreicht haben, an dem die Strategien seitens des Theaterbetriebs wie seitens der Künstler/innen in ihren Paradoxien und Dysfunktionalitäten allzu offen zutage treten. Inzwischen sind Nachwuchsfestivals als Profilierungsmaßnahme von Theaterinstitutionen in den Hintergrund getreten,32 etwa gegenüber neuen Konzepten einer gesellschaftspolitischen Öffnung: postmigrantisches Theater, Disability Aesthetics, Bürgerbühnen oder die Theaterarbeit mit Geflüchteten. Deren ästhetisch-soziale Subjektivierungen unterscheiden sich sicher in vielerlei Hinsicht von Nachwuchskünstler/innen: Ihre Differenzierungen werden offen politisiert, sie erstrecken sich meist nicht auf künstlerische Entscheidungspositionen und versprechen über einzelne Projekte hinaus auch keine langfristige Berufsperspektive. Die institutionelle Strategie dahinter ist aber vergleichbar: In Nachwuchsfestivals holt der Theaterbetrieb erstmals Künstler/innen, die dort bislang nicht vorkamen, aufgrund einer essentialisierten ästhetischen Qualität in die Öffentlichkeit des Theaters und gewinnt institutionelle Selbststabilisierung und öffentliche Bestätigung – und zwar ohne dass dabei grundlegende Strukturänderungen oder der Ausbau kontinuierlicher und vollausgestatteter Arbeitsverhältnisse notwendig werden. Die Subjektivierung ›Nachwuchskünstler/in‹ könnte zumindest in dieser Hinsicht als Blaupause für die genannten neueren Inklusionen des Theaterbetriebs gelten.
32 | Seit 2010 hat es im Feld keine nennenswerte Festivalneugründung mehr gegeben, stattdessen liefen auch die Formate PLATEAUX am Frankfurter Mousonturm und das Osterfestival der Kunsthochschulen am Maxim Gorki Theater Berlin ersatzlos aus.
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Benjamin Hoesch
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Re-/Produktionsmaschine Bürgerbühne? Eva Holling & Katrin Hylla
Im Jahr 2009 prägte das Staatsschauspiel Dresden mit der Gründung der »Bürgerbühne« den Begriff für eine neue »Sparte« des Theaters,1 über die seitdem vor allem wohlwollend berichtet wird. Auf der Webseite des Goethe-Instituts etwa trägt Anne Richter verschiedenste Strömungen zusammen, wie sie mittlerweile unter dieser neuen Sparte versammelt werden (Kinder-/Jugendtheater, Tanz, Oper), die sie als »professionelle Theaterarbeit mit nichtprofessionellen Darstellern«2 beschreibt. Diverse Berichterstattungen über diese Sparte und weitere Erläuterungen, für die Richter hier beispielhaft stehen soll, setzen Kategorien ein, die »soziale Unterscheidungen von Menschen«3, wie sie im vorliegenden Sammelband mit Blick auf deren Umgang innerhalb der »Re/produktionsmaschine Kunst« befragt werden, benutzen, um die Praxis dieser neuen Sparte zu profilieren. Was unserer Meinung nach dabei bisher jedoch selten vorgenommen wird, ist eine kritische Betrachtung des Phänomens Bürgerbühne – das Fehlen einer solchen kann dabei vielleicht als Resultat einer Rezeption gewertet werden, die diese Sparte hauptsächlich als theaterpädagogische Errungenschaft würdigt. Das würde aber bedeuten, dass sie weniger als Kunstform ernst genommen wird, sondern mehr als ›soziales Projekt‹, was eine durchaus diskutable Dichotomie hervorruft. Wir denken, dass diese Sparte gerade als Kunstform betrachtet sowohl ihre Chancen als auch ihre Probleme offenbart, denen wir uns hier widmen wollen. Ein Blick auf die Berichte, auf Selbstauskünfte der Macher/innen und vor allem auf die Praxen selbst zeigt, auf welche Weisen in dieser Sparte verkörperte Kategorien verteilt werden – so ist im Diskurs von Bürgern und Bürgerinnen die Rede, von Lai/innen und Nichtprofessionellen. Dabei spielt die Institution 1 | Vgl. Roselt, www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=a rticle& id=10785:2-mannheimer-buergerbuehnenfestival-ueberlegungen-zur-buergerbuehnevon-jens-roselt&catid=101&Itemid=84. 2 | Richter, https://www.goethe.de/de/kul/tut/gen/tup/20392682.html. 3 | Kreuder/Koban/Voss im Vorwort des vorliegenden Bandes.
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Theater als Kategorisierungsapparat eine wesentliche Rolle, indem sie nämlich auf verschiedenen Ebenen mit theatralen Subjektivierungen operiert, also mit Interpellation, wie Louis Althusser den genuin sozialen Vorgang der Subjektivierung beschreibt.4 Es zeigt sich daran, dass die »Partizipation«, die in dieser Sparte oft versprochen wird, maßgeblich über bestimmte Bedingungen der Subjektivierung vonstatten geht, die wir theatrale Interpellation5 nennen. Diese Bedingungen möchten wir untersuchen und so auch dem Begriff der Partizipation vor dem Hintergrund der Bürgerbühne eine kritische Betrachtung zukommen lassen. Sowohl in der künstlerischen Arbeit als auch auf der Ebene der Produktionsbedingungen werden die partizipierenden Körper von Subjekten zu Orten der Materialisierung von durchaus ideologisch zu nennenden Praxen: Wenn das Subjekt Bürger/in Theater spielt – ein Faktum, das häufig als eine Art außergewöhnlicher Gegensatz dargestellt wird – eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten, solche Subjektivierungen einzusetzen. Nach einer knappen Hinführung zum Begriff der Partizipation und zum Konzept partizipatorischer Theaterformen werden wir diese an zwei gegensätzlichen Beispielen herausarbeiten: der Bürgerbühne in Dresden und der Bürgerforschung in Freiburg, die beide partizipatorische, jedoch sehr verschiedene Herangehensweisen verfolgen.
Partizipationsversprechen »Partizipatorische Demokratie braucht partizipatorische Theaterformen.«6 So wirbt Hajo Kurzenberger – Dramaturg an der Dresdner Bürgerbühne – für professionelle Produktionen mit Lai/innen am Staatsschauspiel Dresden. Hier sollen die Themen einer Stadt auf die Bühne gebracht und die Menschen so zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragestellungen angestiftet werden. Es sieht so aus, als erfahre das Theater einen repolitisierenden Schub von unten, wenn dazu aufgerufen wird, sich in der Theaterarbeit an »gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen«7 zu beteiligen. Die Hoffnung, dass sich ein Theater ›für alle‹ auf sein politisches Moment zurückbesinnt,
4 | Vgl. Althusser 1977, 142: »Wir behaupten […], daß die Ideologie […] durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung (interpellation) nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte ›rekrutiert‹ (sie rekrutiert sie alle) oder diese Individuen in Subjekte ›transformiert‹ (sie transformiert sie alle).« 5 | Zum Begriff der theatralen Interpellation vgl. Holling 2016. 6 | Kurzenberger 2014a, 24. 7 | w w w. s t a a t s s c h a u s p i e l - d r e s d e n .d e/s p i e l p l a n/e x p e d i t i o n _ f r e i s c h u e t z / hajo_kurzenberger_ueber_die_buergerbuehne.
Re-/Produktionsmaschine Bürgerbühne?
wächst. Finden wir also hier »participation as a politicised working progress«8, wie Claire Bishop in Artificial Hells fragt? Im Theater als Bürgerbühne wird – anscheinend – ein Ort zur Verfügung gestellt, der eine Pluralität des Volkes zulässt, der die Ausgeschlossenen einschließt und die Unsichtbaren sichtbar macht. In der Forderung nach einer partizipatorischen Theaterform wird eine Verbindung zur partizipatorischen Demokratie nahegelegt, die das Politische mit dem Künstlerischen verschränkt und sogar gleichsetzt. Mehr Demokratisierung also im Theater? All dies sind jedenfalls Versprechen, die die Bürgerbühne macht.9 Im Hinblick auf diese Versprechen kann ein für theatrale Interpellationen sensibilisierter Blick einiges strukturell systematisieren. Ein solcher Blick fokussiert die jeweiligen Subjektivierungspraxen, wie sie im Theater und eben auch in Formen partizipativen Theaters vorkommen, denn Theater kann als stets intersubjektive Praxis gelten. Es fragt sich hier also: Mit welchen Versprechen werden Teilnehmende adressiert, vergemeinschaftet, und welche Art Subjektivierungspraxen – die sich häufig deswegen als politisch verstehen, da sie mit Argumenten der Partizipation operieren – kommen zum Einsatz? Diese Fragen lassen sich vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Übertragung 10 diskutieren, da Übertragung als psychische Grundlage für das ›Funktionieren‹ von gegenseitigen Subjektivierungen sorgt. Und damit bildet sie auch die Grundlage für Ideologien, Glauben und Wertunterstellungen, die gerade in politischen Belangen bedeutsam sind. Eine Perspektive, die für Übertragungsstrukturen sensibilisiert ist, lässt erkennen, dass Subjektivierungen maßgeblich mit Fiktionalisierung zu tun haben: Es wird etwas unterstellt, ein Bild herauf beschworen. Gleichzeitig werden Subjekte in Funktionen versetzt, wie z.B. in die der Bürger/innen, und damit also keine Individuen, sondern Subjekte hervorgebracht, die diese Funktionen dann verkörpern, sprich materialisieren sollen. Theatrale Wirkung zeigt sich hier also nicht nur im Rahmen ästhetischer Erfahrung, sondern auch im Hinblick auf die Produktionsbedin8 | Bishop 2012, 11. 9 | Im Folgenden kennzeichnen wir einen Wechsel der beiden Stimmen, die sich in diesem Aufsatz äußern, durch eine Leerzeile. Sätze, in denen ein ›Wir‹ vorkommt, vereinen beide Stimmen. 10 | Zum Begriff der Übertragung vgl. Riepe/Schmitz/Tholen 2001, 9: »Die Übertragung ist einerseits ein nicht szientifisch formalisierbarer, andererseits auch nicht esoterisch verwässerbarer Rapport zwischen zwei Subjekten.« Für die Lesart von Übertragung als Grundlage für theatrale Interpellation sind darüber hinaus vor allem die Theorien Jacques Lacans mit den Begriffen des »Agalma« und des »Sujet Supposé Savoir« interessant, die Übertragung als Begehrensstruktur definieren, vgl. Lacan 1987 und Lacan 2008.
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gungen und »institutionelle[n] Fundament[e]«11 von Theater und seinen Interpellationen.12 Unser Blick auf die Bürgerbühnen und ähnliche Formate geht also davon aus, dass Theater und Subjektivierung immer miteinander zu tun bekommen, da jeweilige spezifische Funktionen von Publikum und Bühne verteilt werden (wie auch immer sie konkret räumlich angelegt oder ausagiert sein mögen). Darin ähnelt unser Ansatz dem Jacques Rancières in seiner populären Schrift Der Emanzipierte Zuschauer, der aus den Gedanken zum unwissenden Lehrmeister hervorgeht.13 Rancières Lehrmeister übernimmt zwar keine neue Funktion, sondern nur neue Methoden (nämlich demokratische, gleichberechtigte), jedoch hinterfragt er die »apriorische Verteilung von Positionen«14, bei der direkt Fähigkeiten (oder Unfähigkeiten) an diese Positionen geknüpft werden, und wie diese funktionieren. Für das Theater nennt Rancière bekanntlich Unwissen und Passivität als eine (Un-)Fähigkeit auf Seiten des Publikums, während diejenigen auf der Bühne anscheinend wissend und aktiv sind. So zeigt (und kritisiert) er, wie sich Machtverhältnisse in intersubjektiven Gefügen des Theaters etablieren, wie ein »Netz von Vorannahmen«15 intersubjektiv ausgebreitet, d.h. in actu verkörpert, ausagiert wird, in dem Gegenüberstellungen erfolgen, die eine »Aufteilung des Sinnlichen« definieren und bei Rancière drastisch »fleischgewordene Allegorien der Ungleichheit« heißen.16 In diesem Netz werden Subjekte gemäß Althusser erschaffen, materialisieren sich in einer Ideologie des Theaters, und in diesem Sinne ist Theater als intersubjektives Geschehen also immer auch als intersubjektive (Macht-)Konstellation zu hinterfragen. Folglich rücken also die Subjekte der Bürgerbühnen in den Blick. Welche Fiktionalisierung und Funktionalisierung erfährt jemand, der und die als Bürger/in interpelliert wird? Und welche Auswirkungen hat die Verbindung der Begriffe »Bürger« und »Laie« im Hinblick aufs Theater? Gerade der Bürgerbegriff steht ja für eine politische Tradition und ist mit Handlungsermächtigung und Partizipation an politischem Geschehen verbunden. Im französischen Sprachgebrauch ist der citoyen (im Gegensatz zum bourgeois) politisch mündig und aktiv und Bürgerschaft spätestens seit der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 als kollektive Praxis politisch errungen und verortet.17 Gerade für Dresden und vor dem Hintergrund dortiger Pegida-Aktivitäten und der AfD, die wohl reaktionäre und 11 | Kreuder/Koban/Voss im Vorwort des Bandes. 12 | Vgl. Holling 2016. 13 | Vgl. Rancière 2007 und 2009. 14 | Rancière 2009, 22f. 15 | Rancière 2009, 17. 16 | Vgl. Rancière 2009, 22f. 17 | Vgl. Balibar 2002.
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auch faschistische Praktiken von sich einmischenden, aktiven Bürger/innen darstellen, ist daran zu erinnern, dass Gesellschaften ihre Grenzziehungen gerade auch über (Staats-)Bürgerschaften vornehmen. Gleichzeitig wird nun dem Bürgerschafts-Subjekt in Verbindung mit der Theaterbühne eine Professionalität und damit auch eine Mündigkeit abgesprochen. Zwar ist unter der Dresdner Parole »Führt euch auf!«18 ein Aufruf zum Sich-Zeigen und In-Erscheinung-Treten formuliert, jedoch mutet dieser als nur anscheinende Durchbrechung eines Netzes von Vorannahmen oder von einer Verteilung von Positionen an. Denn der Aufruf affirmiert bzw. erschafft erst die Trennung von Bürger/in und Bühne: Die Profilierung erfolgt durch die Behauptung, das Spezielle an theatermachenden Bürger/innen sei, dass sie keine ausgebildeten Schauspieler/innen seien. In der Folge müssen sie aber das Recht ›sich aufzuführen‹, erst zuerkannt bekommen. Hier inszeniert sich dann die Institution Theater als generöse, machtvolle Instanz, die dieses Recht zuerkennen und aber auch darüber bestimmen kann, in welcher Form diese ›Aufführung‹ geschehen soll, darf, kann. Damit stellt es sich in eine »schlechte[…] obrigkeitsstaatliche[…] Tradition«19, wie Robin Celikates in seiner BalibarLektüre zuspitzt, in der »eine Bürgerin zu sein, […] als von staatlicher Seite verliehener Status verstanden wird. Damit aber verdeckt die konstituierte Dimension von Bürgerschaft deren konstituierende Seite und setzt doch wieder den loyalen Untertan an die Stelle des autonomen Bürgers.«20
Eine so praktizierte Bürgerbühne betreibt also im Grunde eine »Reduktion von Bürgern auf Untertanen«21, die abhängig sind von einer sie legitimierenden und subjektivierenden Instanz, und die vor allem eine Berechtigung auf gutes Regiert-Werden innehaben, anstatt sich als kritische Vertreter/innen kollektiver Selbstregierung auf-zu-führen.22 18 | »Die Bürgerbühne lädt alle Bürger Dresdens ein: Führt euch auf!« (www.staats schauspiel-dresden.de/buergerbuehne) 19 | Celikates 2010, 64. 20 | Celikates 2010, 64, mit Bezug auf Balibar 1991 und 2002. 21 | Celikates 2010, 64. 22 | Vgl. Celikates 2010, 64: »Rousseaus theoretische Innovation und vielmehr noch die politische Innovation der Revolution stellen einen im Denken wie in der Praxis vollzogenen Bruch mit der bis dahin vorherrschenden und auch heute wieder populären Vorstellung dar, dass ein Bürger vor allem jemand ist, der das Recht hat, auf bestimmte Weise – nämlich gut, im Interesse aller etc. – regiert zu werden (und eventuell dagegen zu protestieren, wenn das nicht der Fall ist). An die Stelle dieses Rechts tritt nun das politische und kollektive Recht der Bürgerinnen und Bürger auf Selbstbestimmung, auf
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Partizipation lautet nun aber gerade das Stichwort im Diskursfeld der Bürgerbühne(n), unter dem Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen werden, mit ihrem Körper, ihrer Darstellung, ihren Themen »gesellschaftliche Wirklichkeit« und »reales Leben« (zurück) ins anscheinend realitätsferne Theater zu bringen.23 Ein Unternehmen, das Teilhabe verspricht und zur Selbst-Ermächtigung derer führen kann, deren Errungenschaften als Bürger/innen, nämlich das eigenverantwortliche Mitgestalten am Gemeinwesen und die Mündigkeit, offenbar abhandengekommen sind und nun neu und mit Hilfe des Theaters wieder-errungen werden müssen. Nicht die Aufhebung der Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum, nicht die Zuschauer/innen als oft genötigte ›Mitmacher/innen‹ im Rahmen einer Aufführung, sind also hier mit Partizipation gemeint, sondern »Partizipation gilt […] als eine Strategie der Politisierung, die über eine oberflächliche Einlassung mit gesellschaftlichen Inhalten hinausgeht und vielmehr in die grundlegenden Strukturen des Ästhetischen eindringt«24. Das Kunstfeld öffnet sich demnach durch die Partizipation einem Publikum oder einer marginalisierten Randgruppe, einer der Kunst (vermeintlich) fernen oder bisher nicht einbezogenen gesellschaftlichen Gruppierung und ermächtigt sie zur aktiven Teilnahme. Partizipation meint hier das Eingreifen in den Prozess und seine Strukturen, indem Aufgaben und Funktionen neu geordnet und das Ergebnis und seine Ästhetik aktualisiert werden. Dabei wirkt zwar die Bürgerbühne Dresden, wie zu sehen ist, in der Diskussion um Partizipation ganz weit vorne mit; im Vergleich unserer zwei Beispiele zeigt sich jedoch, wie unterschiedlich ein solcher Anspruch in der Praxis umgesetzt wird: In Dresden wird gerade nichts neu geordnet, sondern überkommene Theaterpraxen werden fortgesetzt, während das Stadttheater Freiburg versucht, Theater partizipativ umzustrukturieren. Zunächst also ein ausführlicherer Blick auf die Praxen der Dresdner Bürgerbühne.
kollektive Selbstregierung (im Artikel 6 der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen heißt es: ›La loi est l’expression de la volonté générale. Tous les citoyens ont droit de concourir personnellement, ou par leurs représentants, à sa formation.‹). Nach Rousseau und dem Ereignis der Französischen Revolution kann es keine ›Passivbürger‹ geben, und tatsächlich ist der Versuch, einen solchen Status (Bürger ohne Wahlrecht) einzuführen, in den frühen 1790er Jahren gescheitert. Ein Bürger zu sein, heißt, sich selbst zu regieren, aber auch, die institutionalisierten Formen der kollektiven Selbstregierung immer von neuem zu problematisieren und zu transformieren – die konstituierte Macht im Namen der konstitutierenden [sic!] Macht in Frage zu stellen.« 23 | Vgl. Tscholl 2014, 8. 24 | Lehmann, www.heimspiel2011.de/assets/media/dokumentation/pdf/HSP-Doku _D_Lehmann.pdf.
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B ürgerbühne (D resden) Unter den angebotenen Formaten der Dresdner Bürgerbühne, wie z.B. die des Bürgerdinners, wo Heimatlose auf Heimatverbundene oder Punks auf Banker treffen, interessieren wir uns vor allem für das Format »Inszenierung«: Dieses Format richtet sich an Bürger/innen, die viel Zeit investieren können und Bezug zu den thematisch vorgegebenen Gruppen haben (in der Spielzeit 2015/16 Fußballfans und Dresdner aus dem Orient).25 So ist die Stückentwicklung Mischpoke z.B. eine Inszenierung über ›das Jüdisch-Sein‹26. Eine Neuverteilung geschieht hier vermeintlich, indem Lai/innen auf die Bühne gebeten werden, deren Biografie sich inhaltlich mit literarischen Vorlagen verknüpfen lässt. Der Virtuosität von professionellen Spielenden wird der Dilettantismus von unausgebildeten Spielenden entgegengesetzt, indem letzteren die Möglichkeit gegeben wird, aus dem Nähkästchen des ›echten Lebens‹ zu plaudern. Bei diesem »Theatercoup«27 fühlt sich der/die Bürger/in in Dresden ernstgenommen. Er/sie ist nicht mehr ungesehen, ungehört, nicht mehr Teil einer undefinierten Masse. So könnte man meinen. Aber nicht jedem Mitglied der Bürgerschaft, der/die sich für diese ästhetische Umverteilung interessiert, ist es auch gegönnt daran teilzunehmen. Um Teil einer Inszenierung der Bürgerbühne Dresden sein zu dürfen, muss der Bürger, die Bürgerin sich einem Casting unterziehen, in dem geprüft wird, ob der/die Partizipationswillige sich auch tatsächlich eignet. Ist die Biografie kompatibel mit dem Inhalt des Stücks? Welche Biografie ist interessanter? Entspricht das Bild des Bürgers, der Bürgerin den theatralen Vorstellungen der verantwortlichen Regisseurin? Dramaturgie und Regie des Hauses bestimmen die Kriterien des Castings: Ein ›Bürgerkörper‹ wird inszeniert. Gesucht werden beispielsweise für Goethes Faust Männer mit einer Midlife-Crisis – und wenn die nicht waschecht und schwerwiegend ist, dann gewinnt leider ein anderer Kandidat die Rolle. Die Interessierten werden daher auf ihre »Fausttauglichkeit«28 hin überprüft, wie folgender filmisch dokumentierter Ausschnitt des Casting-Prozesses zeigt:
25 | Vgl. www.staatsschauspiel-dresden.de/buergerbuehne. 26 | »Religiös und weltlich zeigt sich jüdische Identität in ›Mischpoke‹, politisch engagiert und anarchistisch, schrill und melancholisch, konvertiert und kabbalistisch.« (www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/mischpoke.) 27 | Winfried Schulz, Intendant des Staatsschauspiels Dresden, zitiert nach Kurzenberger 2014a, 23. 28 | Kurzenberger 2014b, 72: »Ab hier wird es ernst. […] Aus einem freundlichen Kennenlernen wird ein gezieltes Fragen, das unter anderem auch die Fausttauglichkeit der Befragten im Blick hat: Fühlst du dich schuldig? Was für einen Sinn ergibt dein bisheri-
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Das Problem, das sich bei den Proben für die Regisseurin Miriam Tscholl ergibt, ist die Unfähigkeit des Laien, nicht vorhandene Identifikation mit einem vorgegebenen Thema zu ›überspielen‹, während dies dem ausgebildeten Schauspieler gelingt. Der Laie ›verrät sich‹ in ungeschicktem Bemühen, Blick und Körper. Eine Lösung sieht Tscholl darin, permanent die Identifikation der Darstellenden mit dem eigenen Leben in Gesagtem und Gespieltem zu suchen.30 Auch die Zuschauer/innen sollen sich mit den Spieler/innen identifizieren können; Nähe und Einfühlung sind hier die maßgeblichen Stichworte für die Arbeit. Diese Kurzausbildung zum ›klassischen Schauspieler‹ hat mit Emanzipation und Mündigkeit nichts zu tun (nebenbei: Schauspieler/innen gelten noch heute als ›weisungspflichtig‹, selbst wenn sie nachweislich selbständig arbeiten), und für Tscholl kann sie Probleme mit sich bringen: nämlich dann, wenn die »unfreiwillige Frische« sich in Routine verwandelt.31 Das Austreten aus der Unmündigkeit, die proklamierte Selbstaufklärung, die sich bei den Teilnehmer/innen einstellen soll, wird mit vorbrechtschen Schauspielmethoden in die Inszenierungspraxis eines traditionellen hierarchischen Theaterbetriebs implantiert – und dies ganz unverschleiert: »Die Bürgerbühne praktiziert eine neue alte Form der Menschendarstellung, die im Kontrast steht zur Dekonstruktion von Figuren – und Menschenbildern, wie sie in den letzten Jahrzehnten auf deutschen Bühnen üblich geworden ist.«32 Für den großen Andrang an Interessierten, die öffentlich sprechen (oder vielleicht auch nur 15 Minuten Berühmtheit erlangen) wollen, wurde also anscheinend keine Form der Teilhabe gefunden, die diese Auswahlverfahren und auch das psychologische Spiel unnötig macht. Diese Praxis folgt letztlich einer grundlegenden Legitimationsnotwendigkeit des Auf-der-Bühne-Seins, der z.B. auch Rimini Protokolls »Experten des Allges Leben? […] [D]amit gerät nicht nur die Midlife-Crisis der Spieler ins Visier, sondern auch […], warum sie ihre Biographie, ihr Privatestes in der Faustfigur spielen wollen.« 29 | Staatsschauspiel Dresden, https://vimeo.com/87550588 [1:59-2:29]. 30 | Vgl. Tscholl 2014, 19. 31 | Vgl. Staatsschauspiel Dresden, https://vimeo.com/87550588 [16:48-17:10]. 32 | Kurzenberger 2014a, 35.
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tags« unterliegen, und die auch von jenen weniger gebrochen als erweitert wird: Den Wert und die Berechtigung, auf einer Bühne zu sprechen und sich aufzuführen, haben nur Personen, die mit Expertise behaftet sind. Zwar sind seit Rimini Protokoll eben auch Nicht-Schauspieler/innen berechtigt und wert, gehört zu werden, d.h. der Kreis der Expert/innen erweitert sich signifikant, was sicher den Weg für Formen von Bürgerbühnen mitgeebnet hat, aber der Status des Wertes der Expert/innen an sich wird nicht unterbrochen oder umstrukturiert. Die Demokratisierung besteht darin, dass die Wertunterstellung vielfältiger wird, dennoch ändert sich wenig an der Grundsubjektivierung über Wertzuschreibung – auch im Hinblick auf das Publikum. Diesem wird in dieser Legitimierungslogik weiter unterstellt, dass es nur wertbehaftete Subjekte auf der Bühne akzeptiert und das wertbehaftende System vom Theater ausgerufen wird. Professionalisierung bleibt hier das Stichwort, was zur Folge hat, dass die Bühne den Bürger/innen als »fremdes Terrain«33 präfiguriert wird. Jens Roselt betont daher immer wieder Techniken, die dabei helfen sollen, dass »nichtprofessionelle Darsteller als souveräne Bürger« in Erscheinung treten können, wie »Sicherheit durch konkretes Tun und Handeln, Ausstellung der ungewohnten Situation, Erzählen und Berichten als entscheidende Darbietungsform, autobiografischer Bezug, Auf brechen klassischer Konzepte von Figur/Rolle, direkte Ansprache des Publikums«.34 Solche neu genannten Darstellungsformen werden in Relation zu traditionellen Schauspieltechniken beurteilt, gewinnen ihren Wert also immer im Abgleich mit herrschenden Kategorien und nicht unabhängig von ihnen; letztlich bleibt dies also der Versuch einer Subversion, die nur durch die Aufrechterhaltung des zu Subvertierenden gelingt. Doch warum werden in Dresden gerade keine Strategien angewandt, die den Fokus von der Virtuosität auf das Unausgebildete, das sogenannte ›echte‹ Leben verschieben? Warum wird Dekonstruktion vermieden, wenn Partizipation doch in die Strukturen eingreifen soll? Die Sensation als Identifikationsmöglichkeit, wie wir sie auch aus anderen Medien wie reality soaps kennen, dient auch der Dresdner Bürgerbühne als Punkt, an dem Zuschauer/innen und Mitspieler/innen sich treffen können. Tscholl erklärt sich die begeisterte Zuschauerperspektive, die Identifikation mit dem Gesehenen so: »Das könnte ich sein und dafür könnte ich mich auch bewerben. Der erzählt von seiner Depression 33 | Ro s e l t , w w w.n a c h t k r i t i k .d e/i n d e x .p h p?o p t i o n = c o m _ c o n t e n t & v i e w =a r t ic le&id =1078 5:2- mannhe ime r- bue r g e r bue hne n f e s t i val - ue b e r legung e n -z urbuergerbuehne-von-jens-roselt&catid=101&Itemid=84. 34 | Vgl. Roselt, www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&v iew=a rticle& id=10785:2-mannheimer-buergerbuehnenfestival-ueberlegungen-zur-buergerbuehnevon-jens-roselt&catid=101&Itemid=84.
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und die hat er vielleicht auch wirklich: das schafft ganz besondere Identifikationsmöglichkeiten.«35 Diese Form des Arbeitens mit nicht-ausgebildeten Darsteller/innen lässt sich als ›soziale Pornografie‹ bezeichnen: Statt zu interpretierende Zeichen einzusetzen, wie sie in einer Inszenierung üblich sind, soll die ›nackte Tatsache‹ des/der nicht-professionellen Darsteller/in eine Nähe zu den Zuschauenden herstellen, der jegliche (respektvolle) Distanz fehlt. Indem Minderheiten und sogenannte Randgruppen mit ihren vermeintlichen biografischen Gemeinsamkeiten zum Material der Inszenierung werden, reproduzieren diese erneut Exklusivitäten: die Punks, die Juden, die Banker, die Männer in der Midlife-Crisis. Es wird keine Gruppe Interessierter ins Theater geholt, um die Grenzen der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit durchlässig werden zu lassen, sondern diese Gruppen werden geradezu stigmatisiert und neu formiert. Statt zu vermischen, werden alte Abgrenzungen reproduziert und Stereotypen zementiert. Für Stadt- und Staatstheater traditionelle Arbeitsweisen kommen hier zur Anwendung – nur eben mit Lai/innen, die, als Unwissende behandelt, sich dem ausagierten Wissen der Regisseur/innen, ja, dem ganzen Theaterapparat, unterordnen. Der Körper wird zu einem Produkt der Vorstellungen anderer unter der Überschrift des Bürgerseins. Während Partizipation der Befragung von Machtstrukturen dienen kann, die sich in einem erweiterten ästhetischen Konzept niederschlägt, ist sie in diesem Falle also ein auf Mitmachen reduziertes und traditionelles Verfahren und fungiert als reproduzierendes Instrument. Partizipation wird so zum kosmetisch eingesetzten Prinzip, das zwar sichtbar macht, aber in der Sichtbarkeit, in der Darstellung und den Darstellungsweisen die vorher bereits existierende Vorstellung der Regisseurin/des Regisseurs über einen Bürger oder eine Bürgerin einer bestimmten gesellschaftlichen Randgruppe reproduziert. So werden Darstellende und Zuschauende gleichermaßen einer theatralen Interpellation unterworfen, die von der Institution ausgeht. Als Bürger/innen werden sie einerseits in die Subjektivierung einer ability oder agency versetzt, während sie andererseits weiterhin Akten der Zuerkennung und der Auswahl unterworfen bleiben. Es ergibt sich, im Vorgriff auf das nächste Beispiel, eine Bestandsaufnahme ›bürgerbühnlicher‹ Projekte, die zwei verschiedene Herangehensweisen erkennen lässt: • auf der einen Seite eine instrumentelle, die die Körper der Beteiligten ›benutzt‹, theatralen Konventionen unterwirft und besonders im Verständnis von ›gutem Schauspiel‹ das Theater als ideologischen Staatsapparat einsetzt, wofür die Dresdner Bürgerbühne Beispiele liefert; • auf der anderen Seite eine experimentelle Herangehensweise, die Aufführungspraxen und damit intersubjektive Konstellationen hinterfragt, evtl. 35 | Staatsschauspiel Dresden, https://vimeo.com/87550588 [18:12-18:22].
Re-/Produktionsmaschine Bürgerbühne?
Räume ent-institutionalisiert, das ›Schlecht-Spielen‹ unterminiert und so das Theaterverständnis von darstellenden und zuschauenden Bürger/innen verändert, was das Stadttheater Freiburg versucht.
B ürgerforschung (F reiburg) Im Stadttheater Freiburg steht nicht das Theater im Zentrum der »Bürgerforschung« – wie sich partizipative Formen dort nennen –, sondern die Stadt Freiburg und ihre Bewohner/innen. Das Theaterteam scheint sich die Frage zu stellen, was Theater und besonders Stadttheater in Freiburg sein kann und soll: Wer ist der Bürger, die Bürgerin und was vermag Kunst hier auszurichten? Denn es wird eine Vision von Theater als Echo-, Lern- und Untersuchungsraum entwickelt – außerhalb des Theaters. Dessen Räumlichkeiten sind nicht Pilgerzentrum, sondern die Künstler/innen schwärmen in die Stadt aus: »Dafür gab es keine Bürgerbühne, kein Haus, keine Proben und Aufführungen, oft nicht einmal mehr ›Theater‹.«36 Die neue Tanzsparte ist beispielsweise in Wohnungen unterwegs und sucht Kompliz/innen, die gemeinsam mit ihr Raubkopien bekannter Choreografien anfertigen; Leerstände erwachen zu neuem Leben als Karaokebar und Performanceraum; eine von Architekt/innen entworfene Riesenblase wandert durch die Stadt und wird zum Aufführungsraum. Räumlichkeiten des Theaters wiederum verwandeln sich in multifunktional nutzbare, sowohl in Denkzentren für Konzeption und Recherche als auch in als Bühnenraum einsetzbare Orte. Im nächsten Schritt trifft »das diffuse Ergebnis einer Recherche« auf »künstlerischen Formwillen«.37 Wissenschaftler/innen, Künstler/innen und interessierte Bürger/innen lassen sich dabei auf einen Prozess ein, dessen Ziel es ebenso sehr ist, aktuelle Forschungen kennenzulernen sowie zu hinterfragen wie über künstlerische Darstellungsformen zu verhandeln.38 Nicht immer entstehen ›zeigbare‹ Produkte aus den Interessengemeinschaften. Aber um das Produkt geht es dann auch nicht. Ebenso wie sich die Theaterräume verändern, verlassen die Schauspieler/innen ihren Arbeitsbereich, das gekonnte Sprechen und Bewegen, und lernen Texte von Lai/innen, während geformte Sprache an Lai/innen weitergegeben wird. Einige nicht-professionell ausgebildete Darsteller/innen wirken in Produktionen mit Profis mit und umgekehrt. Die gegenseitige Beobachtung, mit dem Ziel gleichermaßen voneinander zu lernen, gehört zum Programm. So wird die Idee eines »Orga-
36 | Hasselberg 2014, 161. 37 | Vgl. Hasselberg 2014, 163. 38 | Vgl. Hasselberg 2014.
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nismus unterschiedlicher Professionalisierungsgrade«39 verfolgt, der eine unkontrollierbare Eigendynamik entwickelt. Der ganze Produktionsprozess verändert sich zu einem Risikospiel, bei dem Stadt und Theater in verschiedenen Gruppierungen an verschiedenen Orten aufeinander stoßen und aus diesem Aufprall oder dem gegenseitigen Interesse Neues entsteht. Sein Ausgang bleibt ungewiss. »Ein Theater auf der Suche nach mehr Wirklichkeit müsste also«, wie Barbara Gronau sagt, »zunächst seinen eigenen situativen, institutionellen und kollektiven Charakter […] und seine sozialen Bedingungen reflektieren.«40 Mit ihr fragt sich: »Was ist das für eine temporäre Gemeinschaft, in der wir zusammenkommen? Welche Regeln halten diese Gemeinschaft zusammen und wer agiert darin in welcher Rolle?«41 Indem Raum für autonome, alternative und emanzipatorische Wissensproduktion geschaffen wird, ändert sich die Verteilung von denen, die lehren, und denen, die lernen, eine Neuaufteilung gegebener Strukturen findet statt. So wird im Sinne der Rancière’schen Aufteilung des Sinnlichen gearbeitet, in der das Modell des ästhetischen Regimes in Aussicht stellt, dass die Zuschauenden sich von der ihnen zugeschriebenen Funktion als passive Betrachtende oder Zuhörende (Bürger-Untertan) der Kunst wegbewegen und zu Forschenden eines (ihnen fremden?) Mediums werden.42 Das heißt aber nicht, dass es kein Publikum mehr gibt, sondern dass die Vorannahmen über dessen Subjektivierung beweglich werden. So können neue Formen, neue Darstellungs- und auch Lebensmodelle erfunden werden jenseits traditioneller und ideologisierender Kategorisierungen wie ›Profi‹, ›Laie‹, ›Experte‹ etc. Dazu ist es aber nötig, nicht nur auf herkömmliche und, mit Verlaub, längst eingestaubte Strategien zu vertrauen, sondern ein Risiko einzugehen.
39 | Hasselberg 2014, 168. 40 | Gronau, www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=8021:ueber-die-vorstel lungen-von-wirklichkeit-imtheater-des-20-jahrhunder ts&option=com_content&Ite mid=84. 41 | Gronau, www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=8021:ueber-die-vorstel lungen-von-wirklichkeit-imtheater-des-20-jahrhunder ts&option=com_content&Ite mid=84. 42 | Vgl. Rancière 2008, 39.
Re-/Produktionsmaschine Bürgerbühne?
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Alternative Inszenierungsstrategien
Pascha(s) auf dem Prüfstand Überlegungen zur Besetzungspraxis in Mozarts Die Entführung aus dem Serail Constanze Schuler
Im Juli 2015 brachte das Performance-Duo Gintersdorfer/Klaßen eine ungewöhnliche Auseinandersetzung mit Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail auf die Bühne des Bremer Theaters: Les robots ne conaissent pas le blues oder Die Entführung aus dem Serail, so der Titel dieses grenz- und spartenübergreifenden Projekts. Sänger/innen des Bremer Opernensembles traten in einen gesungenen, getanzten und gesprochenen Dialog mit den Performer/innen und Tänzer/innen der ivorisch-deutschen Kompagnie um Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen. Ted Gaier, Mitglied der Punkband Die Goldenen Zitronen, stellte den bekannten Melodien Mozarts elektronische Klänge am Synthesizer gegenüber, während der Dirigent Markus Poschner und die Bremer Philharmoniker den orchestralen Part übernahmen. Benedikt von Peter, verantwortlich für die Sparte Musiktheater am Theater Bremen, erarbeitete die Inszenierung gemeinsam mit Monika Gintersdorfer in einem weitgehend ergebnisoffenen Prozess. Der oft hierarchisch organisierte und reglementierte Probenprozess wurde somit in eine »multiple Autorschaft«1, in ein offenes Spiel mit den Re/ produktionsmechanismen des Stadt- und Musiktheaterbetriebs überführt. Direkt zu Beginn des Abends wurde auch die Bedeutung des Titels erläutert: »[…] Musiktheater [sei] eine Disziplinierungs-Maschine von Opernsängern, ein Räderwerk der Roboter, und habe keine Beziehung zur ungestümen Spontaneität emotionalen Ausdrucks – zum Blues. Oder genauer: ›zum Soul‹.«2 Mit einer lebendigen Collage aus gesungenen Arien, Elektrobeats, Elementen des Couper Décaler, Dialogen und Tanzimprovisationen bekannte sich das gesamte En1 | Homepage Gintersdorfer/Klaßen, www.gintersdorferklassen.org/projekte/les_robots/. 2 | Fischer, www.die-deutsche-buehne.de/Kritiken/Musiktheater/Gaier+Gintersdor fer-Kla%C3%9Fen+Von+Peter+Poschner+Mozart+Les+robots+ne+connaissent+pas+l e+blues+oder+Die+Entf%C3%BChrung+aus+dem+Serail/Diskurs-Polonaise.
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semble zu einer lustvoll-dekonstruierenden Auseinandersetzung mit dem Stoff des Mozart’schen Singspiels und den etablierten Produktionsmechanismen im europäischen Opern- und Musikbetrieb. Doch was ist die Bezugs- und Kontrastfolie, vor der dieser szenische Abend sein ebenso unterhaltsames wie (system-)kritisches Potenzial entfalten konnte? Inwiefern lassen sich Opernproduktionen im Rahmen des Festival-, Staats- und Stadttheaterbetriebs tatsächlich als »Räderwerk[e] der Roboter« bezeichnen und welchen Anteil haben Besetzungsentscheidungen an der Verfestigung oder Verflüssigung von (kulturellen oder genderspezifischen) Klischees und Stereotypen, die sich nicht nur in Mozarts Entführung, sondern in großen Teilen des populären Opernrepertoires finden lassen? Mit Fokus auf die für Mozarts Entführung aus dem Serail in vielfacher Hinsicht zentrale Figur des Bassa Selim und ihr dramaturgisches wie szenisches Figurationspotenzial soll im Folgenden vergleichend untersucht werden, in welchem Maße Besetzungsentscheidungen die Lesart einer Inszenierung (vor-)konturieren und der Reproduktion von stereotypen Körperbildern oder normativen Kategorisierungen zuarbeiten oder entgegenwirken. Mozarts 1782 uraufgeführtes Singspiel Die Entführung aus dem Serail stellt Regisseur/innen immer wieder vor die anspruchsvolle Aufgabe, auf Basis eines vorgegebenen finanz- und spielplanpolitischen Rahmens einen zeitgemäßen Zugriff auf ein Singspiel zu entwickeln, das bekanntlich nicht gerade arm an Exotismen und Orientalismen ist.3 Mit seiner Gleichsetzung von Erotik und Exotik4, seiner Bestätigung bürgerlich-monogamer Beziehungsnormen und seinen diffusen Aufklärungsidealen folgt das Singspiel über weite Strecken den Modellen einer Repräsentation des Anderen5, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert populär waren6, und zielt nicht primär darauf ab, ein differenziertes Bild kultureller oder religiöser Vielfalt zu zeichnen. Gleich zwei zentrale Figuren – der im Libretto als »spanischer Renegat« ausgewiesene Bassa Selim und der türkische Palastaufseher Osmin – thematisieren Grenzverläufe zwischen Nationalität, Religion und kultureller Identität, ohne dabei auf parodistische Untertöne oder stereotype Verkürzungen zu verzichten.7 Gleichzeitig 3 | Zum Diskursfeld von Orientalismus und Exotismus sowie zu einer Begriffsdifferenzierung (auch in Übertragung auf den Kontext von Drama, Theater und Musik) vgl. u.a. Said 1979, Balme 2001 und Hüttler/Weidinger 2016. 4 | Vgl. Kleinlogel 1989. 5 | Vgl. Balme 2001. 6 | Zur Mode der sog. »Türkenoper« und der überaus beliebten Rezeption exotischer oder orientalisierender Sujets in der Opernproduktion des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Betzwieser 1993, Locke 2015, Wolff 2016 und Hüttler/Weidinger 2016. 7 | Das Libretto führt überdies noch eine weitere ethnisch markierte Figur auf, einen »schwarzen Stummen« (3. Aufzug, 5. Auftritt), der sich lediglich durch Handzeichen
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stehen der Reproduktion vertrauter Stereotypen und Gattungskonventionen aber auch »individuelle, überraschende Lösungen«8 gegenüber, mit denen sich Wolfgang Amadeus Mozart und sein Librettist Gottlieb Stephanie von ihrer Vorlage (Christoph Friedrich Bretzners Belmont und Constanze) lösten9 und dem Singspiel seine markante musikalisch-dramaturgische Handschrift verliehen. Trotz oder gerade wegen dieser offenkundigen Ambivalenzen scheint das Interesse an Mozarts Entführung aus dem Serail, den Herausforderungen des Librettos, der Musik und einer inszenierungskompatiblen Besetzungspraxis ungebrochen: Insbesondere die Inszenierungen von Giorgio Strehler (1967), August Everding (1980), Ruth Berghaus (1981), François Abou Salem (1997), Hans Neuenfels (1998), Christoph Loy (2003), Stefan Herheim (2003), Calixto Bieito (2004), Michael Thalheimer (2009) oder Uwe Eric Laufenberg (2010/ Köln und 2015/Wiesbaden) haben dabei ihre Spuren im Operngedächtnis der letzten Jahrzehnte hinterlassen.10
I m F adenkreuz des F igur ationsgefüges : B assa S elim Bedingt durch die dramaturgische Figurenkonzeption und -konstellation in Mozarts Singspiel wird die Figur des Bassa Selim und ihre Besetzung häufig zum entscheidenden Dreh- und Angelpunkt des Interpretationsansatzes. In Mozarts Opernschaffen nimmt die Figur eine Sonderstellung ein: Mozart verzichtete auf eine musikalische oder melodramatische Ausgestaltung und konzipierte den Bassa Selim als reine Sprechrolle, die im Kontext des Singspiels nicht nur das Andere und dezidiert Männliche, sondern auch ein dem Entstehungskontext geschuldetes aufklärerisch-humanistisches Ideal zu repräsentieren hatte.11 Jenseits einer vielfach versuchten musikwissenschaftlichen verständlich machen kann: »That the man cannot speak refers to a belief in European literature […], that powerful people in Turkey had assassins on hand who, being mute (or having been rendered mute), could never betray their master. But the opera’s librettist is also participating in a centuries-long tradition of portraying exotic foreigners through dance or theatricalized gesture.« (Locke 2015, 310.) 8 | Schmidt 2007, 402. 9 | Zur Stoffgeschichte und den verschiedenen Bearbeitungsstadien vgl. z.B. Schmidt 2007, 389-393. 10 | Zuletzt sorgte Martin Kušejs Inszenierung beim Festival d’Aix-en-Provence 2015 für Aufsehen, nachdem angesichts offensichtlicher Anspielungen auf Gräueltaten der Terrormiliz Islamischer Staat die Schlussszene auf Wunsch der Festivalleitung entschärft werden musste. 11 | Vgl. Betzwieser 1992, 47.
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Erklärung für das Fehlen einer Gesangspartie12 resultiert daraus – wie David J. Levin in einem Aufsatz über Hans Neuenfels’ Stuttgarter Inszenierung der Entführung konstatiert – eine signifikante dramaturgische Bruchstelle, die zwar für die Gattung des Singspiels konstitutiv ist, aber für jede szenische Realisierung neu beglaubigt und ausdifferenziert werden muss: »Der Eindruck der Spaltung resultiert aus der Logik des Werkes im Allgemeinen und aus der Figur des Bassa Selim im Besonderen. Als eine Sprechrolle verkörpert Selim die Trennung des gesprochenen Wortes von der Musik. Er verkörpert nicht lediglich die Stimme einer scheinbaren Alterität der Macht; jenseits davon verkörpert er die Macht einer Alterität von Stimme – die Macht der sprechenden Stimme auf der Opernbühne.«13
Insofern also die gesprochene Sprache als Differenzkriterium gewertet werden muss, wird auch die Frage nach einer adäquaten Besetzung jenseits bestehender Ensemblezwänge oder Stimmfächer im Opernbetrieb für jede Inszenierung virulent. Die Verpflichtung eines (mehr oder weniger renommierten) Gastes aus dem Bereich des Sprechtheaters scheint mit Blick auf die Inszenierungsgeschichte durchaus üblich und eröffnet zusätzliche interpretatorische wie besetzungspolitische Optionen. Auch mit Blick auf weitere Kontrast- und Korrespondenzrelationen des Personals14 fällt auf, dass die Figur des Bassa Selim eine entscheidende Schnittstelle innerhalb des dramaturgischen Gefüges markiert und ihr hinsichtlich der Konfliktstruktur der Handlung eine sowohl konfliktverschärfende als auch – im Sinne der Konventionen eines gleichermaßen befreienden wie lehrhaften lieto fine – eine vermittelnde und auflösende Funktion zukommt. Vergleicht man das Personal hinsichtlich Geschlecht und sozialem Status, dann fällt zunächst ein Männerüberschuss ins Auge, der sich in zwei konflikthaften Dreierkonstellationen auf der Ebene der Dienerfiguren und der Figuren der ›höheren Stände‹ (Pedrillo – Blonde – Osmin/Belmonte – Konstanze – Bassa Selim) verdichtet und entsprechend den im 18. Jahrhundert geltenden bürgerlichen Beziehungsnormen auf den (freiwilligen oder unfreiwilligen) Rückzug jeweils einer männlichen Figur hin angelegt ist. Dass die europäischen Paarkonstellationen hier letztlich bestätigt werden, ist einerseits den Konventionen des Genres geschuldet, eröffnet andererseits der Figur des Bassa Selim im letzten Auftritt des 3. Aufzugs aber auch die Möglichkeiten einer Sublimierung von (kulturellem wie sexuellem) Machtanspruch aus dem Geist der Aufklä-
12 | Vgl. hierzu z.B. Anderson 1954. 13 | Levin 2002, 90. 14 | Zum dramenanalytischen Begriff des Personals vgl. Pfister 2001, 225.
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rung.15 Die Vielschichtigkeit der Figur wird noch zusätzlich dadurch erhöht, dass Selim dem Libretto zufolge kein genuin türkischer Herrscher ist, was die Bezeichnung »Bassa« – eine Modifikation des türkischen Ehrentitels »paşa«16 – zunächst nahelegen könnte, sondern er wird als »Renegat« bezeichnet, der aufgrund der Intrigen von Belmontes (christlichem) Vater Spanien verlassen musste, ins Exil ging und dort auch die Religion der neuen Heimat übernahm, vom Christentum zum Islam konvertierte.17 Was sich im Sinne einer gelungenen Integration oder einer selbstbewussten Abgrenzung gegenüber alten Bindungen deuten ließe, besaß im 18. Jahrhundert eine tendenziell negative Färbung, insofern der Aspekt der willfährigen Anpassung im Interesse von persönlichem Machterhalt ins Zentrum der Wortbedeutung rückte.18 Während also kulturelle Differenzen – zumindest mit Fokus auf die Figur des Bassa Selim – an dieser Stelle eher in den Hintergrund zu treten scheinen, rückt die Frage nach der szenischen Reproduktion und Verhandlung religiös motivierter Handlungsprämissen, männlich konnotierter Stereotypen und bürgerlichchristlich normierter Liebes- und Beziehungskonzepte verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ist der Komplexitätsgrad der Figur also bereits auf dramaturgischer Ebene bemerkenswert, so müssen Besetzungsentscheidungen im Kontext einer Inszenierung geradezu als Multiplikatoren figurativer Gefüge gedeutet werden, die die Darsteller/innen und ihre Körper in ein dichtes Geflecht aus dramaturgischen, szenischen, aber auch sozial-gesellschaftlichen oder medien- bzw. öffentlichkeitsrelevanten Zuschreibungsmustern einbinden.
15 | Dass es sich hierbei dennoch um eine im weitesten Sinne eurozentristisch perspektivierte Konfliktlösung handelt, verschärft die Frage nach einer zeitgemäßen szenischen Deutung und einer adäquaten Besetzung für das Gegenwartstheater. 16 | Der Ehrentitel »paşa« hat im deutschsprachigen Kontext eine deutliche Abwertung bzw. offensichtliche Diskriminierung erfahren und wird umgangssprachlich auf einen gebieterischen Mann angewendet, der mit Formen körperlicher Dominanz spielt, Frauen als minderwertig ansieht und sich von ihnen gern bedienen oder verwöhnen lässt. Der für den vorliegenden Aufsatz gewählte Titel »Pascha(s) auf dem Prüfstand« möchte diese Lesart nicht reproduzieren, sondern sie im Kontext theatraler Repräsentationsstrategien zur Diskussion stellen. 17 | Mozart 2005 [1782], 90 und 367. Weiterführend vgl. auch Betzwieser 1992. 18 | Vgl. Bauman 1987, 32-35.
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F igur ation als analy tischer S uchbegriff Zur Analyse solcher Gefüge soll in diesem Zusammenhang und unter bewusster Verknappung seiner vielfältigen soziologischen und literaturwissenschaftlichen Implikationen der Begriff der Figuration genutzt werden.19 Unter Figuration versteht Nobert Elias »das sich wandelnde Muster, das Menschen (›Spieler‹) als Ganzes miteinander bilden, also nicht nur mit ihrem Intellekt, sondern mit ihrer ganzen Person, ihrem ganzen Tun und Lassen in ihrer Beziehung zueinander«20. Damit fokussiert er weniger ein klar konturiertes Konzept von Figur, sondern die spannungsreichen Machtverhältnisse und Interdependenzen innerhalb sozio-kultureller Gefüge.21 Im literaturwissenschaftlichen Kontext wurde der Begriff der Figuration maßgeblich durch Erich Auerbach geprägt, der in Rückbezug auf den von Augustinus gebrauchten Begriff der »figuratio« (der »Fleischwerdung des Wortes«) literarischen Texten ein präfigurierendes Potenzial hinsichtlich einer real-sinnlichen Gestaltwerdung22 zuschreibt, die sich auf die theaterwissenschaftliche Frage nach den Voraussetzungen, Bedingungen und Konkretisierungen von Verkörperung im theatralen Ereignis übertragen lässt. »Im Sinne einer deskriptiven Kategorie kann […] Figuration als Generierungsverfahren ästhetischer Texte aufgefasst«23 werden und auf verschiedene Erscheinungsformen von Theater in Geschichte und Gegenwart bezogen werden. Der dramenanalytische Figur-Begriff 24 erfährt somit eine produktive Erweiterung im Hinblick auf die Beschreibung und Analyse von kollektiven, dynamischen (Proben-, Aufführungs- oder Rezeptions-) Prozessen im Theater. Mit dem Suchbegriff der Figuration im Zentrum lassen sich Fragen nach Organisationsprinzipien und Ensemblestrukturen (verstanden als gesellschaftliche Mikrostrukturen und Interdependenzketten25) einerseits und konkreten dramaturgisch-szenischen Gefügen im Inszenierungskontext andererseits verknüpfen und an die körperlich-leibliche Realisierung durch Darsteller/innen zurückbinden.
19 | Einer engen terminologischen Festlegung erteilt Christopher Balme im Vorwort zu dem Tagungsband Figuration (2000) eine Absage, wenn er konstatiert, dass die Produktivität des Figurations-Begriffs »weniger in einem genau festgelegten Begriffsspektrum [liegt], als in der Fähigkeit, heterogene Phänomene in einem interdisziplinären Suchund Arbeitsprozess aufeinander zu beziehen« (Brandl-Risi/Ernst/Wagner 2000, 8). 20 | Elias 2006 [1970], 173. 21 | Vgl. hierzu Elias 2003. 22 | Vgl. Auerbach 1967, 69-71. 23 | Brandl-Risi/Ernst/Wagner 2000, 14. 24 | Vgl. Pfister 2001, 220-264. 25 | Zum Begriff der Interdependenzketten vgl. Elias 2006 [1970], 174.
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Anhand von zwei Fallbeispielen aus der zeitgenössischen Inszenierungsund Besetzungspraxis sollen solche Interdependenzgefüge im Folgenden schlaglichtartig herausgearbeitet werden. Im Zentrum der Analyse stehen dabei zwei Inszenierungen aus den Jahren 2015 und 2014, die gegensätzliche Zugänge zu Mozarts Singspiel suchen und diese szenischen Interpretationen vor allem auch durch Besetzungsentscheidungen vorkonturieren: Während David McVicars Inszenierung beim Glyndebourne Festival (2015) mit dem französischen Schauspieler Franck Saurel auf eine unverhüllte Reproduktion kultureller und genderspezifischer Stereotypen zu setzen schien, engagierte Jens-Daniel Herzog für seine Inszenierung an der Oper Dortmund (2014) den medienerprobten Schauspieler und Kabarettisten Serdar Somuncu und verlegte die Handlung in ein türkisches Hinterhofambiente. Die unterschiedlichen Besetzungen und die außertextuellen (medien- oder öffentlichkeitsrelevanten) Bezugspunkte der Darsteller tragen – so meine These – entscheidend dazu bei, kulturelle, religiöse oder genderspezifische Identitätskonstruktionen im Inszenierungskontext zu reproduzieren, zu verwischen oder zu destabilisieren.
D ie E ntführung aus dem S erail beim G lyndebourne F estival 2015 Als etabliertes Opernfestival, das über kein festes Ensemble verfügt, sondern für seine Produktionen Gäste engagiert, standen dem Glyndebourne Festival vielfältige Möglichkeiten für die gezielte Verpflichtung eines Darstellers für die Rolle des Bassa Selim offen. Für die Inszenierung von David McVicar fiel die Wahl auf den französischen Schauspieler Franck Saurel. Der Schauspieler lässt seine Interessen offenbar nicht durch eine Agentur vertreten, ist aber mit einer eigenen Homepage26 im WorldWideWeb präsent, die einen Einblick in die Selbstvermarktungsstrategien des Schauspielers erlaubt. Eigenen Auskünften zufolge hat er keine klassisch-akademische Schauspielausbildung absolviert, schloss sich aber 1999 dem Théâtre du Soleil um Ariane Mnouchkine an und erlernte dort verschiedene vom zeitgenössischen Tanz, der Commedia dell’arte und dem Kathakali inspirierte Körper- und Darstellungstechniken. Seine Qualitäten als Schauspieler perspektiviert er dementsprechend vor allem über eine spezifische physische Präsenz und Belastbarkeit, die er als Resultat seiner körperbasierten Arbeit im Ensemble des Théâtre du Soleil wertet: »These experiences allowed me to develop my body to complete intensive physical performances and also enriching my acting ability.«27
26 | Homepage Franck Saurel, http://francksaurel.com/EN/EN.html. 27 | Homepage Franck Saurel, http://francksaurel.com/EN/EN.html.
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Die Verpflichtung eines französischsprachigen Schauspielers für die Rolle des Bassa erstaunt zunächst insofern, als David McVicar die Dialoge des Singspiels beinahe ungekürzt und dem Libretto entsprechend in deutscher Sprache sprechen lässt. Der starke französische Akzent des Darstellers verstärkt einerseits den Aspekt des Fremden, lässt andererseits aber auch die sprachlichen Zeichen als Bedeutungsträger gegenüber den körperlich-visuellen Zeichen deutlich in den Hintergrund treten. In der Auftrittsszene trägt Franck Saurel in der Figur des Bassa den schwarzen Gehrock eines spanischen Edelmanns über einer weit geschnittenen Hose mit orientalisch anmutender Bauchbinde. Auch in der Ausstattung werden orientalisierende Elemente eines fiktiven osmanischen Palasts mit europäischen Versatzstücken kombiniert, die die Figur als Wanderer zwischen den Kulturen charakterisieren soll. Der Bassa wird in der Auftrittsszene zunächst von Bittstellern bedrängt, zieht sich dann aber in einen zunächst abgeschirmten, privaten Bereich zurück, wo er von seinen sechs Frauen als Zeichen ihrer Ehrerbietung rituell durch Handkuss begrüßt und von einer stattlichen Anzahl von Kindern umringt wird. Auf einen Wink des Bassas verlässt die Großfamilie jedoch rasch die Bühne und schafft somit den Rahmen für ein nun intimer geführtes Gespräch zwischen dem Bassa und Konstanze. Hinsichtlich der szenischen und dramaturgischen Figuration wird das (aus der Perspektive der Europäerin Konstanze) als bedrohlich wahrnehmbare Gefüge der Großfamilie und der Vielehe aus dem Blickfeld verbannt und es bleibt eine Zweierkonstellation auf der Bühne zurück, die dem bürgerlich normierten und auf Exklusivität angelegten Paarbegriff und den Intentionen des Bassas, Konstanze zu seiner Geliebten zu machen, Vorschub leisten soll. Auch in der Konfrontation der beiden Protagonist/innen setzt die Inszenierung auf eine klare Kontrastierung: Der »romanische Typ«28 Franck Saurels wird durch die blasse, fast weißblonde Erscheinung seiner Spielpartnerin Sally Matthews in der Rolle der Konstanze kontrastiert und durch das Kostüm zusätzlich betont. Recht plakativ wird in dieser Szene die farbkulturelle Logik eines dualistischen Schwarz-Weiß-Kontrastes aufgegriffen, der – wie Jana Husmann in ihrer Dissertation nachweist – in einem unübersehbaren Zusammenhang mit rassistischen Diskursen steht und seit dem Mittelalter auch mit Christen und ›Ungläubigen‹ assoziiert wird.29 Kein Wunder also, dass zum Kostüm Konstanzes auch das christliche Kreuz gehört. Im zweiten Aufzug wird die Ausgangssituation zugespitzt: Der Regisseur lässt die Begegnung zwischen dem Bassa und Konstanze in einem abendlich ausgeleuchteten Séparée spielen, in dessen Zentrum eine ausladend gepols28 | Vgl. hierzu den Aufsatz von Hanna Voss in diesem Band, in dem sie auf diese im Diskurs der Vermittlungsagenturen modellierte Typisierung hinweist. 29 | Vgl. Husmann 2010, 19.
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terte Ottomane steht. Ein halbbekleideter, stummer Diener mit schwarzer Hautfarbe (Adrian Richards) bereitet Konstanze für die Nacht vor und wird zu einem wandelnden Wiedergänger abgelegt geglaubter Stereotypen: David McVicar kann sich hier zwar auf das Libretto berufen, reproduziert aber gleichzeitig überkommene Muster theatraler Fremdheitsrepäsentationen. Das Aufeinandertreffen von Selim und Konstanze wird als ein Zusammenprall zwischen musikalischen und körperlichen Ausdrucksmitteln inszeniert: Während die Figur Konstanzes den virtuosen Gesang in der berühmten Martern-Arie als diskursiv-manipulatives Mittel bis hin zur Todesdrohung einsetzt, bleibt dem Bassa klischeekonform lediglich die Möglichkeit, seine körperliche Dominanz auszuspielen. Mit einem offenen Hausmantel und einer schwarzen Pluderhose bekleidet, stattet Franck Saurel seine Figur in dieser Szene mit einer zwischen Aggression und Verzweiflung schwankenden Gestik und Proxemik aus. Nur mühsam und unter Auf bietung größter Willenskraft scheint es dem Bassa in dieser Szene zu gelingen, sein Begehren und seine Machtansprüche im Zaum zu halten. Zwar verfehlt das körperlich zur Schau gestellte Imponiergehabe im internen Kommunikationssystem seine Wirkung, führt aber in der Rezeption zu einer erstaunlich positiven Einschätzung im Hinblick auf die Konzeption der Figur, die als beinahe unangefochtenes Zentrum des Inszenierungskonzepts wahrgenommen wird und zuweilen sogar die eigentlich genretypische Bewertung der Gesangsleistungen in den Schatten stellt.30 Dabei ist der Inszenierungsansatz an elegant bemänteltem Exotismus eigentlich kaum zu überbieten, der durch die Besetzung mit dem Schauspieler Franck Saurel zusätzlich verstärkt wird: Der Körper des Darstellers wird zur Projektionsfläche für eine klischeehafte Verknüpfung von Erotik und Exotik, der starke französische Akzent zur Metapher für Fremdheit und Alterität. Die Inszenierung belegt somit, dass binäre Oppositionen und Darstellungsmuster im Zusammenhang mit einer theatralen Repräsentation des Fremden und im Dienste einer vermeintlich historisierenden Lesart – jenseits der figuralen Ambivalenzen, die Musik und Dialog nahelegen – auch in zeitgenössischen Inszenierungen reproduziert und durch Besetzungsentscheidungen maßgeblich vorkonturiert werden.
D ie E ntführung aus dem S erail am The ater D ortmund (S piel zeit 2013/14) Einen anderen Ansatz verfolgte die Inszenierung von Jens-Daniel Herzog am Theater Dortmund. Obwohl die Rolle des Bassa sicherlich auch aus dem Schauspielensemble des eigenen Hauses zu besetzen gewesen wäre, wurde für 30 | Vgl. hierzu z.B. Picard 2015.
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die Inszenierung der Schauspieler, Musiker und Kabarettist Serdar Somuncu engagiert. Serdar Somuncu – 1968 in Istanbul geboren und im Rheinland aufgewachsen – hat am Musikkonservatorium in Maastricht und an der Staatlichen Hochschule für Musik in Essen Musik, Schauspiel und Regie studiert. Als Gast war er an verschiedenen Schauspielhäusern im deutschsprachigen Raum engagiert und wirkte in diversen Film- und Fernsehproduktionen mit.31 Mit seinen scharfzüngigen Analysen des deutsch-türkischen Verhältnisses und der Integrationsdebatte, seinen Lesereisen als ›Hassprediger‹ und Auftritten in Talkshows hat er sich in den letzten Jahren aber vor allem im Bereich des politischen Kabaretts einen Namen gemacht und dabei immer wieder auch heftige Anfeindungen riskiert, die seinem Selbstverständnis als explizit unbequemer Künstler geschuldet sind.32 Der Bekanntheitsgrad und die Medienpräsenz Somuncus spielten bei der Besetzungsentscheidung und der Erschließung neuer Publikumsschichten für das immer noch als elitär geltende Genre der Oper sicherlich eine maßgebliche Rolle. Auf dem Spielzeitplakat wird die Inszenierung explizit als Singspiel von Wolfgang Amadeus Mozart mit Serdar Somuncu als Bassa Selim angekündigt und beworben. Damit wird der Darsteller aus dem Figurationsnetz des Ensembles herausgehoben und bekommt die Funktion (und die implizite Verpflichtung) eines Publikumsmagneten zugewiesen. In mehrfacher Hinsicht arbeitet und spielt die Inszenierung von Jens-Daniel Herzog mit den kulturellen und medialen Einschreibungen, die mit der Person Somuncus verknüpft sind: Herzog siedelt die Handlung in einem als türkisch klassifizierbaren Hinterhofambiente an, für das Bühnenbildner Mathis Neidhardt ein realistisches Mietshaus im Stil der 1970er-Jahre mit Büroetage und Imbissbudenküche gebaut hat. Beherzt greifen Herzog und sein Dramaturgenteam (Georg Holzer und Hans-Peter Frings) auch in die narrative Handlungsstruktur des Singspiels ein und verschieben so zentrale Figuren konstellationen: Der Bassa leitet ein kleines Import-/Exportunternehmen, Konstanze ist seine Angestellte, die er umwirbt und die sein Werben offenbar zu einem gewissen Grad bereits erwidert hat, als Belmonte in ihr Leben tritt. Die offenbar nicht nur auf beruflicher Ebene funktionierende deutsch-türkische Zweierkonstellation wird damit zu einer Dreierkonstellation erweitert, die von Konstanze eine Entscheidung zu erzwingen scheint.33
31 | Vgl. Homepage Serdar Somuncu, http://somuncu.de/. 32 | Vgl. hierzu das Porträt von Timo Steppat in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Steppat 2016. 33 | Zu dieser inszenierungsspezifischen Lesart vgl. die Originalbeiträge von Jens-Daniel Herzog und Georg Holzer im Programmheft Die Entführung aus dem Serail, Oper Dortmund, Spielzeit 2014/15. Einen ähnlichen Inszenierungsansatz hatte Jens-Daniel
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Bei seinem ersten Auftritt trägt Selim einen zweireihig geknöpften, dunkelblauen Anzug, der ihn als einen zu Wohlstand gekommenen Geschäftsmann ausweist. Die türkischen Bewohner des Hauses (Komparsen, die gezielt gecastet wurden, und Mitglieder des Opernchores) haben sich im Hof versammelt und begrüßen ihn; obwohl Konstanze, gespielt und gesungen von Eleonore Marguerre, ihn mit Kuss und durchaus vertraulicher Umarmung begrüßt, möchte sie sein Geschenk, einen Ring als Zeichen einer engeren Verbindung, nicht annehmen. Serdar Somuncu zeichnet den Bassa durch körperliche Gesten und sprachlichen Ausdruck als eine Figur mit unerwarteten, zwischen Zärtlichkeit und Aggression oszillierenden Stimmungsschwankungen, die insbesondere im zweiten Aufzug während der sog. Martern-Arie differenziert eingesetzt werden.
Abb. 1: Serdar Somuncu (Selim) und Eleonore Marguerre (Konstanze) in Die Entführung aus dem Serail, Oper Dortmund (2013/14). © Björn Hickmann/StagePicture Entsprechend spielt Somuncu in dieser Szene mit den klischeehaften Posen aggressiver und machtbewusster Männlichkeit ebenso wie mit einem jungenhaft-adoleszenten Gestus, der die Dramatik der Entscheidungssituation durch kindliche Übersprunghandlungen (z.B. Fahren auf einem Kinder-Dreirad) aufzulösen versucht, dabei aber die emotionale Notlage der Figur Konstanzes fehlinterpretiert. Die Martern, denen sich Konstanze ausgesetzt sieht, bestehen Herzog auch für seine Inszenierung der Entführung aus dem Serail am Mannheimer Nationaltheater in der Spielzeit 2004/2005 gewählt, vgl. hierzu Jung 2007.
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also nicht in erster Linie in der Reproduktion von Dominanzgesten, sondern vielmehr in der Aufgabe solcher Gesten zugunsten einer Zurschaustellung beinahe kindlicher Verletzbarkeit und emotionaler Hilflosigkeit. Auch wenn das OnlineMusikMagazin in Somuncus Darstellung des Bassa einen »Machtmenschen mit Macho-Allüren«34 zu erkennen glaubt, verhindert nicht zuletzt das Wissen um die außertextuellen Bezugspunkte des Darstellers Somuncu eine solche eindimensionale Lesart. Dass es sich bei der Rolleninterpretation immer um ein doppelbödiges Spiel mit Klischees und Stereotypen handelt, macht auch der mit türkischen Textpassagen durchsetzte und jenseits der Vorgaben des Librettos improvisierte Schlussmonolog deutlich, in dem sich die Enttäuschung Selims über den misslungenen Dialog zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen den Kulturen bahnbricht. Die Zuschauer/innen nehmen in dieser Szene somit nicht nur den semiotischen Figurenkörper Selims zur Kenntnis, sondern verschränken diesen gleichzeitig mit dem phänomenalen Leib des Darstellers und den medialen Repräsentationsstrategien des politischen Kabarettisten Serdar Somuncu. Bis hin zum überraschenden Ende – der Bassa erschießt sich in seinem Büro – werden voreilige Kategorisierungsversuche immer wieder unterbunden und somit vielfältige (Be-)Deutungsmöglichkeiten freigesetzt.
