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German Pages 264 [265] Year 2010
Avanessian · Hofmann (Hrsg.) Raum in den Künsten
transversale
Armen Avanessian · Franck Hofmann (Hrsg.)
Raum in den Künsten Konstruktion – Bewegung – Politik
Wilhelm Fink
Dieses Buch ist im Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität Berlin entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt. Die Arbeit von „transversale“ am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und am Institut d’allemand der Université Paris III wurde unterstützt durch das Zentrum für Bewegungsforschung an der Freien Universität Berlin (Leitung: Gabriele Brandstetter)
Umschlagabbildung: Filmstill aus Faceless, Regie: Manu Luksch, London 2007. Screendesign und Entwicklung: Torsten Jahnke, mitchum d.a. Programmierung: Michael Martin, kominform
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2010 Wilhelm Fink Verlag, München Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4658-9
INHALTSVERZEICHNIS
ARMEN AVANESSIAN Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. HISTORISCH-THEORETISCHE GRUNDLAGEN GÉRARD RAULET Geschichtsräume. Über Raum, Zeit und Bewegung im modernen ästhetischen Denken . . . . .
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ARMEN AVANESSIAN Ekelhafte Vereinigungen von Raum und Zeit. Robert Musils Novelle Die Vollendung der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ANDREAS HAUS „Dynamisch-konstruktives Kraftsystem“. Eine Pathosformel des „gestalteten Raums“ . . . . . . .
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FRANCK HOFMANN Boden, Weg, Horizont. Le Corbusiers Konzeption von Landschaft als „ästhetischer Raum“ . . . . 65 GEORGES DIDI-HUBERMAN Die Erde bewegt sich unter den Schritten des Tänzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VOLKER PANTENBURG Raum erfahren. Zur Automobilisierung der Blicke und Landschaften im Kino . . . . . . . . . . . .
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2. STICHPROBEN MARKUS MESSLING Reiseleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 KIRSTEN MAAR Die Erfindung der Kartographie im Modus des Choreographischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 ISA WORTELKAMP Choreographien der Landschaft. Feldstudien von Junko Wada und Hans Peter Kuhn . . . . . . . . 127 J. EMIL SENNEWALD Linien ziehen. Räumlichkeit von Zeichnung und Handlung im Bildprozess . . . . . . . . . . . . . . 137 ANGELA LAMMERT Trisha Brown – Tänze auf Papier und Zeichnungen in der Luft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
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INHALTSVERZEICHNIS
ANNA HUBER Raum nehmen | Raum geben. Ein Gespräch mit Isa Wortelkamp über das Projekt umwege . . . 159 OLIVER KORTE Leere Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 INGRID ALLWARDT Raum der Musik – Spielräume des Hörens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 BENJAMIN WIHSTUTZ: Heterotope Resonanzen. Romeo Castelluccis Inferno und die Topologie des Theaters. . . . . . . . 181
3. POLITISCH-TECHNISCHE REKONFIGURATIONEN CAROLIN HÖFLER Performanz der Form. Prozessorientiertes Entwerfen in der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 TINO SCHAEDLER UND MICHAEL J. BROWN Für eine cineplastische Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 EYAL WEIZMAN Durch Wände gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 JACQUES RANCIÈRE Die Politik des Topografen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 ARMEN AVANESSIAN Gesichter und Geschichten des Raumes. Von technologischen und fiktionalen Räumen . . . . . 233 MANU LUKSCH Moonwalk in Echtzeit. Ein Interview in Zitaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 *** FRANCK HOFMANN Europa – ein politisch-choreographischer Raum? Einführung zu Transversale und DVD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
4. ERKUNDUNGEN – KÜNSTLERISCHE ARBEITEN AUF DER DVD MARKUS MESSLING Ägyptische Miniaturen Trilogie über die Sprache Wanderungen
INHALTSVERZEICHNIS
CHRIS ZIEGLER Wenn einer eine Reise tut… Körper und Raum im interaktiven Roadmovie 66movingimages Forest 2 – another midsummer nights’s dream. Raum für Medienkunst im Theater OLIVER KORTE / WERNER GASSER Rien Nul | Zero MARA KUROTSCHKA Beijing Moves MARTIN NACHBAR / JOCHEN ROLLER Mnemotic Nonstop. Ein kartographisches Duett ANNA HUBER / FRITZ HAUSER Umwege. Berlin, Potsdamerplatz 2002 PETER WELZ Retranslation JUNKO WADA / HANS PETER KUHN Feldstudien MANU LUKSCH Faceless Mapping CCTV around Whitehall Ylitepsa Myriorama TRyPTICHON TARIQ TEGUIA Gabbla TINO SCHÄDLER Back Breaker. Deep Sea Stadium ROMEO CASTELLUCCI Inferno BENJAMIN HOCHART Dodécaphonies XYZ (gemeinsam mit Sarah Tritz)
Kurzbiographien
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ARMEN AVANESSIAN
Einleitung
Schon mit zwei früheren Publikationen partizipierte Transversale an dem anhaltenden kulturwissenschaftlichen Interesse an Fragen nach dem Raum. Auch in vorliegendem Sammelband geschieht dies freilich mit einem speziellen ästhetischen Fokus. So versteht sich dieses Buch zunächst als Kommunikator: zwischen unterschiedlichen Dimensionen (kunst)wissenschaftlicher und künstlerischer Betrachtungen über Raum und Räumlichkeit sowohl aus allgemein philosophisch-ästhetischer Sicht als auch aus der Sicht der einzelnen Künste. Ziel ist nicht nur eine Engführung unterschiedlicher philosophischer, politischer und ästhetischer Ansätze. Vielmehr werden literatur- und kunstwissenschaftliche Überlegungen nicht nur über Künstler, Literaten oder Architekten, sondern auch von diesen selbst angestellt. Im Zentrum steht dabei hier durchgehend ‚Bewegung‘ im Sinne eines ‚bewegten Raumes‘, der sich immer auch als dynamisch und kinetisch modulierter darstellt. Ein solcher ‚Raum in Bewegung‘ ist keinesfalls als nachträglich verzeitlichter misszuverstehen. Denn als aisthetisch wahrnehmbare sind künstlerische Räume nie nur statische oder simultane, ist Raum also nie nur fixierter Rahmen, neutraler Hintergrund oder indifferenter Behälter zeitlichen Geschehens. Für solche spätestens seit der Romantik als aktive oder aktiviert gedachte Räume – vorliegender Band konzentriert sich auf künstlerische und ästhetische Positionen aus dem 20. Jahrhundert – erübrigt es sich, den ästhetischen ‚Raum‘ in Opposition zur modernistischen Leitkategorie ‚Zeit‘ zu verstehen. Gegen Kants These einer unfühlbaren – und in der Logik der Simultaneität der zeitlichen Sukzession entgegengesetzten – Anschauungsform a priori ‚Raum‘ sind bewegte Räume stets schon aufdringlicher Gegenstand der Wahrnehmung. Wenn mit Wolfgang Kemp „Kunst als ‚geschichtlicher Gradmesser des Raumbewußtseins‘“1 zu verstehen ist, dann soll damit keinesfalls aus nunmehr spezifisch literatur- und kunstwissenschaftlicher Sicht der von den Kulturwissenschaften ausgerufene spatial turn bezweifelt werden, er soll vielmehr eine andere Gewichtung und ästhetische Präzisierung erhalten. Der erste Abschnitt widmet sich historisch-theoretischen Grundlagen des ästhetischen Raumdenkens und setzt zunächst systematisch ein mit dem geschichtlichen Zusammenhang von „Raum, Zeit und Bewegung im modernen ästhetischen Denken“ (so der Untertitel von Gérard Raulets Beitrag). Auch Robert Musils Auseinandersetzung und Übersetzung naturwissenschaftlicher (wahrnehmungspsychologischer, physikalischer) Raumtheorien in die poetologische und literarische Fragestellung seiner kubistischen Novellen (vgl. den Beitrag von Armen Avanessian) zeigt schon eine für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts grundlegende (Zeit- und) Raumästhetik. Dieser korrelieren entsprechende Fragen: nach der gestalterischen Produktion des Raumes quasi a posteriori; nach den Differenzen zwischen physikalischem, philosophischem (etwa dem ‚gestimmten Raum‘ phänomenologischer Provenienz) und ästhetischem Raum; nach dessen taktilen oder haptischen Qualitäten; nach medien- und sinnesspezifischen Differenzen in Raumaufbau und -wahrnehmung. Sowohl in ihrer theoretischen als auch künstlerischen Tätigkeit haben László Moholy-Nagy und El Lissitzky in den 20er und 30er
1 So Wolfgang Kemp (Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996, S. 13) unter Bezugnahme auf Carl Schmitt; zur Romantik vgl. den von Inka Mülder-Bach und Gerhard Neumann herausgegebenen Band Die Räume der Romantik, Würzburg 2007.
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ARMEN AVANESSIAN
Jahren auf unterschiedliche und jeweils exemplarische Weise eine Aktivierung des Raumes angedacht und diese als Dynamisierung oder Kinetisierung konzeptualisiert (vgl. dazu den Beitrag von Andreas Haus). Zur gleichen Zeit hat Jeremija Joffe solche Überlegungen um eine explizit materialistische Dimension erweitert. Für ihn erstreckt sich Bewegung durch den Raum und durchfließt diesen. „Raum und Zeit“ sind so verstanden „Formen der Bewegung der Materie“.2 Diese ontologische Hypothese in ihrer sowohl körperlichen wie auch physikalischen Dimension erkundet Georges Didi-Huberman in seiner mit Husserls Phänomenologie argumentierenden Analyse einer ‚tänzerisch bewegten Erde‘. Auch hier ist es die leibliche Erfahrung und an konkrete Medien gebundene Ausübung von Kunst, welche eine grundsätzliche Bewegtheit der Materie selbst offenbart. Was für die (scheinbar) abstrakte Kategorie Raum und für die Materie selbst gelten soll, das hat selbstverständlich auch Konsequenzen für das Verständnis des konstruktiven Gehalts und der Gestaltungsmöglichkeiten der Erdoberfläche. Konsequenterweise kommen in vorliegendem Band Fragen nach architektonischer Raumgestaltung immer wieder auch unter dem Zeichen von Landschaft in den Blick. Exemplarisch deutlich für den zu Beginn fokussierten Zeitraum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der raumtheoretische Zusammenhang von Bewegung und Landschaft in Le Corbusiers urbanistischen Programmschriften (vgl. den Beitrag von Franck Hofmann). Aus einer anderen medientechnischen und historischen Perspektive lässt sich die Frage nach einem filmischen Er-fahren des Raumes und der Landschaft stellen (vgl. Volker Pantenburgs parallele Diskussion der medienspezifischen Disposition des Kinos und des Topos des Roadmovies). Der hier vertretene kunsttheoretisch-ästhetische Anspruch, der bei der Auswahl der Beiträge ein so umstrittenes Kriterium wie dasjenige ästhetischer Kreativität oder Avanciertheit stark zu machen suchte, der also, um Kant zu paraphrasieren, unter künstlerischem Ingenium die ‚Gemütslage‘ versteht, ‚durch welche die Natur der Technik die Regel gibt‘, steht somit durchgehend in Spannung zu technik- oder wissenschaftsgeschichtlichen Reduktionen und medienontologischen Hypostasierungen. Letztere waren gleichwohl, gerade wenn es um die Frage nach Zugriff und Affinität einzelner künstlerischer Medien zum Raum geht, seit Lessings semiotischer Ausdifferenzierung von Raum- und Zeitkünsten fester Bestandteil kunsttheoretischer Raumdiskussionen. So lässt sich Lessings ‚bequemes Verhältnis‘ noch in Walter Benjamins filmtheoretischen Überlegungen aufspüren.3 Und nicht anders als zu Zeiten Moholy-Nagys verleiten auch heute (medien)technologische Versprechen zu emphatischen Prophezeiungen, die stets zu ästhetisch indifferenten Hierarchisierungen von Kunstformen und Verfahrensweisen neigen. Der zweite Abschnitt zu gegenwärtigen Stichproben in unterschiedlichen Kunstfeldern schließt mit durchgängig gegenwartsbezogenen Studien an die historisch weiter ausholenden und teilweise systematischer ausgerichteten Beiträge des ersten Teils an. Zu Beginn wird in Markus Messlings Essay zum „Reiseleben“ (die dazugehörigen literarischen Texte finden sich auf der DVD) das Landschaftsthema
2 Ich zitiere Joffe (Sintetičeskoe izučenie iskusstva i zvukovoe kino, Leningrad 1937, S. 140) nach Anke
Hennig: „Das kontinuierliche Dauern der Veränderung. Jeremija Joffes synthetisches Kunstkonzept“, in: Kinetographien, hrsg. v. Inke Arns, Mirjam Goller, Susanne Strätling, Georg Witte, Bielefeld 2004, S. 115–137. 3 Zu einer diesbezüglichen Kritik Benjamins vgl. Karlheinz Stierle, „Das bequeme Verhältnis – Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums“, in: Gunter Gebauer (Hrsg.), Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart 1984, S. 23–58. Zu Kants Definition einer „angeborne[n] Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“ vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werkausgabe, Bd. X, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1992, B 181 f.
EINLEITUNG
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wieder aufgegriffen und in den folgenden Beiträgen dann unter choreografischen Gesichtspunkten weiter diskutiert. So zeichnet Kirsten Maars Beitrag zur „Erfindung der Kartografie im Modus des Choreografischen“ nach, was durch Isa Wortelkamps Überlegungen zu „Choreografien der Landschaft“ ergänzt wird. Auch die historischen Skizzen in den anderen Aufsätzen dieses Abschnitts sind jeweils mit Blick auf gegenwärtig relevante kunsttheoretische Fragestellung geschrieben. Dies wird besonders deutlich im Blick auf kartografische Versuche einer Aufzeichnung von Bewegung. Gleiches gilt aber auch für die in vorliegendem Band zentrale Frage nach der Möglichkeit einer Ausweitung eines Verständnisses des Choreografischen hin auf reale Landschaftsräume und -wege sowie auf alltägliche Bewegungsabläufe in diesen. Das Interesse gilt hierbei stets auch neuen Aufzeichnungsmöglichkeiten, die zu einer (intensivierten) Wahrnehmung des Raumes führen (vgl. dazu Gespräch und Video mit Anna Huber). Ein anderer Aspekt in diesem Zusammenhang ist die Kombination von performativen Aufführungsorten, nicht zuletzt in öffentlichen oder mit historischer Bedeutung aufgeladenen Räumen (zu der auch politischen Konnotation der theatralen Produktion von Heterotopien vgl. hier Benjamin Wihstutz über Romeo Castelluccis Dante-Inszenierung in Avignon). In J. Emil Sennewalds Aufsatz zur „Räumlichkeit von Zeichnung und Handlung im Bildprozess“ wird neben der Öffnung künstlerischer Aktionen auf die konkrete Raumsituation von Stadträumen noch ein weiterer für diesen Abschnitt durchgehend wichtiger Aspekt deutlich: die analog der Überkreuzung der Sinne zu denkende Kombination unterschiedlicher Künste und ihrer verschiedenen raumproduzierenden Verfahrensweisen. Eine der leitenden Hypothesen dieses Bandes betrifft dabei das Aufeinanderprallen unterschiedlicher aisthetischer Raummodellierungen. Im Zusammentreffen der Künste und der ihnen vermeintlich fest eingeschriebenen Sinneslogiken lösen sich die traditionellen Gesetzmäßigkeiten beider tendenziell auf. Die Verwirrungen oder gar das Zusammenbrechen von Raum und Zeit, genauer: der strikten Trennung von Nah- und Fernsinnen intensivieren sich mit inter-, multi- oder transmedialen Kunstwerken. Und analog dazu wird mit der zunehmenden Verwirrung naturalisierter Unterscheidungen – etwa derjenigen von Raum- und Zeitkünsten – Raum selbst aufdringlich: als dynamisierter, zeitlicher, als von keiner simultanen Logik mehr beherrschter bewegter Raum. Dass dieser Abschnitt immer wieder Fragen nach Notationsmöglichkeiten von Raum aus spezifisch tanzwissenschaftlicher Perspektive streift, ist somit kein Zufall. So zeichnen sich die Arbeiten des Bildhauers Peter Welz durch eine mediale Ausweitung des Interesses für skulpturale Gestaltung aus; die Frage nach der Bewegung räumlicher Figuren wird bei ihm Teil einer additiven Serie: Forsythe wird dabei gefilmt, wie er nach Bacons Malerei tanzt, und dieser Tanz notiert sich gleichzeitig in raumstrukturierenden Bodenspuren. Unterschiedliche Entwicklungsstufen der Integration von Tanz und Zeichnung lassen sich auch im Werk von Trisha Brown nachvollziehen (vgl. den Beitrag von Angela Lammert), wobei die Verschmelzungsstufen der beiden Künste jeweils andere Räumlichkeitsmodelle und -effekte implizieren. Dem transversalen Anspruch dieses Bandes entsprechend sind die beiden musikwissenschaftlichen Beiträge in engem Austausch entstanden. Oliver Korte reflektiert in seinem Werkstattbericht zudem über das in Reaktion auf seine Komposition rien nul entstandene Video zero von Werner Gasser (auf der beigelegten DVD). Für die Musikwissenschaftlerin Ingrid Allwardt ist Luigi Nonos ‚Raumoper‘ Prometeo ein paradigmatischer Beleg sowohl für obige These einer Raumsensibilisierung durch Konfrontation unterschiedlicher künstlerischer Verfahrensweisen als auch für einen raumästhetisch bedeutenden musikwissenschaftlichen Paradigmenwechsel. Spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die durch traditionelle musikalische Notationstechniken festgeschriebene und unreflektiert tradierte Vorrangstellung von ‚Tonhöhe‘ und ‚Tondauer‘ vor vermeintlich peripheren Kategorien wie ‚Intensität‘ und ‚Klangfarbe‘ durchbrochen. Dem entsprechen musikpsychologische Anwendungen phänomenologischer und psychologischer Differenzierungen (etwa Dürckheims ‚gelebter Raum‘) auf musikästhetischem Gebiet. Albrecht Wellek etwa hat zwischen einer durch das Ohr vermittelten
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ARMEN AVANESSIAN
räumlichen Orientierung in einem ‚Gehörraum‘, ‚Tonraum‘ und der Musik eigentümlichen ‚Musikraum‘ qua ‚Gefühlsraum‘ unterschieden.4 Der letzte Abschnitt des Bandes zu politisch-technischen Rekonfigurationen des Raumes thematisiert die andauernden utopischen Versprechen neuer Medien und des ihnen eingeschriebenen Potenzials zur Erzeugung und zeitlichen Modellierung von solchen dynamischen und kinetischen Räumen, wie sie schon den historischen Avantgarden der ersten Jahrhunderthälfte vorgeschwebt haben mögen. Auf der einen Seite steht somit ein technologisches, genauer: digitales Versprechen zum Entwerfen offener Zukunftsräume (zu den Architekten Friedrich Kiesler, Peter Eisenman und Greg Lynn vgl. in diesem Band Carolin Höfler). Die aus immer komplexeren Computerprogrammen resultierenden kreativen Möglichkeiten zeigen sich auf besonders interessante Weise im Schnittbereich von Architektur und Film. So geben Michael J. Brown und Tino Schaedler – unter Bezugnahme auf Elie Faures De la Cineplastique von 1922 – einen Einblick in die gegenwärtig sich vollziehenden strukturellen Veränderungen in ihrem durch die Überkreuzung von Film und Architektur markierten Tätigkeitsfeld. Den durch zunehmend digitale Filmsets motivierten Deterritorialisierungen stehen auf der anderen Seite nachdrückliche Belege für die ambivalente Neutralität der neuen Technologien ebenso wie der durch diese ins Alltagsbewusstsein gerückten nichteuklidischen Raumgeometrie gegenüber. So kann ein avancierteres aisthetisches Raumverständnis – und nicht nur überlegene kriegstechnologische Ausrüstungen – direkt in erfolgreichere Kampfstrategien umgemünzt werden. Eyal Weizman zeigt in seinem Aufsatz auf eindringliche Weise die tödliche Effizienz revolutionärer Raumtheorien und -philosophien (etwa von Nomadologie und glattem Raum) in den Händen von poststrukturalistisch versierten Kriegsgenerälen. In Jacques Rancières Beitrag über Tariq Teguias Film Gabbla, „Die Politik des Topografen“, werden eine Vielzahl der in diesem Band berührten Schwerpunkte und Phänomene (Landschaft, Fortbewegung, Linie) in ihrer nicht einfach poetischen, sondern auch politischen Bedeutung sichtbar. Fragen nach der Erzählbarkeit von Raum, nach dem Spannungsverhältnis von Ästhetischem (Fiktionalem, Narrativen) stehen auch in dem kurzen Essay zu Manu Lukschs Film Faceless im Vordergrund. Am Ende des Bandes findet sich dann ein schriftlicher Dialog mit der Filmemacherin, in dem die Künstlerin sowohl über ihren Film wie über ihre medienaktivistischen Tätigkeiten Auskunft gibt. Abschließend kommen so noch einmal diverse aktuelle raumpolitische Probleme zur Sprache. An der Stelle von Fragen stehen hier jedoch kurze Zitate politischer, soziologischer und philosophischer Raumtheoretiker der letzten Jahrzehnte, die in ihrer politischen Aktualität und ästhetischen Relevanz auch für die Konzeption des vorliegenden Bandes von Bedeutung waren.
Dieser Sammelband geht auf eine von der Thyssen-Stiftung geförderte Tagung an der Akademie der Künste Berlin zurück. Unterstützt wurde die Publikation vom Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ der FU Berlin, an dem Michael Lüthy und Rita Iwan-Frank stets zu spontaner Hilfestellung bereit waren. Torsten Jahnke erarbeitete die konzeptionellen Grundzüge der DVD, die von Holger Hartung ideenreich redaktionell betreut wurde. Sylvia Zirden besorgte umsichtig das Lektorat. Ihnen allen, insbesondere aber Mariama Diagne für die Betreuung der einzelnen Beiträge und die Unterstützung bei der Redaktion des gesamten Bandes, gilt der Dank der Herausgeber.
4 Albrecht Wellek, Musikpsychologie und Musikästhetik. Grundriss der systematischen Musikwissenschaft, 2., durchges. u. erw. Aufl., Bonn 1975.
1. HISTORISCH-THEORETISCHE GRUNDLAGEN
GÉRARD RAULET
Geschichtsräume Über Raum, Zeit und Bewegung im modernen ästhetischen Denken
I. So wie die epochemachende Entdeckung des 17. Jahrhunderts der Raum gewesen ist – „denn der wahre Skandal von Galileis Werk ist nicht so sehr die Entdeckung, die Wiederentdeckung, daß sich die Erde um die Sonne dreht, sondern die Konstituierung eines unendlichen und unendlich offenen Raums, dergestalt, daß […] der Ort einer Sache nur mehr ein Punkt in ihrer Bewegung [war], so wie die Ruhe einer Sache nur mehr ihre unendlich verlangsamte Bewegung war“1 –,
so ist das 18. Jahrhundert das Zeitalter der Entdeckung der Zeit gewesen. Und zwar nicht nur der geschichtlichen Zeit. Was die Physik des 17. Jahrhunderts als Bewegung im Raum konzeptualisierte, erfasste das 18. Jahrhundert zugleich als Bewegung in der Zeit. Ja, man kann die Behauptung wagen, dass die Bewegungen im Raum erst recht als Bewegungen wahrgenommen wurden, als sie zugleich als zeitliche Positionen aufgefasst wurden. Kants apriorische Schemata des Raums und der Zeit drücken diesen Zusammenhang aus. In der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft meint Kant ganz eindeutig, „daß der Begriff der Veränderung und mit ihm der Begriff der Bewegung (als Veränderung des Orts) nur durch und in der Zeitvorstellung möglich ist“.2 Wenn der Raum „die reine Form aller äußeren Anschauung“ ist, heißt es weiter, so ist die Zeit „die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt“.3 Weil nämlich „alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstand haben oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüts, zum inneren Zustande gehören, dieser innere Zustand aber unter die formale Bedingung der innern Anschauung, mithin der Zeit gehöret, so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußern Erscheinungen. […] So kann ich aus dem Prinzip des inneren Sinnes ganz allgemein sagen: alle Erscheinungen überhaupt, d. i. alle Gegenstände der Sinne sind in der Zeit und stehen notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit“.4
Daraus folgt, dass die Zeit als apriorischer Rahmen aller Wahrnehmung nicht als solche Gegenstand einer Wahrnehmung sein kann; sie ist „etwas Bleibendes und Beharrliches“, worin „aller Wechsel der Erscheinungen gedacht“ wird, aber das als solches allem Wechsel enthoben ist. Wenn dem so ist, dann folgt freilich aber auch, dass wir von der Zeit keine Vorstellung haben können ohne die konkreten Veränderungen, die sich in ihr abspielen, wie es dann die transzendentale Dialektik hinzufügt: „Die Zeit geht zwar als formale Bedingung der Möglichkeit der Veränderungen vor diesen objektiv vorher, allein subjektiv und in der Wirklichkeit des Bewußtseins ist diese Vorstellung doch nur, so wie jede
1 Michel Foucault, „Andere Räume“, Typoskript eines Vortrags am Cercle d’Etudes Architecturales [Paris 1967], in: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 36. 2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956, Bd. 3, „Transzendentale Ästhetik“, § 5, S. 80. 3 Ebd., § 6, S. 81, Hervorh. v. mir, G. R. 4 Ebd.
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GÉRARD RAULET
andere, durch Veranlassung der Wahrnehmungen gegeben“.5 Und gerade das verweist uns umgekehrt auf die Bewegungen im Raum, wobei dieser, der ja als apriorischer Rahmen ebenfalls „keine Eigenschaft irgend einiger Dinge“6 ist, keine Realität besitzt außer den Bewegungen, die in ihm geschehen. Er ist zwar „kein Wahrnehmungsgegenstand“, wohl aber „das System der Aktionen, Verhältnisse der bewegenden Kräfte“.7 Wichtig ist dabei das physische Paradigma der Kraft, auf welches ich noch zurückkommen werde. Mich interessiert aber zunächst die Unumgänglichkeit der Bewegung, die sich aus Kants Erörterung der apriorischen Schemata der Wahrnehmung ergibt. Denn auch für die damals erst entstehende Ästhetik bilden diese Überlegungen – auch wenn Kant selber sie nicht ausdrücklich auf das Problem der ästhetischen Wahrnehmung angewendet hat – einen aufschlussreichen Hintergrund. Auf eigenen Wegen ist nämlich die noch junge Ästhetik, die sich von den Banden der überkommenen Poetik loszureißen suchte, zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen, die den Akzent auf die zentrale Bedeutung der Bewegung setzen. Auf die Frage „Was tun wir, wenn wir ästhetisch erfahren?“ wusste die herkömmliche Theorie bestenfalls nur platonisch zu antworten: Wir schauen. Anschauung war für sie Schau, Kontemplation. Der Pol, zu dem diese tendierte, war die Ruhe, nicht die Bewegung – wie sehr Winckelmann auch die schönen Leibesübungen der jungen Athleten im Gymnasium ebenso bewundert wie die edle Einfalt und die stille Größe der griechischen Statuen. Für ihn gilt der Grundsatz, dass „in allen Stellungen, die von dem Stand der Ruhe zu sehr abweichen, die Seele sich nicht in dem Zustande [befindet], der ihr der natürlichste ist“.8 Allenfalls war schon diese Berücksichtigung der Bewegung ein Zeichen dafür, dass für ihn die Schönheit gleichsam die stille Oberfläche innerlich bewegter Zusammenhänge war. Das drückt er durch eine Metapher aus, die – aber das ändert den Sinn nicht – die Tiefe, das heißt die wesentlichere Sphäre der Ideen, der bewegten Welt der Phänomene entgegensetzt: „So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüthen, eben so zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.“9 Daran – an dem Verhältnis zwischen der schönen Oberfläche und deren stürmischem Unterbau und an seiner Darstellung – entzündete sich die epochemachende Laokoon-Debatte. Infolge seines platonisierenden Kampfes gegen den Barock hatte Winckelmann die neue Weltanschauung, die sich im 17. Jahrhundert dem barocken Menschen aufgedrängt hatte, verkannt und missachtet. Er hatte den Umbruch unterschätzt, der das kontemplative Verständnis der Kunst untergraben und unmöglich gemacht hatte. Weil der Bruch zwischen dem Diesseits und der Welt der Ideen sich vertiefte, kehrte sich aber das Verhältnis um: Die Dialektik wurde gebrochen durch die kaum noch zu bewältigende Vielfalt, Mehrdeutigkeit und Beweglichkeit der phänomenalen Welt. Die Vorliebe des Barock für das trompe l’oeil und für die Verkleidung, die mit seinem übermäßigen Hang zur Allegorie einhergeht und gegen welche Winckelmann sich im Namen der Nacktheit und Durchsichtigkeit so sehr empörte, ist der Ausdruck dafür, dass es nichts Bleibendes gibt, dass alles vorläufig ist und sich ständig verändert. Alles ist Oberfläche, aber diese Oberfläche ist alles andere denn ruhig. Dieses Gefühl steigert der Barock zu den Arabesken in der Musik eines Monteverdi und zu den Peripetien und dem Furor der Kampfszenen in Honoré d’Urfés Roman L’Astrée. An dieser Explosion der Beweglichkeit musste Winckelmanns Gegenoffensive umso unvermeidlicher scheitern, als die gesamte Episteme auf die Erkenntnis der Bewegung und die Überwindung der Substanzenmetaphysik drängte. 5 Ebd., Bd. 4, „Transzendentale Dialektik“, „Die Antinomie der reinen Vernunft“, „Vierter Widerstreit“, S. 434. 6 Ebd., Bd. 3, „Transzendentale Ästhetik“, § 3, S. 75. 7 Immanuel Kant, „Opus postumum“, in: Altpreußische Monatshefte XIX, 1884, S. 617. 8 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Stuttgart 1969, S. 21. 9 Ebd., S. 20.
GESCHICHTSRÄUME
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Bekanntlich subvertierte Lessing in seinem Laokoon Winckelmanns Auffassung der Darstellung, indem er den Blick auf den „prägnanten Augenblick“ konzentrierte. Dieser war der Inbegriff einer gelungenen Versöhnung von Raum und Zeit. In ihm wurde die Bewegung nicht eigentlich zur Ruhe gebracht, vielmehr war der prägnante Augenblick ein mit Bewegung und Zeitlichkeit saturierter Stillstand, der das Vorhergehende und Folgende des Zustandes erkennen lässt. Man hat von den „Grenzen der Malerei und Dichtung“ eine verkürzte Vorstellung, wenn man Lessings Traktat dahin interpretiert, dass er eine Scheidung der Kompetenzen und eine Neubegründung der Gattungsunterschiede angestrebt hätte. An Lessings prägnanten Augenblick hat nämlich Goethe anknüpfen können, um in seiner eigenen Interpretation des Laokoon zu zeigen, dass auch die bildende Kunst, wenn auch mit eigenen Mitteln, dieser Konzentration gerecht werden kann. Selbst für diejenigen, die sich nicht vorbehaltlos zu ihr bekannten, wurde die Lessing’sche Theorie zum festen Referenzpunkt der Debatten über die Darstellungsweisen und Darstellungsmöglichkeiten der Künste. Wenn Simmel in seinen „Bruchstücken aus einer Philosophie der Kunst“ sie in Frage stellt, dann nur um die Bewegtheit noch stärker hervorzukehren und sie nicht nur der „Phantasie“ des Zuschauers zuzuschreiben, sondern zu einer „Qualität gewisser Anschauungen“ der bildenden Künste zu machen: „Wir sprechen von ‚bewegten Gestalten‘ in der bildenden Kunst. Allein, was bewegt sich denn überhaupt im Bilde? Da sich die gemalte Figur selbst doch nicht bewegt wie im Kinematografen, so kann es natürlich nur heißen, daß die Phantasie des Beschauers angeregt wird, sich die Bewegung zu und von dem dargestellten Moment zu ergänzen. Aber gerade gegen dieses scheinbar Selbstverständliche habe ich Bedenken. Prüfe ich mich genau, was mir denn innerlich beim Anblick des fliegenden Gottschöpfers in der Sixtina oder der zusammensinkenden Maria auf Grünewalds Kreuzigung bewusst wird, so finde ich das geringste von Stadien vor und nach dem dargestellten Moment. Dies wäre auch ganz unmöglich, denn wie eine Gestalt von Michelangelo in einer anderen als der von ihm selbst gezeigten Attitude aussehen würde, kann der Beschauer S nicht konstruieren. Es wäre dann eine S’sche Gestalt, aber nicht mehr eine michelangeleske, es wäre also gar nicht ein Bewegungsmoment eben der Gestalt, um die es sich handelt. Vielmehr, in einer Art, die sich von der Wahrnehmung einer realen Bewegung wohl nur nach Intensität und Komprimiertheit unterscheidet, ist die malerische Geste unmittelbar mit Bewegtheit geladen. Es ist ihr, so paradox es klingt, immanent und nicht erst durch ein Vorher und Nachher ihr supponiert, daß sie eine Bewegungsgeste ist: Bewegtheit ist eine Qualität gewisser Anschauungen.“10
Lessing selbst war allzu sehr ein Geschichtsdenker, um sich mit einer simplen Arbeitsteilung der Künste zufriedenzugeben. Ihm ging es vielmehr darum zu zeigen, dass die Herausforderung, mit der alle Künste konfrontiert sind, die Darstellung der Bewegung und ihre Wahrnehmung durch den Rezipienten ist und dass sie infolgedessen alle in demselben Maße, wenn auch mit verschiedenen Mitteln, auf eine Vermittlung zwischen Zeit und Raum angewiesen sind. In dieser Hinsicht ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass er von konkreten ästhetischen Fragen ausgehend Kants erkenntnistheoretische These vorweggenommen hat, nach der von den beiden Schemata des Raums und der Zeit ersteres qua Bewegung auf letzteres angewiesen ist und dieses umgekehrt nur dann konkret wird, wenn es sich in der Bewegung im Raum verkörpert. Homer neigt ja, wie Lessing in seinem Laokoon zeigt, immer dazu, Zustände in Vorgänge zu übersetzen, „das Koexistierende in ein wirkliches Sukzessives zu verwandeln“11, und wenn sie Körper zu schildern hat, dann tut es die Dichtung in ihrem zeitlichen Medium, indem sie diese „andeutungsweise durch Handlungen“ darstellt. Die Folge von Lessings Bekämpfung des horazischen ut pictura poesis ist freilich die gewesen, dass man alle bildenden Künste dem Raum zugeschrieben hat und dass ihnen gegenüber die Dichtung im Vorteil sein soll, weil sie ja auf den Stillstand im Raum nicht angewiesen sei. Geschweige denn die Musik, wie Herders Weiterspinnen an dieser Unterscheidung zwischen Künsten des Raums und 10 Georg Simmel, „Bruchstücke aus einer Philosophie der Kunst“, in: Gesamtausgabe, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Bd. XIII, hrsg. v. Klaus Latzel, Frankfurt am Main 2000, S. 176. 11 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1964, S. 127.
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Künsten der Zeit in seinen Kritischen Wäldern es dann behauptet hat. Einerseits gebe es Künste, „die Werke liefern“ (bildende Kunst und Malerei), andererseits Künste, die „durch eine ununterbrochene Energie wirken“ (Poesie, Musik, Tanz).12 Diese Auffassung hat Schule gemacht und hat sich gleichsam als festes Vorurteil etabliert. Man begegnet ihm nicht zuletzt in der ganzen philosophischen Anthropologie, die mehr oder weniger explizit an Herder anknüpft und – das muss sofort bemerkt werden – in aller Regel, sei es bei Plessner oder bei Gehlen, zu einem sehr konservativen Verständnis von Kunst führt. Plessner, der seine Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes als einen Beitrag zu den beiden Disziplinen der Erkenntnistheorie und der Ästhetik – und insbesondere zur „Diskussion über die Grenzen zwischen bildender Kunst und Musik“13 – verstand, verweist in seiner Einführung auf „das tragikomische Schauspiel der Verwirrung der Sinne im Expressionismus“ und meint, dass „die unselige Anarchie seiner letzten Apologeten ein Zeichen [sei] für den Mangel an Einsicht in die Wesensgrenzen von Auge und Ohr“.14 Der neueren Malerei wirft er ihre aussichtslose Bemühung um eine „Erneuerung des bildnerischen Bewußtseins aus dem Geist der Musik“, um ein „Musizieren in Farben“ vor.15 Ihr Glaube, dass optischer und akustischer Stoff vertauschbar seien, habe nur „zu völliger Unlesbarkeit des malerischen (oder plastischen) Gehalts geführt“, ja, der radikale Impressionismus müsse „in der einfachen Dekoration des gemalten Teppichs“ münden. Picasso habe schließlich die Sackgasse erkannt und sei „zu klassischer Objektivität“ zurückgekehrt – „ein Zeichen wenigstens, daß man die Grenzen von bildender Kunst und Musik als Wesensgesetze und nicht mehr als bürgerliche Vorurteile zu werten beginnt“.16 Freilich ist Plessners Ästhesiologie bei genauerem Hinsehen viel nuancierter, als sie auf den ersten Blick scheinen mag. Nicht nur lässt sich die späte Anthropologie der Sinne (1970) auf die neuesten künstlerischen Leistungen in Musik und bildender Kunst ein, sondern schon Die Einheit der Sinne räumte ein: „Daß Musik nicht als einzige der Künste Bewegung formt, wird noch klarer durch die Dichtung bewiesen. Verse und Prosa geben den Zug der Rede zugleich im Ablauf von Rhythmen, der bildhaft und klanglich als Nacheinander der Bewegung sich entrollt.“17 Auch Herder selbst hat sich nie so eindeutig für die Musik ausgesprochen. Vielmehr betonte er, dass die Musik in der Sukzession sich erschöpfe und dass „Malerei ganz durch den Raum [wirke]“18, so dass die Poesie bei genauerem Hinsehen die einzige energische Kunst sei, die außer in der Zeit auch im Raum wirke. Er definierte das „Wesen der Poesie“ als eine „Kraft, die aus dem Raum (Gegenstände, die sie sinnlich macht) in der Zeit (durch eine Folge vieler Theile in Einem poetischen Ganzen) wirkt“, als die Vereinigung der beiden Grunddispositionen des „Musikalischen“ und des „Malerischen“.19 Grundsätzlich wird bei Herder auf anthropologischer Ebene das Primat der Musik durch eine Ästhesiologie korrigiert, die alle Sinne dynamisch miteinander verbindet – eine Synästhesie also, die ihren letzten Grund in der unauflöslichen Verflechtung von Körper und Seele hat. Das Verhältnis von Körper und Seele war damals die Crux der Philosophen (und Naturwissenschaftler – etwa Samuel Thomas Soemmering) geworden. Kant hielt Soemmering entgegen, er habe zu Unrecht psychische Zustände anatomisch lokalisieren wollen. Aber die ganze philosophische Tradition hatte keine bessere Lösung anzubieten. Ja, sie hatte sich in eine Sackgasse hineinmanövriert, indem bei den Cartesianern
12 Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. III, Hildesheim, New York 1968–1969, S. 81. 13 Helmuth Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes [1923], in: Anthropologie der Sinne (= Gesammelte Schriften, Bd. III), Frankfurt am Main 2003, S. 21 und 30. 14 Ebd., S. 30. 15 Ebd., S. 248 f. 16 Ebd., S. 232. 17 Ebd., S. 223. 18 Herder, Kritische Wälder, a.a.O., S. 136. 19 Ebd., S. 138.
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Geist (res cogitans) und Körper (res extensa) entweder beziehungslos nebeneinander bestehen mussten oder aber auf Gott zurückgegriffen werden musste, um eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Selbstverständlich können wir hier nicht die Episoden und Einzelheiten dieser entscheidenden Debatte aufrollen, die sich von der „glande pinéale“ bis hin zur noch recht rätselhaften Kant’schen transzendentalen Affinität erstreckt. Mit seinem „ästhesiologischen Programm“ in Die Einheit der Sinne (1923) und in der späten Anthropologie der Sinne (1970) hat Plessner eine psychophysische Lösung dieses Problems angestrebt, die aus den Aporien des Rationalismus und des Sensualismus auszubrechen versucht, indem sie die Sinnesqualitäten zugleich als Verbindungsweisen von Körper und Seele und als Modi der Materie auffasst (so wie Simmel die Bewegtheit als eine immanente Qualität bestimmter Anschauungen verstanden wissen will).20 Herder zog sich aus dieser Debatte auf eine Weise, die – ausnahmsweise – Kant nur sehr zu Unrecht als un- oder vorkritisch hätte bezeichnen können. Er erklärte die Verknüpfung des Seelischen und des Körperlichen aus einem Bündnis zwischen Kräften. Damit vollzog er für sich einen entschiedenen Übergang zum Paradigma der Physik. Während etwa Condillac in seinem Essai über den Ursprung der Erkenntnisse das Problem noch als das einer Kommunikation zwischen Substanzen stellt, erklärt Herder, dass die materielle Seite des Körpers in einer „Anhäufung von Kräften“ bestehe und dass die Seele ihrerseits auch einen Herd von Kräften bilde. Natürlich muss man hierbei von den Spekulationen absehen, die er damit verband, etwa von der, dass die Seelenkraft nicht nur eine irdische, sondern auch eine überirdische Existenz habe. Sieht man davon weg, dann ist es das Bekenntnis zum physischen Paradigma der Kräfte, das wirklich zählt. Denn in dieser Hinsicht ist sich Herder – ausnahmsweise – mit Kant einig. Im Gegensatz zu Newton, bei dem der Raum und mit ihm die Zeit noch mit der Ausdehnung verwechselt werden, und im Gegensatz zu Leibniz, bei dem sie nur noch relative Größen sind, die das Verhältnis der vis activa der Monaden zueinander widerspiegeln, hat man es mit einem Wechselspiel von Kräften und nicht mehr mit einem unfruchtbaren Gegenüber von Substanzen zu tun. Trotz dieser „modernen“ Züge von Herders Denken war die Arbeitsteilung der Künste, auf welche die ästhetische Anwendung seiner hellsichtigen Lösung des Leib-Seele-Problems hinauslief, nicht imstande, dem radikalen Umbruch gerecht zu werden, den der geschichtliche Sinn beim Übergang von der Poetik zur Ästhetik in Gang gebracht hatte, weil sie ihr Heil ausschließlich auf Seiten des Gehörs und infolgedessen der Musik suchte. Merkwürdigerweise taucht dies bei Plessner wieder auf, als wäre die Emanzipation von der „Schwere“ der mit Anschauung beladenen Sinne nur durch einen Paradigmenwechsel vom Sehen zum Hören möglich. An Lessings Laokoon implizit anknüpfend, spricht Plessner der bildenden Kunst die Fähigkeit ab, der Bewegung im „fruchtbaren“ bzw. „prägnanten“ Augenblick gerecht zu werden: „Musik [ist] eine Kunst in der Bewegung. Andere Kunst präsentiert ihre thematischen Formen in zeitentrückter Gegenwart, und ein Bildwerk können wir gewissermaßen nur in vollendeter Ruhe aufnehmen. Selbst die stärkste Bewegung, wenn sie nicht in ihrem Ablauf, sondern in dem fruchtbaren Moment ihrer höchsten Sammlung dargestellt ist, fordert nicht zum Mitvollzug der Akte auf, sondern will in den Grenzen, die ihr durch die Bildhaftigkeit gezogen sind, erfaßt werden.“21
Die Dynamik, die dem Werk einwohnen mag, „will an der Zeitfremdheit des in sich ruhenden Werkes annulliert werden, damit eine simultane Einheit der Anschauung und des Sinnes entsteht“.22 Das Problem ist: Sind die bildenden Künste gleichsam von Natur aus im Nachteil? Müssen sie, wie das 18. Jahrhundert – von Lessing bis Herder und darüber hinaus Schopenhauer – gelehrt hat, darauf verzichten, auf ihre Weise auch Künste der Bewegung zu sein?
20 Vgl. Plessner, Die Einheit der Sinne, a.a.O., S. 13–21. 21 Ebd., S. 222. 22 Ebd.
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Schiller hat das geahnt. Er bemühte sich, der Gefahr einer „Rückidentifizierung“ – wenn man so sagen darf – der anderen Sinne und Künste mit der „stillen Größe“, mit der stoizistischen Tradition also (und freilich zugleich auch mit der Kant’schen Moral), entgegenzuarbeiten, indem er entschieden die Schönheit, als „Freiheit in der Erscheinung“, mit der schönen Bewegung des Körpers identifizierte. Dass diese Auffassung bei ihm mit einem geschichtsphilosophischen und politischen Anliegen aufs engste zusammenhängt, unterliegt keinem Zweifel und braucht hier gar nicht erst dargelegt zu werden. Insofern erscheint bei Schiller bei genauem Hinsehen die Bewegung als der Kernbegriff seiner Ästhetik und als das Bindeglied zwischen Raum und Zeit sowie als die Grundlage einer „synästhesiologischen“ Anthropologie und Ästhetik. Diese beruht bereits auf der Synthesisfunktion des Leibes – ein Ansatz, den Plessner wieder aufgreift, wiewohl er meines Wissens an keiner Stelle sich auf Schiller bezieht, und der bei Merleau-Ponty (den Plessner in seiner Anthropologie der Sinne zitiert) zentral wird. Wenn Plessner die „Pseudomorphosen des künstlerischen Sehens an die Musik“23 für Versuche hält, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, dann weil nur im Fall der Musik und des Tanzes eine eigentliche Adäquation zwischen der Ausdrucksbewegung des Körpers und dem Medium stattfinden kann24 – also das, was, wenn ich mich nicht täusche, Schillers Ideal des Spiels anstrebt, das aber keineswegs nur auf Musik und Tanz sich beschränken wollte, sondern als Ideal des „ganzen Menschen“ aufgefasst war. (Mit dem Umstand, dass die schöne Seele weiblich ist, hatte Schiller schon genug Schwierigkeiten, um sie auch noch auf Tänzerinnen zu beschränken!) Bei aller Intensität des „prägnanten Augenblicks“ in den bildenden Künsten scheitert nach Plessner die dynamische Rezeption daran, dass „wir jedoch [nicht] imstande sind, diese latente in eine aktuelle und adäquate Dynamik in unseren Ausdrucksbewegungen umzusetzen, auch wenn wir dazu Veranlassung fühlen“.25 Plessner unterscheidet in dieser Hinsicht drei Schichten der Bewegung: den dargestellten Vorgang selbst, dessen Darstellung und – drittens und vor allem – unsere leibliche Beteiligung an ihr. Der Film und die Zeitung gehen für ihn nicht über die ersten zwei Formen hinaus.26 Bei Plessner wird somit die Synthese der Sinne durch den Leib zur absoluten Grenze. Auch für Merleau-Ponty gründen alle Sinneserfahrungen im Leib; eine solche absolute Grenze ist allerdings bei ihm nicht festzustellen.
II. Merleau-Pontys Überlegungen zur Leibessynthese, die ich hier selbstverständlich nicht im Einzelnen vergegenwärtigen kann, enthalten im Hinblick auf Raum und Zeit einen für unseren Zusammenhang wichtigen Aspekt: Alle sinnliche Erfahrung ist an den Vollzug der Sinne gebunden. Diese vollbringen aber immer synästhetische Leistungen, und das heißt, dass sie eben nicht zwischen Raum- und Zeiterfahrungen sortieren, sondern umgekehrt diese ständig verbinden. „Der Leib [ist] nicht eine Summe nebeneinandergesetzter Organe, sondern ein synergisches System, dessen sämtliche Funktionen übernommen und verbunden sind in der umfassenden Bewegung des ZurWelt-Seins, dadurch, daß er die geronnene Gestalt der Existenz selbst ist. […] Das Fundament der Einheit der Sinne ist die Bewegung, nicht die objektive Bewegung und Ortsveränderung, sondern der Bewegungsentwurf oder die ‚virtuelle Bewegung‘.“27
23 24 25 26 27
Plessner, Anthropologie der Sinne, a.a.O., S. 340. Plessner, Die Einheit der Sinne, a.a.O., S. 222. Ebd. Ebd., S. 224. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, S. 273 f.
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Ein Gegenstand, der nur dem Raum zugeordnet wäre, würde nur – wenn überhaupt – am Rand meiner Erfahrung existieren. Sobald ich ihn in mein Blickfeld einbeziehe, hört er auf, ein statisches Objekt zu sein – er wird in eine Bewegung einbezogen, die grundsätzlich von der Motorik der Sinne in Gang gebracht wird. Reine Gegenstände der Kontemplation kann es also nicht geben. Wie verhält es sich aber, wenn auch diese synästhetische Leistung des Leibes zerfällt, das heißt wenn die Bewegung gleichsam völlig außerhalb des Leibes sich zu vollziehen scheint – so, dass der Leib selbst bestenfalls nur noch als sehr vorläufiger Mitbeteiligter, ja als bloßer Punkt im Raum einer Synthesis erscheint, die sich außerhalb seiner vollzieht und bei der er nicht mehr Mittelpunkt der Synthesis ist? Anders ausgedrückt: Ist nicht Merleaus Leibzentrierung ein Rückzugsgefecht gegenüber einer „Realität“, die sich schon weitgehend von jeglichem Bezug auf ein Zentrum losgesagt hat? Solche Fragen lauerten bereits im Hintergrund von Plessners Anthropologie der Sinne (wenn nicht sogar schon in Die Einheit der Sinne), die ja ihren Impuls aus dem „offensichtliche[n] Versagen unserer traditionellen Ästhetik gegenüber der künstlerischen Produktion der Gegenwart“ und aus den „steigenden Zumutungen an Auge und Ohr, an Sprache und Sprachverständnis“ zog.28 Der Anspruch des neuzeitlichen Subjekts, im Zentrum der Welt zu stehen und dessen Achse zu bilden, wird durch die Produktionstechniken, die heute sowohl der Wissenschaft als auch der Kunst zur Verfügung stehen, vereitelt; die Welt der virtuellen Metamorphosen scheint ein solches Zentrum durchaus entbehren zu können, so wie sie Ursprung und Ende entbehrt. Sie braucht nur einen Maschinenwärter bzw. einen Kameramann, der die Bilder zeigt. Und vielleicht ist das Subjekt nie etwas anderes gewesen. Merleau-Ponty räumt selbst ein: „Während der zwei Jahrhunderte, in denen sie ohne Mühe ihrer Aufgabe einer Objektivierung nachgekommen ist, konnte die Physik glauben, daß sie sich darauf beschränkte, die Gliederung der Welt zu untersuchen, und daß der Gegenstand der Physik als solcher der Wissenschaft voranging. Aber heute, wo selbst die Strenge ihrer Beschreibung sie dazu verpflichtet, derartige Beziehungen zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten, derartige Bestimmungen, die nur in einer gewissen Situation des Beobachters Sinn haben, als letzte natürliche und vollberechtigte Wesen anzuerkennen, ist es die Ontologie des Kosmotheoros und seines Korrelats, des Großen Objekts, die als wissenschaftliches Vorurteil erscheint.“29
Das Objekt ist nie da, wo es räumlich und zeitlich sein „sollte“; als virtuelles Objekt ist es nur das Ergebnis einer bestimmten Manipulation logisch-physischer Relationen – und das heißt, dass bei aller Visualisierung das herkömmliche Paradigma der Wahrnehmung und der optischen Repräsentation verabschiedet wird. In der Fotografie war noch das Dreiecksverhältnis zwischen Subjekt (dem Fotografen), Objekt und Bild bestimmend. Dieses Dreieck entsprach in etwa dem linguistischen Dreieck von signifiant, signifié und référent. Als solches konstituierte es einen Raum, der als „Wirklichkeit“ galt. Die Fotografie blieb insofern noch den herkömmlichen Regeln der Kunst verpflichtet: Bei der Aufnahme stehen die drei Protagonisten – Subjekt, Objekt und Bild – auf einer geometrischen Achse, die der Meister der geometrischen Perspektive, Alberti, den „Fürsten der Halbmesser“ nannte. Indem sie durch das Bild hindurch noch einander gegenüberstehen, sehen sich Subjekt und Objekt in ihren herkömmlichen Rollen bestätigt – zunächst einmal räumlich, aber auch zeitlich, denn alle drei sind ja bei der Aufnahme zugleich dabei.30 Gerade damit brechen die neuen Techniken. Einerseits weil der Zuschauer – das Subjekt – außerhalb des Raums steht, den er empfängt bzw. verarbeitet: Dieser Raum besteht nicht mehr aus Licht, sondern aus bloßen Zahlen – und gerade das hat zur Folge, dass er als „virtueller Beobachter“ selber in das Bild eindringen kann, das Objekt gleichsam von allen Seiten her wahrnimmt und es dermaßen verarbeiten kann, dass er auf dem Bildschirm diese Veränderungen seines Standpunkts veranschau28 Plessner, Anthropologie der Sinne, a.a.O., S. 322. 29 Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Paris 1964, S. 32, Übers. v. mir, G. R. 30 Edmond Couchot, „Les deux mondes“, in: Imaginaire numérique 1, 1987, Nr. 1, S. 87 f.
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lichen kann. Andererseits ändert sich in den numerischen Bildtechniken das zeitliche Verhältnis zum Bild zugleich grundsätzlich: Zwischen dem Beobachter und dem Bild entsteht eine Interaktion in Echtzeit, die es dem Subjekt ermöglicht, gleichsam beliebig die Rolle zu wechseln. Der Umstand aber, dass die Operationen sich der Augenblicklichkeit nähern und die Realzeit simulieren können, macht die informatisierte Wirklichkeit nicht konkreter: Sie hebt vielmehr den Unterschied zwischen Fiktion und Realität völlig auf. Fiktion und Realität werden austauschbar, selbst da, wo man die Daten eines wirklichen Objekts verarbeitet. Mehrere Jahrzehnte, bevor dieser Verdacht infolge der zunehmenden Virtualisierungsmöglichkeiten sich auszubreiten begann, ist Benjamin mit seinen Überlegungen über die Auflösung des Hier und Jetzt durch die Reproduktionsmöglichkeiten noch traditioneller, das heißt „mimesisgebundener“ Techniken wie der Fotografie und des Films schon zu dem Schluss gelangt, dass dabei nicht nur die raumzeitliche Ordnung der Erfahrungswelt und mit ihr der Kant’sche Erfahrungsbegriff grundsätzlich zusammenbrechen, sondern dass zugleich auch die leibliche, physische Stellung des Menschen in der Welt in Frage gestellt wird. Daraus leiten sich die Schlussparagrafen des Aufsatzes über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ab, die bekanntlich im Gegensatz sowohl zum herkömmlichen Typus des Kunstgenießers und Kunstrichters als auch zur Marx’schen Utopie der allseitigen Entwicklung des Menschen in den „Pariser Manuskripten“ wiederum an die anthropologisch-ästhetische Problematik der Hierarchie der Sinne anknüpfen, wie sie seit dem Übergang von der Poetik zur Ästhetik das moderne Denken beherrscht hat. Was Benjamins Ansatz von allen vorherigen Entwürfen unterscheidet, die sich gescheut hatten, das Problem so radikal zu stellen, und ihr Heil vielmehr in einer neuen Hierarchie der Künste suchten, bei der die Musik dann sogar auf sehr konservative Weise einen neuen Anhaltspunkt darstellen sollte, ist seine dezidierte Absage an alle derartigen Rückzugsstrategien. Nicht einmal das Paradigma des Hörens ist im Vorteil gegenüber einer Erfahrungs- bzw. Erlebniswelt, die alle Sinne überstrapaziert. Der Typus des „zerstreuten Kritikers“ drückt den Umstand aus, dass in den neuen Bedingungen der Erfahrung Visualität, Taktilität und Motorik gegen die Möglichkeit einer Synthese sprechen. Allerdings bildet bei der Auflösung der Erfahrung durch das Erlebnis wieder die Bewegung, das „Haptische“, also eine taktil und motorisch erfahrene Konfrontation mit der Außenwelt die Grundlage einer neuen Theorie der Erfahrung. Man kehrt also zu der Feststellung zurück, dass die Bewegung – wie schon bei Kant und in der ganzen damaligen ästhetischen Debatte – den eigentlichen Stein des Anstoßes bildet. Ausdrücklich, wenn auch indirekt, knüpft Benjamin sogar an die Laokoon-Debatte an. In einer am Ende des achten Kapitels des Kunstwerkaufsatzes eingefügten Anmerkung zitiert er den Vergleich, den Leonardo da Vinci zwischen Malerei und Musik anstellte – einen Vergleich, der die von Herder in seinem Ersten kritischen Wäldchen, in dem er den Laokoon von Lessing diskutierte, etablierte Hierarchie der Künste antizipiert. Die Musik ist eine zeitliche Kunst, sie ist folglich flüchtig, während die Malerei eine räumliche Kunst und von daher eine Kunst der Dauer ist. Die Malerei ist die auratische Kunst par excellence. Aus diesem Grund ist sie auch stets ein geschlossenes Werk.31 Der Film hingegen ist nach Benjamin diejenige Kunst, die das Zeitliche, das Flüchtige zum Äußersten treibt, sowohl im Bereich des Optischen als auch – mit dem Tonfilm – im Bereich des Akustischen32; er ist eine Kunst, die die Dauer und die Räumlichkeit in eine Abfolge von Momenten auflöst – eine offene Kunst schlechthin. Dadurch sprengt er alle Fesseln und öffnet Räume der Wahrnehmung und der Erkenntnis, die vor ihm verschlossen waren: „Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt.“33 Er ermöglicht es, eine „andere Wirklichkeit“ zu entdecken. Aller-
31 Siehe das Ende von Kapitel XI, wo Benjamin den Film der Malerei entgegensetzt. 32 Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1972 ff.; im Folgenden abgekürzt: GS, hier: GS I.2, S. 498. 33 Ebd., S. 499.
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dings wird im elften Kapitel die andere Natur, die „Natur zweiter Ordnung“, die der Film produziert34, als Entwirklichung, als Abschaffung des Unterschieds zwischen dem Illusorischen und dem Realen, interpretiert.
III. Diese Interpretation ist freilich keineswegs nostalgisch. In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ bekennt sich Benjamin vorbehaltlos zur radikalen Veränderung der Erfahrung durch die neuen Medien, er schreibt dem Film die utopische Bedeutung eines neuen Erfahrungsmodus zu, demzufolge die Schocks der Bilder für den ihnen ausgelieferten Rezipienten zwar einen „Verlust an Erfahrung“ bedeuten, aber auch eine völlig neue Apperzeption des Realen ermöglichen. Darauf gründet sich die provokatorische Behauptung, dass auch das massive Publikum ein kritisches Publikum sein kann, ja, dass es gerade durch die Schocks zu einem wie auch immer „zerstreuten“ Kritiker gemacht wird. Bekanntlich hat Adorno, der sich in jenen Jahren mit der Popularmusik und insbesondere mit dem Jazz beschäftigte, nicht nur skeptisch, sondern geradezu empört auf diese These reagiert.35 Anstatt dem Verlust der Erfahrung nachzutrauern und sich an eine geträumte Tradition festzuklammern oder noch einen (Dilthey’schen) positiven Erlebnisbegriff, das heißt Einfühlung und Erfassung des lebendigen „Grundhaft-Strukturellen“, gegen die um sich greifende Herrschaft der verzettelten „Erlebnisse“ zu mobilisieren, nimmt Benjamin diese hin. Ja, er erklärt die Zerstreutheit als die eigentliche Eigenschaft des zeitgenössischen Kritikers, der wie der Fußgänger auf den Trottoirs der modernen Großstadt die Kollisionen parieren lernt und dabei eine neue Form von Apperzeption entfaltet – ein „haptisches“ Wahrnehmungsvermögen, das, in Herders Wortschatz ausgedrückt, Leib und „Seele“ auf völlig neue Weise aufs engste verbindet. Denn mehr denn je hängt die Motorik der Sinne von der körperlichen Motorik ab. Auratische Kontemplation ist somit von der Tagesordnung gestrichen. Das, was ich von der mich umgebenden Umwelt überhaupt wahrnehme, ist nur das Bruchstück von Realität, das ich am Rande meiner Erfahrungswelt erhasche, indem ich im letzten Augenblick dem Zusammenstoß ausweiche. Es lag natürlich nahe, in der alltäglichen Tagesordnung letzter Augenblicke die letzte Form zu sehen, in die sich das Messianische geflüchtet hat. Benjamin hat das suggeriert. Zugleich aber hat er seinem „positiven Barbarentum“ eine noch paradoxere Wendung gegeben. Dieser zufolge sei die Verräumlichung, die ohnehin auch zu den Grundtendenzen moderner „Erfahrung“ gehört, die Möglichkeit, die schwelenden Widersprüche auf den Punkt zu bringen, in dem sie wirklich als die Alternativen einer Entscheidung erscheinen und sich nicht mehr „historisch“ auf die lange Bank schieben lassen. Das ist die bekannte Entgegensetzung der leeren, „homogenen“ und der „messianischen“, auf Entscheidung drängenden Zeit, die dem Geschichtskonzept der Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ zugrunde liegt. Letztere aber erfordert paradoxerweise das Moment eines „Stillstands“, das die Verräumlichung keineswegs verpönt, sondern sie vielmehr als Bedingung voraussetzt. Um diesen Stillstand der Bewegung und der Zeit geht es in jenen Räumen, die man als auratische Räume bezeichnen kann: die Passagen und die Panoramen. Die Passagen sind Phantasmagorien, innerhalb derer die unwiderstehliche historische Bewegung zum Bild erstarrt – zu einem dialektischen Bild, denn die Passagen entfalten ihre volle Bedeutung in dem Augenblick, in dem sie durch 34 Vgl. ebd., S. 500: „neue Strukturbildungen der Materie“. 35 Vgl. Adornos Brief an Benjamin vom 18. März 1936, in: Benjamin, GS I.3, a.a.O., S. 1003–1005. Adornos unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler veröffentlichter Essay „Über Jazz“ erschien in derselben Nummer der Zeitschrift für Sozialforschung (5. Jg., 1936) wie die französische Fassung von Benjamins Kunstwerk-Aufsatz („L’œuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée“).
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die Entwicklung der neuen Produktivkräfte und der Konsumgesellschaft vom Untergang bedroht sind.36 Der dialektische Widerspruch, den sie verkörpern, besteht darin, dass sie zugleich das Großkaufhaus und die Eisen- und Glasarchitektur ankündigen und einen Versuch der Bourgeoisie darstellen, im Herzen der sich wirtschaftlich und sozial modernisierenden Stadt eine Landschaft und ein Interieur wiederherzustellen. Der Versuch, die Bewegung im Raum zum Stillstand zu bringen, ist freilich zum Scheitern verurteilt: Es ist kein Zufall, wenn das Exposé von 1935, „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, mit „Haussmann und die Barrikaden“ schließt. Dies gilt gleichermaßen für die Panoramen. Wie die Passage, deren Zeitgenosse es ist, ist das Panorama ein Übergangsphänomen. Es ist aus der Panoramenmalerei hervorgegangen: „Daguerre“, so notiert Benjamin, „ist Schüler des Panoramenmalers Prévost.“37 Das Panorama führt die Landschaft in die Stadt ein und versucht, aus der Stadt selbst eine Landschaft zu machen; daher gerät es auch auf der Schwelle zur radikalen Modernität der Großstadt ins Stocken. Durch bestimmte Aspekte jedoch kündigt es den Film an, insbesondere durch die Abfolge der Bilder, die eine durch die Malerei nicht einholbare Imitation der Natur erreicht, indem sie durch einen technischen Kunstgriff die wechselnden Aspekte des Naturschauspiels reproduziert. Damit sich jedoch die Modernität des Fotos wirklich durchsetzen konnte, musste das Panorama zerstört werden: 1839, das Jahr, in dem Daguerre mit Niepce das Prägen lichtempfindlicher Platten erfindet, verbrennt Daguerres Panorama.38 Von diesen Paradoxa des „positiven Barbarentums“ gibt es im Nachlass Benjamins eine frühe Formulierung, die umso aufschlussreicher ist, als sie in den Kontext des Übergangs von der Spracharbeit von 1916 zum Programm der kommenden Philosophie von 1917 gehört. Es handelt sich um die „Notizen zur Wahrnehmungsfrage“, die erst im sechsten Band der Gesammelten Schriften veröffentlicht wurden. Merkwürdigerweise bezeichnet Benjamin dort die Wahrnehmung im Gegensatz zum Zeichen einerseits und zum Symbol andererseits als die „configurierte absolute Fläche“.39 Gegenüber dem Zeichen, das an ein bestimmtes Vorkommen gebunden ist und trotz der prinzipiellen Unendlichkeit seiner Bedeutungen deshalb nur eine zulässt – „nach Maßgabe des Zusammenhanges in welchem sie vorkommt“40 –, und gegenüber dem Symbol, das – aber darauf lässt sich Benjamin an dieser Stelle nicht näher ein – auf seine Weise eine ähnliche, wenn auch transzendente Eindeutigkeit anstrebt, öffnet die Wahrnehmung – und diese Öffnung ist durchaus räumlich zu verstehen – ein unermessliches Feld von Deutungen. „Die Wahrnehmung unterscheidet sich vom Zeichen durch Folgendes: sie ist nicht Configuration in der absoluten Fläche sondern die configurierte absolute Fläche. Daraus folgt daß bei ihr von ‚Vorkommen‘ […] nicht mehr gesprochen werden kann und, da damit das für die Eindeutigkeit des jeweilig Zuzuordnenden das Kriterium verschwindet, auch nicht mehr von Bedeutung, welche diese Eindeutigkeit zur Voraussetzung hat.“41
36 Benjamin, GS V.2, a.a.O., S. 993. 37 Benjamin, GS V.1, a.a.O., S. 48. 38 Eine komplementäre Form dieser Dialektisierung der Verräumlichung stellen in Einbahnstraße die sogenannten „Denkbilder“ dar, auf die ich im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingehen kann. Schon das von Sasha Stone konzipierte und selbst als „Denkbild“ zu interpretierende Umschlagbild, auf dem ein massiver Doppeldecker der ABOG mit voller mechanischer Kraft in die Einbahnstraße fährt, drückt die Spannung zwischen Raum und Zeit und die Schlüsselbedeutung der Bewegung aus. Mehr noch: Die Denkbilder – und in erster Linie das Umschlagbild selbst – sind sozusagen dialektische Allegorien; mit ihnen versucht Benjamin die Allegorie als räumliche (und nicht zuletzt ornamentale) Darstellung, deren Bedeutung ja immer mit der Erfahrung von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit (vornehmlich unter dem Aspekt des Todes) zu tun hat, zu „redialektisieren“. Vgl. hierzu Gérard Raulet, „Einbahnstraße“, in: Walter Benjamin-Handbuch, Stuttgart 2006, S. 359–376. 39 Benjamin, GS VI, a.a.O., S. 32. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 32 f.
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Die Deutung wird der Bedeutung entgegengesetzt: „Die Wahrnehmung ist zum Unterschied von der Schrift nicht in ein Bedeutendes zu verwandeln, das heißt ihr Schlüssel ist nicht anwendbar“42 – eine deutliche Absage an eine „instrumentelle Vernunft“, die sich ja, wie die Dialektik der Aufklärung gezeigt hat, auf der allgemeinen Herrschaft der willkürlichen Zeichen etabliert hat. Dagegen wohnt der Deutung wie paradox auch immer nicht der Herrschaftsanspruch eines Geistes, der alles nach seinem Gutdünken „deuten“ will, sondern ganz im Gegenteil eine prinzipielle Vieldeutigkeit inne. „Die Deutung ist dem was gedeutet wird nicht transparent“.43 Es unterliegt keinem Zweifel, dass das, was hier angesprochen wird, die Grundlage von Benjamins Auffassung der Allegorie darstellt. Doch diese interessiert uns hier nur insofern, als sie bei Benjamin mit der Verräumlichung und nicht zuletzt mit der ornamentalen Ausbreitung eines Grundkonflikts der Moderne zu tun hat. Und in dieser Hinsicht ist es entscheidend, dass Benjamin von früh an die Sphäre der Wahrnehmung, so, wie er sie gegenüber dem eindeutigen Zeichen und dem Symbol definiert, als das eigentliche „Schlachtfeld“, wenn man so sagen darf, auf dem sich der Kampf der Moderne mit ihrem ihr entschlüpfenden Sinn abspielt. Mehr noch: dass dieses Schlachtfeld, wie es sich ja für ein „Feld“ eignet, ein räumliches ist. Wo er dieses Feld als ein historisches denkt, erscheint – wie schon bei Kant – die Bewegung als der eigentliche Mittelpunkt, in dem die beiden Schemata des Raums und der Zeit einander begegnen. Die Bewegung ist es, die die Verräumlichung unterhöhlt und in ihr allem Stillstand zum Trotz von der Zeitlichkeit noch zeugt. Dabei ist in politischer und geschichtsphilosophischer Hinsicht freilich schwer auszumachen, worauf sie hinausläuft: ob sie gegen die Mauer rennt, wie der Omnibus des Umschlagbilds von Einbahnstraße, oder dem messianisch-dialektischen Moment des Umschlagens zustrebt. Man kann sich natürlich auch damit begnügen, diesem dialektischen Umgang mit Bildern der Bewegung und des Stillstands ein Modell abzugewinnen, das – abgesehen von jeglicher geschichtsphilosophischer und politischer Übersteigerung – gleichsam „strukturelle“ bzw. phänomenologische Bedingungen des Umgangs mit Kunst erfasst. Allerdings mahnt es auch in diesem Verständnis die Kunst an ihre zutiefst politische Dimension, von der sie nicht abstrahieren kann, sobald sie Raum als Bewegung fasst. Denn die Bewegung, das war schon Kants Lehre, ist der Mittelpunkt der beiden Schemata von Raum und Zeit – das, was die Erfahrung des Raums und der Zeit konkretisiert. Sobald sie die vermeintliche bloße Räumlichkeit der bildenden Künste unter dem Aspekt der Bewegung begreift – und das war die Lehre der ganzen Laokoon-Debatte –, hat die Kunst ganz bestimmt nicht nur mit phänomenologischen oder gar anthropologischen Strukturen zu tun, sondern mit Geschichte – auch und gerade da vor allem, wo Geschichte, geschweige denn historisches Engagement, von der Tagesordnung gestrichen zu sein scheint. Das belegt bei Lessing der enge Zusammenhang zwischen seinen Überlegungen zur räumlichen Darstellung der Zeitlichkeit und seiner Stilisierung von Laokoon zu einem „bloß menschlichen“ und geradezu bürgerlichen Helden.
42 Ebd., S. 33. 43 Ebd.
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Ekelhafte Vereinigungen von Raum und Zeit Robert Musils Novelle Die Vollendung der Liebe
„Redewände, raumeinwärts – eingespult in dich selber“ Paul Celan1
Sucht man nach einem Beispiel für ‚Raumliteratur‘ oder ‚Raumdichtung‘, so bietet sich aus mehreren Gründen Robert Musils Novelle Die Vollendung der Liebe als Untersuchungsgegenstand an. Wie an wenigen anderen literarischen Texten lässt sich an Musils Novelle ein Bemühen um kubistische Wahrnehmungen und Beschreibungen von Räumen ablesen. Die literarische Darstellung und Übersetzung der Mehransichtigkeit kristallin sichtbar werdender Räume hat zudem ihr temporales Korrelat. Zeit zeigt sich in simultanen Raumformen, und der vermeintlich geometrische Raum geht seiner ansonsten unsichtbaren chrono-logischen Ordnung verlustig und wird auffällig: Das wird hier in der Folge als ein (mit ekelhaften Empfindungen verbundenes) ‚Zusammen-brechen‘ von Raum und Zeit analysiert werden. Aber nicht nur literarisch, sondern auch in seinen frühen wissenschaftlichen Studien und deren poetologischen Transformationen hat sich Musil intensiv mit dem Thema ‚Raum‘ auseinandergesetzt. Vorliegender Text versucht deswegen zunächst Musils im Kontext der Novellen entstandene poetologische Aufzeichnungen auf ihre raumzeittheoretischen Grundlagen hin zu untersuchen. Die These lautet, dass sich besonders aus den Sprachverdichtungen in Die Vollendung der Liebe, einer der beiden 1911 als Vereinigungen veröffentlichten Novellen, Ansätze zu einem grundsätzlicheren Verständnis des Verhältnis von ‚Sprache‘, ‚Ästhetik‘ sowie ‚Raum und Zeit‘ gewinnen lassen. Gezeigt werden soll, dass den noch immer einigermaßen erratischen Novellen raumzeitästhetisch, das heißt über eine Erklärung von deren – im kantischen Sprachgebrauch – ‚anschauungsformaler‘2 Motivierung näher zu kommen ist. Erst deren Nachvollzug, so die These, ermöglicht eine materiale Deutung der Novelle: sowohl ihrer inhaltlichen Ekelmotive, der vorwandhaften „unerhörte[n] Begebenheit“3
1 Paul Celan, Redewände, in: Gesammelte Werke, hrsg. von Beda Allemann u. a., Frankfurt am Main 1983, Bd. 2, S. 211. 2 Die Heranziehung des kantischen Sprachgebrauchs, der alle unsere Vorstellungen strukturierenden Anschauungsformen Raum und Zeit, ist keine willkürliche. In einer seiner poetologischen Überlegungen hat Musil sogar die Überlegung angestellt, „[m]an könnte Kants Untersuchung zu Raum und Zeit in der Form eines Dialogs und auf die Bühne bringen“, dies aber insofern relativiert, als es nicht den Bühnenkonventionen entsprechen und auch „Kants Gedanken schaden [würde]. Gegenstand der Kunst ist das, was sich nur durch Kunst ausdrücken läßt.“ (Robert Musil, Tagebücher, hrsg. v. Adolf Frisé, Hamburg 1983, S. 448 f.) 3 So Goethe am 25. Januar 1827 zu Eckermann. Dass die anonyme sexuelle Vereinigung der Protagonistin nur Vorwand, nur ein Mittel zum Erreichen eines präindividuellen Zustands sei, darauf hat zuletzt Stephanie Bird hingewiesen („Masochism and its limits in Robert Musil’s ‚Die Vollendung der Liebe‘“, in: The Modern Language Review, Bd. 100, 2005, Nr. 3, S. 709–722, hier: S. 710). Die damit verbundenen Thesen eines „welt-, zeit- und raumlosen Zusichkommen[s]“ der Protagonistin sowie der damit korrelierenden Entkonkretisierung von Musils Sprache (vgl. Hans Georg Pott, Robert Musil, München 1984, S. 4 f.) sollen hier freilich differenziert und kritisch hinterfragt werden.
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(Goethe) Ehebruch, der Phantasmen ihrer Protagonistin einerseits und der den Novellen eigentümlichen Wortwahl, Musils eigenwilliger Grammatik andererseits. Das für Musils kubistische Raumdichtung symptomatische Zusammen-brechen von Raum und Zeit (von Simultaneität und Sukzession, von Stillstand und Bewegung) hat seine Vorbedingungen in Musils frühen wissenschaftlichen Studien, aus denen Gehalt und Sprache der Novellen freilich nicht abzuleiten sind. Auf die Diskussion des wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrunds Musils folgt hier deswegen ein Abschnitt über dessen poetologische Transformation. Erst danach kann, in einem dritten Schritt, die ästhetische Differenz ums Ganze, welche die literarische Fortschreibung der Vollendung der Liebe bedeutet, deutlich gemacht werden.
I. Musils Überlegungen zu Raum und Zeit „Es giebt Funktionen des Verstandes, ein kategoriales Denken, logische Kategorien. Raum und Zeit jedoch sind nicht a priori. Man hielt sie deswegen dafür, weil man sie für seelische Continua hielt. Das sind sie aber nicht. Raum ist eine abgeleitete Vorstellung und Zeit ist kein Continuum, sondern in der sinnlichen Wahrnehmung stets nur etwas Singuläres. Wir denken überhaupt nicht discursiv sondern sprungweise. Die Täuschung ist dieselbe wie bei einem Kinematographen.“ Robert Musil4
Stellt sich die Frage nach Musils Überlegungen zu Raum und Zeit, dann wird meist zu Recht auf den generellen Einfluss von Ernst Machs „psychophysischem Monismus“5 im zeitgenössischen Wiener Kulturleben sowie im Speziellen auf Musils Dissertation, seinen Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs6 hingewiesen. Mach argumentierte vor einem raum- und zeittheoretischen Hintergrund, der grundsätzlich schon seit Berkeleys An essay towards a new theory of vision bekannt ist. Das betrifft Fragen nach dem psychischen Aufbau von kohärentem Raum und Zeit aus dem Zusammenwirken von Tast- und Gesichtssinn bzw. aus dessen differenzieller binokulärer Struktur im Dienste der Tiefenwahrnehmung. Interessant sind diese, in ihren Argumentationsstrukturen noch heute aktuellen, physiologischen und psychologischen Debatten aufgrund ihrer grundsätzlich zirkulären – der Raumaufbau erfolgt mittels Vereinigung verschiedener Empfindungen, während gleichzeitig Empfindungen aus Bewegungsgefühlen entstehen – Thematisierung des Verhältnisses von Raum, Zeit und Empfindung.7 Gegen die spekulative psychologische Verteidigung der Realität von Raum und Zeit – etwa Johann Friedrich Herbarts missverständliche Kritik an Kants Anschauungsformen als ‚leere Gefäße‘ – und mit dem für seine physiologischen Untersuchungen zu Farbe und Raum bekannten Ewald Hering nahm Mach als gesichert an, die Raumanschauung nativistisch erklären zu können.8 Dem biologi-
4 Musil, Tagebücher, a.a.O., S. 117. 5 Speziell zu dessen psychophysischem Monismus vgl. Manfred Diersch, Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien, Berlin 1977; allgemein zum Einfluss Machs vgl. Jacques le Rider, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien 1990. 6 Robert Musil, Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs, Inaugural-Dissertation [1908], Hamburg 1980. 7 Zu nennen wäre hier unter anderem die kantianische Grundlegung der Physiologie des Tastsinns (1829) durch Ernst Weber sowie Johannes Müllers Handbuch der Physiologie des Menschen (1834) mit seiner Entdeckung spezifischer Sinnesenergien, etwa dem obersten Grundsatz einer räumlichen Empfindung unserer (sich selbst empfindenden) Netzhaut. Das äußerst komplexe und oft selbstwidersprüchliche Feld empiristischer und nativistischer Erklärungsversuche, die sich untereinander meist viel näher sind als dies den in den theoretischen Kampf Involvierten schien, kann hier nicht entwirrt werden. 8 Vgl. Ernst Mach, Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Darmstadt 1991, S. 104.
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schen Bedürfnis an Raumwahrnehmung korreliert in seinem – gegenüber Idealismus und Realismus des Raums eine neutrale Position beziehenden – Modell eine leibliche Orientierung von Raumempfindungen, welche mit der motorischen Organisation des Sehapparats einhergeht. Aus der These einer gemeinsamen „Empfindungsqualität“9 von Raum- und Bewegungsempfindungen folgt, dass der Sehraum ganz ähnlich dem haptischen Raum organisiert ist.10 In Machs sinnesphysiologischen Überlegungen können Raum und Zeit ebenso gut Empfindungen genannt werden wie Farben und Töne. Wie alle anderen Elemente der Welt sind auch Raum und Zeit nur aus rein biologischen Notwendigkeiten nach Gesetzen der Denkökonomie verbunden und organisiert.11 Ausgehend von diesen Überlegungen ist es Musils – bei Carl Stumpf eingereichter und auch vor Vertretern der mathematischen und physikalischen Disziplin verteidigter – philosophischer Dissertation zufolge von „größter Wichtigkeit“, die „Begriffe von Raum, Zeit und Bewegung“ klarzustellen, welche allesamt „nach Mach durch die Erfahrung nur in der Bedeutung von Relationen gesichert“12 seien. Da „jedes dynamische Kriterium hinwegfällt und rein phoronomisch ohnedies keine absolute Orientierung möglich ist, bleibt für die Erfahrung nur relative Bewegung gegeben. Damit ist aber auch dem Begriff eines absoluten Raumes der Boden entzogen“13, so Musil in seinem Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs von 1908. Ausgehend von Machs differenzialrechnerischer Äquivalentsetzung von „Kräften“ und „Verbindungen“ präzisiert Musil seine Bewertung des Beitrags von dessen Lehren wissenschaftsgeschichtlich korrekt. „Die heutige Physik strebt also danach, jede Erscheinung als Funktion anderer Erscheinungen und gewisser Raum- und Zeitlagen darzustellen.“14 Mit Bezug auf Hume, Condillac und Comte und voller positivistischer Emphase gesprochen, hört nach Musil an diesem Punkt „für eine zu voller geistiger Freiheit gelangte und kritisch scharfe Methodologie der Dualismus [von Raum und Zeit, A. A.] auf, als Problem zu existieren“.15 Neben der tendenziell monistischen Aufhebung der Trennung räumlicher und zeitlicher Phänomene, mit der Musil sich auf dem Stand der physikalischen Theorie seiner Zeit zeigt, wird er in seinem frühen literarischen Schreiben aber noch einen anderen viel diskutierten raumzeittheoretischen Fragekomplex aufgreifen und, wie zu zeigen sein wird, ästhetisch aufheben. Eine Vielzahl methodisch unterschiedlich ausgerichteter Untersuchungen beschäftigte sich um die Jahrhundertwende mit Fragen pathologischer Raum- und Zeitwahrnehmung. Es handelt sich um methodisch so verschiedene Studien wie zur neuropathologisch in den 1870er Jahren erstmals von Carl Westphal diagnostizierten
9 Ebd., S. 137. 10 Ebd., S. 152. 11 Vgl. dazu sowie zu dem theoretischen Hintergrund Musils insgesamt: Renate von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken, Münster 1966; zu Ernst Machs raumzeitexperimenteller Untersuchung etwa in Über Erscheinungen an fliegenden Projectilen von 1897 vgl. Christoph Hoffmann, „Der Dichter am Apparat“. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942, München 1997, S. 43 ff. 12 Musil, Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs, a.a.O., S. 58. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 82. Zum epistemologischen Wandel vom Substanz- zum Funktionsbegriff vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910; zur Geschichte der philosophischen und wissenschaftlichen Raumkonzepte vgl. immer noch Max Jammer, Concepts of space. The history of theories of space in physics, 3. Aufl., New York 1993. Zu Musils diesbezüglich kritischer Auseinandersetzung mit Mach vgl. Andrea Gnam, Die Bewältigung der Geschwindigkeit. Dargestellt an Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ und Walter Benjamins Spätwerk, München 1999, speziell S. 22. 15 Musil, Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs, a.a.O., S. 9.
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‚Agoraphobie‘16, Ludwig Binswangers Existenzialphänomenologie ‚gestimmter Räume‘17 oder von Gebsattels analoge lebensphilosophische Untersuchungen psychopathologischer Zeitwahrnehmung. Das Spektrum reicht hier bis hin zu Wilhelm Worringers kunsttheoretischer Konzeptualisierung einer ‚Raumscheu‘, welche nicht zufällig ebenso wie Machs Theoreme auf der Basis einer fundamentalen Diskrepanz argumentiert: zwischen einem dynamische Räume evozierenden visuellen und einem taktilen Sinn, der aus Bewegungsempfindungen resultierend einen physikalisch gegebenen Raum unterstellt.18 In diesem Zusammenhang ist des Weiteren ein von Konstantin Oesterreich 1906/07 in mehreren Fortsetzungen erschienener Aufsatz „Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt und die Depersonalisation in der Psychasthenie“ zu nennen. Die Studie wurde in Stumpfs Kolloquium im Sommersemester 1907 besprochen, also unmittelbar zu der Zeit erster fragmentarischer Notizen Musils für die Novellen. Christoph Hoffmann hat im Detail herausgearbeitet, wie die Aufzeichnungen aus Oesterreichs Fallgeschichten in Musils wahrnehmungstheoretische Tagebuchreflexionen der „Bemerkungen über Apperceptor udgl.“ eingeflossen sind. „Aus welchen Quellen Musil aber auch schöpft, ganz sicher schreiben die Aussagen über Claudines und Veronikas innerstes Empfinden die bei Oesterreich überlieferten Fälle fort.“19 Im Fall der Novellen handelt es sich nicht um Applikationen oder ein Ausbuchstabieren von sexualpathologischen Phänomen, sondern um ein ästhetisches Fortschreiben der wissenschaftlichen Modelle – fort möglicherweise auch von ihren epistemologischen Prinzipien. Es ist dieses (ästhetische) Weiter- und Wegschreiben von aisthetischen oder wahrnehmungspsychologischen Ordnungen, das mir für die Interpretation speziell von Musils literarischem Frühwerk wichtig scheint. Das eigentümliche Verhältnis von Naturwissenschaften und Literaturtheorie in Musils Werk zeigt sich auch in dem unvollendeten „Profil eines Programmes“ (1912) der Novellen. Diesem zufolge liegt aller „seelische Wagemut […] heute in den exakten Wissenschaften. Nicht von Göthe, Hebbel, Hölderlin werden wir lernen, sondern von Mach, Lorentz, Einstein, Minkowski, von Couturat, Russel, Peano“.20 Obwohl es hier nicht möglich ist, genauer auf die Autoren einzugehen, bedarf es doch einer Zuordnung der einzelnen Autoren, um die raumzeitphilosophischen Dimensionen von Musils Inspirationsquellen nachvollziehen zu können. So führten den niederländischen Physiker (und Nobelpreisträger 1902) Hendrik Antoon Lorentz seine Untersuchungen zur Bewegung elekt16 Dazu und zu dem Phänomen der „Scheinbewegung des eigenen Körpers“ vgl. Carl Westphal, Die Agoraphobie. Eine neuropathische Erscheinung, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 3. Band, Berlin 1872, S. 138–161. Für eine allgemeine Übersicht vgl. Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996. 17 Vgl. Ludwig Binswanger, „Das Raumproblem in der Psychopathologie“, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 145. Ausgabe, Berlin 1933, S. 598–647. 18 Zu der strukturellen Verbindung Machs und Worringers vgl. Sigrid Lange, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Raumkonstruktionen der Moderne. Kultur. Literatur. Film, Bielefeld 2001. Bei Camillo Sitte (Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung modernster Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien, Reprint der Erstausgabe von Mai 1889, Köln 2003, S. 53) fungiert die sogenannte „Platzscheu“ bereits als „neuste, modernste […] nervöse Krankheit […]. Zahlreiche Menschen sollen darunter leiden, d. h. stets eine gewisse Scheu, ein Unbehagen empfinden, wenn sie über einen großen leeren Platz gehen sollen“. Zu kulturgeschichtlichem (bis hin zu Pascal) und soziologischem (Simmel) Hintergrund vgl. auch Anthony Vidler, Warped space. Art, Architecture, and Anxiety in Modern Culture, London 2000, S. 26–30. In vorliegendem Aufsatz kommt die kulturelle Hintergrundformation raumzeitlicher Sensibilisierung nur als Absetzpunkt der ästhetischen ‚mode d’être sensible‘ (Rancière) der Moderne in Betracht. 19 Hoffmann, „Der Dichter am Apparat“, a.a.O., S. 92, Hervorh. v. A. A. Zu Musils Überlegungen zum zwischen Welt und Ich, Innen und Außen vermittelnden Apperceptor vgl. speziell Filippo Smerilli, Moderne – Sprache – Körper. Analysen zum Verhältnis von Körpererfahrung und Sprachkritik in erzählenden Texten Robert Musils, Göttingen 2009, S. 76. 20 Robert Musil, „Profil eines Programms“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II, hrsg. v. Adolf Frisé, Hamburg 2000, S. 1315–1322, hier: S. 1318.
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risch geladener Teilchen unter anderem zu einer Elektronentheorie der Materie. Der früh verstorbene Eugen Minkowski wurde berühmt durch die erste wissenschaftliche Theorie raumzeitlicher Vierdimensionalität von 1908, also nur drei Jahre nach der Publikation von Einsteins spezieller Relativitätstheorie. Louis Couturat, Lehrstuhlinhaber am Collège de France, Linguist, Mathematiker, Logiker und Philosoph, ist einerseits neben Russell die Renaissance in der Leibnizforschung zu Beginn des Jahrhunderts zu verdanken. Dem Versuch, die Metaphysik des für Musil wohl wichtigsten Philosophen vollständig aus dessen Logik zu entwickeln, entsprach andererseits sein in La Logique et la Philosophie contemporaine vorgebrachter Plan, die „Kritik der reinen Vernunft […] vollkommen umzuschreiben, ja sie ist selber auf dem Fundament einer neuen, dem aktuellen Zustand der Wissenschaften entsprechenden Logik allererst zu unternehmen“.21 Besonders deutlich zeigt sich die poetologische Fortschreibung seiner naturwissenschaftlichen Inspirationsquellen an Giuseppe Peano, auf den Musil explizit bei seinen Selbstreflexionen über die Novelle zurückkommt. In seinen Exzerpten aus der Logique déductive von dessen Schüler Alessandro Padoa taucht Peano noch Ende der 30er Jahre in Musils Tagebuch auf. Ein Vierteljahrhundert später bekennt Musil nachträglich, sich in den Novellen mit antipsychologischer Stoßrichtung entschlossen zu haben, den „,maximal belasteten‘ Weg zu wählen / den Weg der kleinsten Schritte / den Weg des allmählichsten, unmerklichsten Übergangs“22, was für die Novelle bedeutete, den „Weg zu beschreiben, der von einer innigsten Zuneigung beinahe bloß innerhalb 24 Stunden zur Untreue führt. Es sind psychologisch hundert und tausend Wege. Es hat keinen Wert, einen von ihnen zu schildern“.23
21 Louis Couturat, „La Logique et la Philosophie contemporaine“, in: Revue de Métaphysique et de Morale, 14. Jg., 1906, S. 318–341, S. 339. Es wird zu zeigen sein, inwiefern Musil zu solch einem Versuch einer Freilegung der rein logischen Geistesgründe künstlerisch quer steht. Auf Couturats präanalytischer Kritik an reinen Anschauungsformen a priori und die mit diesen verbundenen epistemologischen Verengungen folgt bei Musil keine logische Aufhebung jedweder Raumzeitlichkeit, sondern umgekehrt, und im emphatischen Sinn ästhetisch, eine Untersuchung der aisthetischen Brüchigkeit von Raum und Zeit. 22 Robert Musil, „Fallengelassenes Vorwort zu: Nachlass zu Lebzeiten, Selbstkritik u – Biogr“ [1935], in: Musil, Gesammelte Werke, Bd. II., a.a.O., S. 959–974, hier: S. 972. 23 Ebd., Die differenzial- und integralpsychologische Intensitätsanalyse ist in den Novellen das Kompositionsprinzip schlechthin. Diese steht in einer Tradition die von Leibniz’ Diskussion des Tangentenpunkts als intensiver raumproduzierender Größe über Hermann Cohens neukantianisch-mathematische Konzeption der Empfindung als ‚Differenzial‘ sowie ‚intensiver Größe‘ (als ‚erstem Grad des Seins‘) reicht, und weist voraus auf ein relativitätstheoretisches Verständnis einer energetischen, Raum und Zeit vorausliegenden Materie. Grob skizziert vollendet Einsteins Relativitätstheorie die im 19. Jahrhundert vorbereitete Auflösung des Kraftbegriffs zugunsten von „Energie“ und trägt dazu bei, „Bewegung […] zum eigentlichen Kernbegriff der modernen Physik“ (Ernst Cassirer, Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1921, S. 8) zu machen. Eine Tagebuchstelle kann diesbezüglich den leibnizianisch inspirierten, mathematischen Monismus, welchen Musil nachträglich in seinen Novellen erkennt, verdeutlichen. „Movere u. Elm als Prinzip […] Akribie als Nichtmitgerissensein. Schwerste Belastung des kleinsten Schritts = Moral der ruhigen Zeit“ (Musil, Tagebücher, a.a.O., S. 779). In Kontrast zu Hartmut Böhmes relativierendem Vorschlag, diese Übergangsprozesse nicht als zeitliche, sondern bloß metaphorische zu lesen („Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle“, Nachwort zu: Robert Musil, Vereinigungen, Frankfurt am Main 1990, S. 185–221), halte ich Musils nachträglichen mathematischen Verstehensversuch von Padoas „Prinzip Elm“, jener „radikalste[n] Form von Individualität“, für raumzeittheoretisch relevant. Ich lese das (auch von den Herausgebern) lange Zeit als unverständlich bzw. als einem Schreibfehler geschuldete (Bergson’scher Elan?) oder gar als Abkürzung von ‚Element‘ verstandene Kürzel „Elm“ als jene radikale poetologische Singularität, als welche Musil sie notiert hat: „Elm = 1 Klasse, die nur aus einem Element besteht“; vgl. dazu die Zusammenstellung von Musils Kommentaren und Exzerpten aus Alessandro Padoas La logique déductive dans sa dernière phase de développement (Paris 1912).
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II. Raumzeitaisthetische Novellen In einem noch vor Beendigung der Arbeit an den Novellen an Franz Blei gerichteten Brief von Anfang Juli 1911 hat Musil die ‚Konstruiertheit‘ als ein Merkmal der Novelle bestimmt. Im Gegensatz zum Roman gelte es, die Ebene des „real Psychologischen“ in der Novelle abzuwenden, „[s]onst wandert man in der Ebene des Fleisches und die Bedeutungen liegen unklar am Horizont“.24 Damit bezieht Musil in der traditionell ungeklärten Frage nach dem (un)psychologischen Wesen der Novelle Position.25 Dem entspricht, dass er das Gattungsmerkmal eines nichtintegrierbaren ereignishaften Einbruchs26 (den Ehebruch der Protagonistin) in eine unbemerkte, die ganze Textur durchziehende Unscheinbarkeit auflöst. Gerade an dieser Stelle aber wird seine theoretische Nähe zur deutschen Frühromantik deutlich. „Novelle ist ein analytischer Roman ohne Psychologie“, sie muss, so Friedrich Schlegel, „durch und durch erotisch sein“.27 Besonders aber vor dem Hintergrund einiger Formulierungen von dessen Bruder in seinen Vorlesungen über die schöne Litteratur und Kunst wird die literarische Transformation in Musils neuartigen Konstruktion von dynamisch aufgeladenen Raumstellen und agogischen (Bewegungs-)Übergängen deutlich. August Wilhelm Schlegel zufolge bedarf die Novelle „entscheidender Wendepunkte“, statt „leiser und allmähliger Fortschritte […] und Veränderungen“ und deren „graduelle[r] Entwickelung“.28 Was Musils Vollendung der Liebe als „Raumdichtung“29 auszeichnet, ist, dass sie diese formalen Gattungsmerkmale in anschauungsformale, also raumzeitliche Bestimmungen überträgt. Was sie formal auszeichnet, ist die Art und Weise, Räumlichkeit im Sinne der „Mehransichtigkeit kubistischer Entwürfe“30 zu entwickeln. Die Schreibstrategien und Techniken, mittels derer literarische Spatialität produziert wird, sind stilistische Inversionen der Novellenmerkmale. Obige Genremerkmale der Novelle werden nämlich durch eine Musil eigene literarische Tangentialmethode invertiert, eine Vorgehensweise, die Bedeutungen stets nur am unscheinbaren Punkt ihrer raumzeitlichen Genese zu berühren sucht. Raumverdichtend verfährt Musil also im Sinne von Deleuzes spatium, das als eine räumliche Extensionen produzierende intensive Größe zu verstehen ist. Nicht um inhaltlich wahrnehmbare Wendepunkte handelt es sich dann mehr, sondern um intensive, spürbare, raumdynamische Sattelpunkte.31 Das geht auf Kosten des Gewichts der Geschichte. Was nach dieser – ganz anders graduellen – Intensivierung ins Auge fällt, ist nicht mehr deren Fleisch, auch nicht dasjenige 24 Robert Musil, Briefe 1901–1942, Hamburg 1981, S. 84. 25 Zum Verhältnis Musils zu traditionellen Novellentheorien vgl. Marie Louise Roth, Robert Musil. Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters, München 1972, S. 271. In der deutschen Novelle sind die beiden konträren Einschätzungen unvermittelt geblieben. Bei Gottfried Keller findet sich die Einschätzung, wir seien „nachgerade gewöhnt, psychologisch sorgfältig ausgeführte kleine Romane Novellen zu nennen“ (Brief an Paul Heyse vom 27. Juli 1881; zit. n. Karl Konrad Polheim [Hrsg.], Theorie und Kritik der deutschen Novelle von Wieland bis Musil, Tübingen 1970, S. 158.). Mit Bezug auf Musil hat Kathleen O’Connor (Robert Musil and the tradition of the German Novelle, California 1992, S. 12 f.) befunden, dass „the Novella forgoes the description, exposition, psychological detail and reflective speculation characteristic of the novel“. 26 Zu dem für die Novelle formkonstitutiven Genremerkmal eines traumatischen Einbruchs in das Geschehen vgl. Andreas Gailus, „Fall und Form. Die deutsche Novelle im 19. Jahrhundert“, in: Armen Avanessian, u. a. (Hrsg.), Form. Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, Berlin 2009, S. 43–64. 27 Zit. nach Polheim, Theorie und Kritik der deutschen Novelle, a.a.O., S. 3 f. 28 Ebd., S. 18. 29 Also ein Fiktionstext mit dem Anliegen, „strukturelle Angleichung an die Erscheinungsformen der Raumkünste herbeizuführen“, so die Definition von Knut Brynhildsvoll (Der literarische Raum. Konzeptionen und Entwürfe, Frankfurt am Main 1993, S. 2 f.). 30 Ebd. S. 3. 31 Als Sattelpunkte werden in der Geometrie jene durch die zweite differenzialrechnerische Ableitung einer Kurvenfunktion berechneten Punkte bezeichnet, welche – im Gegensatz zur ersten, Tangentenpunkte und somit die Richtungswechsel einer Kurve bestimmenden Ableitung – einen Wechsel der inneren Dynamik einer Kurve festlegen.
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psychologischer Innerlichkeit, sondern, wie sich zeigen wird, das Knochengerüst der bloßgelegten Anschauungsformen Raum und Zeit. Worauf die frühen Novellen letztlich literarisch abzielen, sind Wahrnehmungen eindrücklicher Räume und Zeitverhältnisse, ja literarische Bilder von Raum und Zeit selber. Da Letztere dem gesunden Menschenverstand ebenso wie dem Common Sense der Philosophen zufolge unmöglich ist, musste sich Musil partiell neurasthenische Protagonisten suchen, deren raumzeitpathologische Aisthesis ihm zu den entsprechenden sprachlichen Raum-Zeit-Experimenten verhalf. Das macht ästhetisch wie philosophisch Sinn, sind doch Raum und Zeit keine darstellbaren Entitäten, sondern die formalen Bedingungen unseres Anschauen und Darstellens selbst. Auffällig und einer mimetischen Einfühlung zugänglich werden diese bei Kant als apriorische verstandenen Formen unserer Anschauung nur dort, wo sie nicht mehr nur Mittel sind, sondern als ästhetischer Selbstzweck ihrer vermittelnden Ordnungsfunktionen verlustig gehen. Nur wenn Zeit an ihrer unmerklichen Sukzession gehindert und die – heute als ein Ordnungsschema unter vielen verstandene – euklidische Ordnung des Raumes Veränderungen in der Zeit unterworfen wird, nur dann brechen diese ansonsten unbemerkten Grundkoordinationen aus der Unmerklichkeit des durch sie strukturierten Fühlens, Wahrnehmens und Denkens heraus. Dann wird Zeit in simultanen Raumformen sichtbar, und der vermeintlich geo-metrische Raum geht seiner ansonsten unsichtbaren chrono-logischen Ordnung verlustig und wird auffällig. Dass Raum und Zeit zusammen-brechen, meint in diesem Kontext zweierlei. Einerseits wird der prekäre Charakter ihrer – kunsttheoretisch spätestens seit Lessings Raum- und Zeitsemiotik etablierten – Ordnungslogiken (Gleichzeitigkeit, Folge, Kausalität) in der Kunst der Moderne raumzeitaisthetisch vorgeführt, indem diese andererseits ineinanderbrechen und dabei sichtbar werden (als bewegter Raum und arretierte Zeitintervalle). Als raumzeitästhetisch relevante Sattelpunkte möchte ich vorschlagen, jene Momente zu nennen, in denen Raum als zeitliches Phänomen sichtbar wird oder von denen aus Zeit sich räumlich manifestiert. Das qualitativ intensivierende momentum der Novelle trifft sich also mit Musils schriftstellerischem Anspruch, demzufolge „Dichten […] keine Tätigkeit [ist], sondern ein Zustand. […] Lesen ist Übermittlung dieses Zustands“32, eines Zustands, der hier als Irritation der aller unserer Empfindung, Wahrnehmung und allem unserem Denken zugrunde liegenden Ordnungen von Raum und Zeit verstanden wird. Gerade indem sie es zurückweist, sich von inhaltlichen Gefühlen überformen zu lassen, und umgekehrt in ausschließlicher Mimesis an die innere Dynamik von Ereignissen durch Aufbrechen von deren raumzeitlicher Form versucht die (Sprache der) Novelle das wissenschaftlich Unmögliche zu generieren: Sensationen von Raum und Zeit, genauer: ein Empfinden jenes raumzeitlichen Fundaments unseres Sinnesapparats, welches außer in pathologischen Formen nur mittels künstlerischer Irritationen (unserer Aisthesis) bewerkstelligt werden kann. Die Trägerin dieser empfundenen Vereinigungen von Raum und Zeit empfindet „dieses tiefste, abschiedhaft menschliche Glück der Fremdheit in der Welt, mit dem Gefühl nicht in sie eindringen zu können, zwischen ihren Entscheidungen keine für sich bestimmt zu finden und, mitten unter ihnen an den Rand des Lebens gedrängt, den Augenblick vor dem Sturz in die blinde Riesenhaftigkeit eines leeren Raums zu fühlen.“33 32 Musil, Tagebücher, a.a.O., S. 470. 33 Die Vollendung der Liebe wird hier zitiert nach Musil, Gesammelte Werke, Bd. II, a.a.O., S. 156–194, hier: S. 167. Auch der Mann ohne Eigenschaften beschreibt später immer wieder Formen energetischer Räumlichkeit: „Er wußte aber, daß es auch eine Kraft ist; alle Gräben sind verkehrte Berge. Er dachte nicht über Menschen nach, aber er geriet manchmal in einen Wirkungsbereich. Zuletzt bei Ag. Spürte, daß von einem Menschen ein kleines Netz von Kreuz- und Querlinien ausging, und daß er […] einige kleine Magnete trug, von denen einer ihn in diesem Feld von Kraftlinien zu bewegen begann.“ (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften II, Hamburg 1988, S. 1712, Hervorh. v. A. A.) Im Gegensatz zu seinen raumzeitdekonstruierenden Novellen sind die Kraftlinien in Musils konstruktiv-ironischem Roman aber meist durchtränkt von Gefühlen und Bedeutungen, welche die jeweiligen Protagonisten füreinander haben. Was dann raumzeitlich strömt, sind etwa „[h]elle Wellen anmutiger Heiterkeit, dunkle Wellen menschlichen Vertrauens“, welche
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Dass man sich hier dem auch wirkungsästhetischen Kern von Musils Poetologie nähert, zeigt ein Blick auf seine Rilke-Rede, in der er einen durch das „unbegreifliche […] Nebeneinander und unsichtbar[e] Verflochtensein“ ausgelösten „milden lyrischen Affekt“34 beschreibt und einen aus folgender Beobachtung resultierenden Imperativ formuliert: Der „Ergriffene ist aus allem Vorher und Nachher gelöst“.35 Die „Kunst als Form“ verläuft über „Zwischentöne, Schwingungen, Schwebungen, Lichtstufen, Raumwerte, Bewegungsachsen“, in der „Dichtung“ zeigt sich „der irrationale Simultaneffekt sich gegenseitig bestrahlender Wörter“.36 Auch an einem anderen Zentralbegriff seiner Poetik, der „Inversion“, lässt sich nachvollziehen, wie Musil Ernst macht, nicht mehr nur mit einzelnen rhetorischen oder poetischen Figuren, sondern mit der Darstellung der Formen unserer Anschauung selbst. Im zu Lebzeiten publizierten Teil des Mann ohne Eigenschaften geschieht dies meist auf der metaphorischen Bildebene. „Dann zog sich der Eindruck des Zimmers, das er hinter seinem Rücken wußte, zusammen und stülpte sich hinaus, wobei er durch ihn hindurch- oder wie etwas sehr Weiches rings um ihn vorüberströmte. ‚Eine sonderbare räumliche Inversion! […] Kann man denn aus seinem Raum hinaus, in einen verborgenen zweiten?‘ dachte er.“37
Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, übernimmt hier im Sinne einer implantierten Theoriebeschreibung Erich von Hornbostels – eines langjährigen Freunds Musils seit ihrer gemeinsamen Studienzeit bei Carl Stumpf in Berlin – Konzept ‚räumlicher Inversionsbilder‘. Eben dieses gestalttheoretische Phänomen ‚Inversion‘ hat Alexander Honold zum Anlass einer poetologischen Auswertung genommen. An zugleich gefühlspsychologischen wie sprachmetaphorischen Reflexionen des Romans, dass etwa „ebenso gut gesagt werden [darf ], daß auch die Glieder in den Schreck führen“38, hat Honold den „Effekt des Umschlags auf syntagmatischer Ebene“ analysiert, für die es „kein geeigneteres Stilmittel als das der Inversion“39 gäbe. In seiner Novelle versucht Musil immer wieder „jenen Kurzschluß von Innen- und Außenansicht“ des Phänomens „optischer Inversion“40 rein sprachimmanent einzuholen. Dafür werden die Innenoder Außenansichten nicht einfach in metaphorischen Bildwechseln vertauscht, sondern die literarische Sprache versucht durchzudringen zur inneren (Anschauungs-)Form der Dinge und Ereignisse selbst. Die Novellensprache versucht sich die Ereignisse einzuschreiben, öffnet sich mimetisch ihrem Außen mittels Hervorkehrung ihrer ‚inneren Form‘ (Benjamin), dem von Novalis mit „mathematischen Formeln“ parallelisierten „Grundriß der Dinge“41, welchen ich hier sprachtheoretisch als raum-
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erst nachträglich „die Räume aus[füllten]“ (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften I, Hamburg 1988, S. 937). Offensichtlich sind es im Roman zumeist Emotionen, welche die Wahrnehmungen der Protagonisten einfärben. Robert Musil, Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. Januar 1927, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II, a.a.O., S. 1229–1242, hier: S. 1237. Robert Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films [März 1925], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II, a.a.O., S. 1137–1154, hier: S. 1151. Ebd., S. 1147. Musil, Mann ohne Eigenschaften I, a.a.O., S. 632. Musil, Mann ohne Eigenschaften II, a.a.O., S. 1166. Ein anderes Beispiel dafür: „gut sitzende Ruhe seiner Handlungen und seines Anzugs“ (Musil, Mann ohne Eigenschaften I, a.a.O., S. 104). Alexander Honold, Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, München 1995, S. 482; allgemeiner zu Musils Bekanntschaft mit Hornbostel vgl. wiederum von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, a.a.O. Honold, Die Stadt und der Krieg, a.a.O., S. 483. Novalis, Monolog, in: ders., Schriften, Bd. II, Stuttgart u. a. 1981, S. 672 f., hier: S. 672: „Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnis-
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zeitlichen zu fassen vorschlage. Als Medium ihrer Mitteilung fungiert nämlich, so lautet meine weiter ausholende sprachtheoretische These, die innere raumzeitliche Struktur von Sprache, welche die innere Dynamik des gegenständig Sich-Ereignenden direkt aufzuzeichnen versucht. Die Verbindung mit der adamitischen Sprachtradition (und ihre Beerbungen bei Hamann und Benjamin), der zufolge „prinzipiell das Wesen der Dinge im Aussprechens ihres Namens präsent ist“42, hat Hartmut Böhme im Zusammenhang der anderen Novelle der Vereinigungen, der Versuchung der stillen Veronika hergestellt – ich schlage vor, sie als Suche nach wahren Bildern (vera-icon) von Raum und Zeit zu verstehen. Das Sich-selbst-Schreiben der Dinge sowie die daraus folgende magische Kongruenz des ansonsten repräsentationslogisch Getrennten rühren aus anschauungsformalen Strukturidentitäten, welche diese unähnliche, eher figurale als figurative, Mimesis allererst in Bewegung setzt. Vom sprachexperimentellen Unternehmen einer Überbrückung der onto-semiologischen Differenz in den Vereinigungen insgesamt kann gesagt werden, dass sich Raum und Zeit in dem Maße in das Geschehen schreiben, als sich anschauungsformale Zustände in die literarische Sprache einzuzeichnen vermögen.
III. Zwei kubische Imaginationen „Meine Absicht war, mir schnell u. ohne viel Bemühen eine Gelenkprobe zu geben und die übliche galante Erzählung ein wenig im Sinn irgendwelcher Gedanken, die mich gerade beschäftigten, zu spiritualisieren. Das sollte mich 8 bis 14 Tage kosten. Was daraus wurde, war ein 2 1/2jähriges verzweifeltes Arbeiten, währenddessen ich mir zu nichts anderem Zeit gönnte. […] Was schließlich entstand: Eine sorgfältig ausgeführte Schrift, die unter dem Vergrößerungsglas (aufmerksamer, bedachtsamer, jedes Wort prüfender Aufnahme) das Mehrfache ihres scheinbaren Inhalts enthielt. […] Es ist das einzige meiner Bücher, worin ich heute noch manchmal lese. Ich ertrage keine großen Stücke. Aber ein bis zwei Seiten nehme ich jederzeit – abgesehen von bestimmten schmerzlichen Ausdrucksmängeln – gern wieder in mich auf.“ Robert Musil43
Unter dem poetischen Vergrößerungsglas der Vollendung der Liebe hat Musil nicht nur die eigenen Gelenke erprobt, sondern zugleich die Verbindungsstellen der Sprache zu Raum, Zeit und Sinnlichkeit auf ihre Wendungspunkte und Belastungsgrenzen hin untersucht, und ars damit auf ihre (nicht nur etymologischen) Ursprünge von Wendigkeit und Gelenkigkeit hin befragt.44 In einer auch für ihn einmaligen Dichte hat er die Verknorpelungen der Sprache, ihre Verhärtungen und festgefahrenen Ausdrucksformen mit einem Maximum an sprachlicher Elastizität und Beweglichkeit aufzulösen versucht. Der ästhetische Grenzwert, den die Novellen für Musil bedeuten, drückt sich aus in der brieflich geäußerten Warnung vor einer „fast unvermeidliche[n] Abscheu“45 als erstem Lektüreeindruck. Seinem Tagebuch hat er ein „Vorwort zur Neuausgabe der Novellen“ anvertraut, von dessen spatialer Lektüreanweisung ich mich hier leiten lasse. „Der Fehler dieses Buchs ist, ein Buch zu sein. Daß es einen Einband hat, Rücken, Paginierung. Man sollte zwischen Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten u. sie von Zeit zu Zeit wechseln. Dann würde man sehen, was es ist.“46 Zwei Novellenbilder sollen von daher in der Folge genauer betrachtet werden. Jeweils ein längeres Zitat soll zur Lektüre angeführt und dann in der Folge kristallin erweitert werden. So kann nicht nur Musils Forderung, sondern auch der Lektürewirkung der räumlich weiten und zeitlich engen Satzge-
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spiel der Dinge.“ Zum allgemeinen Einfluss Hardenbergs auf die Vereinigungen vgl. schon Karl Corino, Robert Musils „Vereinigungen“. Studie zu einer historisch-kritischen Ausgabe, München 1974, S. 409. Böhme, Erinnerungszeichen, a.a.O., S. 211. Musil, „Fallengelassenes Vorwort“, a.a.O., S. 969. In der Folge werde ich die zentralen Formulierungen aus diesen Passagen kursiviert hervorheben. Musil, Briefe 1901–1942, a.a.O., S. 1417. Musil, Tagebücher, a.a.O., S. 347.
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winde am ehesten Genüge getan werden. Die beiden Bilder enthalten zugleich zwei Motivreihen. Deren erste am Beginn der Novelle setzt sich zusammen aus (spürbaren) Raumwerdungen und -materialisierungen, kubistischen Sprachwinkeln, geometrischer Vereinigung und Kristall. Die zweite Reihe übersetzt diese Motive mittels Verwandlungen und Übergängen in weitere zeitliche und sinnliche Intensitätsbereiche: Plötzlichkeit und Zeitdifferenzial, (gedanklicher) Tiefendruck, Depersonalisation, Tier- und Dingwerdungen, Raumangst und Ekel. Nur vor ihrem (anschauungs)formalen poetologischen Hintergrund machen diese inhaltlichen Motive Sinn.
Abb. 1–4: Die Vollendung der Liebe (Robert Musil, Vereinigungen, München 1911, S. 3–6). „Der Fehler dieses Buchs ist, ein Buch zu sein. Daß es einen Einband hat, Rücken, Paginierung. Man sollte zwischen Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten u. sie von Zeit zu Zeit wechseln. Dann würde man sehen, was es ist.“ (Musil)
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Nicht in der inhaltlichen Bedeutung der Dialoge oder der metaphorischen der Gegenstände, sondern von den aus der eigentümlichen Semantik sich entwickelnden Raum- und Zeitmotiven her lassen sich die Zusammenhänge der Novelle am besten verstehen. Weder der abbrechende Dialog der Subjekte am Beginn (Abschied der Gattin) noch das Medium der lichtfilternden Jalousien (Eifersucht) trägt demzufolge die Bedeutung, sondern diese drückt sich zu Beginn jenseits erzählerischer Inhalte vor allem in räumlichen Relationen aus. Das „System der optischen Wahrnehmung“ löst sich dabei angesichts der „Dynamisierungen und Dezentralisierung der Blickverhältnisse“47 von der Orientierung an cartesischen Raumkoordinationen. Jenseits subjektiver Blickrelationen ist auf die Ausstrahlungen der Objekte zu achten. Schon die dunklen Jalousien finden sich aisthetisch umfunktionalisiert. Erstens blicken sie auf die Straße, und zweitens verbergen sie eher das innere Licht und die Klänge des Innenraums vor deren Verausgabung. In diesem Jugendstilinterieur48 steht die Zeit anfangs ereignislos (endogen depressiv) still und macht erste raumgeometrische Art-déco-Formationen transparent. So strömt der wie eine Kristallsäule stillstehende Teestrahl aus seinem wiederum einschlägig markierten Ursprungshohlraum: Selbst die Flächen der matten Kanne sind eingebogen und gekrümmt.
47 Arno Rußegger, Kinema mundi. Studien zur Theorie des „Bildes“ bei Robert Musil, Wien u. a. 1996, S. 102. 48 Zu Jugendstil-Elementen Musils allgemein vgl. J. B. Neveux, „Robert Musil. Jugendstil et Sezession“, in: Etudes germaniques 23, 24, 1968/69; Gert Mattenklotts Vorwurf eines Jugendstilmoments, „wonach die spirituelle Vereinigung mit Verzicht auf die physische erkauft“ sei, trifft aber die Vollendung der Liebe in weit geringerem Maße als die beiden Romane. Nicht zuletzt ist das auf die zunehmende Dynamisierung der Raum- und Zeitverhältnisse im Fortlauf der Novelle zurückzuführen (Der „subjektive Faktor“ in Musils Törleß, wieder abgedruckt in: Renate von Heydebrand (Hrsg.), Robert Musil, Darmstadt 1982, S. 272).
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Am Beginn der Novelle wohnen wir einer kristallinen Genese von Raum und Zeit bei. Es handelt sich um ein räumliches ‚Kristallbild‘ (Deleuze), in dem sich „die unablässige Gründung der Zeit [gewahrt]“.49 Gleichwertig zwischen Armen, Blicken der Frau, Kanne und Mann bilden sich Winkel und Streben von geradezu metallischer Körperlichkeit. Die Einheit durch einander und miteinander, auch durch und mit diesen Winkelbestrebungen, ist spürbar, wenn auch nur fast mit den Sinnen empfunden. In der Tat gibt es keine Sinne für Raum und Zeit – umso intensiver bemühen sich jedoch Musils Sätze, diese direkt zu kommunizieren. Das „fast“ ist nämlich mehr als eine schriftstellerische Arbeitserleichterung. Die exorbitante Anhäufung von Unschärfesignalen ist ein bewusst eingesetztes strukturelles Merkmal der Musil’schen Novellenprosa. Eine genaue Zählung sprachlicher Formen des ‚Genauen‘ und ‚Ungenauen‘ ergibt: „dem einschränkend-genauen nur, nur mehr, bloß (120mal) stellt sich ein einschränkend-ungenaues beinahe, fast, kaum, ein wenig, vielleicht (60mal) zur Seite. Flimmernde Grenzbestimmungen zeitlicher und räumlicher Teilhabe verteilen sich auf die Worte noch, noch nicht (61mal), schon (25mal) und weitere Verbindungen mit mehr (38mal)“.50 „27mal begnügt […] sich [Musil] mit einem scheinen, erscheinen, scheinbar, und 207mal zieht er sich auf die ebenso unbestimmte wie unangreifbare Position des ‚Gefühls‘ zurück (fühlen, Gefühl, spüren, empfinden, Empfindung).“51
Um die Dimensionen deutlich zu machen: Auf den knapp achtunddreißig Seiten, welche die Vollendung der Liebe zählt, kommen 337 Vergleichskonstruktionen („wie“, „wie wenn“, „als ob“ etc.) vor. Auf die Einheit, welche die zartfühlende Protagonistin (oder der Autor, oder der Leser?) fast mit den Sinnen empfindet, folgt im Text ein „es“, welches sich als Druck auf die Herzgruben spürbar macht und „sie“ steif in die Höhe richtet. Die wuchtende Gewalt der Dinge ist hier diejenige dynamisierter Räumlichkeit selber – dann halten die Dinge den Atem an, und alles ist nur noch da, um seiner selbst willen. Auf der sprachlichen Ebene korreliert dem, dass „Druck“ in obigen Geometrisierungen die grammatikalische Subjektposition gewinnt. Die hierzu notwendigen genauen Bewegungsund Gleichgewichtsanalysen von Musils Sätzen stammen von Jürgen Schröder. Folgt man Schröders grafischen Satzgegenüber- und -nebeneinanderstellungen, dann ist „es“ auch der Ausdruck für genau kalkulierte sprachoptische Effekte. Die „Umkehr der Perspektive“ ist keine äußerlich beschriebene, sondern quasi grammatikalisch internalisiert. Wo am Ende eines Satzes „Menschen das Subjekt“52 sind, im nächsten das Objekt, wendet sich die grammatikalische Bewegung im darauf folgenden Satz wieder zurück zu den Subjekten. Unterwegs haben diese jede Vorrangigkeit eingebüßt. Semantisch, lexikalisch und grammatisch bricht der wahrnehmungstechnische Vorrang der Protagonisten. Angesichts des ihnen Entgegenstehenden sind Subjekte wie Objekte Unterworfene von Raum und Zeit. Schröders These, wonach sich das „sprachliche und grammatische Verhältnis […] nach außen gewendet [hat] in Raum und Figur“53, gilt es jedoch einerseits zu erweitern, andererseits umzukehren. Beides geht raumzeitästhetisch zusammen: Erstens sind es raumzeitliche Aspekte, welche sich zweitens in die anschauungsformalen Poren der Sprache eingefaltet haben. Das bildet sich in der Sprache der Vereinigungen ab. Als nicht mehr nur innere (die Zeit als innerer Sinn auch der Einbildungskraft54), sondern untergründig auch äußere Anschauungsform strukturiert Zeit somit nicht mehr
49 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt am Main 1991, S. 112. 50 Jürgen Schröder, „Am Grenzwert der Sprache. Zu Robert Musils Vereinigungen“, in: Euphorion 60, 1966, S. 311–334, hier: S. 311. 51 Ebd., S. 312. 52 Ebd., S. 324. 53 Ebd., S. 325. 54 Vgl. dazu die prominente, wenn auch einseitig zeitphilosophische Lektüre von Kants transzendentaler Ästhetik durch Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt am Main 1973.
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abstrakt den messbaren Zusammenhang des Raums, sondern läuft konkret durch dieses Zimmer und durch diese Menschen und Dinge hindurch. Die Vollendung der Liebe zeichnet aus, die Gegenstände und Protagonisten von den durch sie miterzeugten Raum-Zeit-Kräften packen und mitreißen zu lassen. Die Inversion räumlicher nicht anders als die Implosion zeitlicher Distanz entwickelt sich konsequent anhand der Dekonstruktion raumzeitlicher Phänomene, genauer: ihrer Erscheinungslogiken. Neben ‚Bewegung‘ erstarrt auch das zeitprüfende und raumöffnende ‚Licht‘ zu Spitzen, zuerst zu einem endlos glitzerndem Faden, dann, nach dem autogenen Sich-Ordnen der Flächen, zu einem Sich-Bilden des Kristalls.55 Die Dynamisierung des Raumes zeitigt und erzeugt „kleine wirbelnde Mittelpunkte, mit einem Kreisen um sich, einer nach innen sehenden Bewegung, die irgendwo plötzlich, blind, fensterlos ans Gleichgültige grenzte; und überall innen war dieses Gehaltenwerden vom eigenen Widerhall in einem engen Raum, der jedes Wort auffängt“.56
Diese monadischen Intensitätspartikel sind es, welche immerzu Raum generieren, die ‚differenzielle Entfaltung der Zeit‘ (Derrida) beschleunigen und beide ineinander integrieren. Was Musil so sprachästhetisch darzustellen sucht, hatte schon Novalis als „[r]eine Beobachtungen der Zeit und Raum Phaenomene“ anvisiert, denn „Zeit und Raum entstehn zugleich und sind also wohl Eins, wie Subject und Object. Raum ist beharrliche Zeit – Zeit ist fließender, variabler Raum“.57 Musils Suche nach den raumzeitlich ungeordneten „Empfindungen ohne Eigenschaft“58 folgt den Konstruktionsbedingungen des Raums, dessen Linien auch von den affizierten Protagonisten ausstrahlen und nicht mehr die verlängerten Achsen koordinierbarer Raumgegenstände bezeichnen. Deswegen ist die These Karl Corinos, wonach Musil erst mittels gestaltpsychologischer „Gesetze für die Axialität der Räume“ auf „Phänomene aufmerksam [geworden ist], die zuvor nicht zur Sprache gebracht werden konnten“59, aus raumzeitästhetischer Perspektive unbefriedigend. Vielmehr misst sich die anschauungsformale Kapazität der Sprache an den aisthetischen Verwachsungen von Zeit und Raum. Erst mit der Rückgewinnung einer untergründigen raumzeitaisthetischen Dimension von Sprache werden die motivischen Fragen nach den richtigen Anschlüssen und Verbindungen, nach (Un-)Treue und Liebe plausibel, welche den inhaltlichen Motivkomplex im folgenden zweiten Bild ausmachen. Der zweite Imaginationskristall bildet sich im Hotel des eingeschneiten Dorfs, wo Claudine ihre Tochter Lilli – das Resultat eines früheren ‚Treuebruchs‘ – besucht.
55 Die Kristallmetapher als Darstellung der Genese der Zeit ist keinesfalls äußerlich auf Musil appliziert. Jacques Rancière hat sie vielmehr über Jean Epstein – von dem sie Deleuze übernommen hat – bei dem besonders für den frühen Musil bedeutenden Maeterlinck nachgewiesen. Schon bei diesem macht eine fallengelassene Vase Kristallbilder sichtbar, da, „où nos yeux incomplets n’avaient rien aperçu“ (zit. n. Jacques Rancière, La fable cinématographique, Paris 2001, S. 14). Im Falle Claudines sind nicht nur ihre Augen, sondern ist ihr Körper insgesamt mit partiellen Kristallisierungen konfrontiert: „Da war ihr mit einem Schlag einen Augenblick lang, als ob tausend zu ihrem Körper zusammengefügte Kristalle sich sträubten“ (Musil, Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 182). Allgemein zum Zusammenhang von Bewegungsstillstand, Kristallbildung und der „Übereinstimmung von Raum-, Zeit- und Körpererfahrung“ vgl. Fred Lönker, Poetische Anthropologie. Robert Musils Erzählungen „Vereinigungen“, München 2002, S. 23 f. 56 Musil, Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 187. 57 Novalis, Schriften, Bd. III, Stuttgart u. a. 1983, S. 427 f. 58 Winfried Nolting, Studien zu einer Geschichte der literarischen Empfindung. Die Objektivität der Empfindung, Stuttgart 1989, S. 19. 59 Corino, Robert Musils Vereinigungen, a.a.O., S. 294.
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Abb. 5–7: Die Vollendung der Liebe (Robert Musil, Vereinigungen, München 1911, S. 85–87).