D ie O per : E in »R äderwerk der R oboter «? Die Besetzung der Figur des Bassa Selim dürfte im Vorfeld jeder Inszenierung von Mozarts Entführung aus dem Serail für erheblichen Gesprächsstoff bei den Verantwortlichen, der Theaterleitung, der Regie, der Dramaturgie und dem (Opern-)Ensemble sorgen: Dabei wird es nicht nur um eine dramaturgische Verortung der Figur im Kontext der Inszenierung gehen, sondern auch um weitergefasste Figurationsnetze und Diskursfelder, in die sich jede szenische Realisierung einschreibt bzw. einschreiben will. Bezogen auf die Figur des Bassa Selim ist das Spektrum der Besetzungsentscheidungen der letzten Jahrzehnte in der Tat beachtlich: Es reicht vom kompletten Verzicht auf die Figur und einer daran gekoppelten Umverteilung oder Streichung des Sprechtextes35 über eine gegengeschlechtliche oder geschlechtsneutralisierende Besetzung36 34 | Molke, www.omm.de/veranstaltungen/musiktheater20132014/DO-die-entfueh rung-aus-dem-serail.html. 35 | Vgl. hierzu z.B. die Inszenierung von Stefan Herheim bei den Salzburger Festspielen aus dem Jahr 2003. 36 | In einer Koproduktion des Stadttheaters Freiburg mit dem Lucerne Festival besetzte Joachim Schlömer 2008 die Figur des Bassa mit der Schauspielerin Marianne Hamre und entkoppelte damit klischeebehaftete Verknüpfungen von Macht und Geschlecht.
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bis hin zur Verpflichtung prominenter Darsteller/innen aus Theater, Film und Fernsehen.37 Dabei können – wie exemplarisch an den beiden Fallbeispielen gezeigt – normative Kategorisierungen im Zusammenhang mit Repräsentationsmodi von Alterität sowohl (re-)aktiviert als auch unterlaufen werden. Die Darsteller/innen, ihre körperliche Disposition und sozial-mediale Verortung werden zwar im Dienste verschiedener Inszenierungskonzepte funktionalisiert und kategorisiert, aber indem sich das theatrale Transgressionsversprechen bei näherem Hinsehen immer wieder als brüchig erweist, entstehen – auch im normierten und reglementierten Opernbetrieb von Festivals, Stadt- und Staatstheatern – Freiräume, die es Darsteller/innen erlauben, ein figuratives Netz an Assoziationsräumen und -möglichkeiten freizusetzen und spielerisch auszuhandeln. Die Rede von der »Re/produktionsmaschine Oper« oder dem »Räderwerk der Roboter« mag mit Blick auf Fragen der Disposition, des immer noch verbreiteten Starkults oder bestimmter Erwartungshaltungen, die an das populäre Opernrepertoire herangetragen werden, durchaus eine Berechtigung haben. Der Vielfalt der Interpretationsansätze, der Auffüh rungs- und Besetzungspraxis, kurz: dem facettenreichen Figurationsfeld der Oper wird sie jedoch nicht gerecht.
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A bbildungsverzeichnis Abb. 1: Serdar Somuncu (Selim) und Eleonore Marguerre (Konstanze) in Die Entführung aus dem Serail, Oper Dortmund (2013/14). © Björn Hickmann/ StagePicture.
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Cross-Dressing und Queerness auf der Bühne Konvention versus Irritation Katharina Rost
Es ist ein spezifisches Aufführungserlebnis, das mich veranlasst hat, ein Phänomen aufzugreifen, das weder als Bestandteil der Theaterpraxis noch als Gegenstand der Theaterwissenschaft neuartig ist, und zwar: die Praxis des Cross-Dressing auf der Bühne. Häufig greifen gegenwärtige Shakespeare-Inszenierungen auf Cross-Dressing-Praktiken zurück, so beispielsweise Roger Vontobels Wie es euch gefällt (2015, Schauspiel Köln), Karin Henkels Macbeth (2011, Münchner Kammerspiele) und Stefan Puchers Der Sturm (2007, Münchner Kammerspiele). In Michael Thalheimers Was ihr wollt (2008, Zelt vor dem Deutschen Theater, Berlin) ist neben dem Cross-Dressing und dem damit zumeist einhergehenden Cross-Gender Casting – auf der Bühne sind wie zu Shakespeares Zeit ausschließlich Männer zu sehen – aber zudem eine besondere Art von Körperlichkeit erlebbar, der sich meines Erachtens stärkere Effekte von Queerness zuschreiben lassen, als dies in Bezug auf das Cross-Dressing der Fall ist. So werden von dem Schauspieler Stefan Konarske als Viola/Cesario starke Zustände der Nervosität und Fragilität zum Ausdruck gebracht, wobei das permanent anhaltende Zittern und Zucken weniger mit den einzelnen Ereignissen der Handlung als vielmehr mit der grundsätzlichen Ambivalenz und Nicht-Kategorisierbarkeit dieser Figur verknüpft zu sein scheint. Meine folgende Auseinandersetzung mit dieser Verkörperungsweise möchte an den bestehenden Diskurs um das Cross-Dressing im Theater anschließen und einen Beitrag zum Verhältnis von Schauspiel, Körperlichkeit und Queerness erbringen. Mit Bezug auf Judith Butler verstehe ich queerende Prozesse als Unterbrechungen einer kohärenten heteronormativen Verbindung zwischen Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren.1 Hinzukommt Eve Kosofsky Sedgw icks Prägung von Queerness als Möglichkeitsraum, aus dem heraus sich in der Materialisierung alternativer Geschlechtsidentitäten Vielfalt und 1 | Vgl. Butler 1993, 17-32.
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Mehrdeutigkeit entwickeln können.2 Darüber hinaus steht Queerness nach Michael Warners Verständnis grundlegend mit einer verkörperten Kritik an »Regimes der Normalität«3 in Zusammenhang. Die genannten Dimensionen des Begriffs sind für die Verkörperungsweise Konarskes relevant, da sich in ihr, wie ich meine, sowohl eine ambivalente Geschlechtlichkeit zeigt als auch ein Hinterfragen der Bestimmungen von kulturell als ›normal‹ oder ›erwünscht‹ erachteter Körperlichkeit ereignet.
V iol a /C esario als F igur des C ross -D ressing Viola ist eine der Shakespeare’schen Figuren, die sich historisch bekanntermaßen durch ihr doppeltes Cross-Dressing auszeichnen: Im Globe Theatre verkörperte ein jugendlicher Darsteller eine Frauenfigur, die sich im Verlauf der Aufführung durch Verkleidung und Verstellung wiederum in einen jungen Mann verwandelt. Neben Rosalind/Ganymede aus Shakespeares Wie es euch gefällt gilt Viola/Cesario daher in der Theorie zum Cross-Dressing als Paradebeispiel für die Möglichkeiten performativer Verwirrung und Subversion normativer Geschlechterkategorien. Viele Autor/innen weisen der theatralen Praxis des Cross-Dressing grundlegend das Potential zu, das Instabile, Wandlungsfähige, Fluide und Performative von Geschlechtsidentitäten herauszustellen. So befindet Susan Zimmerman, dass das Cross-Dressing auf den Renaissance-Bühnen zu einer »erotic dynamics that deconstructs gender itself«4 führe, Marjorie Garber betont die »centrality of the transvestite as an index of category destabilization«5, Lesley Ferris, dass »the cross-dressed actor reveals that gender is socially constructed«6, Alisa Solomon meint, »surely seeing boys in these roles [...] deconstructs gender essentialism«7 und Chad A. Thomas stellt fest, »[…] for Shakespeare’s ›transvestite heroines‹, such as Twelfth Night’s Viola, gender is certainly performative«8. Andererseits wird zugleich aber häufig kritisiert, dass im Cross-Dressing eine Fortschreibung und Festigung binär angelegter, essentialistischer Geschlechterkategorien erfolgt.9 Die Kleidung wird in ihrer Funktion als Verkleidung in den Fokus gerückt – »Much of the controversy
2 | Vgl. Sedgwick 1993, 8. 3 | Warner 1993, xxvi. 4 | Zimmerman 1992, 8. 5 | Garber 1992, 36. 6 | Ferris 2014 [1998], 168. 7 | Solomon 1997, 31. 8 | Thomas 2010, 104. 9 | Vgl. Howard 1993, 32f.; vgl. Bullough/Bullough 1993, 77; vgl. Lublin 2011, 5.
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was played out over clothes«10 –, der sich zwar einerseits eine mithin starke Wirkungsweise zuschreiben lässt, mit der andererseits aber ein Begriff von Geschlecht einhergeht, nach welchem dieses als ›eigentlich‹ aufzufassen ist, da es ja nur überdeckt und oberflächlich verändert wird. Es ging hier auch historisch, so Jennifer Drouin, nicht primär um eine Auseinandersetzung mit Gender-Kategorien, sondern allein um das Erreichen einer möglichst realistischen Darstellung der Bühnenhandlung.11 Werden Shakespeare-Produktionen heutzutage mit einer ausschließlich weiblichen oder männlichen Besetzung umgesetzt, lässt sich dieser Vorgehensweise ebenfalls keineswegs sofort das Potential zuweisen, Gender-Kategorien infrage zu stellen. Vielmehr handelt es sich dabei um eine dem Publikum – zumindest im Rahmen eines Wissens um die Theatergeschichte – vertraute Darstellungspraxis, die aufgrund ihrer Erwartbarkeit und Konventionalisierung nicht per se subversiv wirksam ist.12 Vielmehr ist das Verhältnis des Cross-Dressing zur Verkörperung stärker zu berücksichtigen und in die Betrachtung einzelner Beispiele einzubeziehen. In diesem Kontext halte ich auch Ellen Kobans Vorschlag, den Begriff CrossDressing, der nur die äußere (Ver-)Kleidung betont und damit zu kurz greift, durch den Begriff Transgender Acting zu ersetzen, für überaus sinnvoll.13 Im Folgenden konzentriere ich mich auf ein Beispiel solchen Transgender Acting, um diesbezüglich einer spezifischen Ausprägung in der Verkörperungsweise des Fragilen nachzugehen.
Q ueerness als E ffek t fr agiler K örperlichkeit Michael Thalheimers Inszenierung von Shakespeares Was ihr wollt hatte 2008 Premiere im Zelt vor dem Deutschen Theater in Berlin. Der Boden ist mit dampfender Erde bedeckt, von der Decke regnet es unablässig, die Luft ist feucht und schwer. Nach und nach verwandelt sich die Erde zu einem Meer schlammigen Matsches, durch den die Figuren waten müssen. Gräfin Olivia wird von Ingo Hülsmann mit lautstarker Exaltiertheit und überzogener Dramatik, deren Zofe Maria von Matthias Bundschuh mit melancholischer Stimmung und nüchternem Realismus verkörpert. Daneben gibt es eine weitere Frauenfigur, die von einem Schauspieler dargeboten wird und die in ihrer Eigenart aus dem Rahmen fällt: Viola, von Stefan Konarske dargestellt, zittert permanent und scheint in einem Zustand von Nervosität gefangen zu sein. Ergibt der körperliche Zustand höchster Wachsamkeit und angespannter Er10 | Solomon 1997, 29. 11 | Vgl. Drouin 2008, 25. 12 | Vgl. Drouin 2008, 25. 13 | Vgl. Koban 2014, 34.
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regung zunächst im Rahmen der Handlung noch Sinn, da Viola ja gerade der Gefahr des Ertrinkens entkommen und an einer ihr fremden Küste gestrandet ist, wird im Verlauf der zweistündigen Aufführung deutlich, dass sich diese starke Nervosität nicht einfach als Ausdruck situationsbedingter Ängstlichkeit lesen lässt – vielmehr zeigt sie sich als grundlegende Verkörperungsweise dieser Figur, die dem Modus des Exaltierten bei Hülsmann entspricht, dabei aber auf andere Art wirksam wird. Beide Darstellungsweisen führen einerseits zur Hervorbringung der jeweiligen Figuren, doch andererseits überschreiten sie diese Ebene auch, indem sie – bei Hülsmanns Gräfin Olivia durch Übertreibung und Theatralität, bei Konarskes Viola/Cesario durch Dauerhaftigkeit und Affektion – auf diese Verkörperungsprozesse an sich hinweisen und damit den Rahmen der Bühnenhandlung auf brechen. Ließen sich Hülsmann dabei komische Elemente zusprechen, die im Publikum immer wieder zu Lachern führen, ist in Bezug auf Konarske eher von einer aus dem zeitgenössischen Tanz entlehnten Art der fragilen Körperlichkeit auszugehen, die sich selbst in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt und dabei im Publikum aufgrund ihrer Unerklärbarkeit zu Irritation führen kann. In der Zusammenführung von Kleidung, Accessoires, Make-up und dem Körper entstehen, so Gertrud Lehnert, »grundsätzlich eigenständige Körper, die den anatomischen Körper gleichsam substituieren bzw. im Zusammenspiel mit ihm ein eigenständiges Drittes, den Modekörper, hervorbringen«14. Lehnerts Konzept bezieht die verschiedenen Aspekte von Körperhaltung, Bewegungsweisen und Gestik mit ein, da sie es sind, welche die äußere Form, die Figur bzw. Figuren des Modekörpers, »deren formale Prinzipien dem Grotesken analog sind«15, entscheidend prägen. Im Ausgang von diesem Verständnis einer durch Bekleidung, Bewegung und kulturelle Deutungsprozesse gekennzeichneten, eigenständigen Körperlichkeit wird im Folgenden ein Spektrum derjenigen Verkörperungsdimensionen aufgezeigt, über die der Schauspieler Konarske die Figur Viola/Cesario hervorbringt und in der Übersteigung der Figurenkonstitution die Zuschauenden affiziert.
I. Das Wandelhafte Der Wechsel der Kleidung, der aus Viola im Rahmen der Bühnenhandlung den jungen Mann Cesario macht, wird auf der Bühne sichtbar vollzogen. Die in tief dunkelblaues Licht getauchte, matschbedeckte Bühne ist nur spärlich beleuchtet, der konstant tröpfelnde Nieselregen erfüllt die Luft im Zelt, im Halbdunkel ist schemenhaft zu erkennen, wie Stefan Konarske als Viola den bodenlangen Rock und die Wolljacke auszieht, die kleine Handtasche, die sie 14 | Lehnert 2013, 10. 15 | Lehnert 2013, 11.
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zuvor noch mit beiden Händen fest vor dem Bauch gehalten hat, loslässt, den BH öffnet, sich nun halbnackt krümmt, kurz die Arme um sich schlingt, sich schamhaft zum Schiffshauptmann umdreht und schließlich dann dessen weißes Hemd und schwarze Hose sowie die eigene enge Wolljacke überzieht. Den Übergang von Viola zu Cesario stellt Konarske nicht durch eine Veränderung der Darstellungsweise dar, sondern er erfolgt nahezu ausschließlich im Tausch der Kleidung. Dies referiert erneut auf das Theater Shakespeares zu einer Zeit, in der, wie Lesley Ferris hervorhebt, »the clothes literally stood for the women«16. Der Wechsel vom Rock zur Hose ist nicht erstaunlich, da es sich um historisch stark geschlechtsbezogen markierte Kleidungsstücke handelt, die den Wechsel vom ›Weiblichen‹ zum ›Männlichen‹ symbolisieren können. Gertrud Lehnert konstatiert, dass »der Rock nach wie vor für Männer Tabu [ist], so wie es die Hose jahrhundertelang für Frauen war«17. Wie John Hopkins betont, sind vor allem die Schnitte, Stoffe, Farben und Muster keineswegs neutrale, sondern weiterhin geschlechtsbezogen differenzierte Aspekte.18 Übertragen auf die Kleidung, die Viola als Cesario trägt, lässt sich allerdings keine eindeutige Zuordnung vornehmen, was möglicherweise zu Irritationen auf Seiten der Zuschauenden führt. Cesarios Aussehen rekurriert nicht auf bestehende kulturelle Vorstellungen möglicher männlicher Identitäten. Vielmehr vermischen sich bei diesem Modekörper gleichermaßen ›männliche‹ wie ›weibliche‹ Elemente: das weiße Hemd, per se eher ein typisch ›maskulines‹ Kleidungsstück, wirkt aufgrund seiner weichen, dünnen Stofflichkeit eher wie eine Bluse. Auch die ›weiblichen‹ Aspekte der längeren Haare, des Ohrrings und des edlen Handschuhs aus Spitze werden nicht versteckt oder abgelegt. Auffällig ist, dass eben nur ein Ohrring und nur ein Handschuh zu sehen sind, sodass Viola/Cesario von der einen Seite eher ›weiblich‹, von der anderen eher ›männlich‹ aussieht und sich in dieser Zweiseitigkeit die Mehrgeschlechtlichkeit dieser Figur offenbart.
II. Das Introvertierte Viola/Cesario verkörpert das Gegenteil eines kulturell geprägten Begriffs ›männlicher Stattlichkeit‹. Die Wolljacke ist zu klein und lässt sich eher als ›Wolljäckchen‹ umschreiben, in das sich der junge Mann hineingepresst hat. Das lange Haar hängt ins Gesicht, die Schultern fallen nach vorn, die ganze Haltung ist in sich verkrampft. Enge und Anspannung manifestieren sich in dieser Körperlichkeit, die keinen großen Radius besitzt. Violas/Cesarios Arme hängen zumeist gerade herab, eng am Torso anliegend. Manchmal werden sie 16 | Ferris 2014 [1998], 166. 17 | Lehnert 2013, 39. 18 | Vgl. Hopkins 2011, 35.
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vor dem schmächtigen Oberkörper verschränkt. Konarske stellt damit Körperhaltungen aus, die an ein durch kulturelle Prägung hervorgebrachtes, stereotyp ›weibliches‹ Verhalten erinnern, das sich durch eine stark verminderte raumgreifende Ausbreitung auszeichnet, wie Iris Marion Young kritisch herausstellt: »Women generally are not as open with their bodies as men in their gait and stride.«19 Auch bei körperlichen Interaktionen – wie dem leidenschaftlichen Kuss mit dem Herzog Orsino oder dessen vehementem Angriff – verhält sich Viola/ Cesario zurückhaltend, nahezu passiv, lässt sich z.B. von ihm mit der Hand ins Gesicht greifen und bis fast auf den Boden herunterdrücken. Häufig wendet sie/er sich von Gesprächspartner/innen ab, selten blickt sie/er ihnen direkt in die Augen. Viola/Cesario ist in diesem Umfeld ein Außenseiter, schüchtern und permanent körperlich abgewandt. Sie/er weicht ab von einem Verständnis von ›Normalität‹, das diese in Eigenschaften wie z.B. Leistungsbereitschaft, Geradlinigkeit, Selbstbewusstsein oder starker Physis verortet. In ihrer/seiner Schüchternheit und Ängstlichkeit erfüllt sie/er nicht das Ideal des maximal souveränen, sich kontinuierlich selbst optimierenden Subjekts, wie es Paula-Irene Villa für die westlichen Gesellschaften der Gegenwart herausstellte,20 sondern lässt sich eher mit dem Begriff des Freak, wie Renate Lorenz ihn verwendet, als normabweichend verstehen. »›Freak‹ does not mark any position in the aside, but instead marks a movement of distantiation, of keeping distance from ideals of being-white, being-heterosexual, being-normal, being-efficient.«21 In diesem Sinn ist die Verkörperung auch als queered einzuschätzen, da sie sich den Ansprüchen des ›Normalen‹ oder gar des ›Optimalen‹ entzieht. Wenn die Gesten ins Leere laufen, zeigt sich darin eine Körperlichkeit der Ziellosigkeit, der Ungeschicklichkeit oder der Unkontrolliertheit.
III. Das Ner vöse Zumeist steht Viola/Cesario verkrampft und leicht vornübergebeugt im Hintergrund der Bühne, der Kopf huscht verschreckt von links nach rechts oder duckt sich tief zwischen die hochgezogenen Schultern. Dieses Wesen wirkt wie ein verängstigter Vogel, in größter Alarmbereitschaft. Der wachsame, fragile Körper ist in ruheloser Bewegung, aufgeregt hin und her blickend, um weitere Gefahren abzuwehren. Das Vogelartige verweist auf eine weitere Markierung, die in Bezug auf Körperdifferenzierungen vorgenommen wird, und zwar auf die Grenze zwischen dem menschlichen und dem nicht-menschlichen Körper. Es ist das ›Andere‹ des Humanen, das sich Konarskes Darstellung in diesen
19 | Young 1980, 142. 20 | Vgl. Villa 2008, 8. 21 | Lorenz 2012, 27.
Cross-Dressing und Queerness auf der Bühne
Momenten zuschreiben lässt.22 Die von Konarske zur Erscheinung gebrachte Körperlichkeit ist ein statischer Körper in steter Bewegung. Es handelt sich um keinen seienden und festschreibbaren, sondern einen kontinuierlich im Werden und Wandel befindlichen, kategorial somit nicht fassbaren Körper. Das Nesteln an der eigenen Kleidung wird zum charakteristischen Bewegungsmotiv – ständig sind die Hände in Bewegung, ohne dass große Gesten vollführt würden, vielmehr hantieren sie permanent am eigenen Körper, an der Kleidung herum. Besonders auffällig ist auch das während der gesamten Aufführung beibehaltene Zittern Violas/Cesarios, das phasenweise stärker, dann wieder weniger stark ist.23 In dieser steten Dynamik des Zitterns und Vibrierens kommt eine Körperlichkeit zur Erscheinung, die sich in ihrer Begrenzung nicht festlegen lässt, die sich ständig verändert und die nie klar umrissen werden kann. An Konarskes Verkörperungsweise zeigen sich ähnliche Strategien wie im zeitgenössischen Tanz, wenn vielfältige und alternative Weisen, Körper zu sein, vorgeführt und ausgestellt werden. Gabriele Brandstetter spricht von »Transfiguration«24, durch welche die Körper der Tanzenden sich in ihrer Form wandeln, indem sie sich z.B. ein- oder ausstülpen. In seinen dramaturgischen Notizen zu Meg Stuarts Arbeit Disfigure Study (1991) geht André Lepecki von einem »fractal space of self«25 aus, einem verräumlichten Körper-Selbst, das sich in den beständigen Kleinstbewegungen des Zuckens, Vibrierens und Schüttelns auftut. Stuarts No Longer Readymade (1993) analysiert Susanne Foellmer in seiner fünfteiligen Struktur, »mit der Krise des Schüttelns in der Mitte«26, einer Krise, in der sich der »groteske Gehalt«27 dieser Arbeit manifestiere, da der Körper »in seiner Gratwanderung zwischen De-Formierung und Ver-Haltung«28 gezeigt werde. Das Zittern Konarskes als Viola/Cesario ist nicht dasselbe Zittern, wie es in den genannten Tanzperformances gezeigt und erfahrbar wird; es ist eingebunden in eine dramatische Handlung, es findet im Kontext einer Schauspielaufführung statt und fungiert u.a. als Element der Figurenkonstitution. Doch überschreitet es diesen Rahmen meines Erachtens durch seine unbegründete Dauerpräsenz auch, indem die Materialität des Körpers, der hier zittert, in den Fokus gerät, wobei gleichzeitig die Frage, wer hier denn eigentlich zittert, unbeantwortet bleibt. Gerko Egert nimmt Bezug auf eine von Meg Stuart und Damaged Goods vollzogene Probenübung, bei der 22 | Vgl. Brandstetter 2010a, 1-11. 23 | Das Zittern Violas wird im Rahmen der Bühnenhandlung weder deutlich motiviert, noch von den anderen Figuren registriert, geschweige denn kommentiert. 24 | Brandstetter 2010b, 346. 25 | Lepecki, http://sarma.be/docs/593. 26 | Foellmer 2009, 339. 27 | Foellmer 2009, 340. 28 | Foellmer 2009, 340.
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die Tänzer/innen »aufgefordert [sind], eine Stunde lang zu zittern, bis sie sich selbst in diesen Bewegungen auflösen«29. Was sich daran zeigt, ist, dass der Prozess des steten Zitterns zur Auflösung der sonst deutlicher spürbaren leiblichen Begrenzungen führen kann und sich das sonst innerhalb dieser Grenzen verortende ›Selbst‹ nun in den Umgebungsraum hinein erstreckt. Anstatt wie bei großem Schreck vor Anspannung die eigene Positioniertheit im Raum nur umso stärker zu spüren, da der Körper sich auf einen zentralen Leib-Punkt hin zusammenzieht, öffnet sich das leibliche Empfinden im Zittern, Bibbern, Schlottern und Vibrieren hin auf den Raum und verliert die ihm sonst eigene Hierarchisierung in ›Selbst‹ und ›Nicht-Selbst‹ bzw. ›Bei-sich-‹ und ›Außersich-Sein‹.
IV. Das (Aus-)Fließende Noch stärker zeigen sich solche Auflösungserscheinungen an den Berührungen mit den Materialien in der Umgebung: Der feine Nieselregen bedeckt Violas/Cesarios Gesicht, durchnässt Haare und Kleidung, lässt Lidschatten und Lippenstift zunehmend verschwimmen. Es ist, als ob sämtliche Konturen verwischen – die Festigkeit der körperlichen Materialität, die mit dem Wasser und der zunehmend schlammigeren Erde in Austauschverhältnisse tritt, beginnt sich aufzulösen. Im Verlauf der Aufführung wird Violas/Cesarios Körper zunehmend von einer dichter werdenden, feuchten Schlammschicht bedeckt. Nach einem leidenschaftlichen, fast brutalen Kuss mit Herzog Orsino stößt dieser sie/ihn in den Matsch. Später, und zwar in dem Augenblick, da sie begreift, dass Gräfin Olivia sich in sie als Cesario verliebt hat und meint, es täte ihr besser, sich in einen ›Geist‹ verliebt zu haben, wirft Viola/Cesario sich selbst noch einmal hinein, das Gesicht voran, tief in die weiche, feuchte Erde und pflügt durch sie hindurch. Als sie/er auf blickt, ist das Gesicht schlammbedeckt, einzelne Klumpen rutschen ihr/ihm übers Gesicht, den Hals hinab. Die Merkmale eines noch menschlichen Gesichts gehen verloren, die ›Person‹ als solche wird zunehmend unkenntlicher. Wasser und feuchte Erde treten in Relation zu Viola/Cesario, sie werden teil ihrer/seiner Körperlichkeit. Sie/er nimmt den Ekel an, der mit – an Fäkalien erinnerndem – ›Matsch‹ verbunden ist und übertreibt das ›Matschige‹ an sich selbst, trägt es über das ganze Gesicht verteilt und stellt es damit in aller Öffentlichkeit aus. Als einzige Figur ist Viola/Cesario von diesem Stigma gekennzeichnet, das sie/er selbst noch verstärkt. Sie/er suhlt sich in der Erde und überzieht ihren/seinen Körper vollständig mit diesem ›Dreck‹, als ob damit eine andere Art von Cross-Dressing vollzogen werden könnte. Diese Identifikation mit dem ›Dreckigen‹ kann auf gewisse Weise als Versuch des empowerment interpretiert werden. Indem Vio29 | Egert 2016, 51.
Cross-Dressing und Queerness auf der Bühne
la/Cesario die ausgeschlossene Dimension für sich besetzt, schöpft sie/er daraus eigene Stärke und markiert den Ausschluss im Vorführen seiner eigenen Mechanismen. David Harradine bezieht sich auf den leckenden, tropfenden Körper, der aus dem Bereich idealer Körperlichkeit ausgeschlossenen ist, wenn er ausführt: »[P]erformances of the abject body […] foreground the impossibility of maintaining those boundaries which attempt to separate the queer […] from a normatively heterosexual hegemony that produces them as excluded dirt.«30 ›Dreck‹ fungiert somit als Metapher für das aus dem normativ begrenzten Bereich des Legitimierten ausgeschlossene Queere, für all diejenigen queeren Körper, die den Ansprüchen an disziplinierte und zivilisierte Körper nicht entsprechen. Viola/Cesario tritt als das ›Verworfene‹ in Erscheinung, das aufgrund des ihm zugewiesenen Status der ›Anormalität‹ ausgeschlossen wird.
S chlussbemerkung Das permanente, nervöse Zittern Stefan Konarskes, der Viola/Cesario darstellt, deutet auf einen auffallend fragilen Körper bzw. eine offenbar höchst sensitive, verletzliche Identität hin. Diesem Zustand der Nervosität als kontinuierlichem Ausnahmezustand der physischen wie scheinbar auch emotionalen Erregung ist nachzugehen. Er ist mit einem Verständnis von Körperlichkeit und Subjektivität in Verbindung zu bringen, das gerade nicht mehr auf einer binären Opposition von Intaktheit und Versehrtheit, Gesundheit und Krankheit, Kontrolliertheit und Leidenschaft oder Beherrschtheit und Außer-sich-Sein beruht. Es handelt sich um das Erzeugen und Vorführen eines abweichenden Körpers und Subjekts, das sich weder der räumlich-körperlichen Position, die es innehat, sicher zu sein scheint, insofern es mit seinem Zittern in einer dynamischen Bewegung und Bewegtheit verbleibt, noch einer soziokulturellen Verortung standhalten kann, geschweige denn will. So zeigt die Art des Sich-Gebens nicht auf, welcher soziale Status, welches Geschlecht, welche Herkunft etc. sich dieser Person – ein Status, der nach längerem Wahrnehmen des Zitterns ebenfalls ins Wanken gerät –, also diesem scheinbar menschlichen ›Wesen‹ zuweisen ließen. Auf diese Weise wird die – zuletzt dringlich von Judith Butler gestellte – Frage virulent, was ein legitimer Körper und darüber hinaus im weiteren Sinne auch, was ein legitimes Subjekt ist bzw. sein könnte. Konarskes Verkörperungsweise stellt einen Begriff und ein Ideal von anerkannter Subjektivität infrage, das diese auf dem ›Bei-sich-Sein‹ der Person begrenzt und von Souveränität als höchstem Wert ausgeht. Verletzbarkeit und Schwäche werden in und durch Konarskes Körperlichkeit als mögliche Formen legitimer Subjektivität sichtbar gemacht. Viola/Cesario ist eine Figur, die nicht die vollständige 30 | Harradine 2000, 74.
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Kontrolle über sich besitzt; vielmehr zeigt sich an ihrer/seiner Körperlichkeit permanent ein nicht zu bändigender Exzess an Lebendigkeit und Empfindung. Dieser wirkt nicht allein über Interpretationsprozesse auf das Publikum, sondern vermag es mit seiner unsteten Dynamik und hohen Anspannung ebenfalls, die Zuschauenden in ihrer eigenen leiblichen Befindlichkeit zu affizieren.
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Address unknown – Return to Sender Zurückweisende Sprechakte und alternative Körperbilder in zeitgenössischen Performances Philipp Schulte
»A ber je t z t mal ’ ne andere F r age : N ach was geh ’ n die denn eigentlich ?« Auf der durch einen riesigen dunkelgrün schimmernden Vorhang nach hinten abgegrenzten schwarzen Blackbox-Bühne des Frankfurter Künstlerhauses Mousonturm im März 2013: ein fast unentwegt sprechender Frauenchor, inszeniert von den Regisseurinnen Marion Schneider und Susanne Zaun. Rhythmisiert, musikalisiert arbeitet er sich sprachlich an etwas ab – was das ist, wird klar, wenn man hinhört: »Die wird bestimmt nicht genommen wegen der Größe. Aber ich will einfach nur rein. die ist doch auch klein die ist doch auch klein. Ja oder nein. Ich mein, die ist doch keine 1,70. Die wirkt schon groß. Geht. Dann geh doch weil wenn die jetzt bei den anderen da steht ganz nach vorne! Ich seh die gar nicht da stehen. Stell dich da. Neben der Blonden. Einfach hin. Oh! Siehst du? Zu klein. He, weißt du, was da drin grad abgeht? Kommt da jemand weiter? Diese Braunhaarige? Die da bis eben grad hier stand? Aber, die haben eh alle so hohe Schuhe an. Ja, naja, 1.63. Hübsch. Deine Freundin ist jetzt schon so halb in der Mitte. Oder ok, naja, zwei Meter weiter. Die hat normal lange Haare. Die hatte mal ganz lange Haare und die dumme Sau, na, ich denk mal, als drittes kommt die dran, hat die sich einfach, 2,4,6, abgeschnitten. 2,4,6, irgendwann fucken die langen Haare dich so ab, die fucken dich so, die gehen
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Philipp Schulte dir so auf den Sack, eh. Wo ist denn eigentlich, meine Mein Gott, die steht da immer noch. Aber jetzt mal ’ne andere Frage: Nach was geh’n die denn eigentlich?«1
Die Szene stammt ungefähr aus der Mitte der Performance Mit den Beinen im Bauch. Eine Nabelschau von Schneider und Zaun; mit Chören, Frauenchören, Mädchenchören, arbeiten sie oft, und oft nehmen sie sich Texte aus Alltagsund Popkultur, die, zunächst ganz ohne literarischen Anspruch, dann auf der Bühne musikalisiert und dekonstruiert – in Derridas Sinne einer Arbeit an Begriffssystemen – werden. Dahinter steckt der Ansatz, dass das Theater ein Ort ist, der prädestiniert ist für Sprachreflexion und kritik, und dass ein Theater, das gesellschaftskritisch agieren will, immer auch sprachkritisch agieren muss. Eine effektive Gesellschaftskritik muss sich darüber im Klaren sein, dass die symbolische Ordnung, die Gesellschaft konstituiert, in erster Linie eine sprachliche Ordnung ist. Sprachkritisches Theater kann nur produktiv sein, wenn es sich der Materialität und Klanglichkeit von Sprache bewusst ist und diese immer wieder neu erkundet, betont, ausreizt und variiert. Ein deutlicheres Material als in der Nabelschau hätten sich Schneider und Zaun dabei kaum suchen können. Der Text setzt sich fast vollständig aus O-Tönen zusammen, genauer aus einem einzigen, langen Gespräch, das Zaun im Frühjahr 2013 in der Lounge des Frankfurter Radisson-Hotels belauscht und heimlich aufgezeichnet hat. Es wurde geführt zwischen einigen jungen Frauen, Mädchen, deren Freundinnen zeitgleich an einem großen Casting zum bekannten TV-Format Germany’s next Topmodel, by Heidi Klum teilnahmen. Durch eine große Fensterscheibe konnten die Gesprächsteilnehmerinnen – in einer Situation, die man besten Gewissens als teichoskopisch bezeichnen kann –beobachten, was im Warte- und Garderobenbereich passierte, wer sich wie anzog und schminkte, wer in den Juryraum vorgelassen wurde und wer entweder begeistert oder enttäuscht wieder heraus kam. »Wonach die denn eigentlich geh’n«, ist die alles strukturierende Frage des Polylogs: Grundmaterial der Nabelschau ist ein über dreistündiger Text über Körpermaße, über zu kurze Beine, zu kurze Haare, zu kleine Nasen. Gerade Casting-Shows sind es, anhand derer sich die Grundzüge von Judith Butlers Modell einer symbolhaften Diskursmacht, die performativ auf unsere Sprache, auf unser Denken und auf unsere Körper einwirkt, ja sie zuallererst definiert und prägt, besonders gut deutlich machen lassen.2 Eine mehrköpfige, sich professionell gebende Jury vermittelt jungen Frauen und Mädchen, wie sie sich zu geben und wie sie aus1 | Vgl. unveröffentlichter Mitschnitt einer Aufführung der Performance Mit den Beinen im Bauch. Eine Nabelschau, Regie: Marion Schneider, Susanne Zaun, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt a.M., 2013. 2 | Vgl. z.B. Butler 1991.
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zusehen haben, um als schön zu gelten und dadurch besser in der Lage zu sein, Haarpflegeprodukte und Softgetränke an den Mann und die Frau zu bringen. Das Vokabular und die Ideale dieser mittlerweile über zehn Jahre alten Fernsehsendung unter der Ägide des Topmodels Heidi Klum werden virulent und beeinflussen das Denken und die Körperbilder einer ganzen Generation von Fans und solchen, die es niemals werden wollten. Was Schneider und Zaun nun tun, ist im Prinzip ein klassisches dekonstruktivistisches Verfahren. Sie reißen diese Sprachform aus ihrem ursprünglichen Kontext, berauben sie damit ihrer scheinbaren Natürlichkeit, nach Butler bekanntlich ein lediglich rückwirkender Effekt der Evidenzbehauptung,3 und spiegeln sie anders formalisiert, als durch andere Körper vermittelte Form zurück. Die Zuschauer/innen im Theater werden zu Beobachter/innen zweiter Ordnung und können sich lustvoll einen Eindruck von den Wirkmechanismen diskursiver Macht verschaffen.
R e /produk tionsmaschine K unst Ich möchte hier anhand der Nabelschau eine dreiteilige Aufgliederung der Idee der Reproduktion vorschlagen, deren erste zwei Stufen gerade schon angedeutet wurden, nennen wir sie vorläufig Reproduktion und Reproduktion+. Den Unterschied kann man mithilfe von Louis Althussers Ideologieverständnis auf der einen und z.B. Michel Foucault und Butlers Kritikverständnis auf der anderen Seite verdeutlichen. Mit der Anrufung »He, Sie da!«4 leitet Althusser sein berühmtes Beispiel des Polizeibeamten ein, der ein Individuum adressiert, das sich darauf hin umwendet und »durch diese einfache Wendung um 180 Grad zum Subjekt«5 wird. Wichtig ist dabei nun, dass Althusser nicht wirklich an diese zeitliche Abfolge und somit die unabhängige Existenz eines vorsubjektiven Individuums glaubt. Stattdessen konstatiert er fatalistisch: »Die Ideologie hat sich immer schon an die Individuen als Subjekte gerichtet, was wiederum auf die Präzisierung hinausläuft, dass die Individuen immer-schon durch die Ideologie als Subjekte angesprochen werden. […] Die Individuen sind immer-schon Subjekte.«6 Sie sind das selbst vor ihrer Geburt, der Begriff des Individuums wird hier also rein abstrakt begriffen – gemäß Althussers hier formulierter Position gibt es kein Außerhalb der Ideologie und somit auch nur eine einzige Form der immer ideologischen Reproduktion, die keinen Raum für Verschiebungen oder Handlungsfreiheit zulässt. Wenn der Zaun-Schnei3 | Vgl. Butler 1991. 4 | Althusser 1977, 112. 5 | Althusser 1977, 112. 6 | Althusser 1997, 114.
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der’sche Frauenchor unentwegt die von der Werbe- und Castingwelt ausgerufenen Körper- und Denknormierungen wiederholt, ohne damit zu brechen, dann trägt er dieser Einsicht Rechnung. Foucault und Butler sind da bekanntlich ein klein wenig optimistischer. Das Stichwort, an dem ich das kurz erörtern möchte, lautet ›listige Selbstinszenierung‹7 und findet sich in Butlers Aufsatz mit dem Titel »Was ist Kritik?«. Beide gehen von Möglichkeiten der Kritik und temporären Normverschiebung aus und begründen somit letztlich auch, warum es überhaupt so etwas wie eine Entwicklung gibt. Butler nimmt dabei direkt Bezug auf Foucault und weist auf eine interessante Stelle im abgedruckten Gespräch nach Foucaults Vortrag hin. Auf die Frage eines Zuhörers, aus welcher Quelle sich jene Kritikfähigkeit denn speise, woher also der Wille zum Widerstand käme, antwortet Foucault auf eine, so Butler, listige Weise: »Ich bezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus, auf eine ursprüngliche Freiheit, die sich schlechterdings und grundlegend jeder Regierungsentfaltung widersetzt. Ich habe davon nicht gesprochen – aber ich will es absolut nicht ausschließen.«8 Weiter führt er das nicht aus. Foucault spricht nicht von einer ursprünglichen Freiheit als ontologisch gesetzte Triebfeder für sein Modell. Gleichzeitig tut er es aber auch nicht nicht. Butler nun weist darauf hin, wie schwer verständlich diese und andere Stellen in Foucaults Vortrag zu verstehen seien, wenn man sich nicht gleichzeitig die Art und Weise vorstellte, mit der Foucault das von ihm Ausgesprochene in Szene setze. Davon geht sie aus: dass Foucault diese Worte eben nicht ontologisch setzt – sondern dass er sie »mit List inszeniert«9. Was Foucault hier andeutet und Butler in weiten Teilen ihrer Theorie konsequent weiterdenken wird, ist die Idee, dass eine bestimmte, listige Weise des reflektierten Darstellens seiner selbst, eines Selbst, vielleicht doch möglich ist und zu vorübergehenden Unterbrechungen und vielleicht gar Verschiebungen des ideologischen Textes führen kann. Alles geschieht weiterhin hauptsächlich im Rahmen der Althusser’schen Ideologie oder des Butler’schen diskursiven Systems – doch gibt es, vielleicht von einem imaginären Außen angeregt, Momente, die die totale Reproduktion kontaminieren, sie wohlgemerkt nicht abbrechen, aber doch transformieren: Reproduktion+. Das ist Butlers Konzept der Perlokution: Subjekte werden angerufen, adressiert, sie nehmen die Adressierung auch zumindest teilweise an – doch geht auf dem Weg der Adressierung etwas verloren bzw. etwas anderes kommt hinzu: »Der Sprechakt sagt immer mehr oder sagt es in
7 | Vgl. Butler 2009, 243. 8 | Foucault 1992, 52f. 9 | Butler 2009, 243.
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anderer Weise, als er sagen will.«10 Und genau in diesem Schwund entsteht ein Raum der Handlungsfreiheit. Auch in der Nabelschau gibt es einen solchen Moment. Plötzlich unterbricht der Chor seine maschinenhafte Reproduktion und scheint – zunächst kaum merklich, dann immer deutlicher – sich selbst zu thematisieren, wobei er sein Publikum direkt adressiert und im Blick hat, ja sich ihm allmählich, Schritt für Schritt nähert: »Also, ein bisschen in Sorge ist man schon. Vor allem, wenn die dann auch noch alle so hohe Stimmen haben. Also, was man ja auf gar keinen Fall will, ist, mit so einer Gruppe hysterischer Frauen konfrontiert werden. Oder noch schlimmer: Hysterische Mädchen. […] Und wenn die dann alle so hohe Stimmen haben und gemeinsam sprechen, das ist gar nicht so leicht, sich damit zu identifizieren – also, ich frage mich, ob es leichter fiele, wenn die alle tiefe Stimmen hätten. Oder 15 Jahre älter wären. Oder beides zusammen. Aber das kann man ja heutzutage sowieso nur noch so schwer sagen, ob jemand jetzt 16, 26 oder 36 ist, also ich kann das oft gar nicht so auf Anhieb sagen, obwohl 36 im Vergleich jetzt schon ziemlich alt ist natürlich. 46 wär dann noch mal ’ne ganz andere Kategorie. Man sagt ja auch, dass im Fernsehen alle immer älter, dicker und größer aussehen als im echten Leben, und da frage ich mich, ob wir auf der Bühne vielleicht alle jünger, dünner und kleiner aussehen, als wir in Wirklichkeit sind, und ob man schon alleine deshalb eher ältere, dickere und größere Frauen auf die Bühne stellen müsste, damit nicht alle immer so verdammt klein aussehen und man dann gar nicht mehr weg kommt von dem Gedanken, dass das ja alles so kleine Frauen sind. So kleine Mädchen, so kleine Mäuse. So kleine Mädchen eben. Auch wenn sie gar keine Mädchen mehr sind, sondern vielleicht schon 36. Man will sich ja auch nicht von einer Frau die Welt erklären lassen, das hat mal ein Journalist in der SZ geschrieben, als Anke Engelke anstelle von Harald Schmidt den LateNight-Talk übernommen hat. Ich frage mich, ob das stimmt oder ob man sich nur nicht von einer Frau mit einer hohen Stimme hinter der sich womöglich ein 16-jähriges Mädchen verbirgt, die Welt erklären lassen möchte. Sarah Palin ist ja auch an ihrer quakigen Stimme gescheitert. Ich meine: Müssen die denn alle immer so hohe Stimmen haben? Da hat man auch gleich ein bisschen Angst, angeschrien zu werden, ich meine, wenn die im Chor sprechen, klingt das sowieso ja meistens ein bisschen so, als würde man angeschrien werden, aber wenn die jetzt wirklich gemeinsam schreien würden im Chor, dann wären die Stimmen ja noch viel höher. Was soll mir das denn sagen, wenn die mich mit ihren hohen Stimmen so anschreien, ist ja eine Sache, dass die so jung sind oder von mir aus auch nur so jung aussehen, aber könnten die nicht wenigstens tiefe Stimmen haben? Das ist vielleicht auch ein bisschen gemein, aber ich frage mich ernsthaft: Was erzählt mir denn so eine hohe Stimme? Das ist natürlich ein bisschen billige Küchenpsy10 | Butler 1997, 23.
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Philipp Schulte chologie, aber wenn da jemand vor mir steht, mit so einer tiefen, rauchigen, irgendwie verlebten Stimme, dann denke ich gleich: Oh, die hat bestimmt Erfahrung, die weiß wovon sie spricht, die Stimme, und bei so einer hohen Micky-Mouse-Stimme kommt man ja gar nicht drum rum, die als naiv zu empfinden und zu denken: Mädchen, mach erst mal deine eigenen Erfahrungen, bevor du mir hier was über die Welt erzählst.«11
Aus Vertreter/innen von etwas anderem werden Darsteller/innen ihrer selbst – ich komme auf diese Unterscheidung am Schluss noch einmal zurück. Zunächst ist es aber bemerkenswert, dass die Re/produktionsmaschine im Titel des Tagungsbandes mit einem Schrägstrich unterteilt ist – und damit also der Vorschlag unterbreitet wird, dass mit der Reproduktion auch eine Form der Produktion einhergeht. Wo stecken also in der Nabelschau Momente, die über die bislang zitierten Ideen von Reproduktion und Reproduktion+ hinausgehen? Wo, frage ich mich, schlägt totale Reproduktion und listig-verschiebende Reproduktion um in unabhängige Produktion? Meine vorläufige Antwort: nirgendwo. Sie schlägt nicht um, weil das hieße, wieder vom selben diskursiven Ausgangspunkt her zu operieren. Um die vielleicht etwas eigenwillige Metapher aus dem Bereich des Postwesens in meinen Vortragstitel aufzunehmen, in Anlehnung wieder an Althusser: Man bekommt ein Paket mit der Post und muss es entweder widerspruchslos annehmen (Althusser) oder man öffnet es und eignet es sich an, aber zweckentfremdet (Foucault, Butler). Oder aber, und hier komme ich zum gewagten Punkt meines Vorschlags: Man nimmt es gar nicht erst an, sorgt dafür, dass es ungeöffnet zurück zum Absender geschickt wird, bzw. lässt die polizeibeamtliche Anrufung, um die Metapher wieder zu wechseln, ungehört verhallen. Es geht also um die Chance einer Möglichkeit der radikalen Ablehnung aller Erwartungshaltungen und Zuschreibungen – vorübergehend, eine kurze Zeitspanne lang, naiv und trotzig. Hier schlägt keine Reproduktion in Produktion um, die Produktion von etwas anderem startet an einem ganz anderen Ausgangspunkt, jenem Ort der ursprünglichen Freiheit einer grundlegenden Widersetzung jedweder Regierungsentfaltung, von dem Foucault zugleich spricht und nicht spricht. Im Fall der Nabelschau könnte diese im letzten Drittel der Inszenierung stattfinden. Nachdem der Chor fast eine Stunde lang die immer gleichen Normierungstexte angenommen, verändert, gebrochen, aber eben doch reproduziert hat, hebelt sich die Reproduktionsmaschine plötzlich selbst aus, setzt die Sprache aus, und etwas anderes setzt sich an ihre Stelle. Die Schlussszene dauert fünfzehn Minuten: Der gesamte Chor nebst aller Statist/innen spricht nicht mehr; er schreit. Er artikuliert keinen Text mehr, sondern schleudert dem Publikum ein ununterbrochenes, erschöpfendes, aggressives »Blablabla« entgegen – und der Lärm wird so ohrenbetäubend, dass sich viele Zuschauer/innen in den ersten Reihen die 11 | Vgl. unveröffentlichter Videomitschnitt Mit den Beinen im Bauch.
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Ohren zuhalten müssen. In akustischer Intensität wird hier in brachialer Zurückweisung aller diskursiven Zuschreibungen ein klassisches Foucault’sches ›so nicht‹ ausgedrückt: Das lautstarke Begehren, so nicht regiert werden zu wollen.
»W as vom D r ama übrigbleibt« »Hi. Hallo. Schön, dass Ihr da seid! Das ist Marja, ich bin Isi. Und wir haben heute einen Theaterabend für Euch vorbereitet: Judith nach Friedrich Hebbel. Eine Freundin von mir hat gesagt, ich soll Euch ein bisschen vorwarnen, es wird sehr explizit, das kann Irritationen auslösen, Aggressionen … Wir verwenden kein Strobolicht, aber einer der drei Scheinwerfer da über Euch, der flackert manchmal.«12
Mit diesen Begrüßungsworten beginnt eine in der Tat sehr freie Adaption, wenn man es überhaupt so nennen kann, der anti-emanzipatorischen Tragödie Judith13 von Friedrich Hebbel, ein aus heutiger Sicht geradezu toxischer Text auf der Basis des gleichnamigen Buches des Alten Testaments: Die Stadt Bethulien wird vom grausamen Feldherrn Holofernes belagert, die unschuldige Judith will ihn verführen und zur Rettung ihrer Stadt töten, fühlt sich mit einem Mal aber wirklich von seiner Männlichkeit angezogen, wird dann von ihm vergewaltigt, woraufhin sie ihn aus Rache enthauptet. Tatsächlich entnehmen die Performerinnen Marja Christians und Isabel Schwenk in ihrer Adaption J.U.D.I.T.H. dem Plot von Hebbel in verknappter Form wesentliche Momente, erzählen die Handlung in groben Zügen nach und untergliedern ihre Performance wie Hebbels Stück in eine Aktstruktur. Doch damit endet auch schon das, was man zunächst vielleicht noch eine Reproduktion des titelgebenden Stoffes nennen könnte. Schon im sogenannten zweiten Akt, »Darstellung der Judith als hysterische Frau«, gerät Hebbels Geschichte allmählich in den Hintergrund, nicht von ihm vorgesehene Sequenzen wie von den Performerinnen geäußerte Erzählungen von masturbierenden Freundinnen nehmen überhand, zahlreiche Szenen werden übersprungen (»Hier reden nur Männer über Frauen«, »zu gewalttätig«) und schließlich resümiert: »Damit ist das Drama auch fast schon zu Ende. […] Was vom Drama übrigbleibt: Judith als phallische Frau und ein Sexualakt, der hinter einem Vorhang stattfand. Den schauen wir uns jetzt noch einmal genauer an.«14
12 | Vgl. unveröffentlichter Mitschnitt einer Aufführung der Performance J.U.D.I.T.H., Regie: Marja Christians, Isabel Schwenk, 2014. 13 | Vgl. Hebbel 1966. 14 | Vgl. unveröffentlichter Videomitschnitt J.U.D.I.T.H.
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Denn was die Performance in besonderem Maße prägt, sind neben den sprachlichen Äußerungen von Christians und Schwenk die ausdrucksstarken Bilder, Körper-Bilder, die die beiden einsetzen – weniger um Hebbels Stoff zu illustrieren, keineswegs um das von ihm vorgeschlagene Frauenbild zu reproduzieren, vielmehr als visuelle Gegenentwürfe: Der nackte Frauenkörper wird inszeniert, arrangiert, kostümiert, grotesk überspitzt; mithilfe von Perücken, die die Schambehaarung multiplizieren, oder einer Vielzahl von Dildos, die mal ineinandergesteckt als Kette dienen, mal an Brustwarzen gepfropft werden, mal wie eine reptilienartige Schuppenpanzerung getragen werden. Statt ›phallische Frauen‹ zu mimen, endet Christians’ und Schwenks Stück mit einem respektlosen Spiel mit dem inflationär eingesetzten Männlichkeitssymbol.
»D as ist die S zene , in der I si und M arja ihre S tandpunk te diskutieren .« So weit die Nabelschau und J.U.D.I.T.H. auch formalästhetisch voneinander entfernt sind, das Widerspiel von Reproduktion (Hebbels Text als Grundlage) und subversiver Transformation (Christians und Schwenks umdeutende szenische Kommentierung dieser Grundlage) ist strukturell ähnlich. Und auch J.U.D.I.T.H. bleibt nicht bei der verschiebenden Reproduktion stehen; auch hier tauchen mehr und mehr Momente einer radikalen Abkehr vom Original auf, vielleicht vor allem in den grotesken Inszenierungen von Nacktheit, die sich stark von allen visuellen Assoziationen, die sich mit dem von Hebbel geformten Ideal unschuldiger Jungfräulichkeit einstellen mögen, absetzen. Hier ist sie wieder, diese Verweigerung, sich diskursiv adressieren zu lassen, dieser ›Unbekannt-verzogen-Move‹ – als klar kommunizierter Gestus: Wen auch immer Hebbels mit seiner Judith beschrieben haben mag, welches Bild von Weiblichkeit dort auch immer evoziert wird – wir können nicht gemeint sein, wir fühlen uns nicht angesprochen; nein, besser: Wir entscheiden, uns nicht angesprochen zu fühlen, uns als Nicht-Angesprochene zu inszenieren, als Andere als die Adressierten zu inszenieren. Während die sprachlichen Äußerungen der Performerinnen in J.U.D.I.T.H. meist noch auf ironische Weise mit Hebbels Vorgaben spielen, sind es vor allem die im sprachfreien Raum performten Körperbilder, die sich jener patriarchalen symbolisch-sprachlichen Besetzung, die der dramatische Text noch vornimmt, verweigern und sperren.
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S elbst-D arstellung stat t V ertre tung Diese Bewegung, die Christians’ und Schwenks J.U.D.I.T.H. vollzieht und die diesen Bruch mit jeglicher diskursiver Adressierung vielleicht erst vorübergehend möglich macht, möchte ich hier probeweise als eine Bewegung von der Vertretung hin zu einer Selbst-Darstellung beschreiben. Es ist eine Bewegung, die eigentlich schon im 1840 in Berlin uraufgeführten Hebbel-Stoff angelegt ist: Judith als Frau, die sich für die von Gott erwählte Retterin ihres Volkes hält, wird zu Judith, die niemand anderen mehr vertritt als sich selbst, als Rächerin ihrer selbst; sie tötet Holofernes nicht, um ihre Stadt zu retten, sondern um ihrer eigenen Ehre willen, um das von ihm zugefügte Leid zu vergelten. Nun geschieht das in Hebbels Darstellung freilich im Rahmen eines dramatischen Theaterstücks und somit einer repräsentativen Theaterästhetik, die genrebedingt auf dem Prinzip der Vertretung beruht – alle Selbst-Darstellung muss zwangsläufig der schauspielerischen Repräsentation zum Opfer fallen. Christians und Schwenk vollziehen dagegen eine Performance, und das konsequent. Von Anfang an ist es ihre Haltung zum Geschehen, die geäußert wird; zumindest fällt es leicht, diesen Eindruck zu gewinnen. Sie stellen sich mit ihren Namen vor, erzählen Geschichten, die aus ihrem persönlichen Umfeld stammen (könnten!), sie nutzen Accessoires und Kleidung, verkleiden sich aber nicht. Analog verhält es sich im Wut-Chor der Nabelschau: Der Chor ist kein fein säuberlich inszenierter Chor mehr, der sich an ein gemeinsames Skript halten muss, um ein solcher zu sein – an die Stelle des Skriptes tritt die Performanz, der individuelle Ausdruck, das je eigene Timbre, der Schrei. Meine These ist also, dass diese beschriebenen Momente der Zurückweisung diskursiver Erwartungen eng verbunden sind mit einem Gestus performativer Selbst-Darstellung. Gayatri Chakravorti Spivak ist es, die in ihrem Essay Can the Subaltern Speak?15 auf eine bei Karl Marx wichtige Unterscheidung von ›vertreten‹ und ›(sich selbst) darstellen‹ hingewiesen hat, eine Unterscheidung, die in der englischen Übersetzung seiner Texte mit dem Verb to represent verloren zu gehen droht. Genau davor warnt aber Spivak: dass beide Bedeutungen, Repräsentation als Vertretung und Repräsentation als Darstellung, »nicht durch einen Taschenspielertrick in einem Wort zusammengefasst werden«16 dürfen. Das ist das Problem der Vertretung: Indem ein Vertreter, eine Vertreterin für andere spricht – für Frauen, Parzellenbauern, Subalterne, Menschen in Fluchtsituationen, Menschen mit Behinderung, Castingshowteilnehmerinnen –, stellt er oder sie sie auch zugleich dar – vereinheitlicht sie, essentialisiert sie als Gruppe. Dieser Entstehungskontext muss aber immer in seiner Gemachtheit mit15 | Vgl. Spivak 2007. 16 | Spivak 2007, 33.
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reflektiert werden. Ein ›Sprechen für‹ vermischt sich automatisch mit einem essentialisierenden ›Sprechen als ob‹; der/die/das Andere wird dadurch aber nicht nur ausgeschlossen, sondern auch vereinnahmt. Diese »Gefahr einer Aneignung des/der Anderen durch Assimilierung«17 gilt es immer zu bedenken. Die Form der Darstellung aber, für die sich Spivak stattdessen stark macht, ist eine Darstellung seiner selbst, ein Sprechen für sich selbst. Nur in der Selbst-Darstellung kann dafür Sorge getragen werden, dass die eigene Position, die Präsentation einer vielleicht selbst gewählten, möglichst emanzipatorischen Identität zum Ausdruck kommt. Auch die so dargestellte eigene Identität ist in einer Dimension der Fiktion verortet, hat zumindest vorübergehende essentialistische Züge, und das Foucault’sche Dilemma, von welchem Ort ursprünglicher Freiheit aus sich dieser fundamentale Anarchismus denn speisen könnte, wird keineswegs gelöst. Für Spivak sind diese Selbst-Setzungen aber dennoch unbedingt notwendig, und das aus ausdrücklich strategischen Gründen in Form eines strategischen Essentialismus. In den Sequenzen in der Nabelschau sowie in J.U.D.I.T.H., in denen ein Zitieren anderer oder ein Sprechen für Andere weitestgehend durch eine Darstellung des Selbst abgelöst wird, in denen aber genauso übrigens auch diskursive Erwartungsstrukturen anderer ignoriert werden, kann eine solche Form der vielleicht utopischen strategisch essentialisierten Selbst-Darstellung stattfinden, einer Darstellung also nicht mehr im Sinne einer Vertretung, sondern im Sinne einer Vergegenwärtigung, einer Selbst-Vergegenwärtigung. Sich vorübergehend selbst darzustellen kann dann heißen, sich selbst nicht transparent zu machen, wie Spivak es formuliert, und stattdessen ästhetische Interventionen in den sozialen Text einzuführen. Die diskursive Prägung des eigenen Leibs wird gekontert mit einer momentanen radikalen Leib- und Stimmlichkeit, der eigene Leib entzieht sich vorübergehend seiner Instrumentalisierung und versucht sich als Widerstand. Die Bühne verwandelt sich in diesen Momenten von einem Ort, auf dem traditionell für Andere gesprochen wird, zu einem Ort, an dem »Subjekte für sich selbst sprechen, handeln und wissen«18. Die theatrale Maschine, die anderes auf entweder gewissenlose oder auf gewissenhafte Weise reproduziert, kann sich dann temporär in eine Produktionsmaschine verwandeln, die Eigenes produziert, präsentiert, positioniert.
17 | Spivak 2007, 106. 18 | Spivak 2007, 32.
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R e /produk tionsmaschine W issenschaf t Ich komme zum Schluss – allerdings nicht, ohne einen interessanten Austausch zwischen Marja Christians, Isabel Schwenk und mir zu erwähnen, der im Zuge meiner Vorbereitungen auf diesen Text zustande gekommen ist. Wie gewöhnlich habe ich (als Theaterwissenschaftler) die beiden (als Künstlerinnen) um Material und ein Video gebeten, um seriös über die Performance schreiben zu können. Ich lernte dadurch zwei Künstlerinnen kennen, die auf diese Anfrage mit großer Gewissenhaftigkeit reagierten und sehr genau wissen wollten, wem sie hier Bilder und Videos zur Verfügung stellen sollen und was damit weiter geschehen würde. Das hat nur teilweise mit der offensiven Nacktheit, die auf den Bildern zu sehen ist, zu tun. Es hängt vor allem eng zusammen mit den Fragen, die ich hier zu skizzieren versucht habe: Wer spricht für wen – wer vertritt wen – wer repräsentiert was? Auch Wissenschaft und Analyse spricht; sie kann für jemanden sprechen, wie auch Spivak in ihrem Essay mit kritischem Blick auf ein Gespräch zwischen Foucault und Gilles Deleuze verdeutlicht; sie spricht in der Regel über etwas Abwesendes, jemand Abwesenden, wie ich es hier tue. Ich berichte von diesem Austausch, der zu umfangreich war, um ihn hier wiederzugeben, um mich zum Schluss meines Beitrags der vielleicht wichtigsten Forderung von Spivak anschließen zu können – einer Forderung, mit der ich heute implizit schon den künstlerischen Positionen, die ich vorgestellt habe, begegnet bin. Ich spreche von der Forderung, dass eine Repräsentation nur dann in eine Selbst-Darstellung umschlagen kann, wenn transparent gemacht wird, wer hier eigentlich spricht – und wenn zugleich sichergestellt wird, dass sich der oder die Sprechende selbst nicht transparent macht, um wieder einen Begriff Spivaks zu verwenden. Nur durch diese Performanz des eigenen Selbst, welches – aus strategischen Gründen! – vorübergehend essentialisiert und fundamentalisiert inszeniert wird, können die Reproduktionsmaschine Theater oder auch die Reproduktionsmaschine Wissenschaft Eigenes produzieren, Neues und vielleicht auch prekäre Orte vermeintlich ursprünglicher Freiheit.
L iter atur Althusser, Louis (1977): »Ideologie und ideologische Staatsapparate.« In: Ders. (Hg.): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Westberlin: VSA, 108-115. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (1997): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Butler, Judith (2009): »Was ist Kritik?« In: Jaeggi, Ragel/Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 221-246. Foucault, Michael (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve. Hebbel, Friedrich (1966): Judith. Eine Tragödie in fünf Akten. Stuttgart: Reclam. Spivak, Gayatri Chakravorty (2007): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia & Kant.
Mentale und materielle Schubladen Inszenierungsstrategien bei James Leadbitter und She She Pop als Inventur analytischer Methoden Nikola Schellmann
November 2015, Kastanienallee 88, Berlin-Prenzlauer Berg: Leicht verspätet, aber mit dem Wissen, dass weitere Besucher/innen der 20 Uhr-Vorstellung von Mental als Gruppe aus der Kulturbrauerei eintreffen werden – dort befindet sich die Lounge des No Limits-Festivals1 – und aufgrund dessen etwas beruhigt, weil bisher nur vereinzelte Personen vor dem und im Hauseingang warten und daher wahrscheinlich noch nicht alle da sind, spreche ich eine junge Dame an, die irgendwie aussieht, als könne sie dazugehören und mir eventuell die reservierten Karten aushändigen. »Nein.« Bestellte Karten seien in der Festivallounge, da käme aber erst noch jemand. Aber wir mögen einfach hier warten, das klappe schon. Und wir würden gleich in Zweier- oder Dreiergruppen in eine Wohnung gehen, dort sollten wir die Schuhe und Jacken ausziehen, es gebe dann in der Küche etwas Tee und Kuchen und das Ganze sei auf Englisch. Wie wir denn hiervon erfahren hätten? Ich gebe freudig Auskunft über das Mainzer Festival-Pendant Grenzenlos Kultur und die Blog-Kooperation mit der Mainzer Theaterwissenschaft.2 »Ach, du bist extra aus Mainz hergekommen?« Verwunderte und freudige Begeisterung. Wir sollten bitte noch etwas warten, die anderen müssten ja ohnehin in kleineren Gruppen hochgehen. Wie viele insgesamt hinein dürfen? »22.« Ah, da kommt jemand aus der Kulturbrauerei. Ohne Karten. Ich frage mich, ob das schon dazu gehört. »Achso, das ist schon ok. Dann machen wir Freikarten.« Wir 1 | No Limits – Internationales Theaterfestival fand vom 5. bis 15. November 2015 in Berlin statt. 2 | Seit 2013 besteht eine erfolgreiche Kooperation des Festivals Grenzenlos Kultur mit einer Lehrveranstaltung der Theaterwissenschaft an der JGU Mainz, innerhalb derer Studierende unter der Leitung von nachtkritik-Redakteur Georg Kasch Beiträge für das Festival-Online-Blog (technische Einrichtung: Holger Rudolph) erarbeiten.
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steigen die Treppe hinauf. Wohnungen in diesem Haus müssen doch unbezahlbar sein, denke ich währenddessen. Im Flur der sanierten Altbauwohnung mit Stuck im ersten Stock staut es sich im kleinen Flur, alle hängen Jacken an einer IKEA-Garderobenstange auf und ordnen Schuhe möglichst kleinflächig darunter an. Die ersten kommen mit einem Stück Kuchen und schwarzem Tee aus der Küche. »Milk? Some carrot cake?« Die Situation erinnert an eine WG-Party, bei der man die Wohnung und fast alle anderen Menschen noch nicht kennt und als soeben angekommener Gast zuerst in die Küche möchte, weil dort erklärt wird, wo Getränke und der Raucherbalkon sind. Knapp neben mir rennt jemand, der unten im Hauseingang mit uns wartete, aus der schmalen Badezimmertür in meinen Rücken – »Excuse me.« – und zieht ebenfalls die Schuhe aus. »Please do not take your bags inside, there is not much space. Does anyone need a chair?« Es gibt ein paar Klappstühle, JEFF, auch IKEA. Na klar, denke ich mir, das Festival hat ja auch nicht so viel Geld, das ist alles einfach und mobil gehalten. Außerdem hat das einen Wiedererkennungswert, es wird ja die Illusion einer Privatwohnung hergestellt, eine Spannung zwischen Öffentlichem und Privatem – Gedanken, die mir durch den Kopf gehen.3 »Please gather around the bed, along the walls.« Ich will wenigstens noch schnell einen Tee bekommen. Der Starbucks CoffeeSchriftzug auf der Tasse wurde so weit abgekratzt, dass nur noch Fuck off zu lesen ist. Ich verstehe es nicht sofort und bin noch mit Entzifferung sowie mit der Frage beschäftigt, ob ich die einzige derartige Tasse erwischt habe, als schon Tee in immergleichen Tassen nach hinten gereicht wird und eine junge Dame der Frau am Möhrenkuchenblech ihre eigene Privatwohnung anbietet – falls mal wieder so etwas für eine Festival-Produktion gesucht werden sollte. »Oh, thank you, das ist ja toll!« Innerhalb dieser ersten 15 Minuten bin ich nun mehrfach zwischen Smalltalk, sich während des Vorgangs der Entkleidung in meinen Rücken pieksenden Ellenbogen, altbaubestaunender Wohnungsmarktanalyse und wissenschaftlicher Analysetätigkeit hin und her gewankt. Was ist denn hier los, frage ich mich. Was ist das hier? Wir dürften natürlich keine Fotos machen, »vor allem aber bitte nichts mitschreiben«, das störe James und er werde abbrechen. Wir dürften aber jederzeit den Raum verlassen. Wir werden in ein großes Zimmer geleitet, darin ein Bett – naja, eher ein Lattenrost mit Matratze –, eine Steh- und eine Tischlampe, ein kleiner Overhead-Projektor, ein paar Kartons im Stile von Nachttischchen neben dem Bett, ein Plattenspieler. Wir nehmen auf Kissen rings um das Bett Platz, ziehen die Beine an, nippen an den Teetassen. Fuck Off. Die Tür wird ge-
3 | Vgl. Schouten 2007.
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schlossen. Die Dame, die Tee und Kuchen verteilt und alles ein wenig erklärt hat, setzt sich mit uns hin.
Abb. 1: James Leadbitter und Starbucks. Auf der Webseite des Künstlers finden sich weitere kapitalismuskritische Fotografien, die auch mehrfach Schrift thematisieren. © the vacuum cleaner Die Bettdecke bewegt sich. James Leadbitter kommt darunter zum Vorschein und beginnt zu erzählen, wie es dazu kam, dass er jetzt hier sei. Er hat dicke Schnellhefter und Akten unter seiner Bettdecke, aus denen er zahlreiche Overhead-Folien zieht, präsentiert, vorliest. Leadbitter stellt diese als ihn selbst betreffende psychologische, psychiatrische und psychoanalytische Gutachten vor. Er verliest Diagnose-Ziffern, Krankheitsbilder, Gründe für Klinikeinweisung und -entlassung, Aktenzeichen, unter denen er in mehreren Kliniken geführt wurde. An seinen Unterarmen sind Narben von Schnittwunden zu sehen. Er trägt ein blaues Strickkleid. Er zeigt Fotos von sich während politischer Aktionen, Demonstrationen und Festnahmen, erzählt von Selbstmordversuchen, stürzt einen der Kartons auf die Bettdecke und wühlt anschließend in Tablettenschachteln von Antidepressiva (und anderen sedierenden Medikamenten,
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deren Notwendigkeit sich zum Teil erst aus den vorhergehenden Medikamenten ergeben habe). Er spricht von der Absurdität dieser Medikation. Er erklärt englische Wortwitze in den Texten auf einer Folie, die von uns Gästen offenbar niemand versteht. Das sei schade, in Großbritannien funktioniere das immer recht gut. Leadbitter legt Vinylplatten auf, schaltet die Lampen atmosphärisch an und aus, berichtet von Möhrenkuchen als seiner letzten Mahlzeit vor einem der Selbstmordversuche. Er beobachtet uns, beobachtet, wie letzte Kuchenreste in diesem Moment aus der Hand gelegt werden. Er schüttelt die Bettdecke ein wenig, sodass die Füße eines Großteils von uns sich anschließend darunter befinden, obwohl wir unsere Beine zuvor eng angewinkelt haben, um die Nähe eben gerade nicht zu groß werden zu lassen. Er erzählt, wie er gemerkt habe, dass die Vorgehensweise bei einigen Selbstmordversuchen »not my method« sei. Er zieht das Kleid über den Kopf, große Narben von Schnittwunden auf seinem Rücken werden sichtbar, die die Wörter »This civilization is fucked« bilden. Er weint. Die Dame an der Tür fragt: »James, do you need anything?« Er geht nicht darauf ein und erzählt weiter, spricht von Performances als »vacuum cleaner, an art and activism collective of one«, von der Gründung seiner Version einer Klinik, von Kliniken, von denen er genug hatte; spricht von seiner eigenen Art Behandlungsmethode mittels ebendieser Performances. Nach ca. 60 Minuten verlässt Leadbitter das Bett und das Zimmer und kehrt auch nicht wieder zurück. Wir bringen das Geschirr in die Küche, ziehen uns still und schweigend an und verlassen schnell die Wohnung.