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Zu klären ist, woher sich diese plötzlichen Begierden entwickeln. Woraus resultieren Ekel und dessen Anziehungskraft? Was genau ist die innere Konsistenz jenes ‚Da‘, welches Claudine zu der proskynetischen Geste, sich auf den ekeligen Teppich zu werfen, aufruft? Es wird sich zeigen, inwiefern die Überwältigungs- und Ekelphantasien (der ‚Untreue‘) stets anschauungsformal artikuliert sind und am besten aus ihrer raumzeitlichen Bedeutung heraus gedeutet werden können. Alexander Honold hat im Zusammenhang des Mann ohne Eigenschaften auf eine weitere poetologische Facette räumlicher ‚Inversion‘ hingewiesen. Sein Vorschlag lautet – nach dem Prototyp der syntaktischen Konstruktion des lateinischen ‚cum inversivum‘, welches das Eintreten plötzlicher Ereignisse markiert –, auch den „mit der Konjunktion ,als‘ oder dem Temporalverb ,da‘ signalisierten temporalen Umschlagpunkt als Inversion“ zu bezeichnen. Dem „entspricht auf der Makroebene der ,Grammatik‘ elementarer Erzählsequenzen die Funktion des entscheidenden Umschlagpunktes der Handlung“.60 Mit einemmal hörte sie Schritte, da packte sie die Lust, plötzlich verstand sie die Untreue – die sexuellen Entgrenzungen Claudines gehorchen zuallererst solchen Modi ruckhafter Zeitlichkeit. Eine erste Verbindung dieser Zeitmodi mit den diversen Ekelmotiven läuft über deren Gewalt. Schon ein früherer Spaziergang entdeckt diesen Zusammenhang von Gewalt und Ekel zu Übergängen und (Goethe zufolge stets ekelhaften) Verwandlungen.61 Die Möglichkeit, dass Claudine „in ihrem Körper das sie Zerstörende erlitte, durch ihn als sie selbst empfinden würde“, stößt sie ab und zieht an zugleich.62 Es „lockte sie bitterselig ihr Leib, ihn von sich zu stoßen, in der Wehrlosigkeit der sinnlichen Verlorenheit von einem Fremden ihn niedergestreckt und wie mit Messern aufgebrochen zu fühlen, ihn mit Grauen und Ekel und Gewalt und ungewollten Zuckungen füllen zu lassen, – um ihn in einer seltsam bis zur letzten Wahrhaftigkeit geöffneten Treue um dieses Nichts, dieses Schwankende, dieses gestaltlose Überall, diese Krankengewißheit von Seele dennoch wie den Rand einer traumhaften Wunde zu fühlen, der in den Schmerzen des endlos erneuten Zusammenwachsenwollens vergeblich den anderen sucht.“63
Das Phantasma ist eines auflösender, parasitärer Durchlässigkeiten sowie der damit zusammenhängenden Um- und Einstülpungen: durch den Anderen sich selbst empfinden, im Raum des Anderen sich selbst verlieren – zeitweise, außer der Zeit. Den eigenen Raum anzufüllen mit Heterogenem, das ist schon an sich Grauen und Gewalt. Wohlgemerkt träumt Claudine nicht masochistisch davon, sich Gewalt antun zu lassen. Vielmehr ist die Wunde Claudines eine traumhafte, fühlbar nur an ihrem transitorischen Rand. Solche aisthetische Verletzlichkeit ermöglicht die wahrnehmungsintensivierende „Reise an den Rand des Körpers“64 am Ende der Nacht. Nicht anders, als sich schon die Dinge und Objekte selbst (als raumaufspannende und unterschiedliche zeitliche Dimensionen konstituierende) geöffnet haben, so trägt es sich jetzt gezwungenermaßen auch mit Claudine zu – mit, durch, gegen die Dinge und letztlich offen für den durch sie aufgespannten Raum. Ebenso wie die Dinge in ihrem atemlos aktiven Zusichselbstkommen gibt sich auch Claudine selber passiv dem immer eindringliche60 Honold, Die Stadt und der Krieg, a.a.O., S. 428. 61 „Was denn nun gar Verwandlung ist, macht einen ekkelhaften Gegenstand“, hatte Goethe einst befunden (zit. n. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999, S. 90). Noch vor allen ‚perversen‘ Inhalten wäre demnach Musils Schreiben selbst ein ekelhaftes zu nennen. 62 Musil, Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 186. Schon zu Beginn der Novelle spricht Claudine entsprechend zu ihrem Mann: „Ich hätte dich nehmen mögen und in mich zurückreißen […] und dann wieder dich wegstoßen und mich auf die Erde werfen“ (ebd., S. 159). Auch die bloß handlungsstrukturierende Frage nach der „Untreue“ relativiert sich mit Claudines „Gedanke[n]: wir waren einander untreu, bevor wir einander kannten“ (ebd., S. 174). 63 Ebd., S. 186. 64 Vgl. Rolf Günter Renner, „Transformatives Erzählen. Musils Grenzgang im Mann ohne Eigenschaften“, in: The German Review, Nr. 2, Frühling 1991
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ren Raum hin. „[S]ie sah dabei machtlos, mit regloser Seele ihren eigenen Handlungen nach und fühlte einen zwischen Lust und Erleiden zerspaltenen Genuß an sich, wie in dem plötzlich vertieften Innenraum einer großen Erschöpfung kauernd.“65 Gerade die kristalline Reduktion von Raum und Zeit auf ihre generativen Grundkoordinaten führt zu einem Überschuss an Raumzeitlichkeit. Dieses Schema eines Sowohl-als-auch ist es, dem auch die erotische Vereinigung der Novelle folgt: Eros als die Vereinigung der gegensätzlichen Penia und Poros, den Personifikationen von Armut und Überfluss, des Begehrens nach Überwältigung und porösem Einsickern in das Andere. Jenseits von auto- oder heterosexueller Aktivität und Passivität ist Claudine momentan nichts als ein „Wunsch, diesen Leib ihrem Geliebten hinzugeben“.66 Ihre Phantasmen spielen somit auf einem neuen Begehrensregister. Es ist nicht das perverse von Koprophilen oder (Fuß-)Fetischisten. Es ist dasjenige des für die (raumzeitlogisch) verbundene Auflösung und Verdichtung der Raum- und Zeitordnungen sensibilisierten Musils hineinzufühlen in plötzlich sich verändernde, vertiefende, sich erweiternde Räume; oder: Zeiten nachzuspüren in ihren Wirbeln und Rotationen, „ein langsames Sich nicht mehr Begrenzen können und -spüren und ein Selbstverfließen, – in einen Wunsch zu schreien, eine Lust nach unglaublich maßlosen Bewegungen“. 67 Der Ekel, der Claudine immer wieder schüttelt, und auch die Gewalt, die sie zu fühlen glauben muss, sind stets exakt notiert in irritierenden raumzeitlichen Dimensionen. Daraus erklären sich auch all die – bei allem gleichzeitig stilisierten Stillstand – ruckartigen Bewegungen, maßlosen Beschleunigungen, heftigen Verzögerungen und plötzlichen Umkehrungen. Ein weiterer temporaler Partikel, „da“, welches sogleich räumlich prägnant wird: „Da versuchte sie sich zu besinnen und kehrte sich um. Eng lag das Zimmer hinter ihr und es war noch etwas Sonderbares in dieser Enge, wie ein Käfig oder wie Geschlagenwerden.“ 68 Räumlichkeit selbst ist es also, welche sich mit Gewalt physiologisch überträgt. Die eigentümliche Themenwahl und Motivik von Musils Novellenprosa begründet sich ästhetisch aus dem Interesse für Sprachbewegungen in mikrologischen Differenzialen. Um einen sprachmagischen Versuch handelt es sich insofern, als es nicht um eine sprachliche Repräsentation der jeweiligen Phantasmen geht, sondern darum, diese raumzeitlich zu präsentieren und in ihren (anschauungs-) formalen Bewegungsstrukturen für wahr zu nehmen. Ohne Einsicht in die affektiven Raum- und Zeiterlebnisse kann nämlich auch das Eintauchen „in die Sphäre des Ekels, des Schmutzes und der Selbsterniedrigung“69 nur als subjektiv-moralische Regression statt als die tatsächlich sich ereignende autopoetische Sprachprogression verstanden werden. Der Wiederholungszwang, der Claudine immer wieder auf allen Vieren auf den Boden ihres Raumes und in die Untreue zwingt, ist vorab eigentümlichen Bewegungsphantasmen geschuldet, die zudem auktoriale Erzählerperspektive und Ich-Reflexionen ununterscheidbar werden lassen.70 „Tiere, Menschen, Blumen, alles verändert; man selbst ganz anders. Man fragt, wenn ich hier von Anbeginn gelebt hätte, wie würde ich über dies denken, wie jenes fühlen? Es ist sonderbar, daß es nur eine Linie ist, die man zu überschreiten braucht. Ich möchte sie küssen und dann rasch wieder zurückspringen und sehen; und dann wieder zu Ihnen. Und jedesmal beim Überschreiten dieser Grenze müßte ich es genauer fühlen. Ich würde immer bleicher werden; die Menschen würden sterben, nein, einschrumpfen; und die Bäume und die Tiere […] ‚Bitte, gehn sie weg‘, sprach sie, ‚mir ekelt‘.“71
Musil, Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 170. Ebd., S. 186. Ebd., S. 184. Ebd., S. 171. Böhme, Erinnerungszeichen, a.a.O., S. 208. Vgl. dazu Brigitte Röttger, Erzählexperimente. Studien zu Robert Musils „Drei Frauen“ und „Vereinigungen“, Bonn 1973, S. 90. 71 Musil, Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 193. 65 66 67 68 69 70
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Diese letzten Worte Claudines in der Novelle umschreiben ein weiteres Mal ihr ekelbehaftetes Begehren. Egal, ob es sich um Tier-, Blume- oder Ein-anderer-Mensch-Werden handelt, immer sind es infinitesimale Übergänge, ein sprunghaftes Übergehen, minimale Überschreitungen, welche Claudines sexuelle72 und Musils Schreibphantasmen bezeichnen, den maximal belasteten Weg, den Weg unmerklichsten Übergangs zu wählen. Hinter Claudines viehischem Schnuppern an Fußschweißablagerungen in den Bodenmatten ihres Hotelzimmers, den unwiderstehlich-ekelerregenden Gerüchen, ihren hässlich über den Teppich gebeugten schweren Frauenschenkeln, hinter alldem stehen Phantasmen des Aus- und Eindringens, des Sichumgebens und Auffüllens und schließlich eines Werdens, Übergehens, Verwandelns, als deren Logik sich immer wieder anschauungsformale Vereinigungen (von Raum und Zeit) und Übergänge von durch inneren (subjektiv) und äußeren (objektiv) Sinn Wahrgenommenem erweisen. Die zuvor physikalisch-geometrisch als Sattelpunkte (Umschlagen der inneren Dynamik von Bewegungen) definierten physiologischen Stillstandspunkte sind psychologisch gelesen Begehrenspunkte in den von Leibniz formulierten Dimensionen: mit einem conatus zu Ausdehnungen begabte energetische Punkte, welche vor Raum und Zeit liegend gleichwohl Räumlichkeit und Zeitlichkeit aus sich entfalten. Von diesen Punkten schreibt Musils Novelle sich her; aus deren Aufzeichnung generieren sich direkte Raum-Zeit-Bilder, durch die uns die Vollendung der Liebe an die unserem Denken unzugängliche Entstehung von Raum und Zeit als getrennte Ordnungen heranführen. Nach Erwin Straus ist das „Empfinden ein Erlebnis des Werdens“73, in Musils Novelle heißt es „betäubendes Empfinden des Wachsens“.74 Vor diesem Hintergrund lässt sich Musils eingangs zitierte briefliche Warnung vor dem Abscheu, welchen die Novelle erregen würde, abschließend aus ihrem vereinenden Charakter erklären. Auf insgesamt nämlich drei Ebenen vereinigen die Novellen: sexuell, sprachlich und letztendlich raumzeitlich. Hartmut Böhme hat mit Bezug auf die tendenziellen Verbindungen zwischen den beiden Ersteren darauf hingewiesen, dass „die Sprache des Textes […] die Androgynität poetisch wiederherstellen“75 will, also die Vereinigungsphantasien seiner Protagonisten sprachlich reflektiert. Neben diesen, sicher auch von Musil sehr geschätzten, mythologischen Erklärungshilfen sei hier noch einmal eine weitergehende sprachtheoretische Spekulation ins Spiel gebracht. Erstens folgen Musils sem-ontologische Wortverdopplungen weniger dem Muster einer coincidentia oppositorum76, sondern einer Dialektik disjunktiver (formaler und materialer) Extreme, also einem „zitternde[n] Auflösen aller scheinbaren Gegensätze“.77 „Sichuneindrückbarfühlen[d]“78 spannen Musils Wortvereinigungen und Wortverdopplungen die Extreme bis in ihre schmerzlichsten Entfernungen. 72 Bevor Claudine „untreu“ wird, ist „alles schon ein wenig tot für sie, keine Sinnlichkeit mehr“ (Musil, Die Vollendung der Liebe, a.a.O., S. 192). Dem entspricht eine generelle Tendenz, welche an den verschiedenen Überarbeitungsphasen der Novelle nachvollziehbar wird. Zu den verschiedenen Textfassungen allgemein und speziell der Änderung von „aber zuweilen war es fast etwas Erotisches“ zu „aber zuweilen war das fast wie eine Hingabe“ siehe Corino, Robert Musils Vereinigungen, a.a.O., S. 271. 73 Erwin Straus, Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin 1935, S. 270. Indem er die grundsätzliche Frage nach einer Raum-Zeit-Formen des Empfindens (ebd., S. 255) gestellt hat, hat Straus nicht nur Zeitlichkeit immanent zu Gehalt der Empfindung gehörend (ebd., S. 270) erkannt, sondern zugleich dem haptischen Empfinden des Raums eindringliche Analysen gewidmet. 74 Musil, Vereinigungen, a.a.O., S. 161. 75 Böhme, Erinnerungszeichen, a.a.O., S. 201. Zu Musil als „Spezialist für Zwischenraumtopographien“ und im speziellen seinen ,sprachlichen Vereinigungen‘ vgl. Monika Schmitz-Emans, „Das Doppelleben der Wörter. Zur Sprachreflexion in Robert Musils „Vereinigungen“, in: Robert Musil: Dichter, Essayist, Wissenschaftler, hrsg. v. Hans-Georg Pott, München 1993, S. 94 u. 104. 76 So noch Gerhart Baumann, Robert Musil. Ein Entwurf, Bern, München 1981, S. 132. 77 Musil, Vereinigungen, a.a.O., S. 191. 78 Ebd., S. 184.
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Aber schizophrene Wortverdopplungen sind nur zum Teil für die Eindringlichkeit von Musils Sprache verantwortlich. Das „schwebend Conjunktivische“79 von Musils Ausdrucksweise gilt auch für seine materiale Metonymik. Auch die metaphorischen Vergleiche weisen in eine Richtung, die Dorrit Cohn zu dem Vergleich mit Joseph Franks spatial form angeregt hat. Selbst Musils Dauergebrauch des Vergleichsworts ,wie‘ „acts as a barely perceptible hinge between authorial evocation and figural imagination“80, vereint also die Perspektive von Erzähler und Claudine. Damit spricht Cohn ein strukturelles Moment von Musils in infinitesimalen Bewegungen fortschreitendem Schreiben an. Die Wirkung seiner Novellenprosa resultiert immer auch aus grammatikalischen Umwertungen. Seiner tendenziellen Ekelsublimierung, genauer: Ekelformalisierung, entsprechend, zielt Musil im Dienste seiner direkten Raum- und Zeitimaginationen aber nicht auf automatisches Schreiben des Realen. Seine Raum-Zeit-Imaginationen entstehen eher aus präzisen symbolischen Verwindungen der Grammatik. An den Artikulationsstellen der Sprache setzt Musil im Dienste neuer anschauungsformaler Dekonstruktionen an. Seine Methode ist hier noch nicht die später von ihm beanspruchte konstruktive Ironie, sondern (nicht notwendigerweise auf komische Effekte verpflichtete) humoristische Übererfüllung und Vertauschung. Partikel, Konjunktionen, Konjunktive und Negationen, die vermeintlich „sekundäre[n], abhängige[n] Wortarten und Sprachmerkmale“, fungieren bei Musil neu, „wo sie in ihrer bewußten Häufung die Achsen der Sätze bilden“ und sich somit „das Verhältnis genau vertauscht oder ,invertiert‘: die unabhängigen und konstanten Größen sind Abhängige und Variable geworden, die abhängigen und variablen aber sind unabhängige und bestimmende Größen geworden. Dadurch tritt ihr eigentliches Wesen überdeutlich hervor. Dieses Wesen besteht darin, Verbindungen zwischen den Satzgliedern zu knüpfen, Bezüge, Verhältnisse, Proportionen und Modi anzugeben und zu definieren.“81
Deutlich lässt sich Musils Prosa als Absetzbewegung von raumzeitlinguistischen Fundamenten und Festschreibungen konturieren. Die kubistische Auflösung des Wahrnehmungszentrums (Claudine) bedeutet somit auch einen Anlass zur Aufkündigung eines sprachtheoretischen Vertrags. Mit der „gewissermaßen gefrorenen egozentrischen Perspektive“, die zugleich jede grammatische Organisation an den (gesunden) Wahrnehmungsapparat und dessen charakteristische anthropologische Bewegungsrichtungen bindet, geht auch die in der Raumlinguistik festgehaltene „charakteristische Orientierung zum Gegenstand“82 (oben/unten, rechts/links, innen/außen) verloren. Die damit verbundenen eindrücklichen Raumerlebnisse versucht Musil seiner Sprache gleichsam mittels zarter Mimesis an Sprachaphasien einzuprägen. Mittels Überbelichtung ihrer Funktionswörter wird die Sprache in ihren funktionalen Stützen angegriffen. Ihre räumlichen und zeitlichen Gliederungen brechen unter einer Inflation an differenzialen Minimalrucken oder verschwimmen inmitten unüberschaubarer Infinitesimalverschiebungen. Musil unterzieht genau jene Sprachelemente einer artistischen Überbelichtung, welche für ihr reibungsloses Funktionieren als Hilfskonstruktionen unreflektierter
79 Baumann, Robert Musil, a.a.O., S. 70. 80 „This psycho-analogical method […] results in an elimination of narrative distance and induces a fusion between the narrating and the figural consciousness“, so Dorrit Cohn („Psyche and Space in Musils ,Vollendung der Liebe‘“, in: Germanic review 49, 1974, S. 154–168, hier: S. 157). Aus dem Vergleich mit Joseph Frank („Spatial Form in Modern Literature“, in: The Sewanee Review 53, 1945) folgt auch bei Cohn eine zeitphilosophisch prekäre Deutung der Musil’schen Beschreibungstechnik, in welcher „the similes themselves lead into a timeless zone“ der Beschreibung (ebd., S. 154). Zu einem Überblick über die heftig umstrittene Debatte um eine spatial form in der Literatur vgl. Joseph A. Kestner, The Spatiality of the novel, Detroit 1978. 81 Schröder, Am Grenzwert der Sprache, a.a.O., S. 318. 82 Dieter Wunderlich, „Raum, Zeit und das Lexikon“, in: Harro Schweizer (Hrsg.), Sprache und Raum. Psychologische und linguistische Aspekte der Aneignung und Verarbeitung von Räumlichkeit, Stuttgart 1985, S. 66–89, hier: S. 75.
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Sprachhintergrund zu bleiben hätten. Wie schon in den komplizierten Wortverdopplungen treten dann die (Funktions-)Achsen der Sprache hervor und zeigen, ans literarische Licht gezerrt, ihre koordinative Dysfunktionalität. Denn nicht nur um eine Vertauschung der Achsen handelt es sich, sondern um deren dynamisierende Verwindung. Das ist die volle Bedeutung von Musils Differenzialsprache kürzestmöglicher Verbindungen und seiner Integralsprache83 des kleinsten, ekelhaften Übergehens. Auch hinter den ersten beiden, sexuellen und sprachlichen, Vereinigungsebenen steht somit drittens eine basale Vereinigung raumzeitlicher Natur. Hartmut Böhme hat in diesem Zusammenhang die Auflösung der biografischen Erzählweise auf eine „Verräumlichung“ zurückgeführt. Seine damit verbundenen These, wonach die „Dominanz des Raumes […] in der Eingangsszene [exemplarisch eingeführt wird] wo die psychische Beziehung des Paares in einem ,cubischen‘ Bild von zeitstiller Starre erscheint“84, bleibt aber – analog dem ein anschauungsformales Diesseits implizierenden Term nachträglicher Verräumlichung – einseitig. Vielmehr generieren in den Vereinigungen räumliche Phänomene immer auch entsprechende zeitliche. In diesem Sinne habe ich eingangs von Musils kubistischer Raumdichtung gesprochen. Denn einerseits ist der Kubismus – in den Worten des Zeitgenossen Max Raphael – „Raumbildung“, andererseits „erfolgen die Stöße von kubischen Winkeln“, die „Energiestöße“ immer nur etappenweise, „d. h. dass der Ablauf der Energien und der Aufbau des Raums Zeit erfordert“.85 Musil selbst hatte moniert, dass „jede Zeitdarstellung bisher mißlungen [ist]. Ich möchte es versuchen, indem ich nicht die wirkliche, sondern die unwirkliche Zeit darstelle. Die Steinbaukastenzeit, die Blase. Das Ganze in einen gefärbten Strahl stellen. […] Filmstreifen denken!“86 Davon schreibt das „Profil eines Programms“ der Novellen, wonach dem eingangs zitierten „seelischen Wagemut“ ein „mathematischer Wagemut, Seelen in Elemente auflösen, unbeschränkte Permutation dieser Elemente“ korrespondiert. „Aber muß man denn immer erklären? Vielleicht. Aber niemand darf es einem verübeln, wenn man es einmal nicht tut. Das ist un-heilige Kunst. Es wird 1 dimensionale, nicht cubische Kunst.“87
83 Zur Differenzial- und Integralrechnung als Leitprinzipien von Musils Sprache vgl. wiederum Schröder, Am Grenzwert der Sprache, a.a.O., S. 332 ff. 84 Böhme, Erinnerungszeichen, a.a.O., S. 199. 85 Max Raphael, Raumgestaltungen. Der Beginn der modernen Kunst im Kubismus und im Werk von Georges Braque, Frankfurt am Main 1989, S. 80 und 82. 86 Musil, Briefe 1901–1942, a.a.O., S. 497. 87 Musil, Profil eines Programms, a.a.O., S. 1319.
ANDREAS HAUS
„Dynamisch-konstruktives Kraftsystem“ Eine Pathosformel des „gestalteten Raums“
Im Zentrum der vorliegenden Abhandlung stehen grundsätzlich verwandte, doch in ihren Ambitionen divergierende Stellungnahmen der konstruktivistischen Kunstavantgarde (László Moholy-Nagy, El Lissitzky) zum Raumproblem der Neuzeit. Der im Titel aufscheinende, von Aby Warburg herrührende Begriff der „Pathosformeln“ möchte darauf anspielen, dass die konstruktivistischen Raumvisionen nicht den „Raum“ abstrakt-physikalisch oder philosophisch-erkenntnistheoretisch beschreiben, sondern stets um die Frage kreisen, welche neuen Bewusstseins- und Handlungsaufgaben dem menschlichen Individuum angesichts der durch Technik und Wissenschaft ausgeweiteten Raumvorstellungen des 20. Jahrhunderts gestellt sind. Die von Warburg erkannten „Pathosformeln“ (die er auch „Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst“ nannte) besitzen ihren Kern im individuellen Körper. Sie sind als plastischer Körperausdruck extrem subjektzentriert, gewinnen aber in ihrer überpersönlichen und überzeitlichen Rhetorik als „Superlative“ des Gefühlsausdrucks zugleich eine geformte Rückbettung in den Bewusstseinsraum des Allgemeingültigen. In das kulturelle Bewusstsein eingeformte gesteigerte Haltungen des individuellen Ausdrucks könnten im Sinne Aby Warburgs helfen, die Ängste, die das Individuum durch Trieb und Dämonie bedrohen, zu beherrschen. Im technischen Zeitalter ist die räumliche Spanne der bedrohenden Ängste ins Ungreifbare entwachsen. Die Futuristen, indem sie pathetisch ein ziemlich konventionelles „Ich“ ins räumliche Zentrum einer technisch-energetisch aufgewühlten Moderne stellten, scheiterten an der Befreiung des modernen Menschen. Zwar sind sie zu extrem potenzierten Darstellungen individueller Empfindungskräfte gelangt, die freilich wenig später wieder weitgehend in alte Angstvisionen (Meidner) oder in den Zynismus (Grosz) des verlorenen Ich in der modernen Großstadt umschlugen. Andere Phasen der westlichen Moderne haben der notorisch empfundenen „Tragik des Individuellen“ (Piet Mondrian) Heilung zu bringen versucht, indem sie den Gegensatz von Ich und Raum geradezu „universalistisch“ auflösten. In diesem Umfeld greifen die konstruktivistischen Ansätze zur Rettung des Ich am entschlossensten in kosmische Dimensionen. Dies gilt in besonderem Maße für El Lissitzky, der den „Konstrukteur“ als beherrschenden Beweger der Kraftlinien des Alls erträumte. Moholy-Nagy brachte diese distanzräumlichen Gestaltungswünsche des Ich auf eine sehr viel konziliantere Weise in die Nähe moderner, weltlicher Lebenspraxis. Indem er die Fotografie als quasi naturgegebenes Werkzeug der Projektion menschlicher Bewusstseinsenergie in den Raum auffasste, gelangte er zur Vorstellung eines systemischen Zusammenhangs zwischen Mensch und Raumganzem, wobei die freie Standortwahl des Individuums im Raum zum entscheidenden „Faktor“ der Raumbeherrschung und Raumgestaltung wird. Von hier ausgehend erkannte Moholy die Erziehung des „Raumsinnes“ als bedeutende Aufgabe. Es ist zu spüren, dass er mit diesem optimistisch erneuerten Bewusstsein von den Potenzialen menschlicher Gestaltungskräfte im Raum eine Befreiung des Subjekts von der zeitgenössisch oft gefühlten Bedrohung und Unterdrückung durch übergeordnete technische Mächte (Metropolis) anstrebte. Doch nicht mehr „Bannen“ im geistigen Denkraum (Warburg), sondern die Möglichkeit des „Agierens“ im realen Raum mit den von der modernen Technik gebotenen Mitteln sollte hier das Rettende sein. Die moderne „Pathosformel“ ist der im Raum bewegte Mensch, der sich zum aktiv mitgestaltenden Faktor im System des Weltganzen befreit fühlt.
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Gaston Bachelard, der dem „Raum“ die Wesenheit eines mächtigen poetischen Fluidums und damit einer Dimension der Träume zugeschrieben hat, begann 1958 das Vorwort zu einem Buch von Jacques Brosse mit dem Satz: „Voir et rêver ne s’accordent guère“.1 Das messende, klare, perspektivische Sehen, die optische Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung im gegebenen Raum zerfließt, der Raum als eine seit Kant apriorische Kategorie menschlicher Erkenntnis wird durch starke onirische Vorstellungen entmachtet. Schon durch die Surrealisten sind die zuvor so zahlreichen geistigen Bemühungen um Bestimmung eines objektiven theoretischen und ästhetischen Raumbegriffs durch poetische oder irrationale Bewusstseins- und Empfindungsräume abgelöst, ja letztlich geradezu aufgelöst worden. Prüfstein in der bildenden Kunst bleibt wohl der Kubismus, den Henry Kahnweiler noch neukantianisch als eine neue Logik der sehenden Ding- und Weltaneignung propagierte hatte und aus dem gleichwohl die stärksten Möglichkeiten gestalterischer Raum-Verfremdung entsprangen. Die Sprengkraft folgt hier aus der systematischen Einbeziehung subjektiver Bewegungsvorstellungen in die optische Raumlogik des geschlossenen Bildes. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand in Russland auf kubistischen Grundlagen eine der letzen Kunstbewegungen, in denen die Kategorie des Raums als eine objektive eine bedeutende Rolle gespielt hat, freilich in kategorischer Verstärkung von Bewegungselementen, die auf Vorstellungen subjektiver Gestaltungstätigkeit fußten. Hier beginnt eine sich in Sprache und bildhafter Vision verratende Instrumentalisierung des Raumbegriffs zu einer tendenziell symbolischen und mythischen Überwölbung praktischer Handlungsformen. Mittlerweile folgten auch Künstler der schon zu Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Tradition erkenntnistheoretischer Raumdiskurse.2 Zur Frage, wie sich die künstlerischen Raumideen in den zwanziger Jahren sprachlich und theoretisch darstellen konnten, möchte ich an den Anfang meiner Darlegung einen bekannten, programmatisch formulierten Text mit dem Titel „Proun“ des russischen Konstruktivisten El Lissitzky stellen, der im Juni 1922 in der Zeitschrift De Stijl veröffentlicht wurde und dort die Datierung „Moskau 1920“ trägt. In enger zeitlicher Nähe entstand eines der frühesten der von Lissitzky so genannten „Proun“Bilder – malerische Kunstwerke, die – wie Lissitzky sagte – als Umsteigestationen aus der Malerei in die Architektur3 entworfen sind und den Übergang vom schemenhaft flächigen, illusionistischen Bild zu konkret räumlicher Konstruktion bezeichnen (siehe Abb. 1 auf der DVD). In Lissitzkys hier auszugsweise zitiertem Text „Proun“ heißt es zum Beispiel: „Proun ist die schöpferische Gestaltung (Beherrschung des Raumes) vermittels der ökonomischen Konstruktion des umgewerteten Materials. […] Man baut hier wie im dreidimensionalen Raum, und darum müssen auch hier an erster Stelle die Kraftspannungen der einzelnen Teile zum Ausgleich gebracht werden. In einer neuen Weise erscheint im Proun die Zusammensetzung der Resultate der einzelnen Kräfte. Wir sahen, dass die Oberfläche des Prouns als
1 „Sehen und Träumen vertragen sich kaum miteinander.“ (Gaston Bachelard, L’ordre des Choses, Préface à l’ouvrage de Jacques Brosse, Plon 1958. Nach dem Wiederabdruck in: Gaston Bachelard, Le droit de rèver, Paris 2001, S. 186.) 2 Ich möchte nur anmerken, dass fast gleichzeitig (1923) der Kunsthistoriker Erwin Panofsky mit seinem berühmten Aufsatz „Die Perspektive als symbolische Form“ hervorgetreten ist. Heinrich Wölfflin hatte die Kategorie der „Sehformen“ quasi als erkenntnistheoretischen Stilbegriff etabliert. Panofsky unernahm es daran anschließend, unter Heranziehung von Cassirers Begriff der „symbolischen Form“ die bisherigen kunstgeschichtlichen Stilbegriffe im Sinn von Raumbegriffen neu zu klären. Erkenntnistheoretische Erörterungen des Raumbegriffs hatten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen Kunst- und Architekturwissenschaft hohen Stellenwert gewonnen. 1922 promovierte der Philosoph Rudolph Carnap bei dem Neukantianer Bruno Bauch in Jena mit seiner Dissertation Der Raum. 3 El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf. Erinnerungen Briefe Schriften, übergeben von Sophie Lissitzky-Küppers [1967], Dresden 1992, S. 2.
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Abb. 2: El Lissitzky, Schwarze Kugel, Illustration zu Ilja Ehrenburg, sechs Erzählungen, 1922 (El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften, übergeben von Sophie Lissitzky-Küppers, Dresden 1992, Abb. 71).
Gemälde aufhört, er wird ein Bau, den man von allen Seiten betrachten muß […]. Umkreisend schrauben wir uns in den Raum hinein, […] und so gewinnen wir eine Mehrzahl von Projektionsachsen; wir stehen zwischen ihnen und schieben sie auseinander. Auf diesem Gerüste im Raum stehend, müssen wir ihn zu markieren beginnen. Die Leere, das Chaos, das Widernatürliche wird dann Raum, das heißt: Ordnung, Bestimmtheit, Gestaltung, wenn wir die Markierzeichen [in] bestimmter Art und in bestimmtem Verhältnis in- und zueinander führen. Der Bau und der Maßstab der Markierzeichenmenge gibt dem Raume eine bestimmte Spannung. Indem wir die Markierzeichen wechseln, verändern wir die Spannung des Raumes, der von ein und derselben Leere gebildet ist. Die Gestaltungen, mit welchen der Proun den Angriff gegen den Raum unternimmt, sind in Material und nicht in Ästhetik gebaut. Proun […] schreitet zum Aufbau des Raumes, gliedert ihn durch die Elemente aller Dimensionen und baut eine neue, vielseitige, aber einheitliche Gestalt unserer Natur.“4
Dass El Lissitzky, der hier 1920 nichts weniger als eine völlig neue, der kommunistischen Zukunft dienliche Kunst erzeugen will, das Argument des Raumes so stark ins Zentrum stellt, ist zunächst nicht ungewöhnlich. Raumtheorie war in der Kunst und Kunsttheorie seit der Jahrhundertwende weit verbreitet. In ihrer Ausschließlichkeit und ihrem aktivistischen Impetus aber überbieten El Lissitzkys Sätze diese eher betulichen neukantianischen Erkenntnistheorien beträchtlich. Lissitzkys Raum-Argumente verdanken sich wohl eher der leninistischen, russisch-revolutionären Obsession von der organisatorischen Beherrschung unermesslicher territorialer Weiten – die ihrerseits vielleicht an orthodox-theologische Ideen von Kosmos und Kosmokrator anschließen. Bezeichnend erscheint mir dabei, dass Lissitzky die Gestaltungen, die den Raum „markieren“, das heißt mit materialen Elementen besetzen sollen, wodurch Ordnung und bestimmte Spannungen geschaffen werden, im gleichen Atemzug als „schöpferische Gestaltung“ und als „Beherrschung des
4 El Lissitzky, Proun, Moskau 1920 [aus: De Stijl Nr. V v. 6. Juni 1922], hier wiedergegeben nach: El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf, a.a.O., S. 348 f.
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Raumes“ bezeichnet; ja mehr noch: dass Lissitzky den noch nicht gestalteten Raum als Leere, Chaos, und Widernatürliches bezeichnet und die künstlerische Proun-Arbeit als „Angriff gegen den Raum“. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich menschliche Gestaltungsenergie hier leicht ins Pathos eines kosmischen Über-Individuums versteigt. Das von Lissitzky benannte „Wir“ („Umkreisend schrauben wir uns in den Raum hinein; – wir haben den Proun in Bewegung gesetzt, und so gewinnen wir eine Mehrzahl von Projektionsachsen; wir stehen zwischen ihnen und schieben sie auseinander“), dieses „Wir“ geht eindeutig über die real fassliche Existenz des Einzelnen hinaus und schleppt nicht Weniges vom Nietzsche’schen, futuristisch adoptierten, Übermenschen mit sich. Freilich besteht die neue politische Wendung des „Ich“ zum „Wir“ darin, dass Lissitzky als Element der Gestaltung nicht Ästhetik, sondern Material und Normen der ökonomischen Konstruktion postuliert und dass schließlich als Ziel dieses übermenschlichen Textes nicht eine Phantasie der Weltenthobenheit, sondern ernüchternd der „Aufbau aller Gegenstände des allgemeinen Lebens“ steht. Dieser Bruch – vom übermenschlichen Pathos zum menschlichen Alltag – bleibt ein unbewältigtes Übel wohl der meisten revolutionären Anläufe des 20. Jahrhunderts. Ungezählte Beispiele misslungener sogenannter „Raumplanungen“ erweisen dies. Wenn man Lissitzkys Bedeutung als Künstler retten möchte, so müsste man seine pathetischen Raumgedanken jenseits aller Machbarkeitsansprüche doch nur als Grenzbeispiele einer geradezu totalitären poetischen Künstlerphantasie ansehen. Lissitzkys Text spricht vor allem vom Handeln, vom Bauen des Materials und spektakulär vom Auseinanderschieben von Projektionsachsen, als ob diese Balken wären. Lissitzky spricht nicht vom Sehen. Zwar deutet der Begriff der Projektionsachsen auf Optik, das heißt auf perspektivische Linien, aber diese werden, wie das gewagte sprachliche Bild formuliert, auseinandergeschoben, die optische Illusion wird mit taktilem Zugriff räumlich umgebaut. Mit diesem Umbau sollen die räumlichen „Spannungen“ zwischen den Elementen exakt erzeugt oder auch verändert werden. Energie soll aufgebaut werden. Dieses Sprechen vom Erstellen von Raumspannung und vom Verfügen darüber könnte wohl auch eine Antwort auf einen zivilisationskritischen Modebegriff jener Zeit sein: den Begriff der Entropie. Ich möchte diese Überlegung hier nur kurz andeuten. Lissitzkys mehrfach formulierte Vorstellung von Raum- oder Energiespannungen zwischen Elementen, die durch konstruktives Bauen erzeugt und gestaltet werden können, richtet sich offenkundig gegen eine Vorstellung des Erlahmens und Verschwindens von Spannungen. Solche Vorstellungen hat um 1920 Oswald Spengler in seinem Buch Der Untergang des Abendlandes beschworen: Mit dem naturwissenschaftlichen Theorem der Entropie, also der Vorstellung eines unumkehrbaren Absinkens energetischer Spannungsverhältnisse im Universum mit dem Endergebnis einer bewegungslosen Gleichverteilung sämtlicher Energieformen im Weltraum, kritisierte Spengler die kulturelle Dekadenz des Abendlandes. In dieser Dekadenz ist auch ein Verzicht des Handelns beschlossen.5 Unter revolutionärem Zeichen wäre dann der Umschwung vom entropischen Abfall der Spannungen zum gestaltenden Aufbau von Raumspannungen auch eine Metapher zur Überwindung der Décadence. Daraus lässt sich wohl ein Gutteil des Pathos des russischen Konstruktivismus und seiner heroischen Raummetaphern verstehen. Andernorts hat sich übrigens El Lissitzky ausdrücklich auf Spengler bezogen.6 Theoretisches Parallel- und zugleich Gegenbeispiel zu El Lissitzkys „Proun“-Text ist der Artikel „Dynamisch-konstruktives Kraftsystem“ (Abb. 3), den der Künstler László Moholy-Nagy zusammen
5 Dieser Handlungsappell ist nicht auf die „Linke“ beschränkt. Von Denis de Rougemont (1906–1985), seit den 30er Jahren ein engagierter wertkonservativer Vordenker des Europagedankens, stammt der Satz: „La décadence d’une société commence, quand l’homme se demande: ‚Que va-t-il arriver?‘ au lieu de se demander: ‚Que puis-je faire?‘“ (Denis der Rougemont, L’avenir est notre affaire, Paris 1977, S. 368). 6 El Lissitzky, „Die Überwindung der Kunst“ [1922], in: El Lissitzy 1890–1941. Retrospektive, Hannover 1988, S. 70.
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Abb. 3: Alfred Kemény und László Moholy-Nagy, Dynamisch-konstruktives Kraftsystem (Faksimile aus Der Sturm, Berlin 1922).
mit dem ungarischen kommunistischen Kunstschriftsteller Alfred Kemény ebenfalls im Jahr 1922 im Dezemberheft der Zeitschrift Sturm veröffentlicht hat.7 Die Gemeinsamkeiten der Texte von Moholy und Lissitzky sind leicht zu ersehen. Offenbar bemüht sich aber Moholy um eine Eigenpositionierung der ungarischen Konstruktivisten im allgemeinen Diskurs des Konstruktivismus, der eben im Jahr 1922 einen internationalen Höhepunkt erlebt hatte.8 Das energetische Grundmotiv der Spannung – als im Raum wirkende Kraftspannung bzw. sich im physischen Raum real gegeneinander spannende Kräfte – ist bei Lissitzky und Moholy vergleichbar. Das von Moholy gleich zu Beginn eingesetzte Postulat der „Aktivmachung des Raumes“ stellt sich neben Lissitzkys Wort von der „schöpferischen Gestaltung (Beherrschung des Raumes)“. Neue Sicht und Neuwertung des Raums unter dem Aspekt räumlicher Spannungskräfte sind in beiden Manifesten das primäre Ziel. Aber gerade in dieser Vergleichbarkeit werden die Differenzen offenkundig. Schon der Begriff des „Aktivmachens des Raumes“ weist in eine andere Richtung: zweifellos auf die Bewegung der ungari-
7 Alfred Kemény und László Moholy-Nagy, „Dynamisch-konstruktives Kraftsystem“, in: Der Sturm 13, 1922, H. 12, S. 186. 8 Ich nenne nur den Kongress der Internationalen Konstruktivisten in Düsseldorf im Juni 1922, den Kongress der Dadaisten und Konstruktivisten in Weimar im September 1922 und die „Erste Russische Kunstausstellung“ in der Berliner Galerie van Diemen im Oktober 1922. Im Jahr 1922 hatte Moholy seine erste Einzelausstellung in der Berliner Sturm-Galerie.
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schen Künstler, die sich als „Aktivisten“ bezeichneten und sich um die „aktivistische Zeitschrift“ MA9 gruppierten. Bei Lissitzky gewinnt man die Vorstellung des bauenden Konstrukteurs, der aus materiellen Elementen und den Verhältnisspannungen, die sich zwischen diesen Elementen ergeben, Raum baut. Die gravitationslos zwischen Elementen jedweder Richtungslage herrschenden „Spannungen“ ersetzen quasi die auf Erden einzig permanent räumlich wirkende Elementarkraft: die zum Erdmittelpunkt gerichtete irdische Schwerkraft. Im Hintergrund von Lissitzkys Vision sieht man Malewitschs im Weltraum schwebende Planetenstädte, nun besetzt von bauenden Menschenkräften. 1922 gründete Lissitzky mit Ilja Ehrenburg die Zeitschrift Gegenstand.10 – Gegenständlich sind auch Lissitzkys Prounenkompositionen: Konstrukte, die von gestalteten Spannungskräften durchzogen scheinen. Diese internen Spannungen lassen sozusagen den ungeteilten Allraum, in dem die Dinge schweben, vergessen und verleihen diesen stärkere individuelle Energie. Hier nun finden wir bei Moholy/Kemény anderes: Raum selbst soll „aktiv“ gemacht werden. Der Begriff der Bewegung wird als Element eingebracht, und zwar nach dem Muster „kosmischer Entfaltungen“. Das „Markieren“ des Raumes, das Lissitzky forderte, weicht einer dynamischen Vorstellung von Kräften, die sich in Bewegung entfalten. Sich entfaltende Bewegung ist im „dynamisch-konstruktiven Kraftsystem“, eine a priori gegebene dynamische Grundtatsache des Raumes, und nicht allein des Himmelsraums, sondern, wie es der Text sagt: das „dynamische Prinzip des universellen Lebens“. Hier macht sich ein lebensphilosophischer Aspekt geltend. Durch den Begriff der „Spannungen“ ist jedoch auch hier die Vorstellung konstruktiver, raumdurchziehender geworden als etwa bei Bergsons Lebensstrom, in dem eher Zeitliches als Räumliches wirkt. Die gedanklichen Grundlinien bei Moholy/Kemény scheinen weniger radikal mit bisherigen Mustern ästhetischer Erfahrung zu brechen, als El Lissitzky das für sich in Anspruch nimmt. Lissitzkys Raummetapher „Gestaltung bzw. Beherrschung des Raums“ vermittels materieller Konstruktion setzt das menschliche Gestaltungspotenzial quasi übermenschlich absolut. „Der Künstler“, so sagte Lissitzky, „wird vom Nachbilder ein Aufbauer der neuen Welt der Gegenstände“. So ist der Mensch selbst das kreative Weltzentrum des Raums. Von der bislang so ausgiebig erörterten Aufgabe der Kunst, das menschliche Sein, Handeln und Fühlen in eine zu erfahrende Welt einzuordnen oder eine Form der Eingeordnetheit bewusst empfindbar zu machen, ist bei Lissitzky vor lauter konstruktiven Appellen nichts mehr vorhanden. Eben dies ist bei Moholy anders: Auch hier ist das Konstruktive als unabdingbar gedacht und auch hier als Räumliches. Aber ein allgemeines Welt- und Lebensprinzip, genannt „vitale Konstruktivität“, ist doch als grundsätzlich Gegebenes noch vorhanden. Konstruktivität hat sich im Moholy-Text, wie es hier scheint, nach dem Prinzip aller menschlichen und kosmischen Entfaltungen zu richten. Die Grundforderung besteht darin, dass in einem gegebenen Kräftespiel von Materie, Kraft und Raum auch der Mensch „aktiver Faktor der sich entfaltenden Kräfte wird“. Das impliziert nun, wie ich es sehe, Wesentliches: Es müssen Subjektkräfte der sinnlichen und psychischen Erfahrung – „Potenzen“, wie Moholy sagt – „mehr als je gesteigert werden“. Und sie müssen, wie es der Zusammenhang nahelegt, auf Erfahrung und Gestaltung des Raums hin konditioniert werden. Eine Idee der Vorkriegsmoderne, die Idee der ästhetischen Sinneserziehung, einschließlich des Bewegungs- und Raumsinnes, lebt hier weiter – freilich mit dem entscheidenden Zusatz: nicht nur passiv mitzuleben, sondern im Sinn der „vitalen Konstruktivität“ aktiv zu werden. Hier klingt an, was 9 MA (zu deutsch: heute), Avantgardezeitschrift, hrsg. v. Lajos Kassák, ab 1916 in Budapest, ab 1921 als ungarische Exilzeitschrift in Wien, trug nach expressionistischen Anfängen den Untertitel „Aktivistische Zeitschrift“. 10 El Lissitzky hat die Formel „dynamische Kraftspannungen“ auf den Suprematismus angewendet, aber spürbar weniger als Bewegungs- denn als Bezugssystem zwischen Elementen bzw. „Zeichen“ aufgefasst (El Lissitzky, „Neue russische Kunst“ (Vortrag), Typoskript, 1922, abgedruckt in: El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf, a.a.O., S. 334–344, bes. S. 339).
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Moholy ab 1923 in seiner künstlerischen Erziehungsarbeit am Bauhaus zunehmend als Verpflichtung ansah: die menschliche Sinnlichkeit in Einklang mit den in der technischen Moderne neu gegebenen Möglichkeiten zu entwickeln. Verkehrsmittel hoher Geschwindigkeit, Luftfahrt, elektrische Kraftübermittlung, Telefonie und so weiter hatten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts dahin entwickelt, dass die Organisation des Einzelnen ihnen weitgehend ausgeliefert schien. Diese neuen Möglichkeiten haben die menschliche Sinnesstruktur am ehesten als räumliche – oder bewegungsbezogen als raumzeitliche Kräfte erschüttert. Das futuristische Hingerissensein von diesen technischen Mächten war insgesamt ja doch eher ein Offenbarungseid empfindsamer Subjekte, die das kleine Individuum nicht anders als rhetorisch auf die Größe der mechanisch beherrschten Räume aufblähen konnten. Ich bin der Meinung, dass das Moholy-Kemény’sche Manifest gerade hinsichtlich der Welt der Technik hier neuartige Vorstellungen entwickelt: Ganz von ferne deutet sich bereits an, dass Moholy gerade zur gleichen Zeit – 1922 – beginnt, sich mit technischen Mitteln zu beschäftigen, die es nach seiner Vorstellung erlauben, den Menschen mit zeitgemäßen Möglichkeiten an den veränderten Bewegungsformen seiner Lebensräume mitwirken zu lassen: stofflich durch eine neue Kultur des Lichts und apparativ durch die Fotografie. 1922 entstehen Moholys erste Fotogramme. Fast zeitgleich begann Moholy auch seine Entwicklungsarbeit an dem sogenannten Licht-RaumModulator, der als „Lichtrequisit einer elektrischen Bühne“ vorgesehen war und farbig bewegte Lichtund Schattenspiele in den Raum projizieren sollte. Erst 1930 wurde dieses Kunstwerk mithilfe eines Technikers der Theaterabteilung der Berliner AEG (Dipl.-Ing. Stefan Sebök) fertiggestellt und in Paris vorgeführt (siehe Abb. 4 auf der DVD). Seine Funktion scheint bereits 1922 vorgedacht: „Die ersten Entwürfe zu dem dynamisch-konstruktiven Kraftsystem können nur experimentelle Demonstrationsapparate sein zur Prüfung des Zusammenhangs zwischen Material, Kraft, Raum. Danach erfolgt die Benutzung der experimentellen Resultate zur Gestaltung freier (von maschinen-technischer Bewegung freier) sich bewegender Kunstwerke.“11
Zweifellos kann der Licht-Raum-Modulator als ein solcher Demonstrationsapparat gedeutet werden. Aber Moholy blickte stets auch wachsam auf die umgebende Realwelt. Fasziniert haben ihn immer wieder optische Geräte, die bewegte Lichtbilder in den Raum projizieren konnten: etwa riesige amerikanische Reklamescheinwerfer, die er 1929 in seinem Buch Von Material zu Architektur abbildete (siehe Abb. 5 auf der DVD). Unverkennbar hat das „dynamisch-konstruktive Kraftsystem“ aber auch in Moholys spektakuläre Visionen zukünftiger „Lichtspiele im freien Raum“ hineinwirkt. „[…] ich träumte von lichtapparaten, mit denen man handwerklich oder automatisch-mechanisch lichtvisionen in die luft, in große räume und auf schirme von ungewöhnlicher beschaffenheit, auf nebel, gas und wolken schleudern kann. Ich machte zahllose projekte, nur der bauherr fehlte, der mir den auftrag gegeben hätte, für ein lichtfresko, eine lichtarchitektur, die aus abgestuften geraden und gewölbten wänden bestehen sollte, die mit künstlichen materialien: galalit, trolit, chrom, nickel ausgeschlagen sind und die man durch eine schalterdrehung in strahlendes licht, in fluktuierende lichtsinfonien hätte tauchen können, während sich die lichtflächen langsam verschieben und in eine unendliche anzahl beherrschter einzelheiten aufgelöst werden. Ich wünschte mir einen kahlen raum mit zwölf projektionsapparaten, damit die weiße leere unter dem kreuzen farbiger lichtgarben aktiviert werden sollte […].“12
11 Alfred Kemény und László Moholy-Nagy, „Dynamisch-konstruktives Kraftsystem“, in: Der Sturm 13, 1922, H. 12, S. 186. 12 László Moholy-Nagy, Brief an Franz Kalivoda, Juni 1934, abgeduckt in: Telehor, Brno 1936, S. 116.
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Betrachtet man diese Fortwirkung bis in die 30er Jahre, dann wird der Text „Dynamisch-konstruktives Kraftsystem“ zum grundlegenden Theorietext von Moholy-Nagys gesamtem Schaffen ab 1922 – dem Jahr, das die Forschung weitgehend als das entscheidende Jahr seiner Kunstentwicklung anerkannt hat.13 Die elementare Kombination von Bewegung–Raum–Licht war in der Tat die Entdeckung einer neuen Dimension der künstlerischen Gestaltung, an der Moholy nun lebenslang festhielt. Es ist freilich zu bemerken, dass sich Moholys Überlegungen und Überzeugungen nach 1922 doch gewandelt haben – wie es sich bei einem erst 28-jährigen Künstler ja wohl von selbst versteht. Als Moholy 1929 als Resümee seiner fünfjährigen Unterrichtszeit am Bauhaus sein Buch Von Material zu Architektur veröffentlicht, spielt dort im Kapitel „Kinetische Plastik“ der Text „Dynamisch-konstruktives Kraftsystem“ noch immer eine wesentliche Rolle – freilich mit zwei kleinen Korrekturen: Den Begriff „dynamisch-konstruktiv“ möchte Moholy ersetzen: „Besser: ‚Kinetisch-konstruktiv‘“. Und in der Aufzählung des zu gestaltenden Zusammenhangs von „Material, Kraft, Raum“ fügt Moholy stillschweigend das Wort „Mensch“ ein, so dass es nun heißt: „Zusammenhang zwischen Mensch, Material, Kraft, Raum“. Mit der Ersetzung des Begriffs „dynamisch“ durch „kinetisch“ ist (außer der terminologischen Verdoppelung des Wortes „Kraft“) offenkundig eine 1922 noch spezifische Bezugnahme zum Futurismus getilgt. „Dinamismo“ war der zentrale Begriff im futuristischen Denken und umfasste vor allem einen sozusagen alldurchfließenden Zustand energetischer Spannungskräfte, die der Futurismus in bewegten Erregungszuständen der Materie einschließlich des menschlichen Geistes manifestiert sah und die er künstlerisch ausdrücken wollte. Das Pathos der futuristischen Bewegung, des Dinamismo, stellte zwar das menschliche Subjekt ins Zentrum der Empfindung, aber nicht so sehr als gestaltendes Ich, sondern mehr als potenzierten Schnittpunkt von Erregungsströmen. Ein pathetisches, ein letztlich leidendes Wesen des Menschen wird unter solchem Aspekt exponiert, eine aus der Empfindungsharmonie des Symbolismus heroisch herausgeprägte, gleichwohl in allgemeiner Energetik gefangene Ich-Figur. Moholys Ersetzung des Wortes „dynamisch“ durch „kinetisch“ entlastet die von ihm 1922 eingeführte Bezugssystematik „Material–Kraft–Raum“ von jenem fatalistischen Leidensdruck so weit, dass nun auch der Mensch als gleichberechtigter Faktor in die zu gestaltenden Zusammenhänge eingesetzt werden kann: Zu „Material–Kraft–Raum“ gesellt sich als vierte Gestaltungskraft der Mensch. Freilich ist dieser „Mensch“ nicht einfach ein frei agierendes bürgerliches Individuum, sondern, dahin haben sich Moholys Anschauungen mittlerweile modifiziert: der Mensch wird als biologisches Wesen aufgefasst, das den Formungskräften von Material–Kraft–Raum aufgrund seiner wesenhaften Bedürfnisse Gestalt gibt. Moholy bleibt mit seinen Ansichten immer grundsätzlicher der zivilisatorischen Lebenswelt zugewandt. 1929, in seinem Bauhausbuch Von Material zu Architektur (Kap. IV „Der Raum [Architektur]“), wird „Raum“ sozusagen das Synonym zu „Architektur“ (siehe Abb. 6 auf der DVD). Moholy spricht von Architektur als Raumkunst, vom Raumerlebnis als Grundlage für das psychologische Wohlbefinden der Einwohner und von der zu fordernden biologisch entwickelten Wohnform des Menschen.14 „die architektur wird einer lösung erst nahe gebracht durch tiefste erkenntnisse vom menschlichen leben als gesamterscheinung im biologischen ganzen. eine der wichtigsten komponenten in diesem zusammen13 Oliver Botar, Technical Detours – The early Moholy-Nagy reconsidered, New York 2006 (siehe Part Three: The Crucial Year: Moholy in 1922). 14 Alle Zitate aus Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur, Bauhausbuch Nr. 14 [Passau 1929], (faksimilierters Reprint) Mainz 1968, S. 198.
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hange ist die einordnung des menschen in den raum, die faßbarmachung des raumes, architektur als gliederung des universellen raumes.“
Nach Moholy soll Architektur nicht verstanden sein „als starre umhüllung, als unveränderbare raumsituation […], sondern als bewegliches gebilde zur meisterung des lebens, als organischer bestandteil des lebens selbst.“ „die wurzel der architektur liegt in der beherrschung der raumproblematik, die praxis im konstruktionsproblem.“ Zukünftige Architektur muss für Moholy „den einzelnen als teil eines biologisch vernünftig aufgebauten ganzen nicht nur zur entspannung und regeneration sondern auch zur steigerung und zur harmonischen auswirkung der kräfte bringen“. Ziel zukünftiger Architektur sei „erlebbare Raumbeziehung“. Das nennt Moholy nun „die elementaren Forderungen des gestalteten Raumes, insbesondere des Wohnraumes“.15 Die Egalisierung der gestaltenden Kräfte wird durch Moholys von Rudolf Carnap16 adaptierte Definition von Raum gestützt: Raum ist „Lagebeziehung der Körper“ – unter die natürlich sowohl baulich-gegenständliche wie auch der menschliche Körper zu zählen sind. Unter den bauhausgemäßen Zielsetzungen der Architektur verband sich Moholys 1922 noch pathetisch formulierte Position des „dynamisch-konstruktiven Kraftsystems“ mit seinen kosmologischen Raumparametern zusehends mit der Aufgabe einer neuen, sozial und biologisch verträglichen Gestaltung menschlicher Lebensräume. Es zeichnet Moholys Künstlerpersönlichkeit insgesamt aus, dass er – visionären Zukunftsspekulationen keineswegs abhold – doch grundsätzlich darauf bedacht war, für alle Ideen und Theorien sofort praktische Realisierungen der Gestaltung zu suchen. Die Projektion seiner Raumvisionen, die er im „Dynamisch-konstruktiven Kraftsystem“ beschrieben hatte, auf die reale Architektur des Neuen Bauens und seine gesellschaftlichen Aufgaben in den späteren zwanziger Jahren gehört dazu. Das heißt aber nicht, dass sich das pathetische und visionäre Element ganz verflüchtigt hätte. Vielmehr entsteht bei Moholy gerade im steten Austausch von Praktisch-Gestaltendem und GeistigVisionärem eine eigenartige Steigerung und Belebung visueller Erfahrungen. Das Wort „Erleben“ stellt sich gleichberechtigt neben den Begriff des „Gestaltens“ von Raum. Am Schluss des Textes von Moholys Bauhaus-Buch Von Material zu Architektur verwischt sich die Grenze zwischen realem und visionärem Raum: „die aufgabe endet nicht beim einzelbau. schon heute zeigt sich die nächste stufe. raum in allen dimensionen, raum ohne begrenzung. die grenzen werden flüssig, der raum wird im fluge gefasst: gewaltige zahl von beziehungen […]. aber das wesentlichste für uns ist die flugzeugsicht, das vollere raumerlebnis, weil es alle gestrige architekturvorstellung verändert. […] von hier aus bahnt sich auch ein weg für die zukünftige architektur: das innen und das außen, das oben und das unten verschmelzen zu einer einheit. öffnungen und begrenzungen, durchlöcherungen und bewegliche flächen reißen die periferie zur mitte und stoßen die mitte nach außen, ein stetes fluktuieren, seitwärts und aufwärts, strahlenhaft, allseitig, meldet dem menschen, dass er den unwägbaren, unsichtbaren und doch allgegenwärtigen raum – soweit seine menschlichen beziehungen und heutigen vorstellungen reichen – in besitz genommen hat.“17
Moholy hat sich selbst als „Maler“ bezeichnet. Allerdings hat er für sich in Anspruch genommen, die „Malerei“ mit zeitgenössischen Mitteln zu erweitern. Damit wären wir bei dem wohl für Moholys Kunst insgesamt entscheidenden Medium: bei der Fotografie.
15 Ebd., S. 198 f. 16 Der Philosoph Rudolf Carnap (vgl. Anm. 2) hielt Vorträge am Bauhaus und hatte Verbindung zu Walter Gropius. 17 Moholy-Nagy, Von Material zu Architektur, a.a.O., S. 222.
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Sie ist das eindrucksvollste künstlerische Beispiel dafür, wie Moholy die Realisierung der im „Dynamisch-konstruktiven Kraftsystem“ geäußerten Vorstellungen vom Menschen als „aktivem Faktor der im Raum sich entfaltenden Kräfte“ angestrebt hat. Wie soll ein Maler mit pathetischen Begriffen wie „kosmischer Raum“, „Raumspannungen“ und dergleichen umgehen? Der zupackende Moholy fand die einfachste und zugleich modernste Lösung, ein wahres Ei des Kolumbus, mit seiner Entdeckung des Fotogramms (siehe Abb. 7 auf der DVD). Alles, was bislang höchstens stofflich imitativ war, entstand nun wie von selbst. Die moderne Physik stellte die unvorstellbare Verrechenbarkeit von Energie, Masse und Lichtgeschwindigkeit bereit: Das Fotogramm schaffte es aufs Einfachste, Licht mit chemischen Agenzien und schlichten optischen Vorrichtungen zu quasi räumlicher Erscheinung zu bringen. Zumindest die Imago – und die dürfte einem Maler ja zunächst genügen – eines kosmischen Raums mit der Erscheinung eines Energiefeldes ist hier fast augenzwinkernd gelungen. Auch eine Erweiterung unserer optischen Vorstellung – schwebendes Licht im Raumdunkel – ist erreicht. Der Weg dazu ist (im Moholy’schen Sinne) ein „produktiver“, indem eine vorhandene Eigenschaft – die Lichtempfindlichkeit der fotografischen Schicht – weitgehend selbstständig das Bild generiert und die menschliche Manipulation nur ein miterlebender Teilfaktor dieses Geschehens ist. Die Produktion neuer „optischer Tatsachen“ – von „nie Gesehenem“ –, die „Schaffung neuer Relationen“ durch anteilnehmendes Mitwirken an Bezugssystemen der Außenwelt war Moholys bleibende Kunstidee. Diese Idee des Schaffens neuer Relationen der Wirklichkeit unter Anteilnahme des Subjekts ist bei Moholy immer eine von dynamisierten Raumvorstellungen getragene Idee. Im Text „Dynamisch-konstruktives Kraftsystem“ erscheinen die Begriffe der „Raumspannung“ und der „Konstruktivität“. Moholy stellt sich vor, wie der Mensch kraft seiner mikrokosmischen Konstruktionsähnlichkeit in die kosmische Raumkonstruktion eintritt und dort mitwirkender Faktor der Raumspannungen werden kann. Im Buch Von Malerei zu Architektur bildet Moholy ein Foto aus der Illustrierten Weltspiegel ab (siehe Abb. 8 auf der DVD), und man erstaunt beim Lesen von Moholys Bildunterschrift, wie dieses Foto offenbar die Ideenwelt des „dynamisch-konstruktiven Kraftsystems“ evozieren kann: „Abb. 181 Luftschiffverspannung auf einem Mutterschiff – In abb 181 und 182 entstehen die räumlichen beziehungen größtenteiles durch gespannte drähte. Solange zwischen zwei existenzen eine beziehung zu konstatieren ist, besteht auch die möglichkeit einer spannung (biologische, psychische, räumliche usw.)“.18
Diese Formulierung der Beziehung zwischen zwei Existenzen, die auch die Möglichkeit der Spannung in sich birgt, führt uns schließlich in jenen Bereich, für welchen Moholy auch die abbildende Fotografie fruchtbar machte. Neben der schon erwähnten Entdeckung des Lichts als eines eigenen Mediums der Gestaltung wird die Tatsache der fotografischen Perspektive für Moholy entscheidend: Die der Fotografie eigene Fähigkeit zur unwillkürlichen Zusammenordnung der Dinge lässt ihn zum Beispiel in der Alltagswelt Bezüge entdecken, für die der Konstruktivismus bereits mythische Vorstellungen geschaffen hatte. Wenn man das von Moholy abgebildete Foto der Luftschiffverankerung aus der Illustrierten Weltspiegel mit El Lissitzkys Montage Schwarze Kugel zusammenhält (siehe Abb. 8a auf der DVD), so treffen sich die heroischen Motive des Konstruktivismus: Der „Mensch im Raum“ und in konstruktiven Raumgerüsten ist auf dem Illustriertenfoto ganz zwanglos als Abbildung aus dem modernen technischen Alltag zu sehen – Moholy nutzt die fotografisch entstandene Bildordnung, um auf neue Erlebniswerte – „Raumspannungen“ eben – aufmerksam zu machen. Dabei ist nach meinem Dafürhalten 18 Ebd., S. 208.
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Abb. 9 : László Moholy-Nagy, Auf dem Mast, ca. 1927 (Andreas Haus, László Moholy-Nagy. Fotos und Fotogramme, München 1978, Abb. 71).
wichtig, dass die Fotografie insofern etwas anderes ist, als sie als ein künstlich hergestelltes Bild – zwingend und nachvollziehbar – einen außerhalb des Bildes rekonstruierbaren Betrachterstandpunkt beinhaltet: den Kamerastandpunkt, von dem alleine aus sich die abgebildete Formkonstellation ergibt. Der Kamera- bzw. Betrachterstandpunkt ist mit dem Formbestand der Fotografie gesetzmäßig verbunden, und zwar durch die ausnahmslos jeder Kamerafotografie eigene Zentralperspektive, die jeder Fotograf mit seinem Apparat vor sich herträgt und beim Fotografieren projektiv in den Raum richtet. So gesehen ist mit einer Fotografie schon immer ein Spannungsverhältnis gegeben: nämlich zwischen dem Formbestand der gesehenen Welt und dem durch die Kamera linearperspektivisch resultie-
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renden Betrachterstandpunkt. Diese Perspektivlinien kann man, wenn man sich Moholys Auffassung zu eigen macht, als die Spannungslinien ansehen, durch die der sehende Mensch mit der Wirklichkeit verbunden ist. Und in diesem Sinn der Spannungsbildung zwischen zwei Existenzen hat Moholy die Kamerafotografie ja auch eingesetzt: bewusst machend durch den medialen Einsatz der Fotografie und durch Schräg-, Auf- und Niedersichten, die das lebendige Agieren und aktive Sehen des Menschen im Raum hervorheben. Distanz und bewegte Zugehörigkeit des Subjekts zum Raum gewinnen damit eine wechselseitige Bewusstseinsbeziehung. Der Bildraum der Fotografie wird demnach nach außen perspektivisch verlängert zum sehenden Betrachter. Dieser wiederum hat sich anzugewöhnen, die Fotografie nicht in herkömmlicher Weise als geschlossenes „Bild“ zu sehen, sondern als räumliche Konstellation, zu der er als Sehender selbst dazugehört. Moholy hat sehr gerne sowohl durch das Motiv wie durch die Kamerahaltung – und nicht selten humoristisch – diese menschliche Ich-Projektion in den Raum als eine aktive hervorgehoben (Abb. 9). Charakteristisch ist übrigens hier die auf den Betrachter zulaufende Strickleiter mit ihren Griffholmen, die ihm zusätzlich zum perspektivisch-optischen einen tatsächlich handgreiflich erscheinenden Zugang in den Bildraum hinein anbieten. Auch in einem Foto vom Studentenwohnheim des Dessauer Bauhauses ist die im optischen Raum agierende Figur durch ihre Griffe ans Geländer mit einer Floskel des Handgreiflichen ausgestattet, die zum Fernräumlich-Optischen einen Aspekt des Nahräumlich-Haptischen hinzufügt und damit einen Erlebnisaspekt des bewegten Körpers anspricht (siehe Abb. 10 auf der DVD). Es erschließt sich, dass Sehen – zumal das „apparative Sehen“ mithilfe des Fotoapparates – für Moholy „aktive“ Qualität besitzt und nach seinem Begriff der „Produktion“ ein Mitgestalten der Welt durch den sehenden Menschen beinhaltet – gleichwertig dem aktiven Handeln und Gestalten des Menschen in der Welt durch die Arbeit der Hände. Wenn dies aber nun, wie Moholy will, in reiner optischer Substanzlosigkeit geschehen soll, dann bedarf es einer Erziehung sowohl des Sehens wie des Gestaltens, die vom Tastgefühl der Hand zum optischen Gefühl des in die räumliche Ferne gerichteten Sehens Übergänge schafft. Speziell um solche Effekte optisch-haptischer Inversion zu erhalten, nutzt Moholy mannigfaltig die technischen Eigenschaften der Fotografie, etwa indem er die Verfremdung durch das Negativ einsetzt. So geht bei dem Negativabzug Segelboot durch die Aufsicht ein schwindelnder Blick in die Tiefe (siehe Abb. 11 auf der DVD). Im Negativ aber wird die vielleicht ängstigende Vorstellung von tiefem Wasser umgekehrt und verdichtet zu einer vertraut und sicher wirkenden Oberfläche. Dieser Blick vom Mast eines Segelbootes zeigt, im fotografischen Negativ verfremdet, eine taktil gewordene Wasseroberfläche. Auf ihr verteilt erscheinen wenige, durch die Aufsicht elementar vereinfachte Formgestalten der fahrenden Boote. Gestalthaft geometrisiert als Kreis, Hyperbelbogen, Gitter vermitteln auch sie Fassliches, Bekanntes, das die Bildfläche stofflich besetzt. Schiffstaue durchlaufen als Linien den Bildraum und geben den einzelnen in Bewegung auseinandergezogenen Teilen einen weitgespannten Zusammenhang. Auf diese Weise wird dem Betrachter dieses Bildes ein Bezugssystem von elementaren Spannungsverhältnissen im Raum geboten, in das er als Inhaber des Betrachterstandpunktes selbst eingebaut ist und zu dem er virtuell eine taktile, körperliche Beziehung aufbauen kann. Die Kameraperspektive ist ja die seine, und er schwebt sozusagen eingebunden im bewegten Raumsystem des Bildes.19 19 Es soll hier kurz, aber nachdrücklich betont werden, dass all diese konstruktivistischen Raum- und Flugsimulationen keineswegs romantische Bodenlosigkeit und ängstliches Taumeln evozieren wollen, sondern genau das Gegenteil: Überwindung von Schwindelängsten und Zuversicht in der Eroberung neuer Raumerleb-
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Unter vielen weiteren möglichen Beispielen einer Übertragung fernoptischer Seheindrücke in Tastempfindungen zeige ich Moholys Fotografie von Straßenbauarbeiten aus der Vogelschau (siehe Abb. 12 auf der DVD). Auch hier ist die weit entfernte Oberfläche sozusagen materiell aufgeraut und damit greifbar gemacht. Diese optische Struktur besitzt offenkundige Parallelen zu einem jener „Tastapparate“, die Moholy in seinem Vorkurs am Bauhaus anfertigen ließ (siehe Abb. 13 auf der DVD). Die Studierenden bauten sogenannte Tastapparate oder Tasttafeln, indem sie in der verschiedensten Weise unterschiedliche Materialien – glatte, raue, harte, weiche, spitzige, runde usw. – so zusammenfügten, dass man sie in wechselnden Sequenzen abtasten konnte. Das Tasten ging mit geschlossenen Augen vor sich. Das Ziel war, durch schnelles Abtasten der stofflichen Oberflächen eine ganz konkrete innere Vorstellung von den unterschiedlichen Tastwerten zu erlangen und diese dann in aktive Gestaltung umzusetzen. Die einzelnen Tastempfindungen sollten also – wie Töne in der Musik – Elemente der Gestaltung werden. In der Folge bestand die Aufgabe darin, diese aktiv ausgeübten Tastempfindungen in visuell gestaltete Formen zu übertragen, was unter anderem in Reliefs oder Zeichnungen und Collagen geschehen konnte. Damit war der erste Schritt zu einem Transfer von greifbar empfundenen inneren Körpergefühlen zu einer optischen, räumlich fernsichtigen Gestaltung gemacht.20 Um eben die zunehmende Distanzierung des Menschen im Raumbezug zur immer technischer werdenden Umwelt nicht zu einer Entfremdung, Heimatlosigkeit oder gar Hilflosigkeit werden zu lassen, setzt Moholy diese Erziehungsmethode mit der gezielten Überführung vom Tastgefühl zum optischen Gefühl ein. In den Pflastersteinen der Straße wie bei den aufgeleimten Holzspänen des Tastapparats (siehe Abb. 14 auf der DVD) sind unterschiedliche Körnungen und Rauheiten zu sehen. Das Medium Fotografie kann zu einer Verbindung von Sehgefühl und Greifgefühl führen. Glatt und rau sind hier zu „optischen Tatsachen“ geworden und vom taktilen Nahgefühl auf das optische Fernraumgefühl übertragen. Dies alles hat Moholy so grundsätzlich interessiert, dass er den Versuch gemacht hat, Grundphänomene des Stofflichen und Haptischen dahin zu klassifizieren, dass sie auch als optische Phänomene benennbar werden. Auf diese Weise kam er zu seinen Begriffen: „Struktur“, „Textur“ und „Faktur“. Struktur ist konstruktiver Aufbau aus Elementen, Faktur und Textur sind die der menschlichen Hand durch eigene Arbeit am Material am meisten vertrauten Begriffe, die nun als greifbare Lichtphänomene in der Fotografie auch in der optischen Fernwirkung stoffliche Erlebnisqualitäten erreichen. Wissenschaftlich systematisch sind die Begriffe nicht, sondern lediglich Versuche, die von Moholy herausgestellte „Greifbarkeit“ der fotografischen Wiedergabe zu benennen und als fernräumlich erfahrbare Empfindungen bewusst zu machen. Den Status bisheriger Kunst, nämlich gestalthaftes Werk zu sein, das eine immanent für sich bestehende Bildwelt darbietet, übersteigen Moholys Schöpfungen. Sie sind vorwiegend auf die Mechanik und vitale Empfindung des bewegten menschlichen Subjets hin angelegt und beziehen jeweils aktuell den bewegten Betrachter in ihr räumlich-stoffliches Empfindungssystem mit ein. Bestrebt, dies alles stets mit den alltäglich gewordenen technischen Möglichkei-
nisse. Partiell wäre somit die durchgehende Charakterisierung der Moderne als „Vertigo“ (Jeannot Simmen, Vertigo. Schwindel der modernen Kunst, München 1990) zu revidieren. 20 Moholy hat dies in seinem Buch Von Material zu Architektur (a.a.O., englisch: The new Vision) sehr exakt dargestellt. Als Hintergrund erkennt man ein bestimmtes (heute wohl nicht mehr gültiges) Modell des kulturellen Forschrittes: So, wie sich das Kind zunächst die Welt ertastet und dann optisch wahrzunehmen beginnt, so fußt auch alle Erkenntnisleistung und Welterfahrung auf der Tasterfahrung. Erst danach wird sie zur optischen Wahrnehmung erweitert. Und zivilisationsgeschichtlich weist Moholy immer wieder darauf hin, dass durch die moderne technische Welt auch im Großen ein Übergang von naher Körpererfahrung zu immer fernerer, oft nur noch optischer Erfahrung stattfindet. Ob wir durch die Scheiben eines Eisenbahnzuges sehen oder auf Hochhäusern stehen, die Weltwahrnehmung der Moderne wird zunehmend fernsichtiger.
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ten der modernen Welt zu realisieren, setzt Moholy nicht auf einen nur genießenden, sondern auf den fotografierenden Betrachter, der damit einen aktiven Part im Raumsystem behauptet. Immer hat Moholy auch der technische Automatismus der Fotografie fasziniert, der Bilder sozusagen in räumlicher „Fernwirkung“ produziert. Dabei gewinnt für ihn das primäre Agens der Fotografie, das „Licht“, elementaren Charakter. Es blieb Moholy vorbehalten, „Lichterscheinung“ und „Greifbarkeit“ theoretisch in eins zu setzen: „Entgegen der üblichen Auffassung, daß Photographie im Nachahmen ihren Höhepunkt erreicht, muß betont werden, daß die Fähigkeit, Lichterscheinungen bis zur Greifbarkeit festzuhalten, keinem anderen Verfahren eigen ist.“21 Das ungreifbare optische Phänomen, die reine Helligkeitsprojektion im Inneren der Kamera auf die Fotoschicht, bringt zusammen mit dem Terminus der „Greifbarkeit“ Moholys Pädagogik am Bauhaus zum Ausdruck, die sich im wesentlichen darauf konzentrierte, die Gefühlsdichte und Konkretheit des Tastgefühls auch in das Optische zu übertragen. Das heißt aber auch: Durch die Abbildungsleistung der Fotografie wird die taktile Naherschließung des Raums emotional transferiert in die optische Fernerschließung des Raumes.
Abb. 15: Lucia Moholy, László Moholy-Nagy als Meister am Bauhaus Dessau, ca. 1926, in: Haus, László Moholy-Nagy. Fotos und Fotogramme, a.a.O.
Ein Porträt, das Lucia Moholy von ihrem Mann um 1926 gemacht hat (Abb. 15), ist daher mehr als eine sympathische Spielerei. Hand und Gesicht des Künstlers schließen sich im Bild zu einer Doppelfigur zusammen, die aus Nah (die Hand) und Fern (das Gesicht bzw. das Auge) zusammengesetzt ist. Es ist kein Zufall, dass die Fingerspitzen, der Sitz des feinsten Tastgefühls, auf diesem Bild in hellem Licht beleuchtet sind. Die Bedeutung der Hand in Lucia Moholys Porträt wird unterstützt durch ein besonders schönes Fotogramm von László Moholy-Nagy (siehe Abb. 16 auf der DVD), in dem die (seine?) Hand als 21 Lazlo Moholy-Nagy, „Neue Wege in der Photographie“, in: Photographische Rundschau, 1928, S. 33–36.
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großes, lichthaft entmaterialisiertes Emblem in Kombination mit einer Art Liniengitter im Raum schwebend erscheint. Die Fingerspitzen scheinen die leuchtenden Stäbe wie Gitarrenseiten vorsichtig zum Klingen zu bringen. Das sensorische Gefühl geht also noch über Optik und Haptik hinaus. In einer Variante des Handfotogramms hat Moholy die Fingerspitzen durch kleine Kreuzzeichen aus Licht verstärkt (siehe Abb. 17 auf der DVD). In einer eher praktischen Version des Handthemas schuf Moholy später geradezu eine Demonstration für die Verbindung von (fotografischem) Sehen und Hand, indem er das Handfotogramm mit einem Fotoapparat zusammenmontierte, um die Doppelbedeutung des Optischen und des Haptischen auszudrücken. Es ist das Titelblatt der Zeitschrift Qualität (Abb. 18).22 Fotografie spielt in Moholys bildnerischen Evokationen des Tast-Seh-Bezuges, der immer auch ein Nah- und Fernraumbezug ist, die entscheidende Rolle. Die Hand kann dabei unterschiedliche Funktionen einnehmen. Das Assoziieren der greifenden Hand kann zum Beispiel auch struktiv sein. Das Beispiel aus Moholys berühmter Fotoserie vom Berliner Funkturm (siehe Abb. 19 auf der DVD) bietet wieder den Fernblick in die Tiefe. Aber optisch ist auf diesem Foto die Tiefe nicht entrückt, sondern sie ist sozusagen struktiv greifbar gemacht. Die Eisenbalken rechts kommen in solche optische Nähe, dass man meint, sie eventuell anfassen zu können wie eine Leiter. Der Einstieg ist optisch – das Gefühl jedoch, das sich dabei entwickelt, kann haptisch werden. Das gilt natürlich vor allem für das Bild selbst. Es ist nicht allein ein Bild zum Anschauen, sondern zur aktiven Mitbewegung. Das strukturelle Gerüst, das die Fotografie fürs Auge erstellt, wird zugleich ein Gerüst für ein empfindungsmäßiges Mitagieren im Raum. Diese Aktivität im Raum ist ein zentrales Thema für Moholy geworden. Seine Kunsttheorie, wenn man so sagen darf, ist eigentlich eine Theorie der Empfindungen, nicht eine Theorie der Formen. Dabei sind „Empfindungen“ nicht ganz verschieden von den in Ernst Machs „Empiriokritizismus“ elementar aufgefassten Elementen der Empfindung, die in ihrem ganzheitlichen Verbund das Innere des Menschen mit den sinnlichen Erfahrungen der Außenwelt in Übereinstimmung bringen. Und zwar mit der Unmittelbarkeit, die dem menschlichen Subjekt in seinen haptischen und motorischen Bewegungsenergien zu eigen sind.23 Dieser energetische Grundzug der aktiven Eigenbewegung ist Moholys innovative Position, die er mit den von ihm favorisierten Elementen des Lichtes, des Raumes und der Bewegung zur Gestaltung bringt. Die bestechendste Form eines Kunstwerks, das diesen dynamischen Bezug von Licht, Bewegung und Raum realisieren soll, ist das kinetische Objekt, das Moholy den Licht-Raum-Modulator genannt hat (siehe Abb. 4 auf der DVD).24 Die Plastik dreht sich, und in multiplen Geschwindigkeiten bewegen sich die einzelnen Teile noch einmal selbstständig. Das Ganze wird von wechselnden farbigen Lichtern beleuchtet, so dass sich auch bewegte Schatten auf einer Wand ergeben, die zum Gesamtbild dazugehören. Das Material ist poliertes Metall, Nickel, Chrom und Aluminium, und verschiedene Kunststoffe. Hier kommen alle Ideen, die Moholy im Laufe der Zeit mit den Mitteln des Fotogramms erarbeitet hat, zu einer großen Synthese. Damals hat Moholy auch einen Film hergestellt, der das Gerät in Bewegung zeigt und verschiedene Überblendungen und Ausschnitte aneinanderreiht.25 22 Qualität. Zeitschrift für Ware und Werbung, László-Moholy-Nagy-Heft mit dem abgewandelten Titel fotoQUALITÄT, 9. Jg., 1931, H. 1/2. 23 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Psychischen zum Physischen [1886], Jena 1900. 24 Sehr gute erste Untersuchung dieses Werks: Hannah Weitemeier, Licht-Visionen – Ein Experiment von Moholy-Nagy, Berlin 1972. 25 Lichtspiel Schwarz-Weiss-Grau, 1930.
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Abb. 18: László Moholy-Nagy, Titelblatt der Zeitschrift Qualität, Dessau 1931, in: Haus, László Moholy-Nagy. Fotos und Fotogramme, a.a.O.
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Man muss beachten, dass die erste Bezeichnung dieses Kunstwerks nicht „Licht-Raum-Modulator“ gewesen ist, sondern: „Lichtobjekt für eine mechanische Bühne“, dass es also eine Art Beleuchtungsprojektion für das Theater darstellen sollte. Das heißt: Es war gedacht als Teil einer größeren Rauminstallation, in der auch menschliche Bewegungen sich abspielen würden. Damit ist die alte Idee Moholys, dass menschliche Lebensbewegungen sich in einem dynamisch-konstruktiven Kraftsystem produktiv einbringen sollten, ganz buchstäblich erfüllt. Der Licht-Raum-Modulator ist selbst gar kein objektives Kunstwerk, sondern – wie sein Name sagt – eine apparative Anordnung, die, und zwar mit Hilfe von Licht, den integralen Raum, in dem sich auch der lebendige Betrachter befindet, modulierend gestaltet. In diesem Bedeutungszusammenhang kann man letztendlich alle Kunstschöpfungen von Moholy verstehen. Ihnen liegt, selbst wenn es Fotografien sind, latent die Vorstellung von bewegter Lichtenergie im Raum zugrunde. (Das ist ohnehin eine gültige Vorstellung für jede Art von Fotografie.) Über die Empfindung fließenden Lichts, an dessen Kontinuum jede Fotografie einen Moment lang objektiv teilhatte, repräsentiert sie mittelbar auch die Bewegung der Welt, die vor und nach der Aufnahme verflossen ist und verflossen sein wird. Auf diese Weise ist sie von ferne auch mit der Welt des lebendigen Betrachters immer verbunden. Die traurige Vorstellung, die etwa Raoul Hausmann hatte, dass die Fotografie im Moment des Auslösens einen Bruchteil der Welt abtötet und leblos erstarren lässt, wäre Moholy wohl nie in den Sinn gekommen. Für ihn gehört der lebendige Betrachter als aktiver Faktor mit zur Wirklichkeit des Kunstwerks. Daraus entwickelte Moholy in späteren Jahren die durchsichtigen Objekte aus Plexiglas mit dem Namen Space Modulator (siehe Abb. 20 auf der DVD). Auch dieser Begriff deutet darauf hin, dass es Moholy nie in einem statuarischen Sinn um das gestaltete Objekt selbst ging, sondern um bewegte Interaktion sich wandelnder optischer Empfindungsgestalten mit dem Raum. Indem dieser Raum auch Raum des aktiv bewegten Betrachters ist, bleibt dieser ein reales Element der Empfindung im gesamten räumlichen Bezugssystem. Man mag in dieser „Vision in Motion“26 eine geradezu graziös-leichthändige Lösung des schwer beladenen Raumprogramms des Konstruktivismus sehen. Wollte sich der Übermensch noch in den (Welt-)Raum schrauben, um dort den „Angriff auf den Raum“ mit „materiellen Mitteln“ zu bewerkstelligen, kommt Moholy von der Utopie zurück zu schwebenden Gestaltungen optischer Materielosigkeit. Das Medium dazu war sein vielschichtiges Durchdringen der fotografischen Phänomene.
26 So der Titel von Moholys letztem, postum erschienenen Buch: László Moholy-Nagy, Vision in Motion, Chicago 1947.
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Boden, Weg, Horizont Le Corbusiers Konzeption von Landschaft als „ästhetischer Raum“ „Wer Schranken denkend setzt, die wirklich nicht vorhanden, Und dann hinweg sie denkt, der hat die Welt verstanden. Als wie Geometrie in ihren Liniennetzen Den Raum, so fängt sich selbst das Denken in Gesetzen. Anschaulich macht man uns die Welt durch Ländercharten, Nun müssen wir des Geist’s Sterncharten noch erwarten, Indeß geht, auf Gefahr den Richtweg zu verlieren, Der Geist durch sein Gebiet, wie wir durch’s Feld spazieren.“ Friedrich Rückert1 „Ich werde euch nicht mehr von Poesie und Lyrismus sprechen. Ich werde ganz besonders vernünftige Dinge aufzeichnen. Meine Skizzen werden mit ihrer unbestreitbaren Wahrheitstreue dem Geist behenden Gang gestatten. […] Und wenn ihr Lust habt, könnt ihr, während ich zeichne, die Saiten eurer Leier zupfen; laßt eurer Begeisterung freien Lauf. Ihr werdet so, ganz für euch selbst, die poetische Version vor euch entstehen lassen, die ich euch zeigen will. Ich selber werde ‚technisch‘ reden, und ihr werdet ‚lyrisch‘ reagieren. Und ich verspreche euch ein erstaunliches Poem: das Poem der Architektur der modernen Zeit.“ Le Corbusier2
„Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ ist ein Vortrag überschrieben, mit dem Ernst Cassirer 1931 den Fragen des Raums in den Künsten gewidmeten vierten Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft an der Universität Hamburg eröffnet. Er schließt seine in ihrer Stoßrichtung bereits im Titel prägnant gefassten Überlegungen mit Versen Friedrich Rückerts, die zugleich die Modernität wie die merkwürdig antiquierte Grundierung seiner Symbolphilosophie markieren.3 Rückerts „Wer Schranken denkend setzt“ verweist nicht nur auf eine differenzierte Konzeption von Räumen, die Cassirer zuvor zu entwickeln suchte, und auf den ästhetischen Horizont, in dem diese beschränkt ist; die Verse sind auch zu lesen als Plädoyer für den intellektuellen Ethos eines symbolischen Philosophierens, in das – nicht zufällig wohl als ein literarisches Zitat gefasst – Elemente der Raumkonzeption selbst einfließen, die in ihm ausgearbeitet wurden. Durch das Zitat eröffnet Cassirer den Kongress mit einem Plädoyer für einen „Doppelschritt des Denkens“, der im „Wechsel von Setzung und Wiederaufhebung“ der Grenzen (zwischen den Disziplinen) bestehe. Auf Grenzen könne das Denken nicht verzichten, auch wenn man sich darüber bewusst sein müsse, dass diese nicht „zu festen Schranken erstarren dürfen“, sondern „bewegliche Grenzen bleiben müssen, um die Fülle und die Bewegung der Erscheinungen in sich zu fassen“.4 Von den zeitgenössischen Avantgar-
1 Friedrich Rückert, „Wer Schranken denkend setzt“, zitiert nach Ernst Cassirer, „Mythischer, ästheti-
scher und theoretischer Raum“, in: ders., Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. von Birgit Recki, Band 17: Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), bearb. v. Tobias Berben, Hamburg 2004, S. 411–432, hier: S. 427 (1. Teil, Nr. 4). 2 Le Corbusier, Feststellungen zu Architektur und Städtebau, mit einem amerikanischen Prolog und einem brasilianischen Zusatz, gefolgt von „Pariser Klima“ (u. a.), 2. Aufl., Basel, Berlin 2001, S. 48. Vgl. hierzu bes. die Einleitung von Yannis Tsiomis zu: Le Corbusier, Conférences de Rio, Paris 2006. 3 Helmut Prang, Friedrich Rückert. Geist und Form der Sprache, Schweinfurt 1963; Annemarie Schim-
mel, Friedrich Rückert. Lebensbild und Einführung in sein Werk, Freiburg i. Br. 1987. 4 Cassirer, „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“, a.a.O., S. 427.
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den, die gerade für deren Deskription und für die Diskussion von Raum in den Künsten von Relevanz gewesen wären, findet sich in diesem Vortrag, wie generell im Werk Cassirers, kaum eine Spur. Die moderne Physik wird wahrgenommen, moderne Kunst und Literatur, Architektur und Urbanistik jedoch sind Leerstellen. Gleichwohl ist die Aufgabe, die Cassirer mit den Versen Rückerts dem Kongress auf den Weg gibt, eine, die im Zentrum der Neuvermessung des Raumproblems in den Künsten der Avantgarden stand, wie sie Le Corbusiers Versprechen eines „Poems der Architektur der modernen Zeit“ andeutet: mit „Liniennetzen“ überzieht dieser die Welt in seiner urbanistischen Arbeit und trägt so zur Ausbildung eines „ästhetischen Raums“ bei, den Cassirer als einen theoretischen Grundbegriff entwickelt. Durch Linien sieht Cassirer, mit Rückert gesprochen, den Raum wie das Denken durch Gesetze geordnet: durch die Notwendigkeit der unterscheidenden Charakterisierung. Doch nicht nur die Verbindung von Raum und Geist, von Linie und Gesetz verleiht den Versen Rückerts eine fortwährende Gültigkeit für Bemühungen um die Ausbildung eines ästhetischen Raums, sondern der Bezug auf Bewegung und Spaziergang. Dem Gebiet des Geistes tritt das Feld zur Seite, der Gedankenbewegung, die eine ausstehende Sternekarte zu verzeichnen habe, die Bewegung des Spaziergängers, der die Welt gehend vermisst. Ein Zusammenhang von Linie und Bewegung ist grundlegend für die Konzeption von Raum, die Cassirer vorschlägt: sowohl auf Ebene der theoretischen Raumvorstellung als auch auf Ebene der Konstruktion von Raum in den Künsten, für die er in diesem Vortrag, unter Hinweis auf die folgenden Fachreferate, ein Beweisstück schuldig bleibt, das gerade in der ihm zeitgenössischen Architektur hätte aufgesucht werden können. – Etwa bei Le Corbusier, dessen Landschaftsvorstellung gleichfalls von einem Zusammenhang von Linie und Bewegung, von Erkenntnis und Gestaltung des Raums bestimmt wird. Der modernistische Urbanismus liegt jenseits des ästhetischen Wahrnehmungshorizonts der Symbolphilosophie, kann aber als eine in den Künsten selbst entwickelte Variante eines ästhetischen Raums gelten, den Cassirer in der Umstellung vom Seins- zum Ordnungsbegriff begründet sieht.5
Ästhetischer Raum als Ordnung des „möglichen Beisammen“ Eine Identität des Raums, so fasst Cassirer seine Überlegungen zusammen, „besteht lediglich im Begriff des Raumes als einer“ – mit Leibniz formulierten – „Ordnung des möglichen Beisammen“.6 Von Leibniz bereits als „reale Relation“ gedacht, habe er seine wahrhafte Objektivität in der „Wahrheit von Beziehungen“7, nicht in einer absoluten Wirklichkeit: „Die Welt wird nicht als ein Ganzes von Körpern ‚im‘ Raume noch als ein Geschehen ‚in‘ der Zeit definiert, sondern sie wird als ein System von Ereignissen“ genommen.8 Der Raum in concreto sei jeweils konstituiert durch „bestimmte Strukturgesetze“, und seine Form ändere sich, je nachdem, ob er als theoretische, mythische oder ästhetische Ordnung gedacht werde.9 Der Zusammenhang zwischen den „Wandlungen in der theoretischen Vor-
5 Im Rahmen dieses Aufsatzes kann nicht weitergehend gefragt werden, ob mit Le Corbusier eine Konzeption von Landschaft einsetzt, die als so konstitutiv für das Menschsein in der Moderne entworfen wird, dass sie letztlich als eine der symbolischen Formen erscheint, in denen der Mensch sich Welt immer erst aneignet. Kann neben Mythos, Sprache und Erkenntnis nicht auch Bewegung – und mit ihr die an sie konstitutiv gebundene Landschaft – als eine symbolische Form im Sinne Ernst Cassirers beschrieben werden? Der Gedanke, Landschaft als eine symbolische Form zu denken, dehnt eine Überlegung Gert Mattenklotts auf diese aus, der in einem Aufsatz vorschlug, Gärten als symbolische Formen aufzufassen. Vgl. Gert Mattenklott, „Der Garten als symbolische Form. Reine Anwesenheit zwischen Räumen und Zeiten“, in: Daidalos. Architektur Kunst Kultur, 1992, Nr. 46: „Bedeutsame Gärten / Gardens with Meanings“, 1992, S. 26–31. 6 Cassirer, „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“, a.a.O., S. 429. 7 Ebd., S. 415. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 429, S. 419.
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stellung und der theoretischen Begründung des Raumes und den Problemen der künstlerischen Anschauung und der künstlerischen Gestaltung“10 bestimmt die Grundstruktur von Cassirers Überlegungen. Auch wenn eine „eigentümliche ‚Autarkie‘ des Ästhetischen“ festzuhalten sei, gelte es doch, diese nicht zu überspannen, da die „charakteristischen Unterscheidungen der Gestalten des Geistes“ nicht „starre Scheidewände“ seien, sondern einem Prinzip der Schwingung unterlägen: Jede einzelne berührte Saite – so pointiert Cassirer unter Hinweis auf antike Kosmosvorstellungen – lasse „das Ganze mitschwingen und nachschwingen“.11 Und so stelle die für die „erkenntnistheoretische Entwicklung des Raumproblems“ grundlegende Einsicht in den „Vorrang des Ordnungs- vor dem Seinsbegriff“ auch ästhetische Fragen. Die „Analogie zwischen dem erkenntnistheoretischen und dem ästhetischen Problem“ erlaube es eventuell, „das Raumproblem zum Ausgangspunkt einer neuen Selbstbesinnung der Ästhetik“ zu nehmen.12 Nicht nur die „reine Denkfunktion“ sei durch „begriffliche Zusammenfassung und Trennung, Unterscheidung und Verknüpfung“ bestimmt, durch die das Mannigfaltige gegliedert werde.13 Vielmehr sei jede „Funktion der künstlerischen Anschauung und Darstellung“ von dieser „Grundkraft“ beherrscht und trage gleichfalls dazu bei, dass der „Geist die Welt erobert und die Welt gestaltet“.14 Was Goethe, der übermächtige Gewährsmann von Cassirers Symbolphilosophie, im Faust für die Dichtung gesagt habe, gelte für die künstlerische Gestaltung insgesamt: „Sie teilt die fließend immer gleiche Reihe des Geschehens‚ belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt.“ – Anders als die Gliederung der Welt in einem „Netzwerk von reinen Begriffen“ lasse diese Gestaltung zu einem ästhetischen Raum „individuelle Gebilde erstehen, denen die schaffende Phantasie, aus der sie entstammen, den Atem des Lebens einhaucht und die sie mit der ganzen Frische und Unmittelbarkeit des Lebens begabt“.15 Auch wenn der „künstlerische Raum“ nicht mehr von der unmittelbaren Lebensbewegung gekennzeichnet sei, die den mythischen auszeichnet, so sei er doch „erfüllt und durchsetzt mit den intensivsten Ausdruckswerten, [...] von den stärksten dynamischen Gegensätzen belebt und bewegt“.16 Er sei ein „Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen, in deren jeder sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt aufschließt“.17 Letztere sucht Cassirer zu charakterisieren, indem er etwa die Frage nach „der Struktur des malerischen, des plastischen, des architektonischen Raumes“ als Frage nach „dem Prinzip der künstlerischen Gestaltung“ stellt, wie er durch die Verse Rückerts hindurch die Frage nach der Struktur des theoretischen Raumes als Frage nach dem Prinzip des reflexiven Gesprächs gestellt hatte.18 Neben den Goethe-Bezug tritt hierbei Lessings Bestimmung von Raum- und Zeitkünsten und Herders Sinnesästhetik, in der neben die Unterscheidung von Poesie und Malerei die von Musik und Plastik gesetzt worden war. Herders in der Einteilung der Sinne begründete Gliederung der Einzelkünste sei auch in neueren phänomenologischen Untersuchungen auf Bestimmungen des ästhetischen Raums übertragen worden: Ein optischer Raum sei in diesen auf den Gesichtssinn, ein haptischer auf den Tastsinn bezogen. Gegenüber Husserl besteht Cassirer darauf, dass Unterschiede der Darstellungsweisen in den Künsten nicht vom Material der Darstellung selbst aus zu fassen seien und auch nicht durch die Spezifik der Sinneserfahrung alleine. Vielmehr sei eine Verschiebung des Schwerpunktes vom hyletischen zum noetischen Moment, von den sinnlichen Wahrnehmungen zu den geistigen Voraussetzungen nötig, durch die
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Ebd., S. 415 f. Ebd., S. 416. Ebd., S. 413. Ebd., S. 417. Ebd., S. 418. Ebd. – Zu Cassirers Goethelektüre vgl. Barbara Naumann und Birgit Recki (Hrsg.), Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002. 16 Cassirer, „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“, a.a.O., S. 423 17 Ebd. 18 Ebd., S. 412.
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das Intentionale gegenüber dem Sensualen aufgewertet werde.19 Es ist diese spezifische Verbindung von erkenntnistheoretischer Durchdringung und sinnlicher Erfahrung, die Cassirers Konzeption des ästhetischen Raums auszeichnet. Als Landschaft ist dieser ein synästhetischer Raum und durch eine Überkreuzung der verschiedenen für ihn konstitutiven sinnlichen Erfahrungen bestimmt: Er ist nicht nur ein optischer oder haptischer, sondern auch ein durch den Bewegungssinn bestimmter choreografischer Raum. Und als eine in urbanistischer Ordnung entworfene Landschaft ist Le Corbusiers Konzeption eines ästhetischen Raums gerade nicht auf die sinnlichen Dimensionen, der Natur oder ihrer Wahrnehmung reduziert, sondern auch auf deren Erkenntnis und Medien verwiesen, die Cassirers Symbolphilosophie gegenüber der Phänomenologie behauptet.
Der „bewegte und komplexe Körper“ Landschaft Raumkonzepte, sei es der theoretischen Erkenntnis, sei es der künstlerischen Praxis, tragen entscheidend dazu bei, Natur in Landschaft zu verwandeln. Als Gestaltung eines ästhetischen Raums ist Landschaft kein bloßer Naturraum.20 Doch im Unterschied zu anderen Künsten, die an ihr als einer synästhetischen Gestaltung teilhaben können, bleibt Landschaftskunst konstitutiv an ein materiales Substrat gebunden – an einen von Pflanzen bestandenen Boden, an Wasserflächen oder Lufträume. Abstraktion und Medialisierung, die bereits in der Renaissance an der Genese von Landschaft mitwirken und deren Geltung in der Entwicklung modernen Landschaftsbewussteins radikalisiert wird, lösen sie nicht völlig von diesen ab. Landschaft ist auf einen Naturzusammenhang zurückverwiesen, in dem sie jedoch nicht aufgeht. Statt über den Bezug auf einen von Pflanzen bestandenen Boden ist moderne Landschaft heute stärker definiert über den Bezug auf den diesen überspannenden Himmel und auf Bewegung. Ihr Arbeitsfeld, so betont etwa die Landschaftsarchitektin Kathryn Gustafson, sei die gesamte von einem freien Himmel überspannte Welt.21 Und Bernhard Lassus bestimmt in seinen Entwürfen Landschaft gerade nicht in Opposition zur Infrastruktur der urbanisierten Moderne, sondern im Bündnis etwa mit der Konzeption von Autobahn- und Schnellzugnetzen, betont die Bedeutung von Spaziergang, Fahrt und Fortbewegung für die Landschaftskunst.22 In der für diese grundlegenden Trias von Boden, Weg und Horizont, werden die Akzente auf Letztere verschoben. Neben Literarizität und Pikturalität, die Landschaftserfahrung als eine von Literatur und Malerei eingerichtete Naturerfahrung bestimmten, tritt die Kategorie der ‚Mouvance‘. Mit ihr beschreibt Lassus Landschaft als ein Feld, dessen Elemente sich fortwährend gegenseitig deplatzieren, als eine fortwährend bewegliche Beziehung:
19 Ebd., S. 424. 20 Grundlegend für die Theorie der Landschaft noch immer: Joachim Ritter, „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt am Main 1974, S. 141–163. Zur Kritik der Thesen Ritters insbes. Ruth Groh und Dieter Groh, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt am Main 1991, bes. S. 97–108. Aus dem breiten Feld der neueren Landschaftstheorie nenne ich nur die Quellensammlung Landschaftstheorie, hrsg. v. Brigitte Franzen und Stefanie Krebs, Köln 2005. Instruktiv auch: Anne Cauquelin, L’invention du paysage, Paris 2000. 21 Aaron Betsky, „The long and winding road. Kathryn Gustafson transforme l’architeture du paysage“,
in: Jane Amidon, Moving Horizons. Les paysages de Kathryn Gustafson, Basel, Berlin, Boston 2005, S. 7–14, hier: S. 7. Zum Bezug von Natur und Architektur vgl. Adrian Forty, „Nature“, in: ders., Words and Buildings. A Vocabulary of Modern Architecture [2000], New York 2004, S. 220–239. Zur Thematik des Horizonts vgl. Nicholas Temple, Disclosing Horizons. Architecture, perspective and redemptive space, New York 2007. 22 Stephan Bann, „Sensing the Stones. Bernard Lassus and the Ground of Landscape Design“, in: Michel Conan (Hrsg.), Landscape Design and the Experience of Motion, Washington D. C. 2003, S. 53–73.
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„Bewegend, nicht so sehr, weil sich hier kontinuierlich verschiedene physische Wechsel produzieren, sondern insbesondere weil es sich nicht um ein statisches Objekt handelt, das für sich existiert. Landschaft entsteht aus einer Dynamik, in der sich in einer fortwährenden ‚Deplatzierung‘ der Wahrnehmende und das Wahrgenommene verbünden.“23
Landschaft, Effekt der Überkreuzung verschiedener in ihrer Gestaltung zusammenwirkender Künste, will mit dem vollumfänglichen Spektrum der Sinne erfahren werden. So, wie eine Bestimmung der Landschaft in die Sphäre der Natur zurückgreift, ohne in ihr aufzugehen, ist sie auf Subjekt und Medium ihrer Wahrnehmung bezogen: Dafür, dass Landschaft ist, ist nicht nur die leibliche Präsenz eines wahrnehmenden Subjekts nötig, sondern die Generalisierung eines Medienverhältnisses, in der letztlich die zur Landschaft gestaltete Natur im Zusammenspiel der Künste selbst zu einem Medium wird. In der Landschaftsgestaltung, die sich seit den siebziger Jahren als eigenständige Disziplin gerade im Verhältnis zum modernistischen Urbanismus profiliert, werden Konzepte von Räumlichkeit entwickelt, die dem dynamischen Charakter von Raum ebenso Rechnung tragen wie der Bedeutung von Bewegung für ihre Entwürfe. Wobei Bewegung in diesen gerade nicht (nur) als eine Bewegung der Naturelemente und -bestände aufgefasst wird. Sie wird vielmehr insbesondere als Bewegung des wahrnehmenden Menschen begriffen, der als ein konstitutiver Bestandteil von Landschaft gilt.24 Anders als Gilles Cléments Konzeption eines ‚jardin en mouvement‘25, in der die Landschaft nicht mehr von der urbanistischen Raumplanung, sondern vom Garten und den Bewegungsdimensionen der Pflanzenwelt aus gedacht wird, sind gegenwärtige kulturalistische Auffassungen von Landschaft auf den modernistischen Urbanismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beziehen: In diesen wird Landschaft gerade nicht im Gegensatz zur Stadt bestimmt und ist die Trias von Boden, Weg und Horizont bereits ein bestimmendes Elemente der Darstellung und Ordnung von Natur als Landschaft. Diese kann als ein von der Stadt aus entworfener Raum gelten, für den mit Bewegung auch die Medialität der Wahrnehmung – in Zeichnung, Film oder sprachlicher Beschreibung – konstitutiv ist. Eine der radikalsten Bestimmungen von Landschaft als einen von Bewegung und Medialität abhängigen ästhetischen Raum hat Le Corbusier formuliert: Seine Ästhetik ist nicht nur eine der erneuerten Architektur und der Stadt, sondern trägt auch zur Ausbildung eines modernistischen Bewusstseins von Landschaft bei.26 Unter den Eindrücken seiner Südamerikareise 1928/1929 und seines Aufenthalts in New York 1935 präsentiert Le Corbusier seine Arbeit nicht nur als Gedicht und Architektur der modernen Zeit. Diesen eng verbunden, wird gerade auch die Landschaft der modernen Zeit in seinen theoretischen Interventionen, architektonischen Studien und urbanistischen Programmen entworfen. Sie ist ebenso Gegenstand der Zeichnung – seit der Renaissance herausragendes
23 Vgl. den Eintrag „Mouvance“ von Bernard Lassus in: Augustin Berque, Michel Conan u. a. (Hrsg.),
Mouvance – cinquante mots pour le paysage, Paris 1999, S. 40, hier übersetzt von F. H. 24 Vgl. hierzu Francesco Careri, Walkscapes, Barcelona 2004; Bernhard Waldenfels, „Gänge durch die Landschaft“, in: ders., In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main 1985, S. 179–193. 25 Gilles Clément, Le jardin en mouvement, Paris 1999. Zu Cléments Arbeiten, die als Gegenpol zu den hier diskutierten Ansätzen verstanden werden können, vgl. generell: Gilles Cément und Louisa Jones, Gilles Clément une écologie humaniste, Paris, Genève 2006. 26 Zur Thematik vgl. Fondation Le Corbusier (Hrsg.), Le Corbusier: La Nature (3. Rencontre de la Fon-
dation Le Corbusier), Paris 2004. Sarah Menin und Flora Samuel, Nature and Space. Aalto and Le Corbusier, London, New York 2003. Die Kritik an Le Corbusiers Urbanismus oder an Konzeptionen der Linie und der Geometrie, wie sie durch dekonstruktive Architekturpositionen formuliert worden ist, kann in diesem Aufsatz nicht entwickelt werden. Durch den Einsatz mit Le Corbusier kann eine Konzeption von Landschaft als Bewegungszusammenhang entschieden in der modernistischen Tradition verortet und gegen den Verdacht immunisiert werden, Teil der letzten Drehungen der Postmoderne zu sein. Auch gegenwärtige, kritische Fortführungen dieser Traditionslinie des Landschaftsdenkens müssen an anderer Stelle erörtert werden.
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Medium der Naturerforschung – wie der Ausarbeitung seiner Vorträge, in denen er seine urbanistischen Vorstellungen entwickelt. Der Band Feststellungen von 1929 setzt mit einer emphatischen Landschaftsbeschreibung ein: „Argentinien ist grün und flach, und sein Schicksal ist ungestüm. São Paulo erhebt sich in 800 m Höhe auf einem hügligen Plateau, dessen Erde rot ist wie Kohlenglut, und Stadt und Landschaft schienen sich noch der unumschränkten Macht der Kaffeeplantagenbesitzer zu fügen, die ehemals über Sklaven herrschten und heute als Gouverneure hart und wenig aktiv sind. Und Rio ist rot und rosa wie seine Erde, grün wie seine Pflanzenwelt, blau wie sein Meer; leicht schaumbedeckt kräuseln sich die Wellen in den Strandbädern, deren immer mehr werden; überall erheben sich Inseln und stoßen durch das Wasser, Steilhänge fallen zum Wasser hin ab, ansehnliche Hügel und hohe Berge; Meeressand findet sich am Rand der Häuser und der Paläste; das Herz ist erfüllt von unbeschreiblichem Licht.“27
Die Motive, die diese exotistisch grundierte Passage des „amerikanischen Prologs“ bestimmen, sind zugleich die Elemente, die Le Corbusier als „hervorragende Ausgangspunkte“ von Städtebau und Architektur auszeichnet: Meer, Bäume und Himmel, die etwa in Rio vorhanden, wenn auch in der Stadt nicht wahrnehmbar seien.28 Seine an Bewegungsdimensionen gebundenen Anstrengungen zielen darauf, ihnen als Elementen eines städtebaulichen Programms zur Sichtbarkeit zu verhelfen. Am Ende des Bandes, im „brasilianischen Zusatz“, gibt Le Corbusier beiläufig eine Definition von Landschaft, die Teil ist seiner Konzeption von Raum in Architektur und Urbanismus. Vom Flugzeug aus sei ihm klar geworden, dass er „diese Landschaft – diesen bewegten und komplexen Körper“ nun verstanden habe.29 Nicht nur, dass Landschaft hier als Körper charakterisiert wird, sondern auch, dass eine verstehende Einsicht in deren Charakter betont wird und ebenso der Ort, von dem aus diese gewonnen wird, ist in dieser Definition festzuhalten. An anderer Stelle des Bandes findet sich die Landschaft selbst – ohne als Körper spezifiziert zu sein – als eine bewegte beschrieben und einem Baukörper verbunden, der ordnend in sie eingreift.30 Le Corbusiers Bestimmung der bewegten Landschaft zunächst im Verhältnis zu einem architektonischen Körper, dann selbst als ein bewegter Körper erlaubt es, die Naturbestände, Bäume etwa, zu isolieren, um sie, wenn nicht völlig zu negieren, als Gestaltungselemente in das Feld des Urbanismus zu überführen, das Le Corbusier in seinen Vorträgen beständig auszudehnen sucht. Als „bewegter Körper“ ist Landschaft zum einen völlig der geometrischen Vorstellung unterworfen, die sie als Konstellation von Linien entwickelt, zum anderen dem wahrnehmenden Körper unterstellt, der Natur aus der Bewegung heraus wahrnimmt und als Landschaft konstruiert. Le Corbusiers ebenso emphatische wie atemlose Auszeichnung einer kommenden Architektur – die von ihm in einem mondialen Maßstab gedacht wird – nimmt ihren Ausgangspunkt bei einer Erfahrung des Raums als Öffnung: „Wenn einem das Glück geschenkt ist, auf einem großen Dampfer den Ozean zu überqueren, in einem Flugzeug Buchten, mächtige Ströme, grenzenlose Ebenen zu überfliegen, in den Häfen die Schiffsladungen sich aufstapeln zu sehen, von einer Wandkarte die großen unbesiedelten Gebiete eines riesigen Landes abzulesen; wenn man – unter dem Zwang des Fortschritts – die Begriffe der Grenzen und Länder wanken fühlt; […] dann sieht man ein, daß die Architektur neu ist […].“31
27 Le Corbusier, Feststellungen, a.a.O., S. 15. 28 Ebd., S. 36. Wenige Jahre später, in der Auswertung seiner USA-Reise im Band Quand les cathédrales etaient blanches. Voyage au pays des timides, Paris 1937, werden diese als Bäume, Sonne und Raum variiert, werden Himmel und Meer als Licht und Raum konturiert. Vgl. hierzu S. 101 im selben Band. 29 Le Corbusier, Feststellungen, a.a.O., S. 217. 30 Ebd., S. 222. 31 Ebd., S. 29. Zu seiner Auszeichnung von Ozeandampfer, Flugzeug und Automobil in ihrer Rolle für die modernistische Architektur – und damit auch für die Landschaft – vgl. Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur [1922], Basel, Boston, Berlin 2008.
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Ist für Garten und Park eine abschließende Grenze konstitutiv, steht grenzenlose Weite am Beginn einer neuen Konzeption von Landschaft, für die Horizonterfahrung grundlegend ist. In dieser wird Natur radikal der Raumerfahrung und der Ordnung des Urbanismus unterstellt, in der sie zu fassen gesucht wird, sie gerät zu einer im Zusammenspiel von Fortbewegung und Architektur gedachten Reiselandschaft. Aus dieser Erfahrung des Raums ergibt sich in Le Corbusiers Beschreibung eine Erkenntnis – eine Einsicht in den Charakter der neuen Architektur wie auch der neuen Landschaft, die gerade dort ansetzt, wo die „Begriffe der Grenzen und Länder“ in Bewegung geraten. Sie wird in anderen Passagen der südamerikanischen Vorträge beschrieben aus einer Erfahrung des Flugs heraus, an die sie wie an Erkenntnis und die Medien von Wahrnehmung und Aufzeichnung konstitutiv gebunden ist: „Alles“, so betont Le Corbusier mit Blick auf seine Flugreisen, „hat die Genauigkeit einer geometrischen Zeichnung; nichts geschieht mit Hast, alles läuft langsam und ohne Unterbrechung ab; im Hinblick auf das, was man ‚menschliches Sehen‘ nennen könnte, lassen sich mit dem Flugzeug nur noch das Postschiff auf dem Meer und der Fuß des Wanderers auf der Landstraße vergleichen: man schaut, und das Auge vermittelt das Geschaute in aller Ruhe. Demgegenüber nenn’ ich unmenschlich und infernalisch die Aussicht, die man von einem Zug oder von einem Auto – ja selbst von einem Fahrrad aus hat. Ich kann nur leben, wenn ich sehen darf.“32
Fahrt und Flug sind auf Ebene eines mondialen Urbanismus, was der Gang und die architektonische Promenade auf Ebene der Erfahrung und Konstitution eines Gebäudes sind: „Jeder einzelne Schritt“, so charakterisiert Le Corbusier dieses Gestaltungselement, „bietet dem Auge ein neues Klangelement der architektonischen Komposition, sei es den Ausblick auf die bebauten oder grünen Fernen oder die Ansicht der anmutig geordneten nahen Umgebung.“33 Wie die architektonische Promenade es erlaubte, die Elemente einer Architektur zu erfassen, die es zu durchwandern und zu durchschreiten gelte, erlaubte es die Reise die verschiedenen Elemente wahrzunehmen, die eine urbanisierte Welt als mondiale Landschaft organisieren. Le Corbusiers Definition der Landschaft als ein „bewegter und komplexer Körper“ ist nicht nur die Abreviatur dieses in seinem Geltungsanspruch weitestmöglich ausgedehnten Urbanismus, sondern bestimmt eine Konstellation von Körper und Medien ebenso wie einen spezifischen Stil von Zeichnung und Sprache. In diesen werden auch die Elemente weiter spezifiziert, die für Le Corbusiers in dieser Konstellation entwickelte Konzeption von Landschaft bestimmend sind.
Naturerkenntnis Le Corbusier beschränkt sich in seinen südamerikanischen Vorträgen nicht auf emphatische Beschreibung von Landschaft, sondern betont in seiner knappen Definition, dass er diese verstanden habe – und steht damit in einer für die Entwicklung des europäischen Landschaftsbewusstseins zentralen Tradition. Kommt doch in der Verwandlung von Natur in Landschaft der Erkenntnis von Kräften und Dingen der Natur zentrale Bedeutung zu.34 Auch in Le Corbusiers Konzeption der Landschaft ist die Erkenntnis der Natur die Bedingung der Konstruktion eines Landschaftsraums: „Asunción! 32 Le Corbusier, Feststellungen, a.a.O., S. 20 f. 33 Elisabeth Blum, Le Corbusiers Wege. Wie das Zauberwerk in Gang gesetzt wird [1988], Basel, Boston, Berlin 2001, S. 31. 34 Von den Studien der Naturbestände im ausgehenden Mittelalter, etwa in den Webbildern des für die frühe Entwicklung der Landschaftsdarstellung wirkungsmächtigen Teppichs der Apokalypse in Angers, über Leonardo da Vincis zeichnerische Studien der Naturkräfte, die Entdeckungsfahrten in die neue Welt und die auf sie folgenden botanischen Klassifizierungen bis hin zur modernen Biologie und Physik, die parallel zur Ausbildung des modernen Urbanismus die Raumverstellung revolutionieren.
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[…] [E]ine kleine Stadt, eingetaucht in eine erstaunliche Vegetation: 50 % Gras von einer Härte, die nicht verwunderlich ist bei 50 % Zinnoberboden; ungeheure Bäume, die ganz und gar malven-, safranfarben oder krebsrot sind.“35 – Diese Auszeichnung analytischer Erkenntnis wird verbunden mit dem Insistieren auf einer Vitalität, die einen blutleeren Akademismus abschaffen würde, und mit neuen „Gemütsbewegungen“, die mehr aus dem Herzen kämen und sich der Definition von Landschaft als einem bewegten Körper als dritte Definitionsebene hinzugesellten36: der Emotio als einem Modus der Anschauung, der nicht auf Akademie, Bibliothek oder Labor bezogen ist, sondern auf die von Le Corbusier stets hervorgehobenen Orte der Erkenntnis. So sind bei aller Auszeichnung von Objektivierung seine Naturstudien – wie auch seine Literatur und seine Architektur – doch immer Reaktionen auf den Ort ihrer Entstehung: „Auch in São Paulo hab’ ich später genaue Aquarelle von diesem Boden gemacht“, notiert er etwa an Bord der Lutetia auf der Rückreise nach Europa. „Wenn ich sie heute – auf dem Blau des Ozeans – betrachte, kommen sie mir verrückt vor.“37 Gleichzeitig mit seiner Hinwendung zum Ort der Erkenntnis – sei es dem Flugzeug oder dem Ozeandampfer – sieht Le Corbusier von den Beständen der Natur ab und reduziert Landschaft auf eine Fläche, ihre Erfahrung auf einen Erkenntnisvorgang: „Man muß die naheliegende Trägheit überwinden und in der Lage sein, eine Sache an sich ganz genau zu erkennen und zu beurteilen – eine Sache, die genau auf die Umgebung abgestimmt ist und daher in keiner Weise anstößig sein kann. Wenn man von der sehr roten Erde und den Palmen absieht, befindet man sich in der ewigen Landschaft, die überall ist: ob Steppe oder Pampa – beide sind nichts weiter als ausgedehnte Flächen; Urwald oder französischer Hochwald – in beiden gibt es Äste und Zweige. Erfassen muß man die Dinge!“38
Die Erfahrung der Natur – im Überfliegen einer unendlichen Ebene etwa – versetze die schöpferische Tätigkeit in Unruhe – sie wird von Le Corbusier als Aufforderung aufgerufen: „[F]rei und selbständig handeln, betrachten, sehen, begreifen, urteilen und entscheiden.“39 Mit der Betonung des Ortes und der Haltung der Erkenntnis geht eine Verschiebung einher vom Objekt zum Modus des Denkens, das Teil eines architektonischen Entwurfs und urbanistischer Planung ist. Neben die Wahrnehmung tritt die Erkenntnis der Natur und wird von Le Corbusier wie diese auf die Bewegung des erkennenden Subjekts bezogen. Wie für ihn gilt: „Architektur ist nichts anderes als der Ausdruck der Denkweise einer Epoche“40, so gilt auch, dass diese gerade in der Landschaft formuliert wird, gerade weil die Geltung des Architektonischen radikal ausgedehnt wird zu einer symbolischen Raumform, in der ein moderner Mensch seinen Weltbezug fasst.
Historizität und mythische Vitalität Auch wenn eine Historizität der Landschaft – über einen erforschenden oder Räumlichkeit gestaltenden Akt der Entdeckung und Besiedlung Südamerikas – zu den grundlegenden Elementen von Le Corbusiers Landschaftskonzeption zählt, ist diese doch zunächst durch eine Abstandnahme von der Modellkultur der europäischen Renaissance bestimmt. Sie gilt Le Corbusier gerade nicht als Garant eines Fortlebens der Antike und des Mythos – deren Vitalität er vielmehr in Südamerika und in seiner eigenen modernistischen Architektur gewährleistet sieht. Seine Raum- und Stadtplanung – die letzt-
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Le Corbusier, Feststellungen, a.a.O., S. 20 f. Ebd., S. 26. Ebd., S. 20. Ebd., S. 25. Ebd., S. 41. Ebd.
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lich auf den gesamten Erdraum zielt – gilt ihm als die Fortsetzung einer Geste, die nicht nur Stoff für ein Epos der modernen Zeit wäre, sondern dieses in einen raumbildenden Akt selbst verlegt: „Vom Flugzeug aus sah ich ein Dach aus einem riesigen See auftauchen. In der ganzen Umgebung gibt es keine andere Farm. Dieser Ansiedler war ein sehr verwegener Mann. Ob man in Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay, wo es keine Volkszählung gibt, wohl von dem Epos dieses Kolonisten auf vorgeschobenem Posten weiß, der sein Leben der Aufgabe gewidmet hatte, Häuser zu bauen, Vieh zu züchten, Bäume zu pflanzen? Ihr Romanschreiber in der Stadt – mit euren Ehebrechern und euren akademisch gebildeten Jungfern: man findet Stoff für Heldenlieder, sobald man die Erde von oben betrachtet.“41
Auch wenn Le Corbusier sich hier auf die mittelmeerische Antike als Referenz seines Denkens bezieht und ihm der Flusslauf des Paraña mit seinen Obstgärten an Gartenlehrbücher der Renaissance42 erinnert, so eröffnet die Reise in Südamerika doch gerade einen Abstand zur europäischen Architekturtradition. Eine Wellblechhütte in den Slums, nicht die Reprise der Villen Palladios, steht ihm für das „Gedicht der modernen Zeit“ ein. Die Weite Südamerikas wird von ihm zum einen auf den Flugverkehr, zum anderen auf die Odyssee bezogen, und seine Konzeption von Landschaft gewinnt so nicht nur eine technische, sondern auch eine mythologische Dimension.43 In der noch lebendigen Erinnerung an die erste Besiedelung sieht Le Corbusier die lebendige Entsprechung zur Odyssee: Auf diese, nicht auf die Tradition der Renaissance, habe sich eine modernistische Architektur zu beziehen, die so letztlich selbst zum ersten Garanten eines Fortlebens der Antike wird. Der Paraña gerät Le Corbusier zum Anlass einer Modellbildung, die für seine Landschaftsästhetik zentral ist: ein dessen Verlauf abgeschautes ‚Gesetz des Mäanders‘ wird an die Stelle der Gartenlehrbücher der Renaissance gerückt, die zunächst in Erinnerung kamen: „Von Buenos Aires aus haben wir das Delta des Paraña überflogen, eines der größten Ströme der Welt; in diesem Delta wimmelt es von Kanälen, es ist dicht bepflanzt. Hier erntet man Obst, und man schützt die Früchte vor dem heftigen Luftstrom, der vom Rio kommt, indem man endlose Palisaden aus Pappeln errichtet, die kleine Gehege bilden. […] Vom Flugzeug aus erinnert dieses Delta ungemein an die italienischen und französischen Renaissance-Kupferstiche in den Werken über Gartenbaukunst. Dann überqueren wir den Uruguay-Fluß; stundenlang sind wir stromaufwärts geflogen. Und dann schließlich kommt der Paraguay, der hier das Ende seines Laufs – im Zusammenfluß mit dem Paraña – erreicht hat; stromaufwärts zieht er sich nach Norden in den brasilianischen Urwald, bis nahe zum Amazonas. Der Lauf dieser Flüsse in dem unendlichen flachen Land erläutert friedlich die unerbittliche Konsequenz der Physik: das Gesetz vom größten Neigungswinkel und später, dort, wo alles flach geworden ist, den Lehrsatz von der mäandrischen Linie. Ich sage ‚Lehrsatz‘, denn die Windung, die durch Erosion entsteht, ist ein zyklisch sich entwickelndes Phänomen, das unbedingt dem des schöpferischen Gedankens, dem der menschlichen Erfindungsgabe gleicht. Während ich aus luftiger Höhe den Verlauf der Windungen verfolge, erklären sich mir die Hindernisse, auf die die menschlichen Dinge stoßen, die Sackgassen, in die sie geraten, und die plötzliche Entwirrung verwickelter Situationen, die wie ein Wunder erscheint.“44
Doch Le Corbusiers Gesetz der „mäandrischen Linie“ ist nicht nur ein der Beobachtung der Natur abgewonnenes Modell zur Beschreibung kreativer Prozesse. Es ist zugleich auf eine Beschreibung der Landschaft bezogen, aus deren Erfahrung heraus es formuliert wird, und auf eine Theorie der Linie. In dieser Konstellation entwickelt Le Corbusier seine Auffassung von Landschaft als einem „bewegten Körper“, die mit den Kupfern der Renaissance nichts mehr gemein hat und gerade so für eine Vitalität des Mythos einstehen kann, in der er die Architektur der modernen Zeit begründet. Wie Le Corbusier diese auf eine klare Formensprache reduziert, die frei ist von Ornamenten, so reduziert er auch die Landschaft, die in einer architektonischen Raumbildung ihre begründende Geste findet, auf Lini41 42 43 44
Ebd., S. 20. Ebd., S. 18. Ebd., S. 16 f. Ebd., S. 17 f.
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en und Flächen der Geometrie. Er sieht von ihren organizistischen Qualitäten ebenso ab wie von ihren historischen Dimensionen. Die Bestände der Natur, die „ganz allerliebsten Überbleibsel der Landschaft“ werden verhandelbar – auch wenn er etwa „Gras und Viehherden, hundertjährige Bäume“ für den Moment beibehalten möchte, um „in der Luft“, auf einem horizontalen Betonboden „durchsichtige und klare Prismen von Nutzbauten“ zu errichten.45 Mit dem Abstand zu einer Architekturtradition, die durch Renaissancefürsten und Päpste vergiftet worden sei46, geht eine Landschaftsvorstellung einher, die sich von einem begründenden Vorrang der Natur frei gemacht hat. An deren Stelle wird die Arbeit an einem modernistischen Formenprogramm gesetzt, das etwa ein „hübsches Beton-Geäder direkt durch die Wiesen laufen lassen“ will, um den Menschen das Gefühl zu geben, dass ihr „häusliches Leben einem Gesang Vergils entnommen“ sei.47 Le Corbusier nutzt die Bucolica nicht mehr als Musterbuch der Naturbeschreibung. Er zielt darauf, sie in eine neue Architektur der Landschaft zu transformieren: in das Gedicht der Landschaft der modernen Zeit, das er in Südamerika zu bauen hofft.48
Mäander, Wolke und Horizont Neben die Auszeichnung singulärer Meisterwerke der Baukunst – etwa der Pont du Gard – und den (polemischen) Bezug auf Architekturtraktate tritt nicht nur Le Corbusiers Insistieren auf Sprache, Mythos und Erkenntnis. Für seine urbanistischen Programmschriften, gerade da, wo sie sich in ihrer radikalsten Ausdehnung der Geltung des Urbanismus als eine Literatur und Theorie der Landschaft lesen lassen, ist nachgerade die Erfahrung von Natur bestimmend. Die Beschreibung einer Wolkenlandschaft gerät Le Corbusier zu einer urbanistischen Programmschrift, in der die Bewegung des Betrachters mit der Ephemeralität und Dynamik seiner Beobachtungsgegenstände verknüpft ist: „Wie dicht und dunkel der Schatten einer Wolke auf der Erde und in den Städten ist! Diese unzähligen Schattenflecken haben alle die gleiche Größe. Der Tau hat sich in die Luft erhoben, um eine neue Metamorphose durchzumachen; wie durch Zaubermacht wird er ergriffen, eingeordnet, zusammengefaßt. Diese Gesetzmäßigkeit ist etwas Erhabenes. Wir haben hier eine klare Darstellung totaler Konzentration um einen Mittelpunkt, Einrichtung verschiedener Zentren, erste Form einer Verwaltung, die aus Verwaltungszellen gebildet ist. Die Ereignisse bleiben nicht stehen; es kommt zu gewaltigen, unkontrollierbaren Phänomenen: Die Sonne zerrt an der Atmosphäre, durchlöchert sie, wühlt sie um; Gewicht und Dichte kommen in Bewegung; Luftmassen von unterschiedlicher Dichte gleiten übereinander. Mitunter ist es ein atemberaubend rasches Gleiten. Die friedliche Regierung von Tausenden kleiner Wolken wird von irgendeiner unwiderstehlichen Macht überwältigt; nun gibt es Ansammlungen, Adhäsion, Annexion, Koalition. Hier – an diesem Nachmittag – haben wir Kolossalmassen mobilisierter Wolken in Schlachtordnung vor uns. Und nun: Sturm, Treffen, Zusammenstoß, Dröhnen, Aufleuchten der Blitze. Das sind die Geschehnisse, die die Wißbegierde eines Städtebauers, der sich auf einer Vortragsreise befindet, erregen!“49
Erkenntnisinteresse und Mythos – Le Corbusier erinnert daran, dass der Wolkenzusammenprall „Erscheinungen von Blitz und Donner hervorruft, die man als Götter fürchtete“50 – werden in dieser Beschreibung einer Landschaft verbunden, die deren Konzeption als „bewegter und komplexer Körper“ ein weiteres prominentes Element hinzufügt: Wie die Erde der Geometrie unterstellt wird, so die
45 46 47 48
Ebd., S. 58. Ebd., S. 23. Ebd., S. 133. Dies gilt nicht nur für seine eigene Architektur: „Ich habe eine Arbeiterbaracke gesehen, die ganz und gar aus Wellblech gebaut war; wie aus dem Ei geschält, und ein Strauch voll roter Rosen zierte den Eingang. Das war ein richtiges Gedicht der modernen Zeit.“ (Ebd., S. 22.) 49 Ebd., S. 19. 50 Ebd., S. 18.