M entale G esundheit und wissenschaf tliche K l arheit Der Aufsatz beschäftigt sich mithilfe einer Diskussion der Produktionen Mental (the vacuum cleaner, 2013) und Schubladen (She She Pop, 2012) mit verschiedenen Formen der Etablierung von (Analyse-)Kategorien: Dabei sollen hauptsächlich Überlegungen zum derzeitigen Desiderat der deutschsprachigen Theaterwissenschaft angestellt werden, die auf Basis von Semiotik, Phänomenologie oder Performativitätsbegriffen nur schwer in der Lage ist, neueste Formen szenischer Künste analytisch zu greifen und so beispielsweise den Weg ebnete für mitunter soziologisch orientierte Analyseformen ausgehend von Probenprozessen,4 für Schnittstellen von Bildender und Szenischer Kunst5 oder die Untersuchung partizipativer Strukturen, die mit der Mobilisierung der Zuschauenden6 ebenjene in den Fokus rücken. Die Frage nach einem ›adäquaten Umgang‹ mit beispielsweise Mental thematisiert also nur zu einem 4 | Vgl. Matzke 2012. 5 | Vgl. Umathum 2011. 6 | Vgl. Seitz 2015.
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Teil die vermeintliche Körperkategorie, in die der Performer oder seine Arbeit einzuordnen wäre oder sich selbst einordnet: ›krank‹. Zu einem anderen Teil entzieht sich die Performance auf mehreren Ebenen einer analytischen Greifbarkeit und soll so als Modell dienen, um eine Diskussion über Verortungen von und Herangehensweisen an aktuelle Theaterformen anzustoßen. Die Beschreibung von Mental in der obigen Hinführung zum Thema ist derart ausführlich ausgefallen, weil in Nachgesprächen unter den Teilnehmenden eine große Unklarheit darüber blieb, wie dieses Beispiel im Hinblick auf die Kategorisierung von ›Kunst und Künstler‹ anzugehen wäre – obwohl noch vor dem Aufführungsbesuch recht offenbar schien, welche Kategorie hier thematisch relevant werden sollte. So war auf der Webseite des Festivals zu lesen: »NO LIMITS möchte Bühnen-Kunst zeigen, die neu und interessant ist. Was passiert gerade Neues und Interessantes? In welcher Form sind Menschen mit Behinderung Teil davon? Wie könnte es weiter-gehen [sic!]? Mit der Kunst. Und mit Bühnen-Künstler*innen mit einer Behinderung?«7
Eine Eigenbeschreibung des Performers auf dessen Homepage lautet wiederum folgendermaßen: »The Metropolitan Police calls [Leadbitter] a Domestic Extremist. The NHS have de scribed him as ›highly disturbed‹ and labelled him with Borderline Personality Disorder. ›A real and present threat to the safe running of our lawful business‹ is how E.ON described him at the Royal Courts of Justice. He prefers the term Mental [Herv. d. Verf.].« 8
Der Künstler selbst benennt das Projekt als eine Alternative zu weiteren Klinikaufenthalten, als eine eigene Form der ›Behandlung‹ oder der Therapie; er hat das No Limits-Festivalteam im Vorfeld darauf hingewiesen, dass er eben »nicht normal, sondern krank« sei, Ruhephasen brauche und auch an geselligen Aktivitäten in der Festivallounge wahrscheinlich nicht teilnehmen könne.9 In diesem Beispiel mag zwar eine selbstreferentielle und hochgradig performativ durchzogene Aufführungsstruktur inklusive Eigenkategorisierung des Künstlers greifen, doch scheint auch diese Bedingung angesichts der konkreten Aufführungssituation nicht ganz eindeutig zu sein. Ausgehend von der Annahme, dass sich Aspekte wie (psychische) Gesundheit, die Fähigkeit zum sozialen Miteinander oder – wie am Beispiel von Schubladen zu zeigen sein wird – die Klischierung einer ost- oder westdeutschen Frau nur aus ihrer je7 | www.no-limits-festival.de/intro.php. 8 | www.thevacuumcleaner.co.uk/mental. 9 | Mündliche Information des Festivalteams vom 13.11.2015.
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weiligen Relation bilden können, versucht dieser Beitrag also, die konkreten Strategien von (Selbst- und Fremd-)Kategorisierungen in zwei ausgewählten Produktionen zu beschreiben und einen Vorschlag anzubieten für die konkrete Tätigkeitsform einer analysierenden Person.10 Im thematischen Rahmen des Sammelbandes zu Re/produktionsmechanismen im Kontext der Darstellenden Künste soll damit der Versuch einer Auf- oder Unterbrechung zur Diskussion gestellt werden: Bei dieser Herangehensweise ist die zentrale Frage, ob und wie im Zusammenspiel dreier Ebenen die Möglichkeit besteht, die zunächst thematisierten und offenkundig inszenatorisch zur Schau gestellten Kategorien zu relativieren bzw. auf andere Aspekte des konkret in seiner Materialität vorhandenen Menschen zu verlagern. Mit Blick auf die ausgewählten Produktionen ergibt sich hierbei die prägnante Möglichkeit der Unterscheidung zwischen a. Setting und Ausgangssituation (dabei auch Zuschauer/innenteilhabe; räumlicher und logistischer Zugang zur Inszenierung; Thematisierung von Nähe etc.), b. inhaltlicher Kategorisierung bzw. autobiografisch basierter Einordnungsstrategien sowie c. der Problematik der jeweiligen Produktionen per se, Teil oder Möglichkeit einer entweder unterlassenen Kategorisierung zu sein – oder gerade den Wunsch nach einer verhinderten Kategorisierung darzustellen. Ausgehend von diesen drei Aspekten lassen sich folglich Kategorisierungen nicht nur anhand konkreter inszenatorischer Mittel erkennen, sondern in den theatralen Situationen selbst, im gemeinsamen und gemeinschaftlichen Handeln verorten, welches Kategorien performativ hervorbringt. Das Material ist
10 | An dieser Stelle sei nur kurz verwiesen auf Analysestrategien im Kontext von Recherchetheater (siehe die Debatte zu diesem Begriff von Tobias Rausch und Ruth Feindel bzw. die 1. Berliner Recherchetheatertage im November 2015 – Recherchetheater als »eine realistische Kunstform auf der Höhe unserer Zeit«, vgl. Feindel/Rausch 2016), auf wirkungsästhetische Funktionsweisen durch beispielsweise den Begriff der Atmosphäre und atmosphärischen Wahrnehmung (vgl. Böhme 1995; Schouten 2007) oder den Aspekt des Erzählens in Theater und Performance (vgl. Tecklenburg 2014), in dessen Zusammenhang die Autorin Performances der 1970er-Jahre als »Genre der Selbstinszenierung« betitelt; außerdem zog ich eine Art Umkehrung der künstlerischen Praxis des »doing life« in Betracht (vgl. Kelley 1993) oder eine Unmöglichkeit der Unterscheidung zwischen Fiktion und Autobiografie, auch könnten Züge einer Lecture Performance nach beispielsweise Sibylle Peters durchscheinen (vgl. Peters 2011).
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im Fall von Mental allerdings der Performer selbst,11 seine Biografie und Penetranz, mit der Leadbitter sich inszeniert: So personifiziert sein (a) sichtbar ausgestellter Körper – insbesondere mit seinen autoaggressiv zugefügten Schnittwunden, die (b) als Beleg seiner psychischen Erkrankungen funktionalisiert werden – sowohl den absichtsvoll psychisch labil auftretenden Menschen als auch die (weiterhin b) Fremd-Einteilung und Nummerierung seines ›Daseins‹ in Diagnose-Codierungen, Aktenzeichen und Kennziffern in Arzt- und Polizeiberichten oder die vorhandene Anzahl an Medikamentenpackungen. Während man (a) so nah bei Leadbitter sitzt, dass seine Bettdecke sich auf die eigenen Zuschauerfüße ausbreitet, manifestiert sich hier diese seine (b) Berichterstattung einerseits körperlich unmittelbar bzw. andererseits durch das Zusammentragen von Archivmaterial in nüchternen Akten, diagnostischen Gutachten und deren Auf bereitung als Overhead-Folien – und führt (teilweise) zu einer Ironisierung der eigenen Vergangenheit und schließlich zur Rechtfertigung seiner künstlerischen Form (c). In Fällen, in denen die theatrale Situation auf einer wenig institutionalisierten Form beruht, geht es also weniger um die »Problematisierung tradierter Strukturen und Vorstellungen als institutionelles Fundament künstlerischer Praktiken«12 im Bereich des Sprechtheaters, wie es im Rahmen des Vorworts zum vorliegenden Sammelband heißt, als vielmehr um Mechanismen konkreter Performances und die Frage danach, wie mit Zuschreibungen, Einordnungen, Kategorisierungen umgegangen wird: »Mental ist zum einen die intime Auseinandersetzung mit dem, was in mir vorgeht, zum anderen eine Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit diesem Thema.«13
S chubl adendenken Im Fallbeispiel Schubladen14 treffen Mitglieder von She She Pop (die alle in der BRD aufgewachsen sind) die gleiche Anzahl DDR-sozialisierter »Gegenspielerinnen«15 auf der Bühne und setzen sich miteinander und gegeneinander mit ihrer Vergangenheit und privaten ›Schubladen‹ auseinander. Dabei wird persönliches und autobiografisches Material in Form von Briefen, Tagebuch11 | Vgl. den Vorgang der performativen Hervorbringung von Materialität nach FischerLichte 2005. 12 | Kreuder/Koban/Voss im Vorwort des vorliegenden Bandes. 13 | James Leadbitter zitiert nach Dettli 2015. 14 | Schubladen. Eine Koproduktion von She She Pop mit dem Hebbel am Ufer Berlin, Kampnagel Hamburg, FFT Düsseldorf und brut Wien. Premiere: März 2012, HAU Berlin; hier: Aufführung im Mousonturm am 30.09.2015. 15 | www.sheshepop.de/produktionen/schubladen.html.
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Auszügen oder in ihrer Kindheit oder Jugend gelesenen Büchern zusammengetragen und in materiell-requisitären Schubladen auf der Bühne sortiert. Die Performerinnen befragen sich gegenseitig in überwiegend Zweierkonstellationen, geben Antworten, die wiederum nicht auf Dokumenten basieren oder nachweisbar wären und eröffnen so Themenfelder zu einer zutiefst persönlichen Rekonstruktion der sogenannten west- und ostdeutschen Identität: »›Wiedervereinigung‹ wird in Schubladen als Beziehungsarbeit gedacht. Sie wird hier nachträglich und live für 3 Ost-West-Paare zur konkreten Aufgabe auf der Bühne. Wer bist du? Wie bist Du die Frau geworden, als die du mir heute gegenübersitzt? Und wie in jeder schlechten oder guten Beziehung spielen Missverständnisse und Projektionen eine entscheidende Rolle. Die Performerinnen werden versuchen, ehrlich das Maß an Nähe aufzuzeigen, das zwischen ihnen möglich ist. Die Bühne wird zum Ort für einen utopischen Dialog.«16
Anders als bei Mental agieren die Performerinnen hier konventionell im Bühnenraum, während die Zuschauenden auf der Tribüne platziert sind. Zu keinem Zeitpunkt entsteht eine Unsicherheit, welchen Weg ich einschlagen muss, wie ich zu meinem Sitz gelange; ich erhalte keine Teetasse, Lebensmittel oder gar Anweisungen, ob ich etwas notieren dürfe. Die Einordnungen in Agierende/Zuschauende sind schnell erfolgt, auch wird rasch deutlich, welche der Performerinnen von der ehemaligen DDR und welche von der BRD erzählen und sich dadurch einer Klischierung zuordnen und zuordnen lassen. Durch Zuhilfenahme von Requisiten, die als persönliche Gegenstände definiert werden, werden auch in diesem Beispiel anhand dokumentarischen Materials Geschichten erzählt, die vielmehr von Begegnungen, erlebten zwischenmenschlichen Situationen oder Empfindungen handeln als von der eingangs vorgeschlagenen Zuordnung zu den Kategorien ›Ost‹/›West‹. She She Pops Thematisierung von Schubladen (a) in konkret materieller Form von Requisiten auf der Bühne dient der Berichterstattung, dem (b) räumlichen Zusammentragen von Archivmaterial und führt in metaphorischplakativer Hinsicht zu einer gegenseitigen Erklärung und Rechtfertigung des Eigenen bzw. der eigenen ›Identität‹. Es erfolgt eine (a, b) Selbstzuordnung der Performerinnen, die durch Elemente (a) wie beispielsweise Sitzordnungen oder Dialoge deutlich gemacht und im Laufe der Performance zunehmend mithilfe entlarvender Kategorisierungen ausgehebelt wird (c). Der konkrete, selbstreferentielle Körper der Performer/innen entzieht sich in der zweiten hier thematisierten Produktion in seiner geradezu überbordenden Präsenz einer Zuordnung, Einordnung, Stigmatisierung und bietet so eine äußerst interessante wie eklatante Form von Wirklichkeitskonstitution an. Als 16 | www.sheshepop.de/produktionen/schubladen.html.
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Projektionsfläche provokant vorhanden, sichtbar ausgestellt, wirft der Körper mehr Fragen auf, als er beantwortet – verursacht durch die direkte Konfrontation, die sich nicht zuletzt mit atmosphärischer Wahrnehmung nach Gernot Böhme erklären lässt. Aus diesem Grund habe ich bereits zu Beginn meines Beitrages stärker die Atmosphäre, von der ich »tingiert«17 war, als die inhaltlichen Aspekte zu beschreiben versucht. Der Begriff der ›Schubladen‹ ist also bezüglich beider Beispiele anwendbar: Sichtbar zur Schau gestellt, durchwühlt und gleichzeitig Aspekte des Recherchetheaters18 versinnbildlichend, behaupte ich, dass es weniger um die Kategorisierung von Klischees und damit einhergehenden Bildern eines sogenannten Ost-West-Paares geht, sondern dass sich die direkte Aushandlung der von She She Pop behaupteten ›Wiedervereinigung‹ in den Vordergrund schiebt. Einfaches Beispiel hierfür sind auch die Kostüme (a), die alle frontal mit einem Reißverschluss versehen sind, die sich teilweise in zueinander passenden Teilen bei zwei Performerinnen wiederfinden, damit die beabsichtigte Wiedervereinigung ermöglichen (b) und so als gleichzeitiges Verschwimmen der vermeintlichen Kategorien ›Ost‹/›West‹ zu deuten sind. Bei Leadbitter wiederum wird das ›Wühlen‹ in den jeweiligen Schubladen zu einem Wühlen in der Vergangenheit in Form von Aktenmaterial, Umzugskartons, Musikstücken, einer bestimmten Kuchensorte. Gleichzeitig werden in beiden Produktionen die selbstgenannten (und z.T. selbst auferlegten) Zuordnungen körperlich thematisiert, im Falle von Schubladen wird den Zuschauer/innen damit das Schubladendenken vorweggenommen. Die drei genannten Unterscheidungsebenen greifen somit ineinander und ermöglichen bzw. verhindern konkrete Einordnungen beider Produktionen auf eben jeder dieser Ebenen.
A usblick Abschließend sei somit die Verlagerung von Körperkategorien auf eine mögliche Kategorisierung des jeweiligen Theatererlebnisses formuliert: Aus einem ›Wie ordne ich die Akteur/innen ein?‹ wird ein ›Wie ordne ich das Erlebnis und vor allem mich selbst dabei ein?‹. In den skizzierten Beispielen wird hierbei durch die Selbstzuordnung der Performer/innen eine kategoriale Reproduktion vonseiten der Zuschauer/innen ausgehebelt. Die Unfähigkeit der Einordnung führt dazu, dass die einzigen produzierten und produktiven Kategorien, die ich hier als solche deutlich nennen und benennen möchte, jene menschlicher Nähe – im Sinne von Zusammentreffen – und Kommunikation sind. Damit ebenfalls thematisiert werden ein Zu-nahe-Treten, eine Intimität und somit ein 17 | Böhme 1995. 18 | Vgl. Feindel/Rausch 2016.
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stetiges Zurückgeworfensein der anwesenden Personen auf sich selbst – jedoch gleichermaßen in Aushandlung mit der konkreten künstlerischen Form. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Person, dem eigenen Da-Sein,19 der eigenen Biografie oder Tagesform – sei es aus emotionaler, kommunikationsbasierter, kultur-/theater-/sozialwissenschaftlicher, psychoanalytischer oder anderer Perspektive – wird zum eigentlichen (Fremd-)Kategorisierungskatalysator und somit zu einem wichtigen Analysetool für künstlerische Produktionen wie beispielsweise Mental oder Schubladen. Doris Kolesch verweist in ihrem Beitrag20 auf den 2015 entstandenen Sonderforschungsbereich 1171 »Affective Societies – Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten«, welcher davon ausgeht, dass »Emotionen und Affekte kein gesellschaftliches Randphänomen [sind], sondern den Kern jeglicher Sozialität [bilden]«21. Die vom SFB formulierte Annahme, dass »[…] die Entgrenzungen und Veränderungen lokaler Lebenswelten durch globale Einflüsse und Verflechtungen ebenso wie Bewegungen von Menschen aus vertrauten Umgebungen heraus mit ausgeprägten affektiven und emotionalen Dynamiken einhergehen, die hochrelevant sind für das gesellschaftliche Zusammenleben […]« 22,
lässt sich auch hinsichtlich der hier beschriebenen Beispiele produktiv machen, da diese eindeutig unter Berücksichtigung affektiver und emotionaler Aspekte ›funktionieren‹, was wiederum zu Uneindeutigkeit und Irritation führt und diese analytisch so schwer zugänglich macht. Wie generieren sich also analytische Methoden für ein solches Ereignis, das sich weder mit semiotischen noch wirkungsästhetischen oder phänomenologischen Ansätzen kategorisieren lässt? Natürlich kann ich einzelne Elemente der theatralen Situation zunächst aufgrund (m)einer Zugehörigkeit zu einem kulturellen System verstehen, kann Zeichen erkennen und deuten – es geht jedoch vielmehr darum, dass ich mich einer Situation aussetze und ein konkretes, zutiefst persönliches Erlebnis habe, das aus konkreter Nähe oder zumindest einem Mir-nahe-Gehen entsteht. Mental wird von der Kritik bezeichnet als »stigma-smashing experience«23 – und genau diese zerstörte, zerschmetterte Stigmatisierung nicht nur Leadbitters, sondern auch der Zuschauer/innen selbst führt zu der Frage: Wie verorte ich mich selbst in dieser Situation? So besagt die Performance schließlich »so much in a wider sense
19 | Vgl. Böhme 2004. 20 | Vgl. Kolesch im vorliegenden Band. 21 | www.sfb-affective-societies.de/index.html. 22 | www.sfb-affective-societies.de/ueber-uns/index.html. 23 | Pollock 2014.
Mentale und materielle Schubladen
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24 | Pollock 2014.
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Nikola Schellmann
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Re/produktion im Kontext Tanz
»Das große Gesetz der Wiederholung …« Zur praktischen Herstellung tanzender Körper und ihrer Kategorisierungen Stefanie Husel & Sophie Merit Müller
W iederholung als (de -) konstruk tives E lement des The aters In der theaterwissenschaftlichen Diskussion, aber auch in der Theaterpraxis trifft man immer wieder auf diskursive Figuren, die sich am für das Theater so zentralen Moment der Wiederholung abarbeiten. Auch die Frage nach Kunst als Maschine der Produktion und Reproduktion von Körperkategorisierungen, vor deren Hintergrund dieser Beitrag steht, bezieht sich darauf. Dabei ist Wiederholung in der Darstellenden Kunst an gleich zwei zentralen Stellen konstitutiv: Zum einen ist dauernde Wiederholung zwingend notwendig, um Darstellungen einzuüben – seien dies inszenierungsspezifische Darstellungen, die in Probenprozessen eingeübt werden, oder seien es Darstellungsvoraussetzungen, wie sie durch Trainingsprozesse in professionelle Darsteller/innenKörper eingeschrieben werden. Zum anderen findet sich Wiederholung aber nicht nur in der Vorbereitung von Aufführungen (und somit auf der Seite der Theatermacher/innen), sondern – und auch das ist zwingend – in Aufführungen selbst, auf der Seite der Zuschauer/innen. Denn nur das irgendwie schon Bekannte, das schon einmal Gesehene lässt sich sofort erkennen und einordnen bzw. kategorisieren. Und ebenso wie die Fertigkeiten der Darstellung wird auch dieses sinnhafte Unterscheiden eingeübt – wenn auch zumeist weniger gezielt. Mit Walter Benjamin lässt sich also für den Theaterbetrieb konstatieren, dass auch dort das »große Gesetz der Wiederholung«1 gilt, ja wesenhaft
1 | Benjamin 1972, 131. Benjamin äußert sich hier zu Spielen und Schauspielen im Allgemeinen; im Besonderen interessiert er sich für Kinderspiele und Spielzeuge.
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Stefanie Husel & Sophie Merit Müller
ist: »Der dunkle Drang nach Wiederholung ist hier im Spiel kaum minder gewaltig […] am Werke als in der Liebe der Geschlechtstrieb.«2 Beide zentralen Wiederholungsmomente – sowohl die Darstellungs- wie die Wahrnehmungsroutinen – bestehen allerdings nur dann fort und erhalten ihre soziale Relevanz, indem sie immer wieder ausgeübt werden: Wie schon Pierre Bourdieu mit seinem Habitusbegriff herausgearbeitet hat, übt jede Wiederholung zwangsläufig ein;3 für den Theaterbetrieb wird dieses »anthropotechnische Grundgesetz«4 gezielt ausgenutzt und sozial gesteuert: beispielsweise in Proben, wo ein Stück so und nicht anders wiederholt wird, bis es möglichst perfekt beherrscht wird, oder in der dramaturgischen Gestaltung, wo gezielt auf bestehende Kategorien zurückgegriffen oder eine erwartbare Wiederholung absichtlich durchbrochen (und auf diese Weise relevant gemacht) wird. Im Diskurs der Theaterpraxis wie auch der Theaterwissenschaft gibt es nun zwei recht unterschiedliche Weisen, wie die beschriebene, bühnentypische, genuin spielerische Wiederholung begriffen, praktiziert und bewertet wird: Darstellungsstrategien, die Kategorien durch Wiederholung festigen, werden unterschieden von solchen, die Kategorisierung auf brechen, indem sie sie (ebenfalls wiederholend) bewusst machen oder ironisieren. Dabei sind theatrale und mediale Wiederholungspraktiken, die alltägliche Kategorisierungen wie z.B. Geschlecht, Ethnie etc. festigen, nicht nur als konservativ, sondern auch als künstlerisch wenig wertvoll konnotiert. Das Auf brechen und Ironisieren von Kategorien hingegen fungiert als ganz wesentliches Moment in der Praxis wie in der (Selbst-)Beschreibung ›avantgardistischer‹ sowie ›künstlerisch wertvoller‹ Theaterästhetik, ja wird sogar zur ethischen Aufgabe eines ›politisch bewussten‹ Theaters erklärt.5 Wird diese Folie (konservative versus subversive 2 | Benjamin 1972, 131. 3 | Vgl. Bourdieu 1987. 4 | Sloterdijk 2011, 501. 5 | Vgl. z.B. Lehmann 2001, 30-39 sowie 449-473: Lehmann schreibt zwar seinerseits mit Bestimmtheit gegen die o.g. vorschnelle Gleichsetzung von Avantgarde und künstlerischer Wertigkeit an, nutzt aber im Epilog die Differenz zwischen Zeichennutzungen, die einfache, bequeme Wirklichkeiten stabilisieren, im Gegensatz zur risikobereiten Zeichenverwendung eines an Wahrnehmungspolitik interessierten Theaters: »Die technischen Tricks und die konventionellen Dramaturgien behaupten märchenähnlich als Angstabwehr der Macher und der Konsumenten die sichernde Allmachtsphantasie […]: über alle Realitäten […] in aller Ruhe zu verfügen und zu gebieten, ohne selbst durch sie betroffen zu sein.« (Lehmann 2001, 470). Weiter: »Theater vermag allein mit einer Wahrnehmungspolitik […] darauf zu reagieren. Anstelle der trügerischen Dualität von Hier und Dort, Innen und Außen, kann es die beunruhigende wechselseitige Implikation von Akteuren und Zuschauern in der theatralen Bilderzeugung in den Mittelpunkt rücken […].« (Lehmann 2001, 471.)
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Wiederholung) allerdings zur Grundlage der Betrachtung und Analyse von Bühnenstücken, so unsere These, dann gerät sie ihrerseits selbst nicht in den Bereich der Reflexion und bleibt als sinnhafte Unterscheidung unhinterfragt. Aus diesem Grund möchten wir mit unserem Beitrag gewissermaßen unterhalb dieser theoretischen und latent normativen Debatte ansetzen und an einigen empirischen Fällen untersuchen, wie das große Gesetz der Wiederholung jeweils ganz konkret in seiner Wirkung auf Körper und Kategorisierungen beobachtet werden kann. Wir greifen dazu auf Datenmaterial zurück, welches wir uns über eine ethnografische Arbeitsweise methodisch erschlossen haben. Kennzeichnend für den Forschungsstil der Ethnografie ist ein Wechselspiel aus Nähe und Distanz zum Feld, aus praktischem Mittun und Miterleben in der Praxis und analytischer Befremdung des Vertrauten.6 Ethnografische »dichte Beschreibungen«7 zielen so auf »beobachtende Differenz«8: Wir möchten im Folgenden einen Blick auf das Wiederholungsgeschehen werfen, der nicht von der Feldteilnehmer/innen-Perspektive der Praktizierenden geleitet ist, sich aber auch nicht auf theoretische bzw. politische Prämissen zurückzieht, sondern der an empirischem Material das Wie der Wiederholungsmechanismen herausarbeitet. Gleichwohl haben wir uns zu diesem Zweck beide im Rahmen unserer Dissertationsprojekte als Feldteilnehmerinnen involviert: Als Soziologin und ausgebildete Tänzerin hat Sophie Merit Müller mehrere Jahre lang von der Ballettstange aus erforscht, wie die kontinuierliche Perfektionierungsarbeit einen Ballettkörper erschafft.9 Stefanie Husel hat ebenfalls viele Jahre die britische Kompanie Forced Entertainment teilnehmend begleitet und sich damit befasst, wie post-dramatische Aufführungen sich im Spiel mit dem Publikum entfalten.10 In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf Wiederholungsmomente im Kontext des künstlerischen Bühnentanzes, um unsere Forschung vergleichend zu kontrastieren und miteinander in Bezug zu setzen. Aufgrund der zentralen Relevanz des Körpers im Tanz lässt sich hier die Reproduktion und Produktion von Körperkategorien besonders pointiert beobachten; die Prominenz der Kommunikation über Körperdarstellungen sowie die vorgenommene Abstraktion der Bewegung schaffen zudem – so wollen wir zeigen – spezielle Bedingungen, um Personenkategorien hochzuspielen, doch auch, um diese herunterzuspielen. Unsere These ist dabei, dass gerade die Kritik an und die Dekonstruktion von Humankategorien, wie sie im postmodernen Theater erwünscht sind, auf die erkennbare Referenz und damit die praktische Repro6 | Vgl. etwa Breidenstein et al. 2013. 7 | Geertz 1987. 8 | Kalthoff 2003. 9 | Vgl. Müller 2016. 10 | Vgl. Husel 2014.
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duktion dieser Kategorien angewiesen ist. Weiterhin können Kategorien aber im Sinne des Konzepts eines »Un/doing Differences«11 auch praktisch uninteressant gemacht werden – zum Beispiel dann, wenn besondere körperliche Erfordernisse und ästhetische Kriterien Körperlichkeit und Bewegung von Personalität ablösen. Hierzu beleuchten wir zunächst das klassische Ballett als eine Reproduktionsmaschine für speziell zugerichtete Körper, welche auch in den zwei Bühnenstücken zum Einsatz kommen, die wir im Folgenden besprechen: Wir stellen mit Susan & Darren (R: Richard Gregory, Renny O’Shea) ein postmodernes (bzw. post-dramatisches) Tanz-Theaterstück vor, das dekonstruierend mit Körperkategorisierung verfährt, dabei aber notwendigerweise Kategorien betonen muss, um ihre Dekonstruktion überhaupt erkennbar zu machen. Im letzten Schritt betrachten wir im Gegensatz dazu an One Flat Thing, Reproduced von William Forsythe, wie bestimmte gesellschaftlich brisante Personenkategorien theatral irrelevant gemacht werden können, indem ganz andere Wahrnehmungskriterien in den Vordergrund des ästhetischen Interesses rücken.
D ie R eproduk tion von B alle t tkörpern Wie professionelle Schau-Körper hergestellt werden, ist wohl nirgendwo so paradigmatisch zu beobachten wie im klassischen Ballett. Entlang eines ästhetischen Dispositivs wird hier ein spezieller Körpertypus ausgewählt und hergestellt. Für eine Berufsausbildung zum Ballettkörper muss man die passenden Materialien schon mitbringen: Körper, die nicht als geeignet klassifizierbar sind, werden oft für den weiteren Formungsprozess gar nicht erst zugelassen. So macht Misty Copeland, heute erste Solistin des American Ballet Theatre, ihr Ablehnungsschreiben einer Ausbildungseinrichtung in einem Werbevideo bekannt: »Dear candidate, thank you for your application to our ballet academy. Unfortunately, you have not been accepted. You lack the right feet, archilles tendons, turnout, torso length and bust. You have the wrong body for ballet. And at thirteen, you are too old to be considered.«12
Die Klassifikationskriterien des professionellen Betriebs für ballettgeeignete Körper zeigen sich hier als sehr eng gesteckt. Copeland wurde dafür berühmt, dass sie es trotz aller ›Ungeeignetheit‹ als ›zu alter‹, ›missgebildeter‹ und (zudem noch) dunkelhäutiger Körper bis an die Spitze schaffte. Heute 11 | Hirschauer 2014. 12 | https://www.youtube.com/watch?v=ZY0cdXr_1MA.
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propagiert sie vor allem die (unterschätzte) Veränderbarkeit von Körpern durch Willenskraft und hartes Training. Ethnie und Klassenhintergrund dienen in Copelands Selbstdarstellung als zusätzliche Verstärker:13 Sie hat es trotz oder auch gerade wegen ihrer kategorialen Benachteiligungen zur Ersten Solistin gebracht. Wenngleich sie damit den Glauben an die Naturgegebenheit von Körpertypen irritiert und zum Wunderkind stilisiert wird, bestätigt sie andererseits durch ihr ehrgeiziges Training genau die Körperkategorien des Balletts und die Notwendigkeit hochgradig praktisch ausdifferenzierter Körper, über die sich dieser Tanzstil als Kunstform perpetuiert. Nach der Auswahl erfolgt nämlich die Ausbildung zum Ballettkörper. Diese zielt darauf, die als geeignet unterschiedenen Körper untereinander weiter anzugleichen, um schließlich dasselbe Körperideal zu verkörpern. Dadurch wird ein bestimmter Körpertypus reproduziert; über die Verkörperungen des Ideals bleibt dieses wiederum als Anleitung für weitere Reproduktionen wirksam. Die Herstellung von Ballettkörpern spielt sich in Balletttrainings ab. Anders als in choreografischen Proben geht es in der ballet class nicht um das Einstudieren eines Bühnenstücks mit Ausrichtung auf die Aufführung. Vielmehr wird hier – nicht nur in der Ausbildung, sondern auch im Kompaniebetrieb – täglich das akademische Grundvokabular des Balletts exerziert. Ab der ersten Ballettstunde bis zur letzten täglichen company class im Arbeitsleben als Berufstänzer/in werden in diesem Setting die gleichen Grundschritte und Aufgabentypen absolviert, wenngleich sie sich während der Ausbildung in Schwierigkeitsgrad, Komplexität, Schnelligkeit und Kombination steigern und im Kompanietraining darin variiert werden. Die praktische Ausdifferenzierung professioneller Tänzer/innenkörper läuft ihrerseits über Differenzierung, nämlich über ballettspezifische Unterscheidungen zwischen richtig und falsch. Die Körper werden dabei entlang von Ballett-Wissen fragmentiert, um anders wieder zusammengesetzt zu werden. Hierzu ein Protokoll aus dem Datenkorpus der oben erwähnten ethnografischen Ballett-Studie:14 »Während der nächsten Übung passe ich nun darauf auf, wirklich die Abfolge richtig zu machen. Die ist nämlich recht kompliziert. Das port de bras nach vorn zieht unglaublich in den hamstrings, wie immer. Ich achte darauf, was gerade mein Projekt ist: Die pliés aus den Füßen zu machen und nicht aus den Oberschenkeln. Irgendwas fühlt sich komisch an, meine Augen schnellen nach rechts in den Spiegel. Oje, jetzt hängt der Oberkörper schon wieder nach hinten … mehr nach vorn spannen? Das war das mit ›Rücken lang‹ … Den Bauch benutzen! Ich schaue zu, wie sich die Linien im Spiegel verändern, 13 | Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Pe_d4jJE3AM; https://www.youtube. com/watch?v=PXIapH9kc20; http://mistycopeland.com/. 14 | Vgl. Müller 2016.
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Stefanie Husel & Sophie Merit Müller während ich herumprobiere. Sieht besser aus. Ich erkenne jetzt das Bild wieder, das sich im Spiegel ergibt: So ist es richtig. Auch wenn es sich komisch anfühlt. Ich muss kurz völlig vertieft gewesen sein, jedenfalls bin ich nun in der Abfolge etwas hinter den Anderen und hinter der Musik, die ich erst jetzt wieder richtig höre, als würde ich wieder aufwachen. Schnell drehe ich mich und öffne das Bein wieder im Takt zur Seite.«
Der eigene Körper wird hier über den Spiegel mit den Augen des Anderen betrachtet und aus seiner Perspektive bewertet und zurechtgerückt: Dies macht gezielte Veränderung des überwachten Körpers im Spiegel möglich und damit rückgekoppelt auch des eingreifenden, gespürten Körpers vor dem Spiegel. Bei dieser Selbstkorrektur geht es gleich doppelt um Differenzierungskompetenz: Die Elevin unterscheidet mit anatomischem Wissen Körperteile als zu adaptierende Einzelteile und sie unterscheidet mit ballettischem Klassifizierungswissen richtige von falschen Stellungen. Dabei schaut sie nicht den bloßen Rumpf an, sondern sieht ihn vielmehr mit einem dezidierten Ballettblick als ein Ensemble von Linien, deren Formen und Relationen Anhaltspunkte für einen ballettic way of standing sind. Das Adjustieren der Haltung läuft über ein Wechselspiel zwischen Schauen und dem Erzeugen von solchen Linienbildern. Verschiedene Stellungen werden hier in einem schnellen Seitenblick nach ballettischen Kriterien abgelesen, klassifiziert und sukzessiv in Hinblick auf einzelne Linien verändert, bis das Gesamtbild stimmt und einer Orientierungsvorlage entspricht. Für die Elevin heißt dieser visuell vermittelte, reflexive Bezug zwischen Ballettideal und ihrem eigenen Körper, dass sie hier am eigenen Leib lernt, wie beispielsweise ›Rücken lang‹ im Ballettkontext auszusehen und entsprechend sich anzufühlen hat. Sie stellt auf diese Weise nicht nur mit ihrem Körper ein korrektes Idealbild im Spiegel dar, sondern stellt auch ein entsprechendes, balletbezogen richtiges Gesamtgefühl her (das ihr nun im Weiteren als Orientierungsvorlage dienen kann). Über die bis hier beschriebene Arbeit werden also Körper durch Orientierung an ballettspezifischen Kriterien angeglichen. Diese Arbeit an der Vereinheitlichung der Körper entlang von ballettspezifischen Gelingenskriterien reproduziert so Verkörperungen des Ballettideals. Die Sehgewohnheiten des Publikums wie der Ballett-Macher/innen bestätigend, stehen auf diese Weise also immer neue junge, trainierte, schöne Körper für die Aufführung der Ballettästhetik zur Verfügung – die unpassenden können aussortiert und die alternden ersetzt werden, da es jede Menge gleicher (oder sogar noch besserer) gibt. Endlose, tägliche Wiederholungen der klassischen Grundschritte unterscheiden diese immer gleicheren Körper dabei zunehmend als professionelle Bewegungsapparate von Alltagskörpern: Ihr Job ist es, außeralltägliche, ästhetisch stilisierte Bewegungen zu performieren, welche diesem hochtrainierten Körpertypus – dem Ballettkörper – wiederum choreografisch auf den Leib ge-
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schrieben sind. Bestimmte andere Kategorisierungen, insbesondere ethnische Unterschiede, verlieren dabei an Relevanz, da sie hinter die primären Merkmale von Ballettkörpern zurücktreten: Dehnbarkeit, Haltung, Muskelstärke und Knochenbau überlagern als Unterscheidungskriterien zunehmend z.B. Hautfarbe oder nationale Herkunft. Da die Kunstform des Balletts kaum auf Sprachverständigung angewiesen ist, ist der ehemals auf die weiße europäische Oberschicht zugeschnittene Ballettbetrieb heute stark diversifiziert und internationalisiert.15
M it K ategorien spielen Solch ein ganz offensichtlich professionell hergestellter Tänzer/innenkörper tritt auch in dem ersten Bühnenstück auf, das wir untersuchen möchten. Hier wird dieser Körper in seiner professionellen Zurichtung zudem besonders auffällig gemacht, weil er durch einen überhaupt nicht tänzerisch durchgebildeten Körper kontrastiert wird. Die Rede ist von der Inszenierung Susan & Darren des britischen Theaters Quarantine, uraufgeführt 2007 in Manchester. Die beiden Darsteller/innen, die im Stück auftreten, stellen sich als Mutter Susan und Sohn Darren vor, sie treten als sie selbst auf und berichten über sich: Sohn Darren arbeite im wahren Leben als professioneller Tänzer, Mutter Susan als Putzfrau, die beiden würden in einer gemeinsamen Wohnung leben. Weiter heißt es, das Publikum solle sich vorstellen, bei Susan und Darren zu Hause zu sein. Man sei zugegen bei einer kleinen Party. Ja, Zuschauer/innen sind sogar aufgefordert, im Verlauf der gemeinsam verbrachten Stunden bei der Zubereitung des kalten Buffets zu helfen. Unterdessen berichten die beiden Darsteller/innen aus ihrem Leben, wobei mehrfach kleine tänzerische Einlagen geboten werden. Die Zuschauer/innen befinden sich also fiktiv mit Susan und Darren in deren privater Lebenswelt; die Bühnensituation wird für einen fingierten Blick auf die Goffman’sche Hinterbühne16 der beiden als sie selbst auftretenden Darsteller/innen genutzt. Das Publikum kommt den beiden Darsteller/innen dabei anscheinend immer näher, rückt ihnen gewissermaßen 15 | Allerdings ist gerade der Fall Misty Copeland ein hervorragendes Beispiel dafür, dass ethnische Differenz im Ballett nach wie vor thematisiert und dramatisiert wird – und dass gerade Personen mit dunklerer Hautfarbe nach wie vor eine Minderheit im Ballettbetrieb bilden. Nicht selten werden im Feld auch ballettrelevante körperbauliche Eigenschaften ethnisch konnotiert oder begründet: So gelten ›asiatische‹ Körper als besonders dehnbar, ›afrikanisch-stämmigen‹ Körpern wird oftmals eine Tendenz zum Hohlkreuz attestiert. Eine systematische Untersuchung dieser Phänomene aus kategorisierungstheoretischer Perspektive (Hirschauer 2014) steht allerdings noch aus. 16 | Vgl. Goffman 1959.
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auf den Leib; dies kulminiert in einer sehr authentisch wirkenden, ganz unerwarteten und schockierenden Vergewaltigungserzählung: Darstellerin Susan berichtet davon, wie ihr in jungen Jahren schwere sexuelle Gewalt angetan wurde. Danach führt die Inszenierung wieder aus dieser extremen Form der Privatschau hinaus, es wird aufs Neue Partystimmung etabliert und der Abend endet schließlich tatsächlich in einer kleinen gemeinsamen Feier, in der die Bühnensituation aufgelöst und das zuvor zubereitete Buffet verspeist wird. Betrachtet man zunächst, was die zwei auftretenden Darsteller/innen-Körper auf die Bühne mitbringen, so lassen sich diese anscheinend sehr einfach unterscheiden und damit kategorisieren. In ihrer starken Differenz wird ihre jeweilige Kategorisierbarkeit sogar hochgespielt: So tragen beide Performer/innen recht einfache, bequeme Kleidung; diese lässt im Falle Darrens dessen durchtrainierten und zugerichteten Ballettkörper auffällig werden; zudem könnte das Outfit in seinem Fall als professionelle Trainingskleidung begriffen werden. An Susans Körper fallen hingegen die Spuren von harter körperlicher Arbeit, von Alter und eventuell auch von ungesunder Lebensweise ins Auge. Sie wirkt, gerade in Differenz zu Darren, alt und übergewichtig; dass auch sie in Trainingshose und ärmellosem Shirt auftritt, unterstreicht, ganz anders als bei Darren, dass sie als Privatperson vor uns tritt; offenbar hat sie den Arbeitskittel abgelegt und zeigt sich so, wie sie zu Hause auf dem Sofa sitzen würde. In der Bewegungssprache, die die Inszenierung beider Darsteller/innen nutzt, werden die beschriebenen Differenzen ebenfalls verstärkt; Susan zeigt eine alltäglich bzw. uninszeniert wirkende Kinetik, Darrens biografische Erzählungen nutzen tänzerisch-stilisierte Bewegungen (Abb. 1). Im Falle beider Darsteller/innen-Figuren funktioniert Kategorisierung also zum einen durch deren körperliches Erscheinen, Tun und Können und zum anderen über – nicht minder körperlich vermittelte – Wahrnehmungsroutinen auf Seiten der Zuschauer/innen. Kaum sind die beschriebenen Differenzen etabliert, spielt die Inszenierung allerdings eine andere Unterscheidung in den Vordergrund: nämlich die Differenz zwischen Privatsituation und öffentlicher Darstellung. Diese Differenzierung tritt neben die beschriebene Unterscheidbarkeit der Körper, mit der sie korrespondiert, scheint doch der zugerichtete Tänzerkörper – Darren – gut auf eine Bühne zu passen, während der ›alltägliche‹ Körper – Susan – eher zum privaten Wohnzimmersetting zu gehören scheint. Das gemeinsame Wohnzimmer legt Zuschauer/innen zunächst nahe, Privatheit (und die zugehörige nicht inszenierte Körperlichkeit) als erstrebenswert authentisch zu begreifen. Wenn aber die Vergewaltigungserzählung vorgeführt wird, werden Nähe und Privatheit auf ein Übermaß gesteigert, wird Unbehaglichkeit verbreitet – Zuschauer/innen können sich fühlen als wären sie zu nahe getreten.
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Abb. 1: Susan Pritchard und Darren Pritchard in Susan & Darren; Darren erzählt von einer sexuellen Begegnung auf dem Sofa seiner Mutter, wobei er tänzerisch anmutende Gesten nutzt. Der offenbar einstmals in seiner Privatheit geschändete Körper der auftretenden Mutter Susan und der gewissermaßen öffentliche Tänzerkörper von Sohn Darren produzieren dabei zahlreiche Resonanzen: Zieht man z.B. in Betracht, dass ein nicht unwichtiges Element in der sonst äußerst minimalistischen Bühnenausstattung der Inszenierung eine Pole-Dance-Stange ist, mit der Darren verschiedene tänzerische Einlagen zeigt, liegt es nahe, über den Zusammenhang von Körperdarstellung, Objektivierung, Sexualisierung und Theatralität nachzudenken. Damit tritt mehr und mehr die Rolle der Zuschauer/innen in dieser speziellen inszenierten Situation in den Vordergrund: Zuschauen wird hier als aktive, manchmal voyeuristische und damit potentiell aggressive Tätigkeit reflektierbar – und zwar in situ. Um diesen Effekt zu produzieren, spielt die Inszenierung zunächst bestimmte Kategorisierungen hoch, um sie daraufhin kunstvoll mit möglichen Situationsbestimmungen interferieren zu lassen. Auf diese Weise wird die zunächst so offensichtlich gemachte Kategorisierung – und Kategorisierbarkeit – von Körpern schließlich überlagert von der Frage nach der Ethik des Zuschauens und damit des Kategorisierens selbst. Damit lassen sich an dieser Stelle zwei erste kurze Schlussfolgerungen anstellen: Erstens scheinen wir es bei Susan & Darren mit einer künstlerischen Wiederholungspraxis zu tun zu haben, die subversiv arbeitet. Dazu aber müssen mögliche vorhandene Körperkategorisierungen reproduziert und sogar gezielt verstärkt werden, um sie zum Thema machen zu können: Ein kategorisierender, objektivierender, voyeuristischer Zuschauer/innen-Blick wird
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zunächst gewissermaßen wachgekitzelt und gefüttert, um dann seinerseits Thema werden zu können. Dabei sollte man nicht vergessen, dass dieses subversive Spiel nur funktionieren kann, da die Inszenierung sorgfältig gestaltet und einstudiert wurde: Die (im mehrfachen Wortsinn) vorgeführten Körperkategorien müssen gekonnt dargestellt werden und klar erkennbar sein. Dass Darsteller/innen vorbereitet und Zuschauer/innen blickgeschult antreten, gehört zu den Spielregeln, die während der Aufführung gelten und die ästhetische Subversion erst ermöglichen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die beschriebene postdramatische Inszenierung also nicht von weniger subversiven Darstellungsweisen – z.B. einer traditionellen Ballettaufführung von Schwanensee. Abrückend vom konkreten Beispiel lassen sich, als zweites Zwischenfazit, zwei unterschiedliche Wege der Kategorisierung von Körpern beschreiben bzw. unterschiedliche Verfestigungsgrade: Zum einen werden Kategorisierungen in Körper eingeübt, eintrainiert und sichtbar gemacht. Dem entsprechen Wahrnehmungsroutinen, die ein schnelles Einordnen erlebter Körperlichkeit ermöglichen: »Aha, die sieht aus als würde sie viel Junkfood essen …« Oder: »Aha, der da ist sicher Tänzer.« Zum anderen lässt sich aber auch ein situatives Relevantmachen von Kategorisierungen beschreiben: Körper besitzen routinisierte Darstellungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten (und damit Kategorisierungsmöglichkeiten), doch nur manche davon werden performativ bedeutsam gemacht, je nach Situation.17
K ategoriale I ndifferenzen im S piel Nimmt man speziell solch situative Praxis in den Blick, kann man sich auch nach Darstellungsweisen auf die Suche machen, die bestimmte Kategorisierungen von Körpern uninteressant und irrelevant machen, sie also herunterspielen. Hierzu folgt ein zweites Beispiel, die im Jahr 2000 uraufgeführte Arbeit One Flat Thing, Reproduced von William Forsythe.18 Vom klassischen Ballett hat der Choreograf Forsythe sein Interesse an abstraktem Formenspiel mitgenommen, das er allerdings noch weiter nach allgemeinen physikalischen und geometrischen Prinzipien abstrahiert hat. Forsythe entwickelte daraus seine eigene, formal angeleitete Technik der Bewegungsentwicklung, die »Improvisation Technologies«19. In diesem Kontext wurden auch die Bewegungen für dieses Stück entwickelt. Dabei bewegen sich die Tänzer/innen in unterschiedlichen Konstellationen um ein und im Zusammenspiel mit einem Ensemble 17 | Vgl. Hirschauer 2014, 181f. 18 | Als Grundlage dient uns hier die Verfilmung der Arbeit durch De Mey 2006. 19 | ZKM Karlsruhe & Deutsches Tanzarchiv Köln 2012.
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identischer, in einem geometrisch präzisen Tableau angeordneter rechteckiger Tische. Dem Stück zugrunde liegen 25 verschiedene Themen, also festgelegte Bewegungsphrasen, mit deren Wiederholung in allen möglichen Formen der Variation choreografisch gespielt wird. Tatsächlich spielen die Tänzer/innen hierbei sogar im engeren Sinne, da die Gesamtchoreografie nicht festgelegt ist; vielmehr existiert ein sogenanntes Cueing System, das aus Bewegungen innerhalb der Themen besteht, die als Einsatzzeichen für andere Bewegungen funktionieren. Über dieses System werden Tänzer/innen von anderen Tänzer/innen zu Bewegungsphrasen aktiviert, diese wiederum geben dabei dann selbst wieder Cues usw. Die Tänzer/innen sind somit damit beschäftigt, permanent auf Zeichen zu lauern, die ihnen Handlungsorientierung geben.
Abb. 2: Auszüge aus One Flat Thing, Reproduced, auf denen ein abstraktes übergreifendes Bewegungsmuster (links) und die Cue-Beziehung zwischen verschiedenen Tänzer/innen (rechts) visualisiert ist.20 Im Alltag sind es häufig bestimmte Personenkategorien, die Cues darüber geben, wie man sich im Folgenden zu verhalten hat. Der Soziologe Erving Goffman hat dies sehr einprägsam in Bezug auf das Geschlecht herausgearbeitet.21 Körper fungieren in Alltagsinteraktionen als eine Art Display, das unablässig personale Informationen preisgibt.22 Die am Körper abgelesene Kategorie wird dann zur Ordnung von Interaktionen ausgenutzt: Wenn ich sehe, dass der Andere eine Frau ist, dann kann ich ein bestimmtes Repertoire an Verhaltensweisen als situativ angemessen setzen. Die Komplexität der Situation wird so reduziert, die Kontingenz von Erwartungen wird eingeschränkt.
20 | Auszüge aus Videoaufnahmen von der Website www.synchronousobjects.osu.edu, die sich der Erforschung der Bewegungsprinzipien in One Flat Thing, Reproduced widmet. Die Visualisierungen sind in diesen Aufnahmen schon enthalten. 21 | Vgl. Goffman 1977. 22 | Vgl. Hirschauer 2008, 978-982.
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Ganz anders im Spiel von One Flat Thing, Reproduced: Für dieses Spiel sind Personenkategorien uninteressant. Es geht hier um Bewegung: Körper dienen als Spielflächen für abstrakte Muster – andere Eigenschaften (die sich sonst zur Klassifikation anbieten würden) werden damit irrelevant. Der Gedanke der Reproduktion liegt bei One Flat Thing, Reproduced nicht nur im Titel, sondern auch im Prinzip der Choreografie: Denn nicht nur die Tische sind identisch; den Zuschauer/innen bieten sich synchrone und aneinander anschließende variierte Reproduktionen von Bewegungsmustern als Orientierung in der Fülle der beobachtbaren Bewegungen an. Im Bemühen darum, eine Ordnung auszumachen, erkennen die Zuschauer/innen schnell, dass verkörperte Personenkategorien hier kaum etwas hergeben – tanzen doch irgendwie alle mit allen und bilden immer wieder wechselnde Allianzen, synchrone Gruppen oder ergänzende Kombinationen. Die – erwartbarerweise jungen, trainierten – Tänzer/innen-Körper ziehen daher auch nicht als solche den Blick auf sich, sondern als ein Haufen mobiler, bunter Leiber, die hier in scharfem Kontrast zu den eckigen, einfarbigen und immobilen Tischen stehen. Die Tänzer/innen zeigen zudem alle recht unterschiedliche Eigenschaften – Farben, Konturen, Größen, Haare, Kleidung –, sodass sie sich in dieser Individualität auch nicht für eine eigenschaftsbasierte Unterteilung in weitere Untergruppen anbieten. Auch die Frage nach dem situativen Rahmen drängt sich dabei nicht auf die Weise auf, wie es in der oben beschriebenen Inszenierung Susan & Darren der Fall war: Authentizität und Zuschauer/innenverantwortung werden nicht zum Thema – da es hier ganz offensichtlich nicht um Personen geht. Hier wird vielmehr ein Spiel aufgeführt; allerdings kein klassisches Schauspiel, sondern ein zur Schau gestelltes Bewegungsspiel unter Eingeweihten, bei dem die Zuschauer/innen keinen Einblick in die Spielregeln erhalten; sie werden dadurch auf die visuellen Effekte dieses Spiels zurückgeworfen und halten so nach Bewegungsimpulsen, Symmetrien, Reaktionen, Ähnlichkeiten etc. Ausschau – oder lassen sich einfach auf die vorgeführten Bewegungsphänomene ein, wie auf ein Naturphänomen, z.B. das Spiel von Wellen auf dem Wasser. Es lässt sich also an dieser Stelle ein drittes Fazit hinzufügen: Die tänzerische Ausgerüstetheit und die daraus folgende Gleichheit in Leistungsniveau und Körperlichkeit bewirkt im letzten Beispiel nicht nur, dass diese Ballettkörper als solche nicht mehr auffällig werden. Darüber hinaus wird gerade auf Basis dieser spezifischen Geübtheit ein Raum für etwas Anderes geschaffen: Zuschauer/innen werden hier dazu bewegt, einen Blick einzuüben, der an körperlich transportierten Personenkategorisierungen – wie z.B. Geschlecht oder Ethnie – vorbeischaut und sie so als kontingent ausweist: Sie sind für unsere Orientierungen in Interaktionen, für die Ordnung des Sozialen eben nicht immer zwingend notwendig.
»Das große Geset z der Wiederholung …«
S ituative R ele vanzen von K ategorien im S piel Zusammenfassend möchten wir dafür plädieren, einen Zugriff auf die Darstellende Kunst zu etablieren, der jenseits theoretisch verhandelter ethischavantgardistischer Aufträge erstens den Topos der Wiederholung wertfrei als notwendige Komponente jeder Darstellungs- und Wahrnehmungspraxis begreift; und der entsprechend, zweitens, offen dafür ist, situative Darstellungsund Wahrnehmungspraxis – und damit auch die schwankende Relevanz von Körperkategorisierungen – zu untersuchen. Auf diese Weise würde, drittens, auch der Blick auf ästhetische Strategien frei, die auf professionalisierte Körper setzen, um situativ die Relevanz von Körperkategorien als Hinweise auf einen bestimmten Personenstatus herunterzuspielen – Strategien also, die im Rahmen eines Diskurses von konservativ-versus-subversiv ob ihrer Dezenz unterzugehen drohen.
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A bbildungsverzeichnis Abb. 1: Susan Pritchard und Darren Pritchard in Susan & Darren (R: Richard Gregory, Renny O’Shea). Video-Standbild aus: https://youtu.be/g4ZifyydZ6s [29.8.2016]. Abb. 2: Auszüge aus One Flat Thing, Reproduced (Ch: William Forsythe). VideoStandbilder aus: www.synchronousobjects.osu.edu [8.8.2016].
Offene Manipulation im weißen Akt Reflexionen über race und gender in The Last Attitude Marcel Behn
Die Frage nach der »soziale[n] Unterscheidung von Menschen, die sich im Rahmen von künstlerischen Produktions- und Rezeptionsprozessen insbesondere an den sichtbar ausgestellten Körpern der Darsteller/innen vollzieht«1, stellt sich mit Bezug auf das Bühnengenre des Handlungsballetts in besonderem Maße, kennzeichnen dieses doch gemeinhin heteronormative Rollenkonfigurationen, geschlechterkodierte Bewegungsästhetiken und ein dezidiert ›weißes‹ Hautbild. Gerade an diesen tradierten Repräsentationsmustern von race2 und gender3, die paradigmatisch in den ballets blancs 4 romantischer und klassischer Ballette zum Ausdruck kommen, orientieren sich wiederum produktions- und rezeptionsästhetische Vorstellungen vom ›geeigneten‹ Balletttänzer/innenkörper. In ihrem Stück The Last Attitude greifen Mamela Nyamza und Nelisiwe Xaba auf das ballet blanc als Repräsentationsmodell zurück, um diesen über Körperkategorisierungen prädizierten »ballet ›look‹«5 zu hinterfragen. Im Folgenden soll untersucht werden, wie dabei das ästhetische Verfahren der offenen Manipulation zum Tragen kommt und inwiefern die Inszenierung trotz ihres kritischen Gestus Gefahr läuft, besagtes Körperbild zu affirmieren. Ich betrachte dabei The Last Attitude als Reworking nach Vida Midgelow und ver-
1 | Kreuder/Koban/Voss im Vorwort des vorliegenden Bandes. 2 | In Abgrenzung zu skeptizistischen oder biologistischen Konzeptionen von race vertrete ich ein konstruktivistisches Verständnis dieses Begriffs, vgl. James, http://plato. stanford.edu/archives/spr2016/entries/race/. 3 | Ebenfalls in Abgrenzung zu biologisch-deterministischen Vorstellungen vertrete ich ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von gender, vgl. Mikkola, http://plato.stan ford.edu/archives/spr2016/entries/feminism-gender/. 4 | Vgl. Kieser/Schneider 2006, 25. 5 | Oliver 2005, 46.
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wende damit einen Intertextualitätsbegriff, der zumindest in der deutschsprachigen Tanzwissenschaft bislang kaum Berücksichtigung gefunden hat.6
Z um B egriff »R eworking « In ihrer Monografie Reworking the Ballet. Counter-narratives and alternative bodies untersucht Midgelow anhand exemplarischer Aufführungsanalysen, wie Reworkings mittels unterschiedlicher Strategien die Ästhetiken, Narrative und Körperbilder des Ballettkanons von innen heraus dekonstruieren. In Abgrenzung zu restaurativen Formen choreografischer Intertextualität wie Rekonstruktionen oder Revivals7 beschreibt sie Reworkings dabei zunächst als »dances that might broadly be perceived to depart from a source text (or texts) in order to give rise to a new dance that has a significantly different resonance, while evoking a purposeful extended and intertextual relationship with that source«8. Genauer definiert sie Reworkings wie folgt: »As a form of intertextual palimpsestuous practice, reworkings are hybrid texts that evoke, at the very least, a bidirectional gaze. These dances have the potential to demythologise the dances of the ballet canon, for as canonical counter-discourse (which may be intentional or otherwise) reworkings engage in cultural debates that have sought to deconstruct and rewrite the ideologies embedded within canonical practices. […] On the other hand […], however radical or subversive any particular reworking may be, the canon continues to reverberate within them as they simultaneously reveal and reiterate their sources.« 9
Zwei Aspekte dieser Definition möchte ich näher erläutern, um sie für die Analyse von The Last Attitude produktiv zu machen, nämlich was unter dem entmythologisierenden Potenzial von Reworkings zu verstehen ist und wie der Kanon seinen mythischen Status entgegen (oder gerade wegen) seiner Reworkings behauptet. Midgelow zufolge sind Kanons Produkte zeitlicher Konsolidierungsprozesse, während derer die historiokulturelle Spezifität bestimmter Texte allmählich verschleiert wird – dies zugunsten der Konstruktion eines vermeintlich homogenen, normativen Status annehmenden, transhistorische und überper-
6 | Nach meiner Kenntnis findet dieser Begriff einzig bei Simone Willeit Erwähnung, vgl. Willeit 2010, 47. 7 | Vgl. Midgelow 2007, 10. 8 | Midgelow 2007, 3. 9 | Midgelow 2007, 186.
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sönliche ästhetische Werte repräsentierenden Textkorpus.10 Den solcherart gereinigten Ballettkanon begreift Midgelow in Anlehnung an Roland Barthes als Mythos, d.h. als »collective representation that is socially produced but inverted in order to appear ›a matter of course‹«11. Ein entmythologisierendes Potenzial entfalten nun Reworkings, indem sie kanonische Repräsentationsmuster mittels choreografischer, dramaturgischer oder körperästhetischer Strategien zitierend verfremden und damit als nur vermeintlich wertfreie entlarven. Allerdings laufen Reworkings aufgrund ihrer Intertextualität und des dem Kanon hierdurch implizit zugeschriebenen (obgleich negativen) Werts Gefahr, gerade diese Repräsentationsmuster zu reproduzieren.12 Darum betont Midgelow: »A reworking does not guarantee an oppositional or discordant impulse. Whether a reworking exceeds the containing and constraining properties of the source, or whether a dance remains held within a frame of mainstream cultural concepts, cannot be assumed, but requires detailed attention to the specifics of each dance and its context.«13
Inwiefern das ballet blanc als wirkmächtiges Repräsentationsmodell in The Last Attitude zitiert und dabei der Balanceakt zwischen einer drohenden Untermauerung dieses Modells bei vorsätzlicher Unterwanderung desselben vollführt wird, soll im Folgenden erörtert werden.
I nter (re) ferenzen 14 Kalkweiße, zierliche, mit weißen Tüllröcken bekleidete Mannequin-Torsi säumen schon zum Einlass die hintere Bühnenwand und stehen dabei in augenfälligem hautbildlichen Kontrast zu den beiden ›schwarzen‹ Hauptdarstellerinnen Xaba und Nyamza. Komplementiert wird diese Reihe identischer Torsi im Aufführungsverlauf durch ebenfalls mit weißen Tüllröcken ausgestattete Statistinnen jugendlichen Alters und hellen Hauttyps, die von Xaba und Nyamza mit einem Einkaufswagen auf die Bühne gefahren und seitlich aufgestellt werden. Die Hauptdarstellerinnen scheinen dabei bemüht, die oberflächliche Heterogenität der Statistinnen auf ein Mindestmaß zu reduzieren: Inkorrekte Fußstellungen werden zu einer akademischen ersten Position hin korrigiert, zerknitterte Röcke geglättet, offenes Haar nach hinten gestrichen 10 | Vgl. Midgelow 2007, 22. 11 | Midgelow 2007, 23. 12 | Vgl. Midgelow 2007, 28-33. 13 | Midgelow 2007, 77. 14 | Der folgenden Analyse liegen Vorstellungsbesuche am 6. August 2015 (Zürcher Theater Spektakel) und am 29. Januar 2016 (Festival Antigel in Genf) zugrunde.
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und neutrale Gesichtsausdrücke mit einem Lächeln versehen. Unschwer erkennbar wird mit diesem zum Publikum hin offenen Karree aus leblosen Torsi und unbeweglichen Jugendlichen die Anordnung des weiblichen corps de ballet im ballet blanc nachempfunden und damit der konventionelle Rahmen für den nachfolgenden pas de deux geschaffen. Zu einer eingespielten musikalischen Sequenz aus dem 2. Akt von Schwanensee − ein ballet blanc par excellence – tanzt Xaba, die Rolle des männlichen Tänzers übernehmend, mit einem zuvor auf offener Bühne montierten und als weiblich markierten Schaufenstermannequin. Die anfangs noch korrekt von Xaba ausgeführten, zum standardisierten Bewegungsrepertoire klassischer pas de deux gehörenden Promenaden, Hebungen und Pirouetten führt sie jedoch zunehmend ad absurdum. Statt ihre Plastikpartnerin kontrolliert zu drehen, zu führen und zu stützen, schleudert sie das Mannequin mit zunehmender Wucht umher, packt es nonchalant am Busen oder schmeißt es der hinzukommenden Nyamza in hohem Bogen zu. Nach vollständiger Demontage des Mannequins zieht letztere, dem Publikum den Rücken zukehrend, ihr Oberteil aus, legt sich ein Mannequinbein in Manier eines Gewehrs an und ›eröffnet das Feuer‹ auf Publikum und Statistinnen, wobei letztere unter den imaginären Salven dahinsinken. Den Schambereich des Mannequinbeins reibend, geht Nyamza ab.
Z um B egriff » offene M anipul ation « Anhand der eben beschriebenen Sequenzen wird deutlich, dass Xaba und Nyamza das ballet blanc als Repräsentationsmodell nicht bloß zitieren, sondern dieses in bestimmten Aspekten modifizieren. Diese strategischen Umwandlungen und Umwertungen möchte ich im Folgenden als Formen offener Manipulation behandeln. Spezifisch bezeichnet offene Manipulation eine dem japanischen Bunraku entlehnte figurentheatrale Spielform, bei welcher der/ die Figurenspieler/in offen in Erscheinung tritt und von den Zuschauenden bei der Animation der Spielfigur beobachtet werden kann.15 Zwar wird The Last Attitude weder als Figurentheater angekündigt, noch findet in dieser Inszenierung Animation im herkömmlichen Sinne statt.16 Jedoch meine ich, dass dieser Begriff ein aus zweifacher Sicht heuristisch wertvoller ist: als deskriptiver, weil er den sichtbar manipulativen Umgang Xabas und Nyamzas mit der Schaufensterpuppe bzw. den Jugendlichen adäquat beschreibt, und als metaphorischer, weil er – nach meiner Lesart – die in diesem Umgang zum 15 | Vgl. Wagner 2003, 21f. 16 | Konstanza Kavrakova-Lorenz definiert Animation als die »Umwandlung der Dinge […] von Objekten zu Subjekten der Handlung« (Kavrakova-Lorenz 2000, 70).
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Ausdruck kommende Kritik an einem in kanonischen Handlungsballetten propagierten Körperbild sinnfällig umschreibt.17 Nicht von ungefähr, meine ich, beschreibt Midgelow denn auch die verfremdenden Bezugnahmen von Reworkings auf den Kanon als »active manipulation [Herv. d. Verf.] of influences in the manner of a dialogue«18. Inwiefern offene Manipulation gemäß diesem weiten Begriffsverständnis in The Last Attitude stattfindet, soll im Folgenden mit Bezug auf die bereits beschriebenen Sequenzen näher erläutert werden.
O ffene M anipul ation als R eworking -S tr ategie Gleich zuhauf karren Xaba und Nyamza die völlig reglos bleibenden jugendlichen Mädchen mit Einkaufswagen auf die Bühne, hieven diese aus den Wagen, schleppen sie zu ihren jeweiligen Positionen und setzen sie buchstäblich in Szene. Mittels dieser inszenierten Manipulation scheinen Xaba und Nyamza zum einen auf den warenästhetischen, verdinglichten Charakter des weiblichen Körpers im corps de ballet aufmerksam machen zu wollen, den Susan Leigh Foster bereits im historischen romantischen Ballett ausmacht und der sich als Repräsentationsparadigma durchsetzen konnte. Konstitutiv für dieses »spectacle of the female corps de ballet«19 sind dabei »all those similarly dressed bodies moving in unison like merchandise lined up on a shelf«20. Überhaupt meint Foster bezüglich der dramaturgischen Anlage des romantischen Balletts: »The whole organization of balletic spectacle presumed the primacy of the male heterosexual viewer whose eyes would be satisfied by a display of voluptuous feminine forms.«21 Zum anderen wird mittels der Ausstellung gerade jugendlicher Körper auf das gängige Stereotyp der passiven, gefügigen, kindsgleichen Ballerina augenfällig verwiesen, welches Wendy Oliver mit Rekurs auf Susan Bordos Monografie Unbearable Weight. Feminism, Western Culture, and the Body problematisiert:
17 | In diesem Zusammenhang stellt auch Cynthia Jean Cohen Bull eine Ähnlichkeitsrelation zwischen dem Bunraku und dem klassischen pas de deux fest: »The classical pas de deux bears an ironic resemblance to the Japanese bunraku puppet theater, in which the fully visible puppeteers sink into the background and one’s attention is held by the vitality of the puppets which they maneuver. Of course, the ballerina, who may appear to be maneuvered, is not a puppet but a fully participating agent in her own movement.« (Cohen Bull 2003, 286.) 18 | Midgelow 2007, 147. 19 | Foster 1996, 10. 20 | Foster 1996, 10. 21 | Foster 1996, 11.
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Während der Auftritt des mädchenhaften corps de ballet so ein rezeptionsseitiges ›männliches‹ Begehren nach domestizierter, aus sicherer Distanz konsumierbarer, unverbrauchter ›weiblicher‹ Körperlichkeit sinnbildlich zu signifizieren scheint, verweist der anschließende gewaltsame pas de deux mit der Schaufensterpuppe – die dingliche Projektionsfläche der geschlechterinszenierenden Warenästhetik schlechthin23 – auf eine produktionsseitige Gender asymmetrie zwischen der ›passiven‹ Ballerina und ihrem ›aktiven‹ Partner. Deutlich schreiben sich Xaba und Nyamza über die offene Manipulation der Statistinnen und des Mannequins in einen spezifischen Diskurs ein, in welchem die Ballerina als handlungsunfähiges und manipulierbares Objekt männlicher Begierde und Schaulust betrachtet wird. Maßgeblich geprägt hat diesen Diskurs dabei Ann Daly, die in George Balanchines Die vier Temperamente nicht nur das »sadomasochistic pattern: man manipulates powerless woman«24 identifiziert, sondern hierin schlechterdings das konstitutive Merkmal des klassischen Balletts als Bühnengenre zu erkennen meint: »Ballet is one of our culture’s most powerful models of patriarchal ceremony. […] Though the ballerina displays her beauty, power is associated with the masculine values of authority, strength, and independence which her partner, the manipulator, demonstrates. And by her compliance, she ratifies her subordination. […] No matter what the specific steps, no matter what the choreographic style, the interaction structure, pointe work, and movement style of classical ballet portrays women as objects of male desire rather than as agents of their own desire […].«25
Dalys virulente Kritik am klassischen Ballett, insbesondere am pas de deux als Verkörperung und Repräsentation einer patriarchalen symbolischen Ordnung, hat sich dabei als so wirkmächtig erwiesen, dass ihr Aufsatz – trotz kritischer Voten26 – buchstäblich Schule gemacht hat.27
22 | Oliver 2005, 41. 23 | Vgl. Bieling 2008, 132-136. 24 | Daly 1987, 14. 25 | Daly 1987, 16f. 26 | Auf diesen Punkt komme ich noch zu sprechen. 27 | Vgl. Fisher 2007, 5.
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Rufen Xaba und Nyamza mit der Substitution des corps de ballet und der offenen Manipulation des Mannequins den genrespezifischen Code des ballet blanc auf, um diesen von innen heraus auf seine begrenzten Repräsentationsschemata von race und gender hin zu befragen, geht Nyamza in der darauffolgenden Sequenz zum sinnbildlichen Angriff gegen diesen über. Durch die ostentative Verwendung des Mannequinbeins als Maschinengewehr wird zunächst auf die Nähe zwischen dem militärischen Korps und dem corps de ballet hingewiesen, die beide jeweils normgebundenen Disziplinierungsmechanismen unterworfen sind.28 Ihr ›Angriff‹ auf die Statistinnen lässt sich dabei als ein Auf begehren gegen produktionsästhetische Normen kanonischer Handlungsballette semantisieren – gegen die hautbildliche Einheitlichkeit (Camouflage) des corps de ballet und dessen in Trainingseinheiten und Proben (Drill) bis zur perfekten Reproduzierbarkeit eingeübten geschlechtsspezifischen Bewegungsästhetiken und Formationen (Phalanx). Analog hierzu lässt sich ihr ›Angriff‹ gegen das Publikum als Auflehnung gegen tradierte rezeptionsästhetische Sehkonventionen und Erwartungshaltungen auffassen, die einen ›weißen‹, formvollendeten Einheitskörper zum ästhetischen Ideal erklären. Indem sich Nyamza darüber hinaus auf eine Art und Weise entkleidet, die dem Publikum den Blick auf ihren eigenen entblößten Busen verwehrt, zugleich aber das Mannequinbein durch lüsternes Reiben als erotisches Ersatzobjekt markiert,29 scheint sie eben jenes von Daly und Foster identifizierte patriarchale Dispositiv visuell konsumierbarer weiblicher Körperlichkeit zu unterwandern. Mittels der Umleitung des Zuschauer/innenblicks von sich selbst auf das sexuelle Verfügbarkeit signifizierende Objekt wird dieses Begehren zwar nach außen hin bedient, jedoch auf eine Art und Weise, die dieses Begehren gleichzeitig als solches ausstellt und problematisiert.
The L ast A ttitude als ›R eproduk tionsmaschine ‹ Trotz des kritischen Gestus von The Last Attitude, wie er bisher anhand verschiedener, den Code des ballet blanc manipulierender Strategien festgestellt wurde, läuft dieses Stück dennoch Gefahr, gerade jenes Körperbild zu zemen28 | Vgl. Ruprecht 2006, 6f. 29 | Gerade Beine sind kulturhistorisch betrachtet »hochgradig geschlechtsspezifisch codiert« (Fleig 2001, 488), stehen diese doch pars pro toto für die Gesamtheit des sexuelle Erfüllung versprechenden weiblichen Körpers, vgl. Fleig 2001, 489. Diesen Zusammenhang stellt auch Susan Leigh Foster fest: »The legs. The ballerinas’ legs. […] Nineteenth-century reviews of the female dancers, iconographic representations, costuming – all established the erotic pre-eminence of the ballerina’s legs.« (Foster 1996, 13.)
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tieren, das es zu hinterfragen beansprucht. Während sich Xaba und Nyamza beispielsweise mit der hyperbolischen Manipulation des Mannequins in einen Diskurs einschreiben, in welchem der Status der Ballerina als handlungsunfähiges Objekt lamentiert sowie eine produktions- wie rezeptionsseitige Genderasymmetrie angemahnt wird, so setzt dies, um als Kritik verstanden werden zu können, diesen Status respektive diese Asymmetrie als anhaltende Zustände zuallererst voraus. Tatsächlich aber ist im tanzwissenschaftlichen Diskurs – gewissermaßen als Reaktion auf solch apodiktische Sichtweisen, wie sie paradigmatisch Ann Daly in ihrem frühen Aufsatz vertritt – aus sowohl ethnografischer30, soziologischer31 und metatheoretischer32 Perspektive darauf aufmerksam gemacht worden, dass es zu kurz greift, in der Ballerina lediglich ein manipulierbares Objekt innerhalb eines patriarchal organisierten Kunstgenres zu sehen. Die Dialektik einer solch verabsolutierenden Auffassung bringen Alexandra Kolb und Sophia Kalogeropoulou auf den Punkt: »A critical voice might respond that such women are collaborating in their own suppression, or at least failing to take heed of how harmful ballet really is to them. Such ›false consciousness‹ theories are hard to falsify as they appeal to a supposedly higher-order perspective on a person’s ›real‹ interests that they themselves are deemed to be wholly or partially unaware of. But one might at least reply that to adopt such a belittling view of a female ballet dancer’s self-professed experiences and values is to reiterate the very ›patriarchal‹ attitude that is supposedly being critiqued.« 33
Die in The Last Attitude eingesetzten offen manipulatorischen Strategien laufen angesichts dieser Dialektik also Gefahr, gerade jene »homogenisierende und essenzialisierende [Übers. d. Verf.]«34 diskursive Denkfigur der manipulierten Ballerina als Schauobjekt eines ›männlichen‹ Blicks zu reaktivieren, die selbst Ann Daly in einem späteren Aufsatz als unhaltbar verwirft: »In fact, the male gaze theory forces the feminist dance scholar into a no-win situation that turns on an exceedingly unproductive ›succeed or fail‹ criterion. We expect the choreographer to topple a power structure that we have theorized as monolithic. The dancer or choreographer under consideration will always be condemned as a reinforcement of the patriarchal status quo, despite any transgressive behavior, because, by definition,
30 | Vgl. Fisher 2007. 31 | Vgl. Kalogeropoulou/Kolb 2012. 32 | Vgl. Albright 1997, 14f. 33 | Kalogeropoulou/Kolb 2012, 122. 34 | Banes 1998, 62.
Offene Manipulation im weißen Akt whatever is communicated arises from within the fabric of culture, that is to say, within patriarchy.« 35
Diese Dialektik betrifft gleichermaßen die diskursive Denkfigur des Balletts als latent rassistische Körperkunst, die den Zuschauenden in The Last Attitude durchweg vor Augen geführt wird – stehen die ›schwarzen‹ Körper Xabas und Nyamzas doch in offensichtlich inszeniertem Kontrast zu den ›weißen‹ Plastiktorsi und Jugendlichen. Dieser Kontrast, so meine Deutung, soll dabei letztere als in Plastik gegossene Reproduktionen respektive petrifizierte Signifikanten eines dem Genre des Handlungsballetts zugrunde liegenden, als ›erstarrt‹ empfundenen phänotypischen Ideals eurozentrischen Gepräges ausweisen.36 Die damit implizit formulierte Kritik an der durch dieses Ideal bedingten institutionellen Benachteiligung ›farbiger‹ Tänzer/innen hinsichtlich ihrer Beschäftigungs- und Besetzungschancen innerhalb klassischer Repertoirebetriebe greift jedoch aus ähnlichen Gründen zu kurz. Dies möchte ich mit Blick auf die Ernennung Misty Copelands zur Ersten Solistin am American Ballet Theatre kurz erläutern. Zunächst scheint dieses konkrete Beispiel jene anhaltende Diversifizierungstendenz zu bestätigen, die Oliver bei der Zusammensetzung klassischer Ensembles feststellt.37 Jedoch ist die Bemerkung Theresa Ruth Howards, Misty Copeland sei durch den orchestrierten Medienhype um ihre Beförderung selbst binnen kürzester Zeit zum »Mythos […] als ›Erste‹ und ›Einzige‹«38 geworden, aufschlussreich, gründete diese Mythosbildung doch gerade auf dem »vorsätzliche[n] Ignorieren legendärer schwarzer Vorgängerinnen«39. Folgt man Howards Argument, wurde im Falle Copelands das eurozentrische Körperideal 35 | Daly 1992, 243. 36 | Überhaupt scheinen die Torsi und versteinert wirkenden Jugendlichen als Verkörperungen eines ›in Stein gemeißelten‹ (und darum notwendigerweise der Erosion ausgesetzten) Körperideals in kulturgeschichtlicher Verwandtschaft zu antiken Skulpturfragmenten zu stehen – allen voran zum Torso von Belvedere als »Symbol der Bildhauerkunst und […] der Zeit als Zerstörerin« (Deufert/Evert 2001, 425). 37 | Wenn auch diese Tendenz cum grano salis aufzufassen ist: »As writer Brenda Dixon-Gottschild notes in her book, The Black Dancing Body, in earlier days blacks were specifically prohibited from joining companies such as the American Ballet Theatre. Dark skin was thought to ruin the unity of the group in modern dance as well as ballet. Although this picture has improved in the past few decades by the addition of Hispanics, Asians, and African-Americans to the ranks of ballet companies, the average ballerina, regardless of race, is still made in the image of the white, Eurocentric ideal.« (Oliver 2005, 46.) 38 | Howard 2015, 18. 39 | Howard 2015, 18.
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verallgemeinert, um hieraus medienwirksames Kapital zu schlagen, und zwar ungeachtet einer feststellbaren und fortschreitenden Diversifizierung. Gerade aber die implizite Behauptung eines intakten und lückenlosen, körperästhetisch bedingten institutionellen Rassismus im klassischen Ballettbetrieb – auf den, so meine ich, auch The Last Attitude abzielt – ist möglicherweise ähnlich überdeterminiert wie Dalys theoriegeleitete Konzeption der Ballerina als manipulierbares Objekt.40
A usblick Die hier behandelte Frage, ob und inwiefern das ästhetische Verfahren der offenen Manipulation in The Last Attitude ein (ent-)mythologisierendes Potenzial aufweist, hat ein erkenntnistheoretisches Problem ins Blickfeld gerückt, welches Midgelow in ihrer Theoretisierung von Reworkings meines Erachtens nicht genügend berücksichtigt. Das Problem betrifft die Möglichkeitsbedingung der Entmythologisierung, nämlich die Annahme eines a priori bestehenden Mythos – in diesem Fall die patriarchale und rassistische Repräsentationsideologie des Ballettkanons –, welcher als intakt behauptet werden muss, um nicht die Frage nach dem entmythologisierenden Potenzial ästhetischer Strategien und der an sie gekoppelten Subversivität des Reworkings von vornherein zu disqualifizieren. Oder, wie es Richard Coyne prägnant formuliert: »For subversion to be effective, a degree of credibility must already be attached to the orthodoxy […].«41 Erste Zweifel am Absolutheitsanspruch dieses Mythos habe ich hier mit Verweis auf wissenschaftliche Relativierungsversuche und praxisimmanente Diversifizierungstendenzen angebracht. Die Formulierung dieses Zweifels darf jedoch nicht missverstanden werden als Beweis dafür, dass diese spezifische Repräsentationsideologie partout keine exkludierenden und diskriminierenden Wirkungen entfaltet und dass Reworkings deshalb obsolet seien. Vielmehr sind die Gültigkeit und Wirkmächtigkeit, welche Zuschauer/innen, Wissenschaftler/innen und Künstler/innen dieser Ideologie zugestehen, selbst immer schon Effekte der jeweiligen »interpretive community«42, der sie zu40 | Hierauf deuten auch die Ergebnisse von Mike Dixons »kleine[r] Feldstudie« (Dixon 2013, 64) über die Rassismus-Erfahrungen dunkelhäutiger Tänzer/innen in britischen Ballettkompagnien hin. 41 | Coyne 2001, 91. 42 | Fish 1976, 483: »Interpretive communities are made up of those who share interpretive strategies not for reading (in the conventional sense) but for writing texts, for constituting their properties and assigning their intentions. In other words these strategies exist prior to the act of reading and therefore determine the shape of what is read
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gehören und deren Prämissen sie teilen. The Last Attitude rekurriert auf und reaktiviert zugleich je divergierende Annahmen unterschiedlicher interpretive communities hinsichtlich der Reichweite und Gültigkeit der Vorwürfe gegenüber dem Handlungsballett als Bühnengenre, das rassistische und patriarchale Körperideale propagiert, sowie hinsichtlich der Dringlichkeit und Wirksamkeit entmythologisierender ästhetischer Strategien. Werden jedoch diese Annahmen nicht auf ihre spatiotemporale Aktualität und kulturelle Spezifität hin reflektiert, laufen sowohl Reworkings als auch ihre Semantisierungen Gefahr, gerade diesen Mythos gemäß der in der jeweiligen interpretive community dominanten Form selektiver Wahrnehmung zu reproduzieren.43
L iter atur Albright, Ann Cooper (1997): Choreographing Difference. The Body and Identity in Contemporary Dance. Middletown: Wesleyan University Press. Banes, Sally (1998): Dancing women. Female bodies on stage. London: Routledge. Bieling, Tom (2008): Gender Puppets. Geschlechterinszenierung anhand der nonverbalen Kommunikation von Schaufensterpuppen. Berlin: Lit Verlag. (Kölner Internationale Schriften zum Design 1.) Cohen Bull, Cynthia Jean (2003): »Sense, Meaning, and Perception in Three Dance Cultures.« In: Desmond, Jane C. (Hg.): Meaning in Motion. New Cultural Studies of Dance. Durham: Duke University Press, 269-287. Coyne, Richard (2001): Technoromanticism. Digital Narrative, Holism, and the Romance of the Real. Cambridge (Mass.)/London: Massachusetts Institute of Technology Press. Daly, Ann (1987): »The Balanchine Woman. Of Hummingbirds and Channel Swimmers.« In: The Drama Review 31:1, 8-21.
rather than, as is usually assumed, the other way around.« Ich rekurriere hier auf dieses literaturwissenschaftliche Theorem, unter der (freilich zu diskutierenden) Annahme, dass sich Literatur- und Theaterrezeption analog zueinander verhalten. 43 | Vgl. Fish 1976, 477f: »[…] [I]t is only ›natural‹ to assign agency first to an author’s intentions and then to the forms that assumedly embody them. What really happens, I think, is something quite different: rather than intention and its formal realization producing interpretation (the ›normal‹ picture), interpretation creates intention and its formal realization by creating the conditions in which it becomes possible to pick them out. In other words […]: I ›saw‹ what my interpretive principles permitted or directed me to see, and then I turned around and attributed what I had ›seen‹ to a text and an intention.« Für eine tanzhistoriografische Erörterung des Zusammenhangs von Wahrnehmung und Wissen, vgl. Thurner 2009.
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Die schwedische Fernsehserie Äkta Människor (engl.: Real Humans) verhandelt die Reproduktion menschlicher Körper in ganz besonderer Art und Weise: Zentrales Element der Serie sind sogenannte Hubots, eine Wortkreation, die sich aus human und robots zusammensetzt. Es handelt sich dabei um für jedermann im Fachhandel erwerbbare Alltagsroboter, die alle von einem Menschen ausführbaren Arbeiten übernehmen können und je nach Software und programmiertem Temperament als Nannys, Haushälter/innen, Fitnesstrainer/innen, Lastenschlepper/innen und zuweilen auch als Liebhaber/innen eingesetzt werden können. In menschlicher Größe und mit menschlichem Aussehen werden die unterschiedlichen Hubot-Modelle aus dem Katalog ausgewählt und wie handelsübliche technische Geräte in industrieller Fließbandproduktion gefertigt. Wie im Laufe der Serie angesichts der Bildung subversiver Hubot-Vereinigungen deutlich wird, wurden Gefühle und freier Wille bei den Roboterkörpern allerdings nur durch eine Softwaresperre unterdrückt, um ihre reibungslose Funktion im entsprechenden Aufgabengebiet zu garantieren. Zwielichtige Kriminelle des Computer- und Hubot-Schwarzmarkts können die entsprechenden Sperren deaktivieren und ›das Menschliche‹ an speziellen Hubots wieder auslösen. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings andererseits heraus, dass die Erfindung der Hubots auf Computerchipexperimente an ›echten‹ verstorbenen Menschen und den unbedingten Willen eines trauernden Tüftlers, seine Liebsten wiederzubeleben, zurückgeht. Der Körper, der mit den Hubots thematisch wird, ist ein mechanisierter organischer Körper, eine Durchdringung von Apparat und Körper, der nur im Hinblick auf die Funktionalität der Mechanik, auf die Erfüllung des technischen Versprechens hin einen Wert besitzt. Die Frage, welche die Serie mit der Interaktion von Mensch und Hubot aufmacht, danach, wer oder was eigentlich als ›echter Mensch‹ zu gelten hat, verhandelt auch die Bedeutung von störungsfreier Funktionalität des menschlichen Körpers im
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Schnittpunkt von Mensch und Maschine und den Grad, zu dem eine solche Funktionalisierung als gesellschaftliches oder ökonomisches Idealmodell wünschenswert sein kann. Im Anschluss daran ergibt sich aber auch die weitergehende Frage danach, inwiefern menschliche Körper und Handlungen im Allgemeinen durch ihre materielle Einfassung (vielleicht nicht unbedingt nur durch Computer(chips)) geformt oder sogar bedingt werden, dass sie weniger als unabhängige und selbständige Akteure zu denken sind, als überhaupt erst in ihrem Zusammenwirken mit und ihrer Bedingtheit durch materielle Gegebenheiten konstituiert, verständlich, bedeutsam und wirksam werdend. In Real Humans findet die beschriebene Körper-Re/produktion auf der Ebene der Fabel statt und ist im Hinblick auf gesellschaftsbezogene Aussagen hinsichtlich der Kategorisierung von Körpern aus theaterwissenschaftlicher Optik wenig erkenntnisstiftend. Stattdessen möchte ich ausgehend von der Idee der funktionalisierten Körper ein Beispiel aus dem zeitgenössischen Tanz in den Blick nehmen, das diese Zuschreibung auf die Körper des künstlerischen Personals (statt auf fiktive Figuren) erlaubt.
Tanz und A nthropologie – der tanzende K örper der G esellschaf t Mehr noch als das Sprechtheater stellt der Tanz diejenige Gattung der Darstellenden Künste dar, in welcher der Körper in ganz besonderem Maße in seiner materiellen Körperlichkeit und seinem phänomenalen So-Sein im Zentrum steht. Wenn Christoph Wulf in anthropologischer Perspektivierung schreibt: »Die Bewegungen des Tanzes formen den Körper, der sie hervorbringt […]«1, verweist er darauf, dass Tanz eine als nicht vorgängig existent gedachte Körperlichkeit überhaupt erst produziert. Zudem artikulierten Tänze »Darstellungsund Ausdrucksformen der Menschen, ihrer Verhältnisse zur Welt und ihrer Selbstverhältnisse«2, und lassen damit Aussagen über die soziale Realität von Körperbildern zu. Wulf ergänzt weiterhin, »dass Tänze kulturelle Aufführungen sind, in denen sich Gesellschaften darstellen und ausdrücken und mit deren Hilfe sie dazu beitragen, Gemeinschaften zu erzeugen«3, was hinsichtlich der kollektiven Wirksamkeit von Kategorien und ihrer habitusmäßigen Umsetzung bedeutsam ist. Im Tanz kommt also gesellschaftlicher Körper-Habitus zum Ausdruck und kann entsprechend affirmativ oder subversiv bearbeitet
1 | Wulf 2007, 126. 2 | Brandstetter/Wulf 2007, 9. 3 | Wulf 2007, 123.
Funktionale Körper der Ober fläche
werden. Gerade die Untersuchung von Tanz sollte also in besonderem Maße Erkenntnisse über die Kategorisierung von Körpern bereithalten. Mechanisierung und Verobjektivierung von Körpern, wie sie angesichts der Hubots in Real Humans umrissen wurden, finden sich auch im Tanz. Prominente historische Beispiele sind die Projekte des Bauhauses in den 20erJahren des 20. Jahrhunderts: Technisch-geometrisierte Organismen führten hier in einem etwas anders gedachten Schnittpunkt von Körper und Apparat beispielsweise im Triadischen Ballett Oskar Schlemmers oder im Mechanischen Ballett Kurt Schmidts zur Entindividualisierung und Verabstraktion des menschlichen Körpers. Mit der Arbeit Black Project I des australischen Tänzers und Choreografen Antony Hamilton (UA 2012, Melbourne/Australien) möchte ich ein zeitgenössisches Beispiel der Funktionalisierung, Mechanisierung und Verobjektivierung des Körpers im Tanz untersuchen.4
A ntony H amilton : B lack P roject I Wie der Titel vermuten lässt, dominiert in Black Project I die Farbe Schwarz. Vor einer frontal zum Publikum aufgebauten schwarzen Stellwand, die sich im nur äußerst spärlich beleuchteten Bühnenraum befindet, liegen und kauern zu Beginn die zwei am ganzen Körper und im Gesicht schwarz geschminkten und mit schwarzer Trainingskleidung bekleideten Tänzer/innen Melanie Lane und Antony Hamilton auf einer relief bühnenartig schmal ausgelegten schwarzen Tanzfläche, die mit der Stellwand rechtwinklig verbunden ist. Dieses enge, panoramaartige Environment bildet für die 37-minütige Dauer des Projektes den Bewegungs- und Gestaltungsraum für die Tänzer/innen. In dieser postapokalyptisch wirkenden Umgebung ›erwachen‹ die beiden Körper nach und nach, setzen, knien, stellen sich auf. Jede dieser Stationen vollzieht sich über einen längeren Zeitraum hinweg, die Körper verharren zeitlupenähnlich in den jeweiligen Positionen, agieren dabei in erster Linie gestisch und auf sehr begrenztem Raum, während dynamisch-raumgreifende tänzerische Bewegungen praktisch nicht vorkommen. Ihre Bewegungen lassen sich als gestische Äußerungen in einem ständigen Rewind, Still und Time Lapse beschreiben, sie wirken wie ein technisiertes Vor- und Zurückspulen, ein Abspulen abgehackter und unsemantischer Bewegungsabläufe im Zeitraffer. Die beiden Körper führen dabei synchron und meist nebeneinander genau dieselben Bewegungsprogramme durch, treten dabei jedoch nicht in Interaktion. Hinter ihren Bewegungen werden die Körper und erst recht die Tänzer/innen als Individuen, fast könnte man sagen, unsichtbar. Das schwarze Verschmelzen von Körpern 4 | Es handelt sich dabei um eine Aufführung von Black Project I im Rahmen der Ludwigshafener Festspiele 2015.
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und Rückwand bzw. Boden in dem dämmrigen Licht lässt die spezifischen Körper hinter den Bewegungen zurücktreten. In jenem gedehnten Prozess des Erhebens zu Beginn der Choreografie greifen die Tänzer/innen zu bereitstehenden Kreidestiften und realisieren, die Kreide in der Hand, mittels ihrer Bewegungen kreisförmige weiße Linien auf dem Boden. In einem ersten Impuls könnten die Kreidezeichnungen als Spuren ihrer Bewegung gelesen werden, aber dies fasst den Vorgang nicht ganz exakt. Es ist eher umgekehrt, die Tänzerkörper scheinen in ihrer Funktion der Realisierung dieser Formen erst bedeutend zu werden. Die Rede von einer Bewegungsspur implizierte zudem eine Art Intentionalität und intrinsischer Motivation der sich bewegenden Körper, doch diese Körper wirken nicht, als seien sie intentional beseelt, sie wirken eher wie Formen, deren Bewegung sich auf rein physikalischer Ebene ereignen. Ihre Bewegungen sind mechanisch, obwohl die Körper selbst nicht wie Maschinen wirken. An sich alltäglich-organisch anmutende gestische Bewegungen (wie das Führen der Hand zum Mund oder erklärende, sprachbegleitende Gesten) entbehren den gewohnten Bewegungsfluss und werden – neben prinzipiell ungewöhnlichen und nicht semantisierbaren Gesten, die es auch gibt – durch die fortwährenden Rewinds, Wiederholungen, Dehnungen und Beschleunigungen schematisiert. Dadurch sind auch sie nicht mehr ohne Weiteres synthetisierbar und semantisierbar, sondern werden ins Maschinen- und rein Funktionshafte einer Programmierung überführt. Die Synchronizität der Bewegungen und das ständige Wiederholen und Zurückspulen unterlaufen jede Idee von Individualität und Intentionalität und disqualifizieren den Körper als Ausdruck einer irgend gearteten Innerlichkeit. Noch deutlicher wird dies in der zweiten Hälfte von Black Project I: Auf dem schwarzen Boden und der Stellwand breiten sich unvermittelt weiße Linien aus, die nach und nach geometrische Konfigurationen, Netze, Schaltkreise ergeben. Dem ersten Eindruck, dass dies zur begleitend ablaufenden Videoinstallation gehöre, folgt die überraschende Erkenntnis, dass Lane und Hamilton selbst es sind, die mittels ihres Tanzes die geometrischen Figuren realisieren, indem sie schwarze Klebebänder von den Flächen abziehen und damit die darunterliegenden weißen Linien auf den schwarzen Oberflächen sichtbar machen. Die Formen werden Wand und Boden dabei wiederum nicht durch den Tanz eingeschrieben, sondern durch Tanz, Bewegung, Geste realisiert. Die Choreografie dient hier als ›Katalysator‹ für das visual design.5 Der Fokus in Black Project I liegt damit nicht auf dem Tanz an sich und als Selbstzweck, sondern vielmehr auf der Realisierung visueller Formen und Arrange5 | Vgl. http://antonyhamiltonprojects.com/section/143177-black-project-1.html: »black project 1’s unique concern in the black series is a focus on choreography as a catalyst for visual design.«
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ments. Bar jeglichen inneren Ausdrucks dienen die distanziert ausgeführten Körperbewegungen der Tänzer/innen dabei als zweckmäßige Apparatur.6
F unk tion und A bstr ak tion Die Darstellung körperphysikalischer Funktionalität, wie sie für das vorliegende Beispiel beschrieben wurde, geht, wie Claudia Blümle und Armin Schäfer anhand einer Zeichnung des Gefäßnetzes des Auges und anderer, bildkünstlerischer Zeugnisse gezeigt haben,7 mit einer notwendigen Abstraktion des Körpers einher: »Die Funktionszusammenhänge im Körper reichen weit über das einzelne Organ hinaus und verweisen entlang der Gewebe (Foucault) auf eine übergreifende, systemische Organisationsweise, die sich der unmittelbaren Anschauung entzieht.«8 Sobald es also um die funktionale Ebene des Körpers geht, kommt es zu einer Abstraktion in der Darstellung, da die übergreifenden Zusammenhänge, eine körperliche Ordnung, die hinter dem unmittelbar sichtbaren Organismus liegt, undarstellbar ist. In den von Blümle und Schäfer betrachteten Bildkonzepten werden »unanschauliche Funktionen und unsichtbare Strukturen mit Hilfe der Abstraktion ins Bild [gesetzt]: Arabesken, Kurven, Vektoren, Ornamente, Schemata oder Modelle sollen […] Formbildungen, Funktionen und Kräfte des Lebens sichtbar machen«9. Mit der durch den Fokus auf Funktionalisierung aufgerufenen Abstraktion kommt es zu Regularität und Symmetrie, die Zufälliges und Ungeordnetes systematisieren.10 Wo Funktionales qua Abstrakta zur Darstellung kommt, wird Organisches, Zufälliges, Konkretes folglich ausgeblendet – und damit auch der individuelle (Tänzer/innen-)Körper hinter seinen funktional-abstrakten Bewegungen.
6 | Im Ludwigshafener Tanz-Doppelabend kam mit Meeting (UA 2015) noch ein weiteres Projekt Hamiltons zur Aufführung, das hier unmittelbar anschlussfähig wäre. Mit seiner Verwendung einer Vielzahl von Bleistift-Metronomen gebärdet sich der Tanz in diesem Beispiel als körperphysikalische Aktualisierung der maschinellen Takt-Vorgabe als direkt abgeleitete Funktion. Beide Ästhetiken des Abends abstrahieren die körperliche Ausdruckskraft der Tänzer/innen auf die physikalische Funktionalität des Körpers als Katalysatoren von Linien/Ornament bzw. als Aktualisierung rhythmisch-klanglicher Vorgaben. 7 | Vgl. Blümle/Schäfer 2007, 9-15. 8 | Blümle/Schäfer 2007, 11. 9 | Blümle/Schäfer 2007, 15. 10 | Vgl. Blümle/Schäfer 2007, 15.
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A utonome S ingul aritäten und unbe wusste O berfl ächen stat t individueller K örper Um zu erklären, wie es unter Ausklammerung vom konkreten, individuellen Körper angesichts von Bewegungsabstraktion zu einer Konzeptionierung von Körper als Oberfläche kommt, möchte ich den Körper/Apparat-Schnittpunkt noch einmal von einer anderen Seite her in den Blick nehmen. Der japanische Kulturwissenschaftler Shuhei Hosokawa hat diesen im Hinblick auf das Walkman-Hören mit Rückgriff auf Gilles Deleuze beschrieben. Dabei ruft er Deleuze’ Begriff der Singularität auf, mit dem sich das durch körperliche Bewegung und Kopfhörerklang entstehende musikalische Ereignis jenseits von »Individualität und Persönlichkeit« als »anonym, unpersönlich, vorindividuell und nomadisch«11 bezeichnen lässt. Deleuze schreibt dazu: »Wir versuchen, ein vorindustrielles und unpersönliches Feld auszumachen, das nicht den entsprechenden empirischen Feldern gleicht und dennoch in irgendeine unbestimmte Tiefe übergeht. Dieses Feld kann nicht das eines Bewusstseins genannt werden: […] Ein Bewusstsein ist nichts ohne irgendeine Synthese der Vereinheitlichung, jedoch gibt es keine Synthese für das Bewusstsein ohne die Form des Ich oder den Standpunkt des Selbst. Weder individuell noch persönlich sind hingegen die Aussendungen von Singularitäten, insofern sie auf einer unbewussten Oberfläche entstehen und ein immanent-mobiles Prinzip von Selbstvereinheitlichung durch nomadische Verteilung aufweisen, das sich radikal von den fixen und sesshaften Verteilungen als Bedingungen von Bewusstseinssynthesen unterscheidet.«12
Insofern man die richtungslosen, mechanisierten Gesten und funktionalen tänzerischen Bewegungen analog zum Walkman hörenden, richtungslosen Gehen als autonome und reale Singularitäten versteht,13 kann man in Anlehnung an Hosokawas Essay mit Deleuze von einer Konzentration der tänzerischen Bedeutung auf die unbewussten Oberflächen sprechen, die sich in den Tanzperformances Hamiltons mit und an den Körpern durch eine ›mobile‹ Selbstvereinheitlichung von Gesten und Bewegungen jenseits eines individuellen/persönlichen Bewusstseins herstellen. Der Kontext des bestehenden Körpergefüges wird dabei zerstört und in eine andere Ordnung überführt.14 Nicht ein kohärenter, selbsteinheitlicher Körper erlangt Bedeutung, sondern seine jeweils partikularen (singulären) Äußerungen, die er realisiert, mit denen er anderes realisiert und als Material mit anderem Material in Austausch tritt. 11 | Hosokawa 1992, 235. 12 | Gilles Deleuze zitiert nach Hosokawa 1992, 235f. 13 | Vgl. Hosokawa 1992, 236. 14 | Vgl. Hosokawa 1992, 238.
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Der Körper steht hier nicht als Signum für die Identität eines Tänzers/einer Tänzerin oder einer Figur und lässt grundsätzlich keine Verhandlung von individuellen Eigenschaften und Qualitäten zu. Indem weder individuelle noch fixierte Körper von der tänzerisch-körperlichen Performativität in Black Project I aktualisiert werden, sind auch Individualität kennzeichnende Beschreibungen, Zuschreibungen oder Differenzen (von Geschlecht, Alter, Ethnie o. ä.) als (körper-)stabilisierende Größen nicht nur phänomenologisch deaktiviert, indem sie für die Wahrnehmung des Geschehens völlig unerheblich sind; sie lösen sich auch in theoretischer Hinsicht auf den singulären Oberflächen in Indifferenz auf.
D eleuzianische A bstr ak tion und Z erfall der organischen O rdnung Wie Deleuze weiterhin anhand seines Abstraktionsbegriffs deutlich macht, kennzeichnet die ›Ordnung der unbewussten Oberfläche‹ ein Zerfall der organischen Ordnung bei gleichzeitiger Durchwirkung durch ein flächiges Gerüst als operatives Diagramm: Ausgehend von kunstwissenschaftlichen Betrachtungen Francis Bacons und Jackson Pollocks hat Gilles Deleuze einen Begriff der Abstraktion entwickelt, der in der Folge eine »allgemeine philosophische Bedeutung [erhält] und […] über den bildkünstlerischen Horizont hinaus«15 »alle Arten von Gefügen untersucht, seien sie politischer, ökonomischer, soziologischer, kultureller oder sonstiger Natur«16. Er sollte also auf die Untersuchung von Hamiltons Tanzprojekt übertragbar sein. Deleuze’ Abstraktionsbegriff lässt sich zunächst sowohl auf abstrakte, als auch auf gegenständliche Kunst anwenden und besteht aus zwei Abstraktionsarten, wie John Rajchman zeigt.17 Betrifft die erste eine »reine, intelligible Idee«18, erscheint für das vorliegende Beispiel die zweite Weise der Abstraktion besonders treffend, die Rajchman als »Intensivierung des Realen«19 beschreibt. In dieser Intensivierung des Realen hat das Bild oder ein entsprechend anderes Gefüge »in seiner sinnlichen Erscheinung selbst ein Wesen und Gesetz. An die Stelle einer klassischen organischen Bildanordnung aus Teilen und Ganzem tritt in der zweiten Form der Abstraktion ein flächiges Gerüst, das das Gemälde durchwirkt: Das Gemälde ist auf 15 | Meister/Roskamm 2007, 232. 16 | Meister/Roskamm 2007, 241. 17 | Vgl. Blümle/Schäfer 2007, 18. 18 | Blümle/Schäfer (mit Bezug auf John Rajchman) 2007, 18. 19 | Rajchman 2005, 93.
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Nadine Civilotti eine Weise komponiert, als ›ob die klassische Organisation zugunsten der Komposition wiche.‹ Das Verhältnis von Komposition und Organisation erzeugt keinen einheitlichen, organischen Bildzusammenhang mehr, sondern lässt den Zerfall der organischen Bildordnung selbst sichtbar werden. In dem Maße, in dem die Organisation zerfällt, tritt eine operative Gesamtheit von Linien, Zonen, von asignifikanten und nichtrepräsentativen Strichen und Flecken hervor, die Deleuze als Diagramm bezeichnet.«20
Mit Blick auf Black Project I kommt die »operative Gesamtheit von Linien und Zonen«21 zunächst ganz naheliegend durch das visual design der weißen Linien zum Tragen. Da Deleuze selbst die Übertragbarkeit des Konzepts auf jegliche Gefüge postuliert, zerfallen aber auch die tänzerischen Bewegungen und ihre Organisation durch die Intentionalität konterkarierende »Macht einer mechanischen Wiederholung«22, durch die ständigen Rewinds, aber auch durch ihre Synchronizität, zu einer asemantischen und asignifikanten Gesamtheit von Linien und Zonen, zu einem Diagramm. Zusätzlich unterstützt wird die Diagrammatik durch die fehlende Interaktion der Tänzer/innen miteinander, die von vorn herein kaum eine Aushandlung inhaltlicher Beziehungen und Identitätsstiftungen zulässt. Stattdessen unterstreicht das Nebeneinander-Tun und Mit-den-Dingen-Tun eine diagrammatische Verschränkung von Subjekt-, Objekt-, Körper-, Ding- und Raumebene.
D ie F unk tion der L inie und der V erlust des S tatus einer autonomen E ntität Was Deleuze’ Theorie der Abstraktion besonders anschlussfähig an das vorliegende Beispiel macht, ist mit Blick auf die tänzerisch-funktionale Realisierung der geometralen Ornamentik sein Konzept der Linie, das er in seinen Abstraktionsbegriff integriert. Im Anschluss an Wilhelm Worringers Theorie der abstrakt-expressiven Linie der Gotik, »die keine Funktion als Kontur übernimmt, sondern eine, wie er annimmt, eigenständige, expressive Funktion innehat«23, begreift Deleuze die abstrakte Linie als Konzept zur Auflösung von Figur: Statt einer Umrisslinie, die eine Figur konturiert und nach außen hin abschließt, löst die abstrakte Linie die Figur von ihren organischen Strukturen ab und löst sie damit unter Verwischung ihrer Kontur auf. Es kommt zu einer »Denaturalisierung des Dargestellten«24: »Die Linie umreißt dann keine 20 | Blümle/Schäfer 2007, 19, Deleuze 1995, 78f. zitierend. 21 | Blümle/Schäfer 2007, 19. 22 | Deleuze 1995, 67. 23 | Blümle/Schäfer 2007, 20. 24 | Blümle/Schäfer 2007, 20.
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Figur im Raum, sondern strukturiert eine Fläche […]; sie gibt keine Objektlinien wieder, sondern ist sich selbst unähnlich und vermittelt nurmehr die richtungslosen [sic!] Bewegtheit […].«25 Während Deleuze die gotisch-expressive Linie in Jackson Pollocks drippings realisiert sieht, korrespondiert die Idee der abstrakten Linie als »lebendiger Geometrie«26 mit den Kreidekreisen und weißen Linienornamenten, die in Black Projekt I bewegend hergestellt werden und die Flächen der Stellwand und des Tanzbodens strukturieren, ohne dass sie etwas abbilden würden. Indem es aber eben die Körper sind, welche die geometralen Liniennetze zur Erscheinung bringen und in die Oberflächen eintragen – nicht als Spur der Bewegung, sondern als ebenbürtige ästhetische Größe (»choreography as a catalyst for visual design«27 ) –, muss der Tänzer/innen-Körper hier folglich als Funktion der Linie verstanden werden. Er verliert damit seinen Status als autonome Entität und wird stattdessen von materialen Aktanten mit-gemacht. Aus Deleuze’ Perspektive bleibt der Körper unter Rückgriff auf Worringer als »machtvolles nicht-organisches Leben«28 dann ebenfalls oberflächlich, unpersönlich und ornamental: »Wir glauben, dass die Linien die konstitutiven Elemente von Dingen und Ereignissen sind. Daher hat jedes Ding seine Geographie, seine Kartographie, sein Diagramm. Sogar bei einer Person sind das Interessante die Linien, von denen sie gebildet wird oder die sie bildet, die sie entlehnt oder schafft.«29
Im selben Prozess der Herstellung abstrakter Linien lösen sich die als Gewebe oder »Membran«30 gedachten Linien der ›Tänzerkörper‹ von ihrer Konturierungsfunktion des Körpers ab und strukturieren in richtungsloser Bewegtheit fortan eine Fläche, statt einen Körper im Raum zu umreißen.31 Als Elemente der Komposition tragen sich Körper und Bewegung der ›dissoziierten Figuren‹32 in das flächige Gerüst des Diagramms ein – aber nicht als Individuen oder Personen,33 sondern als operative Gesamtheit von »ungerichtet[en], ma-
25 | Blümle/Schäfer 2007, 20. 26 | Deleuze/Guattari 2000, 216. 27 | http://antonyhamiltonprojects.com/section/143177-black-project-1.html. 28 | Deleuze/Guattari 2000, 216. 29 | Deleuze 1993, 53. 30 | Deleuze 1995, 15. 31 | Vgl. Blümle/Schäfer 2007, 20. 32 | Vgl. Blümle/Schäfer 2007, 23. 33 | Vgl. Hosokawa 1992, 236.
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teriell[en] und energetisch[en]«34 (Bewegungs-)Linien und Zonen.35 Die Körper-Figur löst sich in der durch Linien strukturierten Fläche auf. Wo Linien keine Konturen mehr herstellen, fallen Form und Grund nichtlokalisiert zusammen, die Figur ist als kohärenter Körper nicht mehr wahrnehmbar. Der Körper tritt in seiner ornamentalen Überformung durch expressive, konturlosabstrakte Liniennetze (Gesten) zurück, die er selbst bildet. Wo die Linien der Grafiken und die Linien der Körper sich überschneiden und überlagern, gehen ihre ornamental-geometrischen Strukturen ineinander über und führen zur Verobjektivierung der Tänzerkörper. Wie gezeigt wurde, ist die »anatomisch-topographische Einteilung des Körpers […] nur eine Möglichkeit unter anderen, die Darstellung einer Figur zu organisieren«36. »[D]as Konzept der gotischen Linienornamentik« Worringers und Deleuze’ versucht »den sinnlichen Bezug zur Welt jenseits des Organischen zu denken«.37 Damit artikuliert sich eine andere Möglichkeit der Figuroder Körperorganisation in der oberflächlichen, unbewussten und abstrakten operativen Funktionalität, welche die Körper, wie bei einer Mimikry, in die Fläche drängt und ihrer Individualität enthebt. Nicht nur erscheint der unpersönliche, unorganische Körper identitätsleer, das heißt nicht mit einer inhaltlichen Identität befüllt, er entgeht damit auch jeglichen auf einen individuellen Körper bezogenen Zuschreibungen und verhindert wertende, politische, in Machtfelder eingespannte Kategorisierungen.38 Damit nicht genug, zerfällt der kohärente Körper in vorliegendem Beispiel in einer Verschränkung von Subjekt und Objekt sogar gänzlich und wird nur noch in Linien, Zonen, Schwellen und Wellen greif bar. Seinen autonomen Subjektstatus tritt er schließlich an die beteiligten Objekte ab.
34 | Meister/Roskamm 2007, 228. 35 | Auch Siegfried Kracauer sieht im Ornament — freilich etwas anders gedacht — eine Auflösung von Körper und Figur. So ist zum Ornament der Masse bei ihm zu lesen, dass Menschen lediglich als Massenglieder Teil des ornamentalen Gerüsts sind, nicht jedoch »als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben« (Kracauer 1977, 51) und über ein seelisches Leben verfügen (vgl. Kracauer 1977, 53). »Das Ornament ist sich Selbstzweck« (Kracauer 1977, 51f.), abgelöst von seinen Trägern. 36 | Blümle/Schäfer 2007, 21. 37 | Vgl. Öhlschläger 2007, 113. 38 | So könnte beispielsweise die schwarze Schminke der hellhäutigen Tänzer/innen jenseits etwaiger ethnischer Zuschreibungen und eingedenk ihrer grundsätzlichen Irrelevanz als solche im Gefüge der Tanzperformance (die bloße Farbigkeit als bedeutungsfreie Größe ist weit entfernt davon, in der Logik der Performance einen wertbaren Binarismus von schwarz und weiß aufzumachen) als neutralisiertes Differenzkriterium sowohl von Hautfarbe als auch von Figur-Grund-Relationen operieren.
Funktionale Körper der Ober fläche
K onsequenzen des oberfl ächigen K örpers Bleibt die Frage, welche Schlüsse sich ausgehend von einer ästhetischen Praxis der Körper, die ihre Ausdruckskraft auf eine rein physikalische Materialität und Funktionalität abstrahiert, ziehen lassen – ermöglicht doch die ästhetische Betrachtung, gesellschaftsrelevante Muster und Mechanismen handlungsentlastet und konsequenzvermindert und dabei gleichsam kondensiert zu studieren. Folgt man Worringer, verdankt sich der Abstraktionsdrang des Menschen als Skepsis gegenüber des dreidimensionalen Raumes einem Angstgefühl, das wiederum einer »großen inneren Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Außenwelt«39 geschuldet ist. »Dieses Angstgefühl vor der ›weiten, zusammenhanglosen, verwirrenden Welt der Erscheinungen‹ betrachtet Worringer als Ursprung künstlerischer Betätigung […].«40 Angesichts der anhaltenden Klagen über eine immer komplexer werdende Welt ist dieser Standpunkt sicher anschlussfähig, aber für die vorliegende Untersuchung nicht sonderlich überzeugend. Der Fokus auf die Funktionalisierung könnte in Kracauers Lesart des Massenornaments und auch hinsichtlich des Gebrauchszusammenhangs der Hubots auf einen kapitalistischen Hintergrund schließen lassen: Menschen zählen nur noch als Arbeitskräfte, als Kräfteverhältnisse, Potentiale, Koeffizienten, statistische Größen,41 als Schaltkreis und Programm. Oder wie Kracauer bemerkt: »Der kapitalistische Produktionsprozess ist sich Selbstzweck wie das Massenornament«42 und »[d]as Massenornament ist der ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität«43. Die Antwort von Deleuze und Guattari lautet: »[A]uf der dritten Linie gibt es nicht einmal mehr eine Form, sondern nur eine reine, abstrakte Linie. Weil wir nichts mehr zu verstecken haben, können wir auch nicht mehr erfasst werden. Selber nicht-wahrnehmbar werden, die Liebe zerstören, um zur Liebe fähig zu werden. Sein eigenes Selbst vernichtet haben, um endlich allein zu sein, um dem wahren Double am anderen Ende der Linie zu begegnen. Blinder Passagier auf einer 39 | Worringer 1996, 49f. 40 | Öhlschläger 2007, 93. »In diesem völkerpsychologischen und ideologischen Zuschnitt einer Kunstgeschichte, die zugleich Universalgeschichte zu sein beansprucht, liegt sicherlich die größte Schwierigkeit von Worringers Abstraktionstheorie. Und doch präsentiert sie sich als kritische Auseinandersetzung mit einem neuralgischen Problem der Moderne: Mit der Erfahrung von Entfremdung und Kontingenz.« (Öhlschläger 2007, 93.) 41 | Vgl. Uhlig 2007, 299. 42 | Kracauer 1977, 53. 43 | Kracauer 1977, 54.
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Nadine Civilotti Reise an Ort und Stelle. Wie alle anderen werden, aber gerade das ist nur für den ein Werden, der es versteht, niemand mehr zu sein.« 44
Der Verlust der Individualität bedeutet demnach die Einlösung eines Versprechens der Selbst-Einheitlichkeit und Welt-Einheitlichkeit. Auf dieser Ebene wird der Körper anderen Körpern und den Dingen gleich gemacht. Die Schaltungen und Formen, welche die Körper in Black Project I tanzend realisieren, scheinen mit ihnen in eins zu fallen, zwischen realisierter Form und realisierendem Körper gibt es keinen qualitativen Unterschied mehr. Im Hinblick auf soziale Differenzierungen scheinen die Körper damit in jeglicher Hinsicht ununterschieden. Unter dem Einfluss der nicht-menschlichen Akteure entfallen Kategorisierungen sozialer Zugehörigkeiten, indem der Körper erstens auf einer vorindividuellen Ebene jenseits kategorialer Relevanzbeziehungen verbleibt und zweitens durch die strukturelle Betonung des materiellen Settings einen dezentrierten Standpunkt einnimmt. In diesen Eigenschaften entspricht der hier aktualisierte Körper frappierend dem Konzept des Aktanten in Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). In dieser Perspektivierung lässt sich die Bedeutung des funktionalen Körpers der Oberfläche für ein gesellschaftliches Un/doing von Kategorien noch einmal schärfer stellen. Da Intentionalität, Freiheit und psychische Innerlichkeit der ANT zufolge nicht mehr als notwendige Eigenschaften eines Akteurs gelten,45 handelt der Tänzer/innen-Körper in ›lose gekoppelter‹ (statt kausal verknüpfter) Koaktivität46 mit dem materiellen Setting. Der Fokus dieser Ästhetik liegt eben nicht auf der Entstehung, Präsentation oder gar Darstellung von spezifischen Körpern, sondern auf der Realisierung einer Situation oder Artikulation,47 in welcher der Körper nur einer unter anderen Aktanten oder Entitäten ist, die als Koakteure miteinander verwoben und in ein Netzwerk eingebettet sind.48 Mehr noch, die Körperlichkeit der Tänzer/innen, die sich als Funktion der koaktiven Artefakte realisiert, wird von jenen überhaupt erst bestimmt. Obwohl es sich beim Doing auch um eine nicht-intentionale »elementare Praxis vor der symbolischen Kondensierung von ›Handlungen‹«49 handelt und obwohl dabei der Körper auch als ein materieller Formung unterworfener und nicht dem Individuum autonom verfügbarer Körper beschrieben wird,50 wird 44 | Deleuze/Guattari 1992, 270. 45 | Vgl. Belliger/Krieger 2006, 35. 46 | Vgl. Hirschauer 2014, 128. 47 | Vgl. Belliger/Krieger 2006, 29. 48 | Vgl. Hirschauer 2014, 127. 49 | Hirschauer 2004, 73. 50 | Vgl. Hirschauer 2004, 73 und 77.
Funktionale Körper der Ober fläche
die funktionale Körperlichkeit von Black Project I vom Theorem des Un/doing nicht erfasst – weil hier keine soziale Kategorie oder Differenz im momentanen Vollzug der spezifischen Praxis un/done wird. Während Latour die Spaltung in die soziologische Mikro- und Makro-Perspektive durch einen »neuartige[n] Begriff des Handelns, den er räumlich und zeitlich zu einer überpersonalen Praxis ausdehnt, die auch Dinge einschließt«51, überwindet, verbleibt die Optik des Un/doing durch die unmittelbare Abhängigkeit des Körpers von der praktischen Vollzugswirklichkeit in der Interaktionszeit des Moments und damit auf einer Mikro-Ebene,52 welche die (graduelle) Aktivierung oder NichtAktivierung einer bestimmten Kategorie in Situationen, in denen Differenzen untersucht werden sollen, von vornherein vorfindet. Aus der raum-zeitlich gedehnteren Perspektive der ANT hingegen scheinen soziale Zugehörigkeiten aber erstens in der Durée des Körpers stabiler und zweitens offenbar nur in bestimmten Netzwerkanordnungen überhaupt zu existieren, in denen diese je spezifischen (Geschlechts-, Ethnien-, Klassen-)Leistungen eines Akteurs eben abgerufen werden. Wird das Un/doing Differences angesichts des hier beschrieben konkreten Körper-Falls in den Horizont der Akteur-Netzwerk-Theorie gerückt, wird deutlich, dass ein Un/doing nicht nur abhängig von der Interaktion des Moments sein kann, sondern es mindestens ebenso abhängig von historischen Konstellationen ist, und es folglich notwendigerweise innerhalb einer breiteren Gesellschaftstheorie beleuchtet werden muss.
L iter atur Belliger, Andréa/Krieger, David J. (2006): »Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie.« In: Dies. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript, 13-50. Blümle, Claudia/Schäfer, Armin (2007): »Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung.« In: Dies. (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften. Zürich/Berlin: Diaphanes, 9-25. Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph (Hg.) (2007): Tanz als Anthropologie. München: Fink. Damisch, Hubert (1984): »La Figure et L’Entrelac.« In: Ders.: Fenetre jaune cadmium ou les dessous de la peinture. Paris: Seuil, 74-91. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Berlin: Merve. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (2000): Was ist Philosophie? Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 51 | Hirschauer 2014, 126. 52 | Vgl. Hirschauer 2004, 73.
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Alternative Körperkonzepte
Von der Lust im fremden Körper zu denken und zu sein Das Unheimliche der offenen Manipulation im zeitgenössischen Sprechtheater Beate Hochholdinger-Reiterer Figurentheater für ein erwachsenes Publikum, das durch die Offenheit gegenüber Ausdrucksweisen, Materialien und Dramaturgien derzeit zu den innovativsten Formen der Darstellenden Künste zählt, findet mittlerweile vermehrt auch auf den institutionalisierten Bühnen des Sprech-, Tanz- und Musiktheaters statt. Diese Präferenz zeitgenössischer Theater-, Tanz- und Musiktheaterpraktiker/innen ist ästhetisch sowie gesellschaftlich signifikant und steht symptomatisch für eine in allen Künsten beobachtbare Tendenz, Genre- und Formgrenzen zu öffnen. Während für Vertreter der historischen Avantgarde wie Edward Gordon Craig die Übermarionette aufgrund ihrer Kontrollierbarkeit, Emotionslosigkeit und ihres Antinaturalismus in der Polemik gegen die Schauspielenden als deren Ersatz dienen sollte,1 rückt im zeitgenössischen, offen manipulierenden Figurentheater, bei welchem die Puppenspieler/innen sichtbar agieren, der Fokus auf das Zusammenspiel von menschlichem und dinglichem Körper.2 Jan Kott hat bereits 1974 in seinen Überlegungen zu den japanischen Theaterformen Bunraku und Kabuki festgestellt, dass im Bunraku »alle Elemente des Theaters […] zugleich für sich allein und zusammen gezeigt, vereinigt und getrennt«3 seien. Das Bunraku-Spiel zeige »Illusion und Anti-Illusion«4, sei »sichtbare Analyse der Theatralität«5. Exakt diese metatheatralen Potentiale
1 | Vgl. Craig 1911; Ribi 2000; Kiefer 2004. 2 | Vgl. Wagner 2003. 3 | Kott 1974, 2. 4 | Kott 1974, 2. 5 | Kott 1974, 2.
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der offenen Manipulation scheinen in der gegenwärtigen Theaterpraxis von besonderem Interesse zu sein.
O ffene M anipul ation Offene Manipulation bezeichnet eine Spielweise im Figurentheater, die im deutschsprachigen Raum erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs allmählich Verbreitung fand und die für den massiven Innovationsschub im Figurentheater seit den politischen Umbrüchen Ende der 1980er-Jahre mitverantwortlich ist. Das traditionelle europäische Puppentheater basierte auf der verdeckten Manipulation, d.h. die Puppenspieler/innen befanden sich für das Publikum unsichtbar hinter dem Castelet, der kleinen transportierbaren Guckkastenbühne des Figurentheaters. Die offene Manipulation oder die offene Spielweise ist inspiriert vom klassischen japanischen Puppentheater Bunraku, dessen Anfänge sich auf das frühe 17. Jahrhundert datieren lassen. Die Hochblüte erlebte das Bunraku Mitte des 18. Jahrhunderts, als in Osaka zwei führende Puppenbühnen – das Takemoto-Theater und das Toyotake-Theater – miteinander konkurrierten und für einige Zeit das traditionsreiche Schauspielertheater Kabuki überflügelten.6 Die im 18. Jahrhundert entwickelte Darstellungsform wird bis in die Gegenwart ausschließlich von Männern praktiziert und im Meister-SchülerVerhältnis gelehrt. Charakteristisch für das Bunraku ist die Dreiteilung der Darstellung in Rezitation, Musik und Puppenspiel. Während der Aufführung nehmen auf der rechten Seite der Bühne der Rezitator und mindestens ein ihn begleitender Shamisenspieler Platz. Der Rezitator gibt in einem charakteristischen, differenzierten Sprechgesang alle Texte der Figuren sowie den der kommentierenden Erzählerfigur wieder. Ihm kommt eine zentrale Stellung zu, da er mit seinem Sprechgesang das Tempo und den Rhythmus des Ablaufs vorgibt. Die ca. 1,20m bis 1,50m großen Stabpuppen werden von drei Puppenspielern geführt. Der Hauptspieler führt den Kopf und den rechten Arm, der zweite Spieler den linken Arm und der in der Hierarchie niedrigste Spieler animiert die Beine der Puppe. Erst nach 10-jähriger Übung darf der dritte Puppenspieler zum zweiten Spieler aufsteigen. Alle drei Puppenspieler sind schwarz gekleidet, der zweite und der dritte Spieler tragen eine ihre Gesichter verhüllende schwarze Kopf bedeckung, um Unsichtbarkeit zu signalisieren. Nur der Hauptspieler tritt – allerdings mit vollkommen stoischem Gesichtsausdruck – unverhüllt auf. Er führt die Puppe, ohne jemals mit ihr zu interagieren. Alle den Puppen zugeordneten Emotionen werden über die Rezitation vermittelt. 6 | Vgl. Adachi 1985; Barthes 2007; Kott 1974.
Von der Lust im fremden Körper zu denken und zu sein »In den Bunraku-Aufführungen sieht man neben dem Gesicht der Puppe wie auf surrealistischen Bildern das fast viermal so große Gesicht des Hauptspielers. Dieses lebendige Gesicht ist starr und ungerührt, wie wenn es aus Holz wäre. Lebendig erscheint nur das hölzerne Gesicht der Puppe. Das Gesicht des Bewegers erscheint als völlig flach, die Puppengesichter sind menschlich. Doch es gibt noch ein drittes Gesicht, das man im Bunraku-Spektakel beobachten kann. Der rezitierende Sänger, der in Zuschauernähe sitzt, leiht den Puppen nicht nur alle Töne, die er seiner Kehle entlocken kann. Er weint fast, wenn die Puppen weinen, er schüttelt sich vor Lachen, wenn sie lachen. Er ist erstarrt, sitzt vor seinem Lackpult, die Beine gekreuzt, die Knie flach auf den Boden gepreßt, aber auf seinem Gesicht zeichnen sich alle Rührungen der Puppe ab. Er ist der lebendige Schauspieler des Bunraku-Theaters.«7
Auffällig an gegenwärtigen Schauspielinszenierungen mit Figurentheaterelementen ist, dass die Spielobjekte nicht nur als eine Möglichkeit der Erweiterung des Darstellungsrepertoires, sondern als gleichberechtigte Partner der menschlichen Darsteller/innen eingesetzt werden.8 Diese Kombination und Interaktion zweier Theaterformen als Erweiterung theatraler Ausdrucksmöglichkeiten führt zu einer Überlagerung von Narrativität und Non-Narrativität, reflektiert Figurationen und Subjektkonstitutionen als Aushandlungsprozesse9 und stellt neue Herausforderungen an die Wahrnehmung des Publikums.
D as U nheimliche des F igurenthe aters Figurentheater galt unter Praktiker/innen zu Beginn der verstärkt einsetzenden Selbstreflexion in den 1980er- und 1990er-Jahren mit Bezug auf das noch stark literarisch geprägte und psychologisch-realistische Verkörperung von Rollen präferierende Stadttheater als »unmögliches Theater«.10 Denn die Spielenden delegierten ihre Rollen an materielle Objekte, distanzierten sich von ihnen, als könnten diese sich selbst überlassen bleiben, im Wissen darum, dass das Rollen-Objekt niemals »das einzig vorhandene Spieler-Subjekt«11 ersetzen könne.
7 | Kott 1974, 2. 8 | Vgl. z.B. Merlin, Regie: Jan-Christoph Gockel, Graz 2015; Der Untergang des Hauses Usher, Regie: Suse Wächter, München 2015; Frankenstein, Regie: Philipp Stölzl, Basel 2014. 9 | Vgl. Kreuder et al. 2012; Liebert 2014. 10 | Vgl. Knoedgen 1990. 11 | Knoedgen 1990, 19.
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Beate Hochholdinger-Reiterer »Das Besondere am ›Darstellungsinstrument‹ des Figurentheaters ist denn auch die scheinbare Leugnung seines Objekt-Charakters: Im inszenierten Subjekt-Verhalten von Objekten liegt der wesentliche Widerspruch, die prinzipielle ›Unmöglichkeit‹, mit der sich das Figurentheater auseinanderzusetzen hat.«12
Daher komme den Rezipierenden und deren »ungesicherter Wahrnehmung«13, welche die Widersprüchlichkeit und Unmöglichkeit des Figurentheaters auszuhalten haben, besondere Bedeutung zu. Die Rezipierenden müssen die »Puppe – ein Ding, ein lebloses Objekt – mit der lebendigen, subjektiv bedingten Darstellungsaktion des Puppenspielers«14 verknüpfen. »Als Ergebnis dieser Verknüpfung entsteht eine erlebbare subjektbezogene Figur, die weder mit der Puppe, noch mit dem Darsteller identisch, sondern ein Anderes ist, das in der Phantasie des Zuschauers seine einmalige Vollendung und Verwirklichung erfährt, denn dort, durch seine Subjektivität bereichert, wirkt es.«15
Rezeption von Figurentheater zeichnet sich durch das Prinzip der »doublevision«16 aus. Die animierte Figur werde vom Publikum gleichzeitig auf zwei verschiedene Weisen wahrgenommen: »as an object and as a life.«17 In der Möglichkeit, animierte Figuren mit dem sogenannten »regard enfantin«, der sich ungebrochen auf die illusionäre Wirkung einlässt, und/oder dem »regard adulte«18, dem distanzierten Blick, zu betrachten, mag die Faszination von Figurentheater sowohl für ein Kinder- als auch ein Erwachsenenpublikum begründet sein. Die an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin ausgebildete deutsche Puppenspielerin Suse Wächter zählt derzeit zu den renommiertesten Figurentheater-Künstler/innen und begann in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Tom Kühnel bereits während ihrer Studienzeit damit, Schauspiel und Puppenspiel zu verknüpfen.19 Wächter kreiert, führt und spricht 12 | Knoedgen 1990, 20. 13 | Knoedgen 1990, 21. 14 | Kavrakova-Lorenz 1989, 231. 15 | Kavrakova-Lorenz 1989, 231. 16 | Tillis 1992, 59ff. 17 | Tillis 1992, 64. 18 | Die zwei Begriffe wurden von der französischen Literaturwissenschaftlerin Anne Gilles geprägt, vgl. Gilles 1981, 89. 19 | Zu den Höhepunkten dieser Zusammenarbeit zählen die Inszenierung von Aleksandr Vvendskijs Weihnachten bei Iwanows (1994), eine Kooperation der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« mit dem Maxim Gorki Theater (Regie: Tom Kühnel und Christian Tschirner, Puppen: Suse Wächter), ausgezeichnet mit dem Friedrich-Luft-
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ihre Puppen selbst. Da sie beim Zusammenspiel von Schauspieler/innen und Puppen von einem Konkurrenzverhältnis ausgeht, habe sie nach eigenen Worten einen »naturalistischen Weg«20 bei der Puppengestaltung eingeschlagen: »Meine Antriebskräfte sind die Beobachtung der Natur, die Nachahmung und Abbildung des Kreatürlichen – und die Lust an der Verwandlung, die Lust im fremden Körper zu denken und zu sein.«21 Für eine glaubhafte Animation der anthropomorphisierten Puppen müsse sie als Puppenspielerin den eigenen Körper verlassen und »alle Emotionen und Bewegungen auf die Puppe übertragen«22 sowie für diese eine Stimme (er-)finden. Allerdings erfährt Wächters naturalistischer Weg eine explizite Brechung, da sie ihre Puppen offen manipuliert bzw. offen animiert. Eine aufgrund der hyperrealistischen Puppengestaltung mögliche Illusionierung wird konterkariert, weil der Produktionsprozess der Animation permanent transparent bleibt, wenn die Puppenspielerin offen agiert. In ihrer Produktion Agrippina – Die Kaiserin aus Köln. Römisches Hysterienspiel mit Puppen und Sandalen23, einer parodistisch-historischen Revue, beschäftigt sich Wächter mit der als Giftmischerin und Mörderin tradierten Kaiserin Agrippina, die ihren Geburtsort Köln zur Stadt erhob und dieser ihren Namen gab (Colonia Claudia Ara Agrippinensium). Während zahlreiche historisch verbürgte und zeitgenössische Persönlichkeiten, wie z.B. Seneca, Nero oder Elfriede Jelinek, in der Produktion als Puppen auftreten, wird Agrippina, von deren Biografie nur äußerst spärliche Informationen vorliegen, von den drei Schau- und Puppenspielerinnen Suse Wächter, Anja Herden und Ruth Marie Kröger dargestellt. Agrippina als Nichtpuppe bleibt bewusst unkonturiert bzw. mehrdeutig. Anders als im klassischen Bunraku, bei dem der unverhüllte Hauptpuppenspieler niemals mit der geführten Puppe interagiert und die Stimme der Puppe außerdem vom seitlich platzierten Rezitator gestaltet wird, bespielen die drei Akteurinnen in dieser Produktion die jeweiligen Puppen, treten in Austausch mit ihnen und lassen die Puppen als gleichberechtigte Mitspielende erscheinen. Diese scheinbare Gleichberechtigung von Puppen- und MenPreis, und Helden des 20. Jahrhunderts. Ein Hysterienspiel mit Puppen (2003), uraufgeführt am Theater Basel als Koproduktion mit dem Frankfurter TAT (Regie: Tom Kühnel, Puppen: Suse Wächter). 20 | Schwieter 2004, 15. 21 | Schwieter 2004, 15. 22 | Keim 2010. 23 | Agrippina – Die Kaiserin aus Köln. Römisches Hysterienspiel mit Puppen und Sandalen. Regie: Suse Wächter, Texte: Stefan Schwarz, Suse Wächter, Lucie Ortmann u.a., Darstellerinnen: Anja Herden, Ruth Marie Kröger, Suse Wächter. UA: 25.11.2010, Schauspiel Köln.
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schenkörpern als ›Material‹ der Bühne wird auch häufig in Comedy-Formaten als wesentliche Strategie der Komikerzeugung bedient, wenn Soloperformer als Bauchredner mit frechen und widerspenstigen Puppen auftreten. Die komische Wirkung resultiert hier aus der Verkehrung der Objekt-Subjektpositionen, wenn die animierte Puppe sich im Spiel über den sie animierenden Menschendarsteller erhebt. Im Fall der Produktion Aggripina tritt zu Beginn der Revue – geführt und gesprochen von Suse Wächter – eine Romulus-Puppe auf, die als Neu-, oder besser: Ungeborenes mit geschlossenen Augenlidern gestaltet ist. Der Auftritt der Romulus-Puppe, deren unheimliches Aussehen die 3D-Abbildungen ungeborener Föten zitiert oder imitiert, erzeugt Komik aufgrund mehrfacher Kontrastschichtungen. Komischer Kontrast ergibt sich durch die Kombination des nackten Fötenpuppenkörpers mit Sprache. Komischer Kontrast entsteht im Weiteren durch die Kombination des elaborierten Inhaltes des gesprochenen Textes mit dem als piepsende Kinderstimme assoziierbaren Sprechduktus der erwachsenen Puppen-Schau-Spielerin. Die ersten Worte der Romulus-Puppe – »Nö, nö, nicht was Sie jetzt denken, ich bin’s nicht …«24 – könnten als Motto für viele Sprechtheaterinszenierungen mit offen manipulierten Figuren gelten. Denn diese Inszenierungen verbildlichen in der Puppe das Dilemma des Bühnen-Ichs im postliterarischen Theater mit seiner Auflösung der Rollenstabilität, der damit einhergehenden Dekonstruktion des Körperlichen und dem Auftrag, statt Figuren Textflächen darzustellen. Als besondere Faszination von Puppen hebt Wächter deren »Schwebezustand zwischen Tod und Leben«25 hervor. Puppen seien immer Untote, die erst durch den Prozess der Animation lebendig gemacht würden. Dieses Oszillieren zwischen Tod und Leben(digkeit) bewirke letztlich, dass Puppen immer etwas Unheimliches anhafte.26 Bereits 1906 erwähnt der Psychiater Ernst Jentsch in seinem Artikel »Zur Psychologie des Unheimlichen«, auf den sich Sigmund Freud in seiner späteren Abhandlung »Das Unheimliche« (1919) bezieht, den Eindruck des Unheimlichen, der bei manchen Menschen »durch den Besuch von Wachsfigurencabinetten, Panopticis und Panoramen«27 sowie Automaten entstehe. Ausgehend von der Wortetymologie versucht Jentsch zu erklären, »wie die Gefühlserregung des Unheimlichen psychologisch zu Stande kommt, wie die psychischen Bedingungen beschaffen sein müssen, damit die Sensation ›unheimlich‹ hervortaucht«28. 24 | Vgl. den Videomitschnitt Agrippina – Die Kaiserin aus Köln. 25 | Keim 2010. 26 | Vgl. Keim 2010. 27 | Jentsch 1906, 198. 28 | Jentsch 1906, 195.
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Das Wort »unheimlich« drücke aus, »dass einer, dem etwas ›unheimlich‹ vorkommt, in der betreffenden Angelegenheit nicht recht ›zu Hause‹, nicht ›heimisch‹ ist, dass ihm die Sache fremd ist oder wenigstens so erscheint, kurzum, das Wort will nahe legen, dass mit dem Eindruck der Unheimlichkeit eines Dinges oder Vorkommnisses ein Mangel an Orientirung [sic!] verknüpft ist.«29
Aus diesem Grunde würde dem Neuen, Außergewöhnlichen mit Misstrauen, Missbehagen, selbst Feindseligkeit begegnet, während das Althergebrachte, Gewohnte, Angestammte »lieb und vertraut«30 sei. Psychische Unsicherheitszustände, »der Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei«31, würden das Gefühl des Unheimlichen hervorrufen. Sobald die intellektuelle Unsicherheit ausgeräumt sei, so Jentsch, würde sich auch der Eindruck des Unheimlichen verflüchtigen. Sigmund Freud wendet sich ein gutes Jahrzehnt später ebenfalls dem Phänomen des Unheimlichen zu und verweist – Jentsch weiterführend – auf die ambivalente Wortbedeutung des Unheimlichen, in dem sowohl das Fremde, Ungewohnte als auch das Nicht-Heimliche, das Vertraute enthalten sei. Das Unheimliche sei »das Heimliche-Heimische«, das »eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist«.32 Demnach sei das Unheimliche »nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden sei«33. In seiner individuellen Entwicklungsphase durchlaufe der Mensch eine dem Animismus entsprechende Phase, die »noch äußerungsfähige Reste und Spuren«34 hinterlasse. Was dem Erwachsenen als unheimlich erscheine, rühre laut Freud »an diese Reste animistischer Seelentätigkeit«35. In diesem Fall sei das Unheimliche eine Wiederkehr des Überwundenen.36 Freud unterscheidet zudem zwischen dem »Unheimlichen des Erlebens«, das zustande komme, »wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen«.37 Das Unheimliche der Fiktion hingegen ge29 | Jentsch 1906, 195. 30 | Jentsch 1906, 196. 31 | Jentsch 1906, 197. 32 | Vgl. Freud 2000, 268. 33 | Freud 2000, 264. 34 | Freud 2000, 263. 35 | Freud 2000, 263. 36 | Vgl. Freud 2000, 271. 37 | Vgl. Freud 2000, 271.
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horche eigenen Gesetzen: In der Dichtung sei vieles nicht unheimlich, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben ereignete, und die Dichtung habe viele Möglichkeiten, unheimliche Wirkungen zu erzielen, die fürs Leben wegfielen – je nachdem, welche Form fingierter Realität in der Dichtung entworfen werde. Je realistischer die fingierte Realität gestaltet sei, desto eher deckten sich Eindrücke des Unheimlichen in der Dichtung mit denen des Lebens.38 Freud geht in seiner Studie nicht explizit auf die Unheimlichkeit des Figurentheaters ein. Er gibt jedoch einen markanten Hinweis, wenn er darauf verweist, dass vielen Menschen im »allerhöchsten Grade unheimlich« erscheine, »was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern, zusammenhängt«.39 Denn: »[…] auf kaum einem anderen Gebiete hat sich unser Denken und Fühlen seit den Urzeiten so wenig verändert, ist das Alte unter dünner Decke so gut erhalten geblieben, wie in unserer Beziehung zum Tode.«40 Das Unbewusste habe wenig Raum »für die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit«41 – die »primitive Angst vor dem Toten« sei unvermindert mächtig geblieben und diese Angst äußere sich im Gefühl des Unheimlichen, »sowie irgend etwas ihr entgegenkommt«.42 Es ist gerade die in der Puppe bewahrte Gleichzeitigkeit von Leblosem und Lebendigem, die Puppen zu den unheimlichen Untoten macht und die bewirkt, dass Puppen »authentischer als Schauspieler«43 sterben. Eine sterbende Puppe löscht das Als-Ob aus, nicht animiert, ist die Puppe auf der Bühne ›wirklich tot‹. In den über die »double-vision«44 generierten »imaginierten Figurenkörpern«45 verbinden sich sowohl das Unheimliche des Erlebens als auch das Unheimliche der Fiktion.
38 | Vgl. Freud 2000, 272. 39 | Vgl. Freud 2000, 264. 40 | Freud 2000, 264. 41 | Freud 2000, 264. 42 | Vgl. Freud 2000, 265. 43 | Keim 2010. 44 | Tillis 1992, 59ff. 45 | Angela Koerfer-Bürger arbeitet derzeit am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern an ihrer Dissertation zum Thema »Imaginierte Figurenkörper im zeitgenössischen Musiktheater«.