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Wolke der urbanistischen Organisation. Die Erfahrung des Himmels wird hier nicht mehr in erster Linie als ein Problem der Darstellung eines der zentralen Motive der Landschaftsmalerei51 diskutiert, auch nicht mit Blick auf eine naturkundliche Klassifizierung der Erscheinungen, in deren Nachfolge Le Corbusiers Interesse an Wolkenphänomenen eingestellt werden kann.52 Der Naturprozess einer „Metamorphose des Taus“, die Le Corbusier in Termini seiner Disziplin beschreibt, gerät zum Muster urbanistischer Ordnungsprozesse, wie umgekehrt die bewegte Natur deren Ordnungsmacht unterstellt wird. Mit der Wolke tritt auch der Horizont neben die dem Flusslauf abgeschaute Mäanderlinie, die Le Corbusier als Muster des schöpferischen Gedankens gilt. Das Horizontale wird jedoch nicht nur im Flug über Südamerika oder auf offener See erfahren, „zwischen Himmel und Ozean“53, sondern ebenso an den – archaisch konnotierten – Küsten der Bretagne, an die Le Corbusier in Südamerika erinnert: „Ich bin in der Bretagne; diese klare Linie ist die Grenze zwischen Meer und Himmel; eine weite horizontale Ebene dehnt sich vor mir aus […]. Das Vertikale – ein Menhir als Merkpunkt in der Landschaft – gibt dem Horizontalen Sinn.“54Der Menhir – der zugleich eine mythisch belegte Frühgeschichte aufruft – wird hier als architektonisches Element gesetzt. Le Corbusiers Blick auf die Natur ist der eines Architekten und Urbanisten, der sie in Landschaft verwandelt: Sie erscheint ihm als Körper, Fläche oder eben als Linie, zwischen analytischer Betrachtung und emphatischer Begeisterung schwankend: „Der argentinische Himmel? Ja – der einzige große Trost. Ich habe diesen Himmel über der unendlichen Grasfläche, die an wenigen Stellen von Trauerweiden unterbrochen wird, gesehen; er ist ohne Grenzen, tags leuchtet er in einem durchsichtigen blauen Licht, und nachts ist er übersät von unzähligen funkelnden Sternen. Er wölbt sich allerorten über dem Horizont. In Wirklichkeit ist diese Landschaft nur ein einziger gerader Strich: Horizont.“55
Gerade durch diesen Strich werde die Verbindung zwischen Natur und Architektur hergestellt – sie ermögliche gegen Materialeigenschaften und Ornament, die nur sekundäre Eigenschaften der Architektur seien, die „Allmacht der Linie“ zu erfahren. Diese Auszeichnung der Linie radikalisiert eine Lektion seines frühen Lehrers Charles L’Eplattenier, der, so berichtet Le Corbusier, ihn davor gewarnt habe, Natur in der Art von Landschaftsmalern zu bearbeiten, die nur deren Äußeres zeigten. Vielmehr gelte es, so sei bereits diesem klar gewesen, lebendige Entwicklung und Form in einem Ornament zu synthetisieren, das er als einen Mikrokosmos aufgefasst habe.56 Le Corbusier entwickelt diese Position weiter, wenn er an die Stelle des Ornaments die Linie rückt. Auf diese ist nicht nur die Auszeichnung des Horizonts bezogen, sondern insbesondere auch das „Gesetz des Mäanders“, das Le Corbusier in einem Vortrag über die Entwicklung des modernen Städtebaus skizziert:
51 Vgl. hierzu den Aufsatz von Werner Busch, „Die Ordnung im Flüchtigen – Wolkenstudien der Goethezeit“, in: Sabine Schulze u. a. (Hrsg.), Goethe und die Kunst, Schirn-Kunsthalle Frankfurt, Stuttgart 1994 (Kat. Ausst.), S. 518–527. 52 Es ist auf Howards Klassifizierungen der Wolken im 18. Jahrhundert ebenso verwiesen, die über die Vermittlung Goethes und Carus’ in der Ausbildung eines Landschaftsbewusstseins in der deutschen Ästhetik wirkungsmächtig sind, wie auf Lamarcks Ordnungsschema der Wolken, auf das sich heute etwa Landschaftsgestalter wie Gilles Clément beziehen, der während einer Fahrt mit dem Containerschiff Wolkenstudien betreibt und diese so als Element zeitgenössischer Landschaftskunst aktualisiert. Vgl. Gilles Clément, Nuages, Paris 2005. 53 Le Corbusier, Feststellungen, a.a.O., S. 17. 54 Ebd., S. 80. 55 Ebd., S. 17. 56 Vgl. Flora Samuel, Le Corbusier, Architect and Feminist, Chichester, West Sussex 1994, S. 60.
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Abb. 1: La loi du Méandre (Das Gesetz des Mäanders) (Le Corbusier, Feststellungen zu Architektur und Städtebau, mit einem amerikanischen Prolog und einem brasilianischen Zusatz, gefolgt von „Pariser Klima“, Basel, Berlin 2001, S. 136).
„Ich zeichne einen Fluß: das Ziel ist deutlich, der Lauf geht von einem Punkt zum anderen: Fluß oder Idee. Eine geringfügige Schwierigkeit – Schwierigkeit des Geistes: als Folge eine winzige Krümmung, ein Nichts fast, kaum wahrnehmbar. Das Wasser wird nach links gedrängt, es überschwemmt das Ufer; von hier wird es wieder nach rechts gedrängt – nun gibt es kein rechtes Ufer mehr. Von links nach rechts wälzt sich das Wasser, immer tiefer nagt es, bohrt und frißt; die Idee verschwimmt in die Breite. Die gerade Linie ist zur Schlangenlinie geworden; die Idee hat sich mit Schwierigkeiten vollgesogen. Die Schlangenline wird zum Charakteristikum, der Mäander zeichnet sich ab; wird zum Paradoxon.“57
Gegenüber Hogarths hier erinnerter Schlangenlinie, der mit dieser in The Analysis of beauty 58 1753 ein auf die Bewegung des Tanzes bezogenes Schönheitsideal markiert, und der mäandrischen Linie, die als „träge, nutzlos, morastig und seicht“ gilt, setzt Le Corbusier das Ideal der geraden Linie.59 – Die auch die Linie ist, die ein Überseedampfer in die Weite des Ozeans zeichnet oder ein Flugzeug als Kondensstreifen in die Unendlichkeit des Himmels. Die gerade Linie ist nicht nur das zentrale Element der Architektur, sondern auch der Ordnung einer urbanisierten Welt und des Städtebaus: „Ich zeichne Linien, die in einem bestimmten Punkt zusammenlaufen“, beginnt Le Corbusier seine Eloge auf New York, um dann fortzufahren: „Es reizt mich, weiter unten – auf dem südlichen Kontinent – ein ähnliches Netz zusammenlaufender Linien zu zeichnen. Alles ist erst im Keim vorhanden – aber es wird bald so sein. Am Ufer des Rio de la Plata, tief in der riesigen Bucht, gibt es einen prädestinierten Platz. Dort breitet sich schon eine große Stadt aus und beginnt sich zu regen – das gigantische Haupt eines noch kaum entwickelten Körpers: Buenos Aires. […] Hier ist Öde. Aber nein: Die Natur hat dieses Zusammentreffen der Pampa mit dem Ozean zu einer unendlich geraden Linie bewirkt.“60
Wie die Landschaft so gilt hier die Stadt, die als ihr Teil präsentiert wird, als ein Körper – und nicht nur als ein solcher der Geometrie, sondern als anthropomorphe Gestalt. Wie im Lob der Linie als Horizont in der Bretagne wird hier nun auf die horizontale Linie mit der vertikalen geantwortet – der Bau der Stadt in den argentinischen Himmel nimmt den Platz der prähistorischen Dolmen ein, die der Horizontalen Sinn gäben. Diese Zeichnung des amerikanischen Kontinents mit den in New York und Buenos Aires gebündelten Linien als Zeichnung einer Weltlandschaft zu lesen, liegt auch deshalb 57 Le Corbusier, Feststellungen, a.a.O., S. 135 f. 58 William Hogarth, The Analysis of Beauty [1753], Hildesheim, Zürich, New York 2001. Hierzu etwa:
Sabine Mainberger, „Einfach (und) verwickelt. Zu Schillers ‚Linienästhetik‘. Mit einem Exkurs zum Tanz in Hogarths Analysis of Beauty“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79, 2005, H. 2, S. 196–251. 59 Le Corbusier, Feststellungen, a.a.O., S. 136. 60 Ebd., S. 190.
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Abb. 2: Poldo d’Albenas, Figure du pont du Gard (1560) (Véronique Mure [Hrsg.], Site du pont du Gard. Chroniques d’un aménagement, Paris 2008, S. 27).
nahe, weil Le Corbusier in seinem New-York-Buch Quand les cathédrales etaient blanches nicht nur die Abfahrt von Manhattan aus der Perspektive des Ozeandampfers zeichnet, sondern die Skyline, die sich mehr und mehr entfernt, explizit als Landschaft charakterisiert. Seine Skizze folgt gleichsam einer dieser Linien, die Vogelperspektive durch eine Darstellung aus Blickwinkel des Reisenden ersetzend.61 Doch Le Corbusier gewinnt das Lob der Geraden nicht nur der Betrachtung der Natur selbst oder der Bewegung der Reise ab. Sein prominentestes Beispiel ist ein Natur und Architektur verknüpfendes Infrastrukturbauwerk im Süden Frankreichs, das zugleich für die mediterrane Welt einsteht, in der eine Erfahrung der Antike als Landschaftserfahrung erhofft wird: der Pont du Gard.
Der Pont du Gard – ein Weg zwischen Himmel und Erdboden Der Mont Ventoux und die Montagne Sainte-Victoire im Süden Frankreichs können als zwei emblematische Orte des europäischen Landschaftsbewusstseins gelten, die mit zwei der grundlegenden Epochen und Medien seiner Entwicklung verbunden sind: Durch die Beschreibung eines Aufstiegs auf den Gipfel durch Petrarca – die als die früheste Beschreibung einer ästhetischen Landschaftserfahrung gilt – ist unsere Vorstellung des Mont Ventoux durch die Literatur geprägt. Durch Cézannes Bearbeitung, die dem Wahrnehmungsprozess in der Natur den Vorrang vor ihrer naturalistischen Darstellung gibt, ist unser Bild der Montagne Saint-Victoire durch die Malerei eingerichtet.62 Als dritter emblematischer Ort kann ihnen der „Site du Pont du Gard“ zur Seite gesetzt werden, der mit einem architektonisch-urbanistischen Landschaftsbewusstsein eng verknüpft ist.
61 Le Corbusier, Quand les cathédrales etaient blanches, a.a.O., S. 315–322. 62 Zum Mont Ventoux als Metapher vgl. etwa Ruth Groh und Dieter Groh, Die Außenwelt der Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt am Main 1996. Zur Montagne Sainte-Victoire den Katalog der Ausstellung Cézanne en provence, Washington national gallery of art / Aix-en-provence musee granet 2006.
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Abb. 3: Zeichnung Le Corbusiers einer Pont du Gard für Rio de Janeiro (Le Corbusier, Feststellungen zu Architektur und Städtebau, mit einem amerikanischen Prolog und einem brasilianischen Zusatz, gefolgt von „Pariser Klima“, Basel, Berlin 2001, ohne Seitenzahl).
Galt das Interesse der Besucher zunächst dem Bauwerk als einer römischen Bauleistung, wurde am Beginn des 19. Jahrhunderts, so 1837 von Stendhal in „Mémoires d’un touriste“63, verstärkt auch die Natur in den Blick gerückt. Doch anders als in den malerischen oder literarischen Darstellungen, Dumas charakterisiert den Site als vergilisch64, ist es gerade das Zusammenspiel von Architektur und Natur, das den Pont du Gard als Infrastrukturbauwerk für Le Corbusiers Landschaftskonzeption paradigmatisch werden lässt: „Um mit den Windungen des hügeligen Plateaus von Sao Paulo fertig zu werden könnte man erhöhte Autobahnen bauen, die von ‚Erdkratzern‘ getragen werden. Dieser herrliche Anblick, den die Landschaft dann böte! Welch ein vergrößerter Aquädukt von Segovia, welche gigantischen Ponts du Gard! Der Lyrismus käme hier auf seine Kosten. Gibt es etwas Eleganteres als die klare Linie eines Viadukts in einer bewegten Landschaft, gibt es etwas Abwechslungsreicheres als diese Substruktionen, die im Bestreben, dem Erdboden zu begegnen, tief in die Täler hinabtauchen?“65
Landschaft wird hier nicht als ein „bewegter Körper“ aufgerufen, zu dem sie durch die Anwendung der Geometrie auf die Natur wird, sondern ist bereits vor dem Eingreifen der Architektur als bewegte charakterisiert – im Zusammenspiel mit der Architektur wird sie zum Gegenstand ästhetischen Wohlgefallens: Elegant und abwechslungsreich ist die Erfahrung der Architektur, die hier jedoch in enger 63 Stendhal, „Mémoires d’un touriste“, in: ders., Voyages en France [1837], hrsg. von V. del Litto, Paris 1992, S. 1–418, bes. etwa S. 364–366. 64 Véronique Mure, Site du Pont du Gard. Chroniques d’un aménagement, Paris 2008, S. 32. 65 Le Corbusier, Feststellungen, a.a.O., S. 222.
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Verbindung mit der Natur aufgerufen wird. In einer Zeichnung testet Le Corbusier die mit dem Bauwerk verbundene architektonische Geste für Rio de Janeiro und formuliert die Stoßrichtung seiner Landschaftskonzeption. Wenn „die Natur die Architektur in sich einbezieht“, dann, so hofft er, sei man der Einheit näher gekommen: „Die ganze Landschaft begänne zu sprechen – Wasser, Erde, Luft; sie spräche die Sprache der Architektur. Es entstünde ein Gedicht aus menschlicher Geometrie und der Phantasie der Natur. Das Auge erblickte zweierlei: die Natur und das Ergebnis menschlicher Arbeit. Die Stadt würde angedeutet durch die einzige Linie, deren Gesang mit dem feurigen Capriccio der Berge zusammenstimmt: die Horizontale.“66
Horizontale und Vertikale, ein Weg zwischen Boden und Himmel und die Bewegung des wahrnehmenden Subjekts – die zentralen Elemente von Le Corbusiers Landschaftsvorstellung werden mit dem Pont du Gard aufgerufen. Die Brücke ist in ihren Darstellungen mit der Dynamik der Naturkräfte, der Gewalt des Flusslaufs verbunden, denen die Kraft ihrer ordnenden Linien entgegengesetzt wird. Doch nicht nur die Linienführung des Infrastrukturbauwerks, das Natur in eine sprechende Landschaft verwandelt, macht den Pont du Gard für Le Corbusier interessant. Der Funktionalismus des Bauwerks ist verbunden mit weiteren Dimensionen, durch die er seine eigene Arbeit charakterisiert sieht. Das Bauwerk, das selbst nicht eigentlich besichtigt werden kann, sondern das es im Gelände zu verfolgen, zu überschreiten oder zu unterqueren gilt, ist als eine prominente Station der Bildungsreisen nach Italien seit dem 18. Jahrhundert mit Historizität aufgeladen: Wie andere römische Bauwerke in Frankreichs Süden steht es noch den künstlerischen Avantgarden der Moderne für ein Fortleben der Antike ein, die hier aber durch die spezifische Konstellation als eine Landschaftserfahrung angespielt ist. Nicht zuletzt ist der Pont du Gard vom 19. Jahrhundert bis heute auch ein Festplatz der Bewohner der Region, die sich dort zu Tanz und Ausgelassenheit treffen. Der Site du Pont du Gard ist Ort eines Ereignisses, und dies auch für Le Corbusier, der hier die von ihm erhoffte Vitalität der Antikenerfahrung ermöglicht sieht und Architektur – New York ist sein Beispiel – ebenfalls als ein Ereignis auffasst: als „Hot-Jazz“.67
„Unnütz, o Poet, sind graziöse Menuette“ – Manhattan, ein gebauter „Hot-Jazz“ Le Corbusier, der auf einer Schiffspassage von Buenos Aires nach Rio Josephine Baker kennengelernt hatte, mit der er, am Ziel angekommen, Stadtrundgänge unternahm68, setzt neben Reise, Fahrt und Gang den Tanz als eine Bewegungsform, die ebenfalls in die Gestaltung der urbanen Landschaft eingreift. Er entwickelt seine Konzeption von Landschaft als „bewegten Körper“ gerade auch durch einen expliziten, in seiner exotistischen Grundierung sicherlich nicht unproblematischen Bezug auf Musik und auf ein an sie gebundenes Bewegungsrepertoire. Die Architektur, für ihn das Gesamtkunstwerk par excellence, in dem alle Künste in einer Symphonie zusammenklingen69, ist nicht nur auf die Musik bezogen, mit der sie eine präzise mathematische Konstruktion teilt, sondern insbesondere auch auf eine Konstellation von Musik, Tanz und Landschaft. Allerdings mit einer wichtigen Einschränkung, die neben seine Auszeichnung der geraden Linie gegenüber dem Mäander zu rücken ist. „Unnütz, o Poet, sind graziöse Menuette“, betont Le Corbusier mit Blick auf den Tanz, um in
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Ebd., S. 224. Le Corbusier, Quand les cathédrales etaient blanches, a.a.O., S. 238. Le Corbusier, Conférences de Rio, a.a.O., S. 18. Vgl. hierzu Blum, Le Corbusiers Wege, a.a.O., S. 31. Die Diskussion des Zusammenhangs von Musik und Architektur wurde gerade auch durch Paul Valérys Eupalinos ou l’architecte von 1926 angeregt, einem platonischen Gespräch, mit dem Le Corbusier gut vertraut war und das seine ästhetischen Vorstellungen gerade in Hinblick auf die Bestände der Natur mitbestimmte. Vgl. Anm. 81.
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einer positiven Wendung fortzufahren: „[D]ie ganze Welt ist voll von Leben, Wiedergeburt, wirklichen Taten.“70 Während das Menuett – für Hogarth noch die choreografische Referenz seiner Konzeption einer dessen Bodenlinien abgeschauten beweglichen Schönheitslinie – nicht sein Interesse findet, zeichnet er den „Hot-Jazz“ in besonderer Weise aus – in ihm gilt ihm die gesuchte Lebendigkeit in Verbindung mit dem tanzenden Körper greifbar: Als eine „halluzinatorische Entfesselung“ erscheinen ihm 1937 in Quand les cathédrales etaient blanches die Tänze der Schwarzen von Harlem, die er – in einem großen Bogen, in dem er bereits den modernen Städtebau an antiken Mythos und bretonische Frühgeschichte gebunden hat – als Fortleben von Riten interpretiert, die im Dickicht des Tropenwaldes unverzichtbar gewesen seien.71 Die Musik der Farbigen – Armstrong dient ihm als Beispiel – bewege emotional wie körperlich durch ein Stampfen und Trippeln der Beine, ein Schütteln des Oberkörpers, der Arme, des Kopfes und dynamisiere den gesamten Körper72: „Auf Armstrongs Bühne lösen sich choreographische Ereignisse ab, die durch die Musik hervorgerufen werden und die den in eine frenetische Gestikulation verwickeln. Die Wildheit ist immer gegenwärtig […].“73 Der Jazz steht für die Lebendigkeit ein, die Le Corbusier dem Menuett abspricht, das er auf die Seite der Architekturtraktate der Renaissance, des Lyrismus der Dichtung und einer empfindsamen Naturemphase einsortiert, mit denen sein eigener Modernismus nichts gemein hat. Im Bericht von seinem New-York-Aufenthalt, der die USA mit Frankreich, die Wolkenkratzer New Yorks mit den Kathedralen des Mittelalters und – auf dem programmatischen Titelbild – das Ziehen einer Pfluglinie in der Feldarbeit mit der Arbeit des Städteplaners vergleicht, sucht Le Corbusier nach der Beschreibung dieser Erfahrung New Yorks eine Naturerfahrung, die der Wildheit eines Jazzkonzerts entsprechen würde. Er findet sie, nicht frei von einem kolonialen Blick, in der Erinnerung an einen Flug über den Atlas: Die Beschreibung eines Konzerts von Armstrong wird übergeleitet in die Beschreibung einer Landschaft des Maghreb: „Das Ambiente ist dunkel, diese stürmischen Wolken, die Musik scheint aus der rohen Natur selbst hervorzuquellen“74, charakterisiert er das Konzerterlebnis, um unvermittelt fortzufahren: „Beim Überfliegen des Atlas wurde mir deutlich, dass der Vorgang – Erosion, geologische Umwälzungen, Windeinwirkungen – vollkommen losgelöst ist von unseren seelischen Ängsten; der Mensch befindet sich darinnen wie in einem Zyklon; er richtet viereckige Häuser auf, um in deren Innern sein Gemüt zu bergen. Draußen die Natur ist reine Gleichgültigkeit, ja Grauen. Wolken ziehen aus der Weite heran und in die Weite fort; mitunter ist der Himmel blau. Allein ergreift dieses große Schauspiel des Himmels unser Gemüt. Die Dualität entsteht durch den unergründlichen Gang der Elemente und unsere kleinen Sorgen, unsere pedantischen, übertriebenen, so erhabenen wie kindischen Sorgen im Zentrum des Aufruhrs.“75
Ebenso, wie in dieser Urszene der Architektur die Naturkräfte als Ereignis charakterisiert werden, die den Menschen umgeben, der sie zu ordnen versucht, ist auch die Musik als ein solches bestimmt: Der Jazz sei eben kein Werk, sondern eine gegenwärtige Kraft.76 Und auch Architektur und Urbanismus, die aus diesen Erfahrungen entspringen und von Le Corbusier in Mustern der Natur theoretisiert werden, haben Ereignisdimensionen, gerade da, wo sie sich auf die Landschaft beziehen. Nach dieser Beschreibung der Flugreise wechselt Le Corbusier sofort wieder in die Erinnerung des Konzerts zurück, zu einer Charakterisierung der Musik der Farbigen, die – wie der Gang (marche) der Elemente
70 Le Corbusier, Feststellungen, a.a.O., S. 42. 71 Le Corbusier, Quand les cathédrales etaient blanches, a.a.O. Die Übersetzung aus diesem Text stammt von Eveline Passet. 72 Ebd., S. 235 f. 73 Ebd., S. 237. 74 Ebd., S. 238. 75 Ebd. 76 Ebd.
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– gleichfalls in „einem rhythmischen Aufstieg, einem unaufhörlichen Fortgang“ sei.77 Die Überblendung von Musik- und Landschaftserfahrung im Motiv der Wolke – das ja auch für seinen Urbanismus modellbildend war – gipfelt in einer Charakterisierung der Gebäude New Yorks als einer Architektur aus dem Geist der Musik: „Manhattan ist ein Hot-Jazz aus Stein und Stahl“.78 Doch Le Corbusiers Charakterisierung Manhattans beschränkt sich keineswegs auf Musik und die dieser zugeordnete Tanzbewegung – die ihren Ausdruck nicht mehr in der Notation des Menuetts oder der von diesem abgeleiteten Schlangenlinie findet, sondern in der geraden Linie der modernistischen (Stadt-) Landschaft. Sie ist auch auf den „Lärm der Welt“79 bezogen, der einem sensibilisierten Ohr vernehmbar werde als eine Funktion der Existenz des Menschen und als Matrix der Musik: Der Reise verbunden, wie diese dem Tanz, gelte es diesen Krach aufzunehmen als ein Archiv möglicher Musik, das Le Corbusier in einer sonoren Landschaftsbeschreibung als einen Begleiter des Menschen darstellt:
„Der Takt, der leise oder lärmende Rhythmus arbeitender Maschinen; auf See – im Tuckern des Dampfers, im Zischen des wellenzerteilenden Bugs, im Äolslied des windbewegten Takelwerks – die mächtige Stimme der Sirene. Das Dröhnen des Flugzeugs, das Ticktack der Uhr, der Stundenschlag inmitten von Stille. Das Rauschen des Meeres. Das markerschütternde Schreien des Esels, das Schmettern lautstarker Reden; das Brüllen der Löwen, das Schlagen der Nachtigall, das Singen von Zikaden, das Zirpen von Grillen, das Trillern der Kröten, das Quaken der Frösche, das Bellen der Hunde des Nachts. Was weiß ich?“80
Diese Sammlung von Geräuschen ist eine sonore Variante von Le Corbusiers Sammlung von Objekten, die zum „zum Gegenstand des Nachdenkens“ werden können und die Materialität der Welt in seine Ästhetik einführen. Mit den Dingen dieser Erde, aus denen sich der menschliche Geist seine Götter forme81, etwa der Auszeichnung eines „Kiesels vom Meeresgrund“, wird eine anthropozentrische Formauffassung, die die Bedeutung der menschlichen Dimensionen für die Architektur betont, um eine biomorphe Ästhetik ergänzt, die auch auf technische Artefakte ausgedehnt wird – ganz wie auch seine sonore Landschaft. Neben Sonorität tritt Taktilität, neben die Bewegung der Reise der Spaziergang und neben die Tonaufnahme auch der Film: In Aufnahmen am Becken von Arcachon sind Bilder solcher Objekte – Treibholz, Stein, Muscheln – verbunden mit kinematografischen Studien des Meeres, der Wellen, die am Strand auslaufen, des Horizonts und der Schritte des Spaziergängers, die sich als Fußabdruck im Sand abzeichnen.82 Neben der gebauten Architektur sind nicht nur Literatur und Zeichnung die Medien, in denen Le Corbusier seine Landschaftskonzeption entwickelt – eine besondere Rolle kommt hierbei auch dem Film zu. Am Ende des Buchs über New York, das er als eine „bewegende Landschaft“83 charakterisiert, wird die Abfahrt von Manhattan nicht nur als eine rasch ausgeführte Freihandskizze festgehalten, sondern in einer nahezu kinematografischen Bildfolge. (Sie kann auf der hier beigegebenen DVD studiert werden.) Auf dem Dampfer, der einer der Linien folgt, mit denen Le Corbusier die Welt überzieht, fällt der Blick auf die Skyline Manhattans. Wird der Band Quand les cathédrales etaient blanches eröffnet mit einem Stadtplan der Metropole, der einer
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Ebd. Ebd., S. 238. Ebd., S. 241. Ebd., S. 242. Übersetzung Eveline Passet. Vgl. hierzu und zum Bezug zu Valérys „objet ambigue“ Niklas Maak, „Strände der Moderne. Le Corbusier, Ronchamp und das ‚objet à réaction poétique‘“, in: Alexander von Vegesack u. a. (Hrsg.), Le Corbusier – The art of architecture, Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2007 (Kat. Ausst.), S. 293–323. 82 Zu diesem Film und generell zum Zusammenhang von Fotografie, Kinematografie und Bewegung bei Le Corbusier vgl. Beatriz Colomina, „Vers une architecture médiatique“, in: Vegesack u. a. (Hrsg.), Le Corbusier – The art of architecture, a.a.O., S. 247–291 83 Le Corbusier, Quand les cathédrales etaient blanches, a.a.O., S. 315.
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mittelalterlichen Stadt kontrastiert, so schließt er mit einer Zeichnungsfolge, die diese Landschaft der modernen Zeit nun nicht mehr aus der Vogelperspektive, sondern aus der Fahrtbewegung heraus vor Augen führt, bis das Buch, in dem Le Corbusier sein Gedicht der Landschaft der modernen Zeit entfaltet, von seinem Leser geschlossen wird.
GEORGES DIDI-HUBERMAN
Die Erde bewegt sich unter den Schritten des Tänzers
Eine Reihe von Dokumentarfilmen1 erlaubt uns – trotz einer schwachen, ja bisweilen dürftigen Regie – einen Eindruck von Carmen Amayas außergewöhnlicher Tanzkunst zu gewinnen, am intensivsten im letzten dieser Filme. Gedreht wurde er 1963, wenige Wochen vor ihrem Tod in Barcelona, in dem Gitano-Viertel, aus dem sie ursprünglich stammte und wohin sie nun zurückgekehrt war, um in dem Film Los Tarantos2 mitzuwirken. In einer leider allzu kurzen Juerga-Szene, die in den Slums von Somorrostro spielt, sehen wir sie, die immerhin nicht mehr ganz jung ist, wie sie plötzlich lostanzt: keine Vorankündigung, keine Hinführung, kein allmähliches Anwärmen – mit einem Schlag befinden wir uns mitten im Gleißen ihrer Bulerías. Die nichts anderes sind als genau dies: Schläge. Schläge von Absätzen auf den Boden, Schläge der Handflächen und der mal zur Faust geballten, mal ausgestreckten Finger auf den Tisch. Alles ist nur noch Schlag und Stoß, schießt zusammen zum rhythmischen Taumel, bis die Tänzerin zuletzt, nach einem Hin und Her von Sitzen und Stehen – man ahnt, wie schwierig es für den Kameramann war, diesen plötzlichen Entscheidungen, diesen Cambios, zu folgen –, ihre Darbietung mit einer dieser Vueltas quebradas beendet, die ihre ganze Könnerschaft ausmachten. An diesen Bildern beeindruckt mich eine Einzelheit, und zwar die Art und Weise, wie die Kraft der Schläge alles, was Fläche ist, erschüttert und zum Beben bringt, also zum einen den Tisch, auf dem die Hände den Rhythmus schlagen, und zum anderen den für den Tanz im Slum aus Brettern improvisierten Tablado. Hier ist jeder Hieb so heftig und präzis, dass das Material des Bodens den in ihm verborgenen Staub emporsteigen lässt, als hauchte es zu Tode geprügelt seine Seele aus. Gewalt des Schlages und ätherische Subtilität – stauberfüllt, fast neblig, ja nahezu auratisch – des Gegenschlages, mit dem der Boden antwortet. Als ob der punktuelle Stoß des Absatzes gegen das Holz einen Flächenbrand auslöste, der – von dem Element ausgehend, an das der Tanz sich zu richten scheint, nämlich die Erde – sich in den ganzen Raum hinein verbreitet. Der Cante jondo ist eine Kunst, die Erde aufzubrechen. Das bedeutet zunächst, dass sich die Tiefe darin nicht von allein gibt, sondern nur unter einer Vorbedingung erkennbar wird: Die Oberfläche muss geschlagen werden, damit wir die Tiefe durch den Spalt aufsteigen sehen oder hören können. Hierin liegt, wenn sie im Cante jondo in Bewegung gebracht, erschüttert wird – Terremoto –, das Paradoxon der „Erde“, dieser Oberfläche, auf der wir uns im hellen Licht bewegen, die aber auch die Materie all unserer Abgründe und Finsternisse ist. Kann man deshalb aber sagen – und wenn ja, was wäre darunter zu verstehen? –, dass der Cante jondo ein Lied der Erde ist, jene „Naturmusik“, deren Theorie Manuel de Falla 1922 entwickelt haben soll, um die Veranstaltung des „Concurso de Cante Jondo“ in Grenada zu rechtfertigen?3
1 Ausschnitte aus den Filmen sind versammelt in: Carmen Amaya, la reina del embrujo gitano, Barcelona 2003. Über Carmen Amaya siehe Salvador Montañes, Carmen Amaya, la bailaora genial, Barcelona 1964, sowie Mario Bois, Carmen Amaya o la danza del fuego, Madrid 1994, und Francisco Hidalgo Gómez, Carmen Amaya. Cuando duermo sueño que estoy bailando, Barcelona 1996. 2 Los Tarantos, 1963, in der Regie von Francisco Rovira Beleta, mit Antonio Gades, Daniel Martín und Sara Lezana. Siehe hierzu den Erinnerungsband von Ana María Moix, Carmen Amaya 1963. Fotografías de Colita y Julio Ubiña, Sevilla 2004. 3 Manuel de Falla, „Le projet du cante jondo“ [1922], übers. v. Jean-Dominique Krynen, in: ders., Écrits sur la musique et sur les musiciens, Arles 1992, S. 123. Dieser Text, der am 21. März 1922 in El Defensor de Granada erschien, fehlt in der spanischen Originalausgabe der Escritos sobre música y músicos [1947], Madrid 1988.
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Abb. 1: Filmstill aus Los Tarantos, 1963, Regie: Francisco Rovira Beleta, mit Antonio Gades, Daniel Martín und Sara Lezana.
Dass der „tiefe Gesang“ ein Lied der Erde ist, mag unbestritten sein. Doch drohen drei philosophische Stolpersteine bei der direkten Verwendung dieses mächtigen und – als müsste es absolut gedacht werden – im Singular gebrauchten Wortes: die Erde. Der erste Stolperstein ist jener, der in der imaginären Archetypik steckt, wie man sie unter anderem bei Gaston Bachelard antrifft. Die Erde ist für ihn der Bezirk der „Träumereien der Ruhe“ par excellence – und zwar in Bildern wie Elternhaus, Grotte, Wurzel, ja Wein und Weinberg4 –, aber auch für die „Träumereien des Willens“, in denen die Arbeit ihre lyrische Aufwertung erfährt. Man lese nur, wie Bachelard der Arbeit des Schmieds höhere Weihen verleiht: „Die größte sittliche Errungenschaft des Menschen zu allen Zeiten ist der Hammer. Durch ihn wird die zerstörerische Gewalt zu schöpferischer Kraft. Von der Keule zum Schmiedehammer liegt der ganze Weg, den die Instinkte zur höchsten Moral zurückgelegt haben. In Keule und Hammer sind Gut und Böse zusammengespannt. Bei aller Härte der Eisenzeit dürfen wir doch nicht vergessen, daß sie auch die Schmiedezeit war, die Zeit männlicher Schmiedefreuden.“5
Und unter dieser „männlichen Schmiedefreude“ biete, so Bachelard weiter, die Erde der Einbildungskraft alles, dessen sie bedarf an „positiven Erfahrungen“6 und Schutz bietenden Beständigkeiten, die nur Zustimmung und Behagen hervorrufen. Da ist die archetypische, die unbewegliche und von der Zeit unbewegte „Große Mutter“7 nicht mehr weit. Eine andere Spielart, eine andere Falle ist jene, die Martin Heidegger unter dem Blickwinkel einer „Metaphysik der Bodenständigkeit“ propagiert hat. In einem Vortrag von 1955, gehalten in seinem Geburtsort Meßkirch, beklagt sich der Philosoph: „Viele deutsche Menschen haben ihre Heimat verloren, mußten ihre Dörfer und Städte verlassen,
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Gaston Bachelard, La Terre et les rêveries du repos. Essai sur les images de l’intimité, Paris 1948. Gaston Bachelard, La Terre et les rêveries de la volonté. Essai sur l’imagination de la matière, Paris 1947, S. 134. Ebd., S. 1 f. und S. 18. Vgl. Gilbert Durand, Les Structures anthropologiques de l’imaginaire. Introduction à l’archétypologie générale [1969], Paris 1984, S. 256–268.
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Abb. 2: Filmstill aus Los Tarantos, 1963, Regie: Francisco Rovira Beleta, mit Antonio Gades, Daniel Martín und Sara Lezana.
sind vom heimatlichen Boden Vertriebene“ und so „der alten Heimat entfremdet“.8 Und die Ursache für diese Entwurzelung? Selbstverständlich – so selbstverständlich, dass Heidegger es nicht einmal für erwähnenswert hält – die in Schutt und Asche gelegten Städte, die Niederlage des „Dritten Reichs“; aber auch „Hör- und Fernsehfunk“ oder der Film, der den Menschen „weg in ungewohnte, oft nur gewöhnliche Vorstellungsbezirke [holt], die eine Welt vortäuschen, die keine Welt ist“ und der man auch noch in den „Illustrierten Zeitungen“ ausgesetzt ist; „all dies“, klagt der Denker, „ist dem Menschen heute bereits viel näher als das eigene Ackerfeld rings um den Hof“.9 Kurz: „ Die Bodenständigkeit des heutigen Menschen ist im Innersten bedroht.“10 Wer so denkt, für den heißt seinen „Grund und Boden“ wiederfinden und an sein „Innerstes“ erneut anknüpfen, den bedrohten Ort des „Heimatbodens“, die eigene „Bodenständigkeit“ einzufordern. Deshalb verlangt Heidegger, dass „ein neuer Grund und Boden dem Menschen zurückgeschenkt“11 werde. Boden in Gestalt eines Archetypus gedacht: der Feldweg, der die Heimaterde absteckt. Der zumindest ist in den Augen des Philosophen „seines Pfades sicher“: „Was um den Weg sein Wesen hat, sammelt er ein“, und „immer und von überall her steht um den Feldweg der Zuspruch des Selben“, jener Zuspruch, der „die unerschöpfliche Kraft des Einfachen“ gibt und „heimisch macht“.12 Heimatboden, Weg und Verwurzelung („Bodenständigkeit“) verbinden sich hier mit Blick auf zwei Grundwerte: einerseits Besitz (wo der Mensch sein „Vertrautes“ wiederfinden kann und aus der Erde sein „Eigentum“ gewinnt, mit anderen Worten, wo er sich gleichermaßen Besitz und Sittlichkeit dieses Besitzes verschafft) und andererseits Verlässlichkeit (der Weg ist sich „seines Pfades sicher“, er „sammelt ein“ und verherrlicht das „Einfache“ und unterstellt uns der Macht des „Selben“).
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Martin Heidegger, Gelassenheit, Pfullingen 1959, S. 15. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 21. Martin Heidegger, Der Feldweg, Frankfurt am Main 1953, S. 3 und S. 7.
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Diese Auffassung von „Heimatboden“ bestimmt nicht nur ganz und gar den Begriff des Ortes bei Heidegger13, sondern prägt auch die sich daraus ergebenden ästhetischen Folgen beziehungsweise die poetische „Wohnung“. Denken wir nur an die berühmten Seiten aus Der Ursprung des Kunstwerks über die von Vincent van Gogh gemalten bäuerlichen Schuhe: Neben dem Thema des Stilllebens – ja, des Selbstporträts –, worauf Meyer Schapiro und nach ihm Jacques Derrida sich konzentriert haben14, wird hier ja auch die Frage nach der Landschaft, also der Erde, ins Spiel gebracht, woran Heidegger im Lobgesang auf dies „Schuhzeug“, unter dessen Sohlen sich „die Einsamkeit des Feldweges [hinschiebt]“15, von Anfang keinen Zweifel lässt. „Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten Zugehören ersteht das Zeug selbst zu seinem Insichruhen, […] in der Fülle eines wesentlichen Seins des Zeuges. Wir nennen es die Verläßlichkeit. Kraft ihrer ist die Bäuerin durch dieses Zeug eingelassen in den schweigenden Zuruf der Erde, kraft der Verläßlichkeit des Zeuges ist sie ihrer Welt gewiß [und] ihrer Herkunft.“16
Ein Kunstwerk – ob Gemälde, Gedicht oder Lied – verdankt so das „Ständige seines Scheinens“ der Wiedergewinnung dieser Herkunft.17 Das Kunstwerk, schreibt Heidegger, „eröffnet […] eine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde, die dergestalt selbst erst als der heimatliche Grund herauskommt“.18 Es ist folglich das Werk des Kunstwerks, eine Welt zu öffnen und die Erde herauskommen zu lassen. Allerdings eine Erde, die Heidegger mit aller Macht denken will als das „Sichverschließende“ und in seiner natürlichen, heimatlichen, ja nationalen Bodenständigkeit (en son enracinement natif, natal voire national) „Ruhe“ und das „Einfache der Innigkeit“19 Bietende. Vergessen wir dabei nicht den geschichtlichen Zeitpunkt von Heideggers Sätzen: die Welt öffnet und ordnet sich nur über das, was die Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt hinsichtlich der „wesenhaften Entscheidungen unserer Geschichte“20 beschließen, mit anderen Worten, welche politischen Entscheidungen sie treffen, die einen bestimmten Begriff von „Volk“ oder „Nation“ begründen. Aber wer – daran sei erinnert – 1935 die Erde für sich reklamiert, der meint in der Mehrzahl der Fälle, daß ein anderer sie nicht betreten darf. Im selben Jahr, in dem Heidegger seine Schrift über den Ursprung des Kunstwerks veröffentlicht, arbeitet Edmund Husserl an seinem Werk über den „Ursprung der Geometrie“, in dem der Blickwinkel leicht – doch maßgeblich – vom Boden oder Grund als Aneignung und Verwurzelung hin zum Horizont als Urscheu vor Raum und Zeit verschoben erscheint.21 Ein Jahr zuvor, 1934, hat Husserl einen Essay verfasst, den er als phänomenologischen „Umsturz der kopernikanischen Lehre“ sieht und der um den zentralen Satz „Die Erde bewegt sich nicht“22 kreist. „Boden“, schreibt der Philosoph darin, verstehe er in seiner „Ursprünglichkeit“: nicht als Körper – die Erde als Stern –, der sich „im 13 Vgl. Edward S. Casey, The Fate of Place. A Philosophical Inquiry, Berkeley, Los Angeles, London 1997, S. 265–269. 14 Vgl. Meyer Schapiro, Theory and philosophy of art. Style, artist and society, New York 1994; Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1992. 15 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes [1936], Stuttgart 1960, S. 27. 16 Ebd., S. 28. 17 Ebd., S. 29. 18 Ebd., S. 38. 19 Ebd., S. 45 und 47. 20 Ebd., S. 41. 21 Edmund Husserl, „Der Ursprung der Geometrie“ [1936], in: Husserliana, Bd. 6, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1976. 22 Edmund Husserl, „Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit in der Natur“, in: Marvin Farber (Hrsg.), Philosophical Essays in Memorian of Edmund Husserl, Cambridge 1940, S. 307–325, Reprint, New York 1968, S. 305–325. Der vollständige Titel des zwischen dem 7. und dem 9. Mai 1934 verfassten Manuskripts lautet: „Umsturz der kopernikanischen Lehre in der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation. Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht. Grundlegende Untersuchungen
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unendlichen Weltraum“ bewegt, das heißt sich im Verhältnis zu unseren eigenen Körperbewegungen bewegt, sondern als einen absoluten und vollkommen stillstehenden „Erdboden“. „Die Erde ist für alle dieselbe Erde“, schreibt Husserl weiter, nämlich ein „Stammboden“, von dem aus sich „die Offenheit [der Welt] als Horizonthaftigkeit […], die Öffnung der Landschaft […] im Horizont“ konstituiere.23 Einerseits also ist die Erde nicht mehr als „Heimatboden“ aneigbar. Andererseits aber bleibt sie der unbewegliche Boden oder Sockel für alle menschliche Erfahrung, ist, mit anderen Worten, „Urerde“, Erde nun verstanden als eine Archetypik des Ursprungshaften. In beiden Fällen – oder in allen dreien, wenn wir die Position Bachelards einrechnen – scheint mir der philosophische Stolperstein mit der – unbegründeten – Gewissheit verbunden, dass die Erde unbewegbar sei. Aber nein, die Erde ist nicht unbewegbar: Sie ist unersetzbar, gewiss, aber sie bewegt sich, wird rissig, schichtet sich in tektonischen Bewegungen um, tritt ein in Krisen und seismische Erschütterungen, ordnet sich neu, wird bearbeitet, löst sich in Staub auf. Sich der Erde zu nähern, heißt beinahe immer zu erfahren, dass die Erde beweglich ist, und zwar sowohl als Stoff wie auch als räumliche Entität, auf der wir umhergehen. Aber was bedeutet diese Beweglichkeit der Erde nun? Die Erde bewegt sich unter den Schritten des Gehenden – und erst recht unter den Schritten des Tänzers, der sie verändert, sie ebenso sorgsam wie seinen eigenen Körper und den ganzen restlichen Raum modelliert. Es gibt zahlreiche phänomenologische Studien, die sich mit der Frage der räumlichen Veränderungen durch Körperbewegung befassen, ohne dass sie sich allerdings über die Frage gebeugt hätten, was der Tänzer – oder auch nur der Gehende – dem Boden antut. Eugène Minkowski wollte seine „Psychopathologie des gelebten Raumes“ auf eine Analyse der Distanzerfahrung gründen; insbesondere seine Beschreibung eines nächtlichen Ganges bleibt von zentraler Bedeutung und nimmt entsprechende von Maurice Merleau-Ponty angestellte Überlegungen um mindestens zehn Jahre vorweg.24 Minkowski hat im Übrigen klar aufgezeigt, weshalb der „Gang des Lebens“ mit seinen „Wendungen“ und zu überwindenden „Hindernissen“ weit mehr als eine bloß sprachliche Metapher darstellt, dass er nämlich der psychischen „Integration des Elans“ als verräumlichendes Schema dient: Vom Standpunkt eines solchen Wegbegriffs aus vermag der Mensch die „dynamische Tatsache“ auf sich zu nehmen, dass er im Leben vorwärtsgeht, aber auch sich umwendet, um die auf seinem Gang zurückgelassenen Spuren zu betrachten.25 Doch auch Minkowski reflektiert nicht die Frage, wie der Weg auf die Schritte antwortet, die auf ihm ihre Spuren hinterlassen. Dasselbe gilt für Merleau-Ponty. Gewiss, das Verhältnis des Körpers zum Raum – insbesondere im Gehen – wird weit über jede spontane Philosophie des „Körpers im Raum“ bedacht: „Leib sein […] heißt an eine bestimmte Welt geheftet sein, und unser Leib ist nicht zunächst im Raum: er ist zum Raum. […] Suche ich dergestalt die Bewegung klar und deutlich zu denken, so vermag ich nie zu verstehen, daß Bewegung je für mich zu beginnen und mir als Phänomen gegeben zu sein vermag. Und gleichwohl laufe ich, habe ich allen Forderungen und Alternativen des klaren Denkens zum Trotz die Erfahrung der Bewegung […].“26
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zum phänomenologischen Ursprung der Körperlichkeit, der Räumlichkeit in der Natur im ersten naturwissenschaftlichen Sinne“ [1934]. Ebd., S. 307–309 und S. 315. Eugène Minkowski, Die gelebte Zeit, 2 Bände, übers. v. Lucien Kayser und Meinrad Perrez, Salzburg 1972. Eugène Minkowski, Vers une cosmologie. Fragments philosophiques [1936], Paris 1999, S. 215–227. Henri Maldiney wiederum hat das Paradigma des Aufsteigens in einer Räumlichkeit in die Diskussion gebracht, das wie das Aufwärts der Bergsteiger gedacht werden müsse. Vgl. Henri Maldiney, Existence. Crise et création, La Versanne 2001, S. 83–89. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, dt. von Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 178 und S. 313.
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Aber in dieser Analyse verschwindet der Boden unter den philosophischen Überlegungen des Raumes, insofern sie alle um die Paradigmen von oben, unten, Tiefe und Bewegung angelegt sind.27 Der Boden wird von Merleau-Ponty nur auf der optischen Ebene reflektiert – zum Beispiel in der Analyse der Wertheimer’schen oder Stratton’schen Versuche mit der künstlichen Umkehrung des sich auf der Netzhaut umgekehrt abzeichnenden Bildes – oder auch metaphorisch: „Wenn der Leib aller Bewegungswahrnehmung den Untergrund oder Boden beistellt, dessen sie zu ihrer Begründung bedarf, so als das Vermögen des Wahrnehmens überhaupt, insofern er selbst gegründet ist in einem bestimmten Bereich und eingefügt in eine Welt.“28
Wenn der Körper für sich selbst – für sein Wahrnehmungsvermögen – der eigene Boden ist, so heißt dies, dass der Boden selbst in seiner Beziehung zum Körper noch nicht in seinem dialektischen – liebes- oder konfliktbeladenen – Verhältnis zu den Schritten gedacht wird, die auf ihm ihren Abdruck hinterlassen. Die Psychoanalyse und die phänomenologische Psychopathologie haben unzweifelhaft viel zu unserem Verständnis davon beigetragen, wie das Körperbild sich ganz nach der libidinösen oder affektiven Besetzung im Raum zu verbreiten und die ganze umgebende Räumlichkeit aufzulösen oder zusammenzuziehen versteht.29 Doch in den meisten dieser Überlegungen – Erwin Straus und Ludwig Binswanger kommt hier allerdings eine besondere Stellung zu – bleibt der Boden ein Element von solcher Neutralität und Stabilität, dass er nachgerade unsichtbar wird. Beim Betrachten von Bildern wird schon dem dunklen Hintergrund, vor dem sich die Figuren abheben und zusammenrücken, oftmals keine Aufmerksamkeit geschenkt. Mit dem Boden und der Horizontalität verhält es sich noch schlimmer, denn wir neigen dazu, den Raum (oben, unten, Tiefe, Horizont) unter Ausschluss des Bodens zu denken. Gewiss, die Perspektive zeichnet gewissenhaft seine Pflasterungen nach – aber im Allgemeinen nur, um leichter die oberirdische Entfaltung des Raumes gestalten zu können und vergessen zu machen, dass die Erde dem Formlosen zuneigt. Wir sollten aber den Raum – und seine Bewegung – mehr vom Boden her denken. Husserl hat gegen das Galilei’sche eppur’ si muove sein „Und sie bewegt sich doch nicht“ gesetzt. Hierauf folgte Merleau-Pontys Replik: „Und ich laufe doch.“ Jetzt wäre es an der Zeit, die Frage aufzuwerfen, wie wir diesen Satz denken können: „Und die Erde bewegt sich doch unter den Schritten des Gehenden.“ Ist das nicht eine reine Betrachtung des Geistes? Ein einfaches denkerisches Bild? Machen wir nicht alltäglich die Erfahrung, dass wir auf einer Erde laufen, die ihrerseits auf immer und ewig am Fleck bleibt? Und doch: Es gibt bestimmte Werke, bestimmte Bilder, die uns die Erde in Bewegung zeigen, wie sie sichtlich auf die Schritte des Tänzers antwortet. Das erste Beispiel, das mir einfällt, findet sich in Alexander Dowschenkos Film mit dem treffenden Titel Die Erde (Semlja, 1930). Anders als in jenen Denkbildern, die einem Husserl (die unbewegliche Erde) oder einem Heidegger (die aneigbare Erde) so teuer waren, wird bei Dowschenko ein Bild gedacht, das die Erde sozusagen aus dem stabilisierenden Bilderfundus befreit. In Die Erde bekommen wir keinen die menschlichen Bewegungen unbewegt hinnehmenden Sockel zu sehen, sondern ein Terrain des Kampfes, ein Meer der Konflikte, das Paradoxon in Aktion, jenes Paradoxon aus Schlägen und Gegenschlägen, die der Erde verpasst und von ihr zurückgegeben werden: jener Tanz, bei dem die Logik Bauchlandung macht, bei dem wir, nach Deleuzes’ Begriff des Paradoxons, an der „Entstehung des Widerspruchs“ teilnehmen. Diese Schläge und Gegenschläge entstammen zunächst einmal Körpern des Begehrens: Dowschenko zeigt in einer Sequenz seines Filmes Liebespaare, die in regloser Umarmung dastehen und an Statuen der Wollust erinnern, aber auch – mir ist eine Männerhand, die auf einer weiblichen Brust ruht, im Gedächtnis – an Rembrandts Die jüdische Braut. Wassilij und seine Geliebte werden im Halbdunkel 27 Ebd., S. 284–346. 28 Ebd., S. 325. 29 Vgl. Paul Schilder, The Image and Appearance of the Human Body [1950], London 2002.
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gezeigt. Ihre Körper, einander zugewandt, sind vor Begehren und vielleicht auch aus einer Vorahnung heraus erstarrt. Einzig die Augen der jungen Frau bewegen sich – genau wie in einer berühmten Einstellung später bei Chris Marker in seinem Film Am Rande des Rollfelds (La Jetée, 1962). Dann sehen wir Wassilij, vermutlich sehr früh am Morgen, auf dem Heimweg. Der junge Mann ist so sehr Schönheit und Freude, dass er sich in einen Körper des Tanzes verwandelt: in den frohsinnigen und virtuosen Körper des Hopak, dieses ukrainischen Volkstanzes, dessen Name möglicherweise von den ihn begleitenden Hop!-Rufen herrührt, bei dem der Tänzer zu einem heiteren, raschen Zweivierteltakt mal in die Höhe schnellen, mal ausgreifende Sprünge machen muss, dann wieder tief am Boden tanzen und natürlich auf diese berühmte Weise die Erde stampfen. Wassilij geht also nicht einfach nur über den Feldweg, sondern er tanzt. Er tanzt mit der Erde als rhythmischem Partner. „Er tanzt, und Säulen des Lichts steigen unter seinen Füßen auf – hochgewirbelter Staub oder Liebestempel, den er in sich trägt?“30 Einfacher gesagt: Er schlägt den Boden mit seinen Füßen, so dass die Erde jeden Schlag beantwortet, indem sie eine Wolke Staub ausstößt. Lange bleibt Wassilijs Gesicht dem Boden zugewandt, doch dann richtet er mit einem Mal seinen Kopf auf, in herausfordernder Haltung, die Schultern akzentuiert wie im Baile flamenco. Im pulsierenden Licht Dowschenkos verleiht der weiße Staub seinem dunklen Körper gleichsam eine Aureole, die im Rhythmus seiner Schritte auf- und niedersteigt. „Dowschenko bündelt alle Beleuchtung unter den Füßen von Wassilij, der im Gegenlicht des Mondes tanzt und einen nahezu magischen Staub aufwirbelt: nächtlichen und doch sichtbaren, einzig mit seinem Tanz verbundenen Staub, als würde unter seinen auf den Boden einhämmernden Füßen der Erde ihr Licht vom Tanz entrissen.“31
Doch plötzlich stürzt Wassilij zu Boden. Ein letztes Mal und, wie es scheint, ein wenig großartiger als zuvor, steigt um ihn der Staub empor. Später erfährt der Zuschauer, dass Choma, der junge Kulake, ihn ermordet hat, und begreift, dass Wassilijs Tanz, seine Freude, seine Fußhiebe, die er der Erde versetzte, nur eine Brücke waren zwischen dem versprochenen Leben (der gemeinsamen Erde, der Liebe seiner Braut) und dem unausweichlichen Tod, durch den die Erde diesen Menschen auf tragische Weise zurücknimmt. Später sieht der Zuschauer in einer einzigartigen Montage rasch einander ablösender, das gesamte Filmende in Atemlosigkeit tauchender Szenen: den ehrwürdigen Zorn des Vaters, die Mutter, die ein neues Kind gebiert, den schmerzzerrissenen erotischen Taumel der verlassenen Braut, die unnützen Lamentationen des Popen in der Kirche, die kollektiven Gesänge auf das „neue Leben“ und schließlich den durchs Gras fliehenden, von niemandem verfolgten Mörder, der wie ein Dostojewskij’scher Schuldiger schreit: „Ich habe ihn getötet, aber er hat getanzt! Er hat getanzt!“ und selber in einen Tanz der Panik verfällt, bei dem er versucht, seinen Kopf in die Erde zu wühlen. Auch im Tanz von Die Erde ist wieder das Element des Schlagens das charakteristischste Merkmal: Bewegung (motion) des Körpers, Schlagen (percussion) des Bodens, Rückstoß (répercussion) der Staubwolken, Erschütterung (commotion) der Erde durch den brutalen Aufschlag des niederstürzenden Tänzers. Genau wie der Abdruck32 antwortet dieses – zunächst heitere, dann dionysische, nahezu beunruhigende, schließlich tragische, tödliche – Element des Schlagens seinerseits auf das Anachronistische eines prähistorischen Verfahrens als moderne ästhetische Entscheidung. Die Humanpaläontologie kommt ohne eine Anthropologie des Schlagens nicht aus. So beschreibt André Leroi-Gourhan die Beziehung des Menschen zur Materie, indem er nacheinander die grundlegenden Techniken des
30 Luda und Jean Schnitzer, Alexandre Dovjenko, Paris 1966, S. 68. 31 Barthélemy Amengual, Alexandre Dovjenko, Paris 1970, S. 64 f. 32 Siehe Georges Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, übers. v. E. M. Lange, Köln 1999.
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Greifens, des Schlagens und schließlich der Weitergabe untersucht: den Stein ergreifen und sich seiner bedienen, um zu schlagen – das heißt einmal zu zerstören, das andere Mal zu bauen, einmal zu zerteilen, das andere Mal wieder zusammenzufügen –, und schließlich, um ihn als Gegengewicht, als Hebel einzusetzen.33 „Die Materie zerspalten, behämmern, behauen, polieren, zerteilen, um sie sodann neu zusammenzusetzen, dies sind die Ziele, welche die vorzüglichsten Eigenschaften der technischen Intelligenz beanspruchen, dies sind die Ziele, die mittels eines einzigen Werkzeugs erreicht werden: dem Schlagen. Es gibt nahezu kein Erzeugnis, ob Tuch oder Haus, Axt oder Fuhrwerk, das bei seiner Entstehung nicht von diesem Werkzeug bearbeitet worden wäre, welches Materie abspaltet, um einen Griff oder Pfosten zu modellieren, pflanzliche Fasern zerkleinert, um daraus einen Faden zu gewinnen, im Metall den Ort der Moleküle verändert, um es zu formen.“34
Im Schlagen, schreibt Leroi-Gourhan an anderer Stelle, hört der Körper auf, „Werkzeug zu sein, und wird Motor“.35 Das bedeutet unter anderem, dass das Schlagen ein Verfahren von größerer Dialektik und Komplexität ist, als es zunächst erscheinen mochte (hierin unterscheidet es sich, nebenbei, deutlich vom Greifen). Mit dieser dialektischen Komplexität nun arbeitet ein Großteil der modernen und zeitgenössischen Kunst, etwa im Tanz oder in der Bildhauerei (dem Schlagen in der modernen Musik seit Strawinskij oder Varèse und bis zu Mauricio Kagel oder Steve Reich, Thelonius Monk und Charlie Mingus wäre gesondert nachzugehen).36 Die beachtlichen Entwicklungen, die diese wechselseitigen Erschütterungen des Raumes und der Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts genommen haben, und die neue Rolle, die dabei dem Boden als Aktionsfeld, ja sogar als Material des Schlagens zukommt, sind bekannt. Die wichtigsten Marksteine: Jackson Pollocks Tanz um seine auf dem Atelierboden liegende Leinwand, der unglaubliche Kampf von Kazuo Shiraga mit dem Schlamm während seiner Aktion von 1955, die Anthropometrien Yves Kleins einige Jahre danach und schließlich das Auf-den-Boden-Schleudern von flüssigem Blei eines Richard Serra oder die auf Video mitgeschnittenen Performances eines Bruce Nauman, die geeignet sind, dem Proust’schen Begriff von der Kunst als „Mittel zur Erschütterung“37 ihre ganze Schlagkraft – wenn ich so sagen darf – zurückzugeben. Tanzen bedeutet nicht nur, mit dem Körper schöne Figuren im Raum zu machen, womit ich hier den Raum des Oben meine, diesen Raum, den die verschiedenen Ausformungen des philosophischen Idealismus aufrufen und für dessen Bedürfnisse man den Tanz zu einer reinen „Metapher des Denkens“38 machen möchte. Tanzen heißt auch, zu ebener Erde wirkungsmächtige Stöße zu erzeugen, das Unreine nicht zu scheuen, sich an die Erde als einen Raum des niederen Materialismus zu wenden, beispielsweise die Bretter zu behämmern, wie Georges Bataille es in einer trunkenen Nacht vor Sartre tat, um zu unterstreichen, dass er sich als tanzender Denker empfindet, als Denker des zornmütigen und freudvollen, ja burlesken Aufstampfens – als Denker por bulerías, um es in Flamenco-Art zu sagen.39 33 André Leroi-Gourhan, Évolution et techniques. I. L’homme et la matière [1943], Paris 1971, S. 43–113. 34 Ebd., S. 47 35 André Leroi-Gourhan, Hand und Geste. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt am Main 1980, S. 302. 36 Vgl. Jean Charles François, Percussion et musique contemporaine, Paris 1991. Und im Bereich der Philosophie die große zweibändige Untersuchung von Pierre Sauvanet, Le Rythme et la raison, Paris 2000. 37 Jean-Pierre Criqui, „Pour un Nauman“, in: Cahiers du Musée national d’Art moderne Nr. 62, 1997, S. 11. Über die hier kurz angeschnittene künstlerische Konstellation siehe insbesondere: Paul Schimmel (Hrsg.), Out of Actions. Between Performance and the Object, 1949–1979, Los Angeles, London 1998. 38 Vgl. Alain Badiou, „La danse comme métaphore de la pensée“, in: Danse et pensée. Une autre scène pour la danse, hrsg. von Ciro Bruni, Sammeron 1993, S. 11–22. 39 Georges Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance (Atheologische Summe III), übers. v. Gerd Bergfleth, München 2005.
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Abb. 3: Filmstill aus Anne Teresa De Keersmaeker, Fase. Four Moments on the Music of Steve Reich, 1982 (Filmfassung 2002).
Der „pathetische“ und absurde Zorn, wie er von einem Menschen ausgeht, der vergeblich den Boden mit Füßen traktiert, ist ja ein beliebtes Mittel der burlesken Komödie, man denke nur an die Bilder der großen Zornigen – wie etwa Bud Jamison oder Henry Bergman – und ihr berühmtes Aufstampfen, das sich deutlich von den Luftpirouetten eines Charlie Chaplin abhebt. Oder die exzessiven, doch stets getanzten Lachanfälle bei Louis de Funès, deren Struktur Valère Novarina wunderbar beschrieben hat.40 Oder, um mehr im Bereich der Kunst zu bleiben, die Experimente etwa eines Robert Morris oder Gordon Matta-Clark, eines Robert Smithson, Bruce Nauman oder Richard Long: Es fehlt im modernen und zeitgenössischen Tanz nicht an spezifisch choreografischen Formen der Arbeit mit dem Boden. Es ist möglich, dass der Boden als Bühne, Kristallisationspunkt oder Kontrastfolie der choreografischen Bewegungen das „anthropologische Modell des [tanzenden, G. D.-H.] Körpers“41 bildet. Wenn in einem militaristischen Film wie Musik, Musik (Holiday Inn) Fred Astaire einen atemberaubenden Stepptanz darbietet, wobei er Dutzende von Knallkörpern auf den Boden schleudert, bis dieser von Trümmern übersät ist, so malen wir uns aus, dass der Tänzer sich selbst als einen amerikanischen Bomber inszeniert, der munter die Erde verwüstet, über die er gerade fliegt.42 Hier heißt tanzen, die Erde zu zerstören, oder, genauer, ihre Zerstörung zu mimen. Ganz anders die anthropologische Verfasstheit, die Anne Teresa De Keersmaeker in einer Choreografie mit Musiken von Steve Reich ins Werk setzt43: Um sich selber kreiselnd bewegt sich die Tänzerin dergestalt durch den Raum, dass sie das Labyrinth ihrer eigenen Schritte auf den mit einer feinen Schicht aus Talk oder weißem Sand bedeckten Boden zeichnet, ja sie beinahe einritzt, -schreibt, -modelliert, -meißelt.
40 Valère Novarina, Pour Louis de Funès, précédé de Lettre aux acteurs, Arles 1986, S. 31–32. 41 So die avancierte, aber leider nicht ausgearbeitete Idee von Jean-Marie Pradier in seinem Buch La Scène et la fabrique du corps. Ethnoscénologie du spectacle vivant en Occident [1997], Bordeaux 2000, S. 18–20. 42 Musik, Musik, dessen Originaltitel Holiday Inn lautet, wurde 1942 von Mark Sandrich gedreht. Siehe auch Gilles Cèbe, Fred Astaire, Paris 1981, S. 134–137. 43 Anne Teresa De Keersmaeker, Fase. Four Moments on the Music of Steve Reich, 1982 (Filmfassung 2002). Siehe Jean-Marc Adolphe u. a., Rosas, Anne Teresa De Keersmaeker, Tournai 2002.
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Abb. 4: Filmstill aus Anne Teresa De Keersmaeker, Fase. Four Moments on the Music of Steve Reich, 1982 (Filmfassung 2002).