Von der Lust im fremden Körper zu denken und zu sein
D as U nheimliche der V erpuppung Abschließend möchte ich noch ein Beispiel für offene Manipulation im Sprechtheater erwähnen, in dem mit der vorgeführten Verpuppung von Menschendarsteller/innen die Ästhetik des Figurentheaters und dessen Unheimlichkeit aufgerufen werden. 2013 inszenierte Alvis Hermanis am Zürcher Schauspielhaus Die Geschichte von Kaspar Hauser mit Jirka Zett in der Titelrolle. Die Nürnberger Bürgerinnen und Bürger werden von acht- bis elfjährigen Kindern mit Latexmasken vor den Gesichtern dargestellt, die den Eindruck von alten Menschen erwecken. Eine Besonderheit ist, dass die Kinder nicht selbständig agieren und sprechen, sondern wie Puppen von schwarzgekleideten und verhüllten Schauspieler/innen geführt werden: Eine Hand im Nacken der Kinder bewegt den Kopf, die andere Hand bewegt die Arme. Den Text der Figuren sprechen die verhüllten Schauspielenden, deren erwachsene Stimmen den jeweiligen Kinderkörpern zugeordnet sind. Der Salon, in dem der Hauptteil der Inszenierung spielt, ist eine biedermeierlich ausgestattete Puppenstube und derart verkleinert, dass der Kaspar Hauser-Darsteller nur gebückt durch die Tür treten kann: ein riesenhafter Fremdling im von aufklärerischem Gedankengut und aufklärerischer Pädagogik durchdrungenen Bürgertum. Zivilisation ist die wahre Deformation. »Der zur Natürlichkeit disziplinierte Kaspar ist unter lauter Marionetten der einzige Mensch«46, schreibt Franz Wille in seiner Rezension, um fortzufahren: »Aber was heißt das überhaupt, und wo fängt er an, der Mensch?«47 Wenn Puppen mit Menschen gemeinsam auf der Bühne agieren, dann wird diese implizite Grundfrage jeder theatralen Konstellation evident. Ich meine, dass das zunehmende Interesse von Theaterpraktiker/innen an der Integration von Figurentheater in Sprechtheaterproduktionen gerade mit dem Nimbus des Unmöglichen und Unheimlichen zu tun hat. Figurentheater trennt den Spielenden von der Rolle, »den inneren Antrieb vom Körper und das Bewegungspotential von der Materie«48. Die durch postdramatische Theaterformen und die Auflösung von Genregrenzen angestoßenen Reflexionsprozesse lassen sich durch die Inklusion figurentheaterspezifischer Darstellungsmodi in der Puppe und deren Führung darstellen. Figurentheater zeigt jedoch nicht nur die analytische Spaltung der Darstellung, sondern es führt die inszenierte Wechselbeziehung sowie die gegenseitig sich bedingende Abhängigkeit und Ambivalenz von agierendem
46 | Wille 2013, 9. 47 | Wille 2013, 9. 48 | Knoedgen 1990, 100.
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Subjekt und materiellem Objekt vor.49 Gerade dieses Potenzial zur Inszenierung von Wechselbeziehungen und zur Visualisierung von Abhängigkeiten und Ambivalenzen unterschiedlichster Kategorien, wie Geschlecht, Alter, Ethnie etc., prädestiniert Figurentheater in besonderem Maße dazu, Entitäten prinzipiell in Frage zu stellen bzw. in Bewegung zu bringen. Das »Theater der Dinge«50 versteht sich als eine Theaterform, die dazu einlädt, es als einen »Ort des ›Dazwischen‹ zu akzeptieren«51. Was in postdramatischen Theaterformen als Diskurs virulent ist, veranschaulicht der offen animierte Puppenkörper: z.B. die Aushandlung von Subjekt-Objektbeziehungen, das Modell eines dezentrierten Subjekts, die Aufspaltung darstellerischer Basistools (Körper, Stimme, Bewegung), die Ambivalenz von Leblosigkeit und Lebendigkeit, Fragen von Figuren- und/oder Rollengestaltung – und nicht zuletzt Körperlichkeit als kontingente und hergestellte Materialität und Bedingung der szenischen Realität.
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Von der Lust im fremden Körper zu denken und zu sein
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Der monströse Körper Fragmentierung und Rekombination von Figurenkörpern in Chair de ma Chair von Ilka Schönbein/Theater Meschugge Franziska Burger Dem Umgang mit Masken haftet auch heute noch etwas Geheimnisvolles und Unheimliches an.1
M ut ter und Tochter gebunden an einen K örper Ilka Schönbein, Figurenspielerin sowie Gründerin und Leiterin der deutschfranzösischen Kompanie Theater Meschugge, hat eine ganz eigene Technik und Figurengestaltungsweise entwickelt, welche auf dem Maskenspiel basiert: Dabei werden statt bloßen Gesichtsmasken fragmentierte Körperteile verwendet. Diese stülpt sich die Spielerin analog zum Einsatz von Gesichtsmasken über sämtliche Körperteile wie ihre Füße, Beine, Arme, Bauch, Brüste oder Schultern. Schönbeins Körper dient dabei nicht nur als Oberfläche, an welcher die Körpermasken befestigt bzw. von welchem sie gehalten und bewegt werden, sondern er ergänzt insbesondere die Leerstellen zwischen den einzelnen Maskenfragmenten. Durch das Aufsetzen der aus Pappmaché gefertigten Kunstglieder, die der Gestalt Schönbeins nachgeformt sind, entsteht der Eindruck eines aus künstlichen und organischen Teilen zusammengefügten Doppel-Körpers. Die Rollenfigur wird aber nicht durch ein bestimmtes, priorisiertes Körperteil (wie beispielsweise dem Kopf, dem Gesicht oder einer Hand), welches als pars pro toto für die ›ganze‹ Figur steht, denotiert. Stattdessen wird, wie bei einem Puzzle, der organische menschliche Körper der Spielerin fragmentiert, und die zergliederten Körperteile von ihren Funktionen enthoben und mit reproduzierten Körperteilen neu zusammengesetzt. Bei diesem Prozess werden den organischen Gliedern als Zeichenträgern oftmals neue Bedeutungen 1 | Wimmer/Schäfer 2000, 12.
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zugewiesen, beispielsweise wenn Schönbein in einer Szene eine einer Hand nachgeformte Maske über ihren Fuß stülpt, über die angezogenen Knie ein Hemd legt und zusammen mit einer in der Hand gehaltenen Gesichtsmaske den Oberkörper der Tochter darstellt, während ihr Oberkörper zusammen mit dem freien Arm und ihrem Kopf die Mutter markieren. In der Inszenierung Chair de ma Chair 2 – deren Titel sich ins Deutsche mit Mein eigen Fleisch und Blut übertragen lässt – wird mittels dieser Körpermasken, die von Schönbein corps à corps manipuliert werden, die unzertrennliche Beziehung zwischen einer Mutter und ihrer Tochter gezeigt. Wie siamesische Zwillinge teilen sie sich in der Produktion einen Körper und ein Schicksal; der Versuch einer operativen Trennung würde den Tod beider bedeuten, denn keine ist emotional fähig, ohne die andere zu leben. Die Technik der Körpermasken ermöglicht zudem die Darstellung der körperlichen Metamorphose von Tochter und Mutter: Durch den Wechsel von verschiedenen Masken kann die Entwicklung der Hauptprotagonistin vom Moment ihrer Geburt an, über Stationen in ihrer Kindheit, bis hin zu dem Moment, da sie als junge Erwachsene das erste Mal selbst als Nachfolgerin ihrer Mutter als Zirkusartistin in die Manege tritt und an den Haaren durch die Kuppel des Zirkuszeltes fliegt, verfolgt werden. Parallel erlauben die Masken den körperlichen Niedergang der Mutter ästhetisch darzustellen: Wie sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere eine Tochter gebiert und nach der Niederkunft gleich wieder als fliegende Artistin im Zirkus auftritt und später nach einem fatalen Unfall in der Manege nur noch durch die Unterstützung ihrer Tochter leben kann. Letzteres wird im Wechsel der Rolle der Manipulateurin ausgedrückt: Der Körper der Figurenspielerin denotiert nicht mehr länger die Figur der Mutter, sondern transformiert sich zu jener der Tochter, die fortan ihre Mutter in Form einer Körpermaske auf den Schultern trägt. Um den von Dubletten umzingelten Körper der Spielerin Ilka Schönbein in der Inszenierung Chair de ma Chair zu beschreiben, werden in den Analysen von Brigitte Prost (2009), Marion Girard-Laterre (2012) und Marie Garré Nicoara (2015) gehäuft die Ausdrücke monstre, le corps monstrueux, monstres doubles, formes corporelles monstrueuses verwendet. Die Autorinnen reagieren damit auf das mit Hilfe von Körpermasken generierte Bild des zergliederten 2 | Chair de ma Chair: Theater Meschugge, Regie: Ilka Schönbein. Premiere 2003, Aufzeichnung: Frankreich 2004. Aufnahme zur Verfügung gestellt vom Deutschen Forum für Figurentheater und Puppenspiel, Bochum. Schönbeins Inszenierung liegt die Bearbeitung des Romans Warum das Kind in der Polenta kocht von der Schriftstellerin Aglaja Veteranyi (1999) zugrunde. Auf das Verhältnis von Buchvorlage und Inszenierung, welche doch wichtige Abweichungen und Kürzungen vorweist, soll in diesem Beitrag nicht eingegangen, sondern die Inszenierung als eigenständiges Kunstwerk behandelt werden.
Der monströse Körper
Körpers. Dieses zeichnet sich aus durch die Öffnung, Hybridisierung und »Polyzentrierung«3 des sich in steter Transformation befindenden Körpers. Wie lässt sich der Rückgriff auf dieses Körperkonzept erklären, welches eng mit Assoziationen der Gefahr und Bedrohung des eigenen »clean and proper self«4 zusammenhängt, um den mit Masken umhängten Körper der Spielerin zu kategorisieren? Nach einer Einführung in die Charakteristika der Körpermasken als randständige Form des gegenwärtigen Figurentheaters soll eine Untersuchung der Inszenierungsbesprechungen von Garré Nicoara, Prost und Girard-Laterre folgen. Dieser Diskursanalyse wird das vom Anglisten Jeffrey Jerome Cohen in der Einleitung zum Sammelband Monster Theory (1996) entwickelte MonsterKonzept unterlegt, welches sich in sieben Thesen zur Monster-Kultur gliedert. Cohen argumentiert, dass Monster in allen Kulturen als ein aus der Kumulation von historischen und geografischen Vorstellungen hervorgebrachtes Zeichen der Mahnung5 gelesen werden können, und umgekehrt jede Kultur ebenfalls durch jene Monster gelesen werden kann, welche von ihr hervorgebracht werden. Als erste These »[t]he monster’s body is a cultural body« hält Cohen – in Anlehnung an Judith Butlers konstruktivistische Gendertheorie – fest, dass das Monster stets als Chiffre für etwas steht, das zuvor im Verborgenen lag: »The monstrous body is pure culture. A construct and a projection, the monster exists only to be read: the monstrum is etymologically ›that which reveals‹, ›that which warns‹, a glyph that seeks a hierophant. Like a letter on the page, the monster signifies something other than itself: it is always a displacement, always inhabits the gap between the time of upheaval that created it and the moment into which it is received, to be born again.« 6
Cohen definiert das Monster als kulturelles Zeichen, das sich – basierend auf seiner hohen Transformationskraft – durch seine Uneindeutigkeit und Liminalität auszeichnet und deshalb gegenüber jeglichen Kategorisierungsversuchen resistent bleibt. Im Folgenden soll argumentiert werden, dass das Monster als kulturelles Zeichen und die Maske als »theatralisches Zeichen«7 sich durch ähnliche Verhaltensweisen offenbaren. 3 | Berger 2006, 64-66. 4 | Kristeva 1982, VIII. 5 | Vgl. dazu auch Brockhaus. Die Enzyklopädie in 24 Bänden. 19. völlig neubearb. Aufl. Mannheim: Brockhaus, Band 15, 1991, 69.: »Monstrum [lat., eigtl. ›Mahnzeichen‹, zu monere ›(er)mahnen‹].« 6 | Cohen 1996, 4. 7 | Bei dieser Formulierung stütze ich mich auf Fischer-Lichtes Theorie der theatralischen Zeichen, vgl. Fischer-Lichte 2007.
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D ie E igenschaf ten der K örpermaske als das › pure ‹ (The ater -)Z eichen Die Reinheit des darstellerischen Ausdrucks definiert der Philosoph Philippe Choulet als die zentrale Eigenschaft der Spielfigur8, welche ihre Alleinstellung kennzeichnet und sie folglich insbesondere von menschlichen Spieler/innen abgrenzt: »La marionnette, […] elle n’a absolument aucune pensée parasite. Elle est absolument transparente, elle dit et elle fait exactement ce qu’elle a à dire et à faire.«9 Implizit miteingeschlossen ist bei dieser Definition die Maske – denn sämtlichen künstlich geschaffenen Spielmitteln ist gemein, dass alles an ihnen auf die Funktion des Darstellens ausgerichtet ist; alles Überflüssige und Zufällige wird zugunsten der Verwirklichung der künstlerischen Intention ausgespart.10 Der Maske, welche meist direkt über den Kopf als dem favorisierten Ausdrucksmittel des menschlichen Spielenden gestülpt wird, ist allerdings eine besondere Dialektik inhärent. Der Kulturwissenschaftler Richard Weihe beschreibt diese als »Doppelspiel der Gleichschaltung von Gesicht und Maske einerseits und der Kontrastierung von Gesicht und Maske andererseits«, welche in der »für die Maske charakteristische[n] Dialektik des Zeigens und Verhüllens« widergespiegelt wird.11 Doch dieses Binaritätsprinzip aus Zeigen und Verdecken manifestiert sich erst im Moment des Aufsetzens der Maske, da sie vorher bloß ein Ding oder Requisit in den Händen eines Menschen ist. Charakteristischer Kernpunkt der Maske ist das bereinigte Sichtbarmachen von Bedeutung: Sie macht sichtbar, was ohne sie nicht zu sehen gewesen wäre. »Die Maske versteckt nichts, sie zeigt etwas [Herv. d. Verf.]. Sie selbst ist immer eindeutig und unverstellt; sie verstellt das Gesicht des Akteurs, doch sie verstellt nie ihren Sinn: nämlich das ›wahre Gesicht‹ der Figur zu zeigen. Insofern ist die Maske selbst aufrichtig, denn die Maske kann sich selbst nicht mehr maskieren.«12
Für die Manipulation von Körpermasken – bzw. Spielfiguren – ist eine zentrale Voraussetzung die Präsenz eines sichtbar oder unsichtbar agierenden menschlichen Akteurs, der wie eine Art Bewegungsmotor für die Spielfigur agiert. Im 8 | Während im Französischen der Begriff marionnette als Überbegriff verwendet und nicht auf die Fadenmarionette reduziert wird, wird im Deutschen mehrheitlich der Begriff Puppe verwendet. Um allerdings sowohl Puppen wie auch Objekte und Masken einzuschließen, verwende ich hier den Begriff der Spielfigur. 9 | Choulet 2004, 19f. 10 | Vgl. Veltruský 1983, 79. 11 | Vgl. Weihe 2004, 13. 12 | Weihe 2004, 3.
Der monströse Körper
Spiel wird die Körpermaske zu einem gleichwertigen Zeichenträger.13 Basierend auf den von Erika Fischer-Lichte definierten Prinzipien der Mobilität und Polyfunktionalität des theatralischen Zeichens, kann eine Rollenfigur nicht nur durch menschliche Wesen dargestellt werden, sondern im Prinzip auch durch sämtliche nicht-menschliche Wesen und Dinge.14 Was Fischer-Lichte als die dem/r menschlichen Schauspieler/in inhärente »Spannung zwischen dem phänomenalen Leib [der Spielenden, Anm. d. Verf.] und dem semiotischen Körper [Rollenfigur]«15 beschreibt, wird im Falle der offenen Manipulation16 im Figurentheater mitunter als materielle und räumliche Distanz zwischen menschlichem Spieler/der Spielerin und künstlicher Spielfigur visuell wahrnehmbar. Ein illusionistischer Schauspielstil wird konsequenterweise unterwandert, da beim offenen Spiel die Generierung der Rollenfigur offengelegt und (indirekt) thematisiert wird. Menschliche/r Akteur/in und künstliche Spielfigur werden innerhalb des Spielprozesses zu untrennbaren Entitäten, die nur in ihrem Zusammenspiel rezipierbar sind. Diese im Moment der Manipulation aus (mindestens) zwei Körpern bestehende Figur entzieht sich folglich ebenfalls der Einordnung in binäre oder kartesianische Denkmodelle. Wegen der Gleichwertigkeit von organischen und künstlichen Körpern im Figurenund Maskentheater muss stattdessen von einem flexiblen Akteur-Begriff ausgegangen werden. Durch das Überstülpen der Körpermasken wird – um eine Rollenfigur zu schaffen – die Struktur des Träger-Körpers aufgehoben. Anstelle des Rumpfes als Körperzentrum kann durch mehrere über den gesamten Körper verteilte Masken jedes Körperteil zum potenziellen Haupt-Zeichenträger17 einer Rollenfigur werden. Der polnische Semiotiker und Figurentheatertheoretiker Henry Jurkowski beschrieb diesen ästhetischen Vorgang der Fragmentation und 13 | Vgl. Burger 2016. 14 | Vgl. Fischer-Lichte 2007. 15 | Fischer-Lichte 2007, 37. 16 | Als offenes Spiel oder offene Manipulation wird jene Spielform im Figurentheater bezeichnet, in welcher Mensch und Spielfigur sichtbar nebeneinander agieren, was zu einer »besonderen Betonung und Bearbeitung des Verhältnisses von Spielfigur und Mensch, von Puppe und Manipulateur oder Akteur« führt, vgl. Wagner 2003, 21. 17 | Die Prozesse der Zergliederung, Rekombination und Verdopplung des Körpers bilden auch die Basis, so möchte ich hier argumentieren, auf welcher alle anderen Formen von Figurentheater funktionieren, wie beispielsweise das Handpuppentheater: Eine Hand, ein Finger, ein Bein kann auf diese Weise zu einer potenziell autonomen Rollenfigur werden, die als dezentrierter Teil neben und mit dem menschlichen Spielenden agiert. Vgl. auch Garré Nicoara 2013, 80: »Du corps à son empreinte, chaque partie de sa structure corporelle peut devenir objet manipulé, et faire naître un double, une autre identité, souvent déstructurée.«
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Polyzentrierung des Körpers in Verbindung mit Spielfiguren mit dem Begriff »Atomisation«18.
F r agmentierung und R ekombination Auf ähnlichen Mechanismen wie jener der Atomisierung des Körpers basiert die Konstruktion des Monströsen: Cohen beschreibt das Monster als Resultat eines Prozesses aus Fragmentation und Rekombination von diskursiven Elementen unterschiedlichster Herkunft, die zusammengenommen das Monströse ergeben.19 Fragmentierung und Rekombination, bzw. Destruktion und Konstitution, sind folglich als grundlegende Mechanismen der Konstruktion von sowohl diskursiven als auch materiellen Monstern (man denke dabei zum Beispiel an Frankensteins Monster, welches aus organischen Abfällen zusammengenäht wurde), denen, nachdem sie aus Versatzstücken zusammengesetzt werden, von ihren Erschaffer/innen ›Leben‹ eingehaucht wird. Girard-Laterres Konzeption des monströsen Körpers basiert ebenfalls auf den genannten Prozessen der Dekonstruktion und Rekonstruktion, wobei der organische Körper der Spielerin als Grundelement gesetzt wird, das als Andockstelle neuer Teile dient. »Destruction puis constitution, qui produit un corps monstrueux [Herv. d. Verf.], en infraction à la norme, ou tout du moins, tentant de s’en affranchir en dépit de la résistance que le corps peut opposer à la métamorphose. Le corps, par le biais de l’objet marionnettique, devient une surface manipulable, dont les parties sont interchangeables, un jeu de construction dont la permutation rend tout modifiable […].«20
Ausgangspunkt dieses Glieder-Austauschs ist das verkehrte Verhältnis von künstlichem und organischem Körper, denn gerade die Degradierung des menschlichen Körpers innerhalb der Hierarchie der theatralischen Zeichen hilft, das Monströse zu konstruieren: Im Figurentheater – und besonders gut ersichtlich in der Inszenierung Chair de ma Chair – dient der menschliche Körper vor allen Dingen als Verbindungsstück für die künstlichen Theatermasken. Mit diesem verdrehten Dominanzverhältnis, in welchem der manipulierende Mensch nicht mehr hierarchisch über dem manipulierten Spielobjekt steht, scheint der Anthropozentrismus überwunden worden zu sein. Dies deshalb, wie Brigitte Prost beobachtet, weil nicht mehr die Spielfigur die Verlängerung des Zeichensystems des menschlichen Körpers ist, sondern die18 | Jurkowski 1983, 142-144. 19 | Vgl. Cohen 1996, 11. 20 | Girard-Laterre 2012, ohne Seitenangabe.
Der monströse Körper
ser gerade umgekehrt den zahlreichen Masken als Untergrund und Andockstelle im Prozess des Spiels dient. Die Spielerin manipuliert nicht länger die Spielfiguren, sondern macht sie sich zu eigen als Verlängerung und somit als erweiterter Teil ihres eigenen Körpers. »[La] marionnette n’est plus le simple prolongement de son corps, auquel elle donne vie par sa manipulation – selon un topos répandu –, mais, dans un processus inverse, c’est le corps de la comédienne qui est prolongé par des doubles d’elle-même, chaque marionnette (aussi monstrueuse soit-elle [Herv. d. Verf.]) étant faite de moulages de son propre corps en papier mâché, mais inexacts, ou plutôt déformés.«21
Prosts Idee des Monströsen basiert auf dem Konzept des grotesken Körpers des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin, der in der Analyse Rabelais und seine Welt – Volkskultur als Gegenkultur (1965/1987) sein Konzept des Grotesken entwarf, welches sich gemäß dem Autor vor allem im Topos des Körpers manifestiert. Bachtin bezieht sich dabei auf den in der spätmittelalterlichen Volkskultur und insbesondere dem sich während des Karnevals manifestierenden Volkskörpers. Der Autor setzt dabei dem Konzept des individuellen Körpers – und dessen charakteristischerweise glatten wie auch abgeschlossenen Hautoberfläche – jenes des unabgeschlossenen, sich verdoppelnden, sowie mit Aus- und Einstülpungen übersäten grotesken Körpers entgegen.22 Die Grenzen zwischen Körper und Körper bzw. zwischen Körper und Welt23 sind durchlässig und flüssig, was dazu führt, dass die Körper jederzeit miteinander verschmelzen können und daraus etwas Neues, Drittes entsteht. Konsequenterweise ist der groteske Körper per se ein aus mindestens zwei sich zu einem Hybrid zusammenschließender Körper, der sich in einem steten Turnus aus Gebären und Vergehen befindet: »Eine Haupttendenz der grotesken Körpermotive besteht darin, zwei Körper in einem zu zeigen, einen, der gebiert und abstirbt, und einen, der empfangen, ausgetragen und geboren wird. Man trifft immer auf den dickbäuchigen und gebärenden oder zumindest zu Empfängnis und Zeugung bereiten Körper, an dem Phallus oder Scheide deutlich hervortreten. Aus jedem Körper tritt in der einen oder anderen Weise ein anderer, neuer heraus.«24 21 | Prost 2009, 47. 22 | Bachtin sieht in seinem ahistorischen Konzept den Körper allerdings nicht als individuellen, sondern als überindividuellen Volkskörper an. Auf eine nähere Erläuterung dieser politischen Komponente soll an dieser Stelle allerdings zugunsten der Fokussierung auf den grotesken Körper als ästhetischem Phänomen verzichtet werden. 23 | Vgl. Foellmer 2009, 74. 24 | Bachtin 1987, 77.
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Marie Garré Nicoara, deren Analyse eine Weiterführung von Prosts Überlegungen darstellt, hebt insbesondere die Bedeutung des geöffneten Mundes in der Inszenierung hervor, welche auch bei Bachtins Konzept des grotesken Körpers als Verbindungstor zwischen der Außen- und Innenwelt eine fundamentale Rolle spielt.25 Situieren lässt sich das Groteske wie auch das Monströse in den Raum der Passage zwischen »Rand und Mitte«26. Garré Nicoara führt das Monströse auf den Effekt der Verschachtelung und Verdoppelung der Figuren zurück, die wie bei einer Matroschka ineinander stecken und nach und nach offenbart werden: »[La] mise au monde de créatures souvent monstrueuses est au coeur de la dramaturgie du Theater Meschugge. On se situe dans une dramaturgie de poupées russes, où à l’intérieur d’un corps s’en cache toujours un autre.«27 In eine ähnliche Richtung weist die Analyse von Marion Girard-Laterre, die darin das Ineinander-Verschlungen-Sein von organischen und künstlichen Teilen erkennt, die zusammen nicht mehr ein stabiles Individuum, sondern einen sich permanent vervielfältigenden und transformierenden Körper ergeben, der wiederum eine Vielzahl von Rollenfiguren repräsentiert. »La confusion des corps (du corps de la manipulatrice et de corps de la marionnette) chez Ilka Schönbein est en fait la juste conséquence d’une ›dualité invisible‹, celle des ›monstres doubles‹ [Herv. d. Verf.]. Le double permet de poser la question complexe du rapport entre identité et al.térité. C’est lui qui amène à ne plus savoir à quoi s’en tenir quant au moi ›propre‹. Chez les monstres doubles, il existe une forme d’indivi-dualité, de dualité invisible [Herv. d. Verf.].«28
Die Haut ist nicht mehr länger die nach innen und außen gehende Grenze des Individuums. Das Beunruhigende liegt in der Instabilität und Teilbarkeit des Doppel-Körpers, in welchem »le marionnettiste et sa marionnette ont une double vie inséparable«29. Wenn die Autorinnen von dem monströsen Körper sprechen, dann referieren sie mit diesem Begriff auf ein Körperbild, das geprägt ist vom Leitgedanken der Uneindeutigkeit, Instabilität und des unaufhaltbaren Drangs zur Transformation. Sie versuchen mit diesem Konzept das aus Masken und Körper geformte Hybrid zu fassen, das durch seine Verschlungenheit die Geschlossenheit des Körpers auf bricht: Durch das Aufsetzen der Maske oder der Manipulation einer Spielfigur wird Schönbein zu einem – zeitlich begrenzten – gedoppelten bzw. vervielfältigten Körper ohne äußeren Fixpunkt. Die Thea25 | Vgl. Bachtin 1987, 381 und Garré Nicoara 2015, 163. 26 | Foellmer 2009, 92. 27 | Garré Nicoarra 2015, 167. 28 | Girard-Laterre 2012, ohne Seitenangabe. 29 | Girard-Laterre 2012, ohne Seitenangabe.
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terwissenschaftlerin Gerda Baumbach betont, dass der Gebrauch von Masken eng mit dem Verständnis des (körperlich wie geistig) geschlossenen, unteilbaren Subjekts zusammenhängt. Die Reduktion der Maske auf ihren Dingstatus ist ein Symptom der neuzeitlichen Auffassung des Individuums. Dieses steht im Gegensatz zum antiken Verständnis der Maske als mit Identität gleichgesetzter persona, die wiederum »eine immer schon vorausgesetzte Identität (des Menschen mit sich selbst) zeitweilig verbergen«30 kann und nicht nur auf die Funktion des Verdeckens reduziert wird. Als Konsequenz wird durch die Maske die Unversehrtheit des homo clausus in Frage gestellt und, wie Richard Weihe argumentiert, im Moment des Aufsetzens wird der Mensch gedoppelt und aus einem Individuum ein Dividuum: »So gesehen ist der Mensch kein Individuum (Unteilbares), sondern vielmehr ein Dividuum, eine Person, die sich teilen (sich re-produzieren) oder falten kann. Durch die Faltung der Person entsteht ein Double, die Konstitution des Homo duplex. […] Nicht nur der Kern, auch die Hüllen gehören zur Identität einer Person.« 31
Der maskierte Körper lässt sich nicht mehr einfach kategorisieren. Diese Widerstandskraft gehört Jeffrey Jerome Cohen zufolge zu einer der fundamentalen Kriterien, die das Monströse auszeichnen: Monströse Körper stemmen sich gegen jegliche Versuche, sich in hierarchisch oder binär strukturierte Systeme einzugliedern. Stattdessen basiert ihre Existenz auf dem Prinzip der Hybridität, Polyphonie und Divergenz. Aufgrund ihrer Abstoßungsreaktion gegenüber jeglicher Systematisierung und Kategorisierung werden Monster von Cohen als dangerous gewertet.32
E liminierung des phänomenalen K örpers der S chauspielenden Weder Brigitte Prost, Marion Girard-Laterre noch Marie Garré Nicoara definieren die Konzepte des Monströsen genauer, welche sie bei der Analyse der Inszenierung Chair de ma Chair von Ilka Schönbein und dem Theater Meschugge hinzuziehen. Alle drei Autorinnen fokussieren ihre Analyse auf die Unabgeschlossenheit sowohl der körperlichen Metamorphose wie auch der Oberflächenstruktur der Körper. Ihnen gemeinsam ist zudem, dass sie ihre Auffassung des Monströsen auf ein Bild des atomisierten Körpers beziehen, der aus organischen und künstlichen Teilen zusammengesetzt wird und so 30 | Baumbach 2010, 106. 31 | Weihe 2004, 14f. 32 | Vgl. Cohen 1996, 6f.
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ganz und gar der Norm des homo clausus entgegengesetzt ist. Diesbezüglich fällt auf, dass der corps monstrueux von keiner der Autorinnen negativ gewertet wird, sondern, ganz im Gegenteil, gerade dessen Uneindeutigkeit als mögliches Tor zu neuen Darstellungsoptionen gedeutet wird. Die Künstlichkeit der Körpermasken enthält ein unerschöpfliches Darstellungs- und Verwandlungspotenzial, welches jenes des menschlichen Körpers ins Unermessliche übersteigt. Wenn Jiří Veltruský wie auch Philippe Choulet davon schreiben, dass die Spielfigur oder die Maske das ideale theatrale Zeichen repräsentieren, dann hebt diese Aussage insbesondere den Aspekt hervor, dass der künstlichen Spielfigur – im Gegensatz zum Menschen – gerade durch ihre materielle Ungebundenheit keinerlei gestalterische, zeitliche und räumliche Grenzen gesetzt sind. Einen Schritt weiter geht Girard-Laterre: Das perfekte Zeichen sei die reine Projektion des inneren Ausdrucks nach außen, die durch nichts gehindert wird. Die Spielfigur fungiert dabei als eine Art expressives Autotransplantat. »Ilka Schönbein – lorsque elle s’attaque au corps humain à l’aide de ses prothèses marionnettiques – matérialise cette image intérieure qui subit des déformations permanentes. Elle désigne ainsi un vécu du corps propre, une variabilité de l’existence intérieure, une réalité d’expérience. Ces formes corporelles monstrueuses constituent une sorte de manifestation corporelle des états de pensée et des états émotionnels.« 33
Der Einsatz von Spielfiguren und Masken als von Fehlern gereinigten Zeichenträgern ist eine Emanzipation der Darstellungsmittel vom menschlichen Körper als Hauptzeichenträger und dessen phänomenalem Ballast. In diesem Prozess nähern sich Zeichenträger und Zeicheninhalt immer stärker aneinander an; aus dem phänomenalen wird allmählich der semiotische Körper. Mittels Spielprothesen kann der menschliche Körper aufgebrochen und in höchstem Maße transformiert werden. Die Rollenfigur wird so nicht durch physiognomische Grenzen des »leiblichen In-der-Welt-Seins«34 des Schauspielkörpers gehindert. Der Theaterwissenschaftler Friedemann Kreuder argumentiert, dass die Maske im gegenwärtigen Gebrauch eine Manifestation des In-Distanz-Tretens der Schauspielenden mit der Rollenfigur darstellt. Die Maske wird dadurch zum Mahnzeichen, welches »für das Bewusstsein des Trägers [steht], anders zu sein, als er dem Betrachter erscheint«35. Das Monströse der Maske steckt in ihrer doppelten Gemachtheit, die sowohl in der künstlerischen Fertigung und der daraus resultierenden Möglichkeit der totalen Kontrolle über die Kons33 | Girard-Laterre 2012, ohne Seitenangabe. 34 | Fischer-Lichte 2001, 13. 35 | Kreuder 2014, 203.
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truktion einer Rolle besteht, als auch in der Sichtbarmachung der dahinterliegenden Mechanismen der Fragmentation und Rekonstitution im Prozess der Rollengenerierung. Das »Personsein«36 der Spielerin offenbart sich auf diese Weise im Spiel mit der Maske.
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Dekonstruktion durch Kunst-Paare
Re-Produktionsmaschine Paar? Dekonstruktionen von Beziehungsbildern in der Gegenwartskunst Jenny Schrödl
Liebespaare sind als Hauptfiguren zahlreicher Filme, Romane, Popsongs oder Fernsehsendungen in unserer Kultur und Gegenwart allgegenwärtig. Historisch haben sich Paarbeziehungen über die Zeit verändert: Nicht nur kommt zum romantischen Liebesideal im 20. Jahrhundert das Konzept der partnerschaftlichen Liebe hinzu, sondern auch das Konzept der Paarbeziehungen selbst im Sinne der Ehe wird geöffnet hin zu einem allgemeineren und offeneren Konzept von »Zweierbeziehungen«1, welches heute unter Schlagworten der Pluralisierung und Individualisierung verhandelt wird.2 Während in akademischen Disziplinen wie Psychologie, Philosophie, Anthropologie oder den Sozialwissenschaften das Paar als eigenständiger Forschungsgegenstand längst anerkannt ist und erforscht wird, kann in Bezug auf die Theaterwissenschaft und daran anschließender kunst- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen klar konstatiert werden, dass Zweierkonstellationen bislang kaum Beachtung fanden, sieht man von Ausstellungskatalogen zum Thema Künstler/innenpaare einmal ab. Die Forschung fokussiert hier vielmehr auf das Solo und auf das einzelne Subjekt auf der einen Seite – und auf den Chor und das Kollektive auf der anderen Seite. Die theoretischen Ansätze zum Paar sind natürlich divers und können hier nicht adäquat umrissen werden, einige zentrale Schlagworte sollen in diesem Zusammenhang genügen: Zunächst einmal umfasst der Paar-Begriff nicht allein Liebespaare, auch wenn es mir in diesem Beitrag ausschließlich um solche gehen wird, sondern ebenso Geschwister-, Eltern-Kind- oder Freundschaftsbeziehungen. Paarbeziehungen zeichnen sich durch das zentrale Cha-
1 | Lenz 2009, 45-61. 2 | Vgl. Maier 2008, 16.
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rakteristikum der Unersetzbarkeit und Singularität der Bezugspersonen aus3 sowie durch eine emergente Qualität des Überschusses. Mit dem Soziologen Karl Lenz gesprochen, ist eine Beziehung immer »›mehr‹ als die Summe der Eigenschaften der Beteiligten, sie hat eine Eigendynamik, die die Individualebene übersteigt«4. Darüber hinaus gehören zur Zweierbeziehung eine Kontinuität und relative Dauer, das Vorhandensein persönlichen Wissens, emotionale Bindung, geschlechtliche Faktoren sowie Dimensionen der Macht oder Interdependenz. Wesentlich für ein Verständnis des Paares ist ihre performative Funktionsweise, das heißt: Paare sind nicht einfach natürlich gegeben, sondern werden durch diverse Praktiken innerhalb von Wiederholungsabläufen erst hervorgebracht. Das Paar, so könnte man zugespitzt formulieren, kann eine Re-Produktionsmaschine sein – und zwar nicht einfach, indem es Nachkommen produziert, sondern indem es körperliche und soziale Handlungen, Codes, Normen etc. re-produziert, die innerhalb einer bestimmten Zeit und Kultur für das Paarsein stehen. Bekanntlich wohnt aber jeder Wiederholung und Re-Produktion auch ein Potential an Differenz und Verschiebung inne, sodass sich Vorstellungen und Praktiken von Zweierbeziehungen verändern oder Neues entstehen lassen können. In diesem Sinne ist das Paar eben auch keine bloße Re-Produktionsmaschine. Auch in der Gegenwartskunst wird sich forciert mit Paarvorstellungen und -praktiken auseinandergesetzt. Dabei sind zwei Perspektiven und Gegenstände zu unterscheiden:5 zum einen die sogenannten Künstler/innenpaare, welche aus zwei Menschen bestehen, die zusammen künstlerisch tätig sind und zwar oftmals im Rahmen einer Liebesbeziehung. Der dualen Arbeit am künstlerischen Werk liegt eine Provokation und Subversion des aus der Romantik stammenden Ideals des individuellen Künstlergenies zugrunde. Das Künstler/innenpaar umfasst zudem eine Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Leben, zwischen Arbeit und Freizeit. Beispiele dafür sind: John Lennon & Yoko Ono, VALIE EXPORT & Peter Weibel, Gilbert & George, Marina Abramović & Ulay, Pierre et Gilles, Diane Torr & Jane Czyzselska. Zum anderen gibt es in den Künsten aber auch Darstellungen und Präsentationen von Paaren unabhängig von den Beziehungen ihrer Produzent/innen; das Gegenwartstheater beispielsweise zeigt derzeit ein forciertes Interesse an solchen Beziehungsverhandlungen, man denke etwa an: Nurkan Erpulats Die juristische Unschärfe einer Ehe (Maxim Gorki Theater, Berlin 2015), Yael Ronens Erotic Crisis (Maxim Gorki Theater, Berlin 2014), René Polleschs Keiner findet sich schön (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 2015) oder Falk Richters Small Town Boy (Maxim Gorki Theater, Berlin 2013) u.a. 3 | Vgl. Honneth/Rössler 2008, 10f. 4 | Lenz 2009, 51. 5 | www.kunst-paare.de/uber-uns/.
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Zentral ist, dass die Künste nicht einfach nur bestimmte Paarvorstellungen einer Gesellschaft abbilden, sondern diese vielmehr mithervorbringen. Dabei können sie Imaginationen und Praktiken ebenso affirmativ re-produzieren wie subversiv unterlaufen und dekonstruieren. In meinen folgenden Ausführungen richtet sich der Fokus nun weniger auf die re-produzierenden, sondern stärker auf die dekonstruierenden Aspekte. Wie der Begriff Dekonstruktion nach Derrida aber bereits beinhaltet, umfasst jede De-Konstruktion das, was es angreift und destruiert; jede dekonstruktive Dynamik schließt also immer auch das Kritisierte ein und bewegt sich nach wie vor innerhalb der binären Struktur. Ich verwende zudem einen Begriff des Dekonstruktiven, welches neben der destruktiven, negativen Dynamik ebenfalls eine produktive, positive Dynamik einschließt. Das heißt konkreter, die Dekonstruktion von Beziehungsbildern innerhalb einer künstlerischen Arbeit vermag nicht nur bestimmte Vorstellungen zu kritisieren, sondern kann ebenfalls andere oder neue Beziehungsbilder entwerfen und vorstellbar machen. Dieser doppelten Dynamik der Dekonstruktion möchte ich im Folgenden exemplarisch anhand von drei Künstler/innenpaaren nachgehen: Eva & Adele, Annie Sprinkle & Elizabeth M. Stephens sowie deufert&plischke.
E va & A dele : O ver the B oundaries of G ender Eva & Adele sind ein Künstler/innenpaar aus Berlin, die seit 1991 zusammen sind und arbeiten. Ihre Performances bestehen aus gemeinsamen Besuchen von Großveranstaltungen der Kunstszene, wie der Biennale in Venedig oder der Documenta in Kassel, wo sie durch ihr Aussehen das Publikum verblüffen: In selbst entworfenen, extrem farbigen, oft rosa- bzw. pink-farbigen Kostümen, dazu passenden Handtäschchen, Seidenstrümpfen und hochhackigen Schuhen mischen sie sich im Partnerlook und stets lächelnd unter die Besucher/innen. Durch ihr auffälliges und freundliches Erscheinen laden sie zum Fotografieren ein, womit auch gleich der nächste Schritt in der Performance von Eva & Adele beginnt: Sie lassen sich von Passant/innen fotografieren und überreichen ihnen eine Visitenkarte, erläutern ihr künstlerisches Konzept mit der Bitte, die Fotos an sie zurückzuschicken. Die Fotos, früher auch Polaroids, sammeln Eva & Adele, manche stellen sie auf ihrer Webseite oder in Ausstellungen aus, manche werden auch als Vorlagen von Zeichnungen, Drucken und Gemälden eingesetzt. Besonders hervorzuheben am Künstler/innenpaar Eva & Adele ist, dass hier Leben und Kunst, Werk und Person eine unauflösliche Einheit eingehen, ja zu verschmelzen scheinen. Für Eva & Adele ist nämlich der beschriebene Auftritt in identischen Kostümen kein Auftritt im Rahmen einzelner Veranstaltungen, sondern sie machen dies jeden Tag, ob sie nun in den Supermarkt oder auf eine Vernissage gehen. Sie sind, wie es Paolo Bianchi
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beschreibt, ein »Lebenskunstwerk«6, sie sind selbst das Werk – »Wherever we are is museum«7, sagen Eva & Adele. »Ihre Kunst«, so beschreibt es Hans-Joachim Müller, »ist nicht etwas, das man machen kann oder nicht machen kann, heute vielleicht und morgen vielleicht und übermorgen nicht. Zu ihrer Kunst gibt es keine Alternative. Keine Freizeit von ihr, keine Privatheit neben ihr.«8 Eva & Adele hinterfragen mit ihrer künstlerischen Arbeit aber nicht nur übliche Grenzziehungen zwischen Kunst und Leben, sondern stellen eben auch gewöhnliche Paarerscheinungen und -bilder infrage. Ein augenfälliger Aspekt ist die Verunsicherung und bewusste Veruneindeutigung der geschlechtlichen Identität von beiden Personen und damit auch ihrer sexuellen Identität. Die Überschreitung konventioneller Geschlechterbilder sowie die Betonung von individuellen Geschlechtsentwürfen sind für Eva & Adele ein zentrales Anliegen: »Over the Boundaries of Gender«9 ist einer ihrer Slogans, so wie sie sich beide als nicht eindeutig einem Geschlecht zugehörig beschreiben.10 Zwar inszenieren sich beide mit ihren Kleidern, Farben, Schminke und Accessoires forciert weiblich,11 dennoch wird die rein auf Weiblichkeit fokussierte Festschreibung durch mindestens zwei Aspekte durchkreuzt und irritiert. Dies sind zum einen die kahlrasierten Schädel, welche in unserer Gesellschaft nach wie vor eher männlich konnotiert sind; zum anderen aber auch die Körpergröße und Statur von Eva. Vor allem die Glatze lässt eine vollkommene Inszenierung von Weiblichkeit brüchig erscheinen, sie lässt nach Sabine Kampmann »neben der ›Diva‹ auch den ›Cyborg‹, ›Robocop‹ oder die ›asiatische Gottheit‹ assoziieren«12. Ihr spezifischer Look, zu dem auch ein stets identisches, zwillingshaftes Auftreten zählt, lässt sie besonders und auffällig erscheinen, nimmt etwas Futuristisches, nicht ganz von dieser Welt Erscheinendes auf. 6 | Vgl. Bianchi 1998. 7 | Eva & Adele entwickeln gemeinsam verschiedene Slogans, wie »Wherever we are is museum«, die sie in Form von Stempeln auf Kunstwerken, Fotografien oder Büchern vertreiben. Abgebildet ist dieser beispielsweise auf dem Cover des gleichnamigen Buches: Eva & Adele 1999. 8 | Müller 2010, 2. 9 | Eva & Adele 1999, 9. 10 | Vgl. Kampmann 2006, 156 sowie Krobath 2015, 57. 11 | Warum sie sich dennoch stärker für eine weibliche als männliche oder gar androgyne Inszenierung entscheiden, wird von den beiden nicht eindeutig beantwortet. Zur nicht-männlichen Inszenierung mutmaßt Müller, dass »Maskulinität als Überlegenheitsund Überwältigungsprinzip ausgeschlossen bleiben soll« (Müller 2010, 3). Gleichzeitig beschreiben sich Eva & Adele auch als drittes Geschlecht, als »natürliche Hermaphroditen« (Kampmann 2006, 159), welche die Idee der Kugelmenschen von Platon reaktualisieren. 12 | Kampmann 2006, 142.
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Eva & Adele selbst beantworten Fragen nach Herkunft und Erscheinung stets mit der Behauptung, sie kämen aus der Zukunft. Das Konzept des Futuring, welches sie entwickelt haben, dreht etablierte Zeitvorstellungen um, tauscht die (historische) Nach-Erzählung gegen eine (utopische) Vor-Erzählung. Die Veruneindeutigung beziehen Eva & Adele aber nicht nur auf die jeweilige Geschlechtsidentität und biografische Zeit, sondern gerade in ihrem Auftritt als Liebespaar ebenfalls auf die sexuelle Identität ihrer Beziehungsform. Sie sind ebenso als heterosexuelles, als transsexuelles oder als lesbisches Liebespaar lesbar – eine Vieldeutigkeit und Offenheit sexueller Identität, die in unserer Kultur als nicht-intelligibel gilt. So ist auch der Prozess der Vereindeutigung von Seiten der Kritik und Presse immerfort am Werk; mit ihrer Verpartnerung (2001) scheinen sie sich dann auch unter der Kategorie der homosexuellen Lebensgemeinschaft problemlos einzuordnen. Dazu meinen Eva & Adele: »Grundsätzlich empfinden wir uns als homosexuelle Menschen im klassischen Sinn. Und wir denken, dass unser Paarsein ein Stück weiter geht, als eindeutig lesbisch oder eindeutig schwul zu sein, weil wir viel mehr Geschlecht in einem Menschen sehen.«13 In diesem kurzen Statement ist neben der Annahme eindeutiger sexueller Identität zugleich deren Verschiebung und Veruneindeutigung enthalten. Das Beharren darauf, »mehr Geschlecht« zu sein als eindeutig lesbisch oder schwul, legt eine Kritik an diesen Identitätskategorien ebenso nahe wie an Heteronormativität und Homonormativität. Eva & Adele praktizieren eher im Sinne der Queer Theory eine Infragestellung der Kohärenz von Identitätskategorien. Neben den eher irritierenden Aspekten ihrer Paarerscheinung greifen Eva & Adele aber auch konventionelle Attribute auf, die in der westlichen Kultur mit dem romantischen Liebespaar verbunden sind. So beschreibt es auch ein Journalist, der die beiden besucht hat: »Schlussendlich ist das alles auch eine wunderschöne Liebesgeschichte, eine Amour fou voller Romantik, Eleganz und Leidenschaft, mit einem klitzekleinen Körnchen Kitsch obendrein.«14 Zur Evokation des romantischen Liebespaares gehört etwa die Erschaffung einer Paar-Biografie anhand von signifikanten Daten, z.B. des Kennenlernens, von gemeinsamen Reisen und Erlebnissen, der Hochzeit bzw. Verpartnerung usw., welche in Interviews verbreitet werden; ebenso gehört dazu ein Ausstellen körperlicher Intimität und Nähe, wie Händchenhalten, Umarmen, Aneinanderschmiegen wie bei ihrem berühmten Herzlogo. In dieser Kombination von konventionellen und unkonventionellen Attributen des Paarseins entsteht quasi die einzigartige Paaridentität Evas & Adeles, die ein wenig von hier und ein wenig von woanders, eben aus der Zukunft zu kommen scheint. 13 | Blomberg, www.faz.net/ak tuell/feuilleton/inter view-eva-adele-ein-gleichge schlechtl iches-paar-das-fuer-die-zukunft-laechelt-132732.html. 14 | Krobath 2015, 58.
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A nnie S prinkle & E liz abe th M. S tephens : L esbian and E cosexual W eddings Ein weiteres Künstlerinnenpaar, welches sich auf sehr unkonventionelle Weise in Szene setzt, ist das US-amerikanische Frauen-Paar Annie Sprinkle und Elizabeth M. Stephens. Beide arbeiten und leben seit über einem Jahrzehnt zusammen, bringen Leben und Kunst in einen engen Zusammenhang15 und widmen sich in einer Fülle an künstlerischen Projekten besonders den Themen der Liebe und Sexualität. Beispielhaft dafür steht das Projekt namens Love Art Laboratory 16, welches von 2005 bis 2011 andauerte. Dieses künstlerische Projekt war orientiert an Linda Montanos Seven Year Cycle und umfasst im Wesentlichen Performance-Hochzeiten zwischen Sprinkle und Stephens, aber auch weitere künstlerische Aktivitäten, wie Installationen, Workshops, Walks, Symposien etc., welche alle um das Thema Liebe kreisen. Sie selbst beschreiben ihr Projekt wie folgt: »We, Elizabeth M. Stephens and Annie M. Sprinkle, are an artist couple committed to doing projects that explore, generate, and celebrate love. […] Each year we orchestrate one or more interactive performance art weddings in collaboration with various national and international communities, then display the ephemera in art galleries. Our projects incorporate the colors and themes of the chakras, a structure inspired by Linda M. Montano’s 14 Years of Living Art.«17
In jedem Jahr von 2005 bis 2011 beinhalten die Hochzeiten zwischen den beiden Frauen ganz unterschiedliche Themen und Farben, an denen sich die Kleidung der Heiratenden und Gäste sowie die Ausstattung der Hochzeit orientiert. So ist z.B. die erste Hochzeit (New York) roter Farbe und dem Thema Sicherheit gewidmet, die zweite Hochzeit (in San Franzisco) der Farbe Orange und den Themen Kreativität und Sexualität, die dritte Hochzeit (Kanada) gelber/goldener Farbe und den Themen Macht/Mut usw. Hinzu kommt, dass beide sich nicht nur als lesbisch, sondern ebenfalls als ökosexuell verstehen, die Hochzeiten z.T. auch als »ecosex weddings«18 bezeichnet werden; so kommt es dazu, dass nicht nur die beiden Frauen, sondern zugleich auch die Natur mit ihren Attributen (Erde, Meer, Mond etc.) geheiratet wird. Zu den Hochzeiten werden zahlreiche Gäste, vorwiegend aus der Kunst-Szene, eingeladen, sie finden an unterschiedlichen Orten statt, z.B. in Theatern, Kirchen oder im 15 | Vgl. Meier, www.ecumenicajournal.org/interview-with-annie-sprinkle-and-eliza beth-m-stephens-2/. 16 | http://loveartlab.org/. 17 | http://loveartlab.org/. 18 | http://sexecology.org/ecosex-weddings/.
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Freien. Eine breitere Öffentlichkeit soll an den Hochzeiten durch Live-CamÜbertragungen ins Internet teilhaben.19 Jede Hochzeit folgt der Struktur gängiger westlicher Hochzeiten mit offizieller Einladung, Programm, Ehegelübden, Predigt und Trauungszeremonie, Fest und geht mit dazugehörigen Fotos und Videos einher, die ebenfalls auf der Webseite veröffentlicht werden. Es ist unschwer zu erkennen, dass hierdurch ein lesbisches Künstlerinnenpaar das heterosexuelle Paarritual par excellence genutzt, ja wie sie selbst sagen, »okkupiert«20 wird, um einerseits bestimmte heteronormative Strukturen zu unterlaufen, andererseits aber auch, um dieses Ritual für sich selbst – im Sinne des Empowerments – anzueignen und neu zu (er-)schaffen. Letzteres wird durch die ökosexuelle Interpretation der Hochzeiten deutlich. Dieses Sieben-Jahre-Liebe-als-Kunst-Projekt wurde nach Sprinkle & Stephens durch einen konkreten gesellschaftspolitischen Anlass initiiert, nämlich durch das Verbot für homosexuelle Paare in Kalifornien zu heiraten, zumindest im Jahr 2005 – heute sieht dies bekanntlich anders aus. Vor diesem Hintergrund wollte das Frauenpaar mit ihren Hochzeiten ein dezidiert politisches Statement setzen, welches sich über die Gesetze des Landes hinwegsetzt, sich gegen Hass und Diskriminierungen wendet und in der forcierten Wiederholung des Hochzeitsrituals gleichzeitig auf ein Mehr- und Anderssein gleichgeschlechtlicher Paare und Liebe verweist. Sie sagen dazu selbst: »It is intended to share our love with our friends, family and community. We see this as an opportunity to look hatred, war and discrimination in the eye and state that we will not only be married once but that we will do so again and again despite governmental prohibitions, censorship, and discrimination.«21
Der Aspekt der Wiederholung des Hochzeitsrituals ist für Sprinkle und Stephens ein entscheidender Aspekt, womit sie in Differenz zum heteronormativen Ritual der Hochzeit und dem damit verbundenen Ideal der Einmaligkeit treten. Gerade in der Wiederholung von Hochzeiten liegt ein aufmüpfiger Protest im Sinne eines ›Na und?! Wir-können-dafür-mehr-und-besser‹, aber auch ein Offenlegen der rituellen Struktur von Hochzeiten generell. Darüber hinaus geht es bei den Hochzeiten von Sprinkle und Stephens auch nicht ausschließlich um die beiden Frauen und damit um eine lesbische Hochzeit und Ehe, sondern eben auch – im Sinne des ecosex – um eine Hochzeit mit der Umwelt und Natur. Ökosexualität beschreiben sie kurz als: »1: A person that finds nature sensual, sexy. 2: A new sexual identity. 3: Person who takes the 19 | Vgl. http://loveartlab.org/artist-statement.php?year_id=1. 20 | Meier, www.ecumenicajournal.org/interview-with-annie-sprinkle-and-elizabethm-stephens-2/. 21 | http://loveartlab.org/artist-statement.php?year_id=1.
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earth as their lover. 4: A term used in dating, i.e. metrosexual.«22 Hier werden Spaß und Ironie, gleichgeschlechtliche Liebe und Sexualität mit Dimensionen der Naturverbundenheit und des Naturschutzes in Zusammenhang gestellt. Gleichzeitig unterläuft die Hochzeit mit der Natur nun grundsätzlich die hegemoniale Vorstellung von Hochzeiten (oder setzt sich eigenständig davon ab), indem neben dem gleichgeschlechtlichen Paar nun zusätzlich etwas Drittes und dazu auch noch etwas Nicht-Menschliches (mit-)geheiratet wird.23
deufert& plischke :
A rtistwin
Das letzte Künstler/innenpaar, welches ich im Zusammenhang mit der Dekonstruktion von Beziehungsbildern vorstellen möchte, ist deufert&plischke. Kattrin Deufert und Thomas Plischke leben und arbeiten seit 2001 zusammen und zwar unter dem besonderen, kollaborativen Modell des Artistwin: »We are a Berlin-based artistwin and the practice of collaboration challenges our work and life since 2001. When we first met we said ›hello‹ to each other and immediately ›good bye‹ to who we were. No more work of Kattrin Deufert and Thomas Plischke but shared work of the artistwin deufert&plischke! From then on we create work in collective collaboration, and we want this collaboration to extend our work, to infect and challenge our private life as a couple and the life of those around us. Being twins and lovers, our relationship is incestuous, and we want to share this gentle misbehavior with those we meet in life and at work. We see theater as a complex and living art form that invites us to move, work, and encounter others; that’s why it seems so challenging and appealing.« 24
Das Motiv des Zwillings und Doppelgängers, welches bei Künstler/innenpaaren äußerst verbreitet ist – man denke etwa an Abramović & Ulay, an twin gabriel oder eben auch an Eva & Adele –,25 umfasst mehrere Bedeutungen: von der Gleichberechtigung in Beziehung und Arbeit über Attribute der Verschmelzung und Auflösung eigener Identität, die von Faszination ebenso wie von Schreckensvisionen begleitet werden, bis hin zum Spiel mit dem Inzesttabu. Alle jene Dimensionen werden von deufert&plischke ganz explizit aufgegriffen, so beschreibt es auch Miriam Dreysse: 22 | http://loveartlab.org/slideshow.php?year_id=6&cat_id=137. 23 | Ecosex hat sich für das Künstlerinnenpaar zu einem über die Hochzeiten hinausgehenden Projekt entwickelt, welches mit eigenen Performances, Symposien, Walks, Installationen etc. bis heute ausgearbeitet und in der Welt verbreitet wird, vgl. die aktuelle Webseite der beiden: http://sexecology.org/. 24 | www.deufertandplischke.net/. 25 | Vgl. Muysers 2000.
Re-Produktionsmaschine Paar? »Der Zwilling steht für die Sehnsucht nach dem Verschmelzen mit einem anderen, er ist Metapher der ›nächstmöglichen Verwandtschaft‹ (deufert + plischke), die sich der heterosexuellen Norm entzieht und in ihrem inzestuösen Moment zugleich einen Gestus der Überschreitung solcher gesellschaftlichen Normen beinhaltet.«26
Mit einer offensiven Form paritätischer Teilhabe, welche deufert&plischke als Lebens-, Liebens- und Arbeitsweise mit dem Modell des Künstler/innenzwillings profilieren, unterlaufen und dekonstruieren sie hierarchische Strukturen sowie stereotypisierte (Geschlechter)Rollenzuweisungen innerhalb von zweigeschlechtlichen Paarbeziehungen, die auch für zahlreiche Künstler/innenpaare prägend waren. So hat Renate Berger eindrücklich geschildert, wie Künstler/innenpaare zu Beginn des 20. Jahrhunderts, z.B. Françoise Gilot und Pablo Picasso, asymmetrische, hierarchische Beziehungen etablierten, und zwar nach dem Muster bedeutender Mann und Künstlergenie auf der einen Seite – und als unzureichend empfundene Frau auf der anderen Seite, deren Stellenwert sich trotz teilweise enormen künstlerischen Potentials nicht selten auf »Geliebte, Begleiterin und Portraitistin«27 reduzierte. Dem entgegen realisieren deufert&plischke eine gleichberechtigte Beziehung in Leben und Arbeit und gehen dabei auch über das hinaus, was heute durchaus ein neues Ideal der Paarbeziehung darstellt, nämlich die gleichberechtige Partnerschaft, wie sie in Form von »Doppelkarrierepaaren«28 auftritt. So hat das Künstler/innenpaar deufert&plischke z.B. keine fixe Arbeitsteilung, sondern beide sind an Konzeption, Text, Regie, Dramaturgie und Aufführung ihrer Performances gleichermaßen beteiligt und verantwortlich. Auch auf der Bühne treten sie gemeinsam und gleichberechtigt auf; in Directory 2: Songs of Love and War (2005) zum Beispiel, so beschreibt es Miriam Dreysse, »treten beide mit einer fast identischen Kurzhaarfrisur auf, tragen die gleichen Tops und ähnliche Hosen oder die gleichen weißen Strumpfhosen. Auch Bewegungsmodi, Körperhaltungen und Stimmmodulationen sind nicht geschlechtsspezifisch differenziert und werden häufig synchron oder symmetrisch ausgeführt.«29
Zudem beinhaltet die gleichberechtigte Arbeitsteilung Dimensionen der Auflösung des Individuellen und des Verschmelzens mit dem Anderen – insgesamt wesentliches Ziel und Arbeitsprogramm des Artistwin deufert&plischke. In ihrem selbst entwickelten Verfahren des Re-Formulierens beispielsweise werden Gedanken aufgeschrieben, von anderen aufgegriffen und weiterge26 | Dreysse 2010, 199. 27 | Berger 2000, 7f. 28 | Wimbauer 2012. 29 | Dreysse 2010, 197.
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schrieben, ein individueller Ursprung ist so nicht mehr nachvollziehbar. In ihren ersten beiden Performances Directory 1+2 arbeiteten die beiden an einer »Zwillingsbiografie«30; es flossen Erinnerungen aus Kindheit, Jugend, Politik, Studentenleben und ihrem Kennenlernen ein, die nicht mehr eindeutig der einen oder der anderen Person zugeordnet werden konnten. Diese Auflösung des Individuellen, die Austauschbarkeit der einen gegen die andere Person und das Aufgehen in der gemeinsamen Identität geht bei deufert&plischke sogar so weit, dass sie z.B. bei öffentlichen Auftritten nicht ankündigen, wer kommt. Ebenso kann es vorkommen, »dass er ein Seminar leitet, das sie vorbereitet hat. Oder dass sie auf seine Mails antwortet«31. All jene gerade erwähnten Dimensionen von gleichberechtigter Beziehung und Verschmelzung zweier Individuen hinterfragen hierarchische Muster zweigeschlechtlicher Beziehungen ebenso wie Ideale einer gleichberechtigten Doppelkarrierebeziehung. Während erste auf geschlechtsspezifische, asymmetrische Arbeitsteilung baut und letztere auf die Gleichberechtigung zweier je einzeln für sich stehenden Individuen setzt, gehen deufert&plischke mit ihrem Künstler/innenzwillingsmodell einen anderen Weg. Sie schaffen eine dritte, gemeinsame, durchaus politisch gedachte Identität und Körperlichkeit, welche versucht, ebenso binäre wie individualistische Schemata hinter sich zu lassen. Die netz- oder knotenartige Struktur, die sich in Bildern von ihnen ebenso zeigt wie beim gemeinsamen Stricken, z.B. in der Performance Songs of Love and War, lässt ein anderes (Paar-)Modell erscheinen, das Verschmelzung und Angleichung ebenso zulässt wie Differenz und Abstand. Die Beine und Arme ineinander verschränkt, sodass die Gliedmaßen auf den ersten Blick weder der einen, noch der anderen Person zuordenbar erscheinen und dennoch zwei voneinander getrennte, ähnliche, aber nicht identische Köpfe32 – dieses Bild erscheint als Sinnbild des Künstler/innenzwillings und vielleicht sogar als Sinnbild des heutigen Künstler/innenpaares überhaupt.33 Die drei hier vorgestellten Künstler/innenpaare dekonstruieren also Beziehungsbilder auf ganz verschiedene Weisen und Ebenen: Eva & Adele entziehen sich durch ihr spezifisches weiblich-gebrochenes Erscheinungsbild einer eindeutigen geschlechtlichen und sexuellen Identität, sie irritieren damit ein konstitutives Moment des Paarseins, nämlich geschlechtlich und damit sexuell eindeutig zuordenbar zu sein. Denn, wie Stefan Hirschauer in Rekurs auf die im 19. Jahrhundert zur Unterscheidung unserer Sexualitäten entwickelte Semantik feststellt: »Statt des sexuellen Geschmacks klassifizieren wir 30 | Becker 2015, 23. 31 | Becker 2015, 24. 32 | Vgl. die Fotografie von Rafael Pinho in: Becker 2015, http://magazin.spiegel.de/ EpubDelivery/spiegel/pdf/138314247. 33 | Vgl. Muysers 2000, 447.
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einen Typ von Beziehung, den wir über die Geschlechtszugehörigkeit ihrer beiden Enden bestimmen: als gleich/homo oder verschieden/hetero.«34 Annie Sprinkle und Elizabeth M. Stephens setzen sich hingegen in Form von Hochzeiten mit dem (heterosexuellen) Paarritual par excellence auseinander, eignen sich dieses ebenso für lesbische oder queere Menschen an, wie sie es durch Wiederholungspraktiken verschieben und verändern. Deufert&plischke machen mit ihrem Zwillingsmodell nicht zuletzt ein anderes, drittes Paarmodell deutlich, das sich weder in Form hierarchisierter, noch in Form individualistischer Zweierbeziehungen pressen lässt: Auflösung von eigener Identität und Verschmelzung koexistieren hier mit Differenz und Abstand voneinander. Ob sich aus diesen drei (exemplarischen) Paarkonstellationen wegweisende zukünftige Paarbilder und -modelle ablesen lassen, oder ob sie allein Teil einer generellen gesellschaftlichen Pluralisierung von Paarvorstellungen darstellen, wird sich u.a. in weiteren Forschungen erweisen müssen.
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»Daß ich eins und doppelt bin?« Ähnliche Differenzen bei Abramović und Ulay Maxi Grotkopp Ist es ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt, Sind es zwei die sich erlesen, Daß man sie als eines kennt? Goethe: Gingo biloba
Zwei menschliche Körper, beide nackt, beide von ähnlicher Statur: Sie sind schlank – man sieht Muskeln und Knochen –, beide relativ groß – wenn auch nicht ganz gleich groß – gewachsen. Beide tragen ihr langes dunkles Haar offen. Der Blick der Kamera trifft sie im Profil und hält bzw. stoppt sie – in einem Moment der Bewegung, im Aneinandervorbeigehen. Die Gesichter blicken in entgegengesetzter Richtung nach links und nach rechts. Der der Kamera nähere, vordere Körper verdeckt den Rumpf des hinteren. Die Arme hängen locker, leicht schwingend entlang der Seiten herunter. In der Lauf bewegung getroffen, ist je ein Bein leicht angewinkelt, das andere als Standbein gestreckt. In der Profilaufnahme erinnert ihr Bewegungsmuster so an die geometrische Form einer Raute. Die zwei weißen Körper vor der weißen Leinwand im Hintergrund erscheinen so – und die Schwarzweißfotografie leistet hier mit Sicherheit einen entscheidenden Beitrag – auf einen ersten, kurzen (und vielleicht naiven und unscharfen) Blick als ein Körper. Auch muss man schon ein bisschen genauer hinsehen, um sie als Frau und Mann unterscheiden zu können. Die in Belgrad geborene Marina Abramović und Ulay, in Deutschland geboren unter dem Namen Frank Uwe Laysiepen, waren von 1976 bis 1988 ein Kunst-Paar, ein Liebespaar, das zusammenlebte und arbeitete. Diese Arbeiten bestanden zu einem Großteil aus gemeinsamen Performances. Bei der hier eingangs beschriebenen handelt es sich um ihre erste gemeinsame Perfor-
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mance aus dem Jahr 1976 mit dem Titel Relation in Space 1. In den folgenden Jahren entstanden unter der Überschrift der Relation Works eine ganze Reihe vergleichbarer Projekte. In sehr formalen Arrangements und nüchternen Versuchsauf bauten wird hier stets das Thema zwischenmenschlicher Relation verhandelt, wobei die performative Dimension von Beziehung evident wird. Beziehung – so die Hypothese – wird nicht als etwas von Natur aus Gegebenes gedacht, sondern präsentiert und konstituiert sich als dynamisches, vielfältiges Spannungsfeld, das es immer neu, in der Interaktion der Performer/innen untereinander ebenso wie mit dem Publikum, auszuhandeln gilt. Der Körper, der Leib, das Fleisch, wie Maurice Merleau-Ponty es nennt,2 und das Austesten seiner physischen Grenzen nehmen dabei einen ganz entscheidenden Stellenwert ein. So lautet beispielsweise die Performanceanweisung zu Relation in Space: »Two bodies repeatedly pass, touching each other. At higher speed they collide.«3 Dass es sich bei dieser hier vorgesehenen Kollision um ein durchaus physisch-gewaltsames Aufeinanderprallen handelt, wird in der Videoaufzeichnung der Performance um einiges deutlicher als in den Fotografien, was zu einem für die Analyse der Arbeiten Abramovićs und Ulays zentralen Aspekt führt, nämlich zur Medialität der Dokumentation und Rezeption. Die eben skizzierten Performances sind heute nur noch über Fotos, Ausstellungskataloge, Videoaufzeichnungen und Erzählungen zugänglich. Diese spezifische Medialität der Zugänge zu den Arbeiten soll jedoch nicht als Hürdenlauf der Geschichtswissenschaft angegangen, sondern als Teil der künstlerischen Praxis des Paares selbst analysiert werden. Durch Videoaufzeichnungen und Fotografien, in Ausstellungen und Ausstellungskatalogen mit Text und Bild hat das Paar selbst die Veröffentlichung seiner Arbeiten aktiv betrieben, ist gleichsam in all diesen Medien aufgetreten. Dadurch werden das Genre der Performance und ebenso das Thema Beziehung in ihrem präsentischen Aspekt gleichermaßen problematisch und problematisiert.
1 | Performed auf der Biennale di Venezia, Juli 1976, Dauer der Performance: 58 Minuten. Der einleitenden Beschreibung liegt eine Fotografie aus dem Katalog Relation Work and detour zugrunde (Abramović/Ulay 1980, 21). 2 | Vgl. Merleau-Ponty 2004, insb. 172-203. 3 | Abramović/Ulay 1980, 20. Die Performance-Anweisungen werden stets zusammen mit den Fotografien in verschiedenen Ausstellungskatalogen veröffentlicht. Auch leiten sie, gesprochen im Voiceover von Abramović und/oder Ulay, stets die Videoaufzeichnungen der Performances ein.
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Im Fokus dieses Beitrags soll das ästhetische Prinzip der Ähnlichkeit4 stehen, welches mir zentral für die Arbeiten des Paares zu sein scheint.5 Die Performances und (Selbst-)Inszenierungen von Abramović und Ulay sollen so exemplarisch auf Re/produktionsmechanismen von Paarkonstellationen durch Strategien der Ähnlichkeit hin befragt werden. Die Ähnlichkeit kommt dabei, wie das Paar, selten allein: In ihrem Streben nach Angleichung, nach Anähnlichung befindet sie sich stets in einem Spannungsverhältnis zur Differenz. Genauer möchte ich im Folgenden danach fragen, inwiefern körperlich-visuelle Ähnlichkeitskonstellationen in den Performances von Abramović und Ulay als ästhetische Strategie der Ausstellung oder Sichtbarmachung der Kontingenz sozialer Kategorien fungieren können, insbesondere der Kategorie des Geschlechts. Die Relation Work-Reihe stellt folglich in dem Maße, in dem sie eine Auseinandersetzung mit dem Körper ist, zugleich eine Form der Auseinandersetzung mit sozialen (Rollen-)Einschreibungen dar. Inwiefern also können die Performances dieses Paares, die, wie Miriam Dreysse feststellt, mit einem »androgynen Zwillingsmodell«6 experimentieren, sozialen Einschreibungen entkommen? Bevor ich mich im Folgenden dieser spezifischen Ästhetizität widme, ist jedoch noch eine kurze historische Situierung des Paares notwendig, besonders auch für die Frage nach sozialen Einschreibungen: Denn die Bühne, auf welcher diese Körper wahrnehmbar werden, ist nicht die des deutschen Stadttheaters. Die sich in den 1960er-Jahren formierende Performancekunst verstand sich bewusst als Gegenmodell zu der etablierten Institution des Theaters (sowie des Museums) und erklärte es zum Programm, alle vermeintlichen Gewissheiten vom Tisch zu wischen: Unterscheidungen zwischen Künstler/in und Werk, zwischen Darsteller/in und Figur, zwischen Akteur/in und Zuschauer/in, zwischen Kunst und Leben gerieten hier ebenso auf den Prüfstand wie Vorstellungen des Öffentlichen und Privaten, von Identitätspolitiken und Geschlechterverhältnissen. Entgegen den Repräsentationsmechanismen – des Theaters wie der Alltagswelt – geht es hier nun nicht mehr um eine Verkörperung von vorgeschriebenen Figuren und Rollen. Die Trennung des Auf- und Hinter-der-Bühne wird aufgegeben. Stattdessen steht der Augenblick, der Moment des Vollzugs und der Körper der Performer/innen selbst im Fokus der Aufmerksamkeit – der Körper 4 | Die Ähnlichkeit entfaltet ihr wahrnehmungs-, erkenntnis- und medientheoretisches Potential dabei als »eindeutig […] vager Begriff« (Bhatti/Kimmich 2015, 10), der eine gewisse »Unschärferelation« (Bhatti/Kimmich 2015, 26) in die Analyse einführt. 5 | Mit Sicherheit ist das Prinzip der Ähnlichkeit auch für viele andere PerformancePaare relevant. Zu denken wäre beispielsweise an Gilbert & George, Genesis Breyer P-Orrige, deufert+plischke oder EVA & ADELE. Hinsichtlich der beiden letztgenannten Kunst-Paare siehe auch den Beitrag von Jenny Schrödl in diesem Band. 6 | Dreysse 2010, 198.