Was nun den Tänzer des Baile jondo betrifft, so schlägt er den Boden nur deshalb mit solcher Versessenheit, damit dieser ihm eine Erschütterung zurückgibt, eine commotio, „Mit-Bewegung“, aber auch eine geteilte und wechselseitige Emotion. Seine „wirkungsmächtigen Stöße“ hören nie auf, die Erde auf ihr Vermögen hin zu befragen, dem Körper mit „Gegenstößen“ zu antworten, ihn immer wieder in ihr Gesetz der Schwerkraft und der Tiefe zurückzuholen. In dem Stück Arena, 2004 in Sevilla aufgeführt, beginnt Israel Galván ein animalisches, fast verliebtes Zwiegespräch mit dem Boden. Seine die Begegnung suchenden Füße scharren, streicheln, tasten sich vorwärts, ein bisschen wie die Hand eines Blinden, der den Raum ringsum zu be-greifen versucht. Dem aber folgen sagenhafte Alegrías, Tangos und Bulerías, bei denen der Boden mit Salven von Spitzen- und Absatzhieben buchstäblich gemartert wird. In einer von Diego Amador begleiteten atypischen Siguiriya vertikalisiert Galván dann mit einem Mal das, was sich fortan die Erschütterungsfläche (surface de commotion) nennen ließe, in einer Wand aus Brettern – es ist der Burladero der Stierkampfarenen –, gegen die sein Kopf wie verrückt, als habe er einen „Sprung“, schlägt und dabei große Wolken Staub aufwirbelt. Zuletzt entwickelt der Tänzer in Arena neue Variationen, indem er seine Sevillanas auf einem Metallsockel darbietet (womöglich eine Hommage an Vicente Escudero und dessen Tänze vor seinen dadaistischen Freunden), oder er wählt einen Schaukelstuhl zum choreografischen, in seinem Schwerpunkt stets instabilen Terrain. Dies Experimentieren mit der Erde, die zu betanzen ist, hat kein Ende. In seiner jüngsten Arbeit, Tábula rasa, trennt er auf schizophrene Weise die Mitglieder zweier großer Gitano-Familien, Diego Amador und Inés Bacán – gewiss in der Absicht, sie besser mit ihrer Einsamkeit zu konfrontieren, aber auch, um sie zu den Schlagflächen (surfaces de percussion) – Klavier, hölzerner Tisch und Boden – zurückzuführen. Und wieder erforscht Galván das Wirkungsvermögen der Flächen, auf die sich einschlagen lässt: Er traktiert die Saiten des Klaviers zuletzt noch mit den Füßen, die er in die Höhlung des Instruments stößt; er benutzt die Tischplatte, diese Welt im Kleinen, wie den Bühnenboden; schließlich tanzt er auf einem weißen Grund, von dem der gleiche Staub hochwirbelt, wie er in Die Erde unter Wassilijs Füßen vom Feldweg aufsteigt. In einem anderen, in Vorbereitung befindlichen Projekt zum Thema der Apokalypse ruht der Bühnenboden auf einem Kugellager, um sich unter den „wirkungsmächtigen Stößen“ des Tänzers zu bewegen. Nun lässt sich besser verstehen, dass die Erde unter den Füßen des Tänzers – das heißt nach dem Kalkül der von der Choreografie entworfenen Bewegungen – sich selbst bewegen kann. Es besteht also nicht länger Anlass, (stillstehende) Landschaft und (bewegliche) Reise einander gegenüberzustellen, da Kunstwerke – der Tanz, aber ebenso der Gesang – uns zeigen, dass sie imstande sind, die Erfahrung einer Reise-Landschaft hervorzubringen, einer Landschaft, die das Vermögen besitzt, nach den Bewegungen des Körpers, der sie anruft, ins Ungewisse „aufzubrechen“, ja unvernünftig auszubrechen. Nie lässt sich die Erde besser wahrnehmen als unter den Schlägen, die man ihr versetzt. Aber sie schlagend, stört man sie auf: Man verrückt sie also, bearbeitet sie, bewegt sie, erschüttert (commeut) sie mit sich. Übersetzung von Eveline Passet.
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Raum erfahren Zur Automobilisierung der Blicke und Landschaften im Kino
Kino und Bewegung Wer „Kino“ sagt, ist schon mitten im Thema. Oder besser: Er bewegt sich. Keine andere Kunst hat das Prinzip des Kinetischen so umstandslos aufgegriffen, um sich selbst zu beschreiben. Zwar sind aus der Vorgeschichte des Kinos etliche Techniken und Apparate bekannt, deren Bezeichnungen andere Fähigkeiten des Mediums hervorheben; auch sie hätten bei der Namensgebung Pate stehen können.1 Dennoch machte die Bewegung, ihre Sichtbarmachung („Kinetoskop“) und Aufzeichnung („Kinematograf“) das Rennen und setzte sich – bald auf den gemeinsamen Nenner „Kino“ verkürzt – durch. Dafür ist nicht nur der ökonomische Grund verantwortlich, dass die erfolgreichste Technik stets sich und ihren Namen durchsetzt. Es hängt wohl auch damit zusammen, dass die Bewegung im Film von Beginn an auf ganz unterschiedlichen Ebenen zugleich zu finden war und sich daher besonders dazu eignete, das Neuartige des Mediums in einem Wort zu komprimieren. Zur Erinnerung: Da ist, erstens, auf der Bildebene die Bewegung des Dargestellten. Der Zug, die Blätter eines Baumes, ein Gärtner, der die Flucht vor seinem außer Kontrolle geratenen Wasserschlauch ergreift; Ikonen aus der Frühgeschichte des Laufbilds. Diese bildinternen Bewegungen sind bekanntermaßen nur deshalb wahrnehmbar, weil zweitens innerhalb beider symmetrischer Teilapparate des Dispositivs „Kino“ – der Kamera und dem Projektor – ebenfalls eine gleichmäßige Bewegung stattfindet, wenn der Filmstreifen durch die jeweilige Maschine läuft. In der mehrdeutigen Bezeichnung „moving pictures“ sind beide Bewegungsmodi terminologisch ineinander verschränkt. Es kommt aber noch etwas Drittes hinzu. Denn gleich nach der Erfindung des Mediums stellte man fest, dass auf einer weiteren Ebene auch der Aufzeichnungsapparat selbst in Bewegung versetzt werden konnte. Kameras auf Handwagen, Zügen, Automobilen, montiert an Fahrräder, Motorräder oder auf Kutschen. In der Potenzierung des Bewegungsmoments führte diese simple Operation zu unterschiedlichen Effekten. Natürlich generierte sie einerseits einen zusätzlichen Schauwert, eine weitere „Attraktion“ des Apparats, die ihn damit zugleich sichtbar machte; eine Kamera, die sich bewegt, ist wahrnehmbarer als eine unbewegte. Aber zum anderen – und gegenläufig zu dieser Rhetorik des expliziten Zeigens – führte es auch dazu, dass der Zuschauer seinen Blick in dem der beweglichen Kamera wiedererkannte und die Bewegung des Bildes als Simulation der eigenen Körperbewegung empfand. Aus beiden Vektoren, dem der Distanzierung und dem der Identifikation, resultiert die Faszination der frühen Bewegtbilder, insbesondere der außerordentlich populären „Phantom Rides“, bei denen eine Kamera auf einem fahrenden Verkehrsmittel installiert und ein schwebender, permanent in Wandlung begriffener Blick in Fahrtrichtung simuliert wurde.2
1 Um nur einige der Paradigmen zu nennen, die zur Namensgebung infrage gekommen wären: das Leben (Bioskop), das Wunder (Thaumatrop) oder die Handlung (Praxinoskop). 2 Zu den „Phantom Rides“ vgl. Raymond Fielding, „Hale’s Tours. Ultra-Realism in the Pre-1910 Motion Picture“, in: Cinema Journal 10, 1970, Nr. 1, S. 34–47. In der Terminologie, die Jay David Bolter und Richard Grusin in ihrer Theorie der „Remediation“ bereitstellen, sind beide Tendenzen des Films die zur „Immediacy“ (Transparenz des Mediums) einerseits und die der „Hypermediacy“ (Sichtbarmachung des Mediums) andererseits. Jedes neue Medium greift die vorherigen auf und bringt beide Tendenzen in eine neue Konfiguration. Vgl. Jay David Bolter und Richard Grusin, Remediation. Understanding New Media, Cambridge 1999, S. 20–52; zum frühen Kino dort S. 155–158.
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Dem archetypischen Beispiel für die Objektbewegung innerhalb des Bildes, die mit L’arrivée d’un train à La Ciotat ab 1895 gegeben war, folgte also sehr bald die engere Kopplung von Bewegung und Zuschauer. Ist der Kinobesucher im einen Fall eher registrierender Zuschauer und dem Theaterbesucher verwandt, so ist er im anderen gezwungen, die durch Kamera und Schnitt induzierten Bewegungen kognitiv und affektiv mitzuvollziehen. Diese beiden Formen von Teilhabe wechseln selbst in jedem „konventionellen“ Film permanent ab und generieren ein zusammengesetztes Zuschauersubjekt, das die Filmtheorie mit unterschiedlichen Modellen beschrieben hat. „Identifikation“ und „Immersion“ sind zwei bekannte Versuche, den möglichen Zuschauerverhältnissen Namen zu geben;3 schon Béla Balázs hat diesen Effekt, den Zuschauer durch Bewegung und Montage in das Bild hineinzuziehen, als besondere Leistung der „produktiven Kamera“ und als Unterscheidungskriterium zu den traditionellen Künsten herausgestellt: „Die Kamera nimmt mein Auge mit. Mitten ins Bild hinein. Ich sehe die Dinge aus dem Raum des Films. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und verwickelt in seine Handlung, die ich von allen Seiten sehe.“4 Es ist aber nötig, immer zugleich die gegenläufige Tendenz, die Präsenz des Apparates und die damit automatisch verbundene Störung des Immersiven im Auge zu behalten.5 Affiziert und fasziniert von unterschiedlichen Bewegungsformen, schreibt das Kino unterschiedliche Praktiken und Erfahrungsmodi des 19. Jahrhunderts fort. Die Beobachtung vorbeiziehender Bilder hat viel mit der kulturellen Praxis der Eisenbahnreise gemein, und ein Echo dieser Bewegungsindustrie des 19. Jahrhunderts ist in zahllosen Filmen von Lumières Ankunft bis James Bennings RR (2007) zu finden.6 Als noch engerer Verwandter des Kinos im 20. Jahrhundert drängt sich allerdings das Automobil auf. Kein Wunder deshalb, dass sich in zahllosen Filmen eine Wahlverwandtschaft zwischen Automobil und Kino artikuliert, die auf ihre gemeinsame Eigenschaft als Transport- und Wahrnehmungsmaschine hindeutet. Windschutzscheibe und Leinwand: Zwei Screens, die unseren Blick auf die Landschaft rahmen, zwei Sichtmembrane, die zwischen unterschiedlichen Räumen vermitteln. Gegenüber der Eisenbahnreise hat das Automobil die Blicke zudem auf eine nochmals flexiblere, weniger geradlinige Weise in Bewegung gesetzt.7 Wer mit dem Auto losfährt, weiß nicht zwingend, wohin es geht, deshalb hat sich auch ein Teil der Freiheitsemphase der späten sechziger Jahre im Genre des Roadmovies sedimentiert, das die Bewegung (auch im politischen Nebensinn des Wortes) internalisiert hat und über die gängigen narrativen Motivationen siegen lässt.8 3 Vgl. zum Thema „Immersion“ zuletzt die Beiträge in Heft 2 (2008) der Zeitschrift montage AV. Dort auch Raymond Fieldings in Fußnote 2 genannter Text zu den „Hale’s Tours“ in deutscher Übersetzung. 4 Béla Balázs, Der Geist des Films [1924], Frankfurt am Main 2001, S. 15. 5 Ist die Verbindung zwischen Kino, Bewegung und der damit verbundenen Flexibilisierung von Raumwahrnehmung einerseits besonders eng, so sind andererseits Vorbehalte gegen die umstandslose Identifikation von Kino und Bewegung geäußert worden. Denn auch wenn die Mobilisierung – auch in der militärischen Nebenbedeutung des Wortes – eine starke apparative Komponente hat, ist sie nicht erst mit der Erfindung des Kinos in die Bildpraxis eingegangen. Jonathan Crary hat darauf hingewiesen, dass die Dynamisierung des Blickes bereits deutlich vor der Existenz bewegter Bilder eingesetzt hat. Vor allem die naturwissenschaftliche Begeisterung für physiologische Phänomene, die am Beginn des 19. Jahrhunderts Konjunktur hatte, ist für Crary Indiz dafür, dass neue, flexible „Techniken des Beobachters“ sich diskursiv und experimentell längst etabliert hatten, als die Fotografie und später der Film neue apparative Formen zur Reproduktion dieser Mobilität bereitstellten. (Vgl. Jonathan Crary, Techniken des Beobachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, übers. v. Anne Vonderstein, Dresden, Basel 1996.) 6 Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977. Zu Bennings RR siehe Allan Sekula, „RR JB“, in: James Benning, hrsg. von Barbara Pichler und Claudia Slanar, Wien 2007, S. 238–240. 7 Beide Bewegungsmodi finden sich bis heute in Form von Kamerafahrten auf Schienen einerseits und DollyFahrten andererseits in der Filmpraxis wieder. 8 Die problematische Beziehung zwischen individueller Bewegung und der Festlegung durch die Schiene findet sich schon in den Debatten der frühen Eisenbahn als „Widerspruch von Schiene und Individualverkehr“: „Solange dieser Widerspruch ungelöst ist, bleibt die einzige Möglichkeit, seine beiden Seiten einander anzu-
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Die Komplexität der Anordnung „Kino“ ebenso wie jedes einzelnen Films verdankt sich dieser Vervielfachung von Beweglichkeiten. Das Bild ist immer bereits von unterschiedlichen Mobilisierungen infiziert; selbst wenn es unbewegt sein mag, trägt es die Bewegung als Potenzialität in sich. Was diese Bewegung macht (mit den Bildern, mit den Zuschauern), welche Effekte sie erzeugt und wie sie jeweils zu verstehen sein könnte, ist von Film zu Film unterschiedlich. In den folgenden Beobachtungen soll deshalb mit der Autofahrt ein spezifischer Modus der filmischen Raumerfahrung Thema sein; ein Modus, der auf besondere Weise die individuelle Wahrnehmung mit einer apparativen Komponente verschaltet. Im Zentrum stehen konkrete Umsetzungen in Filmen der letzten 60 Jahre, die aus unterschiedlichen kinematografischen und geografischen Räumen stammen. In dieser Streuung geht es auch darum, die Autofahrt nicht als rein thematischen Nukleus des Genres Roadmovie zu beschreiben, sondern einige Besonderheiten des Wahrnehmungsmodus „Automobil“ in den Blick zu nehmen. Gemeinsam ist den Filmen, dass die Elemente Automobil und Landschaft in ihrer Verbindung eine Herausforderung für konventionelle Dramaturgien darstellen; ihre Regisseure nehmen diese Herausforderung an. Überspitzt könnte man sagen, dass das Automobil in diesen Filmen, um etwas schiefe Metaphern zu bemühen, ein Motor und Katalysator modernen Erzählens ist. An vier Filmen möchte ich das im Folgenden erläutern: Zunächst Roberto Rossellinis Journey to Italy, Monte Hellmans Two-Lane Blacktop und Claude Lelouchs C’était un rendez-vous. Der Durchgang wird kursorisch sein und jeweils einzelne Eigenheiten aus den Filmen auf die Fragestellung der Raumwahrnehmung zuspitzen: Wie verhalten sich beide bewegliche Apparaturen – Automobil und Kamera – zueinander? Wie modifiziert ihr jeweiliges Verhältnis unsere Blicke als Zuschauerinnen und Zuschauer? Zum Abschluss werden zwei Filme des bekanntesten iranischen Filmemachers, Abbas Kiarostami, zur Sprache kommen; zum einen weil das Auto tatsächlich als das „dispositif primordial“9 seiner Filme gelten kann. Zum anderen weil die Frage der Raumwahrnehmung dort besonders eng mit Fragestellungen des Sozialen und – wenn man so will – einer kinematografischen Ethik gekoppelt ist.
Roberto Rossellini – Journey to Italy (1953) Es beginnt abrupt, unmotiviert, ohne narrative Vorbereitung. Nur so viel: Zwei sind unterwegs, in Bewegung, im Auto. Aber selbst diese spärliche Information wird uns erst in der dritten Einstellung zugebilligt. Zuvor gibt es zwei andere Bilder; Blicke, die erst nachträglich als Subjektive zu entschlüsseln sind. Journey to Italy10 beginnt wie ein Reisefilm, aber er hat es nicht besonders eilig, irgendwo anzukommen. Stattdessen springen wir hinein in etwas, das bereits begonnen hat: Ein Auto bewegt sich vorwärts auf einer ruckeligen Landstraße. Die Kamera ist nach vorne gerichtet, die Straße von hellen Markierungssteinen, Bäumen und Plakatwänden gesäumt. (Abb. 1) Rechts und links fliegt die Landschaft vorbei: „Jeder Amateurfilmer würde über die technischen Mängel dieser Einstellung die Nase rümpfen“11, schreibt der Regisseur Rudolf Thome, aber dieses Ungeschliffene, Unreine ist kein Fehler, sondern integraler Bestandteil von Rossellinis Film. Dann die zweite Einstellung: ein Blick aus dem Fenster an der Beifahrerseite. Erst nach dem nächsten Schnitt können wir das Vorangegangene zurückbinden an ein Subjekt innerhalb der Erzählung, und dies
nähern, die Zahl der parallel laufenden Schienenwege zu vermehren.“ (Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, a.a.O., S. 29.) 9 Alain Bergala, Abbas Kiarostami, Paris 2004, S. 75. 10 Rossellini drehte den Film auf Englisch; daher der englische Titel, dem verschiedene Übersetzungen und alternative Verleihtitel folgten: Viaggio in Italia, L’Amour est le plus fort, Voyage en Italie. 11 Rudolf Thome, „Kommentierte Filmographie“, in: Roberto Rossellini, München 1987 [Reihe Film 36], S. 103–268, hier: S. 170.
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Abb. 1: Filmstill aus Journey to Italy, Italien 1953, Regie: Roberto Rossellini (BFI Publishing, 2003).
modifiziert zugleich unseren ersten Eindruck. Denn auf der vermeintlichen Beifahrerseite befindet sich überraschenderweise das Lenkrad, es ist ein rechtsgesteuertes, britisches Auto. Die Blicke, die in den zwei ersten Einstellungen zuallererst unsere waren, werden nun – von der Erzählung her gedacht – als Ingrid Bergmans Blicke nachvollziehbar. Es kann nur ihre Perspektive sein, denn ihr Ehemann, den wir später als Alex kennen lernen (gespielt von George Sanders), schläft. Drei Instanzen sind in dieses Spiel der Blicke verwickelt: das Automobil, wir, die Zuschauer, und Ingrid Bergman als Katherine Joyce, die Hauptfigur in Rossellinis Film. Dazwischen, oszillierend, ergibt sich ein schwankendes, unklares Hin und Her der Blickachsen. Die Erzählinstanz, sofern man in Filmen sinnvoll davon sprechen kann, wäre die Summe dieser Blicke. Rossellinis Film ist oft als der „erste moderne Film“ bezeichnet worden; insbesondere Jacques Rivette hat den Film euphorisch besprochen und zum kinematografischen Fixstern für die spätere Nouvelle Vague erklärt.12 Ein Teil dieser Modernität lässt sich bereits aus der hier vorgeführten Unabhängigkeit der Blicke und Bewegungen herleiten. Eingeführt werden zu diesem frühen Zeitpunkt im Film Reibungen und ein Konfliktpotenzial, das sich keinem Drehbuch verdankt (es gab statt eines Drehbuchs nur fünf knappe Seiten Text)13, sondern der Interaktion von Orten und Fi12 „Wenn es irgendwo modernes Kino gibt, hier ist es.“ (Jacques Rivette: „Brief über Rossellini“ [1955], in: Filmkritik 7, 1969, S. 447–454, hier: S. 447.) 13 Das knappe Szenario, das mit den Worten „Voyage en auto/Bentley“ beginnt, ist in französischer Übersetzung abgedruckt in: Alain Bergala, Voyage en Italie de Roberto Rossellini, Crisnée 1990, S. 7–9. Trotz der Knappheit – keine Dialoge, oft nur kurze Stichworte – ist die Verortung der Handlung überraschend präzise:
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guren.14 Von diesem Anfang ausgehend entfaltet sich ein Kino der Brüche und Uneindeutigkeiten, in dem die Unentschiedenheit und Krise der Hauptfiguren – ein Ehepaar, dessen Verbindung sich während des Aufenthalts in der Nähe von Neapel als porös und zerbrechlich entpuppt – zu einer Krise des klassischen erzählerischen Bildregimes wird. Im weiteren Verlauf des Films ist diese Spannung durch die Entgegensetzung von Leben und Tod, Beweglichkeit und Stillstand strukturiert: Ingrid Bergmans Besuch von Museen und den Ausgrabungen in Pompeji, die Konfrontation mit der erstarrten, mortifizierten Vergangenheit macht aus den latenten Differenzen manifeste Kontraste. Die Spannung zeigt sich aber – als potenzieller Bruch innerhalb der Erzählbewegung selbst – von Beginn an in kleineren, wenig auffälligen Operationen. Besonders eindrücklich wird dies ebenfalls schon zu Beginn in einer ganz unscheinbaren Kamerabewegung. Immer noch sind Alex und Katherine unterwegs; das ist in dramaturgischer Hinsicht bereits ungewöhnlich genug. Wer würde einen Film so beginnen, wenn er es auf Plot und Erzählung abgesehen hätte? Mit der scheinbar ereignislosen, „toten“ Zeit des Reisens, mit einem belang- und folgenlosen Fahrerwechsel, mit mehreren lästigen Unterbrechungen durch Rinder, die die Straße blockieren; es ist, als wollte sich Rossellini über die üblichen erzählerischen Konventionen lustig machen. Auch deshalb steigt er in den Film nicht mit einem definierten Raum ein, sondern mit einer Phase der Durchquerung und des Transfers, mit einer kaum definierten, unklaren Landschaft. Und auch jetzt, nach einem Fahrerwechsel und mehreren narrativ folgenlosen Unterbrechungen der Fahrtbewegung, blickt die Kamera wieder nach vorn auf die Straße wie in der allerersten Einstellung des Films; hier allerdings gabelt sich die Straße. Zwei Hinweisschilder weisen den Weg. Links geht es nach Neapel, rechts nach Latina; der Film muss sich entscheiden. „C’est alors que se produit une invraisemblable schizophrénie de l’énonciation: tout se passe comme si la voiture ‚voulait‘ aller à gauche et la camera, elle, à droite. […] Cette réticence du film à prendre la route précédemment désignée par le scénario manifeste ici une croyance et un désir: celui qu’il soit possible d’inscrire physiquement dans son film, au niveau de la pure identification primaire, le sentiment du contingent.“15
In diesem kurzen Zögern, in dem der Film anderes will als vorgesehen, in dieser minimalen Abweichung wird die Möglichkeit eines anderen Erzählens sichtbar, das die Auseinandersetzung zwischen Plan und Zufall zum Bestandteil des Films selbst macht. Im gleichen Maße, in dem die Kontingenz Eingang in den Film erhält, werden die Blicke vom Subjekt entkoppelt, und das Verhältnis zwischen dem Subjekt und den Räumen und Landschaften wird prekär. Insofern kann man Rossellinis Film als Zeugnis einer Autonomisierung begreifen. Er ist nicht länger an einem narrativen Faden orientiert, sondern überträgt die Lenkung und Verantwortung an verschiedene andere Instanzen. Dies hat wiederum Folgen innerhalb des Plots. Zum Beispiel ist Ingrid Bergmans Aufenthalt in Neapel so strukturiert, dass sie selbst als Figur immer wieder die Regie abgibt und sich führen und treiben lässt von Museumsführern oder Bekannten, die ihr die Ausgrabungen zeigen: Die Figuren agieren wie Stellvertreter in Phasen, in denen der Regisseur und die Figur ihre Verantwortung spielerisch abgeben. Eine ähnliche Funktion übernimmt das Auto, das im Film deutlich Katherine zugeordnet ist, während Alex nach Capri verschwunden ist. Viermal fährt Bergman vom ländlich abgelegenen Wohnsitz in die Stadt. Vier Ausflüge zu Museen und Sehenswürdigkeiten. Auch hier ist, wie zu Beginn des Films, Rossellinis Aufmerksamkeit für die eigentlich drama„Passage de la ‚fettucia‘ de Terracina à la hauteur du km 94 et on sort juste avant le virage avant d’arriver à Terracina à la hauteur des prés à gauche de la route où se trouvent les buffles.“ (Ebd., S. 7.) 14 „The fictional journey undertaken by Alex and Katherine Joyce is partially pushed to the side by history, geography and geology.“ (Laura Mulvey, „Roberto Rossellini’s Jouney to Italy“, in: dies., Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image, London 2006, S. 104–122, hier: S. 113.) 15 Bergala, Voyage en Italie de Roberto Rossellini, a.a.O., S. 19.
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turgisch unbestimmten, „leeren“ Fahrten außergewöhnlich. Das Automobil ist in diesem Zusammenhang wie ein Interface, eine Schnittstelle zwischen der Schauspielerin Ingrid Bergman und der dokumentarischen Wirklichkeit der Stadt Neapel. Eine Wahrnehmungskapsel, die einen flexiblen Blick auf die neapolitanische Stadtlandschaft ermöglicht. Sicher würde es die Differenz zwischen diesem und Rossellinis früheren Filmen unzulässig vergrößern, aber in gewisser Hinsicht stoßen in diesen Fahrten auch Elemente aus Rossellinis Filmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zusammen mit einem anderen, „leeren“ Subjektbegriff. Als wäre Rossellinis Kino – im Auto – auf dem Weg zu etwas anderem, während die soziale Wirklichkeit Italiens, die man aus seinen „neorealistischen“ Filmen zu kennen glaubt, draußen (auf der Leinwand/Windschutzscheibe) vorbeizieht. Unmittelbar nachdem Viaggio in Italia ohne großen Erfolg in die Kinos gekommen war, hat André Bazin Rossellini in einem Brief an den Chefredakteur der italienischen Zeitschrift Cinema nuovo verteidigt. Bazin ist dabei vor allem an einer Ablösung des Begriffs „Neorealismus“ von der simplen Rückrechnung auf eine dargestellte sozial kodierte Wirklichkeit gelegen. Für die Frage der Dynamisierung von Figuren jedoch ist eine andere Charakterisierung interessanter. Rossellinis Figuren, so Bazin, seien „wie verfolgt vom Dämon der Beweglichkeit […]. Denn für Rossellini ist die Geste, die Veränderung, die physische Bewegung die Quintessenz der menschlichen Wirklichkeit.“16 Journey to Italy nimmt diese Mobilität in seine Erzählbewegung auf.
Monte Hellman – Two Lane Blacktop (1971) „Well, here we are, on the road“, sagt der eine lakonisch. „Yeah, that’s where we are, all right“, antwortet der andere. Die beiden Kontrahenten, die in ihrem wortkargen Gespräch eine Minimaldefinition des Genres Roadmovie liefern, werden im Abspann als „GTO“ und „The Driver“ aufgelistet. Der eine ist nach seinem Fahrzeug benannt, der andere nach dem, was er tut: Er fährt, und zwar einen 55er Chevy, der zusammen mit dem anderen Wagen, einem GTO, die eigentlichen Hauptfiguren des Films sind. Die Personen dagegen sind nicht individualisiert oder mit Namen benannt; das gilt auch für „The Mechanic“ und „The Girl“. Eine Konstellation, bestehend aus vier Personen und zwei Autos, wird auf ein Rennen von Westen nach Osten geschickt. Die Reise verläuft gegen die Richtung der historischen Landnahme, und sie versammelt vier auf Links gekrempelte Antihelden, pioneers in reverse mode. Auf der Straße haben sie sich kennengelernt und ein Rennen nach Washington D. C. verabredet. Aber es ist ein merkwürdiges Rennen, bei dem der eine auf den anderen wartet, wenn der Abstand zu groß wird, und die Anhalterin („The Girl“) wie ein starrköpfiges, selbstbewusstes Pfand zwischen den Wagen der Kontrahenten hin- und herwechselt. Two Lane Blacktop gehört zu den Filmen, die an der Schwelle zwischen den sechziger und siebziger Jahren durch den überraschenden Erfolg von Easy Rider möglich wurden. Hellman gehört allerdings – wie Bill Norton, Bob Rafelson oder Henry Jaglom – zu denjenigen, deren eigensinnige Filme sich nicht in eine erfolgreiche Karriere übersetzen ließen, wie dies bei Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, George Lucas oder Steven Spielberg der Fall war. Aber ähnlich wie in deren Filmen der frühen siebziger Jahre kommen auch in Two-Lane Blacktop Jugendkultur, Pop und die amerikanische Gegenwart zusammen. Damit geht auch ein eigener Begriff von Landschaft einher. „Two-Lane Blacktop offers an oblique tour of a wide variety of suburban, desert and rural settings that are never editorialised or offered for delectation. What is striking is the way Hellman gets the rolling rhythm of a changing landscape behind unchanging people.“17 Diese Aufmerksamkeit für die räumliche Erdung und eine 16 André Bazin, „Plädoyer für Rossellini“, in: ders., Was ist Film?, Berlin 2004, S. 204. 17 Kent Jones, „‚The Cylinders Were Whispering My Name‘. The Films of Monte Hellman“, in: Thomas Elsaesser, Alexander Horwath und Noel King, The Last Great American Picture Show. New Hollywood Cinema in the 1970s, Amsterdam 2004, S. 163–194, hier: S. 182.
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präzise Verortung ist dem amerikanischen Kino in den achtziger Jahren abhanden gekommen. In Two-Lane Blacktop dagegen sind es sehr spezifische Landschaften, durch die sich der Film und seine Protagonisten bewegen. Mit einem Begriff des amerikanischen Landschaftstheoretikers John Brinckerhoff Jackson kann man sie als „vernacular landscape“ charakterisieren. Den traditionellen und europäisch geprägten Landschaftsbegriffen des Mittelalters und der Renaissance setzt Jackson, 1951 Begründer der einflussreichen Zeitschrift Landscape, einen dritten Landschaftsbegriff entgegen, der der amerikanischen Geschichte angemessener ist; transitorische Räume, alltägliche, in den regionalen Eigenheiten und dem Populären verwurzelte, oft ungeplante Architekturen und Raumorganisationen.18 Später hat Jackson, der als Ausgleich zu seiner Lehrtätigkeit in Harvard und Berkeley als Tankwart in der Nähe von Santa Fé arbeitete, den Begriff ergänzt und angeregt, von der „auto-vernakulären Landschaft“ zu sprechen: „Es ist eine Landschaft aus Bundesstraßen, Parkplätzen, Geschäftsstraßen, Tankstellen, mehrstöckigen Parkhäusern, Autorennstrecken und zahllosen Lager- und Transitflächen.“19 Und er fügt hinzu: „Trotz meiner Schwäche für Raststätten und Großtankstellen zögere ich, diese Anlagen als die modernen Äquivalente des Wohnhauses als ‚moralische Einheit‘ zu bezeichnen. Aber sie sind zweifellos Orte, an denen Fremde zusammenkommen, wo sie Hilfe, Rat und Gesellschaft suchen. Viele Aspekte der autovernakulären Landschaft machen sie zu einem Ort der Hoffnung, gerade weil ein Schwerpunkt auf Mobilität und kurzfristig besetzten Raum gelegt wird. Sie ist das Versprechen eines Ortes oder einer Institution, die etwas fördert, was man als Sodalität bezeichnen könnte: eine Gemeinschaft, die sich nicht auf Territorialität und soziale Position gründet, sondern auf gemeinsame Interessen und die Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe.“20
Jacksons Beschreibung ist frei von kulturkritischem Lamento. In seiner Aufmerksamkeit für das Nebensächliche und scheinbar Wertlose ist er ein früher Propagandist dessen, was sehr viel später als Offenheit für populärkulturelle Phänomene in die Kulturwissenschaften eingegangen ist. Auf Orte und Landschaften bezogen heißt das: Nicht nur „natürliche“ Landschaften oder die kunstvollen historischen Gartenlandschaften früherer Jahrhunderte, sondern die beiläufigen, unscheinbaren Orte und Räume werden als „Landschaft“ zum Gegenstand der Untersuchung. Das Roadmovie ist ein Sammelcontainer solcher vernakulärer Landschaften. Hellman hat zu verschiedenen Anlässen darauf hingewiesen, wie wichtig ihm die räumliche Komponente bei Two-Lane Blacktop war, nicht zuletzt ein Grund, den Film in Continuity zu drehen und somit die durch die Erzählung vorgegebene Reise der realen Bewegung des Drehteams entsprechen zu lassen. (Abb. 2) „Raum ist für mich nicht neutral, weder in meinem Leben noch in meinen Filmen. New Mexico ist nicht Oklahoma, und ich habe niemals einen Schauplatz jenseits seines geografischen Kontextes benutzt. Die Landschaft verändert sich, und von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist alles sehr präzise dargestellt. […] In einem gewissen Sinne bin ich ein Landschaftsmaler, wenngleich ich eine Landschaft nicht allein wegen ihrer Schönheit zeigen möchte oder um ihren Wert zu steigern.“21
18 Die Auseinandersetzung mit Jacksons Texten beginnt im deutschsprachigen Raum erst. Eine gute Einführung sind die drei Texte, die im Band Landschaftstheorie. Texte der Cultural Landscape Studies, hrsg. von Brigitte Franzen und Stefanie Krebs, Köln 2005, übersetzt sind: „Der Pfad des Fremden“ (1959), „Landschaften. Ein Resümee“ (1984) und „Die Zukunft des Vernakulären“ (1990). 19 John Brinckerhoff Jackson, „Die Zukunft des Vernakulären“, in: Landschaftstheorie. Texte der Cultural Landscape Studies, a.a.O., S. 45–56, hier: S. 54. 20 Ebd., S. 55. 21 Vgl. für eine Lektüre dieses Hellman-Zitats auch Henrik Gustafsson, „Getting back into place (going into orbit). Realismus, Narration und Landschaft im Kino des New Hollywood“, in: Barbara Pichler und Andrea Pollach (Hrsg.), moving landscapes. landschaft und film, Wien 2006, S. 109–129.
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Abb. 2: Filmstill aus Two-lane blacktop, USA 1971, Regie: Monte Hellman (The Criterion Collection, 2007).
Am Ende des Films, nachdem sich die Gegner im ergebnislosen Rennen aus den Augen verloren haben, startet der Fahrer den Wagen auf einer der improvisierten Rennstrecken noch einmal. Als er in den ersten Gang schaltet, verlangsamt sich die Bewegung, während der Ton einen Hall wie in einer Echokammer entwickelt. Dann bleibt der Bildkader stehen und beginnt vom Rand her zu brennen, bis es in Flammen aufgeht. Das ist zugleich ein brüsker Sprung von der Räumlichkeit des Films in die des Auditoriums; eine unmittelbare und irritierende Verschaltung von Kamera, Projektor, Automobil und Zuschauerraum, einzigartig in der Filmgeschichte. „I thought it was a movie about speed, and I wanted to bring the audience back out of the movie and into the theatre, and to relate them to the experience of watching a film.“22
Claude Lelouch – C’était un rendez-vous (1976) „Speed“ – kein anderer Begriff könnte Claude Lelouchs Kurzfilm C’était un rendez-vous von 1976 besser charakterisieren.23 Und über kaum einen anderen Film kursieren so viele Mutmaßungen und Fehlinformationen. Zum Beispiel diese: „On an August morning in 1978, French filmmaker Claude Lelouch mounted a gyro-stabilized camera to the bumper of a Ferrari 275 GTB and had a friend, a professional Formula 1 racer, drive at breakneck speed through the heart of Paris. No streets were closed, for Lelouch was unable to obtain a permit.“24
Richtig daran ist, dass im Zentrum des Films eine halsbrecherische Fahrt durch Paris steht. Allerdings handelte es sich bei dem vermeintlichen Rennwagen um Lelouchs Mercedes 450 SEL und beim Fahrer um den Regisseur selbst (und natürlich fand die Fahrt 1976, nicht 1978 statt). Anders als Journey to Italy hat C’était un rendez-vous keine Schwierigkeiten, Subjekt und Raum zusammenzubringen; bis unmittelbar vor dem Ende scheint der Film über gar kein handelndes Subjekt zu verfügen, sondern die Erzählbewegung ganz an das Fahrzeug übertragen zu haben. Es ist ein 22 Jones, „‚The Cylinders Were Whispering My Name‘. The Films of Monte Hellman“, a.a.O., S. 184. 23 Monte Hellman, der sich in seiner Arbeit auf eine Reihe von französischen Filmen, insbesondere Rivettes Paris nous appartient bezog, hat auch Claude Lelouchs Film Un homme et une femme als Vorbild für Two-Lane Blacktop genannt. 24 Im Internet verbreiten über 1000 Seiten die Geschichte: Websites zu Lelouch, zur französischen Filmgeschichte, Kommentare bei Youtube, Seiten von Rennwagen-Fans usw.
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Abb. 3: Filmstill aus C’était un rendez-vous, Frankreich 1976, Regie: Claude Lelouch (Spirit Level DVD, 2003).
Film aus einem Guss, gefilmt in einer einzigen Einstellung, dahinfliegend in einer rasanten Bewegung dicht über dem Pariser Asphalt. (Abb. 3) Aber anders als in Rossellinis oder Hellmans Film steht dies weniger im Zeichen der Raumerfahrung als dem der Raumvernichtung. Das Auto ist Agent dieser Bewegung und zugleich Stellvertreter unseres Blicks. Das Ganze funktioniert wie eine Wette oder ein Zaubertrick, und wie bei einer Wette werden die Bedingungen einleitend genannt: „Le film que vous allez voir a été réalisé sans aucun trucage ni accéleré“. Keine künstliche Beschleunigung also, nur die Bewegung des Autos, das in einem lebensgefährlichen Parcours quer durch die Metropole rast und sich dabei weder um rote Ampeln noch um Passanten oder andere Fahrzeuge kümmert. Paris, der auch zur Produktionszeit in den siebziger Jahren wohl bereits meistgefilmte Ort der Filmgeschichte, wird hier neu definiert als Rennstrecke. Die Stadt schrumpft auf acht Minuten zusammen, die Kamera frisst den Raum, nur um ihn hinter sich – und damit im Off des Zuschauers – wieder auszuspucken. Im Kern folgt dies dem Prinzip der „Phantom Rides“, allerdings ist dieses Prinzip verstärkt, beschleunigt und um die akustische Dimension erweitert: Der heulende Motor (bei der Nachvertonung wurde dem Film tatsächlich das Motorengeräusch eines Ferrari unterlegt, ein bisschen „trucage“ fand also doch statt), die quietschenden Reifen, wenn der Wagen in die Kurven geht, das Aufflattern der Tauben, die sich verschreckt in Sicherheit bringen, all das macht die Anspannung des Films aus und rückt ihn nahe an das frühe „Kino der Attraktionen“, in dem der körperliche Effekt wichtiger war als eine etwaige Handlung.25 Über diese filmhistorische Anbindung hinaus liegt es aber ebenso nahe, C’était un rendez-vous mit den theoretischen Ausführungen Paul Virilios zur Dromologie zusammenzubringen, die zur gleichen Zeit wie Lelouchs Film entstanden. Aus dem Fahrzeug wird ein Projektil, und die Wirkung des Films – wie die einer Hochgeschwindigkeitsfahrt – soll in erster Linie eine somatische sein: 25 Vgl. zum vielzitierten „Kino der Attraktionen“ und seinem Zuschauersubjekt Tom Gunning, „An Aesthetic of Astonishment“, in: Linda Williams (Hrsg.), Viewing Positions. Ways of Seeing Film, New Brunswick 1995, S. 114–133. Zu Lelouchs Film führt von diesen Anfängen des Kinos eine Linie mit der Zwischenstation der Achterbahnfahrten im Cinerama-Breitwandkino der 50er Jahre.
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„Das Verschwinden der Einzelheiten der Welt im Flimmern der Geschwindigkeit läßt die gleichen Symptome fühlbar werden: Ohrensausen, Sichtstörungen, Bild- und Farbausfälle. In hohen Dosen, das heißt bei hoher Geschwindigkeit führt das Autofahren an den Rand der Bewußtlosigkeit – zu schneller Ortswechsel ist mit Vorsicht zu genießen […].“26
Allerdings steht diese These bei Virilio ganz im Zeichen seiner Ideologiekritik an der Entmündigung des Menschen, der seine motorischen Funktionen allerorten an Fahrstühle, Autos, Rolltreppen abgibt. Bei Lelouch dagegen überwiegt die Lust an der Amplifikation des Kitzels und der Erhöhung der Geschwindigkeit. Zudem ist es keineswegs so, dass der Ort – Paris – durch die Kompression der Zeit austauschbar würde. Im Gegenteil. Gerade durch die Pointe, in die der Film zum Schluss mündet, ändert sich der Film noch einmal vollständig. Das Auto ist angekommen in Montmartre; im Off hört man die Autotür zufallen. Der Fahrer macht beschwingt ein paar Schritte auf die Treppe zu, auf der ihm eine Frau entgegenkommt. Umarmung, Freeze Frame. Stillstand des Mediums und der Maschine: C’était un rendez-vous. In dieser Pointe kippt der Film gleich mehrfach: Zum einen rahmt er den Schauwert der selbstgenügsamen Attraktion nachträglich durch eine Erzählung, die der verstandeslosen Raserei Motivation und erzählerische Plausibilität gibt. Mit etwas Übertreibung könnte man sagen, dass der Film die filmhistorische Entwicklung zur „narrativen Integration“ des „Cinema of Attractions“ in wenigen Sekunden ironisch nachvollzieht. Zum anderen springt er zugleich von der Verabsolutierung des Maschinellen, in dessen Kosmos kein Platz für das Individuum oder Emotionen zu sein scheint, ins Melodramatisch-Emotionale.
Abbas Kiarostami – Der Geschmack der Kirsche (1997) In unzähligen Filmen verbindet sich der automobile Blick vorübergehend mit dem Kameraauge. Aber bei kaum einem anderen Regisseur geschieht dies so regelmäßig und systematisch wie bei Abbas Kiarostami. Sein Film Ten (2002) spielt 90 Minuten lang – mit einer markanten Ausnahme – ausschließlich auf den beiden Vordersitzen eines Autos. Der Film beschränkt sich darauf, zwei starre Einstellungen zu benutzen, eine auf den Fahrer-, eine auf den Beifahrersitz. „Landschaft“ ist hier nur mittelbar durch die Scheiben des Autos zu erkennen, oft absorbieren die halb improvisierten Dialoge im Auto unsere Aufmerksamkeit. Aber wenn man darauf achtet, sieht man die Stadtlandschaft Teherans, bei Tag, bei Nacht, als würde sie an dem PKW vorbeigezogen. Ten führt die konzeptuelle Zuspitzung eines Prinzips vor, das auch in den vorherigen Filmen Kiarostamis prominent ist und ästhetischen und gesellschaftlichen Überlegungen folgt, die unmittelbar auf die Landschafts- und Raumdarstellung wirken. Ein Auto ist für Kiarostami zwar auch ein Fortbewegungsmittel, aber dies ist eine eher untergeordnete Funktion. Meist fahren seine Protagonisten nicht gezielt irgendwohin, sondern streunend, Wege wiederholend, tastend. Oft ist es so, dass die wiederholten Autofahrten zwar innerhalb der Erzählung motiviert sind, aber zugleich dazu dienen, dem Film wie ein wiederkehrender Refrain einen Rhythmus mit Zäsuren, Atempausen und gleichmäßigen Etappen zu verleihen (in Der Wind wird uns tragen sind es die erzwungenen Jeepfahrten des Protagonisten auf den Hügel, sobald er einen Anruf erhält – nur dort hat sein Mobiltelefon Empfang). Wie viele unterschiedliche Funktionen das Auto für ihn erfüllt, hat Kiarostami selbst am pointiertesten zusammengefasst:
26 Paul Virilio, „Fahrzeug“, in: ders., Fahren, fahren, fahren …, Berlin 1978, S. 19–50, hier: S. 26. Vgl. auch Virilio, Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, übers. v. Brigitte Weidmann, Frankfurt am Main 1995, insbesondere die Ausführungen zur Dromoskopie (S. 133–154).
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Abb. 4: Filmstill aus Ta’m e guilass (Der Geschmack der Kirsche), Iran 1997, Regie: Abbas Kiarostami (Fernsehausstrahlung arte).
„Ce n’est pas seulement un moyen de locomotion pour aller d’un endroit à un autre, cela répresente aussi une petite maison, un habitacle très intime avec une grande fenêtre dont la vue change à tout moment. Vous ne trouverez jamais une telle maison dans la réalité, car la vue que l’on a depuis les fenêtres d’une maison ne change pas. Elle est condamné à montrer éternellement la même vue. Tandis que la fenêtre de la voiture est d’une grande dimension et de plus, telle un écran scope, elle reflète le mouvement. La voiture a un autre avantage: lorsque l’on filme de l’intérieur, les gens de l’extérieur ne savent pas qu’ils sont en train de participer à votre film. C’est un traveling permanent ou encore comme un mouvement de grue. […] La voiture, c’est aussi une banquette où deux personnes peuvent s’asseoir à côté l’une de l’autre et regarder le même paysage, la même vue. Et même si les deux sont silencieuses, cela ne veut pas dire qu’elles sont brouillées. On peut faire asseoir quelqu’un dans sa voiture sans être obligé d’être ou de devenir son ami. Et cette personne, à un moment, descent et s’en va.“27
Beispiele dafür, wie die Landschaft bei Kiarostami quasi in Funktion dieser mobilen Anordnung wahrgenommen wird und gleichzeitig den Hintergrund für ein Modell von Dialog und Auseinandersetzung bildet, finden sich in zahlreichen Filmen: Der Protagonist in Der Geschmack der Kirsche (1997) fährt aus der Innenstadt hinaus und an den Stadträndern Teherans entlang. Gewundene, trockene Pisten, zufällige Bekanntschaften, Leute, die er am Straßenrand anspricht. (Abb. 4) Die Landschaft ist gezeichnet von Baustellen, es ist ein Niemandsland zwischen urbanem und ruralem Raum. Die Arbeit des Films besteht darin, ein angemessenes Verhältnis zum Protagonisten zu finden; die Kamera kadriert ihn meist eng, zeigt ihn als rastloses Einzelwesen. Was wir als Zuschauer in den ersten Einstellungen sehen, ist jemand, der seinerseits mit Sehen und Suchen beschäftigt ist; durch diese konstitutive Verdopplung holt Kiarostami uns als Wahrnehmende in den Film hinein und hält die Konstruktion der Anordnung zugleich präsent.
27 Abbas Kiarostami, „À propos du Goût de la cerise. Entretien“, in: Abbas Kiarostami. Textes, entretiens, filmographie complète, Paris 1997, S. 73–85, hier: S. 82 f.
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Ein Blick in den Innenraum des Autos auf den Fahrer, dann der Gegenschuss, aus dem Beifahrerfenster hinaus. Ein Blick von außen durch die reflektierende Windschutzscheibe. Dann erneut ein Blick aus dem Beifahrerfenster, aber nun ohne die zusätzliche Rahmung durch das Fenster selbst, anschließend einmal eine vergleichbare Einstellung aus dem Fahrerfenster (man sieht Kinder, die Auto spielen). Schließlich der Blick nach vorn auf die Piste, eher der Blick des Autos als der seines Fahrers. Die ersten dreieinhalb Minuten von Der Geschmack der Kirsche führen eine Deklination der Möglichkeiten vor, wie das sehende Subjekt, das mobile Dispositiv und dessen Umgebung (Landschaft und Menschen) zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Eine Perspektive ist in dieser Aufzählung allerdings auffällig abwesend, sie lässt auch noch auf sich warten und bleibt weiterhin die Ausnahme. Denn bis wir das Auto, einen Jeep, zum ersten Mal von außen sehen, vergehen zehn Minuten des Films, und es braucht nochmals so viel Zeit, bis wir das Geheimnis erfahren, das wir im leeren Blick des Fahrers zuvor nur vermuten konnten; er hält Ausschau und spricht Passanten an, weil er jemanden sucht, der das Loch zuschaufeln kann, in das er sich abends für den Freitod legen will. Es ist eine frappierende und atemberaubende Öffnung des Films, wenn er – sehr selten – in eine Supertotale wechselt, die das Auto aus großer Entfernung, eingebettet in die staubigen Wege, stellenweise hinter Teilen der Landschaft verschwinden lässt. Diese ambivalente Perspektivierung, in der sich die Kamera vom Protagonisten löst, aber der Ton weiterhin im Innenraum des Fahrzeugs bleibt, ist erstaunlich; Kiarostami führt hier filmisch eine Art Ablösung vom Protagonisten vor und damit vielleicht auch eine heilsame Relativierung seiner eingeschränkten Wahrnehmung. Die Landschaft nimmt sich Raum, so wie der türkische Gesprächspartner seine Rechtfertigung des Lebens immer wieder vom Individuellen ins Allgemeine spielt. Möglicherweise ist die fluide Schönheit, die der Film in diesen Momenten entwickelt, das beste Argument gegen den Selbstmord seines Protagonisten. Jean-Luc Nancy hat in den Filmen Kiarostamis eine neuartige Form des Realismus erkannt, der sich nicht – wie es den klassischen Theorien des Neorealismus immer wieder unterstellt wurde – aus der Ähnlichkeit des fotografischen Bildes mit der abgebildeten Wirklichkeit ableitet. Nicht in einem spezifischen Abbildungsverhältnis sei dieser Realismus zu verorten, sondern in der reziproken Anerkennung, die durch die Blicke der Figuren erfolge. „Il ne s’agit pas de passivité, encore moins de captivité, il s’agit de s’accorder à un regard afin de regarder à notre tour. Notre regard n’est pas captif, et s’il est captivé, c’est parce qu’il est requis, mobilisé. Cela ne va pas sans une certaine pression qui fait obligation: la capture d’image est clairement un ethos, une disposition et une conduite à l’égard du monde. Kiarostami mobilise le regard: il l’appelle et il l’anime, il le met en vigilance.“28
Natürlich ist diese Mobilisierung der Blicke nicht zwingend an das Automobil gebunden; auch die meisten anderen Bewegungsformen der Dinge und Menschen finden sich in Kiarostamis Filmen: rollende Dosen (Close Up), der weggeworfene Menschenknochen, der durch den Bach schwimmt (Der Wind wird uns tragen), der Junge, der im Zickzack über den Berg läuft, um seinem Schulfreund das Heft zu bringen (Wo ist das Haus meines Freundes). Dennoch scheint das Auto dem Regisseur ein besonders angemessenes Dispositiv zur Verfügung zu stellen. „La voiture qui roule à travers les films comme à travers les oliviers est donc aussi deux fois une vérité cinématique: une fois en tant de boîte à regard, et une fois en tant que mouvement incessant.“29 Dieses Bewegungsmoment ist kein rein kinetisches Prinzip, denn mindestens ebenso wichtig in Kiarostamis Filmen sind der Austausch und das kontingent Soziale, das am heruntergekurbelten Fenster oder zwischen Fahrer und Beifahrer entsteht. Das Auto, so ließe sich behaupten, bildet einen Schnitt-
28 Jean-Luc Nancy, Evidence du film/Evidence of Film, Brüssel 2001, S. 17. 29 Ebd., S. 29.
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punkt zwischen individueller Wahrnehmung und sozialem Austausch, zwischen innen und außen. Anders als im europäischen Kino kommt diesem Ort in einer autoritativen Gesellschaft wie der iranischen zudem eine eminent politische Bedeutung zu, da er innerhalb des kontrollierten öffentlichen Raums einen privaten Raum für Diskussion und Auseinandersetzung bietet. Eine ähnliche Wiederaneignung grundsätzlicher, ganz basaler Kamera- und Wahrnehmungsoperationen kennzeichnet auch den Beginn von Quer durch den Olivenhain. Auch hier der zunächst subjektlose Blick nach vorn, der uns zuvor bei Rossellini, Lelouch und in so vielen anderen Kiarostami-Filmen begegnet ist. Aber hier wird die Frage des Zuschauerraumes nochmals überraschend gewendet. Denn wenn der Mann, den wir am Straßenrand haben entlanggehen sehen, plötzlich in das Auto einsteigt, erfolgt ein kategorialer Sprung, eine Umwidmung des Raumes im Off. War es bislang „unsere“ Perspektive, „unser“ Blick, der durch die Windschutzscheibe nach draußen ging, wird der gleiche Blick, der gleiche Raum nun anders kodiert. Es ist der Raum des Dialogs, der Diegese. Man könnte sagen: Mit dem gleichen Sprung, den der Mann in das Auto macht, und mit dem Schließen der Tür springt auch der Film in die Erzählung hinein. Die nächsten Einstellungen, die das Auto als Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum etablieren, fügen dieser ersten Einstellung – eher additiv als synthetisierend – weitere Möglichkeiten hinzu. Zunächst der Blick aus dem Fenster der Beifahrerseite. Ein gerahmter Blick, ein gerahmtes Bild, ein durchlässiger Übergang zwischen zwei Räumen. Wie bei vielen Kiarostami-Filmen bekommt man den Eindruck, dass hier Möglichkeiten des Kinos, nachdem sie filmgeschichtlich durch alle denkbaren Entwicklungen und Metamorphosen hindurchgegangen sind, in diesem anderen kulturellen Kontext neu erfunden, vielleicht besser: erneut angeeignet werden. Wenn man einige dieser Beobachtungen zu formalisieren versuchte, käme man zu mindestens drei miteinander verschränkten Funktionen der automobilen Landschaften bei Kiarostami. Das Auto ist erstens eine Maschine zur Produktion von kontingenten Begegnungen und daher ideal für jemanden wie Kiarostami, der ohne festes Drehbuch arbeitet. Gerade für die Arbeit mit Laien, die Kiarostamis Filme kennzeichnet, ist die Anordnung „Automobil“ zudem perfekt; er selbst hat die Besonderheit als ideal bezeichnet, dass der Laienschauspieler auf dem Beifahrersitz nicht gezwungen ist, unmittelbar mit dem anderen Dialogpartner oder der Kamera zu agieren, sondern nach vorne, auf die Straße schauen kann: „Vous invitez des gens et, comme ils ne vous regardent pas directement, ils s’ouvrent à vous tranquillement, comme sur le divan d’un psychanalyste.“30 Das Auto in Kiarostamis Filmen ist hier die zentrale Schnittstelle zwischen öffentlich und privat, zwischen außen und innen, zwischen Gesellschaft und Individuum. Auf die Landschaften bezogen stellt das Auto zweitens eine zusätzliche Rahmung her und überführt Natur in Landschaft; in der Wahl der zwischen Auto und Landschaft vermittelnden Perspektiven verbinden sich drittens solche Fragen der filmischen Technik mit solchen der Ästhetik und der Moral.
Es ist kein Zufall, dass alle beschriebenen Filme in weitgehender Unabhängigkeit von Drehbuchvorlagen entstanden sind. Rossellinis fünf karge Seiten, Lelouchs simple, konsequent umgesetzte Idee, Hellmans flexible Reaktion auf die Schauplätze und Menschen, die sich auf der Reise nach Osten ergeben, schließlich Kiarostamis Einsatz eines starken Dispositivs mit all seinen Möglichkeiten der Blicklenkung, sozialen Interaktion und Landschaftswahrnehmung: In jedem der Fälle sieht sich das planmäßige Erzählen nach einem vorgeschriebenen Drehplan von der Räumlichkeit herausgefordert. Die Landschaften und Orte nehmen eine Setzung vor, sie bieten eine starke Form, einen Widerstand, auf den die Filmemacher reagieren, indem sie den Ort vom Schauplatz zum Mitspieler machen. Das, 30 Kiarostami, „À propos du Goût de la cerise. Entretien“, a.a.O., S. 83.
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was daran neu erscheint, verdankt sich zugleich einer Rückkehr zu zwei basalen Möglichkeiten, die dem Kino von Beginn an offenstanden: Bewegung zu dokumentieren und selbst beweglich zu sein, mobile und flexible Räume zu zeigen.
2. STICHPROBEN
MARKUS MESSLING
Reiseleben
„Wahr ist, ich bin auf die Hügel gestiegen und an entfernten Orten gewandert. Wie hätte ich euch sehen können, wenn nicht aus großer Höhe oder weiter Ferne? Wie kann man wirklich nah sein, wenn man nicht weit ist?“ Khalil Gibran1
Wenn wir reisen, uns aufmachen in die Ferne, folgen wir immer einem Prinzip der Kontinuität oder des Bruchs mit unserem Biografischen. Jeder Aufbruch hat seine ätiologische Geschichte. Folge den Fußspuren im heißen Sand, im Staub der Städte, im Gedächtnis deiner Seele! „Ein Buch ist ein Garten, den man in der Tasche trägt“, sagt ein altes arabisches Sprichwort. Der Reisende aber trägt unzählige Geschichten in sich, ja einen ganzen Wald von Fiktionen, der die komplizierte und verwobene Poesie seiner Existenz ist. Als Wanderer bewegen wir uns auf den Pfaden dieser inneren Eigengesetzlichkeit – darin liegt jenes atemberaubend freiheitliche „Ich reise, also bin ich“, das wir in der Stunde des selbst gewählten Aufbruchs verspüren –, und sie ist es, die unsere Bewegungen und Blicke auf dem Weg lenkt, unsere Anforderungen und Fragen an die Fremde hervorbringt. Die Farben, in denen wir sehen, die Bilderwelten, die zu suchen wir ausziehen, liegen in unserem Sehnen und Wollen. Und doch „kann man nicht bei Null anfangen“, wie sich der Kulturphilosoph Hans-Jürgen Heinrichs eingesteht. „Jede Geschichte erzählt sich bereits, wenn man mit ihr beginnt. Man springt auf den fahrenden Zug auf, nimmt den Rhythmus in sich auf und trägt ihn weiter.“2 Unsere Wege kreuzen die jahrtausendealten Routen der Seefahrer und Handelsreisenden, der Karawanen und Propheten, kreuzen eine Tradition des Mythos und der literarischen Tradierung und führen uns zu den imaginären Ausgrabungsstätten eines kollektiven Gedächtnisses vom Unterwegssein. Zu reisen bedeutet daher ein Sich-Einschreiben in die Kulturgeschichte vom Reisen und ein Teilhaben an deren Archäologie, der wir die epistemologische Begrifflichkeit ebenso entnehmen wie die poetische Symbolik. So ist unser Reisen immer auch Teil einer großen Geschichte der Begegnung, und für kaum einen Erdteil dieser Welt gilt das in derart initiatorischer und zugleich widersprüchlicher Weise wie für die Levante und den Orient. In dieser Dualität aus biografischer Freiheit und kultureller Eingebundenheit aber erscheint das Reisen als eine spielerisch erfahrbare Verdichtung des Lebens selbst. Denn ist nicht menschliche Bewegung in einem allgemeineren Sinne immer ein innerer Wettstreit dieser zwei Prinzipien, ein Oszillieren zwischen Faktizität und Transzendenz, wie Jean-Paul Sartre es beschrieben hat? Leben ist in seiner individuellen wie menschheitlichen Form immer beides, es ist weder determiniert noch ist sein Gang ein willkürlicher, sondern ist Geschichte und Freiheit, Erinnerung und Entwurf. Ganz Janus, ganz Wesen dichotomischer Zweiheit, ist der Mensch ein drängender Grenzgänger, der seine Karten malt und seine Ziele an die Linien des Horizontes steckt, mal mehr, mal weniger gewagt, und bleibt doch eingewebt in die Texte einer Welt, die ihm die Schwere einer tiefen Vergangenheit auferlegen.
1 Khalil Gibran, Der Prophet [1923], Düsseldorf, Zürich 2005, S. 90. 2 Hans-Jürgen Heinrichs, Das Feuerland-Projekt. Über das Reisen, Hamburg 1997, S. 7.
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So ist er die Intention seiner eigenen Skulptur und zugleich die durch den Wind der Zeit geprägte Form. Reisende, Weltenbummler, freiwillige Migranten. Passagiere, die als Gepäck ihre Geschichte und Erfahrungen deklarieren. Daraus erwächst Hoffnung: Wer reist, der sucht. Heimat, jener viel beschworene Begriff, ist für die nach Fremde Suchenden oft nicht mehr denkbar, fühlbar als ungebrochene Zugehörigkeit, sondern erscheint als Aufhebung einer inneren Distanz durch äußere Ferne. So ist das Reisen immer auch – oder vielleicht vor allem – eine verzweifelte Suche nach dem Vergessen einer eigenen Unruhe, das Verlangen, die in der äußeren Fremde unumgänglich empfundene Ungewissheit möge das Empfinden der innerlichen Entfremdung abklingen lassen und in die tiefsten Winkel der Seele verbannen. „Vielleicht“, schreibt Hans-Jürgen Heinrichs in seinem Feuerland-Projekt, „sind alle Reisebewegungen Hinauszögerungen des Wunsches, zu bleiben und ein Mensch zu werden, der ‚in sich ruht‘.“3 Reisen hat also etwas mit einem Gefälle, einer Asymmetrie zwischen einem ‚Inneren‘ und einem ‚Äußeren‘ zu tun, mit seelischen Entfernungen, die sich im Räumlichen ebenso erstrecken wie auf Buchseiten und Landkarten, in Filmszenen und Erzählungen, immer dann, wenn das Auge abschweift ins Reich der Vorstellung, das Spiel von ‚nah‘ und ‚fern‘ in imaginären Landschaften aufnimmt. Dass Reisen geistige Bewegung, ein Sich-Einlassen auf einen Zustand seelischer und kultureller Entfremdung und Ungewissheit ist, beschreibt Heinrichs in seinem wunderbaren Buch über das Reisen, in dem sich seine Reise nach Feuerland als reine Disposition, als ein Bündel von Möglichkeiten entpuppt, hinter denen die Frage der eigenen Identität liegt. „Die Fremde und das Fremde“, heißt es dort, „sind in uns. So ist auch der Reisende immer am anderen Ort, am anderen Schauplatz, nicht nur äußerlich, sondern am anderen Schauplatz verstanden als Ort seines Unbewussten. Die imaginären Reisen und die geografisch fixierbaren Reisen, die für ihn wie ein ‚unergründlicher Sog‘ sein mögen, führen ihn in die ureigenste Fremde, in die eigene Fülle und Leere, Vertrautheit und Unbekanntheit.“4 Darin besteht eine der widersprüchlichen Bewegungen des Reisens, dass es, als existenzielle Suche nach der Aufhebung von Entfremdung, den Blick erst recht zum „Fremden im Selbst“ und damit zur archetypischen Eigentlichkeit von Fremdsein leitet. Es ist diese Bereitschaft zum Spiel mit den (Un-)Gewissheiten der eigenen Identität, die das Reisen von jenen alljährlichen Massenwanderungen an die Sonne unterscheidet, die nichts als Pilgerfahrten zu exotischen Kulissen des Alltäglichen sind. An austauschbaren „Nicht-Orten“ wie Antalya, El Arenal oder Hurghada wird Fremdheit als Ware in wohldosierten Portionen verabreicht, die nicht die Gefahr eines Schlingerns im Ungewissen mit sich führen. Hier ist alles Gewohnheit, nichts ist offen. Doch selbst „im von keiner Einsicht getrübten Touristen schimmelt im Unterbewusstsein etwas vom existenziellen Motiv des Reisens, das Metamorphose heißen könnte“5, polemisiert Günter Kunert in seinem Essay „Vom Reisen“. Bewegung als Verwandlung – aber wie? „Woanders ist man ein anderer. […] Man meint die abweichende, sogar gegensätzliche Daseinsweise durch ein Minimum an Mimesis zu begreifen, nachzufühlen, und in diesem Nachfühlen liegt bereits, da wir ja damit schon von uns selber absehen und anderes Leben in uns aufzunehmen trachten, die Verwandlung beschlossen.“6
Diese bereichernde Wirkung des Reisens ist ein Topos nicht nur der europäischen Kulturgeschichte; Wanderjahre sind Lehrjahre. Dabei ist diese Bereicherung wohl so manches Mal nicht jene Aneig3 Ebd., S. 8. 4 Ebd., S. 9–10. 5 Günter Kunert, „Vom Reisen.“, in: ders., Ziellose Umtriebe. Nachrichten vom Reisen und vom Daheimsein [1975], Weimar 1979, S. 7. 6 Ebd., S. 8–9.