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wird mit Andreas Reckwitz evident gemacht »als Aus- und Aufführungsort von Kultur«7. Mit der Aufhebung der Trennung von Rolle und Darsteller/in geht die Aufhebung der Trennung von Privatleben und Arbeit einher. Eine Maxime, welche im Künstler/innenpaar scheinbar ihre radikalste Umsetzung gefunden hat. Abramović und Ulay verfolgen diese explizit, indem sie Arbeit, Kunst sowie Lebensführung dem gleichen Programm, welches den Titel Art Vital trägt, unterstellen: »No fixed living-place Permanent movement Direct contact Local relation Self-selection Passing limitations Taking risks Mobile energy No rehearsal No predicted end No repetition« 8
Für den Zeitraum von vier Jahren praktizierten sie eine radikal mobile Lebensform, reisten in ihrem Auto ohne festen Wohnort in Europa von Performance zu Performance. Dieses vermeintlich private Leben wird öffentlich, indem es beispielsweise in Ausstellungskatalogen inszeniert wird,9 wodurch sich die Grenzen dessen, was als Performance bezeichnet werden kann, verflüssigen. Auch bei diesen Inszenierungen des Lebensalltags finden sich auffällig viele Motive des Ähnlichen: So berichten und bebildern sie, dass sie beide, angeblich schon bevor sie sich getroffen haben, ihr Haar in der gleichen Weise mit hölzernen Nadeln hochgesteckt haben. Besonderen Wert legten sie des Weiteren auf die Tatsache, dass sie beide am 30. November geboren wurden (Abramović 1946, Ulay 1943) und dieser Tag wurde meist mit speziellen Geburtstagsperformances begangen. Eine dieser Performances, Communist Body, Capitalist Body, fand am 30. November 1979 in ihrer damaligen Wohnung in Amsterdam statt und stellte die mitternächtlichen Besucher/innen vor das Rätsel, ob sie zu einer Performance oder zu einer Geburtstagsparty der besonderen Art geladen worden waren. Die Gastgeber/innen hatten zwei Tische je mit Champagner und Kaviar festlich gedeckt (den einen in stereotyp deutscher, den anderen in stereotyp 7 | Reckwitz 2008, 87. 8 | Abramović 1980, 19. 9 | Vgl. exemplarisch Abramović/Ulay 1980, 6-17.
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russischer Manier) und auf einem dritten Tisch ihre Geburtsurkunden ausgelegt. Das Paar selbst verharrte die ganze Nacht regungslos aneinandergeschmiegt und schlafend unter einer roten Decke auf einer Matratze im hinteren Teil des Zimmers. Die einzelnen Elemente der räumlichen Inszenierung, die Tische und Urkunden – allesamt auch wieder detailliert fotografisch in Katalogen festgehalten10 – fungierten als repräsentative Verdopplungen, Vervielfachungen der physischen Körper im Modus der Ähnlichkeit – jedoch jeweils mit kleinen Differenzen: zwei Tische, der eine mit Damast, Porzellan, Silber und deutschem Sekt, der andere mit Toilettenpapier, Emailgeschirr und russischem Champagner; zwei Geburtsurkunden im gleichen Papierformat, beide verzeichneten den 30. November, auf der einen jedoch war ein Regierungsstempel mit kommunistischem Stern, auf der anderen ein Regierungsstempel mit Hakenkreuz abgebildet. Neben solchen Inszenierungen des Ähnlichen arbeiteten sie auch an der konkreten physischen Anähnlichung ihrer Körper. So ließen sie sich beispielsweise nach der Performance Relation in Movement (1977) mit roter Tinte die Zahl 3 auf den jeweiligen linken Mittelfinger tätowieren. Diese Inszenierungen des Ähnlichen, des Spiegelbildlichen, aber auch des Verschmelzenden fächern so ein Assoziations- und Bezugsspektrum auf, das sich von der rückgewandten Sehnsucht nach der Einheit eines platonischen Kugelmenschen, über die Synchronisation, den Gleichklang von zwei Entitäten, bis hin zur die Zweiteilung übersteigenden Figuration eines Dritten erstreckt. Und es stellt sich die Frage, ob ein solches Drittes, ein 1+1=3, das Potential mit sich bringt, die Dualismen hinter sich zu lassen, Differenzkategorien zu verflüssigen. Doch noch einmal zurück zum Anfang, zurück zur Performance Relation in Space: In ihrer Nacktheit scheinen sich die Körper des Paares zumindest einigen sozialen Zuschreibungen, welche beispielsweise über die Kleidung als »Klaviatur von Zeichen«11 erfolgen könnten, zu entziehen.12 Andere Kategorien wie Geschlecht und Alter, werden hingegen deutlicher sichtbar. Wobei es gerade im Hinblick auf das biologische Geschlecht deutliche Unterschiede zwischen den Fotografien gibt: Auf einigen sind die äußerlichen Geschlechtsmerkmale sehr deutlich zu sehen, auf anderen verwischen sich in der Bewegungsaufnahme durch die Kamera die Konturen der zwei Körper bis hin zu
10 | Vgl. Abramović/Ulay 1980, 164-171. 11 | Barthes 1985, 263. 12 | Andere zentrale Differenzkategorien wie z.B. race oder körperliche (Un-)Versehrtheit werden durch die Ausgangssituation nicht (oder höchstens ex negativo) zur Verhandlung gestellt. Die Anähnlichung funktioniert so zu einem zentralen Bestandteil über die gleiche Hautfarbe und das gleiche physische Bewegungsvermögen.
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ihrer Verschmelzung.13 Ebendieser Punkt der Verschmelzung aber wirft die Betrachtenden zurück auf sein zentrales Gegenteil: dass es nämlich zwei Körper sind, die sich über ihren Partnerlook der Nacktheit in Beziehung setzen. Darüber hinaus vollführen sie spiegelbildlich die gleichen Bewegungsabläufe, vollziehen die identischen Handlungen, gleichen sich in Gestik und regungsloser Mimik. Indem sie sich durch die ästhetische Strategie der Ähnlichkeit in Relation setzen, wird so zugleich die grundsätzliche Relationalität von Unterscheidungen evident und mit ihr die Möglichkeit eines Un/doing.14 So ist man schon fast versucht, die Aussage zu formulieren, dass sie in ihrem Erscheinungsbild, im Habitus, in der Handlung stereotype Rollenzuschreibungen wie die des Weiblichen und Männlichen abzustreifen vermögen. Und dieses (vielleicht utopische) Verschwinden der Differenzkategorie geht ganz zentral auf die Zweiheit, auf die Anähnlichung von zwei unterschiedenen Entitäten zurück. So groß die Versuchung zu dieser Interpretation ist, so beschleicht einen aber doch ein Unbehagen dabei, dass diese Wahrnehmung keineswegs so eindeutig ist. Dieses Unbehagen findet seine Bestätigung in dem immer wieder neuen Hervortreten von Differenzen. Es scheint unmöglich, so ähnlich sich das Paar auch macht, die Differenzen auszulöschen. Das Gegenteil ist der Fall: Umso ähnlicher sich die beiden in ihrer Größe sind und umso ähnlicher sie sich in Figur, Frisur, durch Gestik, Mimik und Bewegung machen, desto mehr sucht das betrachtende Auge nach den Unterschieden. Sie ist ein bisschen kleiner, er hat etwas kürzere Haare, sie hat Brüste, er einen Penis. Bewusst versuche ich hier den Wahrnehmungsprozess eines Hin- und Her-Geworfenseins zwischen Konstellationen von Identität und Differenz nachzuzeichnen, denn in ebendieser Erfahrung wird man sich als Betrachter/inebenso wie als Unterscheidende/r gewahr. Ich bin es, die das Verschwinden einiger Unterscheidungskriterien konstatiert und ich bin es, die – vor dem Hintergrund meiner Sozialisation – Unterscheidungen vornimmt. Eine weitere Performance des Paares verdeutlicht diese Entscheidungsarbeit der Zuschauer/innen noch eingehender und überführt sie zugleich in 13 | Die Bildauswahl unterscheidet sich in den einzelnen Katalogen. In Abramovićs Anthologie Artist Body sind beispielsweise vergrößerte Bildausschnitte veröffentlicht, in denen das jeweilige biologische Geschlecht markanter hervortritt, vgl. Abramović 1998, 138. 14 | Stefan Hirschhauers Konzept des Un/doing zielt neben einem prinzipiellen Bewusstsein für die Kontingenz sozialer Unterscheidungen insbesondere auf den Moment der Unbestimmtheit zwischen den Praktiken des doing difference sowie des undoing difference. Indem eine Praxis der Unterscheidung sich erst in ihrer Wiederholung verfestigt (doing difference), kann die Unterscheidung ebenso nicht wieder aufgegriffen und die Differenz somit wieder außer Kraft gesetzt werden (undoing difference), vgl. Hirschhauer 2014.
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direkte Aktion. In Imponderabilia15 standen Abramović und Ulay, wieder komplett entkleidet, auf der Eingangsschwelle eines Museums und bildeten so einen ›Rahmen‹, in welchem sich die Eintretenden entscheiden mussten, wem sie das Gesicht und wem den Rücken zuwandten und somit auch, wen sie, da der Durchgang verengt worden war, wo und wie berühren wollten. Betrachtet man die Dokumente dieser Performance, welche meist in fotografischen Serien veröffentlicht werden und die Galeriebesucher/innen genau zwischen den Performer/innen zeigen, so ertappt man sich dabei, wie man beständig mitzählt, ob sich nun die Eintretenden der Frau oder dem Mann zu- bzw. abwenden und somit in ihrem Handeln (Geschlechter-)Differenzen konstituieren (das Ergebnis soll nicht verschwiegen werden, mehr Menschen wenden ihr Gesicht Abramović zu). Während Abramović und Ulay regungslos, die Gesichter einander zugewandt, verharren, gehen die Blicke der Besucher/innen auffällig stur geradeaus oder zu Boden. Die Dokumentation in Serie, die Vervielfachung der Momentaufnahmen weist nun sehr deutlich auf die zentrale Rolle, die der Faktor der Zeitlichkeit in den Performances und in der Konstitution des Paares, der Ähnlichkeit und der Differenz spielt. Wie schon bei den Fotografien zu Relation in Space, die in der Stillstellung der Lauf bewegung noch deutlicher an die experimentellen Bewegungsaufnahmen von Muybridge und Marey erinnern, zeigen diese sichtbaren Einschnitte in der Zeit – gerade in der Abwesenheit von Bewegung –, wie die Wahrnehmung jeder Relation im Raum zugleich an eine ganz spezifische Zeitlichkeit gebunden ist. In der Videoaufzeichnung – im Bewegungsfluss – zu Imponderabilia kommt so die Abwesenheit jeder spielerischen Interaktion der Eintretenden mit dem Paar, das auffällig sachliche Verhalten, dem kaum eine Verwirrung oder Belustigung anzumerken ist, noch deutlicher zum Ausdruck. In relativ raschem Tempo zwängt sich einer nach dem anderen zwischen den menschlichen Statuen hindurch und verlässt schleunigst den Ort des Geschehens. Die Wenigen, die sich nach der Passage noch einmal umdrehen, um andere zu betrachten, werden eiligst vom Museumspersonal weitergeleitet. Während die fotografische Dokumentation den Moment der Berührung, den Augenblick der »Schwellenerfahrung«16 ins Zentrum stellt, verschiebt sich in der Wahrnehmung des Videomaterials die Aufmerksamkeit auf den Kontrast zwischen dem Stillstand der Performer/innen und dem Bewegungsstrom der Besucher/innen, der nun im Medienwechsel allerdings fast mehr an das Verlassen einer unangenehmen Situation als an ein Eintreten gemahnt.17 15 | Performed auf der Schwelle der Galleria Comunale d’Arte Moderne, Bologna, Italien im Juni 1977. Nach 90 Minuten wurde die Performance von der Polizei abgebrochen. 16 | Erika Fischer-Lichte bezieht sich auf ebendiese Performance in ihren Ausführungen zur spezifischen Liminalität von Performancekunst, vgl. Fischer-Lichte 2004, 312. 17 | Vgl. hierzu auch Heathfield 2014, 24.
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Auch bei der Performance Relation in Space verändert das Anschauungsmedium die Wahrnehmung des Geschehens erheblich. Das 58-minütige Videomaterial zur Performance bringt zum einen auf Grund seines Alters eine gewisse Unschärfe, zum anderen ist es aber gerade auch die Tatsache, dass die Körper in Bewegung sind, die es verhindert, dass man Unterschiede und Ähnlichkeiten in einem vergleichenden Sehen herausarbeitet, wie dies bei der Fotografie der Fall war. Die Kamera ist – in gleicher Weise wie die Fotografie – in der Totale auf die weiße Leinwand gerichtet, vor welcher das Paar im Profil aufeinander zuläuft. Abramović und Ulay erscheinen jeweils aus dem linken bzw. rechten Bild-Off. Vergleichbar sind die Körper jetzt in erster Linie in ihrem Bewegungsablauf. Laufen sie mit derselben Geschwindigkeit? Wer erscheint zuerst im Bildausschnitt? (Und was machen sie eigentlich im Off?) Nach ca. 45 Minuten lässt sich eine Veränderung in ihren Laufwegen feststellen. Anstatt aneinander vorbei, immer je von links nach rechts und umgekehrt, wendet sich nun jeder nach dem Aufeinandertreffen in der Mitte seiner Seite zu – in den Raum gestellt sei, ob es Zufall ist, in einer Kulturgeschichte, in der das Linke stets dem Rechten nachgeordnet wurde, dass die Frau hier links, der Mann rechts endet. Der eigentliche Fokus der Aufmerksamkeit liegt nun aber nicht mehr auf zwei Seiten, sondern auf dem Aufeinanderprallen der beiden Körper. Relation in Space, das wird deutlich sicht- und vor allem hörbar, das heißt: Zwei Körper können nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein. Durch Mikrophone links und rechts der Leinwand wird das Geräusch der aufeinander klatschenden Körper noch verstärkt. Die Nacktheit erhält hierdurch eine neue Qualität. In der Einheit von Bild und Ton tritt die Leiblichkeit wie deren Verletzlichkeit oder Leidensfähigkeit explizit hervor. Die Aufmerksamkeit folgt nun Fragen wie: Wer ist stärker? Wer stößt wen weg oder um? Wer verfügt über die größere Ausdauer? Die Medienverschiebung bringt so zugleich eine Fokusverschiebung von einem Miteinander hin zu einem Gegeneinander: ein Wetteifern – eben gerade auch der Geschlechter. Ab dem Moment, in welchem sie nach dem Zusammenprall nicht mehr aneinander vorbei, sondern jeder zu seiner Seite zurückgehen, lässt sich ein deutliches Ungleichgewicht im körperlichen Verhalten beobachten. So wird Abramović von der Wucht des Aufpralls deutlich weiter nach hinten geworfen als ihr Gegenüber. Des Öfteren taumelt sie rückwärts aus dem Bildrand, Ulay allein im Bildzentrum zurücklassend. Nach etwa 55 Minuten kann Abramović dann einem Aufprall nicht mehr standhalten und fällt zu Boden. Das Signal zur Beendigung der Performance gibt sie aber erst, nachdem noch ein paar weitere Kollisionen erfolgt sind. Besser, schlechter, stärker, schwächer: Die »individuelle Leistung«18, so Stefan Hirschauer im Anschluss an Bourdieu, ist in der modernen Gesellschaft zu einer zentralen Differenzkategorie geworden, die sich von den ande18 | Hirschauer 2014, 171.
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ren Kategorien insofern unterscheidet, als sie »wie ein großer Gleichmacher dazu auffordert, von allen Unterschieden askriptiver und kategorialer Art abzusehen«19. Die Performance zeigt deutlich, wie schwer bis unmöglich dieses Absehen von herkömmlichen Kategorien ist und inwiefern auch die Leistung wieder die Möglichkeit der Unterscheidung mit sich bringt. So gibt es also kein Entkommen aus der Differenz? Abschließend möchte ich hier noch einmal auf die Serialität hinweisen, nicht nur in der fotografischen Dokumentation der einzelnen Performances, sondern gewissermaßen auf den ganzen Zyklus der Relation Works und der nachfolgenden Arbeiten des Paares bezogen. Denn Abramović und Ulay haben sich auf viele Wettstreite eingelassen, in denen, anders als in dem hier analysierten Beispiel, meist Ulay zuerst die Kräfte oder die Stimme versagten. Diese Performances, gerade aus den ersten Jahren ihrer Zusammenarbeit, sind meist in Schwarzweißfotografien und in Serien dokumentiert und veröffentlicht. In der Zusammenschau dieses Materials geht die Wahrnehmung von Ähnlichkeit und Differenz vielleicht auf den ersten Blick ein wenig weiter auseinander, als dies innerhalb einer einzelnen Fotografie oder Performance der Fall ist, das engmaschige Oszillieren ist nicht mehr so ausgeprägt. Dennoch stehen diese Bilder in einer Ähnlichkeitsbeziehung zueinander, welche die Bedeutung der Wiederholung für die Konstitution und den Auftritt als Paar ebenso wie die Kontingenz von Unterscheidungen sichtbar werden lässt. Kategorien werden hier nicht aufgehoben, aber durch Strategien des Ähnlichen sichtbar, erfahrbar gemacht. In der Anähnlichung werden Vorstellungen von der Polarität der Geschlechter problematisiert, ebenso wie Fragen der biologischen Verwandtschaft im Zwillingsmotiv. Gerade in der Serialität der Arbeiten zeigen sich Ähnlichkeit und Differenz beständig differierend, die Kategorien werden changierend, als Prozess eines Un/doing evident.
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Historische Verhandlungen von Gender und Race
Der Körper Jesu Der Oberammergauer Christus als Chiffre alternativer Männlichkeiten im ausgehenden 19. Jahrhundert Julia Stenzel
1. D er M ann J esus Der leidende Gott, dessen Opfertod das Oberammergauer Passionsspiel seit 1634 ins Theatrale überträgt,1 macht das Dorf im Oberbayerischen seit dem 19. Jahrhundert zu einem Touristenmagnet der besonderen Art. Schon in den 1860er-Jahren steht das Diskursereignis Oberammergau im Spannungsfeld zwischen exotischem Faszinosum und spirituellem Sehnsuchtsort.2 Die Hoffnung, hier eine gegenüber dem Kunst- wie dem Unterhaltungstheater der etablierten Bühnen ganz andere, authentische Form von Theater erleben zu können, treibt eine immer heterogenere Besucherschaft ins Ammergau. So können im Erleben des Spiels ad hoc je verschiedene Affektgemeinschaften3 entstehen, die insbesondere den Darsteller Christi einbinden; in der individuellen Erfahrung, die nicht mehr im Zeichen einer Nähe zu paraliturgischen Kulthandlungen stehen muss, werden das Spiel und seine Akteur/innen frei für Umbesetzungen. In den historischen Verhandlungen dieses anderen Theaters der Passion lassen sich zwei komplex aufeinander bezogene Modelle eines ›Theaters der Wahrheit‹ rekonstruieren: Das eine beruht auf der Vorstellung einer Stellvertreterschaft der Darsteller/innen, der Transparenz ihrer Körper auf das dar1 | Die legendäre Gründungsgeschichte des Passionsspiels ist vielerorts nachzulesen: Als Oberammergau 1633 von der Pest heimgesucht wurde, gelobte die Dorfgemeinschaft, von nun an alle zehn Jahre das Spiel von Leiden, Sterben und Auferstehung Christi aufzuführen. Es habe von da an keine Pesttoten mehr gegeben. Noch im 17. Jahrhundert auf die glatten Zehner-Jahre verlegt, wird das Spiel mit zwei Ausfällen bis heute regelmäßig aufgeführt. Vgl. zuletzt Wetmore 2017, 1-8. 2 | Vgl. etwa Stausberg 2010, 146; Edelmann 2017. 3 | Zum Begriff der theatralen Affektgemeinschaft vgl. Warstat 2014; Gandhi 2006.
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gestellte Heilige hin, das andere auf der einer Realpräsenz des Heiligen in einer opaken, auf sich selbst verweisenden Leiblichkeit. Diese Verschränkung kulminiert in der szenischen Präsentation des Körpers Jesu, der auf der Passionsbühne seit jeher nicht nur als ein göttlicher, sondern immer auch als ein männlicher Körper wahrgenommen wurde. Galt die Männlichkeit Christi traditionell jedoch als eine spezifische, aus den Logiken irdischer Geschlechterverhältnisse ausgekoppelte – Christus wird durch sein Dulden, durch die Passio, zum Handelnden –,4 wird sie in den neuen Blicken auf das Spiel am Ende des 19. Jahrhunderts gerade in ihrer Abweichung von hegemonialen Männlichkeitskonstrukten beschreib- und diesen vergleichbar.5 Die Verkörperung Christi auf der Passionsbühne wird zum Anlass, Alternativen zu imaginieren – und zwar gerade dadurch, dass Körperbilder aus der etablierten ChristusIkonografie entlehnt werden.6
Abb. 1: Dornenkrönung Christi. Szene aus der Passions-Aufführung 1890. 4 | »Jesus ist nicht das Opfer, sondern der Herr der Passion« (Henning 2004, 176). Unter Bezugnahme auf die Thesen Rainer Warnings vgl. Müller 1997; Eming 2005; Eming 2009. 5 | Dies schon im mittleren 19. Jahrhundert bei Eduard Devrient, der den einreitenden Jesus »wie die Frauen pflegen« auf einem silbergrauen Esel sitzend beschreibt (Devrient 1851, 16). Die Frage nach der anderen Männlichkeit des Dulders Christus stellen auch nichtfiktionale Auseinandersetzungen mit dem Passionsspiel um 1900 (etwa Grimm 1903, bes. 247). Vgl. auch Scheurer 1977. 6 | Einen Eindruck von der Oberammergau-Ikonografie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1900 vermittelt der in mehreren Auflagen erschienene Band von Hermine Diemer (1900).
Der Körper Jesu
Diesen Zusammenhang nehme ich am Beispiel des historischen Skandal- und Erfolgsromans Am Kreuz von Wilhelmine von Hillern, erschienen 1890 in zwei Bänden, in den Blick:7 Die (in Teilen wohl autobiografisch affizierte) Erzählung von Passionsdorf, -spiel und -spieler/innen oszilliert zwischen einem Pilger- und veritablen Konversionsbericht und dem von einer geschickt eingefädelten, religiös maskierten Amoure. Ich will rekonstruieren, wo der Roman sich im zeitgenössischen Diskurs um den dargestellten Christus und um das Passionsspiel als eine exponierte Form anderen Theaters8 positioniert: Die prekäre Männlichkeit des Oberammergauer Christus, der zwischen beinahe tierhafter Archaik, bäuerlicher Naivität und der Ahnung eines Göttlichen oszilliert, bringt die Frage nach Besitz- und Hierarchieverhältnissen in einer auf den ersten Blick den historischen Konventionen entsprechenden heterosexuellen Beziehung als Frage nach alternativen Geschlechterbildern auf. Freilich betreibt die Infragestellung naturalisierter Geschlechterrollen nicht etwa die Dekonstruktion eines bürgerlichen Familien- und Ehemodells, wie es in der Literatur der Zeit ja durchaus denkbar gewesen wäre. Im Gegenteil: Von Hillerns Skandalroman reproduziert klischierte Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder, die jedoch in komplexer Rekombination präsentiert werden und so den Prozess ihrer eigenen Dekonstruktion auslösen und perpetuieren.9 Ein entscheidendes Moment ist dabei die Auflösung der Opposition von Femme Fatale und Femme Fragile in der zentralen Figur der Maria Magdalena, Gräfin von Wildenau, genannt Madeleine, die an Magdalenenbildern der zeitgenössischen Literatur orientiert ist, aber auch Züge der Muttergottes trägt.10 In der Konfrontation mit der hybriden Figur der Maria-Madeleine wird die Figur Christi zum Ort der Verhandlung von Männlichkeit, mithin zum Ort des Ausagierens zunehmend prekärer Bilder des Mannes als Pater Familias.11 7 | Hillern 1890. Im Folgenden im Haupttext zitiert als AK Bandnummer, Seitenzahl. Vgl. zu Oberammergau-Reiseberichten von Frauen auch Groeneveld 2016. 8 | Durchaus im Sinne von Münz 1998, 70. 9 | Vgl. zu Weiblichkeit und Männlichkeit im Geschlechtergefüge des späten 19. Jahrhunderts Helduser 2005, Hausen 1988; zur Ehe als Krisengefüge Arni 2004. 10 | Vgl. etwa AK I, 228f. Die literarische Maria ist eine Mischgestalt; in ihr amalgamieren Aspekte der biblischen Maria von Magdala, der Maria von Bethanien, der heiligen Maria Aegyptiaca und der namenlosen Sünderin, die Jesu Füße mit ihren Tränen wäscht und mit ihrem Haar trocknet (vgl. Glang-Tossing 2013, 31-37). Weiblichkeitskonstruktionen unter Bezugnahme auf Maria Magdalena sind um 1900 keine Seltenheit, vgl. Glang-Tossing 2013, zu christologischer Männlichkeit v.a. S. 243-245. Gegenüber den Herren der Gesellschaft bleibt die Gräfin die mit den Schemata von Femme Fragile und Femme Fatale gekonnt spielende Intellektuelle. 11 | Divergente Konzepte von Weiblichkeit konfrontiert der Roman explizit, etwa bei der Begegnung der Gräfin mit der Mariendarstellerin (AK I, cap. 11: »Maria und Mag-
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Kurz zur Handlung: Die knapp dreißigjährige Gräfin von Wildenau, jung verheiratet, früh verwitwet und Schwarm der Münchner Gesellschaft, reist zum Passionsspiel nach Oberammergau. Mit ihr reist die Münchner haute volée, aber wo andere nur Zerstreuung suchen, sucht die Gräfin eine individuelle Form der Religiosität jenseits protestantischer Rationalität und agnostischer oder atheistischer Philosophie; und die findet sie in der Liebe zum ChristusDarsteller Joseph Freyer.12 Sie verführt den Schmerzensmann, heiratet ihn heimlich, bringt auf der Hochzeitsreise – in Palästina – einen Sohn zur Welt, um Freyer mit dem Kind dann als Verwalter in ein ererbtes, einsames Jagdschloss zu verbannen. Der Kindsvater zieht gemeinsam mit seiner Cousine Josepha das »Christkindl« auf (die ehemalige Magdalenen-Darstellerin hatte sich durch eine verbotene Liaison der Rolle unwürdig erwiesen).13 Madeleine kehrt in die Münchner Gesellschaft zurück, besucht Mann und Kind immer seltener, bis letzteres an der Sehnsucht nach der Mutter zugrunde geht. Die Ziehmutter Josepha stirbt ihm nach. Bald nach dem Tod des gemeinsamen Sohnes erklärt die Gräfin ihre geheime Ehe mit Freyer für ungültig. Reumütig kehrt der gefallene Gott ins Ammergau zurück, und die Gemeinde nimmt ihn als verlorenen Sohn auf; die nun ebenfalls reuige Gräfin folgt ihm nach. Bis zur nächsten Passion genießen die beiden – kinderlos – ein bescheidenes Eheglück. Freyer spielt ein letztes Mal den Christus und stirbt in der Dernière: Am Kreuz.14 Das Passionsspiel als das offensichtlichste Zentrum des Romans erlaubt es der Gräfin Wildenau, ihr körperliches Begehren über brautmystische Bildlichkeit zu legitimieren: Im Körper Freyers auf der Bühne begehrt die Protagonistin den Leib Christi; entsprechend wird das Passionstheater zum Ort der dalena«). Zur diskursiven, sozialen und juridischen Problematisierung bürgerlicher Geschlechterverhältnisse um 1900 vgl. Arni 2004. 12 | Die Figur hat wohl den historischen Christus-Darsteller Joseph Mayr zum Vorbild, der als ausgesprochen attraktiver Mann galt: »Joseph Mayr was the first actor to become a star with an international following, particularly with English women.« (Waddy 2010, 21) Schon zeitgenössisch war der Starkult um Mayr ein Thema, etwa in den Schriften des Journalisten Wilhelm von Wymetal (1890). Mayr stand in den Jahren 1870-1890 als Christus auf der Bühne. 13 | Das Paradox der Frau, die aufgrund lebensweltlicher Verfehlungen der Rolle der reuigen Sünderin Magdalena nicht mehr würdig sei, ist geradezu ein Topos der spätromantischen Oberammergau-Literatur. 14 | In seiner Anlage ist der Roman einer Art Vulgärtypologie verpflichtet. Der erste Band umfasst das Kennenlernen des Ehepaars bis zur Abreise aus Oberammergau, der zweite setzt acht Jahre später ein, als die Liebe der Gräfin abgekühlt und das Kind bereits schwer krank ist. Beide Bände sind wie Altes und Neues Testament aufeinander bezogen – der zweite Band lässt sich als Steigerung und Erfüllung des ersten lesen.
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Wandlung.15 Freyer selbst stellt der Verklärung seines Spiels jedoch ein Repräsentationsmodell gegenüber: »Verwechselt mich doch nicht mit ihm – ich bin’s ja nicht […]« [AK I, 178f.], so seine schlichte Reaktion auf die schwärmerische Verehrung durch die Gräfin, in der das Konzept des Passionsspiels als Gottesdienst mit einem Konzept des Theaters als gefährliche Illusionsmaschine konfrontiert ist. Einen Schritt weitergedacht, ist die Ambiguierung Christi auch im Zusammenhang mit einer Theatralisierung der im Modell der Heiligen Familie angebotenen Geschlechterrollen zu beschreiben. Wie Albrecht Koschorke zeigen konnte, ergibt sich aus der Verschränkung des christlichen Trinitätsmodells mit dem durch den Bezug auf Gott sozusagen nach oben hin offenen Dreieck der Heiligen Familie auch für die Figur der Maria eine einigermaßen paradoxe Konstellation: Maria ist zugleich Muttergottes und Braut Christi; der dreieinige Gott zeugt sich selbst mit Maria.16 – Es würde zu weit führen, hier die dogmatischen und theologischen Voraussetzungen und die soziohistorischen Konsequenzen der katholischen und der mystisch-heterodoxen Marienverehrung bis ins Letzte zu verfolgen.17 Es muss genügen festzuhalten, dass die Dynamisierung der Geschlechtermodelle, wie sie von Hillern sozusagen unterläuft, in erster Linie aus der Dynamik der Heiligen Familie zu denken ist; in dieser Dynamik gewinnt denn auch die hybride Marien-Figuration an Folgerichtigkeit, wie sie sich in der Figur der Gräfin konkretisiert. Das Passionsspiel wird zum diskursiven Ort, an dem die theologische Frage nach dem Verhältnis von Person und Inhabitation als Verhältnis von Identität und Rolle verhandelbar wird.18
2. E cce homo : N euer M ann und S chmerzensmensch Die Differenz zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, wie sie von Hillerns Bericht vom Spiel voraussetzt, wird zunächst in der Opposition von Aktivität und Passivität rekonstruierbar: Der Christus Patiens des Spiels wird dem Blick der im weiteren Verlauf explizit als »mannhaft« charakterisierten Gräfin in seinem exponierten Nicht-Handeln zum Weib. Im Sanhedrin ist gegen den Dulder Christus eine – so hier erneut die Zuschreibung – männliche Ent15 | Zur neomystischen Christologie um 1900 vgl. Glang-Tossing 2013, 230-245. 16 | Vgl. Koschorke 2000. 17 | Zu den sozialgeschichtlichen Implikationen der Marienverehrung vgl. Opitz/Röckelein/Signori 1993, Signori 1995. 18 | Die Relationsbegriffe ›Person‹ und ›Inhabitation‹ sind hier bezogen auf Christi Sein in den Gläubigen. Vgl. zur Begriffsgeschichte in der Theologie seit Thomas von Aquin Lehmkühler 2004, bes. 172-188.
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schlossenheit gesetzt; die Gräfin »ist fast versucht, für den energischen Feind Partei zu nehmen, der seine und seines Gottes Ehre mannhaft verteidigt« [AK I, 131f.]. Der heilige Zorn des Hohen Rats weckt nicht nur das ästhetische Interesse der Gräfin, sondern auch ein moralisches: Anders als beim Berufsschauspieler seien »die Individualität und der Künstler nicht zweierlei […], es ist auch ein großer Mensch, den sie da vor sich hat« [AK I, 132]. Die hier dem Männlichen zentral zugeschriebene Eigenschaft – Konsequenz, bis hin zur physischen Gewalt, wenn es um die Integrität des eigenen Sinn- und Wertsystems geht – kollidiert mit dem Auftreten Christi, des passiv Duldenden: »Fast zürnt ihm das mannhafte Herz der Gräfin ob dieser Demut und möchte ihm zurufen: ›Du bist ja Gottessohn, so hilf dir doch!‹ Ihr Gerechtigkeitsgefühl, wie es nach menschlichen Begriffen geartet, sträubt sich gegen diese Duldung, dieses Hinopfern des heiligen Rechts!« [AK I, 128f.] Erst mit der Kreuzigungsszene ändert sich das – in der Szene also, die im nackten Crucifixus den männlichen Körper Freyers exponiert. Sie ist auf eigentümliche Weise sexualisiert, bis hin zum Orgasmischen. Der entblößte Körper wird am Kreuz fixiert und dem Blick der Menge preisgegeben: »Das Kreuz ist wuchtig, die Knechte stöhnen und stemmen die Schulter – die Adern schwellen an – noch ein Ruck – auf schwankt der Balken – ›Haltet fest!‹ – ›Noch mehr – strengt eure Kraft an!‹ Und es hebt sich im gewaltigen Bogen, es schwebt aufwärts – die Menschheit beugt sich schauernd zurück vor dem Gräßlichen!« [AK I, 152]
Und nun blickt der Anblick zurück: Ihm ist das Publikum stellvertretend für die Menschheit ausgesetzt: »Entsetzen schüttelt die Zuschauer, die Glieder beben. Einer faßt den anderen an, wie um sich zu halten, daß es ihn nicht niederwerfe. Es kommt, das Kreuz – es kommt über die ganze Welt! Immer höher – immer näher! ›Haltet dagegen – laßt nicht los!‹ Es steht, es ist gefestet.« [AK I, 152] In der englischen Übersetzung des Romans heißt es an dieser Stelle noch expliziter: »It [the cross] stood erect and was firm.«19 Die Zuschauerin gewöhnt sich an das Bild des nackten, schutzlosen Mannes – sie ästhetisiert die dargestellte Agonie: »Göttliche Anmut ist über den schlanken Körper ausgegossen und […] so löst sich das Entsetzen harmonisch auf in frommer Bewunderung vollendeter Menschenschöne, die sich da […] entfaltet vor dem entzückten Blick.« [AK I, 153] Die religiöse Ekstase, in die das Spiel die Gräfin versetzt, ist erotisiert – die Frage danach, ob der gekreuzigte Körper auf der Bühne bloß Ikon, Ikone oder ob er der Leib Christi ist, wird ihr gleichgültig:
19 | Hillern 1893, 89f. Vgl. Groeneveld 2016, 160.
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Die eschatologisch als Beginn des Neuen Bundes lesbare Finsternis markiert auch die Geburt eines neuen Gott-Mannes; eines Mannes, der nicht wie Zeus als Goldregen, als Stier oder als Schwan,20 auch nicht wie der jüdische Gott als Angellos erscheint – sondern als Mensch, und als ein schwacher, schutzbedürftiger dazu: Als es zur Kreuzabnahme kommt, imaginiert sich die Gräfin an die Stelle der Muttergottes; als die Aufführung vorbei ist, lässt sie sich über die leere Bühne in die Künstlergarderobe führen. Doch wie das Grab Jesu bei Ankunft der Marien ist auch die Garderobe leer; statt des Leichentuchs hängen dort die Kostüme, »dampfend vom Schweiß der schweren Arbeit« [AK I, 166]. An die korrespondierende Position der Auferstehung des Fleisches müsste eine Spaltung der von der Gräfin in der elevatio wahrgenommenen Einheit von Gottesdarsteller und Christus treten. Freyer legt sein Kostüm ab – doch weiterhin begehrt die Gräfin in ihm den Menschen und den Gott. Insbesondere ein Requisit wird ihr zu »Reliquie«: Die Dornenkrone; sie bestimmt das Verhältnis des Christus Patiens und der Frau als das einer alles andere als biblischen Abhängigkeit: »›Nein, meine Hände sollen dich schützen, daß kein Dorn dich mehr ritze, geliebte Stirn!‹ denkt sie […].« [AK I, 166] Die auch im gemäßigt feministischen Diskurs der Jahrhundertwende spezifisch weiblich, als soziale Mutterschaft codierte Sorge für das schutzbedürftige Leben findet sich hier in Verschränkung mit radikaleren Konzepten der Frau als der Befreierin des religiös befangenen männlichen Körpers: Die Gräfin erscheint als ein Amalgam von Maria Muttergottes und der – ihrerseits schon hybriden – Figur der Maria Magdalena, die in Christus-Dienst und Compassio Erlösung sucht – und die in der Literatur um 1900 radikalen Umcodierungen unterworfen ist: Im Kontext lebensreformerischer Entwürfe wird Magdalena zur weltzugewandten Erlöserin des Mannes in seiner Körperlichkeit.21 Dieser Diskurswandel geht auch an von Hillerns Magdalena-Madeleine nicht spurlos vorbei.
20 | Die Erzählerstimme imaginiert antike Gottheiten und Heroen, die sich mit Entsetzen von der Kreuzigungsszene abwenden; der Sonnenuntergang wird als Flucht des Helios und als Ende der heidnischen, diesseitsfreudigen Götter beschrieben: »[…] [I]hn ekelt des Menschengeschlechts!« [AK I, 143]. 21 | Vgl. Glang-Tossing 2013, 31f.
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3. V erkündigung und N oli me tangere :
Abb. 2: Pietá. Skulptur in der Kirche Sankt Peter und Paul, Oberammergau. Die Begegnungen der Gräfin mit Freyer am späteren Abend und am nächsten Tag vermessen weiter das semantische Feld der Hierarchien, die zwischen gebildeter Adliger und ungebildetem Christusdarsteller im liminalen Raum von Passionsdorf und -spiel zum Gegenstand der Aushandlung werden. Ein Eintritt Christus-Freyers in das Gastzimmer der Gräfin ruft zugleich mit Mariä Verkündigung die Begegnung Magdalenas mit dem Auferstandenen im Garten Gethsemane auf, allerdings in synkretistischer Verschränkung mit antiker Ikonografie; so werden auch pagan-erotische Mythologeme in einen heillos übercodierenden Prozess der Analogisierung eingebunden: »Sie sitzt da mit gefalteten Händen, zitternd in demutsvoller Erwartung, wie Danae des Augenblicks harrte, wo eines Gottes Liebe im Goldregen auf sie niederflutete.« [AK I, 170] Die Wartende, die sich eben noch als Muttergottes imaginiert hatte, wird erneut zur Gottesbraut; Freyer fasst ihre »Händchen«, sie ist der Ohnmacht nahe – als er unwillkürlich zusammenzuckt. Er hat sich eine signifikante Verletzung zugezogen: »Joseph von Arimathia [fasste mir] beim Herausziehen des Nagels aus Versehen das Fleisch mit. Nun bin ich wirklich stigmatisiert.« [AK I, 175] Im akzidentiellen Wirklich-Werden des zuvor noch
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als bloß symbolisch, als nur gespielt relativierbaren Akts der Stigmatisierung liegt eine Resakralisierung der vor die Folie von Auferstehung und Verkündigung zugleich gestellten Szene: Als das Theaterblut sich als wirkliches Blut entpuppt, wandelt sich der begehrte Körper Jesu erneut zum Leib Christi. Wie in der Erfahrung der elevatio verschwindet die Grenze zwischen Rolle und Person, wird mithin die Unterscheidung zwischen Repräsentatio und Inhabitatio unmöglich. Gräfin Madeleine-Magdalena verstößt gegen das Gebot des Noli me tangere und »haucht, ehe er’s wehren kann, einen Kuß auf das blutige Stigma« [AK I, 175]. Mit dieser Berührung verkehrt sich das Verhältnis von Gebendem und Empfangender zu einem von Schützender und Schutzbedürftigem, als die Gräfin durch ihre Berührung die Realpräsenz Christi persistiert: Nun ist es Freyer, der erschrickt, errötet, der Ohnmacht nahe ist. Als die Gräfin den Mann Freyer mit Christus identifiziert, wird sie zur Gottesmacherin; und als Freyer ihrer erotischen Anziehung erliegt, stiehlt er den Kuss seinem Gott. Diesem Dilemma entkommt er nicht durch Entsagung, sondern indem er seine psychophysische Reaktion der purifizierenden Interpretation durch die Gräfin überantwortet. Ließ zunächst er die spirituelle Liebe zu Gott in der – so heißt es: »lebenswarmen Skulptur« des Schauspielerkörpers erotisierbar werden, so ist es nun Madeleine, die eine Resakralisierung vornimmt – die sozusagen die Einsetzungsworte spricht. Sprachrohr Gottes ist nicht mehr der Darsteller Christi, sondern die gelehrte Philosophin; und hier ruft der Roman den Topos der Eva auf, die vom Baum der Erkenntnis aß und ihrem Gefährten die Frucht reichte [vgl. auch AK I, 172f.]. Doch die gebildete, wortgewandte Gräfin durchbricht die patrilineare Logik der christlichen Heilsgeschichte noch in ganz anderer Weise: Die zunächst klar definierten Rollen der Verkündigungsszene beginnen durch ihre eigenwillige Argumentation zu oszillieren. Es ist nicht mehr die Gräfin, die als Maria den Heiligen Geist empfängt. In ihrer Rede gewinnt vielmehr Freyer marienähnliche Züge, ist er es doch, der im Passionsspiel Christus immer wieder unter Schmerzen zur Welt bringt. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Kosename, den Freyer für seine Braut wählt, einen brisanten Beiklang: Madeleine ist ihm sein »Täuble«, seine Taube, sein Heiliger Geist.22
4. G ot tesr aub Freyer bezeichnet es als sein Schönstes, wie Christus am Kreuz zu sterben, und die Gräfin ist eifersüchtig: »Sie gönnt ihn dem Marterpfahl nicht, dem toten, hölzernen, der nicht fühlt, der nicht liebt, der nicht begehrt wie sie!« 22 | Bezeichnenderweise wird die Taube an anderer Stelle zur Helmzier des sanftmütigen Kriegers Christus [AK I, 133].
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[AK I, 177] Doch auch dieses blasphemische Begehren wird eingefangen durch seine brautmystische Verklärung, ist es doch eigentlich Christus, mit dem die Gräfin sich in Freyer auch sexuell vereinigen will: »Sie senkt einen Blick in sein dunkles Auge, einen süßen, verlangenden – tödlichen Blick – einen vergifteten Pfeil, dessen Wirkung sie kennt.« [AK I, 177] Interessanter noch als das Motiv der Femme Fatale ist das der Psychologin, die als Theologin auftritt, ist es doch Christus, den sie untersuchen und heilen will. Das zweite Gespräch der Liebenden gestaltet sich denn auch als Bravourstück einer als Theologie getarnten manipulativen Seelenkunde: Die Gräfin spricht Freyers unvollendete Sätze zu Ende, entlarvt die Gründe für sein Kommen als Vorwände und deutet sie in ihrem Sinne – als Ausdruck einer über den Bezug auf Christus legitimierten erotischen Anziehung. Madeleine hindert den Gast am Gehen und redet. Freyer »schlägt die Augen nieder«, Freyer »faltet die Hände auf den Knieen [sic!] und neigt schweigend das Haupt« [AK I, 188], Freyer weint, Freyer »erhebt die dunklen Augen groß und voll zu ihr, aber er spricht nicht«, »Freyer legt die Hand über die Augen, als wolle er nicht noch mehr draus lesen lassen« [AK I, 189]. Auf die Frage der Gräfin, ob sie richtig geurteilt habe, folgt ein geflüstertes »Ja!«. Freyer küßt der Gräfin die Hand und erschrickt. Er »streicht […] sich die schwarzen Locken zurück […] und schiebt seinen Stuhl weiter von ihr weg, um sich nicht noch einmal in Versuchung zu bringen. Sie läßt es geschehen, sie weiß jetzt, er ist doch in ihrer Gewalt […]« [AK I, 190]. Die Gräfin beginnt sofort, das weitere Vorgehen zu planen; die Echtheit des Gefühls ist dabei nur ein abzuhakender Punkt auf der Agenda: »[E]s ist kein Spiel, das sie mit ihm treibt, sie will sich heiligen in seiner Liebe, wie Maria Magdalena!« [AK I, 190]23 In einer mehr als kühnen, pseudo-naturwissenschaftlichen Argumentation legitimiert die Gräfin ihre eigene Gottesliebe. Freyer versteht nichts, nimmt das gelehrt-metaphorische Konstrukt der Gräfin jedoch für Wahrheit: In einer einigermaßen blasphemischen Wendung präsentiert die Gräfin dem sprachlosen Bauern die avisierte sexuelle Vereinigung als Dienst Freyers an der Gläubigen, am Glauben und damit am Erlöser selbst. Die Verehrung des Christusdarstellers wird zur höchsten Stufe legitimer Ikonodulie: »Wie […] muß uns werden, wenn das Abbild lebt, fühlt und leidet.« Die Gräfin bezieht ihre Rede auf die im Passionsspiel erfahrene Verkörperung Christi, fasst dann aber den Kopf des willenlosen Freyer und »haucht einen heißen, zitternden Kuß auf die sanft sich neigende Stirn« – einen Kuss, den sie als Kuss auf Christi Stirn legitimiert, auf den hin Freyer ihr transparent sei [AK I, 195]. Ihrer schwärmerischen Evokation einer modernen unio mystica zum Trotz weiß die Gräfin, dass sie sich zwischen der spirituellen Liebe zu Christus und der körperlichen Liebe zu Freyer entscheiden muss – und sie entscheidet sich 23 | Freilich »Magdalena im ersten Stadium« [AK I, 190]: Magdalena die Sünderin, für die der Gott Christus nicht erreichbar ist, der Mensch ›Christus‹ aber sehr wohl.
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für den Menschen. Perfiderweise stiehlt sie so zwar nicht der Menschheit ihren Erlöser, aber dem Passionsspiel seinen Christus. Joseph Freyer tauscht seine theatrale Stellvertreterschaft Christi ein gegen das Versprechen einer irdischen Ehe, in der er freilich wieder zum Stellvertreter Gottes werden soll: zum Joseph einer Un/Heiligen Familie.
5. D ie U n /H eilige F amilie Für den zweiten Band des Romans ergibt sich eine Konstellation, die sich als Kollaps des mit der Heiligen Familie zur Verfügung gestellten Modells beschreiben lässt: Im einsamen Jagdschloss leben Josepha, Joseph Freyer und dessen Kind in einer Zweckgemeinschaft. Die Gräfin lässt sich nur alle paar Monate sehen, das Kind (das dem sixtinischen Christkind aufs Haar gleiche) hat sie im Heiligen Land unter Josephas Namen geboren, den Vater als unbekannt angegeben. Obgleich es von dem Rollentausch nichts weiß, stirbt es schließlich an der Abwesenheit der leiblichen Mutter. Die Überhöhung Freyers durch die moderne Magdalena ist einem zutiefst ambivalenten Gefühl der selbsternannten Braut Christi gegenüber dem Ehemann gewichen. Wie die biblische Heilige Familie ist auch die Un/Heilige Familie des Jagdschlösschens durch eine Öffnung des familialen Dreiecks gekennzeichnet. Doch ihre Begründung funktioniert gegenüber dem Modell auf eine seltsam verschobene, auf jede Transzendenz verzichtende Weise: Die Veruneigentlichung ereignet sich in der abwesenden Mutter, die durch einen weiblichen Joseph – Josepha – ersetzt wird. Der biblische Joseph garantiert eine Genealogie (die Verwandtschaft der Familie mit König David nämlich), legitimiert seinen Ziehsohn damit aus dem Alten Testament heraus als den jüdischen Messias und markiert zugleich durch die Unterbrechung dieser Genealogie den Anbruch einer neuen Zeit – der Zeit des Heils. Josepha hingegen, die Vertreterin der Gräfin, streicht gerade jede Genealogie aus – der Vater des Christus-Kindes wird als unbekannt angegeben, das Modell der Heiligen Familie negiert. In Umkehrung des biblischen Paradoxes von Unterbrechung der Genealogie und genealogischer Legitimation dient dies gerade der Aufrechterhaltung des Status quo: Ein Skandal wird verhindert, die dekadente, zuvor als heils- und heilungsbedürftig gezeichnete Münchner Gesellschaft bleibt intakt. In dieser Perspektive nimmt Joseph Freyer erneut die Systemstelle der Muttergottes ein; die Gräfin rückt entsprechend an die Position Gottvaters. Doch die Systemstelle Josephs ist doppelt besetzt: Schon im ersten Band werden die Ehe der Gräfin mit Freyer und die Flucht aus Oberammergau als Entscheidung für den Menschen und gegen den in ihm inkarnierten Gott dargestellt. Konsequenterweise rückt Freyer in der Beziehung zur Gräfin von der Christus- auf die Josephsstelle. Joseph vertritt die von Gott in der Immanenz
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leergelassene Vaterstelle; er verzichtet für seinen Gott auf die sexuelle Inbesitznahme seiner Frau, zugunsten des Mysteriums der jungfräulichen Mutterschaft Marias. Ebenso wird der Mensch Freyer in dem Maße gleichgültig, in dem er nicht mehr die Imaginationsfolie des Oberammergauer Christus bereitstellen kann. Die brautmystische Verklärung der Beziehung ist einer nüchternen Perspektive auf den nun beschämend schwachen Mann gewichen: Joseph, der symbolisch entmannte Greis.24 Ein populärer Unterhaltungsroman kann freilich mit dieser Destruktion des Modells Heilige Familie und bei einer Aufdeckung der Josephsfigur in ihrer Ambivalenz nicht schließen. So steht am Ende die Rückkehr (so heißt es pseudo-platonisch) des Abbilds zum Urbild; das reumütige Paar führt in Oberammergau ein keusches Eheleben für Christus – in der Nachfolge Mariä und Josephi. Damit positioniert sich der Roman auf der restaurativen Gegenseite zu den Geschlechter- und Beziehungsmodellen, die er in der Konfrontation des Körpers Jesu mit einer ambivalenten Marienfigur ins Spiel gebracht hatte. * Die hier vorgestellten Überlegungen gehören in den Rahmen des von der DFG geförderten Projekts »Das Dorf Christi. Institutionentheoretische und funktionshistorische Perspektiven auf Oberammergau und sein Passionsspiel im 19. bis 21. Jahrhundert« (Projektleiter/innen: Jan Mohr, Julia Stenzel), das untersucht, wie in Oberammergau Ansprüche auf religiöse Verbindlichkeit in sich verändernden historischen Kontexten perpetuiert werden.
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24 | Vgl. Koschorke 2000.
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A bbildungsverzeichnis Abb. 1: Dornenkrönung Christi. Szene aus der Passions-Aufführung 1890. Foto: Atelier Stockmann, mit freundlicher Genehmigung des Gemeindearchivs Oberammergau. Abb. 2: Pietá. Skulptur in der Kirche Sankt Peter und Paul, Oberammergau. Foto: privat.
Bob Taylor, der schwarze Major Blackface Minstrelsy im deutschen Kaiserreich 1 Frederike Gerstner
Als eines der wirkmächtigsten und populärsten Medien der Jahrhundertwende vermochte es das Theater auf ganz eigene Weise, die Faszination und die Anerkennung, aber auch den Hass und die Verachtung einer Gesellschaft bezüglich kultureller und rassischer Differenz aufzugreifen und zu verhandeln. Bereits seit den 1870er-Jahren reisten afroamerikanische Künstler/innen nach Europa, um ragtime, spirituals und coon songs auf den Zirkus- und Varietébühnen aufzuführen.2 Etwa um dieselbe Zeit tauchten auch weiße blackface Künstler/innen in den europäischen Hauptstädten auf und machten das Publikum bekannt mit einer Art von Humor, der unweigerlich an die US-amerikanische Minstrelshow erinnert.3 Schwarze Haut war in den Jahren um 1900 amerikanisches Import- und europäisches Konsumgut, päppelte die Theater- und Varietéprogramme auf, gehörte zum urbanen Chic und verkörperte amerikanische Lebensart.4 Wenn auch die »impliziten Wissensbestände um die Blackface Minstrelsy kaum im deutschen kulturellen Gedächtnis verankert waren«5, so waren offenbar Musik, Tanz und Komik der minstrelsy, begleitet von idiosynkratischer Geste und Kostüm, als Entertainmentform ästhetisch und kulturell anschlussfähig und wurden vom deutschen Publikum angenommen. Ob in 1 | Der vorliegende Beitrag ist meiner Dissertationsschrift entnommen, vgl. Gerstner 2017. 2 | Vgl. dazu die Arbeiten von Rainer E. Lotz. 3 | Der vorliegende Beitrag orientiert sich dem Ansatz nach an den Critical Race Studies und ich begreife sowohl Weißsein als auch Schwarzsein als nichtselbstreferentielle, instabile und kontextbedingte, hierarchisch organisierte, kulturelle Identitätskategorien und Wahrnehmungsmuster. Die Begriffe weiß und schwarz dienen in meiner Arbeit dazu, spezifische Formen rassistischer Imaginationen und Projektionen in ihren gesellschaftspolitischen Dimensionen zu markieren und zu analysieren. 4 | Vgl. Nagl 2009. 5 | Lösch/Paul 2013, 166.
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der Werbung oder im Showbusiness − minstrelsy war Teil des deutschen Bildrepertoires zum schwarzen Amerika.6 Für den deutschen Kontext zwar vergleichsweise wenig erforscht, war die kurios anmutende Praxis des Blackfac ing doch fest verankert in der Theater- und Entertainmentwelt und trug zur Konstitution und Reproduktion rassisch-national gedachter Körperbilder bei. Die Faszination für das Blackfacing rührte von der wundersamen Verwandlung eines Weißen in einen Schwarzen, zweier Seinsformen, die als besonders weit voneinander entfernt vorgestellt wurden. Das Publikum konnte staunen über diese Art der spielerischen Transformation, die offenbar einiges Talent für eine bestimmte Sprechweise und Gestik erforderte, um glaubhaft, sprich authentisch zu sein.7 Die kulturelle Fantasiearbeit lag indes in den weißen Deutungsansprüchen begründet. Für gewöhnlich kam dabei die Imagination eines weißen Publikums zur Deckungsgleichheit mit den blackface Performances der weißen Schauspieler/innen: So vielgestaltig die Rezeption auch war, die Glaubwürdigkeit der schwarzen Figuren wurde laut zeitgenössischer Presse kaum in Zweifel gezogen. Eine Interpretation der blackface Figuren im kolonialen Resonanzraum des deutschen Kaiserreichs kommt ohne die Folie der US-amerikanischen minstrelsy nicht aus. Minstrelsy war ein weißes Showformat, das Mitte des 19. Jahrhunderts in den Nordstaaten der USA seinen Höhepunkt hatte. Vom Wanderzirkus bis hin zum Musical, dem Vaudeville, der Kinematografie und dem Film – minstrelsy gilt der heutigen Forschung als Kernstück des amerikanischen Entertainments im 19. Jahrhundert. Zusammengesetzt aus stereotypen Bühnencharakteren, Liedern, Tänzen, Sketchen, Burlesken und Satiren, war das Tragen der blackface Maske, die man sich mit verbranntem Kork aufs Gesicht auftrug, charakteristisch für die Minstrelshow. Es ist von der Forschung zur Genüge herausgearbeitet worden, dass die Institutionalisierung und Systematisierung, die weißes Blackfacing als kommerzielles Massenspektakel in den USA erfuhr, eingebettet war in einen einzigartigen historischen Gesellschaftskontext und einen nationalen Diskurs zu race, class und gender.8 Doch die Shows mitsamt ihrer Motivik, ihren Figuren und ihren Dramaturgien trugen wesentlich dazu bei, dass rassische Stereotype wie etwa die des faulen und lebenslustigen darkie, sambo oder coon im gesamten transatlantischen Raum populär waren und sich im Bewusstsein der Zeit verankern konnten.9 Im Kontext der deutschen Geschichte verliehen zentrale Wegmarker wie die Konstituierung eines Nationalstaats, die Entwicklung einer neuen Konsum- und Massenkultur und nicht zuletzt die Institutionalisierung und Ver6 | Vgl. Ciarlo 2011; Kusser 2013. 7 | Vgl. Young 2013, 40f. 8 | Vgl. etwa Toll 1974; Rogin 1996; Lott 1993. 9 | Vgl. etwa Meer 2005.
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wissenschaftlichung der Kategorie Rasse der theatralen Konvention des Blackfacing ihre Spannkraft. Vor allem aber waren es zwei zentrale Diskurse, die im performativen racechange zusammenfielen: der Diskurs um die Kolonisierung Afrikas und anderen Teilen der Welt und derjenige um die sogenannte Amerikanisierung deutscher Kultur. Schaut man auf Letzteres, so standen die blackface Figuren einerseits repräsentativ für amerikanische Kultur, und also für Fortschritt und Modernisierung, andererseits für das verworfene Andere innerhalb der amerikanischen Gesellschaft, das rassisch Differente, das die USA zu einem Ort der Rückständigkeit machte.
B lackness und M oderne Meine Aufmerksamkeit ist im Folgenden auf den damals bekannten und beliebten Schauspieler Henry Bender (1867-1933) und seine blackface Figur Bob Taylor gerichtet, die im Berliner Metropoltheater in der Ausstattungsposse Berlin bleibt Berlin von Julius Freund (1862-1914) zu erleben war. Bob Taylor wird als exquisit gekleideter Gast und amerikanischer Gentleman in eine Berliner Clubgesellschaft eingeführt und ist Mittelpunkt einer Reihe possenhafter Verwechslungen und Verdrehungen. Die Figuren geraten auf der Suche nach Liebesglück auf diverse Um- und Abwege, um schlussendlich Erfüllung in der Ehe zu finden.
Abb. 1: Das Ensemble von Berlin bleibt Berlin (1902). Vordere Reihe, v.l.n.r. Henry Bender, Hansi Reichsberg, Julius Freund, Emil Thomas, Richard Schultz, Josef Josephi, (…?), Erik Meyer-Helmund
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Es ist bezeichnend, dass das Stück im August 1902 auf die Bühne kam, nur wenige Monate nachdem der afroamerikanische Weltmeister im Radrennsport, Marshall Major Taylor (1878-1932), auf der Rennbahn in Berlin-Friedenau gestartet war. Bender persiflierte die Erfolgsgeschichte des afroamerikanischen Rennfahrers, der es in den umtriebigen Zeiten der Jahrhundertwende mit nie gesehenen Geschwindigkeiten an die Spitze der Sportwelt geschafft hatte. In seiner Heimat USA rassistisch diskriminiert, kämpfte Major Taylor zeitlebens um Anerkennung als Profisportler.10 Aus postkolonialer Sicht treten in der blackface Performance des weißen Schauspielers die Widersprüchlichkeiten rassistischer Imaginationen deutlich zutage, lässt doch die sichtbare Markierung der blackness die reale Person Major Taylor in die Unsichtbarkeit verschwinden. Die Dialektik der gleichzeitigen An- und Abwesenheit hat der amerikanische Autor Ralph Ellison in seinem prominenten Roman Invisible Man als Metapher formuliert.11 Um der Theaterfigur Bob Taylor näherzukommen, stellt der vorliegende Beitrag Fragen nach deren Identitätspolitik. Die Identitätspolitik einer Figur meint hier deren rassische/ethnische, geschlechtliche und klassenspezifische Markierungen, die auf den kollektiven Imaginationsschatz einer Gesellschaft zurückgehen und diesen gleichzeitig immer wieder aktualisieren. Die schwarze Figur im eleganten Anzug war Teil des damaligen populärkulturellen Bildrepertoires. Anhand übereinander gelagerter Stereotypen lassen sich Versatzstücke identifizieren, die die Figur an unterschiedliche Kontexte und Erfahrungsfelder anschließen, an die amerikanische Minstrelshow und den deutschen Kolonialalltag ebenso wie an Erfahrungen des Berliner Großstadtlebens. So war die Figur beispielsweise auf zahlreichen Werbegrafiken für kommerzielle Produkte zu sehen und tauchte auch häufig auf kolonialen Bildpostkarten auf, die um die Jahrhundertwende zum Massenmedium avancierten.12 Wie facettenreich diese Figur tatsächlich war, zeigt Astrid Kusser, die die schwarze Figur auf jenen Postkarten wiederfindet, die »Zukunftsfantasien des urbanen Lebens« verhandelten.13 Jene illustrierten »Zukunftsfantasien«, die das moderne Stadtleben und die neueste Technik zum Thema hatten, waren demnach ein überaus typisches populärkulturelles Motiv der Zeit: »Häufig ging es um Verkehr und Reisen, zwei zentrale Politikfelder des Alltags, die lebensnotwendig und zugleich lebensgefährlich geworden waren. […] Stolz stellten sol-
10 | Vgl. Ritchie 2010. 11 | Vgl. Ellison 1952. 12 | Vgl. Ciarlo 2011, 225-232; Axster 2014. 13 | Vgl. Kusser 2013, 370-376.
Bob Taylor, der schwarze Major che Postkarten die […] Erfindungen der Gegenwart aus und projizierten sie in eine linear gedachte Zukunft fortschreitender Beschleunigung.«14
Der weltmännische Chic der schwarzen Figur in Frack und Zylinder zitierte erkennbar die sogenannten class acts afroamerikanischer Künstler/innen, ein neues Genre, das auf den Varietébühnen Europas und der USA performt wurde.15 Die Performer/innen setzten damit wohl überlegte Kontrapunkte zu den stereotypischen, betont schäbig kostümierten Versklavten, den coons und dandys der Minstrelbühne, und kamen dabei beim deutschen Publikum gut an.16 Die Kombination von »Würde und Eleganz« und »die Perfektion von Mode mit der Präzision ihrer Körperbewegungen« verschafften den class act Performer/innen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Aura des Erfolgs und der Unnahbarkeit, kurz gesagt den Flair des Kosmopolitischen.17 Collageartig auf die Bildpostkarten montiert, »formulierten sie ein eigentümliches Zukunftsversprechen, das den Übergang in eine neue Zeit elegant und souverän, selbstironisch und virtuos bewältigen würde«18. Der mehrfach codierte Typus des eleganten schwarzen Aufsteigers fungierte, im Korsett weißer Fremddefinition, trotz und auch wegen der inhärenten Momente der Selbstbehauptung und Befreiung als Katalysator für gesellschaftliche Transformationsprozesse. Visuell die USA markierend, schwebten in den Szenerien, in denen dieser schwarze Typus vorkam, offenbar vage Vorstellungen von Veränderung, Amerikanisierung und kosmopolitischen Grenzüberschreitungen mit.19
W e t tk ampf der N ationen In nicht weniger als 400 Aufführungen griff in der Posse Berlin bleibt Berlin ein inszeniertes Radrennspektakel einen wichtigen Trend der Zeit auf: das Fahrradfahren. Jenseits von Pessimismus war das Fahrrad zwischen 1890 und 1910 in Europa und den USA eine profitversprechende Erfindung und symbolisierte Bewegungsfreiheit und technischen Fortschritt. Angebunden an die Strömungen des Nationalismus versetzten die beliebten Hochgeschwindigkeitsrennen in Europa wie in den USA die Menschen in helle Aufregung. Thema auf der Bühne war damit zugleich die traumatische Beschleunigung 14 | Kusser 2013, 372. 15 | Tanner 1992, 53-68; Hill 2000, 131-133. 16 | Vgl. Lotz 1997, 162. 17 | Vgl. Kusser 2013, 372. 18 | Kusser 2013, 372. 19 | Vgl. Kusser 2013, 370-379.
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eines Industriezeitalters. In einen Witz verwandelt hatte der Großstädter die Gelegenheit, über sich selbst und seinen stressigen Alltag in lautes Gelächter zu verfallen. Schaut man genauer hin, wird deutlich, dass hier mithilfe des Blackfacing eine Weißzeichnung des deutschen Nationalstaats inszeniert wurde. Zu sehen ist der weiße Radfahrer Strobl im deutschen Trikot, der gegen den schwarz angemalten und also deutlich markierten Bob Taylor antritt, den amerikanischen »Champion of the World«, wie er sich selbst nennt. Bob »purzelt« während des Rennens »wieder auf seine Plantschneese« und es bleibt nur ein Lachen übrig.20 Sein zuvor siegessicheres Auftreten wurde durch den körperlich untersetzten, naiv dreinblickenden Bender konterkariert, denn dessen Statur erlaubte keine Weltmeisterschaft im Sport. Die damals gängigen Ressentiments gegenüber Afroamerikaner/innen im deutschen Kolonialdiskurs taten ein Übriges, um das Berliner Publikum auf ein Hohngelächter einzustimmen, wenn der drollige Bob Taylor vor seinem peinlichen Sturz prahlt: »Mich kennt man in Europa. Schon die ganz kleinen Baby in the street, wenn sie mir sehn von weitem rufen: Hallo! Hallo! Hallo! Da komm die Major.«21 Die blackface Maske kann hier als eine Pointe in der inszenierten Auseinandersetzung zwischen deutsch und amerikanisch verstanden werden. Wenn bereits das Scheitern des amerikanischen Repräsentanten auf der Bühne der Deutlichkeit nicht entbehrte, so wurde zusätzlich durch die Markierung der Hautfarbe für das zeitgenössische Publikum ein hierarchisches Gefälle konkret sichtbar gemacht. Rassismus diente hier als komisches Mittel zur Darstellung deutscher Überlegenheit in einem nationalistischen Wettstreit. Die Szene bietet Einblick in einen Diskurs, der sich – zumeist auf der Ebene eines intensiv geführten Großstadtdiskurses – zwischen Ablehnung und Faszination bewegte angesichts des schwindelerregenden technischen und wirtschaftlichen Wachstums auf beiden Seiten des Atlantiks. Das deutsch-amerikanische Modernisierungsversprechen wird zur grotesken Farce, als in der darauffolgenden Szene Bob Taylors Körper einfriert, um zu einem münzenschluckenden Jahrmarktautomaten zu mutieren. Ein grimassenhaftes Gesicht und ungelenke tänzelnde Bewegungen des mechanischen minstrel Körpers waren verantwortlich für den komischen Effekt. Der Automat war um 1900 ein vertrauter Anblick und auf dem Jahrmarkt der Kolonialwaren zu finden: ein »drolliger kleiner Lakai […], [der] – mit Monokel, Frack und Zylinder seiner weißen Herrschaften ausgestattet – mit den Augen rollen und mit den Beinen zappeln konnte.«22 Durch die Verwandlung in einen Automaten wurde Bob Taylor als Spektakel inszeniert und in die Welt des Ex20 | Vgl. Freund 1902. 21 | Freund 1902. 22 | Hornbostel/Jockel 1998, 32.
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zentrischen ausgelagert. Der Mund als Hauptmerkmal des grotesk gezeichneten Gesichts in der blackface Maske wurde zum Einwurf eines menschlichen Sparschweins und zeigte die Kommodifizierung des schwarzen Körpers an.
E in schwarzer dandy Öffentliche Orte wie das Metropoltheater waren von besonderer Bedeutung für die Konsolidierung einer selbstbewussten, großstädtischen Identität in einer Zeit, in der althergebrachte, bürgerliche Grenzziehungen durchlässig geworden waren und soziale Positionierungen innerhalb eines hierarchischen Gefüges ihre Eindeutigkeit verloren hatten. Das Berliner Großstadtpublikum des Metropols wollte für seine Selbstbespiegelung die bekannten Sänger/innen- und Schauspieler/innenpersönlichkeiten sehen, die es verstanden, die unterschiedlichen Charaktere der Großstadt glaubhaft zu verkörpern.23 Henry Benders Auftritt als stadtbekannter Lokalhumorist in der Rolle des Bob Taylor war deutlich geprägt von seinem Berliner Stil. Vielleicht gerade weil Bender nicht für seinen Gesang gefeiert wurde, konnte die Freisinnige Zeitung »seine groteske Komik [als] mit echtem Spreewasser getauft«24 beschreiben. In der komischen blackface Figur trafen Berliner Schnoddrigkeit und Raubeinigkeit, gepaart mit einer ordentlichen Portion Selbstbewusstsein, auf das als prahlerisch vorgestellte amerikanische Temperament des schwarzen dandy, dessen Versuche des sozialen Aufstiegs stets ein Bild der Lächerlichkeit abgaben. Gerade daraus jedoch bezog die Figur ihre »Drolligkeit«25: »Ja i bin Bob Taylor, der Major! Hallo!/Champion of the world und Matador! Hallo!/Alle Welt mir kenn/[…]/Nur allein: der schwarze Gentleman!«26, hieß es etwa in ihrem Antrittslied. Der schwarze dandy war ein Protagonist der US-amerikanischen Minstrelbühne, der vielfältig ausgestaltet und rezipiert werden konnte. Er zeichnete sich durch einen unverkennbaren Narzissmus aus, war stets mit seinem Aussehen und der neusten Mode beschäftigt, kokettierte mit dem Publikum und verfolgte vorrangig das Ziel, Eindruck in der Frauenwelt zu hinterlassen. Konterkariert wurde sein selbstverliebtes Verhalten durch seine überbordende Lüsternheit und überspannte Eifersucht, seine Naivität und nicht zuletzt sein groteskes Aussehen. Die Witzfigur des blackface dandy von der Minstrelbühne, auch bekannt unter dem Namen Zip Coon, war u.a. darauf angelegt, Afroamerikaner/innen als eifrige, aber nur oberflächlich erfolgreiche Nachah23 | Vgl. zu den Schauspieler/innen des Metropols Otte 2006, 234-244. 24 | Freisinnige Zeitung, 26.8.1902, Nr. 199. 25 | Zeitungsausschnitt o. A., aus: Nachlass Julius Freund. 26 | Freund 1902.
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mer/innen weißer Kultur zu zeigen und damit die rassifizierte Hierarchie von schwarz und weiß zu bestätigen.
Abb. 2: Henry Bender als Bob Taylor in Berlin bleibt Berlin (1902) In puncto unkontrollierte Lüsternheit und Selbstverliebtheit war Bob Taylor nach dem Vorbild des blackface dandy gezimmert. Bob wird nicht müde seine Popularität und Attraktivität als Sportstar zu betonen, während sich seine Aufmerksamkeit auf die Ehebetrügereien seiner Frau Lizzy und zugleich auf die Hinterteile der weiblichen Figuren in seiner unmittelbaren Nähe beschränkt. Bob Taylors Avancen den Frauen gegenüber sind leere Angeberei und von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Der Name bzw. Titel »Major«, Ausdruck für militärische Würde und gesellschaftlichen Rang, wurde im Laufe des Stücks wiederholt zum Ziel des Spotts. Im folgenden Zitat versucht der Präsident des Clubs, Bob Taylors Identität etwas genauer zu erfragen:
Bob Taylor, der schwarze Major »Präsident: Was für ein Major? Wenn ich fragen darf? Bob: (lacht) Strampelmajor! Du bist ein dummer Kerl!«27
Hinter der Nachfrage steht der Verdacht, dass Bob seine Identität nur vortäuscht. In Zeiten, die durch die Erosion traditioneller Gesellschaftsgefüge und die Neuerfindung urbaner Großstadtidentitäten geprägt waren, war dieser Verdacht nicht unbegründet. Eine weitere Interpretation kommt hinzu, muss der schwarze Außenseiter in einer weißen Gesellschaft doch stets besondere Leistungen erbringen und sich sprichwörtlich für die Anerkennung abstrampeln. Es fällt auf, dass der witzige Zweizeiler auch aus einem Dialog zwischen den beiden bekannten Minstrelclowns Tambo und Bones von der amerikanischen Minstrelbühne stammen könnte. Was der minstrelsy-Forscher Robert Toll als »second-level messages«28 bezeichnet, verweist auf das katalytische Moment der blackface Maske. Angstbesetzte oder auch kontrovers diskutierte Themen, wie etwa die Modernisierung der Gesellschaft, konnten durch die komische Figur auf der Bühne zur Sprache kommen, ohne dass ein weißes Publikum sich qua Identifikation im sozialen Wettbewerb mit der Figur sehen musste: »Set apart from society, believed to be mentally inferior and immature, black characters could express serious criticism without compelling the listener to take them seriously.«29 Der blackface Clown Bob in Berlin bleibt Berlin missachtet nicht nur die Regeln höflicher Konversation, indem er den Präsidenten des Clubs unvermittelt duzt, sondern missversteht auch dessen Status-orientierte Frage und zieht mit seiner Worterfindung »Strampelmajor« den Drill des Militärs ins Lächerliche. Nicht zuletzt stellt der fremde Neuankömmling non chalant die hierarchischen Verhältnisse vor Ort in Frage, indem er den Präsidenten des Clubs als »dummen Kerl« beleidigt.30 In seinem Antrittslied prahlt der elegant gekleidete Aufsteiger Bob damit, dass er »als größte Sehenswürdigkeit« sich sowohl in den exklusiven Kreisen des amerikanischen Geldadels als auch unter den Angehörigen des deutschen Kaiserhauses bewege und aus diesem Grund von der Frauenwelt umschwärmt sei: »Als Prinz Henry in Amerika gereist vor kurze Zeit/hat man mich ihm auch gezeigt/als größte Sehenswürdigkeit/Mein Freund Meister Vanderbilt/hat mich ihm vorgestellt/
27 | Freund 1902. 28 | Toll 1974, 161. 29 | Toll 1974, 161. 30 | Vgl. Meer 2005, 21-50.
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Frederike Gerstner Greatest von die Strampelbrothers auf die Welt […] Manche süße little girl seufzt – ganz von Lieb [erfasst ?]: Himmel! Wenn ihm blos nicht die Pneumatik platzt!« 31
Während im letzten Satz des Zitats auf die zweifellos wegweisende Erfindung der Luftreifen in den 1890er-Jahren angespielt wird, zeichnet sich im Subtext unweigerlich die Grenze ab, in dessen Nähe sich Bob stets bewegt. Dem gerade erst durch seine sportlichen Erfolge in den oberen Rängen der Gesellschaft Angekommenen droht beständig die Gefahr, als Aufschneider entlarvt zu werden. So geht es längst nicht nur um das nächste Wettrennen, bei dem Bob auf dem Weg in die Zielgerade jederzeit der Reifen platzen könnte. In der Metapher der geplatzten Pneumatik steht sowohl seine Männlichkeit zur Disposition als auch seine Mitgliedschaft im Club der Herren und damit sein gesellschaftlicher Status insgesamt.
P olitik und Z ensur Die Kombination aus Außenseiter, Spötterei und clownesker Naivität, die in der blackface Figur aufeinandertrafen, erschienen dem Stückeschreiber Julius Freund ideal, um die Figur satirische Reden über die Berliner Politik schwingen zu lassen. So legte der Dramatiker seiner Figur polemische Kommentare über tagesaktuelle gesellschaftliche Zustände in den Mund, die zum Teil dem Rotstift preußischer Theaterzensur entgehen konnten, zum Teil auch nicht. Die Berliner Bühnen gingen in dieser Zeit aufgrund der Zensur den »Weg des geringsten Widerstandes«32. Um Zuschauer/innen und Staatszensur gütig zu stimmen, wählte Freund beispielsweise das rhetorische Mittel der Umkehrung, wobei er seine Figur über Amerika plaudern ließ, während sie tatsächlich auf die aktuelle Tagespolitik des Wilhelminischen Reichs abzielte. In der folgenden Passage dreht es sich um interne Konflikte zwischen den preußischen Regierungsstellen und der städtischen Selbstverwaltung Berlins: »Bob: Und dann – wie ich bin angekommen in Berlin war ich ganz erstaunt über die Ordnung […]! Aber das kommt nur daher, daß hier jeder [Posten] ist so gut besetzt – vom policeman bis zum Bürgermeister! O yes! Wir in Amerika haben auch Bürgermeister – aber der Posten ist manchmal gar nicht besetzt – in Amerika! Bei uns wird diese Stellung vergeben durch den freien Willen von die Bürgerschaft und [wenn] die Bürgerschaft hat ein Mann erwählt zum Bürgermeister, dann wird er es auch ganz sicher, ganz bestimmt – wenn er es erlebt! Er muß nämlich erst werden wie man in englisch sagt – bestättigt! Das ist nur eine Kleine Formalität, aber es ist ein ganz wesentlicher Bestandtheil von die 31 | Freund 1902. 32 | Kaubisch 1955, 52.
Bob Taylor, der schwarze Major bürgerliche Freiheit – in Amerika! […] Das ist das was wir auf englisch nennen: Selbstverwaltung! In Amerika!« 33
Die Polemik bezog sich auf den konservativen Bürgermeister Martin Kirschner (1842-1912), der im Juni 1898 von der Berliner Stadtverordnetenversammlung zum Oberbürgermeister gewählt worden war und bis 1912 im Amt bleiben sollte. Allerdings blieb die offizielle Amtsbestätigung durch Kaiser Wilhelm II (1859-1941) achtzehn Monate lang aus. Kirschners Ausspruch »Ich kann warten« hatte sich mittlerweile in ein geflügeltes Wort verwandelt. Grund für das Zögern vonseiten des Kaiserhauses waren unter anderem die ungeliebten Pläne der Stadtverordneten, die Gräber der Märzgefallenen, die 1848 für ein parlamentarisches System gekämpft hatten, zum 50. Jubiläum restaurieren zu lassen. Das langsame Mahlen der bürokratischen Mühlen war dabei nur einer von zahlreichen Versuchen des Kaiserhauses, die städtische Selbstverwaltung als Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins zu unterhöhlen.34 Vor diesem Hintergrund sind Bobs Plaudereien als bissiger Kommentar zu verstehen zu den Widersprüchlichkeiten zwischen rückwärtsgewandter Machtentfaltung einer neoabsolutistischen Monarchie von Gottes Gnaden und der fortschreitenden Demokratisierung einer sich wandelnden, zunehmend weltoffenen Gesellschaft. Schaffte es Freund immerhin die Hälfte des für die Bob-Figur konzipierten Monologs durchzubringen, so wurde der zweite Teil von der Polizeibehörde gestrichen. Dort ließ Freund seine Theaterfigur die deutsch-amerikanischen Beziehungen in bemerkenswerter Weise aufs Korn nehmen. Durch die Streichung wurde der Figur ebenso wie dem Stück insgesamt in erheblichem Maße die politische Sprengkraft genommen. Von Kaiser Wilhelms kostspieliger Leidenschaft, immer schnellere Yachten bauen zu lassen, bis hin zum militärischen Wettrüsten der Marine. Gestrichen wurden diejenigen Inhalte, die tagesaktuell und hoch brisant waren und kontrovers diskutiert wurden: »Bob: Amerika betreibt auf Mord/Den Ruder und den Segelsport/Doch gute Schiffe – wissen Sie! –/Bestell’n wir stets in Germany! O yes! wir haben in Amerika ein Oberschicht […], wie man in englisch sagt: ein Präsident was hat sehr gerne Schiffe, alle Sorten Schiffe, große Schiffe, kleine Schiffe, Kriegsschiffe, Sportschiffe. Dieser Präsident hat gerne gewollt haben eine sehr gute Rennjacht und weil man diese nicht kann so gut in Amerika bekommen und auch nicht so billig, hat er sie bestellt in Germany! O yes! Daß ein sehr große Auszeichnung für die deutsche Industrie!« 35
33 | Freund 1902. 34 | Vgl. Kutzsch 1977. 35 | Freund 1902.
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Seit 1892 war Kaiser Wilhelm II regelmäßig als Mitglied des exklusiven Clubs Royal Yacht Squadron bei den legendären Hochseeregatten an der englischen Küste gegen seinen Onkel, den britischen Kronprinzen Albert Edward (18411910), angetreten. Zwischen dem Prinzen von Wales und dem deutschen Kaiser hatte sich ein langjähriger Wettstreit auf dem Wasser entsponnen, bei dem Wilhelm stets das Nachsehen hatte und aus dem er erst 1896 mit einer Neukonstruktion seiner Yacht als Sieger hervorging. Der Spott bezieht sich nicht allein auf Wilhelms kostspielige Privatpassion. Bobs Erwähnung der »Kriegsschiffe« kommentiert das machttrunkene Wettrüsten der deutschen Marine mit der alten Seemacht Großbritannien und den USA. Wilhelms Ziele waren ehrgeizig und auch wenn der deutsche Flottenbau unter Alfred von Tirpitz (1849-1930) in der Hauptsache auf die Schwächung der britischen Weltmacht zielte, ging es immer auch um einen machtpolitischen Triumph über die USA.36 Inwieweit Freund sich mit der Konzeption des Monologs wissentlich auf die amerikanische Minstrelbühne bezog, bleibt ungeklärt. Sicher ist, dass Bobs Rede die Kriterien einer typischen stump speech eines blackface Clowns erfüllte und sich die schwarz angemalte Figur damit zwischen den Traditionslinien des europäischen Volkstheaters und Karnevals und der US-amerikanischen Minstrelbühne bewegte. Ironie und Bobs haarsträubende Syntax und Grammatik sowie seine Wortwahl erzielten die gewünschten Verfremdungs- ebenso wie Sympathieeffekte. So kann sich die Figur mit der schwarzen Maske in ihrer Einfältigkeit über Dinge lustig machen, die sie selbst nicht durchschaut und entsprechend unzusammenhängend wiedergibt. Bobs blackness ist an einer Vielzahl sprachlicher und körperlicher Eigenarten abzulesen, die sämtlich seine figurative Sonderposition markieren. Daraus lässt sich ableiten, dass er als einziger dem weißen europäischen Publikum keine Identifikationsmöglichkeiten bot, sondern vielmehr als Projektionsfläche diverser Ideen und Vorstellungen zum Typus des (schwarzen) Amerikaners funktionierte. Die blackface Maske als Persiflage des Anderen war Projektionsfläche für ein weißes Publikum und so ein ideales Medium der Verhandlung eigener gesellschaftlicher Themen.
36 | Vgl. Röhl 2009, 268-272; Fiebig-von Hase 1986.
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Minstrelsy Zur Ethnisierung innergesellschaftlicher Konflikte jenseits der Blackface-Maske 1 Julian Warner & Oliver Zahn
Im Jahr 2014, sozusagen im Nachgang der großen Blackface-Debatten an deutschen Theatern, wurde das Wort »Blackfacing« zum Anglizismus des Jahres gewählt. In der taz erklärte Sarah Emminghaus dazu: »Es leitet sich vom englischen Blackface ab und hat seinen kulturellen Ursprung im USamerikanischen Varieté-Theater des 19. Jahrhunderts: Zu dieser Zeit war es selbstverständlich, dass Schwarze unmöglich auf Bühnen auftreten konnten, also übernahmen dies Weiße. Auch inhaltlich war die Tradition rassistisch; es wurden hauptsächlich stereotype, naive, dumme Sklaven dargestellt. Mit der Wahl zum Anglizismus des Jahres wird einerseits darauf aufmerksam gemacht, dass die Unsichtbarmachung von People of Color auch in Deutschland ein Thema ist und vor allem nicht in der Vergangenheit liegt.«2
In der Bildung und Nutzung dieses Anglizismus im Sinne eines »Das ist Blackfacing« drückt sich schon das limitierte diskursive Verständnis um diese Praxis und ihre Geschichte aus. Es wird nämlich, wie das Zitat oben deutlich 1 | Dieser Text wurde ursprünglich im Rahmen des Symposiums »Re/produktionsmaschine Kunst: Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten« am 5. März 2016 als performativer Vortrag präsentiert, bei dem die hier verschriftlichten Argumente in schnellem Wechsel von jeweils einem der beiden Autoren vorgetragen wurden, während der Andere zu den Szenen korrespondierende Tänze ausführte: für die erste Szene den Tanz Jump Jim Crow (vgl. für einen Eindruck https://www.youtube. com/watch?v=ALTam2L9NhE), für die zweite Szene einen bayerischen Schuhplattler (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=b-LzqwkIZQ0) sowie beide Tänze für die dritte Szene. 2 | Emminghaus, www.taz.de/!5022458/.
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macht, die Blackface-Maske an sich als rassistisch bewertet. Dieser Kurzschluss hat zwar den positiven Effekt, dass Schwarze Schauspieler/innen nun zumindest vermehrt für die Schwarzen Rollen engagiert werden, aber es verdeckt die eigentliche diskursive Operation, welche die Minstrel-Show unternimmt und für welche die Blackface-Maske bloß Symptom ist.3 Im folgenden Beitrag werden wir drei historische Szenen entlang des Black Atlantic skizzieren, jenes von Paul Gilroy identifizierten diskursiven Feldes, welches auf Grundlage des transatlantischen Sklavenhandels den Verkehr von Waren, von Personen als Waren, von Personen, von Praktiken und von Ideen als Gegenerzählung der Moderne beschreibt.4 Es geht hier um eine spezifische Art der Repräsentation Schwarzer Menschen und deren diskursive Funktion oder in den Worten von Michel Foucault: »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen […].« 5
Es wird also im Folgenden um das gehen, was im Zuge dieser Repräsentation nicht gesagt wird bzw. ausgelassen wird. Was ist die diskursive Funktion der Minstrel-Show?
E rste S zene : J ump J im C row Einer der Stars der frühen Minstrel-Showbühne der Antebellum-Jahre war der Weiße Performer Thomas D. Rice, der mit seinem Markentanz Jump Jim Crow als früher Popstar gefeiert wurde. Der Tanz war im Grunde ein Irish Jig, der um einige groteske Bewegungen, vornehmlich einem steifen rechten Bein, und einem Lied erweitert wurde, das in einer für Folk-Songs üblichen, schier endlosen Zahl an Versen die Geschichte eines Schwarzen Sklaven namens Jim Crow erzählte.6 Der Sozialhistoriker Eric Lott bespricht in seinem Werk Love & Theft – Blackface Minstrelsy and the American Working Class eine Zeichnung einer Performance von Thomas D. Rice am Bowery Theatre in New York aus 3 | Im Folgenden werden die Adjektive »schwarz« und »weiß« beide großgeschrieben, um sie nicht als rassifizierende Biologismen, sondern als Formationen von diskursiver Subjektivierung, performativer Verkörperung und politischer Positionierung zu verstehen. 4 | Siehe Gilroy 1999. 5 | Foucault 2007, 11. 6 | Für eine Diskussion dieses Tanzes als Aneignung einer transatlantischen Performance-Tradition siehe Lhamon 2000.
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dem Jahr 1833. An der erhöhten Rampe der reich verzierten Guckkastenbühne sehen wir den Minstrel-Performer Rice tanzen. Er ist in Fetzen gekleidet, sein Gesicht ist mit verbranntem Kork schwarz geschminkt. Auf seinem Kopf trägt er eine schwarze Kraushaarperücke. Er steht vor einem Hintergrundprospekt, das eine idyllische Südstaatenlandschaft zeigt. Im Parkett ist das Publikum dicht gedrängt. Auf der Bühne ist Rice, der lediglich von einem Weißen Mann an der Fidel begleitet wird, umringt von verschiedensten Weißen Arbeitern. Lott zeigt auf, dass viele Zuschauer/innen um und auf der Bühne nicht Rice anschauen, sondern sich prügeln oder der Prügelei zuschauen und sie kommentieren.7 Dieser Umstand, der auf einer Zeichnung abgebildet ist, welche die Bildunterschrift »Rice’s fifty-seventh night in his original and celebrated extravaganza of Jim Crow«8 trägt, lässt vermuten, dass die Aktivitäten der Zuschauer/innen, wie etwa dieses »fistic duel«9, ebenso Teil der Minstrel-Show waren. »Philip Cohen has suggested that working-class men live their class subjection by dissociating themselves from the structural position of their labor and assuming ›imaginary‹ positions of mastery linked to masculine ›prides of place‹. This assumption is clearly one moment of the drawing: the fighting workingmen assert their mastery and define their superiority in relation to, and over the body of, a ›black‹ man.«10
Diese Performance von physischer Stärke, in direkter Relation zu der stereotypen Darstellung des Schwarzen Sklaven als körperlich behindert, ist laut Lott in Abhängigkeit zu dem extremen Wettbewerb um Arbeit während der Antebellum-Jahre zu sehen. Weiße Arbeiter/innen konkurrierten vor dem Hintergrund der Auflösung traditioneller Gesellschaftsstrukturen und rasanter industrieller Modernisierung auf dem Arbeitsmarkt mit neuen europäischen Immigrant/innen und Schwarzen Freemen. Überdies gab es eine weitverbreitete Angst vor der Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten, da befürchtet wurde, dass die Freisetzung der Sklav/innen noch mehr Konkurrenz erschaffen würden.11 Doch Lott sieht diese Konfrontation von Weißen Arbeiter/innen und der Repräsentationen von Schwarzen nicht als Wiederholung Weißer Macht im Sinne einer monolithischen zeitlosen Manifestation, sondern im Sinne Stuart Halls als popkulturelles Feld eines widersprüchlichen Aushandlungsprozesses.12 Die »fistic duels« beispielsweise, die auf der oben ge7 | Vgl. Lott 1995, 124. 8 | Zitiert nach Lott 1995, 125. 9 | Lott 1995, 125. 10 | Lott 1995, 125. 11 | Vgl. Lott 1995, 73-74 und 127. 12 | Vgl. Lott 1995, 8.
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nannten Zeichnung als Performances Weißer Arbeiterklasse funktionieren, können auch vor dem Hintergrund dessen, dass es ein ganzes Minstrel-Genre von »Negro fistic duels« gab, als »cross-racial solidarity« gelesen werden.13 Aus beiden Lesarten lässt sich in jedem Falle eine konstituierende Funktion der Minstrel-Show ableiten. Das eine Moment erlaubt es, den europäischen Immigrant/innen, die in den Fabriken arbeiten, sich in Relation zu Jim Crow als Weiß zu konstituieren. Das weitere Moment erlaubt es, die Schwarzen Männer, die zum ersten Mal überhaupt auf einer Bühne repräsentiert werden, auch als Teil der Arbeiterklasse zu begreifen. Die Blackface-Maske, das mit Kork bemalte Gesicht, fungiert hier als ein Element einer komplexeren Performance, welche dem Publikum erlaubt, die prekäre eigene Situation auf den rassisch Anderen zu externalisieren und gleichzeitig zu teilen.
Z weite S zene : D ie 4 B lack D iamonds Die 4 Black Diamonds waren eine Schwarze Minstrel-Truppe aus San Francisco, die von 1905 bis 1922 durch Europa tourte. Den, von Jazz-Historiker Reiner Lotz zusammengetragenen, zahlreichen Rezensionen und Anzeigen kann man entnehmen, dass ihre Bühnenperformances diverse Disziplinen abdeckten: »The 4 Black Diamonds. Transformation, Vocalists, Comedians and Dancers. Full Repertoire in English or German. Also Original Songs in French and Russian«14 – so steht es in einer Anzeige in einem Branchenblatt aus dem Jahr 1913 geschrieben. Dieser Beschreibung kann man laut Lotz zwei Charakteristika entnehmen, die wohl typisch für Vaudeville-Shows dieser Zeit waren. Zum einen die Vielfalt an Disziplinen, von Gesang über Kostümierung und Kabarett bis zu Tanz, und zum anderen die regionalen Anpassungen. Letztere beschränkten sich nicht nur auf die Sprache der Performances, sondern auch auf die Inhalte selbst. Es sei anzunehmen, dass afro-amerikanische Acts zu dieser Zeit ihre Performances einem Weißen europäischen Publikum gegenüber anpassen mussten, indem sie nur unter anderem Schwarz konnotierte Nummern performten.15 So feierten die Diamonds in Deutschland vor allem mit ihren Jodel-Einlagen und Schuhplattler-Performances Erfolge. Über einen Auftritt im Jahr 1908 in Magdeburg schrieb ein/e Kritiker/in: »The second half (of the program) is introduced by the Black Diamonds, a quartet of Negroes who represent all shades of color. Their singing is beautifully trained, although one has to get used to the nasal tones. In German language they sang: O, Daisy, mein 13 | Vgl. Lott 1995, 129. 14 | Zitiert nach Lotz 1984, 232. 15 | Vgl. Lotz 1984, 217f.
Minstrelsy Mädchen so rosig und Weiss, and they closed by performing a parody on a Tyrolese scene, which caused much laughter. The Schuhplattler, however, did not hamper the characteristics of the (Negro) step dance.«16
Der Rezension kann man das Spannungsfeld entnehmen, in dem die Performances der Diamonds stattfanden. Zunächst wird ihre Stimmausbildung gelobt und später ihr Schuhplatteln als unzureichende Nachahmung kritisiert. Hier wird auf die Annahme rekurriert, dass es den Schwarzen aufgrund ihrer Rasse schwer möglich sei, ein deutsches Brauchtum zu performen, und es erinnert in frappierender Weise an einen kolonialen Diskurs der damaligen Zeit: den Hosennigger. »Der gebildete Neger […] möchte freilich nun auch äusserlich den Kulturmenschen markieren. ›Wie er sich räuspert und wie er spuckt, das hat er ihm gründlich abgeguckt‹, Hose, Bratenrock, Zylinder hat er sich angeschafft, aber er versteht nicht, sich in ihnen zu bewegen und sieht im ›totschick‹ gearbeiteten Gehrock genau so komisch oder dummdreist aus, wie in abgelegten Uniformen oder sonstigem Trödel.«17
Dieses Zitat aus einem Artikel der Kolonie und Heimat in Wort und Bild, der Zeitschrift des Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft, garniert mit zahlreichen Fotografien von deutschen kolonialen Subjekten in europäischer Kleidung, arbeitet mit dem ›offenkundigen‹ Wissen, dass Schwarze als ›Naturmenschen‹ nicht imstande seien, Weiße Kultur zu performen. Anfang des 20. Jahrhunderts besaßen viele Menschen keine Alltagserfahrung mit Schwarzen Menschen außerhalb der Metropolen und selbst dort ist anzunehmen, dass ein Großteil des Kontaktes in Form von Völkerausstellungen ablief, wo die Repräsentationen Schwarzer Menschen darauf abzielten, sie als ›Naturvölker‹ darzustellen.18 In diesem Sinne bewegen sich die Diamonds in ihrer Rolle als »eccentric dancers«19 sowohl in einem prä-afroamerikanophilen als auch in einem kolonialen Diskurs. Das Lachen des Publikums über die grotesken Bewegungen und die vermeintliche Unfähigkeit der Performer lässt den Primitivismus, die Lust auf den rassisch Anderen des Jazz-Age vorausahnen, aber spiegelt zugleich die Sehnsucht des Publikums nach dem kolonialen Subjekt als rassifizierten Naturmenschen wider. Am Übergang zum 20. Jahrhundert wandelte sich das deutsche Kaiserreich von einem Agrar- zu einem modernen Industriestaat und der Boom der industriellen Ballungszentren führte zu einer verstärkten Binnenwanderung 16 | Zitiert nach Lotz 1984, 227. 17 | Anonym 1911, 3. 18 | Vgl. Dreesbach 2005, 111-112. 19 | Zitiert nach Lotz 1984, 231.
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von Arbeitskräften. Diese freigesetzten Arbeitskräfte waren aber auch verunsicherte Menschen, die um ihren gesellschaftlichen Status fürchteten. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Verlachen des Schwarzen Schuhplattlers als ein Moment Weißer innerdeutscher Konsolidierung begreifen. Ungeachtet ihrer regionalen Herkunft können sich die Zuschauer/innen, in Abgrenzung zu der Mimikry-Performance der Diamonds, durch das Lachen als Weiße Deutsche konstituieren.
D rit te S zene : D ie S chwarze S chmach am R hein Im Zuge des Versailler Vertrages besetzten französische Truppen vom 10. Januar 1920 an die linke Rheinhälfte Deutschlands sowie zahlreiche anliegende Städte wie Mainz und Köln. Wie bereits in den Kriegshandlungen so auch bei der Okkupation setzte die französische Armee zahlreiche koloniale Subjekte als Soldaten ein. Wie viele der insgesamt 85.000 stationierten französischen Truppen PoCs waren, variiert je nach Quelle zwischen 20.000 und 40.000 Mann – eine Zahl, die wohl bis 1929 stückweise auf ca. 1000 PoC-Soldaten reduziert wurde.20 Im Kontext des Einsatzes dieser Soldaten aus Nord- und Westafrika, Madagaskar und vereinzelt Südostasien entstand ein Diskurs um deren angeblich massenhaften Vergewaltigungen von Weißen deutschen Frauen. Es gründete sich ein »Notbund gegen die Schwarze Schmach«, dessen mehrsprachige Publikation weltweit gegen die PoC-Besatzer agitierte. Es wurden massenweise Postkarten, Briefmarken, Gedenkmünzen, Karikaturen, Romane und gar ein Stummfilm produziert.21 Deutsche Politiker wetterten gegen den Einsatz von Vertretern solch »niederer Kultur« als Besatzer und deutsche Behörden sammelten vermeintliche Beweise für die systematische Vergewaltigung Weißer deutscher Frauen. Britische Politiker, US-amerikanische Filmstars und deutsche Emigrant/innen in Nord- und Südamerika solidarisierten sich mit der Kampagne.22 20 | Für eine detaillierte Beschreibung des Ablaufs der Besatzung und einer allgemeinen Einführung in die Debatten siehe Koller 2001. Eine Einordnung des Diskurses um die »Schwarze Schmach am Rhein« in vorhergehende Diskurse um die Un/Möglichkeit Schwarzer Deutscher siehe El-Tayeb 2001. Eine Analyse des Diskurses vor dem Hintergrund von Rasse, Geschlecht, Klasse und Nation findet sich in Wigger 2007. Für eine Besprechung unter Rücksichtnahme weiterer Diskurse um Repräsentation von Rasse in der Weimarer Republik siehe Nagl 2009. 21 | Eine ansehnliche Quellensammlung findet sich bei Zwischen Charleston und Stechschritt, vgl. Martin/Alonzo 2004, 116-169. 22 | Vgl. Nagl 2009, 162f.
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Damalige Untersuchungen der Alliierten ergaben, dass es sehr wohl einige Fälle von Vergewaltigungen durch Kolonialsoldaten gegeben habe, aber dies bei weitem nicht das Ausmaß erreicht habe, das die Kampagne vorgebe – ein Ergebnis, das auch der Historiker Christian Koller in seiner Auswertung der Archive untermauert.23 Der Diskurs und die Inszenierungen um die Kampagne tragen Züge der amerikanischen Minstrel-Show. Es zeigt sich hier eine Verschränkung von Rasse und sexueller Gewalt. Es geht hier mitnichten um sexuelle Gewalt, die von männlichen Besatzungssoldaten ausgeht, sondern um eine Rassifizierung dieser Gewalt: Eine Sondermünze des bayerischen Hochmünzamtes aus dem Jahr 1920 zeigt auf der Vorderseite eine stereotype Darstellung eines Kolonialsoldaten mit schwulstigen Lippen und auf der Rückseite eine nackte Frau gefesselt an einen gigantischen Penis.24 Obwohl die Schwarzen Besatzungssoldaten, die sogenannten »Senegal-Neger«, bereits im Juni 1920 nach Syrien verlegt werden, bleiben sie der Fixpunkt der Kampagne. Noch 1933 nach Abzug der Truppen verkleidet sich eine Kohorte beim Mainzer Fastnachtsumzug in Blackface als Schwarze Kolonialsoldaten.25 Die Historikerin Fatima El-Tayeb behandelt den Diskurs um die »Schwarze Schmach« im Kontext der Konstruktion der deutschen Nation als Weiß als ausgrenzendes Phänomen, während Christian Koller sein Augenmerk auf den Propagandavorwurf richtet, Frankreich versuche durch »Rassenvermischung« die deutsche Nation zu »verseuchen«.26 Iris Wigger wiederum richtet ihr Augenmerk auf die gesellschaftlich einigende Funktion des Diskurses durch die Berücksichtigung einer Intersektion an Kategorien (Gender, Rasse, Klasse). Dies lässt sich in Kürze an ihrer Besprechung des Propagandafilmes Die Schwarze Schmach. Ein Notschrei an die Menschheit darstellen. Der nicht mehr erhaltene Film, den sie u.a. anhand von Plakaten, Standbildern und Rezensionen rekonstruiert, erzählt von einer bürgerlichen Arzttochter und einer proletarischen Portierstochter, die von Schwarzen Besatzungstruppen in ein »Schwarzenbordell« verschleppt und vergewaltigt werden. Der Arztsohn versucht seine Geliebte, das Arbeitermädchen, zu retten und wird dabei, wie auch seine bürgerliche Schwester, von den Schwarzen erschossen.27 Unter Rücksichtnahme damaliger Filmrezensionen, die darin je nach Ausrichtung einen Appell an die »Proletarier aller Länder« zur nationalen Aussöhnung oder aber einen üblen »Tendenzfilm« sahen, schließt Wigger über die Motive der Produzenten:
23 | Vgl. Wigger 2007, 10f. 24 | Vgl. El-Tayeb 2001, 161. 25 | Vgl. Wigger 2007, 82. 26 | Vgl. Wigger 2007, 181. 27 | Vgl. Wigger 2007, 179f.
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Interessanterweise zieht Wigger auch den Vergleich zu dem nur wenige Jahre vorher veröffentlichten US-amerikanischen Film Birth of a Nation, der zur Legitimation des Ku Klux Klans eingesetzt wurde, und verweist überdies auf ähnliche Diskurse in Südafrika und Australien.29 Der ebenfalls Die Schwarze Schmach lautende nationale Erweckungsroman von Guido Kreutzer aus dem Jahr 1921 bringt die Funktion des deutschen Diskurses ebenso pointiert auf den Punkt. In der Nacht vor der Ankunft der französischen Kolonialsoldaten suchen die Ortsbewohner/innen, Vertreter/innen aller Klassen, einen pensionierten General auf, den sie dazu bewegen wollen zu bleiben: »Da flog auffälliges Lächeln über das schmutzverkrustete Gesicht des Gelbgießers. ›Eben, Exzellenz […] Was wir untereinander in Deutschland auszufechten haben, das ist unsere eigene Sache; da hat sich keiner drein zu mischen. Gegen den Franzmann aber stehen wir alle zusammen – wie sich das gehört.‹« 30
Allen Propagandamedien der Kampagne ist die konkrete Adressierung an eine fragmentierte Gesellschaft gemein, die durch die Beschwörung einer völkischen Identität ihr Weißes Deutschsein entdecken solle. Zu diesem Zwecke werden die internen Konflikte auf das rassisch Andere, die Kolonialsoldaten, verschoben. Hierfür dient die Repräsentation der Weißen Frau als symbolisches Opfer, die es im Diskurs unmöglich macht einen Sprechakt zu tätigen, ohne Rekurs auf die moralische Verwerflichkeit der (fiktiven) Tat an ihr zu nehmen: So ist die Weiße Nation geboren.
M instrelsy als A nalysek ategorie Wir haben versucht, schlaglichtartig drei historische Szenen zu beleuchten, in denen sich zeigt, wie durch Strategien des Erzählens politische, soziale und ökonomische Konflikte auf Fragen von Rasse verschoben werden. Diesen Modus nennen wir in Anlehnung an die historische theatrale Praxis Minstrelsy. 28 | Wigger 2007, 180. 29 | Vgl. Wigger 2007, 179. 30 | Kreutzer 1921, 30.
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Minstrelsy ist keine US-amerikanische Inszenierungspraxis oder überkommene Theaterkonvention im Sinne eines »Blackfacings«, sondern ein diskursives Phänomen moderner gesellschaftlicher Krisen. Es kann uns bei der Analyse zeitgenössischer Phänomene dienen, indem es unser Augenmerk vom Symptom zur Funktion lenkt. Man denke an den medialen Diskurs um die berüchtigte »Kölner Silvesternacht« 2015/2016, in der Weiße Frauen (angeblich) massenhaft von afrikanischen Männern sexuell belästigt wurden.31 Die rassifizierende Konstruktion des sexuell übergriffigen Afrikaners ähnelt frappierend dem Diskurs um die »Schwarze Schmach«. Und genauso wie in den 1920erJahren erlaubt uns heute die Einschreibung dieser sexuellen Gewalttätigkeit in den Schwarzen oder PoC-Körper eine Weiße deutsche Debatte um sexuelle Gewalt zu externalisieren. Das Aufkommen von Weißen Bürgerwehren, die nun Weiße Frauen vor Schwarzen und PoC-Männern beschützen wollen,32 erinnert an die transatlantische Ähnlichkeit, die Iris Wigger anspricht: den Ku Klux Klan. Der mediale Diskurs um den herzlichen Empfang geflüchteter Menschen am Münchner Hauptbahnhof im Sommer 201533 und das nachfolgende Feld der »Willkommenskultur« kann als weiteres Beispiel für Minstrelsy gelesen werden: Das zur Schau getragene Helfen und die fortwährende Rede von der nationalen Anstrengung, die bei der »Integration« vollbracht werden müsse, konstituiert die Akteur/innen als deutsche Altruist/innen, die »wahren« Notleidenden helfen.34 Diese Inszenierung melodramatischer Sentimentalität in Beziehung zu einem rassifizierten Anderen erinnert an die Uncle Tom-Minstrel-Shows, die sowohl zur sentimentalen Arbeit gegen die Sklaverei aufriefen als auch den gutmütigen Onkel Tom als idealisiertes Opfer fixierten.35 Die heutige Externalisierung der Not, von einer innergesellschaftlichen Diskussion, wie dem Diskurs um Hartz IV, auf das Schicksal geflüchteter Menschen, trägt also insofern Minstrelsy-Züge, als dass eine deutsche Armutsdebatte vermieden wird und die Geflüchteten als notleidende Flüchtlinge fixiert werden. So ließ sich Shermin Langhoff, die Intendantin des Berliner Gorki-Theaters, bei der Präsentation des Exil-Ensembles zu der Formulierung hinreißen, dass »Flüchtling« kein Beruf sei. Die Vielzahl an partizipativen Kulturprojekten 31 | Vgl. www.sueddeutsche.de/news/panorama/kriminalitaet-zahlreiche-anzeigennach-uebergriffen-von-silvester-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160106-99-74332. 32 | www.sueddeutsche.de/politik/sachsen-asylbewerber-gefesselt-1.3017453. 33 | www.sueddeutsche.de/news/politik/migration-welle-der-hilfsbereitschaft-fuerfluechtlinge-in-muenchen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-150901-99-11034. 34 | Hierzu passt in besonderem Maße die mediale Debatte um die Nutzung von Smartphones durch Geflüchtete, welches in den Augen vieler Kommentator/innen das Bild von der »wahren Not« konterkariert, vgl. Meyer 2015. 35 | Vgl. Lott 1995, 218.
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mit geflüchteten Menschen einerseits und die wachsende Akzeptanz Weißer völkischer Politik andererseits sprechen in jedem Fall dafür, dass das Minstrelsy als diskursives Phänomen fortbesteht.36
L iter atur Anonym (1911): »Der Hosennigger.« In: Kolonie und Heimat in Wort und Bild 22, 2-3. Dreesbach, Anne (2005): Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung »exotischer« Menschen in Deutschland 1870-1940. Frankfurt a.M.: Campus. El-Tayeb, Fatima (2001): Schwarze Deutsche. Der Diskurs um »Rasse« und nationale Identität 1890-1933. Frankfurt a.M.: Campus. Emminghaus, Sarah: »Anglizismus des Jahres. Unsichtbar durch Farbe.« In: www.taz.de/!5022458/ [01.08.2016]. Foucault, Michel (2007): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M.: Fischer. Gilroy, Paul (1999): The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. London/New York: Verso. Koller, Christian (2001): »Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt.« Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik. Stuttgart: Franz Steiner. Kreutzer, Guido (1921): Die Schwarze Schmach. Der Roman des geschändeten Deutschlands. Leipzig: Leipziger Graphische Werke. Lhamon Jr., W. T. (2000): Raising Cain: Blackface Performances from Jim Crow to Hip Hop. Harvard: Harvard University Press. Lott, Eric (1995): Love & Theft – Blackface Minstrelsy and the American Working Class. Oxford u.a.: Oxford University Press. Lotz, Rainer E. (1984): »Black Diamonds Are Forever: A Glimpse of the Prehistory of Jazz in Europe.« In: The Black Perspective in Music 12:2, 216-234. Martin, Peter/Alonzo, Christine (Hg.) (2004): Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus. Hamburg/München: Dölling und Galitz. Meyer, Christoph (2015): »Handys sind für Flüchtlinge kein Luxus.« In: www. sueddeutsche.de/panorama/vorurteile-warum-handys-fuer-fluechtlingekein-luxusartikel-sind-1.2603717 [20.03.2017]. Nagl, Tobias (2009): Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino. München: edition text + kritik. 36 | Vgl. www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=128 34:presseschau-vom-20-juli-2016-shermin-langhof f-gruendet-am-maxim-gorkitheater-berlin-ein-exil-ensemble-mit-fluechtlingen&catid=242:presseschau&Ite mid=62.
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Wigger, Iris (2007): Die »Schwarze Schmach am Rhein«. Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Rasse. Münster: Westfälisches Dampfboot. www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=1283 4:presseschau-vom-20-juli-2016-shermin-langhoff-gruendet-am-maximgorki-theater-berlin-ein-exil-ensemble-mit-fluechtlingen&catid=242:pres seschau&Itemid=62 [20.08.2016]. w w w.sueddeutsc he.de/news/panorama/k r iminalitaet-zahlreic he-an z e i g e n - n ac h - u eb e r g r i f fe n - v on - s i l v e s t e r- dp a .u r n - n e w s m l - dp a com-20090101-160106-99-74332 [18.02.2017]. w w w.sueddeutsche.de/news/politik/migration-welle- der-hilfsbe r eits c h a f t- f u e r- f l u e c h t l i n g e - i n - m u e n c h e n - d p a . u r n - n e w s m l - d p a com-20090101-150901-99-11034 [18.02.2017]. https://www.youtube.com/watch?v=ALTam2L9NhE [18.02.2017]. https://www.youtube.com/watch?v=b-LzqwkIZQ0 [18.02.2017]. www.sueddeutsche.de/politik/sachsen-asylbewerber-gefesselt-1.3017453 [18.02.2017].
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Zwischen Erscheinen und Verschwinden Reproduktion Brechts in klassenkampf (svendborg 1938/39) von Lothar Trolle Julia Lind In meine leeren Schaukelstühle vormittags Setze ich mitunter ein paar Frauen Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen: In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen. Gegen Abend versammle ich um mich Männer Wir reden uns da mit ›Gentlemen‹ an. Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen Und sagen: Es wird besser mit uns. Und ich Frage nicht: Wann?1
Frühzeitig begann Bertolt Brecht an seinem Bild in der Öffentlichkeit zu arbeiten: In der 1927 veröffentlichten Hauspostille stilisierte sich das lyrische Ich als armer B.B., der hinausgeworfen in die Kälte der neuen Zeit (»In der Asphaltstadt bin ich daheim«2) unter den Bedingungen der Großstadt seine künstlerischen Strategien entwickelt und sich einen Kreis von Gleichgesinnten auf baut. Durchaus selbstbewusst formuliert das lyrische Ich in den eingangs zitierten Strophen aus der Ballade Vom armen B.B. seine Machtposition innerhalb dieses Künstler-Kreises, in dem es nach genderspezifischen Aspekten den Teilnehmer/innen ihre Plätze in seinem Haus zuweist und damit über zeitliche und räumliche Anordnungen verfügt. Die Haltung bzw. der Ton des Gedichtes ist dabei durchweg ironisch; mit einem Augenzwinkern stellt Brecht dem Leser die Welt des armen B.B. vor und lässt ihn dabei im Unsicheren darüber, wie ›ernst‹ er es eigentlich meint. Diese Ironie bzw. die vom Dichter aufgebaute 1 | Brecht 1999, 147f. 2 | Brecht 1999, 146.
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Distanz äußert sich exemplarisch in dem Satz: »In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.« Diese Künstler-Selbstdarstellung umfasst ein Geheimnis, eine Unschärfe, ein Sich-nicht-festlegen-Wollen, das gleichzeitig den Reiz und die Anziehungskraft dieser Künstlerpersönlichkeit markiert. Im Zusammenhang mit dem Thema »Re/produktionsmaschine Sprechtheater« möchte ich Brechts Strategien der Selbstdarstellung aufgreifen und zeigen, wie diese zum 100. Jubiläum Brechts auf deutschen Bühnen reproduziert wurden. Als Untersuchungsgegenstand dient das Künstlerstück klassenkampf (svendborg 1938/39) des ostdeutschen Dramatikers Lothar Trolle sowie die Inszenierung des Textes durch die Freie Theatergruppe München aus dem Jahr 1998.
D as K ünstlerstück klassenk ampf (svendborg 1938/39) Wie der Titel bereits vermuten lässt, ist ein zentrales Thema des Künstlerstückes das politische Engagement Brechts während der Exiljahre in Dänemark. Von 1933 bis 1939 lebte Brecht mit seiner Familie in einem Bauernhaus auf der Insel Fünen. In dieser ländlichen Umgebung führte er die Form der kollektiven Produktion weiter, lud Freunde und Mitarbeiter/innen in das Haus ein, solidarisierte sich mit der sozialistischen Einheitsfront, arbeitete im Kollektiv an Übersetzungen, Zeitstücken, Parabeln, Gedichten sowie Romanen und entwickelte sein Konzept des Lehrtheaters bzw. des Epischen Theaters weiter. Um die Ebene der Gegenwart des Jahres 1998 mit der der Vergangenheit des Jahres 1938/39 zu verknüpfen, greift Trolle auf die Strategie des Spiels im Spiel zurück und rekonstruiert Brechts Leben in Svendborg durch eine Art Traumspiel: Der Autor tritt in dem Text als Besucher des Ortes auf, der diesen an einem Sommertag begeht, und versucht die Vergangenheit des Ortes zu rekonstruieren. Dabei erträumt er sich einen »Chor der mindestens fünf Frauen«3, der sich aus den Mitarbeiterinnen, Geliebten und Lebensgefährtinnen Brechts zusammenstellt, wie der dänischen Schauspielerin Ruth Berlau, der aus Berlin mitgereisten Margarete Steffin oder seiner Ehefrau Helene Weigel. Er imaginiert, wie diese Frauen sich im Garten des Hauses aufhalten, plötzlich hinter Büschen hervortreten, sich aus der Gruppe lösen und solo auftreten. Nach ihren Soloauftritten gruppieren sich die Frauen wieder zum Chor, der die Vorgänge kommentiert und beobachtet, wie gegen Abend männliche Stimmen aus dem Haus dringen. Diese Stimmen gehören zu Männern wie dem Komponisten Hanns Eisler, dem Marxisten Karl Korsch sowie dem befreundeten Literaturkritiker Walter Benjamin. Der Frauenchor beobachtet Szenen, in denen Eisler und Brecht gemeinsam Hitler-Reden im Radio hören, Korsch Monologe über 3 | Trolle 2007, 453.
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die gesellschaftlichen Produktionsmittel hält oder Benjamin und Brecht durch den Garten spazieren und sich über Kafka unterhalten. Die strikte Trennung zwischen den Geschlechtern löst sich zum Ende des Stückes auf, wenn der Fokus auf Brecht liegt und dieser über seine Journaleinträge aus den Exiljahren selbst zu Wort kommt. Hiernach fangen die Frauen an, sich über ihren Anteil am Brecht-Werk zu streiten, werden gegenüber den Männern übergriffig und das Stück bricht aufgrund der Streiterei in sich zusammen; der Besucher reist ab bzw. beendet seine Imaginationen, indem er sich vom Schreibtisch entfernt. Der Blick des Autors scheint durch seine DDR-Sozialisation geleitet zu sein, da in dem Stück im Wesentlichen der politische Brecht bzw. Brecht als Klassenkämpfer problematisiert wird. Auch treten mit Hanns Eisler, Ruth Berlau oder Helene Weigel Persönlichkeiten auf, die das kulturelle öffentliche Leben in der DDR prägten und die mit der Theaterarbeit des Berliner Ensembles eng verbunden sind. Diese ostdeutsche Sicht gilt es zu berücksichtigen, wenn nach den Re/produktion Brechts gefragt wird. Trolles Brecht-Darstellung scheint insgesamt von zwei Haltungen geleitet zu sein: zum einen durch den Widerspruch gegen die politische Instrumentalisierung von Brechts Literatur, wie sie in der DDR praktiziert wurde, und in der der Begriff des Klassenkampfes als ideologische Phrase verwendet wurde. Zum anderen ist sein Künstlerstück durch die Parteinahme mit der weiblichen Sicht auf Brecht geleitet, arbeitet Trolle doch das asymmetrische Macht-Verhältnis zwischen den Geschlechtern in seinem Text heraus. Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf Brechts Gedicht Vom armen B.B. und die dort vorgenommene Trennung von Frauen und Männern. Besonders die Anziehungskraft des Dichters Brecht auf die Frauen und die Vermischung von Arbeits- und Liebesleben ist ein virulentes Thema des Stückes. Es ist jenes Gemisch, das der amerikanische Germanist John Fuegie in seiner Studie Brecht & Company darstellte und an dem er die kollektive Arbeitsweise insofern problematisierte, als die urheberrechtlichen Anteile der Mitarbeiterinnen nicht ausgewiesen bzw. unterschlagen wurden. Fuegie zeigt, wie die Mitarbeiterinnen strukturell ausgebeutet wurden, was vor allem an dem Fall Elisabeth Hauptmann deutlich wird, die die englische Vorlage für Die Dreigroschenoper gefunden und übersetzt hatte4 und somit einen erheblichen Anteil an der Erfolgsmarke »Brecht« hatte. Während sich Hauptmann später von Brecht distanzierte und in Fuegies Buch als eine »Hauptzeugin« auftritt, blieben andere Frauen – wie Ruth Berlau, Margarete Steffin, Helene Weigel – Brecht gegenüber bis zu ihrem Lebensende treu ergeben. Fuegie beschreibt in seinem strittigen Buch die Strategien, die Brecht anwendete, um sich der Loyalität dieser Frauen trotz seinem eigenen Mangel an Treue zu versichern.5
4 | Vgl. Fuegie 1998, 211. 5 | Vgl. Fuegie 1998, 216.
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P olyphoner E rinnerungsr aum im The aterte x t In dem Theatertext treten die Frauen zwar in dem besagten Chor als Gruppe auf, erhalten aber auch viel Raum, sich einzeln an Brecht zu erinnern. In einer Folge von Ab- und Auftritten lösen sich die Frauen aus dem Chor, um in einem Soloauftritt von ihrer Geschichte mit Brecht zu ›erzählen‹. Bei diesen Erzählungen handelt es sich nicht um konventionelle Theatermonologe, sondern um eine Montage aus Zitaten autobiografischer und literarischer Texte der jeweiligen Frauenfigur, die in Beziehung zu Brechts Journaleinträgen und Literatur gesetzt sind. Trolle formt dieses Text-Material zu einem Sprachblock, in dem ähnlich wie in den Sprachflächen Elfriede Jelineks die Grenzen zwischen Haupt- und Nebentext aufgehoben sind und sich so neue Formen der szenischen Gestaltung herausbilden. In diesem Textgefüge kommt der typografischen Gestaltung bzw. dem Textbild eine künstlerische Qualität zu: In Trolles Text sind Regieanteile und Sprechanteile über eine typografische Struktur zwischen Versalien- und Kursivsatz gekennzeichnet. Die Leser sind dazu angehalten, das komplizierte System aus Klammern und Typografien zu entschlüsseln, Sprech- und Regieanteile voneinander zu unterscheiden bzw. den »Textträger«6 herauszuarbeiten. Unter dem Begriff des Textträgers subsumiert sich dabei weniger ein handlungstragendes Subjekt, sondern jegliche Stimmen, die eine theatrale Situation konstituieren und die über die Schrift verwirklicht sind.7 Um die Ästhetik dieses Theatertextes zu veranschaulichen, zitiere ich eine Textpassage, in der Margarete Steffin zu Wort kommt: »Er hat mir gesagt, er hat das Gewissen eines Eisklumpens. Hört sich gut an, liegt man zusammen und lacht. (wie in Gedanken versunken) und da fällt mir auch noch der gute alte Wallace ein, der hat gesagt, Schmutz ist Materie an ungewünschter Stelle. […] (Verschwindet, in diese Gedanken versunken, vor den Augen des etwas erstaunten Chor (der aber gerne auf ihr Angebot einging und (auch ohne Mitwirkung der unmittelbar Betroffenen) seine Mittel damit vervollkommnete, daß er einige der von der M.S. genannten Clownnummern wie Zwei liegen in einem Bett, und der junge Mann macht Sprüche wie: Ich bin ein gewissenloser Eisklumpen, das allerdings in solch einer possierlichen Weise, daß das junge Mädchen nicht anders kann als lachen inzwischen improvisiert hatte) in einem der angrenzenden Gebüsche/(der Seitenbühne) und verfolgt von dort mit Interesse/Desinteresse die weiteren Bemühungen des Chores den Garten/(die Bühne) in Besitz zu nehmen).« 8
6 | Poschmann 1997, 305. 7 | Vgl. Poschmann 1997, 321f. 8 | Trolle 2007, 458.
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Anhand dieser Text-Passage wird deutlich, wie der Textträger sich einerseits aus der individuellen Stimme Margarete Steffins sowie den kollektiven Stimmen des Chores aber auch einer ironischen, distanzerzeugenden Erzählerstimme zusammensetzt. Der personale Erzähler bzw. der Besucher des Ortes kommentiert beständig die Handlung des (imaginierten) Chores und verweist gleichzeitig auf die mögliche Aufführung. Über die Typografie des Textes lässt sich direkte Rede (kursive Schrift) und die vermittelnde Rede eines personalen Erzählers (gerade Schrift) unterscheiden. Der Regietext ist in Klammern gesetzt und so von der vermittelnden Rede unterschieden. Wie Norbert Eke herausstellt, hat Trolle mit dieser Textform das Epische Theater »zu einem Drama des ›erzählten‹ Textes«9 umgewandelt. Sprache und Sprecher sind zunehmend voneinander entkoppelt, statt eines handlungstragenden Subjekts wird der Text selbst zum eigentlichen Akteur des Dramas. Mit dieser episierten Form des Theatertextes geht hinsichtlich der Rezeption ein verändertes Wahrnehmungsdispositiv einher: Nicht die Sichtbarmachung komplexer Vorgänge steht im Vordergrund, d.h. der Theatertext wird nicht wie im konventionellen Drama als ›Schauraum‹ genutzt, sondern das Hören wird zur vorrangigen Wahrnehmungsdisposition. Ähnlich wie Hans-Peter Bayerdörfer es für Theatertexte von Marlene Streeruwitz und Einar Schleef beobachtet, gestaltet Trolle den Text als Hör-Raum, wobei er insbesondere mediale Dimensionen integriert und z.B. über das Playbackverfahren den Text mittels wiederkehrender Stimmen rhythmisiert.10 Auch in der zitierten Textpassage wendet Trolle das Prinzip der Wiederholung an, wenn er den Chor die Worte Margarte Steffins wiederholen lässt und so Distanz zu der Ausgangssituation aber auch zu dem Adressaten Brecht erzeugt. Die Wiederholung ist nicht lediglich ein Mittel des Rhythmisierens, sondern wird vom Autor als parodistisches Verfahren genutzt, um tradierte Brecht-Bilder zu dekonstruieren und die Spielräume der Wahrnehmung zu erweitern. Trolle entwickelt, wie Bayerdörfer es für eine Vielzahl postdramatischer Texte beobachtet, ein »ausgefeiltes Verfahren des Zitierens, der Anspielung und des formalen Pastiche, so dass palimpsestartige Durchsichtigkeit entsteht.«11 Es entsteht ein polyphoner Erinnerungsraum an Brecht, in dem der Künstler selbst nicht mehr vorkommt bzw. Chimäre bleibt. In diesem mehrstimmigen Raum, in dem Brecht durch ein komplexes System von Wiederholungen verdinglicht ist, ist die Möglichkeit des Erinnerns, des Identität-Stiftens sowie das überlieferte Brecht-Bild kritisch reflektiert. Gerade diese reflexive Ebene und die Unbestimmtheit hinsichtlich der Identität des Künstlers verschwindet in der Inszenierung des Freien Theaters München, wenn die ausgefeilte literarische Montage in ein Chortheater umgesetzt wird. 9 | Eke 2002, 88. 10 | Vgl. Bayerdörfer 2003, 8. 11 | Bayerdörfer 2003, 4.
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Für den Zuschauer verknappt sich der Diskurs vor allem auf den Geschlechterkampf innerhalb des Brecht-Kollektivs.
V erknappungsdiskurs in der I nszenierung klassenk ampf durch die F reie The atergruppe M ünchen In der von den Choreografen und Tänzern George Froscher und Kurt Bildstein der Freien Theatergruppe München geleiteten Inszenierung (Uraufführung am 23.06.1998) wird aus dem Modell des Traumspiels ein Modell der direkten Ansprache. Die Position des auktorialen Erzählers bzw. die Rahmung durch die Begehung des Ortes fällt in der Inszenierung weg. Diese Position wird in der Performance durch einen Ansager sowie durch szenische Strategien ersetzt. Dabei wird in dieser körperbetonten Inszenierung der inhaltliche Schwerpunkt auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede verlagert und der politische Klassenkampf zunehmend zu einem Kampf der Geschlechter bzw. der Körper gemacht. Der »Chor der mindestens fünf Frauen« besteht in der Performance aus drei Frauen, welche sich vor allem in ihrem Kostüm, ihrer Gestik und Sprechweise gleichen. Dieser Chor verändert sich hinsichtlich des Kostüms und Auftretens im Laufe der Aufführung. Ist sein Auftreten zu Beginn der Inszenierung noch sehr diszipliniert, werden die Bewegungsabläufe und der körperliche Ausdruck später impulsiver und expressiver. Doch zunächst treten die Frauen in den Solo- und Chorpartien in eleganter, schwarzer Abendkleidung, d.h. eng anliegenden Cocktailkleidern und Pumps auf. Die Sprechweise wirkt mechanisch: Worte sind überbetont, lang gezogen oder in übergenauer Aussprache. Ihre Körper sind stolz, aufrecht und dem Publikum zugewandt. In den Chorpartien sind ihre Bewegungen und Repliken absolut synchron und aufeinander abgestimmt. Diese Perfektion der Darstellung verliert sich später, wenn der Frauenchor in Unterwäsche bzw. Negligé auftritt. Die Simultanität wird ersetzt durch ein ›Eigenleben‹ der Körper, d.h. die Frauen verlieren ihre Körperbeherrschung und verleihen durch heftige körperliche Reaktionen Gefühlen Ausdruck. Insbesondere diese Frauen-Chor-Szenen problematisieren das Verhältnis der Frauen zu Brecht und die Machtdisposition, die diesem Gefüge zu Grunde liegt. Diese Szenen veranschaulichen unterdrückte Gefühle, Verletzungen, Ängste und verweisen auch auf die Konkurrenzsituation unter den Frauen.
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D er leidende F r auenchor : »S iehst du dort die fünf S terne , die ein W bilden ?« Diesen unkontrollierten, kämpferischen Frauenchor möchte ich anhand einer genaueren Szenenbeschreibung verdeutlichen. Es handelt sich um eine Szene, in der die Frauen nah beieinander stehen und gemeinsam die Erfahrung einer Abtreibung wiedergeben. Diese Erinnerung wird von Frauen auch körperlich erinnert und so performativ nachvollzogen, wie sich die Erfahrung tief in das korporale Gedächtnis eingeschrieben hat: Mit heftigen, wütenden Bewegungen stößt eine Akteurin gegen ihren Unterleib und wiederholt damit den sexuellen Akt als Gewalterfahrung, die heftige Gefühle auslöst. Statt den Erinnerungstext synchron zu sprechen, fallen sich die Frauen gegenseitig ins Wort, betonen mit großen Gesten ihren Bauch, mimen die Abtreibung nach und rufen in drastischer Tonlage: »Da schwammen meine Zwillinge im dunklen Blut.«12 Nach dieser Erregung ernüchtert der Ton und lakonisch resümiert der Frauen-Chor: »Der eine Stellung hat, muss sorgen, dass er keine Kinder hat.« Jede Frau wiederholt diesen Satz für sich, murmelt ihn wie ein Mantra vor sich hin. Insgesamt wirken diese versetzt gesprochenen Sätze wie Refrain-Strophen eines Liedes. Dann wechselt die Stimmung in lustvolle, freudige Erinnerung an Brechts Liebesverse. Die drei Frauen rücken eng zusammen, stellen sich wie Sängerinnen im Halbkreis auf und rufen sich die romantischen Momente mit Brecht ins Gedächtnis. Ihre Stimmen sind freudig erregt, wenn sie Brechts Treueschwur an Steffin gemeinsam nacherzählen: »Siehst du dort die fünf Sterne, die ein W bilden? Er zeigte auf das Sternenbild der Kassiopeia. Merk dir, dort, wo immer wir auch sind, werden sich unsere Augen treffen.« Über eine blaugetönte Leinwandprojektion sind ihre Gesichter in Großaufnahme zu sehen – die zitierten Worte wirken tröstend und ihre Körper beruhigen sich. Allmählich kippt die Stimmung von sentimental zu wütend, die Frauen steigern sich in Zorn, werden lauter bis sie sich schließlich gegenseitig anschreien und um die schlimmste Erfahrung konkurrieren. Mitten in diesem lärmenden Geschrei ändern sich Stimmung und Sprechweise: Die Frauen sprechen ruhiger, besonnener und akzentuierter. Sie wenden sich von den Liebeserfahrungen ab, distanzieren sich von ihrem weiblichen Körper und treten als Sprachrohr von Brechts Gedankenwelt auf. Chorisch tragen sie seine Gedanken zur Zeitgeschichte vor und geben Einträge aus seinem Arbeitsjournal wieder: »Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten.« Doch dürfen die Frauen diese politischen Verse nicht weiter aussprechen, aus dem Dunkeln treten die Männer in der typischen Brechtkleidung in Arbeitskittel hervor, 12 | Dieses sowie die folgenden Zitate sind einer nicht-veröffentlichten Aufnahme einer Aufführung von George Froschers und Kurt Bildsteins klassenkampf-Inszenierung aus dem Jahre 1998 entnommen.
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nehmen ihnen die Mikrofone ab und sprechen nun selbst: »Vertriebene sind wir.« In dieser Weise verschwinden die Frauen hinter den Repliken Brechts. Zum Ende der Performance wird nur noch der Männerchor anwesend sein, die Frauen sind gänzlich verstummt. Mit diesem Wechsel vom privaten zum öffentlichen Raum werden die Frauen von den Männern abgelöst, verstummen und ziehen sich ins Dunkle zurück. Die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern, die während der Performance fortlaufend reproduziert wird, unterstützt ein binäres Geschlechterkonzept, wie es Judith Butler in Unbehagen der Geschlechter kritisiert hat. Butler hegt ein tiefes Misstrauen gegenüber Geschlechtsidentität bzw. der Idee eines natürlichen Identitätskonzepts, da die Verfahren der Zuschreibung von Geschlechtsidentitäten aufgrund eines Körpers Machtsysteme unterstütze bzw. bestehende Machtverhältnisse bestätige.13 Besonders problematisch sei die scheinbar natürliche Verbindung zwischen Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren. In diesem System erfährt sich eine Frau als in ihrer Geschlechtsidentität bestätigt, wenn Sie von dem männlichen Geschlecht begehrt wird, wodurch die eigene Identität an die Bestätigung ihrer körperlichen Attraktivität gekoppelt wird. Menschen, die nicht heterosexuell sind, sind folglich aus diesem Zuschreibungssystem ausgeschlossen und werden nicht als wahre/r Frau/Mann empfunden.14 Diesem Zuschreibungssystem, das von einer inneren Substanz ausgeht, welches sich durch den Körper ausdrückt, widerspricht Butler vehement und stellt Geschlechtsidentität ähnlich wie Simone de Beauvoir in ihrer Gemachtheit vor, d.h. als einen Akt, in dem die Attribute des jeweiligen Geschlechts beständig wiederholt und bestätigt werden: »Wir dürfen die Geschlechtsidentität nicht als feste Identität oder locus der Tätigkeit konstruieren, aus dem die verschiedenen Akte hervorgehen. Vielmehr ist sie eine Identität, die durch die stilisierte Wiederholung der Akte in der Zeit konstituiert bzw. im Außenraum instituiert wird.«15 Betrachtet man die Gender-Performance in der klassenkampf-Inszenierung, so wird deutlich, dass diese die Idee eines schwachen versus starken Geschlechts unterstützt und die Geschlechter innerhalb eines binären Unterscheidungssystems zwischen weiblich/männlich, privat/öffentlich, innen/ außen unterteilt: Die Frauen werden ins Private zurückgedrängt, in eine Innerlichkeit, die sich auch in dem entblößten, nur mit Negligé bekleideten Körper ausdrückt. Die Pumps, die sie tragen, unterstreichen gleichzeitig ihre Weiblichkeit. In dieser Gender-Performance spiegelt sich das von Fuegi beschriebene chauvinistische Weltbild des Brecht-Kreises wider, da die ausgeführten Akte, wie Butler es formulieren würde, eine »maskuline Herrschaft« 13 | Vgl. Butler 1991, 7-10. 14 | Vgl. Butler 1991, 46. 15 | Butler 1991, 206.
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sowie die »Zwangsheterosexualität« unterstützen,16 wobei sich die Frau als das andere Geschlecht, als Mysterium konstituiert.17 Die Symbole des Attraktiven und des Begehrens (Pumps, Negligé) zeigen eine »Maskerade der Weiblichkeit« im Sinne von Luce Irigaray »als das, was die Frauen machen, […] um am Wunsch des Mannes teilzuhaben, aber zum Preis des Verzichts auf den eigenen«.18 Während die Frauen als verletzbare, Lust empfindende Subjekte inszeniert werden, treten die Männer weitgehend nüchtern und emotionslos auf. In der Gender-Performance der Frauen zeigt sich eine hohe Instabilität und Verunsicherung; der Frauenchor verliert die Kontrolle über körperliche Reaktionen. Die Identität der ›drei Schönen‹ ist auf komplexe Weise an die Künstlerfigur Brecht gekoppelt, neben der emotionalen Beziehung stehen auch immer die Arbeitsbeziehung und die damit einhergehende wirtschaftliche Abhängigkeit vom Künstler. Die häufigen Gefühlswechsel, die dieser Chor auf der Bühne auslebt, sind exemplarisch für die Art und Weise, wie Brecht mit den Frauen umging. Wie Fuegie aufgezeigt, war Brecht auf eine Methode der emotionalen Erpressung spezialisiert. Wenn er merkte, dass sich eine Frau von ihm distanzierte, schenkte er ihr besonders viel Aufmerksamkeit und sprach ihr in Briefen oder Gedichten gleichzeitig Lob und Tadel aus. Mit dieser Strategie stabilisierte er einerseits die emotionale Beziehung zu der jeweiligen Frau, betonte aber gleichzeitig das Abhängigkeitsverhältnis und ermahnte zur Loyalität ihm gegenüber.19
D er M ännerchor oder : »J a , wo sind sie denn geblieben , all die klugen K öpfe ?« Auf der anderen Seite dieser Reproduktionsmaschine steht die männliche Sicht auf Brecht bzw. die Zusammenkünfte der ›Gentlemen‹ am Abend. Wie in Brechts Gedicht wendet sich in Trolles Theatertext die Aufmerksamkeit des Besuchers gegen Abend den Männern zu, wobei die Diskussionen um politische Themen, Fragen der engagierten Literatur, der Vertonung von Liedern kreisen. In diesen Gesprächen wird der zeitgeschichtliche Hintergrund über dokumentarisches Material stärker eingebunden und wie im Gedicht Vom Armen B.B. die Weltsituation beurteilt. Karl Korsch hält einen Monolog über seine Theorie des Marxismus, Eisler reflektiert seine musikalischen Kompositionen für die internationale Einheitsfront und Benjamin diskutiert mit Brecht die Möglichkeit, sich über die Literatur gesellschaftlich zu engagieren und 16 | Vgl. Butler 1991, 208. 17 | Vgl. Butler 1991, 7f. 18 | Vgl. Luce Irigaray zitiert nach Butler 1991, 80. 19 | Vgl. Fuegie 1998, 216.
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Dinge konkret zu machen. Dokumentarisches Material wie aufgezeichnete Gespräche, Protokolle, Journaleinträge, Briefe, aber auch Liedtexte, Gedichte und literarische Produktionen aus der Exilzeit sind in diesem Theatertext zusammen gefügt. Die Haltung des Autors gegenüber diesem verarbeiteten Textmaterial ist im Wesentlichen ironisch. Er nutzt die Fallhöhe zwischen den Zielen der engagierten sozialistischen Kunst und dem tatsächlichen Wirken und betont dabei die Abseitsposition dieser künstlerischen Avantgarde im Exil. Die literarischen Verfahren sowie die Dynamik zwischen Frauen-Chor und männlichen Stimmen möchte ich an einem Textausschnitt verdeutlichen, in der der Marxist Karl Korsch auftritt: »[Chor] (horcht eine Weile auf das Schweigen auf der Bühne/(im Theater), improvisiert dann: Ja, wo sind sie denn geblieben, all die klugen Köpfe, bzw. Ja, was bleibt denn nun vom Gerede eines klugen Mannes, wenn er schon lange abgereist ist? (improvisiert dann) Was wissen sie denn über Karl Korsch? (antwortet im typischen »Eislerischen« Tonfall Ich habe ihn mal bei Brecht gesehen, in Dänemark (improvisiert:) Sprich aus der Ferne/Heimliche Welt,/Die sich so gerne/zu mir gesellt […] in der Stille die Stimme von K.K.) (Chor:) Der Satz, daß eine Gesellschaftsformation nie untergeht, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, […].«20
Der Autor nutzt das romantische Gedicht Sprich aus der Ferne von Clemens Brentano, um Korsch anzukündigen. Im Laufe des Textes sind diese Verse wie ein Refrain immer wieder eingefügt, um einen Kontrapunkt zu der marxistischen Theorie des Klassenkampfes und der Arbeit des Brecht-Kollektivs aufzubauen. Mit Brentanos Versen ist eine wehmütige Stimmung verknüpft, sehnt sich das lyrische Ich doch eine Verzauberung der Welt herbei. Dieser melancholische und geheimnisvolle Text bildet einen starken Gegensatz zu der politischen Rhetorik von Korsch und unterstreicht umso mehr dessen sperrige, formelhafte Sprache. Durch die Wiederholung dieser kontrapunktischen Struktur werden die Aussagen von Korsch und später von Eisler in eine Semantik der Abseitigkeit und Weltfremdheit eingerahmt. In der Performance ist der Auftritt von Korsch in eine Bewegungschoreografie umgesetzt: Während die Mitglieder des Frauen-Chores als Backgroundsängerinnen auftreten und die Verse Brentanos sprechen, treten die Männer mit Arbeiteranzügen, wie Brecht sie trug, auf und sprechen die Sätze von Korsch. Während sie sprechen, sind sie die ganze Zeit über in Bewegung. Die Körperchoreografie unterliegt dabei einem genauen Bewegungsablauf: Auf dem Boden kniend beginnt dieser Männerchor mit harscher Stimme den Text zu sprechen, dann erheben sie sich, laufen vor, drehen sich zueinander, fassen sich an den Händen, wenden sich wieder zum Publikum und kratzen sich 20 | Trolle 2007, 471.