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nung im eigentlichen Sinne, von der Günter Kunert spricht, ein Aufnehmen in der Fremde liegender Denkens-, Fühlens- oder Lebensformen, sondern diejenige eines Negativs. Denn nicht selten finden wir das uns Verändernde in uns selbst, weil die Begegnung mit einer fremden Umwelt uns als Ganzen betrifft, unsere Identität abschleift und ans Licht bringt, was im Dunkeln lag. Was wir verdrängen wollten, ins innere Exil verbannt hatten, was uns an uns selbst unbekannt und vor uns selbst verborgen war, hier, in der Erfahrung der äußeren Fremdheit, nehmen wir es als Teil von uns wahr. Die Entdeckung der äußeren Welt ist daher nur eine der Geschichten vom Unterwegssein. Eine andere ist jene der Entdeckung innerer Landschaften und Monumente, die in der Dämmerung des Unbewussten lagen und deren Reliefs erst in der Szenerie der Fremde Kontur gewinnen. Die Vorstellung von der totalen gegenseitigen Durchdringung, von der identitären Fluktuation ist ohnehin das Produkt einer Legende, die zumeist diejenigen erzählen, die von der Fremde träumen, anstatt sich hineinzubegeben. „Man versteht die Menschen nicht (Und nicht darum, weil man nicht weiß, was sie zu sich selber sprechen)“, schrieb schon Wittgenstein, „wir können uns nicht in sie finden.“7 Das bedeutet in meinen Augen nicht, dass wir ‚taub‘ sind, dass wir nicht eindringen könnten in die Klänge und Bedeutungsmuster einer anderen Lebenswelt. Wir können sie sicher oftmals rational nachvollziehen, und wir können uns in ihr bewegen, langsam die Struktur ihrer sprachlichen und symbolischen Räume erkunden. Das nimmt ihr das Unbekannte und damit das Beängstigende, aber es nimmt ihr nicht immer ihre Fremdheit. Die Begegnung mit einer anderen Kultur ist ein Prozess des Vorwagens und Abwägens, des Tastens und Suchens. Manchmal eröffnen sich Zugänge, manchmal aber bleibt das Andere auch das Rätselhafte, von dem wir so weit entfernt sind, dass wir es nur beobachten, nicht miterleben können. Unter dem Eindruck einer indischen Lebenswelt, die für ihn ein „außerhalb unserer Klarheit spielendes märchenhaftes Gedicht“8 darstellte, schrieb der Berliner Feuilletonist Alfred Wechsler 1906 in seinen Tagebuchblättern: „Ich scheine in einem Geheimnis herumzugehen.“9 Im rätselhaft Befremdlichen aber liegt eine Offenheit, die erst die Erfahrungen der Reise vervollkommnet, denn neben den Eindrücken der Sinnenwelt generiert sie das Imaginäre und Traumhafte, in dem Landschaften nicht mehr nur sind, was sie sind, sondern für den Traum, die Erinnerung, das Verlangen nach etwas stehen und so symbolische Landschaften sind. Und erst hier, in den Steppen und Wüsten der Imagination und den Ruinenstädten der Erinnerung, wird aus dem Blick des Beobachters das Flüstern des Erzählers. „Ist es die Sprache, die ich dort nicht verstand, und die sich nun allmählich in mir übersetzen muss?“, fragt sich Elias Canetti in Die Stimmen von Marrakesch. „Da waren Ereignisse, Bilder, Laute, deren Sinn erst in einem entsteht; die durch Worte weder aufgenommen noch beschnitten wurden; die jenseits von Worten, tiefer und mehrdeutiger sind als diese.“10 Zaghaft und suchend ist daher der Schritt des Erzählers, wenn er sich auf den Weg macht, die in ihm entstandene Welt, sich selbst in der Sprache zu entwerfen. Gerade weil das Abenteuer der Begegnung immer wieder neu und immer wieder anders erlebt wird, ist es nicht gleichgültig, wer über seine Reiseerfahrungen schreibt. So halte ich es nicht mit der poe-
7 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [1953], in: ders., Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1969, S. 279–544, hier: S. 536. 8 Alfred Wechsler, Indische Reise. Tagebuchblätter, München, Leipzig 1906, S. 11. 9 Ebd., S. 8. 10 Elias Canetti, Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise [1968], Frankfurt am Main 2000, S. 19.
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tologischen Position von Alfred Kerr, dem großen Kritiker und Reisejournalisten der Weimarer Republik, der in Rakéel’ schreibt: „Es kommt nicht darauf an, dass ich, ich, ich die Dinge erlebt habe. Sondern allein, dass jemand Dinge erzählt, die er erlebt hat.“11 Denn Reiseberichte sind Ansätze des Weltverstehens. Es ist der Blick eines ganz bestimmten Subjektes, der ordnet, der die Bewegungen vollzieht und mit seiner Sprache den vielfältigen Erfahrungen eine Form verleiht. Alle Versuche, diesen Darstellungen von Wirklichkeit die Autorität physikalischer Experimente zu verleihen, sind, wie Clifford Geertz in Dichte Beschreibung notiert, „methodische Taschenspielertricks“12. Reisen ist ein Prozess der Interpretation und dabei dem Lesen nicht unähnlich. Die Bewegungen des Reisenden gleichen jenem ahnenden Blick des Lesenden, und die Reise ist wie jenes komplexe semiotische Spiel zwischen Text und Leser und jene Dynamik im Text selbst, die sich dem Reisenden als ein schwer entwirrbares Geflecht von Begebenheiten und Handlungen darstellt, die stets in Bewegung, stets veränderlich sind. Wir eignen uns die vielen Figuren durch unsere Bewegungen an und müssen sie wieder in größere, aber fadere Muster entlassen, wie das von Albert Camus beschriebene Meer: „Von Zeit zu Zeit kläffen die Wellen gegen den Vordersteven; bitterer und öliger Schaum, Speichel der Götter, fließt die Planke entlang ins Wasser zurück, wo er in Zeichnungen, die vergehen und wiederkommen, zerstiebt wie das Fell einer blauen und weißen Kuh, welche müde noch lange in unserem Kielwasser treibt.“13
Hören Sie die Gedichte und Essays auf der DVD.
11 Alfred Kerr, „Rakéel‘“, in: ders., Werke I/2: Erlebtes. Reisen in die Welt [1920], hrsg. v. Hermann Haarmann und Günther Rühle, Berlin 1989, S. 51–57, hier: S. 52. 12 Clifford Geertz, „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“ [1973], in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 7–43, hier: S. 33. 13 Albert Camus, „Das Meer“, in: ders., Literarische Essays [1935/36], Hamburg 1959, S. 181–192, hier: S. 183.
KIRSTEN MAAR
Die Erfindung der Kartografie im Modus des Choreografischen
Buckminster Fullers Dymaxion-Map. Navigation als „Blindflug zur See“ 1943, inmitten des Zweiten Weltkriegs, am Vorabend des D-Day wurde im amerikanischen LIFEMagazine Buckminster Fullers Dymaxion-Map veröffentlicht.1 Die veränderten Bedingungen eines Luftkrieges erforderten neue Bewegungs- und Orientierungsmuster.2 Große Entfernungen wurden durch neue Verkehrstechnologien in allen Richtungen überwindbar, jeder Ort erreichbar. Angesichts der Tatsache, dass aber die gewonnene Mobilität noch keine dynamisierte Weltsicht hervorbrachte, sondern man an längst überholten Welt-Bildern festhielt, entwarf Fuller eine geopolitische Aufteilung des Raumes, die nicht mehr die notwendige Verortung von einem fixierten Standpunkt in den Mittelpunkt stellt, wie es der Ausgangspunkt für die jahrhundertelang beherrschende Mercator-Projektion war3, sondern die, den technischen Bedingungen des Zweiten Weltkrieges entsprechend, eine bewegliche Lösung vorschlug und eine Neuorientierung ermöglichte. Abgedruckt wurde die Karte als Ausschneidebogen, so dass der Leser sich seine ,Weltsicht‘ erst selbst zusammenbasteln musste, wobei es verschiedene Möglichkeiten gab, entweder einen gefalteten Globus oder aber ein Kartenlegespiel daraus zu machen. Ausgehend von diesem teils spielerischen, teils strategischen kartografischen „Experiment“ möchte ich im Folgenden den Fragen nach dem Zusammenhang von Orientierungswissen und kartografischchoreografischem Denken nachgehen. Im Hinblick auf das Entwerfen von Raum als kreativem Prozess implizieren beide stete Übersetzungsprozesse von Entwurfsskizze und Modell, von zwei- in dreidimensionale bis hin zu schließlich vierdimensionalen raumzeitlichen Zusammenhängen. Sowohl Choreografie als auch Kartografie nehmen eine Aufteilung des Raumes und seiner Beschreibung vor, beide zeichnen sich durch je spezifische Verbindungen von Schriftlichkeit und Bildlichkeit aus sowie durch ihre Operationalität; sie können präskriptive wie auch aufzeichnende Funktionen erfüllen. Durch das Ineinander der Prozesse – produktionsästhetische Verfahren, welche sich im Akt der Rezeption, des Lesens und Umsetzens spiegeln – wird der durch die Grafie beschriebene Raum neu erschaffen, lässt sich die Aufteilung des Raumes neu verhandeln. Dabei stellt sich die Frage, welche Erfahrungen des Raumes sich auf welche Art und Weise in diese Grafien eintragen lassen, welche Abstraktionen dieser Erfahrung im Prozess der Konzeptualisierung zutage treten und welche medialen Konfigurationen dazu beitragen. In Hinsicht auf die Geschichte der Choreografie als Notation lässt sich einerseits eine Ökonomie des kulturellen Austauschs und andererseits begleitend dazu eine disziplinierende Körperpolitik feststellen. Auf dem Gebiet der Kartografie ist es vergleichbar eine Politik des Hegemonialen, der territorialen Machtverteilungen. Durch die jeweiligen Dispositive des 1 Joachim Krausse und Claude Lichtenstein (Hrsg.), Your Private Sky. R. Buckminster Fuller. Diskurs, Baden, Schweiz 2001, S. 35. 2 Christoph Asendorf, Super Constellation. Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien 1997. 3 Die Mercator-Projektion wurde 1569 als Atlas einer Weltkarte aus großformatigen Einzelblättern veröffentlicht. Sie war zwar winkeltreu, jedoch blieb die Bestimmung von Entfernungen fehlerhaft. Dennoch galt sie jahrhundertelang als verlässliches Navigationsinstrument. Auf die technischen Vorteile kann hier nicht im Detail eingegangen werden, die Projektion einer Kugel auf eine Fläche beinhaltete jedoch eine weit reichende Verzerrung, ebenso etablierte die willkürliche Festlegung des Nullmeridians, wie sie im 18. Jahrhundert ergänzt wurde, ein künstliches System der Längen- und Breitengrade.
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Abb. 1: Buckminster Fullers Dymaxion-Map, 1943. (In: Joachim Krause und Claude Lichtenstein (Hrsg.), Your Private Sky, R. Buckminster Fuller, Baden, Schweiz 2001, S. 262)
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Wissens und seiner Darstellung eröffnen sie ästhetische und politische Erfahrungshorizonte, unter denen die Annäherung an das Phänomen Raum stattfindet. Anders als die Mercator-Projektion beschrieb die Dymaxion-Map die Erdoberfläche mit einem Minimum der sonst auftretenden Verzerrungen, welche durch die Unvereinbarkeit von Konvergenz und Parallelität bedingt war.4 Sie entsprach nicht den sonst üblichen Darstellungen des geografischen Bezugssystems von Längen- und Breitengraden, sondern beruhte auf einem andersartigen Projektionsverfahren, welches Fuller im Zuge von Überlegungen entwickelte, die später in modifizierter Form auch in sein architektonisches Tensegrity-Konzept5 eingingen, das zur Konstruktion geodätischer Kuppeln und somit direkt von einem räumlichen Denken her entworfen wurde. Mit Hilfe der geodätischen Verschaltungen wurde die Geografie aus der überlieferten Fixierung gelöst, wobei der Beachtung von Richtungen und Strecken eine besondere Bedeutung zukam. Die geografischen Daten wurden auf einen Polyeder projiziert und konnten so wiederum zu je anderen Flächen aufgefaltet werden. So gab es eine Südpolvariante, in welcher der Südpol im Zentrum lag und die ganze Welt als einziger Ozean erschien, eine Nordpolvariante, welche die Welt als einen einzigen Kontinent darstellte, und weitere Varianten verschiedener Ideogramme. Die „Lesbarkeit der Welt“ wurde jenseits der sonst gewohnten Strukturen vermittelt und machte den Übergang zwischen Linearität und Netzstruktur deutlich; die Karte als Text wurde durch die variablen Anschlüsse der einzelnen Teile zum Hypertext6, eröffnete somit wiederum einen Raum vielfältiger Neuverknüpfungen. In dem Aufsatz „Fluid Geography“ (1944) verdeutlicht Fuller die Hintergründe und Herangehensweisen; er vergleicht Luftfahrt und Seefahrt, setzt sie strikt vom unbeweglichen Wissen der „Landratte“ ab und verweist auf die Methode der Navigation als geometrisches Näherungsverfahren7, das sich dem Entwerfen des Raumes in dem Moment, in dem man ihn er-fährt, widmet. Fuller spricht vom „Blindflug zur See“: „Konfrontiert mit einer Menge von Unbekanntem, das sich zwischen den bekannten Häfen einstellte, waren sie [die Seefahrer, K. M.] früh darauf angewiesen, sich auf Instrumente und Fähigkeiten des Intellekts zu verlassen, also auf eine wissenschaftliche Vorstellung. […] Sie sehen die Welt von außen, sie kommen an Land.“8
4 Joachim Krausse und Claude Lichtenstein, „Earthwalking – Skyriding“, in: dies., Your Private Sky, a.a.O., S. 7–45; R. Buckminster Fuller, „Flüssige Geographie“ (1944), in: ebd., S. 136–152; Joachim Krausse, „Gebaute Weltbilder von Boullée bis Buckminster Fuller“, in: Archplus, Nr. 116, März 1993, S. 50 ff.; ders., „Buckminster Fullers Modellierung der Natur“, in: Archplus, Nr. 159/160, Mai 2002, S. 40–49. 5 Fuller denkt nicht in Bildern, sondern in Modellen, die immer auch einen Bezug zu energetischen Verhältnissen haben (Krausse, „Gebaute Weltbilder“, a.a.O., S. 57). So entwickelt er seit den späten 20ern ein Konzept der Zugspannung – Tensegrity, das seinen geodätischen Bauten zugrunde liegt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die fast gleichzeitige Entwicklung des Leichtbaus (Schalenbauweise oder geodätische Strukturen) und des Flugzeugbaus, die sich sowohl aus der Entwicklung neuer Materialien, aber vor allem aus der Notwendigkeit eines zu dynamisierenden Weltverhältnisses ergab. So setzt sich der Name der Dymaxion-Map, die nur ein Projekt innerhalb einer ganzen Reihe war (mobile Wohneinheit, Automobil), aus den Worten Dynamic Maximum zusammen. Außerdem entwickelt Fuller ein Konzept zur Ephemeralisierung (1938), das es ermöglichen sollte, „to do more with less and less“ (vgl. Krausse und Lichtenstein, Your Private Sky, a.a.O., S. 39 und 124 ff.). 6 Krausse und Lichtenstein, „Earthwalking – Skyriding“, a.a.O., S. 35. 7 Bekannte Fehlerquellen werden dabei bewusst ignoriert und relativiert: So erlaubt die Kopplung von Kompass und Karte lediglich eine ungefähre Positionsbestimmung. Ausgehend von einem bekannten Ausgangsort kann durch die Berechnung von Richtung, Geschwindigkeit und Zeit der Ort ermittelt werden, diese stellt jedoch immer nur eine Annäherung an einen möglichst optimalen Wert dar, sie wird beeinflusst durch Strömungen, Winde, Missweisungen des Kompasses etc. 8 Fuller, „Flüssige Geographie“, a.a.O., S. 137.
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Die wissenschaftliche Vorstellung wird ergänzt durch die in langjähriger Gewohnheit erworbene kinästhetische Empfindsamkeit der Seefahrer, die als körperliche Disposition ihre Entscheidungen beeinflusst. Diese körperliche Aufmerksamkeit stellt sich nur her, weil die entstehenden Momente der Orientierungslosigkeit nicht ausgeschlossen, sondern gerade ständig mit einbezogen werden, weil die Irritationen und Abweichungen mitgedacht werden. „Die unaufhörliche allseitige Bewegung im Leben des Seemannes wirkt in seinem Kopf weiter […].“9 Ausgehend von der notwendigen Verortung auf See wird ein bewegliches Wissen geschaffen. Ost und West, Nord und Süd werden nicht nur als Verortungsbezeichnungen betrachtet, sondern vornehmlich als Richtungen und somit dynamisiert. Gerade über die als diskontinuierlich erfahrene Umwelt kann die Erfahrung jenseits eines intentional steuerbaren und selbstverständlichen Funktionierens gefasst werden. Akkumulierte Erfahrung und Vorstellungsvermögen wandeln sich gerade auch aufgrund von Verfehlungen in ein Weltwissen, welches die Desorientierung bzw. die stete Neuorientierung zu einem konstitutiven und konstruktiven Element macht (was die Eintragung solcher Erfahrungen in ein kartografisches System allerdings zu einer beträchtlichen Herausforderung werden lässt). Diese Aspekte lassen die Dymaxion-Projektion in die Nähe der Portolankarten (Hafenkarten) rücken, mittels derer bis zum 15. Jahrhundert die See kartiert wurde. Ausgehend von der Bewegung und Erfahrung der Seefahrer bemaßen sie die Entfernungen und entwarfen daraus einen Modus des Kartografierens, der eng an die Bewegung im Raum, die erworbene Erfahrung und die unmittelbare Sicht gebunden war. Sie markierten den Verlauf der Küstenlinie und stellten den Raum der Navigation im Bereich des Sichtbaren dar, das heißt alle Besonderheiten der Landschaft, die als Orientierungspunkte dienen konnten. Die Relationalität von Räumlichkeit wurde durch ein praxisbezogenes, funktionales, empirisch generiertes Liniennetz dargestellt, welches die verschiedenen möglichen Routen vorgab. Die Karte war, vergleichbar den verschiedenen Entfaltungsmöglichkeiten der DymaxionMap, nur richtig lesbar und handhabbar, indem man sie entsprechend drehte und selbst in Bewegung brachte.10 Erst im vergleichenden Blick auf die Entwicklungen der Kartografie und ihre Darstellungsverfahren zeigen sich die Unterschiede in Bezug auf das Verhältnis von Bewegung, Körperlichkeit, kinästhetische Erfahrung, ihre verschiedenen Konzeptualisierungen und dahinterstehende Interessen. Abgelöst wurden jene Karten im 14. Jahrhundert von den Ptolemäus-Karten und später von der Mercator-Projektion (siehe Anm. 5) bzw. von Kolumbus, der den Raum, in den er segelte, nicht aus eigener Erfahrung kannte, sondern im Voraus gemäß bestimmter Berechnungen aufteilte. Daran schließt eine Weltsicht an, die auf Darstellungsverfahren gründet, welche eine bestimmte Sichtweise favorisierten, Einschlüsse und Ausschlüsse gestalten, und die Idealisierung des Betrachters und der Medien implizieren. So wird die Linie auf der Karte ohne eigentliche Ausdehnung im Sinne einer definierenden Praxis betrachtet, ihr eigentlicher medialer Charakter wird dabei vernachlässigt: Sie dient der rationalen Erkenntnis und etabliert darüber eine Perspektive – eine Weltsicht und Sichtweise, deren Verschriftung zugleich die Festschreibung und Verfestigung jener bestimmten Ansicht mit sich bringt. Eine andere (bewegliche) Linie jedoch, der Horizont, fungiert in diesem Seefahrtsszenario als Orientierungslinie, die zwar all das, was jenseits dieser Linie liegt, ausschließt und vorerst vom Erfahrbaren trennt – wobei sich diese Linie mit der Bewegung jedoch ständig verschiebt. Der Horizont ist zudem nicht nur außerhalb unseres Körpers zu verorten, sondern der Körper selbst ist Erfahrungshorizont. Als zurückweichende Grenze, die dennoch die mögliche Überschreitbarkeit des Gegebenen andeutet, oder als eine sich an jedem Punkt wiederherstellende, desillusionierende Beschränkung des 9 Ebd. 10 Sicher ist das auch eine Lektürehilfe beim Lesen von Stadtplänen, der Entwurfsmodus der Mercator-Karte aber entspringt einem fixierten Betrachterstandpunkt und der entsprechend planen Darstellung.
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Abb. 2: Portolankarte von Pietro Vesconte, 1318 (Franz Wawrik [Hrsg.], Kartografische Zimelien der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 1995).
eigenen Blicks lässt sich dieses Konzept öffnen und schließlich auch auf den Möglichkeitssinn von Weltbildern beziehen.11 Über diese phänomenologische Begründung und die resultierende Notwendigkeit einer technischen Extension entwirft Fuller mit der Dymaxion-Map somit einen Handlungsraum, der über die Verbindung von Körperwissen und Visualisierungsstrategien eine andere Art und Weise des Weltwissens – insbesondere im Hinblick auf die Aufteilung der politischen Räume und Relationen – vorschlägt. Er hinterfragt damit die Bedingtheit, welche die jeweiligen Medien mit sich bringen und welche durch die Wechsel zwischen Modell und Karte verschiedene Blickwinkel eröffnen.12 Die Dymaxion-Map versucht den Rezipienten als Lesenden bereits in den Prozess des Kartografierens einzubeziehen, indem sie die Performanz der Entscheidungsfindung im Akt des Kartenlesens als konstruktiven Akt in den Mittelpunkt rückt – sie stellt insofern die Abstraktionsleistung der Darstel11 Vgl. Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftbildern, Frankfurt am Main 1990; Stefanie Wenner, Vertikaler Horizont. Zur Transparenz des Offensichtlichen, Zürich, Berlin 2004. 12 Vgl. Marco Frascari, Jonathan Hale und Bradley Starkey (Hrsg.), From Models to Drawings. Imagination and Representation in Architecture, London 2007.
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lung von Welt in der Mercator-Projektion zugunsten einer dynamisch-körperlichen Erfahrung in Frage. Sie ist durch Fullers eigene Erfahrung als Segler beeinflusst, und ebenso generiert sie selbst wiederum andere Erfahrungen im Akt ihrer Nutzung und der Neukreation von Raum.
Darstellungsweisen kartografischer Verfahren zwischen Vermessung und imaginativer Projektion Wie wird Bewegung im Raum dargestellt? Mit welchem Ziel und welchen Mitteln?13 Karten verkörpern sowohl Bewegung als auch Stillstand – sie gewähren Überblick und zeigen doch zumeist nur einen Ausschnitt: Wie sie ihn schaffen, auf welche Weise sich verschiedene Darstellungstechniken mischen und mit welcher Absicht sie einhergehen, wird je nach Legende verschieden lesbar. Jedoch kann die Karte weder unterschiedliche Interessen gleichzeitig vereinen noch verschiedene kulturelle Wissensmodi in einer Karte darstellen. Karten verbergen und enthüllen gleichermaßen.14 Die Narrative, welche sie hervorbringen, sind jedoch nicht nur durch Aspekte der Machtaufteilung, des Ökonomischen und geopolitische Interessen geleitet, sondern sie entfalten ebenso generative Aspekte von Fiktion zwischen Mimesis und Konstruktion.15 Sie sind zugleich rekonstruktives Artefakt als auch Entwurf, Vor-Schrift für eine (andere) Erfahrung des Raums. Der operationale Charakter der Karten ermöglicht es, sie als Hilfsmittel zur Orientierung im unbekannten Raum zu fassen, Raum zu strukturieren, zu benennen und so überhaupt erst annähernd gefahrlos zu erkunden. Als Ideogramm solcher Bewegungs- und Orientierungsmuster stellen sie jeweils mehr oder weniger präzise Markierungen zur Verfügung, die sich jedoch nur durch Kenntnis der Legende erschließen. Indem sie etwa die Sicht auf eine Stadt oder geografische Lage aus der Vogelperspektive zeigen und so gleichzeitig ein Bild der Stadt als Übersicht gewähren, fordern Karten nicht nur die Augenbewegung und die Imagination, sondern zugleich auch die körperlich-kinetische Bewegung heraus, ist es ihr Ziel, Handlungspotenzial freizusetzen. Wie aber genau wird das Betrachten der Karte zum anwendungsorientierten Wissen, zu Handlung und Bewegung? Im Zwischenraum der Übertragung vom Lesen in die praktische Umsetzung sind die Interpretationen der Karte und ihr Gebrauch an Kontextwissen und situativ bedingte Reaktionen gebunden. Die Kontingenz dieser Prozesse eröffnet wiederum einen Spielraum. Das kreative Potenzial der Karte ist gebunden an mediale Paradoxa und Störungen; verschiedene Modi der Repräsentation zwischen Bild und Schrift überschneiden sich und schreiben ihre unterschiedlichen Figurationen des Wissens in sich überlagernden Schichten. Denn der Zusammenhang kartografischer Verfahren und der Einteilung von Welt, die sie vermessen, bestimmt sich laut Etymologie wie folgend: Geografie ist als das Zeichnen der Erdformen oder ihr Reißen und Umreißen, Einritzen, Kerben zu verstehen16; der Raum ist somit Produkt grafischer Operationen und stellt seine Gemachtheit aus.17
13 Zu weiteren kartografischen Verfahren: Wolfgang Schäffner, „Operationale Topographie. Repräsentationsräume in den Niederlanden um 1600“, in: Hans-Jörg Rheinberger (Hrsg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997; Edward Casey, Ortsbeschreibungen. Landschaftsmalerei und Kartographie, München 2006; Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München, Wien 2003. 14 Siehe dazu Eva Horn, Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt am Main 2007. 15 So stellen beispielsweise gerade die Leerstellen als Verzeichnungen des unbekannten Territoriums, der „terra incognita“ einen Modus dar, das Bekannte gerade vom Unbekannten aus neu zu generieren, vgl. Robert Stockhammer, TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005. 16 Casey, Ortsbeschreibungen, a.a.O., S. 406 f. 17 Stockhammer, TopoGraphien der Moderne, a.a.O., S. 15; Gilles Deleuze und Felix Guattari, Tausend Plateaux. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 658 ff.
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Der folgende Abschnitt soll den Blick darauf lenken, welche Perspektiven auf politische und kulturökonomische Relationen und Handlungszusammenhänge sich durch die Betrachtung der Aufzeichnung von Bewegung in anderen Gebieten eröffnen und wie das compartimento di terreno in der Choreografie – ähnlich wie bei Fuller – auch das Verhältnis von Bewegung und Aufteilung des Raumes in der engen Verbindung von kinästhetischer Erfahrung und dem steten Abgleich mit den äußeren Koordinaten konzipiert und somit Körperwissen in je situativer Neuorientierung gedacht wird.
Choreografie. Zur Ökonomisierung von Bewegung Um 1700 bildete sich auf dem Gebiet der Choreografie die Tanznotation zu einem Medium heraus, das nicht nur die Art und Weise des Tanzens bestimmte, sondern auch in die Ökonomien des Austauschs von kulturellen Gütern eingriff und im Folgenden den virtuosen Umgang mit choreografischem Material in den Vordergrund rückte.18 Denn erst die Notation ermöglichte durch die analytische Betrachtung die unbegrenzte Rekombination und Verzierung von Figuren. Der französische Tanzmeister Raoul Anger Feuillet entwickelte 1700 eine Tanzschrift, die als erste grafische Notation im Gegensatz zu den bisherigen Beschreibungen des Tanzes räumliche und zeitliche Dimensionen der Bewegungsabläufe verzeichnete und bis heute fortwirkt. Er zeichnete die Bodenwege und unterteilte die Abschnitte entsprechend den musikalischen Takten, einzelne Zeichen am Rande dieser Linie verweisen auf Bewegungsfiguren oder Richtungswechsel. Welche Körperkonzeption aber steht hinter einem Notationsprogramm, das auf der linearen Anordnung und einzelnen Verzierungen beruht und (lediglich) Bodenwege und die Positionen und Figuren der Füße, ihre Höhe, Sprünge etc. verzeichnet, die Bewegungen der Arme, des Torsos, des Kopfes aber vernachlässigt? Die grafische Anordnung verortet den Körper in einem geometrisch determinierten Netz geometrischer Daten, das eine je spezifische Konstellation horizontal-vertikal festgelegter Positionen vorschreibt. Diese Relationalität teilt den Körper in Zentrum und Peripherie und etabliert damit eine Hierarchisierung der Körperteile, die für die Ausformungen und Entwicklungen des höfischen Tanzstils jener Zeit von großer Bedeutung ist. Verblüffend ist – so hebt Foster hervor – die Ähnlichkeit der Darstellung zu klassifizierenden Verfahren, welche zur gleichen Zeit in verschiedenen Wissenschaften, so zum Beispiel der Botanik, stattfinden, die darangehen, die Bestände des Naturraums umfassend zu katalogisieren.19 Die Voraussetzung dafür ist die Überzeugung, die Welt vermessen und so erfassen zu können. „Dance notation subjects all dancing to laws that all movements appear to share.“ So wurde ein vielfältiges Vokabular vereinheitlicht: „The Feuillet system such reflects an approach which, by passing through the universal laws of movement, finally arrived at a kind of universal language of dance, allowing the different traditions to communicate.“ Aber es sind nicht nur die einzelnen Prinzipien, „which govern each movement, but it also teaches the body a new locatedness in space“20, orientiert an fixierten horizontalen Linien, welche zu verinnerlichen sind. Die hier aufgezeigte Entwicklung beschreibt eine Geschichte der Choreografie von Bewegung, ihrer Disziplinierung, Reglementierung und Abstrahierung. 18 Susan Leigh Foster, Oeconomies in Motion. Choreography, Botany, and Lady Credit, unveröffentlicher Vortrag; Mark Franko, Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge 1993. Foster beschreibt auch die Vereinheitlichung im Rahmen einer europäisch zentralisierenden Sichtweise, welche außereuropäische Tänze in kolonialisierender, hegemonialer Weise als exotisierende Elemente eingliedert und die Nivellierung verschiedener nationaler Besonderheiten betreibt. 19 Foster, Oeconomies in Motion, a.a.O., S. 4. Korrespondenzen zur Lebenswissenschaft im Sinne eines Verhältnisses von Normierung einerseits und der Faszination für den Topos des Lebendigen andererseits wären unter Stichworten wie Diversifizierung, Beherrschbarkeit und Phantasma näher zu untersuchen. 20 Ebd.
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Abb. 3: Raoul-Anger Feuillet, Auschnitt aus der Chorégraphie, 1700, im Original in der Bibliothèque-Musée de l’Opéra.
Im Laufe der Geschichte der Tanznotation nach Feuillet wurden Bodenwege und Körperfiguren mittels verschiedener Zeichen und Kürzel verzeichnet21, es sind jedoch nach wie vor Momente des Dazwischen, die den Tanz ausmachen und die nur schwer stillzustellen und zu notieren sind.22 Es wäre also nach den blinden Flecken, den Leerstellen der Methode zu fragen, danach, was die Notation offen lässt oder welche künstlerischen Verfahrensweisen Momente des Offenen, der Desorientierung gerade favorisieren. Betrachtet man Choreografie im Spiegel der zuvor erwähnten Navigationssysteme, muss gefragt werden, welche Aufteilung des Raumes sich ergibt, wenn man die aus dem Verhältnis zum Körper resultierende Relationalität nicht an eine statische Geometrie bindet. Die Aufzeichnung ermöglicht die Analysierbarkeit der Choreografie und so auch Projektion und Antizipation, welche für den Prozess eines improvisatorischen Entwerfens in der zeitgenössischen Choreografie wesentlich sind.23 So erst wird ein souveräner Umgang mit dem choreografischen Material möglich: Die Choreografie ermöglicht den Tanz.
Zur Konfiguration der Stadterfahrung Rückt man den Vorgang des Lesens in den Mittelpunkt der Betrachtungen, so eröffnen sich vielfältige Konfigurationen: „Der kartographische Wahrnehmungsprozess verschränkt auf komplexe Weise Sinnesdaten, Gedächtnisfunktion und aktuellen Erwartungshorizont. Durch Perspektivwechsel und Veränderung der Fokuseinstellung wird Kartographie als Figuration lesbar.“24 Der Akt des Umspringens und die chronotopische Gestalt dieses Aktes ermöglichen erst eine Rezeption des zu Sehenden, ermöglichen es, Differenzen in diesen Prozess einzutragen. Nur in der Vergegenwärtigung, in der zeitlichen Aufspannung zwischen Erinnerung und Antizipation, können verschiedene Taktiken und Strategien kombiniert, kann der choreografische Entwurfsprozess in Gang gesetzt werden. So lässt sich eine eindeutige Lesbarkeit vermeiden. Choreografische Verfahren und ebenso zeitgenössische 21 Siehe dazu Claudia Jeschke, Tanzschriften. Ihre Geschichte und Methode, Bad Reichenhall 1989. 22 Siehe dazu Isa Wortelkamp, Sehen mit dem Stift in der Hand. Die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung, Freiburg im Breisgau 2006. 23 Die Zeit trägt aber auch gewisse Abweichungen in den Verlauf ein, die Möglichkeit der Aufzeichnung oder auch der Vorzeichnung hat Auswirkungen auf das Verhältnis von Erinnerung und Ausführung. 24 Gabriele Brandstetter, „Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung“, in: Bettina BrandlRisi, Wolf Dieter Ernst und Meike Wagner (Hrsg.), Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München 2000, S. 189–212.
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Abb. 4: Guy Debord, Guide psychographieque des Paris, Collage, 1957. (In: Archplus 183 Situativer Kubanismus zu einer beiläufigen Form des Sozialen, hrsg. v. Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo u.a., Aachen 2007, S. 34)
Mapping-Strategien können Relationalität darstellen, Verhältnisse sichtbar machen oder über diagrammatische Herangehensweisen kreative Umgangsweisen mit dem vorhandenen grafischen Material ermöglichen. Ausgehend von der Wechselbeziehung zwischen dem Lesen und Beschreiben des Raumes kann das „Karte machen“ im Sinne von Deleuze und Guattari als eine produktive Tätigkeit verstanden werden, die im Gegensatz zur Kopie die Differenz betont, denn „die Karte […] ist selber ein Teil des Rhizoms. Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Verbindungen aufnehmen.“25 Sie kann, wie eingangs am Beispiel der Fuller’schen Dymaxion-Map deutlich wurde, nicht nur Zeichnung, sondern gleichzeitig bereits Modell von etwas, aber vor allem auch Modell für ein Neues sein, sie fordert die kreative Tätigkeit heraus und verweist auf die Unterschiede von Wissen und Können – auf die Kompetenz des Nutzers im Umgang mit dem Medium der Karte und die Performanz der umzusetzenden Handlungsanweisungen.26 Im Vergleich zu Fullers Dymaxion-Map möchte ich auf eine weitere Herangehensweise im kreativen Umgang mit Karten hinweisen, die sich jedoch insofern unterscheidet, als sie noch mehr den Vollzug als das Objekt in den Mittelpunkt stellt. Im Kontext der städtebaulichen Utopien der 60er Jahre wurden von Architektenteams wie zum Beispiel Superstudio oder Archizoom verschiedenste kartografisch inspirierte Konzepte des Entwer25 Deleuze und Guattari, Tausend Plateaux, a.a.O., S. 24. 26 Vgl. Bernd Mahr, „Modellieren. Beobachtungen und Gedanken zur Geschichte des Modellbegriffs“, in: Sybille Krämer und Horst Bredekamp (Hrsg.), Bild – Schrift – Zahl, München 2004, S. 59–86, bzw. Frascari, Hale und Starkey, From Models to Drawings, a.a.O.
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fens entwickelt; sie knüpften mit Konzepten wie non-plan und as found an die Situationisten an, die ein Jahrzehnt zuvor die Umfunktionierung des Bestehenden gefordert hatten.27 Ausgehend von der Aufteilung der Stadt in verschiedene unitées d´atmosphère und der Erforschung der unmittelbaren Wirkung der geografischen Umwelt auf das Gefühlsleben mittels der Psychogeografie setzen diese das Konzept der dérive als Strategie des Umherschweifens in der Nachfolge der Flanerie ein und das détournement als Zweckentfremdung traditioneller Kartografie, mit deren Hilfe jene Erfahrungen dargestellt werden sollen28: „Les secteurs changent constamment de forme et d’atmosphère selon les activités qui y prennent place. Personne ne peut revenir en arrière, retrouver l’endroit qu’il avait quitté précédemment, l’image qu’il avait gardée en mémoire. Personne ne tombe plus dans le piège des habitudes.“29
Fünfzig Jahre später ist die situationistische Utopie durchaus umzudeuten in ein weniger positiv besetztes Szenario: Die geforderte Flexibilität, der Zwang zum ständigen Improvisieren lassen eher an Modelle des neuen flexiblen Menschen, an kapitalistische Handlungslogik und neoliberale Selbsttechnologie denken. Wie aber ließe sich der subversive Charakter der dérive und des detournement heute entgegen einer Verwertungslogik produktiv machen? Wie könnte das Kartografieren als Modus kritischer Produktion wirksam werden? Welche Form der Kartografie und welcher Umgang damit wären denkbar? Das Gehen als emanzipatorische Praxis in der Nachfolge der dérive stellt eine mögliche künstlerische Strategie dar30, auf die im abschließenden Teil explizit Bezug genommen wird. Darüber hinaus werden in Architektur und Städtebau zunehmend partizipatorische Planungsstrategien relevant, welche anschließen an jene Utopien, die Fragen der Produktion des Raumes, der Wahrnehmung von Stadt thematisierten.31 Sie stellen die Teilhabe am öffentlichen Raum und die Teilnahme an seinen Ereignissen in den Vordergrund. Wie könnten die Entwurfsweisen aussehen, mittels derer räumliche Relationen etabliert werden, die offen genug sind, sich ständig neuen Anforderungen anzupassen? Und wie könnte eine Beschreibung dieser Relationen aussehen, die gleichzeitig erfasst, was unsere Orientierung in einer Stadt ausmacht – jenseits einer reinen Überblicksdarstellung oder Aufsicht? Und schließlich: Wie ließe sich über die kinästhetischen Erfahrungen hinaus das affektive Potenzial des städtischen Umraums beschreiben? Jenseits dessen, was Karten verzeichnen, wäre also nach dem imaginären Potenzial zu fragen, das die Stadt mitbestimmt. Damit sind zum einen die affektiven Qualitäten stadträumlicher Erfahrung und zum anderen Erinnerung und imaginatives Potenzial herausgefordert. Was macht das Bild der Stadt, die man bewohnt oder besucht, aus? Welche Konfigurationen ergeben sich aus den verschiedenen atmosphärischen Qualitäten, die sich durchaus nicht nur mit einem diffusen Vokabular umschreiben, sondern sehr genau fassen lassen, denn sie ergeben sich unter anderem durch Faktoren wie die Dichte der Bebauung, die Materialität der Baustoffe usw. Architektur wäre dementsprechend nicht lediglich auf die Fassade als Medium zu reduzieren, sondern die Stadt wäre als Modell – als
27 Vgl. Jonathan Hughes und Simon Sadler (Hrsg.), Non-Plan. Essays on Freedom Participation and Change in Modern Architecture and Urbanism, Oxford 2000; Sabrina van der Ley und Markus Richter (Hrsg.), Megastructure reloaded. Visionäre Stadtentwürfe der sechziger Jahre reflektiert von zeitgenössischen Künstlern, Berlin 2008. 28 Siehe dazu Anh-Linh Ngo, „Vom Unitären zum Situativen Urbanismus“, in: Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh Ngo, Martin Luce und Carolin Kleist (Hrsg.), Situativer Urbanismus. Zu einer beiläufigen Form des Sozialen, Archplus, Nr. 183, Mai 2007, S. 21. 29 Constant, New Babylon, 90, in: Hanno Ehrlicher, „L’espace à la dérive. Situationistische Raum-Bewegungen und ihre Folgen“, in: Franck Hofmann und Jens-Emil Sennewald (Hrsg.), Raumdynamik. Beiträge zu einer Praxis des Raumes, Bielefeld 2005, S. 283. 30 Vgl. Francesco Careri, Walkscapes. Walking as an Aesthetic Practice, Barcelona 2002. 31 Kuhnert, Ngo, Luce und Kleist (Hrsg.), Situativer Urbanismus, a.a.O.
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Erkenntnisinstrument und Theater zu betrachten.32 So ist Architektur weder allein durch Repräsentation, Funktion, symbolische Referenz oder durch die phänomenologische Erfahrung bestimmter Formen und Materialien, Durchgänge, Öffnungen und Schließungen fassbar, sie bestimmt sich vor allem durch die Aktionen der Passanten und Bewohner, die so neue Handlungsräume erschaffen. Jene städtebaulichen Projekte, die auf die Partizipation ihrer Bewohner setzen, favorisieren die Orientierung an der Situation vor Ort: Entgegen der funktionalen Segmentierung des Stadtraumes in Einkaufs-, Touristen-, Erholungs-, Freizeit- und Industriezentren versuchen sie die atmosphärische Einheit des Quartiers zu unterstützen, anstatt dessen zunehmende funktionale Segregation zu betreiben. So sind diese aber auch nicht als Planungsinstrumente linear und funktional anwendbar, sondern je nach Fallbeispiel unterschiedlich zu handhaben. Sie legen den Akzent eher auf die improvisatorische Handlungsfähigkeit, welche in den Freiräumen einer solchen Planungsform entstehen kann, und stellen damit eine Art „Ermöglichungsarchitektur“ dar, die gerade durch jenen Aspekt der ephemeren Bewegung durch die Stadträume gekennzeichnet ist und die Handlungsmodelle zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn eröffnet. Möglichkeit und Verwirklichung werden performativ ausgehandelt. Sie stellen damit einen Entwurf von Raum dar, der wiederum zur Produktion von Räumen, seien sie imaginär oder real, und zu einem regelgeleiteten Improvisieren in der Stadt anregt.33
Mnemonic nonstop. Erfahren, Erinnern und Umschreiben räumlicher Erzählungen – Affekte und Effekte der Stadterfahrung Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen möchte ich ein Beispiel choreografischer Praxis beschreiben, das sich auf Strategien der situationistischen dérive stützt und das Aspekte der identitätsstiftenden Narrative der persönlichen Archäologie zu kartieren sucht und Erinnerungsspuren in Choreokartografien überträgt. Sowohl das Navigieren in der Stadt, die Erfahrung räumlicher Aufteilungen wie auch grafische Prozesse werden hier in ein choreografisches Mapping übertragen. Die Berliner Choreografen Martin Nachbar und Jochen Roller initiierten 2005 mit ihrem Duett mnemonic nonstop eine choreografische Recherche. Ihre leitende Frage war dabei: Wie lässt sich Stadterfahrung in Choreografie ausdrücken? Während verschiedener Probephasen in Tel Aviv, Brüssel, Zagreb und Berlin sammelten Nachbar und Roller diverses Material zu ihrer Performance und einer Ausstellung, die als ein Teil der Aufführung selbst konzipiert war.34 Aus Fundstücken, Objekten, Fotografien ergaben sich kleine, spezifische Narrative – persönliche Stadterzählungen, welche die Linearität gewöhnlicher Touristenrouten unterlaufen und auch die alltäglichen Erfahrungen der Stadtbewohner durch die Kontextverschiebungen anders rahmen. So entstehen gleichzeitig Brüche in den „spatial narratives“35, Überlagerungen verschiedener Schichten. Jeder Raum ist durchdrungen von einem komplexen Netz sich berührender sozialer und psychologischer Erzählungen, zeitlich institutionalisierte Praktiken gestalten den Raum und machen ihn wie32 Ludger Schwarte, „Die Stadt als Bild“, in: Performativ? Architektur und Kunst, hrsg. v. Margitta Buchert und Carl Zillich, Berlin 2006, S. 114–125, hier: S. 119. 33 Kuhnert, Ngo, Luce und Kleist (Hrsg.), Situativer Urbanismus, a.a.O. 34 Martin Nachbar und Jochen Roller, mnemonic nonstop. Ein kartographisches Duett, eine Produktion vom Steirischen Herbst Graz in Koproduktion mit Klapstuk Leuven, gefördert vom Fonds Darstellende Künste, unterstützt vom Suzanne Dellal Center Tel Aviv, mimecentrum Berlin, Tanzfabrik Berlin und EkS-scena Zagreb. Ich beziehe mich auf eine Aufführung in den Sophiensaelen und auf ein Gespräch, das im Rahmen des Seminars TanzOrte an der FU Berlin im November 2007 stattfand. Zusätzliches Material ist auf der beigefügten DVD zu sehen. 35 Mark Rakatansky, „Spatial Narratives“, in: John Whiteman, Jeffrey Kipnis und Richard Burdett (Hrsg.), Strategies in Architectural Thinking, Cambridge, Massachusetts 1992, S. 198–222.
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KIRSTEN MAAR
Abb. 5: Martin Nachbar und Jochen Roller, mnemonic nonstop (Foto: Kathrin Schoof ).
derum zu einem institutionalisierten Raum.36 Mittels Algorithmen, dekontextualisierten Plänen und kurzen Sequenzen choreografierter Bewegung ergab sich ein vielschichtiges Mapping, welches ähnlich wie eine dérive funktionierte. Das Ziel, die Nicht-Effizienz von Bewegung zu genießen, welche im Tanz ebenso wie in der Flanerie angelegt ist, wäre hier als subversives Moment zu verstehen, welches die alltägliche Routine der geübten Bewegung in der Stadt durchbricht, die Intentionalität von Bewegung unterläuft. Einlass: Im Hintergrund der Bühne stehen zwei Stühle, zwei Folien auf Kartenständern, wie man sie aus dem Geografieunterricht erinnert, zwei Mikros stehen davor. Man hört Applaus, die Bühne bleibt jedoch leer – ein „good evening“ ertönt – Martin Nachbar geht zum Projektor links und markiert eine Linie – wieder gibt es zwei Takte Curtis Mayfield – die Musik stoppt – Jochen Roller tritt auf – Nachbar hat inzwischen eine längere Route eingezeichnet – Roller zeigt eine erste Position plié, er hebt einen Arm entsprechend der klassischen Position, und dann entwickelt er von der Ellenlänge ausgehend Bewegungsmaterial, das aussieht, als wolle er den Raum mit seinen Gliedmaßen vermessen – eine Vermessung, die aber nirgends ankommt, nie endet. Zugleich wird sichtbar, wie der Körper als Modul, als Maßstab für den zu vermessenden Raum dient, jedoch diese Funktion nur teilweise, nur mangelhaft erfüllen kann, stets wieder dem der zu geraden Linienführung entschlüpft. – Die Karte ist inzwischen durch mehrfache Überlagerung vielfarbiger Folien unlesbar geworden. Das Nebeneinander choreografischen Bewegungsmaterials, das wiedererkennbar, aber auch im Kontext einer Vermessung zu lesen ist, und der Zeichnung bzw. Kartografie macht deutlich, wie eng die beiden Techniken hier voneinander abhängen. Im Verlauf des Stückes werden diese Parameter immer wieder aufgegriffen und neu verhandelt, so zum Beispiel wenn nicht nur Texte und Grafiken übereinandergeblendet werden, sondern die Karte des Körpers mit einer Projektion einer Stadt oder eines Gebäu-
36 Henri Lefèbvre, „Die Produktion des Raums [1974]“, in: Jörg Dünne und Stephan Günzel, Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 330–342.
DIE ERFINDUNG DER KARTOGRAFIE IM MODUS DES CHOREOGRAFISCHEN
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deplans übereinandergelegt wird. Absurde Größenverhältnisse entstehen, Relationen und Zuordnungen kommen ins Wanken, der Kommentar „verlaufen im Lungenflügel“ verlegt die dérive direkt in den menschlichen Körper. Plötzlich findet man sich im Westflügel des Flämischen Gesundheitsministeriums wieder – dieses und das im Ostflügel untergebrachte belgische Staatsfernsehen befinden sich zwar in einem Haus, durch das jedoch die Grenze verläuft, ebenso wurde durch das eingeführte Rauchverbot eine weitere Grenze etabliert, so dass es zu „Migrationsbewegungen“ innerhalb des Gebäudes kam. – Das Übereinanderschieben der Gebäudepläne wird wiederum kontextualisiert durch Erinnerungen an die Grenzsituation, wie sie Roller an der Sonnenallee erlebte … – Die Überblendung der Karte von Tel Aviv und derjenigen von Berlin etabliert eine weitere Ebene. So versuchen Nachbar und Roller Schichten von Erfahrungen im Gedächtnis anzulagern; es vermittelt sich, auch für den Zuschauer im Theater, wie Stadterfahrung zum Teil durch die Übertragung bereits bekannter Erfahrungen aus anderen Kontexten entsteht. Gerade durch die spezifische Materialität, die Objekthaftigkeit der Sammlungen, das Untersuchen von alltäglichen Handlungen und Gesten und deren Überlagerungen wird die Erinnerung gestützt und durch die je eigenen sich daraus entspinnenden Imaginationen um persönliche Settings erweitert. In der Aufführung wird es möglich, diese in mannigfaltigen neuen Kombinationen aufeinander zu beziehen – in einer beständigen Horizontverschiebung. In einem begleitenden Text beschreibt Martin Nachbar eine der vorbereitenden, im Berliner Stadtraum durchgeführten dérives, in der es darum ging, einem unbekannten Passanten für längere Zeit zu folgen und so die eigene direktional gerichtete Intentionalität aufzugeben.37 Das Gefühl, dabei die Grenzen des Diskreten, der Privatheit zu überschreiten, in andere Formen der (situationistischen) Stadterfahrung einzutauchen und sich dabei selbst zu verlieren, schließt den Kreis zu den anfänglichen Überlegungen: das Navigieren im Stadtraum, die Erfahrung der Desorientierung, die durch die Überlagerung sichtbar werdende politische Aufladung aufeinander bezogener Situationen. Nur durch die performative Aufführung sind jene vielschichtigen Aspekte gleichzeitig sichtbar zu machen, werden die vorab erwähnten politics of cartography and choreography erfahrbar. Die Erfahrung von Kontingenz ergibt sich mit jeder hinzugefügten Entscheidung für eine Bewegung, ihre Richtung und Intention und schafft den Rahmen für die nächste Bewegung, wie es Nachbar und Roller in einem kurzen Dialog reflektieren: Why are you here? To work. What do you work? I am performing. What do you perform? Dance. What are your dances about? Cities. How do you dance cities? I don’t know. How do you find out? Step by step.
Weiteres Material zu mnemonic nonstop auf der beiliegenden DVD.
37 Martin Nachbar, „How to become a trespasser or how to produce a crack in the map“, in: Etcetera, Dezember 2005, http://www.sarma.be/text.asp?id=1279 (aufgerufen: 1. Dezember 2008).
ISA WORTELKAMP
Choreografien der Landschaft Feldstudien von Junko Wada und Hans Peter Kuhn
Feldstudien im Tal, 23. Juni 2007 Der Wald gibt den Blick auf eine große Wiese frei. Ein Weg führt zu einem hölzernen Bau. Graublau der Himmel. Regennasse Luft. Rauschen der Bäume. Stimmen von Vögeln. Schritte durch kniehohes Gras. Im Gehen nehmen die Geräusche zu. Bekannte und unbekannte. Als hätte sich auf dem Weg allmählich alles verändert, alles verdichtet, was in der Luft lag. Als wäre die Umgebung Klang geworden. Als könnte man das Sehen hören. Ohne die Grenzen des Übergangs unmittelbar wahrnehmen zu können, ist man in einen anderen Raum eingetreten. In einen Raum von künstlich anmutenden Klängen, die von den natürlichen Geräuschen aus der Umgebung von Feld, Wald und Wiese, von Tier und Mensch abweichen und diese doch in sich aufzunehmen scheinen. Innerhalb dieser Abweichung aber verkehren sich die Klangräume des Künstlichen und des Natürlichen, kehren sich ineinander. Die Grenzen dieser Räume vergehen im Gehen, im Übergang und im Vorübergehen: en passant. Auf den erhöhten Stufen des Holzbaus sitzend, hat man die Aussicht auf eine zum Horizont hin ansteigende Wiese, die mit dem Wechsel von Sonne und Wolken in unterschiedlichem Licht erscheint. Mit den Bewegungen innerhalb der Landschaft vergehen Raum und Zeit. Zeit zu sehen und zu hören. Irgendwann und irgendwo zwischen Grün und Grau erscheint ein gelber Punkt. Sonnenblumengelb. Es ist das Gewand einer Tanzenden, die inmitten des Grases auftaucht und sich von dort aus den Hang hinabbewegt. Langsam beginnt sie ihren Weg. Wie Fühler streben dabei die Arme in den Raum, ertasten die Hände und Fingerspitzen die Luft. Gelenkig und windend umspielen die Gliedmaßen den unmittelbaren Umraum des Körpers. In das Gewand gehüllt, nimmt der Körper Raum ein, gestaltet ihn in der und durch die Bewegung. Allmählich kommt die Tänzerin den Hang hinab, den Stoff durch ihre Bewegungen aufspannend oder mit ihm im Gras verschwindend. Sichtbar und unsichtbar durchschreitet sie so den Raum, der von den Klängen und Geräuschen durchdrungen ist. Über die Entfernung hinweg scheinen sich die Bewegungen der Tänzerin durch den Klang zu übertragen und zu verstärken – Schallwellen des Körpers. Kaum merklich wird es leiser. Mit den Bewegungen des Tanzes nehmen auch die des Klanges ab. Die Tänzerin ist am Fuß des hölzernen Baus angekommen. Ganz allmählich kommt sie auf die Zuschauer zu, die ihrem Gang weichen, um ihr die Treppe freizugeben, an deren oberem Ende sie sich im Holzbau den Blicken entzieht. Tropfen des erneut einsetzenden Nieselregens legen sich auf die Haut. Einige der Zuschauer spannen Schirme auf. Ihren eigenen Raum überdachend, nehmen sie den Weg durch die Landschaft wieder auf.
Verstärkung von Bewegung und Klang In Feldstudien treten die hochgradig fragilen und artifiziellen Bewegungen der Tänzerin Junko Wada in Verbindung zu den übernatürlich anmutenden Klängen und Geräuschen von Hans Peter Kuhn. An verschiedenen Stellen sind im hohen Gras Lautsprecher installiert, welche die Komposition Hans Peter Kuhns übertragen. Auf natürliche Geräusche aufbauende, elektroakustische Klänge vermischen
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sich mit den Geräuschen der unmittelbaren Umgebung: Vogelstimmen, das Muhen der Kühe, Traktoren, rauschende Blätter, Gräser. In dieser Umgebung erscheint der Tanz wie aus dem Nichts und verbindet sich mit den Klängen und Geräuschen, die sich ihrerseits durch den Raum bewegen, indem sie ihn um- und abgrenzen, ihn, mal leiser und mal lauter hörbar werdend, verlassen oder ausfüllen. Auf diese Weise verstärkt die Komposition des Klanges die Choreografie der Bewegung so, wie umgekehrt die Choreografie der Bewegung die Komposition des Klanges verstärkt. Dieser Eindruck der „Verstärkung“ bezieht sich auf eine gesteigerte – oder eben verstärkte – Aufmerksamkeit für Bewegung und Klang, die sich kaum mehr in eine rein visuelle bzw. auditive Erfahrung aufteilen lässt, sondern dergestalt zusammenwirkt, dass sich Seh- und Hörraum in der Wahrnehmung ineinanderkehren und überlagern. Jene Wahrnehmung scheint nicht zuletzt in dem offenen und weiten Raum dieser Landschaft begründet, in dem die Aufführung unter einem Tanz und Klang, Zuhörer und Zuschauer überziehenden freien Himmel in Erscheinung tritt. Dabei werden eben die Grenzen des künstlich-künstlerischen und des natürlichen Raumes ungewiss und in dieser Ungewissheit erfahrbar. Mit der Ungewissheit gerät auch der eigene Standpunkt, von dem aus Klang und Bewegung in der Landschaft wahrnehmbar werden, ins Wanken. Diese Ungewissheit führt den Zuhörer und Zuschauer dazu, sich seiner eigenen Anwesenheit in diesen Räumen zu vergewissern und damit sich selbst wahrzunehmen – sich zu vernehmen: als Gehender in seinem Gang, als Sehender in seinem Sehen, als Hörender in seinem Hören. Indem Feldstudien diese Verbindung von Sehen, Hören und Gehen choreografisch und kompositorisch in Szene setzt, kehrt die Aufführung eine Wahrnehmung hervor, die den Gang durch eine Landschaft immer schon mit bedingt: eine Wahrnehmung im Vorübergehen und im Vorbeigehen. Der Gehende passiert den Raum, der durch seine unterschiedlichen Formen der Be- und Entgrenzung, der Über- und Durchgänge, der Steigungen und Neigungen unseren Körper veranlasst, sich immer wieder anders zu halten und zu verhalten, zu verweilen oder fortzuschreiten. Im Gehen wird der Boden unter den Füßen spür- und hörbar, wird der Weg durch die Bewegung des Körpers zurückgelassen. Im Gehen rückt das Ferne nah, kommen Klänge näher oder kommt der Körper den Klängen näher, um sie dann wieder hinter sich zu lassen, um ihnen zu folgen oder von ihnen verfolgt zu werden. Landschaft wird als ein Hör- und Sehraum wahrnehmbar, der sich allererst im Gehen erschließt. Mehr noch: Die Komposition der Klänge verstärkt eine Wahrnehmung von Landschaft, die an Bewegung gebunden ist.
Im Tal Die Anhöhe, auf der am 23. Juni 2007 Feldstudien von Junko Wada und Hans Peter Kuhn anlässlich eines Symposiums zum Thema „Choreographien der Landschaft“ entwickelt und aufgeführt wurde, ist Teil der zehn Hektar umfassenden Skulpturenlandschaft im Tal in Hasselbach im Westerwald.1 Ihr Name beschreibt zugleich ihre Lage. Die Talsohle, die sich entlang eines Flusslaufes erstreckt, ist durch Erdarbeiten, Bepflanzungen und Bebauungen von Architekten und Landschaftsarchitekten gestaltet. Mähwege führen den Besucher an mehr als 40 Arbeiten von zeitgenössischen bildenden Künstlern2 vorbei, die auf die jeweiligen Situationen der Landschaft antworten. Der Holzbau von
1 Die Skulpturenlandschaft im Tal wurde 1986 begründet von Erwin Wortelkamp. Bei dem Symposium handelt es sich um eine wissenschaftliche Veranstaltung, die alljährlich in der Anlage zu Themen von Landschaft, Raum und Wahrnehmung vom Kunstverein Hasselbach e. V. in Kooperation mit dem Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur in Rheinland-Pfalz durchgeführt wird. Choreographien der Landschaft wurde kuratiert von dem Kunstwissenschaftler Jörg van den Berg (Columbus Art Foundation, Ravensburg) und der Tanz- und Theaterwissenschaftlerin Isa Wortelkamp (Freie Universität Berlin). 2 Darunter Joachim Bandau, Claus Bury, Johannes Brus, Gloria Friedmann, Katzuo Katase, Ansgar Nierhoff, James Reineking, Jo Schöpfer, Fritz Schwegler.
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Claus Bury, auf dem das Publikum an diesem Tag Platz nimmt, ist eine davon. Dabei zeichnet sich die Anlage im Tal jenseits eines musealen Raumes vor allem durch eine akzentuierte Ausrichtung von Blick- und Sichtachsen sowie durch eine klare Anordnung von Wegen und Räumen aus, die einen Dialog von Kunst und Betrachter ermöglichen. Hier begegnet der Gehende der Kunst stets „auf dem Weg“, der durch den gestalteten Landschaftsraum – entlang an Bachläufen, durch Gräben und Wälder, über Brücken und Treppen – beschrieben wird. Neigungen und Steigungen verändern den Schritt im Wechsel des Untergrundes von Gras, Waldboden, Holz und Steinen. Hecken und Bäume führen mit dem Blick auch den Körper, geben und nehmen ihm Raum. Sie ebnen dem Zuschauer an diesem Tag den Weg zum Ort der Aufführung. Feldstudien ruft jene an Bewegung gebundene Wahrnehmung von Landschaft in Erinnerung, ruft sie ab oder hervor und bereitet vor: auf die weiteren Schritte durch die Landschaft, die diese ebenso gestalten, wie sie von ihr gestaltet werden. In diesem – durch Feldstudien sensibilisierten – Sinne wird hier von Räumen der Landschaft und im Folgenden auch von jenen der Architektur die Rede sein: als ge- und umbaute Räume, die sich allererst in und durch Bewegung erschließen. Im Blick auf Tanz im öffentlichen Raum von Landschaft und Architektur werde ich der Frage nachgehen, ob jene Weg- und Bewegungsführungen, Haltungs- und Handlungsanweisungen, Blick- und Sichtachsen, die den gestalteten Raum prägen, selbst als Choreografien zu denken wären. Und wenn ja, wie nehmen wir diese Choreografien wahr? Was machen sie mit uns, was machen wir mit ihnen? Was macht Tanz im offenen und öffentlichen Raum mit jenen Choreografien? Ich meine jenen Tanz, der wie der Junko Wadas die direkte und konkrete Auseinandersetzung mit dem ge- und umbauten Raum von Architektur und Landschaft sucht. Diese Auseinandersetzung wird mit der Verlagerung des Tanzes innerhalb des Postmodern Dance in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Räume außerhalb der Theaterbühnen – wie in Kirchen, Sporthallen, Fabrikgebäuden oder Galerien – zur Grundlage choreografischer Arbeit. In ihren Equipment Pieces (1968–1972) lässt die amerikanische Tänzerin und Choreografin Trisha Brown Performer im aufrechten Gang die Wand eines Gebäudes von oben herab auf den Zuschauer zulaufen oder waagrecht zum Boden die Wände des Whitney Museums begehen. In Primary Accumulation (1972) säumen Performer den Weg oder schwimmen an der Oberfläche des Sees im Loring Park von Minneapolis. Im zeitgenössischen Tanz choreografiert Junko Wada in Seen, auf Feldern, auf städtischen Plätzen und in Galerien; entwickelt Anna Huber ihre Choreografien in öffentlichen Gebäuden von Architekten wie Peter Zumthor, Jean Nouvel und Zaha Hadid oder setzen Projekte des Performancekünstlers Walter Siegfried und der Choreografin Angie Hiesl sowie von Tanzgruppen wie „Annas Kollektiv“ oder „ArchitekTanz“ Bewegung an Fassaden, in U-Bahnschächten oder Parkhäusern in direkte Beziehung zur urbanen Architektur. Tanz weist durch die Umkehrung und Umwendung gängiger Wege und Muster, durch die Neuund Umfunktionalisierung von Alltagsräumen auf ein Potenzial von architektonischen und landschaftlichen Räumen, das ich als ihr choreografisches Potenzial verstehe. Tanz, der jenes Potenzial zum Motor seiner Bewegung werden lässt, fordert auf, andere und eigene Wege zu gehen, anders und eigen mit den Be- und Entgrenzungen des um- und gebauten Raums umzugehen. Zuallererst aber fordert Tanz den Zuschauer, der zugleich Besucher dieser Räume ist, dazu auf, diese wahrzunehmen: in ihren verschiedenen Möglichkeiten, sie zu ergehen und zu erfahren. In und durch die Bewegung werden im Wechsel von Schneisen und Fluren, von Engen und Weiten, von Schwellen und Passagen, von Fluchten und Ebenen die verschiedenen Räume zugänglich – werden im Gehen hervorgebracht. Gleichzeitig setzen die Gestaltungen jener Räume Bewegungen unseres Körpers frei und fort, be- und entgrenzen sie, verlangsamen oder beschleunigen sie, halten sie an, kehren sie um – schreiben sie (vor). Diese Bewegungsschrift jedoch liegt im Verborgenen, ist im Raum eingetragen und enthalten. Erst im körperlichen Nachvollzug wird sie sicht- und lesbar. Diese Übertragung in und durch die Bewegung lässt sich als eine Übertragung der Bewegungsschrift in ein Schreiben von Bewegung den-
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ken. Dabei kommt diese Verbindung von Schrift und Schreiben von Bewegung dem nahe, was der Begriff der Choreografie mit sich bringt. Dieser trägt beides in sich: jene einer ursprünglichen – tanzhistorischen – Bedeutung als Notation und Partitur sowie die des ephemeren und performativen Prozesses von Bewegung. Schrift und Schreiben sind in der etymologischen Bedeutung von Choreografie an choros, den Raum des Tanzes, gebunden. „χορσς, δ. 1. ep. Reigen, Tanz-platz […]. – 2. Reigen, Chor-tanz, Tanz meist bei feierlichen Gelegenheiten zu Ehren der Götter ausgeführt, bsd. Zur Dionysosfeier (um den Altar: …). … Reigentanz aufführen. Meist war der Tanz mit Gesang verbunden, daher auch: Chor-gesang, -lied, meton. tanzende und singende Schar, Chor der Tänzer und Sänger (bsd. im Drama). […] Übh. (geordnete) Schar, Hause, Menge, Abteilung, Trupp, Reihe, Kreis. E. Wohl zu √ gher (vgl. χορτσς) = was etwas faßt, in sich schließt […].“3
Platz, Altar und Kreis beschreiben jene Räume, in denen die Bewegung in Erscheinung tritt und zugleich die Zeit des Verschwindens einsetzt. Träger des Tanzes ist die Bewegung des Körpers, die im Raum ihres Ereignisses keine Spuren hinterlässt, ihn mit jedem Augenblick ihres Erscheinens immer auch wieder verlässt. An dieser (Leer-)Stelle verbindet sich choros, der Tanz, und mit ihm der Raum „seiner“ Bewegung mit dem gráphein als Verfahren des Schreibens und der Verschriftung. „γραϕω I. Akt. 1. ritzen, einritzen, eingraben […] zerschneiden. – 2. in Wachs, Holz, Stein, Metall usw. Zeichen einritzen. Insb.: a) zeichnen, malen […]; bsd. (mathem.) etw. beschreiben = konstruieren. b) schreiben […]; insb.: α) etw. auf-, nieder-schreiben, schriftlich aufzeichnen, (in ein Verzeichnis) eintragen, etw. verfassen; auch beschreiben, schriftlich darstellen. νσμον ein Gesetz schriftlich abfassen od. geben, einführen […] β) j-m etw. schriftlich melden […], brieflich mitteilen, auftragen, vorschreiben, schriftlich festsetzen od. anordnen; insb. j-n schriftlich zu etw. bestimmen od. als etw. bezeichnen […] γ) etw. schriftlich beantragen, […] abs. einen Antrag stellen […] c) etw. beschreiben = mit einer Inschrift versehen […] E. √ gerph einritzen, ahd. kerfan = nhd. kerben; lett. grebju, a/e. ceorfan, engl. to carve schnitzen […].“4
Dabei wird im griechischen gráphein das Schreiben und seine vielleicht ursprünglichsten Bedeutungen von Ritzen, Einritzen und Eingraben lesbar. Und damit die Eigenschaft der zeitlichen und räumlichen Ein- und Festschreibung von Schriftzeichen in einen Stoff und damit in Zeit und Raum.