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kurz und zwanghaft am Ellenbogen. Daraufhin laufen sie wieder zur hinteren Bühne und wiederholen diese Sprech- und Bewegungschoreografie. Ihre Dynamik verleiht den vergeistigten Parolen von Korsch, die die marxistischen Thesen zusammenfassen und auf einem hohen Abstraktionsgrad angesiedelt sind, einen ganz eigenen körperlichen Ausdruck. Die theoretischen Sätze, die hoch politisierte Sprache werden in Bewegung im Raum umgesetzt und durch die ständige Wiederholung auch in diesen schwitzenden, sich verausgabenden (Männer-)Körpern nachempfunden. Durch die exakte Wiederholung der immer gleichen Bewegung, selbst des zwanghaften Kratzens, wirkt es wie ein Gedankengebäude, eine zwanghafte Denkweise, aus der die Sprecher keinen Ausweg finden. Nach einigen Wiederholungen setzen die Frauen nochmals ihre Strophe Sprich aus der Ferne an. Die Lautstärke und Intensität steigert sich als der Spielleiter die Revolutionsparole zunächst auf Deutsch, dann auf Französisch anstimmt. In dieses Stimmengewirr und in die endlose Wiederholungsmaschinerie der Sätze und Gesten werden eine sowjetische Hymne auf Stalin sowie Filmaufnahmen über die Anfang der 1930er-Jahre in der Sowjetunion stattfindenden Maßnahmen der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft eingespielt. Während dieser Film läuft, lösen sich die Chorformationen auf, die Darsteller blicken noch einmal zum Publikum und treten dann ab. Der stalinistische Propagandafilm läuft mit lauten Triumphfanfaren weiter und die Zuschauer/innen sehen die glorifizierende Darstellung des stolzen Kolchos – Bilder, die angesichts der Genozide an den Kulaken heuchlerisch-bedrohlich wirken. Diese Propaganda-Bilder des Stalinismus gehen über in eine nationalsozialistische Filmcollage, auf der eine Gruppe Arbeiter mit Spaten in der Hand und nacktem Oberkörper zu sehen ist. Über diesem unbeweglichen Standbild ist rechts, schreiend und gestikulierend, Hitler zu sehen. Im Gegensatz zu der unbeweglichen, ins Leere starrenden Arbeiterschaft, ist der Diktator ständig in Bewegung und agitiert die Massen, die im Hintergrund mit aufwallenden, frenetischen Jubelschreien zu hören sind. Zwei Aspekte werden in dieser Performance deutlich: Zum einen wird die Person Brecht nicht von seinen Mitarbeitern unterschieden, Korsch und Eisler treten im gleichen Brecht-typischen Kostüm auf. Zum anderen wird durch die Medien-Installation das zeitgeschichtliche Kolorit hervorgehoben und übertönt sozusagen die engagierte Arbeit der Linken. Durch diese performativen Strategien wird die Abseitsposition des Künstlers Brecht unterstrichen, seine Ohnmacht gegenüber der Weltlage, aber auch auf die Parallelen zwischen der politischen Rhetorik des Nationalismus und des sowjetischen Kommunismus hingewiesen und auf einen gemeinsamen ›Sound‹ aufmerksam gemacht.
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B recht-R eproduk tion als D ekonstruk tion eines K l assikers Entscheidend für Trolles Reproduktion Brechts ist, dass der Künstler selbst im Grunde abwesend bleibt. Statt die ›Marke Brecht‹ mit neuen Bildern weiter zu führen, werden einheitliche Vorstellungen in Frage gestellt und vielstimmige Bilder und Szenen produziert. Theatertext und Performance zeigen Strategien der Dekonstruktion des Klassikers Brecht auf und wenden Mittel der Verfremdung auf den Dichter selbst an. Als Folie nutzt Trolle die Selbstdarstellung des Dichters aus dem Gedicht Vom armen B.B., wobei der Gender-Aspekt und die Distanzhaltung des Künstlers besonders hervorgehoben und als strukturelles Merkmal eingesetzt werden. Während allerdings in Trolles Text Widersprüche bestehen bleiben und der Leserschaft ein komplexes Angebot möglicher Lektüren Brechts unterbreitet wird, verknappt die Regie den Bedeutungshorizont des Textes und stellt den Gender-Aspekt prominent heraus. In der Inszenierung sind männliche und weibliche Attribute so stark betont, dass die im Text angelegte Dekonstruktion im performativen Ausagieren die Tendenz einer Reproduktion binärer Denk- und Wahrnehmungsweisen aufweist. Insbesondere durch die Form des Traumspiels ist in dem Theatertext der Moment des Sich-Entziehens, der für Brechts Haltung so charakteristisch ist, besonders herausgestellt. Auch dadurch, dass Brecht nur vermittelt zu Wort kommt, wird eine Dialektik zwischen An- und Abwesenheit inszeniert. Stets reflektiert der Autor auch, wie schwierig es ist, die Vergangenheit hervorzuholen bzw. wie viel Vorstellungskraft es benötigt, um diese zu reaktivieren. Diese Form der Erinnerung bewirkt, dass die Leerstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart stets präsent bleibt. Durch die aufgezeigten parodistischen Strategien wird die (ostdeutsche) Institution Brecht ins Komische gezogen und das Missverhältnis zwischen den Geschlechtern in diesem Arbeitskollektiv in Erinnerung gerufen. Zuletzt sollte allerdings angemerkt werden, dass diese Dekonstruktion Brechts selbst ›im Abseits‹ bzw. in der Subkultur geschieht, wurde Trolles Künstlerstück eben nicht am Berliner Ensemble, sondern in der freien Theaterszene Münchens uraufgeführt.
L iter atur Bayerdörfer, Hans-Peter (2003): Vom Drama zum Theatertext? Tübingen: De Gruyter. Brecht, Bertolt (1999): Bertolt Brechts Hauspostille. Mit Anleitungen, Gesangsnoten und einem Anhang. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (1991): Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Eke, Norbert Otto (2002): »Kein neues Theater mit alten Stücken. Entgrenzung der Dramaturgien in der DDR-Dramatik seit den 70er Jahren (Müller, Braun, Brasch, Trolle).« In: Stillmark, Hans-Christian (Hg.): Rückblicke auf die Literatur der DDR. Amsterdam: Rodopi, 307-347. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 52.) Fuegi, John (1998): Brecht & Co. Biografie. Übersetzt von Sebastian Wohlfeil. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Poschmann, Gerda (1997): Der nicht mehr dramatische Theatertext. Tübingen: De Gruyter. Trolle, Lothar (2007): »klassenkampf (svendborg 1938/39).« In: Ders.: Nach der Sintflut. Sämtliche Werke. Hg. von Tilman Raabke. Berlin: Henschel, 453485.
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Praktiker/innen in der Diskussion
Re/produktionsmaschine Theater? Ein Gespräch über Einstellungs- und Besetzungsfragen oder die Normierungen von Körpern 1 Maria Magdalena Ludewig (Regisseurin, Festivalkuratorin der Wiesbaden Biennale), Markus Müller (Intendant des Staatstheaters Mainz), Ralf Rainer Reimann (Gründer und Leiter der akademie für darstellende kunst adk-ulm) und Murat Yeginer (Schauspieler am Staatstheater Mainz, ehemaliger Schauspieldirektor am Stadttheater Pforzheim) im Gespräch mit Kristin Becker (Kritikerin Theater heute, Journalistin ARD/SWR)
Becker: Herzlich willkommen zu dieser Podiumsdiskussion im Orchestersaal des Staatstheaters Mainz, die sich an einen Tag voller wissenschaftlicher Gespräche zum Thema »Re/produktionsmaschine Kunst: Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten« anschließt. Mit Menschen aus der Theaterpraxis wollen wir in den kommenden eineinhalb Stunden über Einstellungs- und Besetzungsfragen, über mögliche Standards in der Schauspielausbildung und potentielle Normierungen von Körpern reden. Meine erste Frage richtet sich an den ›Hausherrn‹ dieser Runde, an Herrn Müller als amtierenden Intendanten des Staatstheaters Mainz. Herr Müller, ich frage jetzt mal ganz unbedarft: Wie stellen Sie denn eigentlich für so ein Haus, also für ein Staatstheater wie hier in Mainz – davor waren Sie Intendant am Staatstheater Oldenburg – Ihr Ensemble zusammen? Wie funktioniert das genau? Müller: Guten Abend und auch von meiner Seite herzlich willkommen! Ich will gerne beschreiben, was unsere Herangehensweise und unsere Aufgabenstellung war. Allerdings spreche ich selten von »ich«, sondern meistens von »wir« – unser Chefdramaturg Jörg Vorhaben ist heute auch hier –, denn wir agieren sehr stark im Team. Wir haben insgesamt fünf Hausregisseur/innen, 1 | Die Podiumsdiskussion hat im Rahmen des Symposiums »Re/produktionsmaschine Kunst: Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten« am 4. März 2016 im Orchestersaal des Staatstheaters Mainz stattgefunden.
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M. M. Ludewig, M. Müller, R. R. Reimann, M. Yeginer & K. Becker
drei von ihnen inszenieren schwerpunktmäßig im Schauspiel, eine in der Oper und noch eine im Kinder- und Jugendtheater. Bei den Vorsprechen für das Ensemble waren die Hausregisseur/innen und alle Dramaturg/innen dabei, weil es mir wichtig war, dass es ein Ensemble aller ist, die prägend am Staatstheater Mainz inszenieren, die hier zuhause sind oder so kontinuierlich arbeiten, dass sie das Profil des Hauses über viele Jahre mitgestalten. Das war logistisch und organisatorisch zunächst eine große Herausforderung. Aber wir haben es geschafft, dass wir uns bei allen 26 Positionen des Ensembles einvernehmlich einigen konnten. Wenn es gelingt, dass jeder das Gefühl hat, das sind meine Schauspieler/innen, das sind die Menschen, an die ich glaube, mit denen ich einen gemeinsamen künstlerischen Weg gehen will, dann ist das eine sehr gute Voraussetzung für die Zusammenarbeit. Becker: Gehen wir noch einen Schritt zurück – wie läuft überhaupt so ein Bewerbungsverfahren am Theater? Wie suchen und finden Sie neue Mitglieder für Ihr Ensemble? Müller: Anders als in Oldenburg, wo ich als damals jüngster Intendant Europas durchaus sehr unbefangen in den Prozess gestartet bin, haben wir nicht alle 2500 Bewerbungen erst mal gesammelt und dann gesichtet, sondern gleich abgesagt, wenn jemand offensichtlich nicht in Frage kam, und alle, die unserer Meinung nach eine fundierte Ausbildung hatten, auch fundierter betrachtet. Trotzdem kann man dieser großen Menge von Initiativbewerbungen – auch wenn wir es jeweils mit immensem Aufwand versucht haben – gar nicht gerecht werden. Wir waren bestrebt, über viele Reisen und Vorstellungsbesuche sowie zahlreiche Vorsprechen von jungen Absolvent/innen und erfahrenen Schauspieler/innen ein hochklassiges und unseren künstlerischen Anforderungen wirklich voll entsprechendes Ensemble zusammenzustellen. Insgesamt haben wir fünf Kolleg/innen gebeten in Mainz zu bleiben, wir haben sechs Kolleg/innen aus Oldenburg eingeladen mitzukommen und gut die Hälfte des Ensembles ist wirklich neu aus anderen Zusammenhängen nach Mainz gekommen. Egal, wie viel Mühe man sich macht, bleibt es eine subjektive Entscheidung, wen man ins Ensemble aufnimmt. Ich will das auch noch einmal deutlicher machen für die Frage: Welche der Schauspieler/innen, die bereits an einem Haus engagiert sind, lädt man zur weiteren Zusammenarbeit ein? Wir haben uns ab dem Zeitpunkt meiner Wahl als Intendant sämtliche Produktionen in Mainz mindestens aus drei Perspektiven angeguckt. Das heißt, dass ich versucht habe, den Prozess ein bisschen objektivierbarer zu gestalten, indem auch mindestens ein/e Dramaturg/in und ein/e Hausregisseur/inalle Vorstellungen besucht hat und wir uns dann abgestimmt haben, nachdem jeder aus dem Team jedes bisherige Ensemblemitglied auf der Bühne erlebt hatte. Trotzdem bleibt es am Ende eine subjektive Entscheidung. Es ist ein spannender und wunder-
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schöner Vorgang, ein Ensemble für ein Theater zusammenstellen zu dürfen, aber es ist natürlich auch mit schmerzhaften Gesprächen verbunden und man macht da – trotz dieses starken Bemühens, allen gerecht zu werden und alles miteinzubeziehen – sicher auch Fehler. Becker: Herr Yeginer, Sie sind aktuell Schauspieler am Staatstheater Mainz, davor waren Sie Schauspielchef am Stadttheater in Pforzheim. Gerade an einem kleineren Theater wie in Pforzheim brauche ich wahrscheinlich ein Ensemble, das relativ viel Unterschiedliches leisten, einen breiten Spielplan bedienen können muss. Da kann ich mir möglicherweise nicht komplett außergewöhnliche, schräge Schauspieler oder Schauspielerinnen leisten, sondern brauche eher den Mainstream, der alles spielen kann? Ist das so? Yeginer: Naja, das ist, denke ich, auch an größeren Häusern so. Aber klar, man versucht immer für sein Haus die besten und die tollsten Schauspieler/innen zusammenzufinden. Ich möchte aber noch kurz auf das eingehen, was Markus Müller sagte. Ich habe es bei der Auswahl nämlich ein bisschen anders gemacht und bei allen Bewerbungen die Schauspielschulen schwärzen lassen. Das war mir ganz wichtig: nicht die Schauspielschulen, sondern die Menschen zu engagieren. Es war mir auch ganz wichtig, mir für jeden, der zum Vorsprechen kam, eine Stunde lang Zeit zu nehmen und mit ihnen zu reden. Da konnte ich erkennen, ob man in so einem kleinen Ensemble überhaupt diese Homogenität findet, in diesen verschiedenen Schichten spielen zu können. Und das hat sich dann auch als vernünftig herausgestellt. Und dann sind wir schon auch nach dem Kriterium gegangen: Was brauchen wir? Welches Fach ist schon da, welches Fach muss noch besetzt werden? Da haben wir eine Vorauswahl getroffen und dann wurden die dementsprechend eingeladen. Becker: Welche Fächer sind das denn? Müller: Also wir sagen immer, es gibt keine Fächer mehr im Schauspiel. (zu Yeginer) Aber ich weiß ja nicht, wie das bei dir war. (lacht) Welches Fach bist du denn? (lacht) Yeginer: Ja, welches Fach bin ich eigentlich? Jugendlicher Liebhaber, glaube ich jedenfalls. (Lachen im Publikum) Nee, das war ich in Oldenburg, inzwischen bin ich ja alter Knacker – das wird aber auch besser bezahlt. (Lachen im Publikum) Ja, aber zurück zur Frage: Was brauche ich? Das liegt einfach an den Stücken, die ich machen möchte. Junge Leute brauchen wir. Man braucht einen jugendlichen Helden, sag ich mal. Dann den Naturburschen, dann braucht man durchaus auch die Grand Dame. Das heißt ja nicht, dass man dann nur noch das spielt, aber dass man ein unterschiedliches Ensemble hat. Wobei ich
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ehrlich sein muss: Mir haben diese Äußerlichkeiten gar nicht so viel bedeutet, das war mir gar nicht so wichtig. Mich haben mehr die Individuen interessiert. Also wir hatten durchaus auch Leute, die sich von der Physiognomie her ähnlich, aber vom Herangehen und vom Temperament ganz unterschiedlich waren. Das nimmt einem auch ein Zuschauer nicht übel, wenn da mal zwei ähnliche Typen auf der Bühne sind. Becker: Wie ist das jetzt bei Ihnen, Herr Müller? Sie meinten, Fächer gebe es gar nicht mehr. Nach welchen Kriterien holen Sie sich dann neue Leute in das Ensemble? Ist es wirklich egal, wer kommt? Ist es Ihnen auch recht, wenn es am Schluss 25 Frauen sind, solange sie alle gut sind? Müller: Wir haben tatsächlich im Vergleich zu anderen Häusern überproportional viele Frauen im Ensemble. Unter den aktuell 25 Schauspieler/innen sind 15 Männer und 10 Frauen und alle haben viel zu spielen. Gerade auch der Anteil an jungen Frauen ist bei uns relativ hoch. Was uns aber wichtig war und was es hier vorher am Haus nicht gab, war eine große Spreizung im Alter. Wir haben zum Beispiel eine Kollegin, die eigentlich schon im Rentenalter ist, und trotzdem noch fest im Ensemble engagiert und voll bezahlt ist, und fünf Kolleg/innen zwischen 50 und 60. Das heißt, wir versuchen die Aufgaben und die Rollen, die es gibt – sowohl in den klassischen Stoffen als auch in neuen Stücken –, adäquat besetzen zu können, dass man nicht zu sehr hoch- und runterspielen muss. Und natürlich hatten wir für unsere erste Spielzeit schon eine ganze Reihe an Produktionen im Kopf und damit ein hohes Interesse, das entsprechend gut zu besetzen. Becker: Sie haben ein interessantes Stichwort genannt, nämlich »adäquat besetzen«, das ich jetzt gerne an Frau Ludewig weitergeben würde. Frau Ludewig, Sie sind als Festivalkuratorin für die Wiesbaden Biennale zurzeit viel unterwegs und sehen sehr viele unterschiedliche Inszenierungen. Welche Rolle spielt es Ihrer Meinung nach, dass eine Inszenierung adäquat besetzt ist? Ludewig: Puh, also ich würde da jetzt erst einmal ganz anders anfangen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Stück von dem letzten Autor mit einem besetzten Ensemble gesehen habe, in dem Kontext, in dem ich gerade gucke. Da gibt es Menschen, die machen auf der Bühne was (lacht), und irgendwer hat sich das irgendwie auch ausgedacht. Und irgendwie wurden auch die Proben organisiert. Und dann steht da am Ende etwas und das findet auf einer Bühne statt. Und alles andere, würde ich sagen, also wer da jetzt was ist und was tut und wie das zusammengekommen ist, ist sehr unterschiedlich – vor allen Dingen im internationalen Kontext, weil ja das Ensembletheater, das wir hier in Deutschland haben, zumindest in dieser Breite und in dieser Tradition und
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mit diesem Anspruch, doch relativ besonders ist. Da ich hauptsächlich international gucke, ist das doch sehr anders. Und dann interessiert mich die Avantgarde, das heißt: Da habe ich es oftmals einfach mit Künstler/innen zu tun, die mit anderen Künstler/innen etwas zusammen machen. Deswegen bin ich in diesen Kategorien so verloren, weil wir da mit anderen Begriffen operieren, glaube ich. Becker: Wie war das in Ihrer Zeit als Regisseurin? Haben Sie sich für eine Inszenierung aus dem Bauch heraus die Leute gesucht, mit denen Sie arbeiten wollten? Wie ist eine Zusammenarbeit zustande gekommen? Ludewig: Als ich angefangen habe zu arbeiten, habe ich häufig immer mit denselben Leuten gearbeitet. Mit der »Ernst Busch« bin ich ja auf eine sehr klassische Hochschule gegangen und da gab es einen sehr engen Kontakt zu den Schauspieler/innen – das ist ja das Schöne an so einer Hochschule. Es entwickelte sich also ein Kreis von Leuten, die dann über viele Jahre hinweg zusammenarbeiteten. In den Jahren nach dem Studium ging das ein bisschen auseinander, weil viele doch in ein Stadttheater-Ensemble gingen und man jetzt nicht gleich eine Struktur fand, in der man das hätte weiterführen können. Insofern hat sich damals die Frage gar nicht so richtig gestellt – die waren einfach alle schon immer da. Und dann hat man einfach etwas zusammen gemacht. Ich hatte damals auch nie das Gefühl, dass ich hier irgendwas zu entscheiden habe. Die Situation war eigentlich immer die, dass man sich traf und dann entwickelte sich der Rest relativ organisch. Und auch später: Ich habe nie Vorsprechen gemacht, das war mir immer sehr fremd. Als ich zum Beispiel mit Bärbel Bolle arbeiten wollte, habe ich sie nie gebeten, ob sie mal was … (lacht) Da wäre ich gestorben oder vorher im Boden versunken. Ich habe immer die Kooperation mit eigenständigen Künstler/innen gesucht, die sich glücklicherweise auch oft so ergeben hat. Becker: Herr Reimann, Sie sind nicht nur Gründer und Leiter der akademie für darstellende kunst adk-ulm, sondern auch Leiter des angeschlossenen akademietheater ulm. Durch die direkte Verbindung von Ausbildungsstätte und Akademietheater arbeiten Sie vermutlich eher mit einem mehr oder weniger definierten Stab an Schauspielschülern und -schülerinnen. Das heißt, Sie sind relativ festgelegt in den Leuten, die Sie jeweils haben und besetzen können – oder sehe ich das falsch? Reimann: In der Vergangenheit war das sicherlich so, weil das Akademietheater einfach eine Funktion innerhalb der Ausbildung hatte. In unserer Akademie bilden wir Schauspieler/innen, Regisseur/innen, Dramaturg/innen und Theaterpädagog/innen aus. Die Regiestudierenden mussten also ausbildungs-
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bedingt bestimmte Stücke im Akademietheater inszenieren. In der Stückauswahl haben wir sie zwar ein bisschen gelenkt und geraten, vielleicht jetzt mal eine Komödie oder jetzt mal einen Klassiker zu machen. Aber der Spielplan wurde tatsächlich ausschließlich von Studierenden in Supervision von Dozent/innen bespielt – oder von Gästen, die für Rollen engagiert werden mussten, die Student/innen einfach nicht bewältigen konnten. Es hätte uns zum Beispiel niemand geglaubt, wenn jemand den Nathan spielt und gerade mal 20 ist, das macht keinen Sinn. Jetzt hat sich das bei uns etwas gewandelt: Der Ausbildungsbetrieb ist ein bisschen geschützter geworden und die, die wir für das Akademietheater engagieren, sind vermehrt ›richtige Schauspieler‹ (lacht). Da greifen wir natürlich hauptsächlich auf die zurück, die wir kennen, also die in den letzten 20 Jahren – wir sind am 1. März 2016 20 Jahre alt geworden – ihre Ausbildung bei uns absolviert haben. Weil wir sie einfach gut kennen, so wie man das auch macht, wenn man ein Ensemble zusammenstellt: dass man sich die Menschen holt, mit denen man schon zusammengearbeitet hat und mit denen man wieder zusammenarbeiten möchte. Wir engagieren für unsere Produktionen am akademietheater also schon vorwiegend Leute aus unseren eigenen Reihen, jedoch sowohl professionelle als auch angehende Schauspieler/innen. Becker: Herr Müller, wenn Sie auswählen, welche Rolle spielt denn das Aussehen, das heißt die Erscheinung eines Schauspielers/einer Schauspielerin für eine Besetzung? Müller: Also ich glaube, dass die Erscheinung an sich, das Aussehen, eine absolut untergeordnete Rolle spielt. Wir versuchen nicht nach Äußerlichkeiten, sondern immer nach der Überzeugung zu gehen: Wer kann die Aufgabe am interessantesten in der Konzeption der Regie und in Zusammenarbeit mit dem/der Produktionsdramaturg/in verkörpern? Wir engagieren nach Qualität und Überzeugungskraft. Wer dann im Ensemble ist, wird wiederum nach Anforderungen der Regie und intensivem Dialog in unserer Schauspielsitzung besetzt. Becker: Herr Yeginer, wie war das für Sie, als Sie in den 70er-Jahren die Schauspielausbildung angefangen haben? Hat Ihre türkische Herkunft damals eine Rolle gespielt? Yeginer: (Pause) Insofern, dass sich die Schauspielschule sehr gern damit geschmückt hat. Das war natürlich sehr schön – der erste türkische Schauspieler hatte auch noch einen sehr exotischen Klang. Das spielte schon eine Rolle, aber danach hat es überhaupt keine Rolle mehr gespielt. Ich habe direkt in Hamburg angefangen zu spielen und spiele eigentlich seit meinem 16. Lebens-
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jahr durch, wenn man so will. Da gab es die Problematik nicht. Interessanterweise gab es die immer beim Film. Also das ging immer los mit dem netten Gemüsehändler um die Ecke, der erste Satz war immer: »Oh, Herr Yeginer, Sie sprechen aber … Sie sprechen aber … Oh, äh, das ist sehr flüssig, was Sie da sprechen, können Sie nicht so … Können Sie nicht ein bisschen …?« – »Ja, was bisschen?« – »Ja, bisschen radebrechen?« Noch heute begegne ich dem übrigens, dass ich da stehe und irgendwelche Vetter spiele und (spricht nun mit vermeintlich türkischem Akzent) du musse mit diese Akzente spiele. (Lachen im Publikum) Das ist leider immer noch so beim Film, obwohl es sich da auch ganz langsam ändert. Aber im Theater hatte ich diese Probleme nie. Ich bin auch sehr dankbar, dass ich die nie hatte, deswegen bin ich auch dem Theater treu geblieben. Becker: Wie sind Sie in Ihrem eigenen Ensemble mit diesem Thema umgegangen? Yeginer: Da habe ich in der Tat Ausnahmen gemacht und darauf geachtet, dass ich sehr viele – eigentlich alle – Bewerber/innen mit migrantischem Hintergrund einlade. Ich wollte sie zumindest kennenlernen. Das war mir sehr, sehr wichtig, ihnen zumindest Mut zu machen. Ich konnte ja nicht alle engagieren. Das wollte ich auch nicht. Ganz nebenbei, einen migrantischen Hintergrund zu haben, heißt ja auch nicht, dass man gleich ein besserer Schauspieler/eine bessere Schauspielerin ist, das hat immer noch mit Qualität zu tun. Aber ich weiß, dass diese Leute in diesen Gesprächen unheimlich viel Kraft mitgenommen haben. Und drei, vier Migrant/innen hatte ich in meinem 12-köpfigen Ensemble. Aber ich muss da noch einen Satz hinzufügen: Ich bin nicht bereit der Migrationsonkel zu sein. Es ist einfach die Zeit. In den 70er-Jahren hätte ich mich ganz bestimmt für die Frauenrechte, für die Gleichberechtigung stark gemacht. Ich will damit sagen, dass ich mich nicht nur aufgrund meiner Wurzeln darauf stürze. Zum Teil bin ich dadurch zwar sozialisiert worden, jedoch ist es auch die Verantwortung des Theaters, die jeweilige Zeit, in der wir stehen, sozialkritisch zu kommentieren. Becker: Wir werden gleich noch einmal darauf zurückkommen, aber bleiben wir zunächst bei der Schauspielausbildung. Frau Ludewig, Sie haben schon angesprochen, dass Sie an einer großen, berühmten Theaterschule studiert haben, an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Als Zuschauerin begegnen Ihnen sicherlich einige der damaligen Schauspielschülerinnen und -schüler in unterschiedlichen Inszenierungen wieder. Haben die einzelnen Schauspielschulen denn eine bestimmte Art und Weise, wie sie ausbilden, sodass man immer erkennt, der oder die ist von der »Ernst Busch« oder kommt aus Leipzig, aus Hannover etc.?
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Ludewig: Ich kann mich nur in die Nesseln setzen, bei allem was ich jetzt sage. (lacht) Die »Ernst Busch« hat in den letzten Jahren einen starken Umbruch durchlebt, dadurch hat sich sicher auch vieles an der Schule verändert. Aber aus meiner Studienzeit weiß ich schon noch – allein aus den Zusammenarbeiten mit Student/innen der Universität der Künste (UdK Berlin) –, dass das oftmals andere Leute waren. Damals hatte ich das Gefühl, dass sich die UdK in ihrer Auswahl der Studierenden allein schon vom Äußerlichen her mehr getraut hat. In der »Ernst Busch« schien es mir – das hat sich aber vielleicht geändert –, dass es mehr um die Tradition und vielleicht auch das Klischee ging, wie man sich ein Gretchen vorstellt, eine Emilia Galotti oder eine Gräfin Orsina, und dass es da relativ klare Vorstellungen im Kopf gab, wie die auszusehen hatten. Und danach hat man, glaube ich, auch ausgesucht. Diese Vorstellungen waren sicherlich bei allen Professor/innen unterschiedlich, ich glaube nicht, dass man das über einen Kamm scheren kann. Jede/r dieser Professor/innen hatte aus seiner Theaterhistorie heraus sicher einen Background, aus dem heraus er oder sie diese Vorstellungen entwickelt hat. Ich glaube auch, dass wir das alle immer noch tun. Vielleicht hat sich das, was wir uns vorstellen können, geändert und geweitet, aber ich glaube, wir tun das alle die ganze Zeit. Das ist dieses Ähnlichkeitsprinzip: Wenn man selbst eine bestimmte Hautfarbe, einen bestimmten kulturellen Hintergrund oder was-auch-immer-alles hat, dann stellt man sich einen Hamlet vielleicht eher wie jemanden vor, der wie man selbst ist, wenn man sich identifizieren will. Das ist auch gar nicht so unnatürlich, aber das kritisch zu hinterfragen, ist ja gerade das, was wir heute tun, also: Kann und darf man immer von sich selbst ausgehen oder wie kann man diese Bilder verändern? Das war damals wahrscheinlich letzten Endes nichts anderes als heute, nur dass wir heute mit anderen Bildern operieren in unseren Hinterköpfen. Und wir sind nicht mehr bereit zu akzeptieren, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen, die in den Theaterleitungen, bei den Regisseur/innen und im Publikum überproportional vertreten ist, dieses Ähnlichkeitsprinzip unreflektiert anwendet und damit massiv prägt, wie wir alle auf unseren Bühnen repräsentiert werden. Becker: Die Schulen haben großen Einfluss darauf, wen wir auf der Bühne erleben, welche Körper wir sehen … Yeginer: Ja, es fängt tatsächlich dort an. Da gibt es ganz bestimmte Normen und Kriterien, nach denen Schauspielschüler/innen angenommen werden. Mir ist zum Beispiel immer wieder aufgefallen, dass man mit einem Temperament, das man nicht kennt, das aus einer anderen Kultur kommt, nicht so richtig umgehen kann. Genau da fängt es schon an. Ich habe mit vielen Jugendlichen gearbeitet, die aus anderen Kulturkreisen kamen, die lebendiger waren, sich kaum beherrschen, mit dem Körper irrsinnig umgehen, aber kaum etwas
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in eine logische Reihenfolge setzen konnten. Das kann man aber alles lernen. Das heißt nicht, dass man unbegabt ist, sondern dass es ein anderer Weg ist. Das ist ein Vorwurf, den ich Schauspielschulen mache, dass man da immer noch nach ganz uralten Kriterien arbeitet. Ludewig: Sorry, da muss ich jetzt aber eine Lanze für die Schauspielschulen brechen. Die würden nämlich den Schwarzen Peter sofort zurückgeben und sagen: »Naja, da gibt es keinen Markt für! Die können wir ja alle ausbilden, aber dann bleiben alle arbeitslos, weil die Theater die alle nicht einstellen werden.« Yeginer: Das mag ja alles sein, trotzdem ist es eben eine Tatsache … Ludewig: Ja, das ist so ein Huhn-und-Ei-Prinzip. Yeginer: Weil man nach bestimmten Kriterien auswählt. Nicht weil die später auch arbeitslos werden könnten, das Argument würde ich ja sogar noch verstehen. Aber es sind wirklich ganz bestimmte kulturelle Kriterien, die hier schon gesetzt sind, dass man gar nicht erst Leute nimmt, die diesen kulturellen Kriterien nicht entsprechen. Ludewig: Das gilt aber übrigens nicht nur für kulturelle Kriterien. Ich kenne den Fall einer Schauspielerin, mit der ich Anfang 20 – noch ohne Ausbildung, wie wir alle damals – sehr viel zusammengearbeitet habe. Sie hat parallel zu allen anderen vorgesprochen, doch während alle anderen an die großen Schulen gegangen sind, hat sie – ich weiß nicht wie oft – vorsprechen und sich richtig beleidigende Sachen anhören müssen, weil sie ein bisschen korpulenter war. Schon das war ein Ausschlusskriterium, also einfach: nicht schlank. Becker: Herr Reimann, die adk-ulm ist eine private, gemeinnützige, staatlich anerkannte Schauspielschule, die europaweit als einzige auch Menschen mit körperlichen Einschränkungen ausbildet. Solche Vorwürfe der Exklusion können ja nicht an Sie gerichtet sein – welche Zielgruppe sprechen Sie mit Ihrer Schule insgesamt an? Reimann: Wir suchen Menschen, die gerade nicht so dem klassischen Stadt-, Landes- und Staatstheaterbetrieb entsprechen, das heißt: Mehrfachbegabte, noch Unbestimmte in ihrer Begabung, alle, die mit Theater zu tun haben wollen, aber sich ebenso vorstellen können, nicht an ein kommunales Theater, Landestheater oder Staatstheater zu gehen.
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Becker: Was sagen Sie Ihren Schülerinnen und Schülern in Bezug auf ihre Zukunftschancen auf dem Arbeitsmarkt? Reimann: Wir versuchen die Ausbildung unter dem Aspekt durchzuführen, dass es eine Chance gibt, hinterher am Theater arbeiten zu können. Wir haben aber trotzdem immer allen gesagt: »Macht euch keine Illusionen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr ein festes Engagement an einem Theater bekommt, geht gegen null, gerade bei den Studierenden mit körperlichen Besonderheiten. Ihr werdet für Projekte engagiert werden und das war es dann.« Jetzt hat uns der Kollege Wiegand, seit der Spielzeit 2013/2014 Intendant am Staatstheater Darmstadt, eines Besseren belehrt und gleich zwei Menschen mit körperlichen Einschränkungen engagiert – neben Samuel Koch auch Jana Zöll, die bei uns ausgebildet worden ist. Sie hat die sogenannte Glasknochenkrankheit. Becker: Sie haben 1996 die adk-ulm gegründet, 2003 den integrativen Studiengang ins Leben gerufen. Ist diese Idee aus einer Not oder einem Wollen heraus entstanden, dass Sie gesagt haben: Das, was die anderen Schauspielschulen leisten, reicht nicht? Reimann: Nein, zunächst gar nicht. Dr. Peter Radtke, den George Tabori in den 80er-Jahren als ersten Schauspieler mit Glasknochenkrankheit spektakulär auf die Bühne der Münchner Kammerspiele gesetzt hat, kam damals auf mich zu und fragte: »Sag’ mal, wollt ihr nicht mal mit etwas Neuem anfangen? Ich habe überall auf den Weg zu bringen versucht, Menschen mit Körperbehinderung aufzunehmen und alle winken nur ab oder trauen sich nicht.« Daraufhin habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, dass wir ja immer voraussetzen, dass es eine physische und körperliche sogenannte Gesundheit gibt und dass diese eine Voraussetzung dafür sind, dass man an einer Schauspielschule aufgenommen wird. Das haben wir dann im Lehrerkollegium und mit den Studierenden diskutiert und entschieden: Wir machen das, wir probieren das einfach aus und lassen uns darauf ein. So war das. Becker: War die Umsetzung der Idee einfach? Reimann: Nein, ganz und gar nicht. Am Anfang sagten natürlich alle: »Ja, machen wir, ist in Ordnung.« Und dann kamen die ersten ›Mühen der Ebene‹, zum Beispiel die Einschränkungen, die der/die eine oder andere hatte und die natürlich den Unterricht beeinflusst haben. Wenn jemand eine Tetraspastik hat und alles sehr viel langsamer machen kann oder im Rollstuhl sitzt, müssen sich alle umstellen, komplett umstellen. Das hat zum Teil auch zu massiven Widerständen geführt. Schauspieler/innen sind mit einer gesunden Portion Egoismus ausgestattet und haben dann gesagt: »Ich habe keine Lust zu warten.
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Jetzt mach mal, komm mal in die Pötte!« Das war aber einfach nicht gegeben. Das ging dann auch nicht und wir mussten Nischen schaffen. Wir hatten beispielsweise eine Physiotherapeutin und einen Logopäden mit im Ensemble, sodass in diesen Situationen Einzelne aus dem Gruppenunterricht herausgenommen und solo unterrichtet werden konnten. Becker: Wie viele Menschen mit körperlichen Einschränkungen bilden Sie im Moment aus? Reimann: Im Moment bilden wir ungefähr den gesellschaftlichen Proporz ab, das heißt wir haben einen oder eine in jeder Klasse. Mehr verträgt, je nach Grad der Behinderung, eine Klasse mit maximal zehn Leuten auch nicht. Becker: Gibt es denn Grenzen, wo auch Sie sagen, das geht nicht, das können wir nicht leisten, oder wo es keinen Sinn macht, denjenigen oder diejenige für das Theater auszubilden? Reimann: Beim Festival Theater der Welt habe ich in Stuttgart 2005 eine Erfahrung gemacht, die mich ziemlich verändert hat. Da war eine japanische Tanztheatergruppe, Taihen mit Namen, die seit über 30 Jahren Tanztheater mit Schwerstbehinderten macht. Die konnten zum Teil überhaupt nur noch eine Bewegung vollziehen. Eine einzige Bewegung. Das haben sie in dieser Aufführung mit einer solchen Intensität und Kraft und Anmut gemacht, dass ich gesagt habe: Wenn man nur noch eine Bewegung machen kann und die so sein kann, dass es mich packt, dann geht alles. Und daraufhin haben wir noch einmal anders darauf geschaut und gesagt: Wenn ein sehr starker Wille da ist und eine Grundbegabung, die wir in ein, zwei Tagen überprüfen, wenn die Menschen zu uns kommen wollen, dann probieren wir das einfach – auch wenn wir viele Abbrecher/innen bei den Menschen mit körperlichen Einschränkungen haben, weil sie die Anstrengungen des Täglichen dann doch nicht schaffen. Becker: Was ist mit Menschen mit geistiger Behinderung? Reimann: Schaffen wir nicht. Das schaffen wir wirklich nicht. Das ist nochmal eine ganz andere Kategorie und da bin ich auch hilflos. Das müsste ich völlig separat versuchen. Integrativ kann ich mir das im Moment nicht vorstellen, obwohl ich viele Produktionen mit Darsteller/innen mit geistiger Behinderung gesehen habe. Da hatten es die Schauspieler/innen zum Teil schwer, gegen diese Authentizität anzuspielen. In Stuttgart bei Kaspar Hauser zum Beispiel haben die Schauspieler/innen ziemlich gekämpft, sie hat man gar nicht mehr angeschaut, weil ›das Andere‹ offensichtlich viel interessanter war – gar nicht
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so spektakulär, aber von einer Präsenz und von einer Unverstelltheit, die faszinierend war. Becker: Frau Ludewig, Sie sind ja viel unterwegs in Europa. Wie ist es in den anderen Ländern, sind Schauspieler bzw. Schauspielerinnen mit Behinderungen da sehr präsent? Ludewig: Es ist grundsätzlich, glaube ich, so, dass das Thema viel präsenter geworden ist. Jérôme Bels Disabled Theater zum Beispiel ist eine Produktion, die kreuz und quer durch Europa getourt ist. Oder nehmen wir die Arbeiten von Alain Platel. Was mir in diesem Zusammenhang immer wieder begegnet, ist, dass sich Theaterformen mit unter anderem körperlich oder geistig behinderten Schauspieler/innen über Jahre hinweg als Kunstform entwickeln – besonders in den freien Strukturen, in denen man sich für die Themen, die man hat, die Künstler/innen oder Partner/innen auf der Bühne sucht, die damit etwas anfangen können. An Platels Choreografien, auch wenn er gar nicht unbedingt mit Menschen mit Behinderung arbeitet, kann man das beispielweise gut sehen, wie die Körpersprache seiner Tänzer/innen, also sein choreografischer Stil, sehr geprägt ist von seiner therapeutischen Arbeit mit körperlich Behinderten und wie er das in eine ganz eigene Form transformiert. Das sind Beispiele, bei denen ich den Eindruck habe, dass sich diese Arbeiten sehr stark aus einem künstlerischen Impuls heraus, sozusagen als eine Notwendigkeit, ergeben haben, weniger aus einem Vorsatz. Becker: Sind das für Sie Beispiele, in denen Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung ›normal‹ respektive ›unsichtbar‹ eingesetzt werden? Oder bleibt deren Behinderung dennoch ausgestellt und Teil des Diskurses wie der Rezeption? Ludewig: Ich würde auf jeden Fall nicht sagen, dass der behinderte oder nichtbehinderte Körper da keine Rolle mehr spielt. Alle Schauspieler/innen haben ein Instrument und das ist der jeweilige Körper, die Stimme, das Erscheinungsbild. Und dieses Instrument ist bei jedem anders, absolut anders. Die Frage ist immer: Wie gut kann man auf diesem Instrument spielen? Kann man damit spielen? Das ist ja, was die Schauspielschulen beizubringen versuchen: dass man lernt, sein Instrument möglichst gut zu beherrschen. Jeder Schauspieler/jede Schauspielerin benutzt seinen/ihren Körper – so auch jede/r körperlich Beeinträchtigte – und man kann sich fragen, wie weit man mit dieser Benutzung des eigenen Körpers als Darsteller/in auf der Bühne gehen will; wo die eigene Grenze liegt, was man nicht tut. Da gehört zum Beispiel auch das Thema Nacktheit dazu oder wie mit einem weiblichen Körper auf der Bühne immer noch umgegangen wird, damit habe ich manchmal auch so
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meine Probleme. Aber sicherlich ist das Anschauen von Schauspieler/innen mit Behinderung immer noch mehr ein Dechiffrieren, weil wir als Nicht-Körperbehinderte einen anderen Blick darauf haben. Ich denke, die Frage, die Sie stellen, ist: Inwieweit benutzt ein/e Regisseur/in oder ein/e Künstler/in das explizit? Um es positiv zu sagen: Ich glaube, es gibt ein starkes Bewusstsein dafür, was man da tut und warum und wie man das tut. Das schließt das Benutzen nicht aus, aber es rahmt es vielleicht. Denn wie gesagt: Anders geht es nicht, man kann nicht nicht benutzen. Becker: Herr Müller, wie erleben Sie das etwa im Rahmen des Mainzer Theaterfestivals Grenzenlos Kultur, dem ältesten inklusiven Theaterfestival in Deutschland, das 2015 zum ersten Mal in Kooperation mit dem Staatstheater Mainz stattgefunden hat? Wenn Sie an Inszenierungen im Rahmen des Festivals denken – welche Rolle spielt die Behinderung für das Theatersehen und Theatermachen? Müller: Es ist tatsächlich manchmal so, dass man überhaupt nicht mehr über die Behinderungen und Einschränkungen nachdenkt und dass auch viele bei uns im Ensemble ein hohes Interesse an einem Austausch und inhaltlichen Miteinander haben. Dass wir keine/n Künstler/in mit Behinderung im Ensemble haben, ist weniger das Ergebnis einer aktiven Entscheidung. Zum einen hatten wir keine Bewerbung vorliegen und zum anderen sind wir nicht gezielt auf die Suche gegangen – weil das auch wieder eine Form von positiver Diskriminierung wäre, loszugehen und gezielt Schauspieler/innen mit Behinderung für das Ensemble zu suchen. Becker: Herr Reimann, Sie bilden scheinbar einfach nicht genug aus. Wie erklären Sie sich, dass für das Staatstheater Mainz niemand übrig bleibt? Reimann: Ich würde das Problem eher so formulieren: Die Literatur kennt nicht viele Menschen mit Körperbehinderung. Im Kinder- und Jugendtheaterbereich ist das ein bisschen anders, da wandelt es sich gerade. Ansonsten stellt sich die Frage: Kann man eine Rolle mit einem behinderten Schauspieler/ einer behinderten Schauspielerin besetzen, die gar nicht für eine/n Behinderte/n geschrieben ist? Das ist vielleicht eine Frage des Mutes und der Konzeption oder überhaupt einer Sensibilisierung für dieses Thema. Das gilt übrigens nicht nur für das Thema der Inklusion von Menschen mit körperlichen Einschränkungen auf der Bühne, sondern auch der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. Wir haben zum Beispiel einen Eritreer ausgebildet und auch ihm gesagt, dass das schwierig wird und jetzt ist er im Theaterhaus in Stuttgart fest im Ensemble. Alles ist möglich, wenn es gewollt ist.
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Becker: Das klingt, als würde die Literatur bestimmen, wen wir auf die Bühne lassen. Ist das so? Menschen mit anderen Körperlichkeiten, mit anderem Erscheinungsbild, anderem Sound sind also tendenziell von vornherein außen vor? Herr Müller schüttelt schon den Kopf. Müller: Wenn man voll auf Ensemble setzt, wie wir das tun, hat das natürlich Konsequenzen. Das muss man ja nicht, es gibt genauso viele Beispiele, wo mehr mit Gästen gearbeitet wird oder wo nur ein kleines Ensemble zur Verfügung steht und man deshalb mehr Gäste engagiert. Aber wenn das Ensemble als feste Größe gesetzt ist, dann braucht es vor allem eine vollständige Möglichkeit, mit der deutschen Sprache so umgehen zu können wie mit einer Muttersprache. In den anderen Sparten spielt das wiederum überhaupt keine Rolle. Ich habe 20 Tänzer/innen, zwei davon stammen aus Deutschland. Hautfarbe, Herkunft spielen da überhaupt keine Rolle. In der Oper ist es genauso. Wir machen ja alle Opern in der Originalsprache und da ist es für jeden und jede – wenn er/sie nicht Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch und Russisch als Muttersprache hat – das tägliche Brot, sich mit einer anderen Sprache auseinanderzusetzen und da sind Herkunft und Hautfarbe irrelevant. In der Oper ist ja das Stimmfach entscheidend und man kann dementsprechend nicht einfach nach Typ besetzen. In den 23 Jahren, die ich jetzt am Theater bin, ist es noch nie vorgekommen, dass die Hautfarbe in irgendeiner Weise eine Rolle gespielt hätte, auch nicht bei der Frage, ob ich jemanden engagiere oder nicht. Becker: Herr Yeginer, können Sie das denn so bestätigen? Kommt jede und jeder am deutschen Theater gut durch, solange sie oder er der hochdeutschen Sprache mächtig ist? Was sind Ihre Erfahrungen, sowohl als Schauspieler als auch als Schauspielchef? Yeginer: Ja, das kann ich bestätigen. Die Sprache steht natürlich im Vordergrund, besonders beim Schauspiel. Die Sprache, würde ich sagen, ist das Einzige, was im Vordergrund steht. Ich frage mich die ganze Zeit: Wir versuchen gerade zu normieren, aber das Besondere am Theater ist ja, dass wir nicht normiert sind. Das heißt also, das spielt überhaupt keine Rolle. Wenn es Spaß bringt, so ein Experiment zu machen oder da etwas auszuprobieren, ist es doch genau richtig. Warum soll sich das Theater als ehrwürdiges, altes Fossil nicht entwickeln dürfen? Zehn Regisseur/innen, zehn verschiedene Konzepte – das ist doch herrlich! Wir haben bis vor ein paar Jahren noch gar nicht damit leben können, dass Frauen Männerrollen spielen – das findet jetzt statt, findet immer öfter statt. Auch umgekehrt findet es statt, zwar selten, aber es muss ja auch nicht immer überall stattfinden. Wir können sagen: »Mensch, da in Darmstadt haben sie zwei körperlich behinderte Schauspieler/innen engagiert – ist doch toll! Dass die das auch noch umsetzen können, das ist ja großartig!«
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Muss Mainz das jetzt auch machen? Das sind so Fragen, die mich persönlich sehr beschäftigt haben, eben auch mit meinem migrantischen Hintergrund. Letztlich ist Theater ja Kunst. Theater heißt, etwas Neues zu erschaffen, auch mal scheitern, auch mal experimentieren zu dürfen – das gehört für mich alles dazu. Ludewig: Ich habe nicht das Gefühl, dass wir hier alle wie im Happyland wohnen, wo die ganze Zeit Cross-Dressing passiert und wir alles besetzen können, wie es uns gerade passt. Das liegt aber auch an den Leuten, die ins Theater gehen. Vielleicht müssen wir andersherum denken, wir müssen vielleicht vor allem unser Publikum für andere Sehgewohnheiten sensibilisieren. Es gibt ja eine bestimmte Erwartungshaltung, dass Hamlet weiß, heterosexuell und männlich ist; das ist schon immer noch zu 90 Prozent so. Ich finde die Haltungen, die hier vertreten werden, ja richtig und gut, aber der absoluten Realität im deutschen Stadttheater entsprechen sie noch nicht. Es wäre schön, wenn das so wäre. Aber ich glaube nicht, dass es so ist. Und auch aus einer weiblichen Perspektive gesprochen, ist es nicht so, dass wir 50 Prozent weibliche Intendant /innen hätten oder dergleichen. Da sind wir auch noch nicht angekommen. Ich will nur sagen: Ich glaube schon, dass wir in einer Zeit leben, in der es ein großes Bestreben danach gibt, bestimmte Dinge aufzubrechen. Aber ich glaube dennoch, dass wir immer noch damit zu tun haben, dass die Menschen, die auf der Bühne stehen, bestimmte Dinge repräsentieren und repräsentieren müssen. Das mag gar nicht unbedingt an den Macher/innen liegen, sondern auch an der Erwartungshaltung des Publikums – in Deutschland erzählt es eben immer noch etwas, wenn Hamlet nicht weiß ist. Es ist nicht selbstverständlich, sondern wird sofort zum Thema. Es wird in der Zeitung stehen, es wird darüber geredet werden, es wird nicht selbstverständlich sein. Und dabei ist es, glaube ich, egal, ob es dem Regisseur/der Regisseurin egal ist. Müller: Jetzt müssen wir aber ein bisschen weiter streiten: Ich finde, genau das Gegenteil ist der Fall. Wir haben 34 Nationen hier am Staatstheater Mainz, bei 332 Mitarbeiter/innen haben wir über 40 Prozent Kolleg/innen mit Migrationshintergrund. Das ist völlig selbstverständlich und spielt überhaupt keine Rolle, das hat nie jemand thematisiert. Es hat auch niemand etwas dazu gesagt, dass jetzt Murat Yeginer den Nathan spielt. Wir haben bisher nur ausverkaufte Vorstellungen. Ich glaube, das ist völlig selbstverständlich in einer Stadt wie Mainz mit 40.000 Studierenden, mit einer Migrationsgeschichte, die vor 2000 Jahren angefangen hat. In den eindreiviertel Jahren plus anderthalb Jahren Vorbereitung hat mich nie jemand angesprochen und gefragt, warum denn die Sängerin oder der Sänger die Nationalität X oder Y habe. Ich lerne hier, dass das in Mainz keine Rolle spielt.
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Ludewig: Ich wusste, ich setze mich in die Nesseln. Yeginer: Nein, überhaupt nicht! Ich würde unterstreichen, was Sie gesagt haben, das meinte ich vorhin nämlich auch. Ich würde ebenso sagen, das ist eine ganz normale Entwicklung, auch in der Kunst. Es ist ja nicht so, dass das von heute auf morgen geht – das sind die Möglichkeiten, die wir anpacken und auch annehmen müssen. Sie haben vorhin die Intendantinnen oder Theaterleitungen angesprochen. Das ist natürlich im Vergleich mit den männlichen Leitern ein Witz. Ich ärgere mich wahnsinnig, dass es nur Shermin Langhoff am Gorki gibt. Ich musste damals schmeißen, weil ich merkte, dass ich mit meinen Wurzeln da nicht weiter komme. Das funktionierte nicht. Auch da muss die Zeit kommen und reif sein. Ich habe einfach nur ein Plädoyer für das Theater gehalten, dafür, dass wir eben die Möglichkeiten haben, das zu entdecken und umzusetzen. Und wer weiß – in ein paar Jahren ist vielleicht auch das Normalität. Dass ich als Türke unterwegs bin, sage ich jetzt mal bewusst, ist immer noch Thema, ja. Nicht hier in Mainz, aber es ist immer noch ein Thema. Wenn ich mich bewerbe, wird erst einmal die Frage gestellt: Kann der überhaupt diese Sprache? Immer noch. Nach 57 Jahren. Ludewig: Um das noch einmal zu unterstreichen: Ich glaube sofort, dass das funktioniert. Die Frage ist, wie man die gradualen Verschiebungen sieht. Wie lange leben Menschen mit türkischem Migrationshintergrund schon in Deutschland? Ich würde sagen, mindestens 40 Jahre. Und jetzt allmählich ist es okay, dass das auch auf der Bühne angekommen ist – ich sage das bewusst ein bisschen polemisch. Aber es gibt ja noch Menschen, die für das weiße Auge irgendwie noch viel fremder aussehen. Der gesellschaftliche Wandel oder der graduelle Wandel davon findet sicher in den Theatern statt, aber immer mit einer gewissen Verzögerung – mit einer Rücksicht darauf, was zum aktuellen Zeitpunkt als ›normal‹ angesehen wird. Ich bin jetzt wirklich die Polemikerin hier: Also Menschen mit einer bisschen dunkleren Hautfarbe, die nur ein bisschen anders aussehen, finden wir jetzt schon okay, ob wir demnächst aber auch okay finden, dass Hamlet nicht mehr komplett weiß ist, das sehen wir dann – wann das irgendwie normal ist und nicht mehr Thema ist. Reimann: Was die künstlerischen und auch strukturellen Entwicklungen betrifft, ist es tatsächlich so, dass solche Veränderungen oftmals eine Frage der Zeit oder des ›richtigen‹ Zeitpunkts sind. Als wir 2003 mit dem integrativen Studiengang angefangen haben, haben wir nach einem Kuratorium gesucht, das die Idee unterstützt, weil wir natürlich Widerstand bekommen haben. Ich hatte damals ein langes Gespräch mit Thomas Quasthoff. Weil er ja am eigenen Leib erlebt hat, dass er an der Hochschule nicht genommen wurde, und zwar mit der Begründung, man könne einem Publikum nicht zumuten, den ganzen
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Abend auf einen Krüppel zu schauen, sagte er eher zynisch: »Na, bedient ihr wieder eine Nische? Wollt ihr mal etwas für Behinderte tun?« Seine Karriere hat das natürlich alles ziemlich relativiert, denn er war ja der beste Bariton, den wir hatten, und seine Behinderung spielte keine Rolle mehr – schließlich hat er sogar noch eine Professur an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler« in Berlin bekommen. Das finde ich den Treppenwitz schlechthin. Becker: Wir können uns also, denke ich, darauf einigen, dass in den letzten Jahren etwas in Bewegung gekommen ist, aber es reicht noch nicht aus. Auch wenn wir heute Abend keine Lösungen gefunden haben, so haben wir doch interessante Anstöße bekommen. Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen, dass Sie alle so engagiert mitdiskutiert und auch den einen oder anderen Angriff tapfer pariert haben. Vielen Dank, dass Sie da waren!
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Dr. Kristin Becker studierte und forschte in Mainz, Chicago und Berkeley und promovierte 2012 zu Wissen(schaft)sinszenierungen (Affe, Mond und Meer. Inszenierungen von Wissen und Wissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Berlin: Kadmos, 2014). Die Theater- und Kulturwissenschaftlerin arbeitet als Journalistin für SWR und ARD und schreibt als Kritikerin für die Fachzeitschrift Theater heute. Marcel Behn M.A. studierte Englische Literaturwissenschaft und Theater-/ Tanzwissenschaft in Erlangen und Bern. Er ist Doktorand am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern und forscht dort im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds SNF geförderten Projekts »Offene Manipulation. Figurentheater als Movens spartenübergreifender Theater-, Tanzund Musiktheaterforschung« zu den Wechselverhältnissen zwischen Figurentheater und Tanz. Franziska Burger M.A. studierte Theaterwissenschaft und Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bern und der Universität Leipzig. Am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern arbeitet sie an ihrer vom SNF mit einem Doc.CH-Stipendium geförderten Dissertation über das Verhältnis zwischen menschlichen Spieler/innen und der künstlichen Spielfigur im gegenwärtigen Figuren- und Objekttheater. Nadine Civilotti M.A. studierte Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte, Pädagogik und Psychologie in Mainz und Valencia. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft (Bereich Theaterwissenschaft) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Dissertation befasst sich mit neuronalen Implikationen der Interrelation von repräsentationaler Praxis und Denksystemen. Dr. Veronika Darian ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig und hat an der FU Berlin und der
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Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gelehrt. Aktuell forscht und publiziert sie zu den Schwerpunkten Theater des Alter(n)s und der Dinge, Biografie und Narration in Theater, Tanz und Performance sowie Theater in Gesellschaft(en) in Transformation. Dr. Frederike Gerstner studierte Theaterwissenschaft und Ethnologie in Mainz und Berlin mit den Schwerpunkten Race Theory, African American Studies und Performance Theory. Von 2011 bis 2014 nahm sie am International Programme of Performance and Media Studies (IPP) der Johannes GutenbergUniversität Mainz teil. Ihre Dissertation Inszenierte Inbesitznahme. Blackface Minstrelsy in Berlin um 1900 erscheint 2017 im Metzler Verlag. Maxi Grotkopp M.A. studierte Theaterwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Philosophie an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit Februar 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Kunst-Paare« (FU/MPIB) und widmet sich hier insbesondere den Arbeiten der Performance-Künstler/innen Marina Abramović und Ulay. Univ.-Prof. Dr. Beate Hochholdinger-Reiterer ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Bern mit den Forschungsschwerpunkten Gegenwartstheater, Theater, Dramatik und Schauspieltheorien des Aufklärungszeitalters, des 20. und 21. Jahrhunderts, Genderforschung. Ihre Habilitationsschrift Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als Erfindung der Auf klärung ist 2014 im Wallstein Verlag erschienen. Mitherausgeberschaften: Arbeitsweisen im Gegenwartstheater (2015); Spielwiesen des Globalen (2016). Benjamin Hoesch M.A. studierte Theaterwissenschaft und Literaturwissenschaft in Mainz, Valencia und Tel Aviv. Seit dem Abschluss 2013 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Mainz und studierte bis 2017 Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Er koorganisierte und -kuratierte die Festivals Theatermaschine 2014 und DISKURS 15. Die eigene Ko-Regiearbeit FLIMMERSKOTOM wurde zum Körber Studio Junge Regie und zum Festival Radikal Jung eingeladen. Dr. Eva Holling studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Kunstgeschichte und Französisch in Frankfurt und Paris. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und Mitherausgeberin der Zeitschrift Nebulosa. Veröffentlichungen u.a.: Ist alles gespielt? Blicke auf den Stadtraum im neuen Theater (2007, Tectum-Verlag); Übertragung im Theater: Theorie und Praxis theatraler Wirkung (2016, NeofelisVerlag).
Beiträger/innen
Dr. Stefanie Husel promovierte interdisziplinär aus der Theaterwissenschaft und der Soziologie betreut zum Theater Forced Entertainments. Dem gingen eine zehnjährige enge Zusammenarbeit mit der Gruppe sowie zahlreiche »Feldaufenthalte« voraus. Schwerpunkte ihrer Forschung liegen in der Praxeologie zeitgenössischen Theaters und in ethnografischen Verfahrensweisen der Theaterforschung. Derzeit ist sie am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft (Bereich Theaterwissenschaft) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz tätig. Katrin Hylla M.A. studierte Schauspiel in Berlin und Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Sie leitet im Kollektiv das Theater im G-Werk Marburg und ist Teil der künstlerischen Produktionsgemeinschaft german stage service, wo sie als Regisseurin und Programmkoordinatorin tätig ist. 2014/15 war sie Theaterpädagogin mit Schwerpunkt auf Bürger/innenprojekte am Hessischen Landestheater Marburg, wo sie ihre Abschlussarbeit Mothering realisierte. Ihre Inszenierung mit dem internationalen Jugendensemble DEINE WELT ist zu den Hessischen Theatertagen 2017 eingeladen. Prof. Dr. habil. Anja Klöck ist Professorin für Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Von 2006 bis 2012 leitete sie dort ein DFGForschungsprojekt zur Schauspielausbildung in Deutschland zwischen 1945 und 1989. Theaterarbeit in den Bereichen Regie, Schauspiel, Performance, Dramaturgie. Publikationen zur historischen Avantgarde, zu Schauspiel- und Mediendiskursen seit der frühen Neuzeit, Theater und Politik sowie Gegenwartstheater. Ellen Koban M.A. studierte Theaterwissenschaft, Sportwissenschaft und Pädagogik in Mainz und Santiago de Chile. Seit 2010 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der JGU Mainz und dort seit 2013 als Projektmitarbeiterin und Doktorandin der DFG-Forschergruppe 1939 »Un/doing Differences« tätig. Veröffentlichungen im Bereich des Gegenwartstheaters und der theaterwissenschaftlichen Geschlechterforschung. Univ.-Prof. Dr. Doris Kolesch studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik, Philosophie und Publizistik in Mainz und Paris und ist seit 2002 Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zu den Schwerpunkten ihrer mehrfach ausgezeichneten Forschung gehören u.a. Stimme und akustische Kultur, Theatralität und Performativität sowie die kulturwissenschaftliche Affekt- und Emotionsforschung. Sie ist KoSprecherin des im Sommer 2015 eingerichteten Sonderforschungsbereichs 1171
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»Affective Societies«, in dem sie ein Forschungsprojekt zu affektiven Dynamiken in immersiven Theaterformen leitet. Univ.-Prof. Dr. Friedemann Kreuder ist Leiter der Abteilung Theaterwissenschaft am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft sowie des theaterwissenschaftlichen Teilprojekts der DFG-Forschergruppe 1939 »Un/doing Differences« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Publikationen zu Richard Wagner, zum Geistlichen Spiel, zum Theater der frühen Neuzeit und des 18. Jahrhunderts und zum Gegenwartstheater. Julia Lind M.A. studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an den Universitäten Mainz und Wien. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Dissertation »Alfred Matusche und Lothar Trolle – Grenzgänger des DDR-Theaters« wurde von der Stipendienstiftung Rheinland Pfalz gefördert. Maria Magdalena Ludewig studierte Philosophie, Germanistik und Medienkultur in Hamburg und Berlin sowie Schauspielregie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin. 2008 gründete die freischaffende Produzentin und Regisseurin gemeinsam mit Martin Hammer u.a. das Produktionsteam Union Universal, mit dem sie zahlreiche Projekte zwischen Bühnenund Stadtraum meist auf Grundlage recherchierter Materialien entwickelte. Seit 2016 sind Martin Hammer und sie die Kurator/innen der Wiesbaden Biennale am Hessischen Staatstheater Wiesbaden. Anika Marschall M.A. lehrt und promoviert seit 2015 an der Universität Glasgow über interventionistische Theaterpraktiken und Menschenrechte. Ihre Arbeiten wurden u.a. in Critical Stages (2016), SYN (2014) und DIENADEL (2013) publiziert. Sie engagiert sich mit ihrer Forschung im Glasgow Refugee, Asylum and Migration Network für die Rechte von Flüchtlingen und Asylbewerber/innen. Markus Müller ist seit der Spielzeit 2014/15 Intendant und Geschäftsführer des Staatstheaters Mainz. Er studierte Betriebswirtschaftslehre, Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Bamberg, Erlangen und Mannheim. Nach seinem Studium arbeitete er als Schauspieler und Regisseur am Bamberger E.T.A.-Hoffmann-Theater sowie als persönlicher Referent des Generalintendanten am Nationaltheater Mannheim (1998-2001); von 2001 bis 2005 war er dort stellvertretender Generalintendant. Von 2006 bis 2014 leitete er als jüngster Intendant Europas das Oldenburgische Staatstheater, bevor er in dieser Funktion ans Staatstheater Mainz wechselte.
Beiträger/innen
Dr. Sophie Merit Müller promovierte in der Soziologie Mainz über das Moment des Perfektionierens im Ballett, das sie in einer ethnografischen Studie unter anderem an ihrer eigenen Ausbildung zur Tänzerin untersuchte. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen im Bereich der Praxistheorien, der Soziologie des Körpers und des Wissens sowie der qualitativen Methoden, insbesondere der Ethnografie. Sarah Ralfs M.A. studierte Theaterwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Paris VIII Vincennes-Saint Denis. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin, davor war sie DFG-Stipendiatin im Graduiertenkolleg InterArt. 2016 promovierte sie mit der Arbeit »Theatralität der Existenz. Ethik und Ästhetik bei Christoph Schlingensief«. Ralf Rainer Reimann ist Leiter der akademie für darstellende kunst adk-ulm und Intendant des daran angeschlossenen akademietheater ulm. 1996 gründete er die staatlich anerkannte Akademie in freier Trägerschaft, die seit 2003 als einzige Schauspielschule europaweit einen integrativen Studiengang »Schauspiel« für Menschen mit körperlichen Einschränkungen anbietet. Er ist Dozent für Schauspiel und Rolle sowie als Autor, Regisseur und Bühnenkomponist tätig. Dr. Katharina Rost ist Stipendiatin des Programms »Exzellente Wissenschaftlerinnen für die Universität Bayreuth«. Sie arbeitet an einem Forschungsprojekt zu Gender Performances im Pop. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin tätig, wo sie zu Klanglichkeit und Hören im Gegenwartstheater promovierte (Sounds that matter. Bielefeld: transcript, 2017). Sie gehört der AG »Gender« der Gesellschaft für Theaterwissenschaft an. Nikola Schellmann M.A. ist seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am In stitut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft (Bereich Theaterwissenschaft) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2015 erschien ihre Monografie Ich sehe was, was du nicht hörst. Zur Produktivität des Abwesenden im (Theater)Raum im Marburger Tectum Verlag. 2017 ist sie Teilnehmerin des ersten Jahrgangs im Universitätslehrgang »Kuratieren in den szenischen Künsten« an der Paris Lodron Universität Salzburg. Prof. Dr. Jenny Schrödl ist Juniorprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin (Schwerpunkt Gegenwartstheater und Performancekunst) und leitet die Junior Research Group »Kunst-Paare. Beziehungsdynami-
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ken und Geschlechterverhältnisse in den Künsten« (FU/MPIB). Im Rahmen des SFB »Kulturen des Performativen« promovierte sie 2010 mit einer Studie zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater (Vokale Intensitäten. Bielefeld: transcript, 2012). Seit 2014 ist sie Leiterin der AG »Gender« der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Dr. Constanze Schuler studierte Theaterwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Mainz und Wien. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Dramaturgin promovierte sie im Rahmen des DFGGraduiertenkollegs »Raum und Ritual« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Der Altar als Bühne. Die Salzburger Kollegienkirche als Aufführungsort der Festspiele. Tübingen: Francke, 2007). Seit 2007 ist sie Akademische Rätin am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft (Bereich Theaterwissenschaft) in Mainz. Dr. Philipp Schulte ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen sowie Referent der Hessischen Theaterakademie. Von 2012 bis 2014 leitete er den Internationalen Festivalcampus der Ruhrtriennale. Als Dramaturg betreut er v.a. freischaffende Solokünstler/innen und Kollektive. Schulte ist Autor und Mitherausgeber zahlreicher Bücher und Aufsätze, v.a. zu zeitgenössischer Performance Art zwischen Popularität und Widerständigkeit. Er lehrt u.a. an der Norwegischen Theaterakademie. Prof. Dr. Julia Stenzel ist seit 2012 Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft an der JGU Mainz. Studium der Dramaturgie/Komparatistik an der LMU München, Promotion 2007, danach Postdoc-Projekt zur szenischen Antikepolitik im Vormärz. Sie ist Mitglied (seit 2011) und Sprecherin (seit 2016) im Jungen Kolleg der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Theorien und Praxen der Historiografie, Theater und Medien, Kulturwissenschaft und Cognitive Science, Attisches Theater im Vormärz, Institutionalität und Medialisierung der Oberammergauer Passion. Hanna Voss M.A. studierte Theaterwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Wirtschaftswissenschaften an der JGU Mainz und ist dort seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft (Bereich Theaterwissenschaft). Derzeit arbeitet und promoviert sie im theaterwissenschaftlichen Projekt der DFG-Forschergruppe »Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung« zu Ethnizität in der Institution des deutschen Sprechtheaters. Julian Warner M.A. studierte Theaterwissenschaft, Amerikanistik und Ethnologie an der LMU München. Seit Oktober 2015 ist er wissenschaftlicher Mit-
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arbeiter am Institut für Kulturanthropologie der Georg-August Universität Göttingen. Seine Schwerpunkte sind Black Diaspora Studies, Rassismus- und Popkulturforschung. Univ.-Prof. Dr. Matthias Warstat ist seit 2012 Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Von 2008 bis 2012 war er Professor für Theater- und Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Studium der Theaterwissenschaft und Neueren Geschichte in Berlin. Promotion 2002 (Theatrale Gemeinschaften. Tübingen/Basel: Francke, 2004). Habilitation 2008 (Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters. München: Fink, 2011). Forschungsschwerpunkte: Theater und Gesellschaft, Theatralität des Politischen, Theorien des Ästhetischen, Theatergeschichte der Moderne. Prof. Dr. Benjamin Wihstutz ist Juniorprofessor für Theaterwissenschaft an der JGU Mainz. Zuvor war er Mitarbeiter im SFB »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der FU Berlin und promovierte dort zu dem Thema Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlungen im Gegenwartstheater (Zürich: diaphanes, 2012). Forschungsschwerpunkte: Politik und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Theater um 1800, Performance und Behinderung. Mitherausgeberschaften u.a.: Performance and the Politics of Space: Theatre and Topology (London/New York: Routledge, 2013); Disabled Theater (Zürich: diaphanes, 2015); Transformative Aesthetics (London/New York: Routledge, 2017). Murat Yeginer ist seit der Spielzeit 2014/15 Schauspieler am Staatstheater Mainz, zudem freier Regisseur und Autor. Nach der Schauspielausbildung in Hamburg hatte er erste Festengagements an den Bühnen in Saarbrücken und Kiel. Zwischen 1987 und 2008 war er als Ensemblemitglied und Regisseur am Staatstheater Oldenburg sowie parallel als Marketing-Berater und künstlerischer Leiter von verschiedenen Festivals sowie der Freilichtbühne Lohne tätig. Von 2008 bis 2015 arbeitete er hauptamtlich als Schauspieldirektor am Theater Pforzheim, bevor er ins Festengagement als Schauspieler ans Staatstheater Mainz wechselte. Oliver Zahn studierte Regie an der Bayerischen Theaterakademie in München. Mit seiner Kompanie HAUPTAKTION entstanden u.a. die Performances SITUATION MIT AUSGESTRECKTEM ARM (Nominierung als bester Nachwuchskünstler in der Kritiker/innenumfrage 2015 des Fachmagazins Theater heute) und SITUATION MIT DOPPELGÄNGER, die international erfolgreich touren, sowie 2016 Oh wie wohl ist mir am Abend, eine Produktion über (post-) koloniale Erinnerungskulturen. Diese Arbeiten verstehen sich als performative Essays zwischen Diskurs, Konzepttanz und ethnografischer Studie.
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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)
Choreografischer Baukasten Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 � (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book PDF: 26,99 � (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3
Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)
Tanzpraxis in der Forschung — Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 � (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8
Marion Leuthner
Performance als Lebensform Zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Performance-Kunst. Linda Montano, Genesis P-Orridge und Stelarc 2016, 384 S., kart. 34,99 � (DE), 978-3-8376-3742-7 E-Book PDF: 34,99 � (DE), ISBN 978-3-8394-3742-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater- und Tanzwissenschaft Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.)
Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (unter Mitarbeit von Sarah Wessels) 2016, 664 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 � (DE), 978-3-8376-3603-1 E-Book PDF: 39,99 � (DE), ISBN 978-3-8394-3603-5
Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.)
Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance 2016, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 � (DE), 978-3-8376-3420-4 E-Book PDF: 39,99 � (DE), ISBN 978-3-8394-3420-8
Tania Meyer
Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit 2016, 414 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 � (DE), 978-3-8376-3520-1 E-Book PDF: 39,99 � (DE), ISBN 978-3-8394-3520-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de