Choreografie – eine historische Skizze Es ist diese Bedeutung von gráphein, die den Begriff Choreografie in der Geschichte des Tanzes wesentlich geprägt hat.5 So bleibt in der begrifflichen Verwendung bis ins 19. Jahrhundert die fixierende und materialisierende Dimension von Schreiben im Sinne der Inskription vorherrschend: Choreografie wird, einem heutigen Verständnis von Notation entsprechend, mit Tanzschrift gleichgesetzt. Erstmals gegen 1588 von Thoinot Arbeau in seinem Tanzlehrbuch Orchésographie6 thematisiert, bezieht sich die choreografische Tätigkeit auf die Notierung von kodifizierten Tanzschritten und -figuren mit Hilfe von Wortkürzeln. Auch Raoul Auger Feuillets nennt im späten 17. Jahrhundert die systematische Tanznotation der Schule von Charles-Louis Beauchamp, Tanzmeister am Hofe Ludwigs XIV., Chorégraphie.7 Im 19. und einsetzenden 20. Jahrhundert tritt der schriftliche Aspekt der Choreografie
3 Hermann Menge und Otto Güthling, Griechisch-deutsches Wörterbuch, Berlin-Schöneberg 1913. 4 Ebd. 5 Vgl. Claudia Jeschke, „Tanz als BewegungsText“, in: dies. und Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.), Bewegung im Blick, Berlin 2000. 6 Thoinot Arbeau, Orchésographie. Réimpression précédée d’une notice sur les danses du XVIe siècle par Laure Fonta, Paris 1888. 7 Raoul Auger Feuillet, Chorégraphie ou l’art de décrire la danse par caractères, figures et signes démonstratifs [1700], Hildesheim, New York 1979.
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zurück, da die Notation des Tanzes nicht mehr für zwingend notwendig erachtet wird. Mitte des 20. Jahrhunderts entstehen Anleitungen zum choreografischen Handwerk, die den Begriff um die Erfindung von Bewegung und ihre Verteilung und Anordnung im Raum erweitern. Heute wird Choreografie gemeinhin im Sinne der Komposition und Produktion von Tanzstücken verwendet, die sich in der Aufführung aktualisiert und realisiert, während der Begriff der Tanznotation die Systematisierung und Fixierung von Bewegungsabläufen bezeichnet. Diese Begriffsverwendung steht im Kontext der Veränderungen der choreografischen Verfahren innerhalb des Tanzes selbst.
Drei Seiten einer Medaille Den etymologischen und historiografischen Dimensionen von „Choreografie“ folgend, wird auf der einen Seite eine Bewegungsschrift im Sinne einer Notation und Partitur sichtbar und auf der anderen ein Schreiben von Bewegung im Sinne eines prozessualen und performativen Aktes. Beide Seiten sind verbunden durch den Raum choros, in dem die Bewegung in Erscheinung tritt, indem sie Raum einnimmt, ihn er- und anfüllt. In diesem Raum zwischen Schrift und Schreiben ereignet sich die Lektüre eines Textes, die sich, nach Michel de Certeau, auch auf die Architektur einer Stadt oder einer Landschaft übertragen ließe. Jener Zwischen-Raum wäre vergleichbar mit der dritten Seite einer Medaille, ihrer Kante, auf der die Dinge in Bewegung geraten – die Lektüre einsetzt. Es ist jene Lektüre, die ich mit de Certeau als eine tätige verstehen möchte: als einen prozessualen Akt und eine produktive Aktion. Entgegen einem durch die Tradition der Schriftkultur bedingten Konzept von Lesen als einer passiven und rein rezeptiven Tätigkeit, hebt de Certeau in Die Kunst des Handelns die Lektüre als eine „dem ‚Leser‘ eigene Produktion“8 hervor. Der Begriff „Lektüre“ leitet sich von lectio her, der Auswahl und Auslese, die in der aktiven und produktiven Selektion den Status von Schrift als fixierendes System unterläuft. Dabei wird bei de Certeau die Bewegung des Lesens der Bewegung des Gehens gleichgesetzt, indem er beide Bewegungen als Handlung und Umgang mit einem vorgegebenen Ort begreift. Dabei unterscheidet de Certeau den Ort vom Raum, der erst durch die Bewegung entsteht. „Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt. Ebenso ist die Lektüre ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas Geschriebenes – bildet.“9 Indem der Gehende die Möglichkeiten der räumlichen Ordnung eines Ortes aktualisiert, schafft er den Raum, den er zugleich verändert, indem er immer wieder neu auf ihn eingeht, andere Wege geht. Der Ort, den de Certeau als Ordnung und als „Hinweis auf eine mögliche Stabilität“10 begreift, wird durch die Bewegungen des Gehenden wie des Lesenden unterlaufen: „Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen […] Sie können nicht lokalisiert werden, denn sie schaffen Raum.“11 „Die Spiele der Schritte“ vollziehen eine Lektüre, die sich im Raum ereignet und die diesen in ihrem Sich-Ereignen allererst hervorbringt.
8 9 10 11
Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 307. Ebd., S. 218. Ebd. Ebd., S. 188.
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Körperliche und bewegte Lektüre Im architektonischen Raum einer Landschaft aktualisiert und produziert die Lektüre des Gehenden Wege und Bewegungen, die in diesem Raum angelegt sind. Dabei setzen die „Spiele der Schritte“ jene Choreografie nicht auf direktem Wege in Bewegung um, übersetzen sie nicht, schreiben ihre Schrift nicht nach oder ab, sondern werden selbst zwischen Schrift und Schreiben als Ereignis der Lektüre wahrnehmbar. Die Lektüre jener Choreografie bringt mit ihren Bewegungen durch den Raum auch Zeit in ihn. Sie vergeht und geht vorüber, verändert und vergisst. Indem die Lektüre die in einer Landschaft enthaltene und eingetragene Schrift realisiert und aktualisiert, legt sie zugleich jene zeitlichen Dimensionen von Choreografie offen, die diese als ein (a)topografisches Phänomen (un)sichtbar macht. Die Aktualisierung und Transformation ihrer Schrift in ein Schreiben von Bewegung vollzieht sich immer in der Übertragung und im Nachtrag. Indem sie sich in und durch die Bewegung zeigt und zeitigt, ist sie immer anderswo. So kann die Architektur einer Landschaft weder als Choreografie im Sinne einer fest- und vorgeschriebenen Tanznotation gelesen werden, die in mehr oder minder eindeutigen Handlungs- und Haltungsanweisungen Bewegungen des Körpers vorgäbe, noch entwickeln sich jene Bewegungen von dieser unabhängig. Vielmehr entstehen die Spiele der Schritte im Zwischenraum von Schrift und Schreiben – durch eine Lektüre, die selbst choreografisch verfährt, indem sie Bewegungen sucht und er-findet, sie ent- und verwirft, ihre in den Räumen vor- und angelegte Schrift liest und im Sinne von lectio ausliest und (sich) verliest.
Kinesphäre | Atmosphäre Tanz, der mit jenen gestalteten Räumen von Landschaft und Architektur arbeitet, mit ihren Strukturen, Elementen und Rhythmen umgeht, vermag zu einer Sensibilisierung der Sinne beizutragen: jener kinetischen Sinne, durch die ein Raum als Möglichkeitsraum von Bewegung wahrnehmbar wird. Mehr noch: Er kehrt in seiner Arbeit mit den choreografischen Vorgaben eines architektonischen Raumes Bewegung als raumkonstituierenden und -generierenden Modus hervor. Jene Perspektive, die in der Theorie de Certeaus angelegt ist, schließt an eine Vorstellung von Raum an, wie sie in der Phänomenologie bereits bei Maurice Merleau-Ponty lesbar wird. Für Merlau-Ponty stellt sich Raum – wiederum in Anschluss an Edmund Husserl – jenseits einer vorgängigen und messbaren Größe erst durch die Handlung und Bewegung des Leibes her.12 Dabei ist das Sehen wie das Gehen im Raum kein Akt der Distanzierung, sondern bedingt durch die Verflechtung von Wahrnehmung und Wahrnehmbarem, von Subjekt und Objekt und, auf den Raum bezogen, von Mensch und Umgebung.13 Jene phänomenologische Perspektive auf das wechselseitige Verhältnis von Mensch und Umgebung, Körper und Raum bietet sich in besonderer Weise für eine Reflexion einer kinästhetischen Wahrnehmung von Tanz im architektonischen Raum an. Sie findet sich in dem jüngst erschienenen Buch Architektur und Atmosphäre von Gernot Böhme im direkten Bezug zur Architektur formuliert, was seinen Ansatz für diese Fragestellung lohnend erscheinen lässt. Darüber hinaus widmet sich Böhme in seinem Text „Akustische Atmosphären“, der für eine abschließende Betrachtung des Zusammen-
12 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, § 20: „Der Leib ist nicht im Raume, er wohnt ihm ein.“ 13 Vgl. hierzu: Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 172–203. Hierzu sei bemerkt, dass das Hören wiederum als eine Steigerung der Wahrnehmung und Verstärkung der Verflechtung von Raum und Körper erscheint, und zwar durch seine „Sinnesgabe“, die akustischen Reize von jedweder Richtung und zu jeder Zeit im Raum wahrnehmen zu können. Auch in diesem akustischen Sinne ist der Mensch stets eingebunden und eingewoben in die Umgebung.
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spiels von Sehen und Hören in den Räumen von Kuhn und Wada herangezogen wird, selbst den Klangkompositionen Kuhns.14 In Architektur und Atmosphäre hebt Böhme in Bezug auf Architektur Bewegung als „einfachste und überzeugendste Art, sich der leiblichen Anwesenheit im Raum zu versichern“ hervor.15 Damit trägt der Autor dem Umstand Rechnung, dass das Sehen eines Bildes zwar einen Eindruck von Räumlichkeit und eine Vorstellung von Anwesenheit im Raum vermitteln, nicht aber den Sinn für das Befinden und das Bewegen im Raum ersetzen kann, durch den sich der Raum einer Architektur oder einer Landschaft erst in seiner Gesamtheit erschließt. Nur über die leibliche Anwesenheit wird jenseits der physischen und physikalischen Dimensionen von Körper und Raum auch die Atmosphäre einer Architektur erfahrbar. Ausgehend von alltäglichen Erfahrungen charakterisiert Böhme verschiedene Atmosphären, mit jeweils unterschiedlichen Beschreibungen von Stimmungen. Dabei zeigt sich die Atmosphäre als ein Zwischenphänomen: „Die Atmosphären sind etwas zwischen Subjekt und Objekt. Man kann sie als subjektiv bezeichnen, insofern sie nichts sind ohne ein erfahrendes Subjekt.“16 Jenseits der physischen und physikalischen Dimensionen von Körper und Raum, jenseits einer Frage nach der Vermessung und dem Maß des menschlichen Körpers rückt Böhme den Menschen in der leiblichen Einbindung in den Raum ins Zentrum seiner Betrachtungen. Architektur erscheint dabei als ein gestimmter Raum, der sich wiederum auf unsere Stimmung auswirkt. Dabei ist, auch wenn die traditionellen Mittel von Form, Proportion und Abmessung, der Einsatz von Licht, Farbe, Klang und Material und von kulturell konnotierten Zeichen und Symbolen für die jeweilige Atmosphäre der von Architekten geschaffenen Räume prägend sind, nicht entscheidend, dass, sondern wie sie erfahren werden. Wie aber ließe sich diese Erfahrung von Atmosphäre als eine körperliche und bewegte beschreiben? Zwar rückt Böhme mit dem Konzept der Atmosphäre jene Erfahrung leiblicher Anwesenheit im wechselseitigen Verhältnis von Subjekt und Objekt als eine körperliche und bewegte in den Blick. Im Bemühen um eine Differenzierung und Spezifizierung dieser Erfahrung aber droht gerade ein Begriff wie jener der Atmosphäre mehr zu verdecken als offenzulegen. In der Reflexion performativer Ereignisse trägt die Arbeit mit dem Modell der Atmosphäre zu einer Konzentration auf die körperliche Wirkung des Zusammenspiels einzelner Elemente der Räumlichkeit im Hinblick auf den Zuschauer bei. Dabei tritt hinter der Rede von „besonderen“ und „eigentümlichen“, von „unheimlichen“, „gespenstischen“ und „unwirklichen“ Atmosphären eine ausführlichere Betrachtung und Beschreibung der räumlichen Elemente, die zu einer bestimmten Atmosphäre beitragen, zurück. Diese aber spielen gerade für das performative Ereignis des Tanzes, der sich auf den landschaftlichen oder architektonischen Raum bezieht, eine entscheidende Rolle. Dabei kehrt der Tanz die im Konzept der Atmosphäre nur angedeutete Bedeutung von Bewegung für die leibliche Anwesenheit im Raum hervor. In der gemeinsamen leiblichen Anwesenheit von Tänzer und Zuschauer im Raum einer Architektur oder Landschaft können nicht nur die Bewegungen des anderen, sondern auch die des eigenen Körpers in Beziehung zum Raum bewusst werden. Dabei nehmen die Körper den Raum ein, den sie gleichzeitig durch ihre Bewegungen schaffen und gestalten. Die Umgebung des ge- und umbauten Raumes – und mit ihm seine Atmosphäre – erscheint in Beziehung zum unmittelbaren Umraum des Körpers. Dieser Raum im Raum ließe sich mit dem von Rudolf von Laban entwickelten Modell der „Kinesphäre“ beschreiben. Es bezeichnet jenen Raum, der sich über die Reichweite der Gliedmaßen definiert und den wir stets mit uns tragen. Die Gesetzmäßigkeiten der Kinesphäre beruhen auf der 1926 von dem Tanztheoretiker Laban entwickelten und posthum veröffentlichten Choreutik, der „Lehre von den
14 Gernot Böhme, „Akustische Atmosphären“, in: Hans Peter Kuhn, odensee, Heidelberg 2005, S. 101–121. 15 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 110. 16 Böhme, „Akustische Atmosphären“, a.a.O., S. 103.
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Zusammenhängen räumlicher Formen im Tanz“.17 Der Rekurs auf jenes tanztheoretische Raummodell dient in diesem Zusammenhang dem Versuch, das Wechselverhältnis beider Räume – des Raumes der Umgebung und des Körpers – im Hinblick auf die Bewegung näher in den Blick zu nehmen. Laban geht dabei zunächst von einer Raumkugel aus, die den Körper umgibt und deren Peripherie sich durch die locker gestreckten Gliedmaßen erschließt. Diese Kugel modifiziert Laban mit der stereometrischen Gestalt des Ikosaeders, der, anders als die Kugel, mit seinen 20 Flächen, 30 Kanten und 12 Ecken ermöglicht, einzelne Punkte, Linien und Ebenen der Kinesphäre festzumachen und so Körperbewegung im Raum zu formalisieren. Den Ikosaeder vereinfacht Laban dann in der Form des Kubus, in dem die drei Dimensionen des Körpers in Tiefe, Breite und Höhe, diagonalen und diametralen Achsen, Neigungen und Richtungen der Bewegungen des Körpers nachvollzogen werden können. Laban begreift jenen „persönlichen Raum“ des Körpers als Gestaltung des „allgemeinen Raumes“ und setzt die Kinesphäre selbst in Beziehung zur Architektur, wenn er schreibt: „Bewegung ist sozusagen lebendige Architektur – lebendig im Sinne von wechselnden Stellungen wie auch von wechselnden Zusammenhängen. Diese Architektur wird mit menschlichen Bewegungen erschaffen und setzt sich aus Wegen, die Formen im Raum zeichnen, zusammen; diese Formen können wir ‚Spurformen‘ nennen.“18
Indem Tanz jene „lebendige Architektur“ eines Tänzers – seine Kinesphäre – in Beziehung zur Atmosphäre des gestalteten Raumes einer Architektur oder einer Landschaft setzt, verweist er über seine eigene körperliche und bewegte Anwesenheit im Raum auch auf die des Wahrnehmenden. Ein Raum, der zwischen einer den Körper umgebenden und seiner eigenen Architektur, zwischen Umgebung und Umraum wahrnehmbar wird und sich in dieser Wahrnehmung, die stets in Bewegung und auf dem Weg ist, wandelt und wandert – tanzt.
Akustische Sphäre In den Feldstudien von Wada und Kuhn tritt neben Atmosphäre und Kinesphäre eines landschaftlichen oder architektonischen Raumes eine weitere Sphäre in Erscheinung: die akustische Sphäre. Sie betrachtet Böhme als wesentlich für die Qualität der Atmosphäre einer Architektur. In seinem Text „Akustische Atmosphären“ untersucht er die Veränderungen in den Grundkonzepten innerhalb der ästhetischen Moderne, die in der Musik die Erweiterung des Tonmaterials, das Konzept von Musik als Raumkunst und den Vorrang des Hörens betreffen.19 Dabei sei im 20. Jahrhundert eine wachsende Eroberung des akustischen Raums zu beobachten, die mit dem Einbezug von Geräuschen und Klängen einhergehe. Während bis in unser Jahrhundert hinein Musik vor allem als Zeitkunst beschrieben wird, spricht Böhme von einer Entdeckung der Musik als einer Raumkunst. Dabei geht es ihm nicht um den akustischen Resonanzraum, sondern um die räumliche Gestalt von Geräuschfolgen, die Bildung von Figuren und Ensembles im Raum. Jene räumliche Gestalt tritt vor allem durch den Einsatz elektronischer Technik der Produktion und Reproduktion von Musik in den Vordergrund und wird teils durch Verwendung klassischer Instrumente, teils durch elektroakustische Installationen bewusst bearbeitet. Letzteres kennzeichnet insbesondere die Arbeiten von Hans Peter Kuhn. Durch das Samplen und die elektronische Bearbeitung von Originalsounds, die der Instrumentalmusik, der Natur und All17 Rudolf von Laban, Choreutik. Grundlagen der Raum-Harmonielehre des Tanzes, übers. v. Claude Perrottet, Wilhelmshaven 1991. 18 Ebd., S. 14. 19 Böhme, „Akustische Atmosphären“, a.a.O., S. 101. Vgl. hierzu auch Gernot Böhme, Atmosphäre. Essay zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995.
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tagswelt entstammen können, entstehen Räume befremdender und befreiender Künstlichkeit. Das Natürliche erscheint dabei ästhetisch in dem Sinne, dass das zur Erscheinung Kommende im Erscheinen mit erscheint. Böhme folgend, kann man in der Aufführung Feldstudien das zur Erscheinung kommende Natürliche wegen der elektronischen Erweiterung und Verfremdung der Naturgeräusche als künstlich beschreiben. Jedoch erscheint in diesem Zur-Erscheinung-Kommen des Künstlichen nicht nur das Künstliche als solches, sondern auch das Natürliche mit, das wiederum auf das Künstliche verweist, und so fort. Es kommt, wie eingangs beschrieben, zu einer Wechselwirkung von Kunst und Natur, mit der ihre jeweiligen Klangräume als jeweils unbegrenzt und ineinander übergehend wahrnehmbar werden. Dabei handelt es sich auch hier um einen erweiterten leiblichen Raum, es geht, so Böhme, „um das Hinausspüren in den Raum, der von der Musik geformt und artikuliert wird“.20 Dieses Hinausspüren in den Raum, das man in der Komposition Hans Peter Kuhns hört, ist im Tanz Junko Wadas zu sehen.21 So sieht auch Kuhn in der seit 1995 bestehenden Zusammenarbeit mit Wada eine Möglichkeit zur Visualisierung und Intensivierung seiner Klang- und Geräuschwelten. Mehr noch: Tanz erscheint als eine wesentliche Voraussetzung, diese überhaupt wahrzunehmen. Kuhn schreibt selbst zu einer anderen Performance Wadas: „Als Junko zu tanzen begann, wurde es plötzlich still. Ihre Konzentration übertrug sich auf die Zuschauer und für einen Augenblick an diesem Abend hörten sie meine Klänge.“22 Die Bewegung führt zur Stille und schafft damit einen Raum für das Hören. „Als ich anfing“, so Wada zu dieser Aufführung, „wurde das Publikum ganz still und aufmerksam und so habe ich nebenbei auch noch ein übliches Problem bei den Vernissagen der Klangkünstler gelöst: das Publikum hörte zu, während es mir zuschaute.“23 Dies mag auch in der spezifischen Qualität dieses Tanzes begründet sein: Wada findet ihre Bewegungen, ohne sie zu suchen. Sie ist da. Sie erzählt nicht. Sie bildet nicht ab. Vielmehr weist sie in ihrem Tanz zu den verschiedenen Klangkompositionen Kuhns24 doch durch ihre Bewegungen über sich hinaus in den weiteren sicht- und hörbaren Raum der Umgebung: eine Galerie, eine Bühne, einen Platz, eine Kirche, eine Bar, einen See, einen U-Bahnhof, eine Landschaft. Dabei halten die Bewegungen Wadas die Aufmerksamkeit nicht fest, halten sie nicht auf, sondern halten sie offen für den Raum, in dem sie stattfinden. „Eine Bewegung kann sich auf den Körper beziehen, der sie hervorbringt, oder auf den Raum, der diesen umgibt“25, schreibt Volker Straebel zum Tanz Wadas. Wada gestaltet durch die Bewegungen ihrer Gliedmaßen, welche die Peripherie des Körpers be- und umschreiben, be- und entgrenzen, einen eigenen und anderen Raum innerhalb ihrer Umgebung. In sehr feinen und kleinen Bewegungen erkunden die Arme, Hände und Finger wie die Fühler eines Insektes den Raum – spüren in ihn hinaus. Und mit diesem Spüren der Bewegungen über die Peripherie des Körpers hinaus in den Raum der Landschaft wird auch der Raum des Klanges übertragen. Es kommt zu einem Erscheinen verschiedener Sphären, die sich in und durch die Bewegung ineinander ver-
20 Böhme, „Akustische Atmosphären“, a.a.O., S. 109. 21 Darin ähnelt Wadas Tanz den architekturspezifischen Arbeiten Umwege der Schweizer Choreografin und Tänzerin Anna Huber, die diese mit dem Klangkomponisten Fritz Hauser in verschiedenen Architekturen aufgeführt hat. Auch wenn ein Vergleich beider Künstlerinnen hier nicht angestrebt ist, so scheint doch bemerkenswert, dass in beiden Fällen der Komponist als Musiker und Klangerzeuger in den Aufführungen nicht sichtbar ist. Vielmehr visualisiert und intensiviert die Bewegung den Klang – wird die Komposition in der Choreografie sicht- und hörbar. 22 Hans Peter Kuhn, „Performance aus der Tiefe“, in: Junko Wada: Chidori, hrsg. vom Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2004, S. 112–115, hier: S. 114. 23 Ebd. 24 Darunter: Chidori-Crazy Heat, 1995; Whos Afraid of Anything, 1996; Chidori II – A so?, 1999; Tanz auf dem Spiegelteich, 2000; Aus der Tiefe und Feldstudien, 2007. 25 Volker Straebel, „Junko Wada is an artist rather than a dancer“, in: Junko Wada: Chidori, a.a.O., S. 10–13, hier: S. 10.
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schachteln und überlagern. Die durch die Bewegung gestaltete Kinesphäre des Körpers wirkt in die Atmosphäre der Landschaft ein, die ihrerseits von den akustischen Sphären durchdrungen ist, die sich wiederum durch die Bewegung vermitteln. Die Sphären geraten in Bewegung und verweisen in dieser Bewegung auf die Bewegung der Wahrnehmung selbst: in einer Lektüre, die zwischen Schrift und Schreiben ihre Choreografie ver-tanzt und damit ver-legt und ver-rückt. Sehen Sie die Materialien zur Aufführung auf der DVD.
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Linien ziehen Räumlichkeit von Zeichnung und Handlung im Bildprozess
Ein Mann geht auf dem Bürgersteig durch Paris. In der Hand trägt er einen Farbeimer mit Loch. Es entsteht eine Spur, eine Linie auf dem Trottoir. Wenn er seinen Weg beendet hat, bleibt diese Linie, wird Element des Straßenbildes. Als Spur führt sie in eine bestimmte Richtung. Nimmt man sie als Bodenzeichnung, verändert sich durch sie der Grund, auf dem sie verläuft. Asphalt, Straße oder Bürgersteig werden Träger einer Linie, wie eine Wand oder ein Blatt Papier. Die Zeichnung erzeugt Untergrund, wird Sinngeber. Es entstehen Assoziationen zu Ariadnefaden (der Künstler ging auch einmal mit einem Strickpullover spazieren, der sich abwickelt) und anderen Figuren der (Mythen-) Geschichte. Francis Alÿs’ Aktion1 verschiebt mit der Zeichnung die Bewegung im Raum zu einer Sinnbewegung, welche die mit Zeichen, Symbolen, Referenzen kodierte Stadt als Handlungsraum vor Augen führt. Die Intervention im Stadtraum führt zu der Frage, in welchem Umfang sich Raum, gemeinhin durch Zeichnungen geordnet und kartografiert, durch Handlung manifestiert. Bereits Anfang der fünfziger Jahre thematisierten Guy Debord und die Situationniste Internationale unter Begriffen wie „Psychogeografie“ oder „dérive“ den Stadtraum und seine bildlichen Darstellungen als Ort der Handlungsalternative – zum Beispiel das Durchwandern des Harz’ unter Verwendung des Stadtplans von London. Andere, aktuelle künstlerische Arbeiten nutzen den urbanen als Bild-Raum. So fordern die anamorphotischen Zeichnungen von Felice Varini Bewegung im Raum. Er konstruiert Bilder aus geometrischen Formen wie Ringen oder Dreiecken, indem er deren Bestandteile auf Häuserfassaden verteilt anbringt, und zwar so, dass sich ein „richtiges“ Bild für den Betrachter erst von einem genauen Standpunkt aus ergibt. Hier ist es die Aktion des Zuschauers, die das Bild erzeugt. Wieder anders geht Christoph Weber vor, ebenfalls Zeitgenosse von Alÿs. Er nutzt Bilder des Stadtraums, um in diese geometrische Formen, welche die architektonischen Linien und Kanten im Bild aufnehmen, als virtuelle Objekte im Raum zu zeichnen. Die Bilder sind Zeugnis möglicher Aktionen, mit denen aus Karbonstangen riesige Objekte in den Raum gestellt würden. Im Unterschied zum „dérive“ geht Alÿs einen klaren, festgelegten Weg, den er durch seine Aktion bezeichnet. Im Unterschied zu Varini folgt dieser Weg jedoch nicht einem zuvor konstruierten Bild. Und im Unterschied zu Weber bleibt die bildende Handlung nicht im Virtuellen, sondern konkretisiert sich als Linie. Mit einem phänomenologischen Raumverständnis gesehen, das nicht von einer geometrisch-physikalischen Konstante, sondern einem Gebilde aus beweglichen Parametern ausgeht, die sich im Verlauf konkretisieren und zugleich permanent verschieben, ist die Zeichnung auf der Straße ästhetischer Vektor. Sein Hauptmerkmal ist Unbestimmtheit: Ob es sich um Markierung, Unfall oder künstlerische Geste handelt, bleibt für den später folgenden Passanten unentscheidbar. Die Handlung des spurenden Gehens überzeichnet die Linien der Stadt – hebt die Strukturierung des urbanen Raumes durch Linien ebenso hervor, wie es sie durchkreuzt. Die Stadt, ein durch Pläne determinierter Raum, wird entlang der Zeichnungsbewegung Bestandteil eines Bildprozesses. Von diesem Prozess aus wird die phänomenologische Auffassung des Raumes neu verhandelbar. „Die Zeichnung muß also aus der Farbe resultieren“, schreibt Maurice Merleau-Ponty zum „Zweifel Cézannes“, „wenn man will, daß die Welt in ihrer Dichte wiedergegeben wird, denn sie ist eine einzige lückenlose Masse, ein Organismus von Farben, durch die hindurch sich die Flucht der Pers1 Nuit blanche – performance for ARC, Musée d’Art Modern de la ville de Paris, 9. Oktober 2003, Paris.
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pektive, die Konturen, Geraden und Kurven als Kraftlinien in einem vibrierenden Raum konstituieren.“2 Die phänomenologische Auffassung des Raumes ist an den Grund gebunden, an das „Fleisch der Welt“3, das die Wahrnehmung in „einem Netz von Vektoren“4 hält. Damit wurde der Raum an Bedingungen geknüpft, die von einer physikalischen und geografischen Raumauffassung bis dahin übersehen wurden: die körperlichen, perzeptiven und symbolischen Bedingungen, durch die Raum wird und sich je individuell konstituiert.
Zeichnen als Bildwunsch In Bezug auf die Zeichnung betont Merleau-Ponty die Einbettung jeglicher Bildprozesse in die Prozesse der Sprache, um von dort aus die Freiheit in der Gestaltung hervorzuheben. Wir sind nach dieser Auffassung in gleichem Umfang im Raum an unsichtbaren Fäden gehalten, wie wir in jeder Bewegung diese Fäden neu und anders konfigurieren. Der phänomenologische Raumprozess ist ein aus dem Sprachraum gewonnener Sinnprozess.5 Deshalb kann sich, wie er an bekannter Stelle im Sichtbaren und Unsichtbaren schreibt, Merleau-Ponty an der Concorde-Brücke in Paris befinden, wenn er sich dorthin denkt, denn was er sieht, imaginär oder aktuell, ist sein Sehen, ist imprägniert von den Sedimenten des Gesehenen und Beschriebenen seiner – aus symbolischen und historischen Bedeutungen geformten, einträchtigen – Welt. Beachten wir: Merleau-Ponty befindet sich an der Concorde-Brücke.6 Nicht auf dem Platz de la Concorde und auch nicht auf der Brücke. Der Wunsch zur Brücke unterscheidet seine phänomenologische Raumsicht von jener, die Alÿs durch seine Handlung vorschlägt. In der vom Gewebe der Sprache historisch zur Erfahrung geformten Räumlichkeit des Phänomenologen dominiert noch immer, und sei es auch in ihrer Ablehnung, die Linie als Spur und „Zeugnis“7, mithin der Sinnprozess als Prozess einer Sprache, die Welt und Ich verbindet. Alÿs nun schlägt eine anders phänomenologische Räumlichkeit vor. Indem er die gesamten Implikationen gleichsam übermalt, die für MerleauPonty jene so wichtige Gitterstruktur bilden, aus der später Jacques Lacan die Struktur des Begehrens und mithin das sich selbst täuschende Subjekt ableiten wird, verweist er auf den Prozess des Bildes. Dieser Prozess, darauf hat W. J. T. Mitchell hingewiesen, ist Prozess eines Begehrens, das sich als Zeichnung manifestiert.8 Das englische „drawing“, erläutert Mitchell, verweist ebenso auf das Zeichnen wie auf das Ziehen, die Anziehung.9 Das Begehren, um das es im Bildprozess geht, resultiert aus Bewegung, nicht aus Anschauung allein. Einer Bewegung, die sich ebenso im Bild wie durch Text vollzieht. Alÿs’ Aktion macht deutlich, dass es mit der bildenden Bewegung im Raum nicht mehr um 2 Maurice Merleau-Ponty, „Der Zweifel Cézannes“, in: Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994, S. 39–59, hier: S. 46. 3 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 174 f. 4 Maurice Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, München 1993, S. 69. 5 Vgl. Daniel Oskui, „L’espace sauvage. Merleau-Ponty et la pensée mécanique, picturale et poétique de l’espace“, in: Franck Hofmann, Jens E. Sennewald u. a. (Hrsg.), Raum – Dynamik. Beiträge zu einer Praxis des Raums / Dynamisme de l’espace. Contributions aux pratiques de l’espace, Bielefeld 2004, S. 96–127. 6 „Car enfin, autant il est sûr que je vois ma table, que ma vision se termine en elle, qu’elle fixe et arrête mon regard de sa densité insurmontable, que même, moi qui, assis devant ma table, pense au pont de la Concorde, je ne suis pas alors dans mes pensées, je suis au pont de la Concorde, et qu’enfin à l’horizon de toutes ces visions ou quasi-visions, c’est le monde même que j’habite le monde naturel et le monde historique, avec toutes les traces humaines dont il est fait; autant cette conviction est combattue, dès que j’y fais attention, par le fait même qu’il s’agit là d’une vision mienne.“ (Maurice Merleau-Ponty, Le Visible et l’invisible suivi des notes de travail, Paris 1964, S. 19.) 7 Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, a.a.O., S. 166. 8 W. J. T. Mitchell, Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008. 9 Vgl. ebd., S. 80.
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die Überbrückung eines Hiatus zwischen Ich und Welt geht. Vielmehr erzeugt das Ziehen einer von des Zeichners Hand weitestgehend unkontrollierten Linie – vergleichbar dem „drip-painting“ – den Wunsch, ihr nachzugehen, sei es real im Raum, sei es imaginär in der Suche nach einer Bedeutung dieser Linie im Zeichennetz der Stadt. Der Künstler begibt sich durch seine Aktion in dem Umfang in einen Bildprozess, in dem er seinen ihm nachfolgenden Betrachter in diesen verwickelt. Das Bild der Zeichnung lässt sich nicht aus einer imaginären oder realen Vogelperspektive aus als Ganzes sehen. Es entsteht erst, indem man den Linien der Zeichnung nachgeht. Und diese Handlung erzeugt Raum im Bildprozess.
Gelöste Zeichnung Verdeutlichen lässt sich das durch ein Bild aus „Vom Fischer un syner Frau“, von Philipp Otto Runge 1809 zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm beigetragen. Neben einer in (Märchen-) Handlung umgesetzten Farbenlehre enthält es auch eine spezifische Räumlichkeit, die man den „gezeichneten Raum des Begehrens“ nennen könnte. Der Fischer fängt einen Butt, der ihn um sein Leben bittet. Mehr von dessen Fähigkeit zu sprechen denn von den durch ihn in Aussicht gestellten Wunscherfüllungen beeindruckt, lässt der Fischer den Butt frei. Der schwimmt „to Grund un leet enen langen Strypen Bloot achter sik“.10 Dieser rote Streifen ist in gleichem Umfang ein „roter Faden“ für die folgende Erzählung, in der die Wasserfärbung das immer näher rückende Unheil ankündigen wird, wie er die gesamte „Wunschgenese“ des Märchens nach sich zieht. „Die Zeichnung“, schreibt Mitchell und verweist auf eine Reihe anderer Beispiele von Turner über Hogarth bis Blake, „das Zeichnen zieht uns an“.11 Die Unterscheidung in Zeichnung und Zeichnen ist hier wichtig: Im Märchen zieht das Zeichnen des Blutes im Wasser die Bewegung des Fischers durch den Raum des Märchens (zwischen seinem „Pißputt“, der sich zum Schloss wandeln wird, und dem See) nach sich, während die Zeichnung, die sich mit diesem Bildprozess herstellt, das unstillbare Wünschen der Fischersfrau erzeugt – die zugleich den Prozess der Erzählhandlung wie dessen farbige „Ausmalung“ bedingt. Das Märchen zeigt, dass Zeichnung nicht allein als Akt einer zeichnenden Hand, sondern immer bereits gelöst in Sprache, wie der Streifen Blut im Wasser, auftritt. Und diese Erscheinung der Zeichnung, darauf kommt es für die folgenden Überlegungen hier an, ist eine räumliche ebenso wie eine handelnde. Das den Streifen umgebende Wasser wird, wie die Pariser Innenstadt bei Alÿs, zum auf die Linie bezogenen – im doppelten Sinne des Begehrens wie der Referenz – Bedeutungs- und Erfahrungsraum. Es wird aus der Sprache heraus zum Bild, das sich als begehrenswertes zeichnet. Sprache und im Besonderen Schrift basieren auf Pikt/oralität. Sie sind Bild wie Rede; „Worte machen sich selbst zu Bildern“, schreibt Jacques Rancière, „um die Figuren des Bildes in Bewegung zu versetzen“.12 Der Fischer im Märchen ist eine solche Figur. Alÿs’ Aktion nun führt den phänomenologisch eingerichteten Raum durch das Zeichnen zum Bildprozess. Dieser verläuft nicht monografisch, sondern diagrafisch im Sinne des griechischen diagraphein, das so viel bedeutet wie „mit Linien umziehen, abzeichnen“ und als „Diagraf“ im Sprachgebrauch einen Apparat benennt, mit dem Konturen zeichnend übertragen werden können.13 Während das Diagramm als abstraktes Zeichen die wesentlichen Elemente einer Figur oder eines Komplexes darstellt, benennt die diagrafische Bewegung jene Bindung, die zwischen Apparat, Figur und Person besteht.
10 11 12 13
Gebrüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1 [1812], Stuttgart 1995, S. 119. Mitchell, Das Leben der Bilder, a.a.O., S. 81. Jacques Rancière, „Die Malerei im Text“, in: ders., Politik der Bilder, Berlin 2005, S. 83–106, hier: S. 105. Wahrig Deutsches Wörterbuch, hrsg. v. Renate Wahrig-Burfeind, Gütersloh, München 2006, S. 366.
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Spur, Zeugnis: Bindung Zeichnung und Handlung bedingen einen Bildprozess, sind als „Bild“ oder „Szene“ nicht allein dessen Resultat, „Zeugnis“ oder „Spur“. „Das Ziel besteht vielmehr darin“, schreibt Maurice MerleauPonty zur Zeichnung, „auf dem Papier eine Spur unseres Kontaktes zu jenem Gegenstand oder jenem Schauspiel anzudeuten, sofern sie unseren Blick, virtuell auch unser Tasten, unsere Ohren, unser Gefühl für den Zufall, für das Schicksal oder für die Freiheit in Schwingung versetzen. Es geht darum, ein Zeugnis abzulegen und nicht mehr nur Informationen zu liefern“.14
Wie und wodurch entsteht diese „Schwingung“, dieses Phänomen der Bewegung eines unbewegten, fixierten Gegenstandes? Merleau-Pontys Wendung vom „Zeugnis“ macht deutlich, dass im Bildprozess mehr auf dem Spiel steht, als objektivierbares Wissen. Es geht um seelische oder geistige Bindung, die über Informationen hinaus auch ein Erfahrungswissen auslöst, ein Erkennen aus Empfindung. Doch wie „bindet“ das Bild? Und wie kann sein Bezug zur Handlung, sein In-Bewegung-Setzen als konstitutive Funktion des Bildens beschrieben werden? Einen Hinweis gibt Merleau-Pontys Begriffswahl der „Spur“ und des „Zeugnisses“. Beide Termini haben auch eine juristische Dimension. Betrachtet man davon ausgehend den Bildprozess, so wirkt das Resultat der Handlung des Zeichnens als „Spur“ oder „Zeugnis“ auf seine Ausgangsannahmen und Schlussfolgerungen. Man hat es nicht mit einem linearen Fortgang zu tun, der mit der Geste, aus einem Punkt eine Linie zu ziehen, beginnt und in eine fertige Zeichnung mündet, sondern mit einem andauernden Prozess, in dem jede Handlung den Fortgang vorantreibt, beeinflusst, verändert.15 Handlung und Zeichnung sind in diesem Prozess miteinander verhaftet, und zwar so, dass die eine die andere nach sich zieht.16 Nicht allein der Zug der zeichnenden Hand, die Geste des Autors/Künstlers gibt die Linienführung und mithin das Bild vor, sondern es sieht sich erst vom Bild ausgehend eine Handlung als zeichnende.
Linienkeime Das geht weiter als die bekannte Absage an die als allmächtig imaginierte Autorinstanz. „Der Maler ist ebenso wenig imstande, seine Bilder zu sehen, wie der Schriftsteller imstande ist, sich zu lesen“, schreibt Merleau-Ponty17 und meint damit, dass es kein „Außen“ des Bild- oder Textprozesses gibt, von dem aus ein perspektivierendes Subjekt etwa die Kontrolle darüber hätte, was entstehen wird. Vielmehr ist es, im Augenblick eines Bildens, ihm immanent, und zwar so, dass ihm blind die Hand geführt wird. Mehr noch: Das Bild, das sich daraus ergibt, bleibt für den Künstler selbst unsehbar, er ist im Bildprozess nie sein eigener Zeuge. Wie gezeigt, entspricht dem Alÿs’ Aktion. Sie fügt, als Vektor im Stadtraum und als Zeichnen, das Begehren auslöst, jedoch noch etwas hinzu. Der Weg des Künstlers führt zum Musée d’Art moderne de la Ville de Paris, der Kunstinstitution, die entscheidenden Anteil an seiner Existenz als Künstler hat. So wird durch die Positionierung im Raum aus der Handlung ein Kunstwerk, der Bildprozess zur Institution geführt. Die scheinbar „freie“ Zeichnung 14 Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, a.a.O., S. 166. 15 Vgl. Jacques Lacan, „L’Anamorphose“, in: ders., Le séminaire, livre XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, Paris 1973, S. 80. Eingehend dazu: Jens E. Sennewald, „Holbeins ‚Gesandte‘ / Lacans ‚Raumausschnitt‘“, in: Hofmann, Sennewald u. a. (Hrsg.), Raum – Dynamik, a.a.O., S. 128–143. 16 Eine Verhaftung in dem Sinne, mit dem Kafka in dem berühmten Anfangssatz seines Prozess-Romans spielt: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (Franz Kafka, Der Prozess. Roman, Frankfurt am Main 1992, S. 7.) 17 Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, a.a.O., S. 78.
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löst sich also nicht, ganz im Gegensatz zur situationistischen Geste, von den strukturell das Künstlersubjekt formenden Linien, sondern zieht diese vielmehr nach und rekonstruiert so die Figur des Künstlers selbst. Seiner Linie nachzugehen bedeutet, seinem Weg ins Museum zu folgen. Für Merleau-Ponty liegt die Freiheit der Handlung trotz der sie bedingenden Strukturen in der je eigenen Erfahrung von Bild- und Textlichkeit. Diese Je-Eigentlichkeit wird durch die Handlung selbst unterlaufen dann, wenn sie allein dem Begehren des Bildes folgt. Eingebunden in den Bildprozess, führt Handlung nicht zu Frei-, sondern zu Bildräumen. In diesen sieht der Maler nicht sein Bild, sondern sich als Funktion des Bildes. Der erste Strich oder der erste Impuls zu einer Handlung, gleichen Husserls „Abschattung“: Es sind je aktualisierte Elemente unendlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Bildes. Das als „fertig“ bezeichnete Bild, die ausgeführte Geste, von denen aus der Bildprozess sich fortsetzt, werden nun durch das Objekt in ihrem zuvor gefassten Plan verändert und im Aufkeimen folgender Bilder neu orientiert. Diese Sicht auf Zeichnung als dem Bild verbundene Handlung verändert den Stellenwert der Zeichnung, mithin die Erscheinung der Zeichnung selbst. War in der Geschichte der Zeichnung, wie Werner Busch dargestellt hat, die nichtfixierende Linie immer auch als Neben- und Gegenmodell zur fixierenden Linie lebendig18, so handelt es sich nun um eine Wendung der Linienfunktion überhaupt. Nicht, was die Linie zu fixieren vermag, auch nicht ihre gestische Eigenschaft als Auslöser von Handlung rückt ins Zentrum des Interesses, sondern ihre Erscheinung als Handlung. Bildprozess ist nicht allein das von einem aus Zeichnung und Zeichnen resultierten Artefakt in Gang gebrachte Verfahren, ein aus dem Objekt hervorgehender Ablauf oder Vorgang, ja noch nicht einmal ein diesem allein verpflichtetes Geschehen. Vielmehr wird Bildprozess zu einem determinierenden Projekt: ein Vorhaben, das im Verlauf seiner Umsetzung sich über seine Veränderungen bestimmt. Statt Ergebnis von planerischen Vorzeichnungen oder eines zuvor entworfenen Bildes zu sein, konstituiert sich der Prozess, in dem das Bild entsteht, aus dem Vorhaben zum Bild: Alÿs’ Linie evoziert Zeichnung als Bild, lässt sich jedoch nicht als Bildresultat festhalten. Sein Weg führt nicht in einen Bildraum, sondern in den Möglichkeitsraum des Zeichnens. Dessen Räumlichkeit ist ebenso vom Körper des Zeichners wie von den Linien bestimmt, die er vorfindet. Er ist zudem bestimmt von Bewegung und Begehren. „Es ist sicher, dass dieser Keim eines Bewegungsplanes erst während der Ausführung des Aktes zu seiner Entwicklung findet, und dass die durch diesen Akt selbst angeregten Empfindungen wiederum Einfluss auf die Entwicklung des Plans haben“, schreibt Paul Schilder 1935 in seiner Theorie vom Körperschema, der englische Titel seines Hauptwerkes nennt es „image of the body“.19 Handeln werde vom Körper – nicht etwa nur von einem lenkenden Bewusstsein – antizipiert. Der Körper folgt hierbei einem inhärenten Schema, einem Vor-Bild, das sich selbst wiederum dem Bild als Ergebnis seines Aktes verdankt. Statt der linearen Entwicklung des disegno von der unsichtbaren Idee über die ausführende Geste zum sichtbaren Bild folgt diese Theorie einer Kreisbewegung, die sich nicht in einem Ursache-Wirkung-Modell auflösen lässt.20 Schilders Modell gibt ein weiteres Element in die Hand, um zu verstehen, inwiefern Alÿs’ Aktion eine radikal erneuerte Form phänomenologischer Raumerfahrung vorführt.
18 Vgl. Werner Busch, „Die Möglichkeiten der nicht-fixierenden Linie. Ein exemplarischer historischer Abriß“, in: Werner Busch (Hrsg.), Randgänge der Zeichnung, München 2007, S. 121–140, hier: S. 122. 19 Vgl. The Image and the Appearance of the Human Body. Studies in Constructive Energies of the Psyche, London 1935; ich beziehe mich auf: Paul Schilder, L’image du corps. Étude des forces constructives de la psyché, Paris 1968, S. 73, Übers. v. J. E. S. 20 Giorgio Agamben beschreibt diese Interaktion von Bedingungen anschaulich anhand der iranischen Engelskunde in „Genius“, in: ders., Profanierungen, Frankfurt am Main 2005, S. 7–18, bes. S. 15.
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Abb. 1: Videostill aus: Peter Welz, airdrawing | forsythe | side | right-hand-movement | study II for architectural device, Videoprojektion auf Papier, Transparentpapier, Permanent-Marker, Klebeband, Sound, 30-Min.-DVD-Loop, 61 cm x 86 cm, Berlin 2006.
Seine Linie wird zur Zeichnung, wenn man sie immer und wieder nachgeht. Hier trifft sich Alÿs’ Arbeit mit der anderer Zeitgenossen, wie beispielsweise Vittorio Santoro und seinen Schriftzeichnungen, in denen er Worte wie „Dependent Participation“ über Monate (hier: März bis September 2007) immer und immer wieder schreibt, und zwar so, dass er die Linien der in Helvetica gezeichneten Buchstaben jeden Tag mit dem Bleistift nachfährt. Während sich diese Linien in die Papieroberfläche eingrabend einen Raum schaffen, so geht die Zeichnung Alÿs’ als Raumerfahrung in den sie nachgehenden Körper ein. Anders als ein an symbolischen Fäden aufgehängtes und entlang imaginärer Fäden die Welt erkundendes Subjekt ist Alÿs’ Raumentwurf an einem Körper im Bildprozess interessiert, dem Zeichnen und Handlung eins werden.
Getanzte Linien In der Arbeit des Berliner Künstlers Peter Welz spielen Raum, Bewegung, Handlung und Zeichnung einander zugeordnete Rollen.21 Einen Teil seiner Arbeiten, die er mit dem Tänzer William Forsythe gemeinsam realisiert hat, nennt er „airdrawings“. Forsythe improvisiert hier eine Bewegungsfolge, die Welz filmt. Teils frontal, teils durch an den Gliedmaßen des Tänzers befestigte Kameras. In dem collagierten Video airdrawing | forsythe | side | right-hand-movement | study II for architectural device22 hat er auf den Bildschirm, der den Tanz „von außen“ und zudem den Tanzraum um 90 Grad nach rechts 21 Vgl. den Auszug aus einem seiner Videos auf der diesem Buch beiliegenden DVD. 22 Videoprojektion auf Papier, Transparentpapier, Permanent-Marker, Klebeband, Sound, 30-Min.-DVD-Loop, 61 cm x 86 cm, Berlin 2006; vgl. http://www.transversale.org/jb2/airdrawings/pop_ airdrawings.html.
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Abb. 2: Jean-Baptiste Regnault, Dibutades oder die Erfindung der Zeichen-Kunst [1785], Schloss von Versailles (Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, München 1997, S. 55).
gekippt zeigt, ein transparentes Papier gelegt und die Bewegungen der rechten Hand nachgezogen. Im Übereinanderlegen von Zeichnung und Video wird die Bewegung vom Bild nachgezeichnet. Oder müsste man nicht sagen, dass, nachdem sie aufgezeichnet und erneut projiziert wurde, die Bewegung der Zeichnung folgt? Die vielfache Wiederholung der Aufzeichnungen erzeugt ein Palimpsest der Bindungen – der Bewegung an die Vorzeichnung, der Linie an die aufgezeichnete Bewegung –, in dem bewusst verundeutlicht wird, wo die zeichnende Hand einsetzt, wer zeichnet, wessen Handlung Zeichnung hervorbringt. Entscheidend ist die Rolle der Bewegung und speziell des Tanzes als geführter Bewegung. Forsythes Improvisation folgt, wie es die Aufzeichnung und die darauf gelegte Zeichnung nahelegen, einer Zeichnung, die den Körper in ein Gewebe aus Handlung und Zeichnung verstrickt. Erst aus dieser Verhaftung erwächst ein Bild, das nun Welz selbst zum Gegenstand macht. Ein Versuch, zum Bildprozess auf Abstand zu gehen, seine konstituierenden Elemente auseinanderzulegen. Der Bildprozess selbst wird Gegenstand in seiner determinierenden Verlaufsform. Eine solche Wendung verlangt eine Reflexion auf die Materialien, aus denen das Bild besteht. Trägermaterialien, Zeichengeber und Untergründe bilden das Bezugssystem der Arbeit.
Wandzeichnung Peter Welz nennt sich selbst einen Bildhauer. Auf dem besprochenen „airdrawing“ liegt eine fotografierte Aufsicht eines der Dispositive, die er für die Projektion seiner Videos baut: Betonwände, soge-
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Abb. 3: William Forsythe und Peter Welz, Retranslation/Final Unfinished Portrait (Francis Bacon), multimediale choreographische Installation (Still), 2005.
nannte „fake walls“, die allein die Rolle des Projektionsschirms erfüllen, dabei allerdings als eigene skulpturale Objekte auftreten. Lesen wir die Projektion einer Bewegungsaufzeichnung als Wandzeichnung, verweist uns Welz’ vertikale Präsentation der Zeichnung auf dem festen Grund der Wand auf die viel zitierte, von Plinius überlieferte Ursprungslegende von Dibutades und deren Erfindung der Zeichenkunst.23 Jean-Baptiste Regnaults Gemälde aus dem Jahr 1785 stellt den Moment dar, in dem die Tochter eines Töpfers aus Korinth ihren Rücken dem Geliebten zuwendet, der sie verlassen muss. Sie hält seinen Umriss nach dessen Schatten auf einer Felswand fest. Damit sie das kann, muss der Gezeichnete selbst zu einem Vor-Bild erstarren, bildgebendes, fixiertes Element werden, gleichsam der Kontrapunkt zur Bewegung der Dibutades. Die Zeichnung kehrt die Bewegungsakteure um: Der Geliebte, der auf Reisen gehen wird, ist stillgestellt, die Liebende, die am Ort festgebunden blieb, ist zwischen Vor- und Nachbild in unablässiger Bewegung. Auch hier sind die Körper in einen Bildprozess eingebunden, auch hier werden sie, ausgehend vom Resultat, der Zeichnung, die den Abwesenden festhält, Figuren des Bildes, verhaftet in dessen Begehrensstruktur. Zeichnung, steinerner Untergrund und Bewegung sind in dieser Darstellung der Erzählung dem Zeichnerischen inhärent. Desgleichen die Notwendigkeit, sich vom Gegenstand abzuwenden, um ihn darstellen zu können. Die gestische Bewegung des Zeichnens selbst, die in der Darstellung den Körper der Zeichnenden zum Scharnier macht, das zwischen Vor- und Nachbild hin- und herschwingt, wird vom Bildprozess geführt – Dibutades einzige Rolle besteht darin, den Stift entlang der Schattenprojektion zu ziehen.
23 Vgl. Wolfram Pichler und Ralph Ubl, „Vor dem ersten Strich. Dispositive der Zeichnung in der modernen und vormodernen Kunst“, in: Busch (Hrsg.), Randgänge der Zeichnung, a.a.O., S. 231–256, hier: S. 233 und 237.
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Reenactment Welz’ Videoarbeit und deren Projektion auf eine „gefakte“ Betonwand könnten als Aktualisierung des Dibutades-Mythos gesehen werden, lediglich um die technischen Mittel des Videos ergänzt. An die Stelle der Bewegung des Körpers der Zeichnerin ist die Bewegung des Bildes getreten, die sich nun unablässig zwischen dem tanzenden Körper und seinen Aufzeichnungen entrollt. Unterstützt würde diese Lesart noch durch Forsythes eigene Worte, der angesichts der Videos sagt: „I am missing from my own work, ich bin abwesend in diesen Aufzeichnungen, bin in gewissem Sinne in diesen Videos aufgehoben“.24 Die collagierende Schichtung der Zeichnungsbewegung in mehreren Medien stellt jedoch mehr dar als eine modernisierte Nachstellung des Mythos vom Ursprung der Zeichnung. Vielmehr werden die verschiedenen Möglichkeiten von Zeichnung und Handlung ineinander gebrochen und vervielfältigt und wird auf diese Weise ihre konstituierende Verbindung im Bildprozess zum Vorschein gebracht. In Retranslation/Final Unfinished Portrait (Francis Bacon) lässt Welz Forsythe tanzend die Linien des letzten, unvollendeten Selbstporträts von Francis Bacon „nachzeichnen“. Dieses Mal befestigte Welz statt Kameras an Forsythes Händen und Füßen Bleimanschetten und legte den Boden, auf dem er tanzte, mit Papier aus. Die „Aufzeichnungen“, die auf diese Weise entstanden, wurden 2006 im Louvre als eigenständige Arbeit neben der Projektion verschiedener Kameraansichten des Bacon-Tanzes ausgestellt, und zwar horizontal in Bodennähe. Die Ausstellung begann bei dem realen Bacon-Selbstporträt, führte sodann durch Stellwände, auf denen Forsythes Tanz zu sehen war, und endete bei der Zeichnung, die dadurch als Zeugnis und Spur lesbar war.25 Die Interdependenz von Zeichnung und Handlung im Bildprozess wird hier in ihrer wechselseitigen Bedingung deutlich: Auslöser für die Zeichnung ist ein Bild, selbst Zeichnung, Entwurf, zumindest unfertiges Gemälde, non finito. Es dient als Vor-Bild und in gewisser Weise auch als Vor-Schrift, deren Zügen gefolgt werden soll. Forsythe interpretiert das Bild und hinterlässt dabei Spuren auf dem Papier. Kein reenactment der gestischen Bewegung des Zeichners Bacon, sondern eine vielschichtige Aufzeichnungsbewegung, deren je einzelner Abschnitt in gleichem Umfang auf ein Vorbild verweist, wie sie sich von ihm entfernt. Hier unterscheidet sich die Zeichnungshandlung von Welz/Forsythe auch von den getanzten Zeichnungen Trisha Browns, wie man sie auf der documenta XII 2007 in Kassel sehen konnte. Seit den Siebzigern ertanzt diese den Stadtraum und auch den Raum des Papiers. Mit Kreide oder Kohle, die sie zwischen die Zehen klemmt, erzeugt sie Zeichnungen als Spuren ihrer Bewegung. Indem sie jedoch auf das zusätzliche Dispositiv der Auf- und Nachzeichnung (Video/Collage) verzichtet, thematisiert sie nicht wie Welz/Forsythe den Bildprozess selbst, sondern – in gewisser Verwandtschaft mit Merleau-Pontys Concorde-Erfahrung – die Linien zwischen Ich/Körper und Ich/Welt. Die Arbeit von Peter Welz setzt dort in der kunsthistorischen Entwicklung der Zeichnung an, wo Hand und Auge, Hand und Kopf, zeichnendes Subjekt und gezeichneter Ausdruck auseinandergetreten sind.26 Gleichwohl wissen die jeweiligen Beteiligten sehr wohl, was sie tun: „Ich will“, sagt Forsythe, „die Lücken füllen, welche durch unsere Bewegungen in der Welt entstehen, ich will sie zeigen,
24 Mitschrift eines Gesprächs zwischen William Forsythe, Toni Morrison und Peter Welz im Auditorium des Louvre am 8. November 2006. 25 Ausstellung corps étrangers, Louvre, Galerie Melpomène und Salle Mollien, 13. Oktober bis 15. Januar 2007; die Arbeit befindet sich inzwischen in einer veränderten Version in der Sammlung Goetz. Der Künstler hat auf das Resultat der Zeichnung verzichtet, um, wie er sagt, „den unsichtbaren Zeichenakt der Handlung“ stärker zu betonen. Gespräch mit dem Künstler am 6. Mai 2009. 26 Vgl. Barbara Wittmann, „Zeichnen, im Dunkeln. Psychophysiologie einer Kulturtechnik um 1900“, in: Busch (Hrsg.), Randgänge der Zeichnung, a.a.O., S. 164–186, hier: S. 186.
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zeichnen.“27 Tatsächlich führt Welz’ Umgang mit Zeichnung und Handlung die Unmöglichkeit dessen vor Augen, was als Kernaussage des Dibutades-Mythos gelesen wurde: dass Bewegung, und zwar seelische wie körperliche Bewegung, in Zeichnung aufbewahrt werden könne. In diesem Sinne ist auch Forsythes’ Äußerung zu verstehen, die nicht allein auf die Absenz des Körpers im Medium verweist, sondern auch darauf, dass das Ich sich im Bildprozess einen Körper präsentiert – vorstellt und vergegenwärtigt. Der Fischer, der immer wieder zum Butt gehen muss, Dibutades, die sich fortwährend hin- und herwenden muss: Die Wendung zum Bild erzeugt eine Verhaftung in dessen Prozess. Wie MerleauPonty schreibt: „Dabei zieht jeder den anderen wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden und läßt ihn etwas sagen und denken und macht ihn zu etwas, was er allein aus sich nicht geworden wäre. Auf diese Weise finden sich die Dinge gesagt und gedacht wie durch ein Reden und Denken, das wir nicht haben, sondern das uns hat.“28
Der phänomenologische Raum ist durchzogen von solchen Fäden, von Vektoren und Netzgittern, die das Subjekt halten. Man könnte sagen, er gleicht einer Vorzeichnung, in welche sich das Subjekt einträgt. Einer von Merleau-Pontys Vorschlägen für eine phänomenologische Raumerfahrung vertieft die Trennung zwischen Ich und Welt, um sie im Bildprozess – als Brücke – wieder überwinden zu können. Doch gerade dadurch wird das Subjekt immer tiefer in einer Räumlichkeit verankert, die per se Resultat und Voraussetzung des Bildprozesses ist – des Begehrens des Bildes, gesehen zu werden. Künstler wie Alÿs oder Welz thematisieren die Grenzen eines solchen gefassten Raums, indem sie ihn um den Raum der Zeichnungshandlung erweitern. In diesem Raum treten die ihn konstituierenden Linien hervor, werden in ihrer Bindung an den Körper überzeichnet durch andere Linien (Alÿs zeichnet seinen Gang nach, Welz die Handbewegungen von Forsythe). Nicht etwa, dass hier das Subjekt aus dem Netz befreit würde, das es hält. Das Netz selbst gerät in Bewegung und formt einen Raum, den andere Linien ziehen. Alÿs’ Zeichnung führt Raum als Konstruktion aus Kraft- und Bedeutungslinien vor Augen. Seine Handlung macht erkennbar, dass dieser phänomenologische Raum nur im Bildprozess als „Welt“ erscheint. Mit der Erkenntnis der Verhaftung in diesem Prozess stellt sich fürs Handeln eine andere und doch alte Frage neu: „Worauf hin?“ Sehen Sie auch die Arbeit von Peter Welz auf der DVD.
27 Mitschrift eines Gesprächs zwischen William Forsythe, Toni Morrison und Peter Welz im Auditorium des Louvre am 8. November 2006. 28 Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, a.a.O., S. 13.
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Trisha Brown – Tänze auf Papier und Zeichnungen in der Luft
„Schnell gemachte Zeichnungen versetzen in Bewegung und Bewegung ist eine Zeichnung in der Luft“. Trisha Brown1
Zeichnen ist für die Tänzerin Trisha Brown räumliches Denken. Dabei wird Zeichnen zum Versuch, Bewegung sowohl darzustellen als auch zu erzeugen. Begann sie zunächst mit choreografischen Notaten und Raumdiagrammen auf Papier, sind in den letzten Jahren Zeichnungen Teil ihrer Performances geworden. Bisher wurden die Zeichnungen von Trisha Brown vom Konzept des Tanzes her beschrieben.2 Die Künstlerin selbst spricht von einer „Übertragung des Tanzes auf das Zeichnen“3 und vergleicht das Hineinversetzen in die Zeichnung mit einer Tanzimprovisation. Die folgenden Beobachtungen unternehmen den umgekehrten Versuch, nämlich den Tanz von der Zeichnung her zu befragen und damit ihre Zeichnungen als Tänze und Gänge, kurz als Bewegung auf dem Papier zu beschreiben. Dem schließt sich an, Bewegung als Zeichnungen in der Luft zu fassen, gleich den Gesten, die den Raum des Tanzes bilden. Diese Überlegungen sollen mit der Frage nach dem veränderten Verhältnis von Zeichnung, Tanz und Raum in ihrem Werk verbunden werden. Trisha Brown gilt als Ikone des postmodernen Tanzes, die mit bildenden Künstlern und Komponisten wie Robert Rauschenberg, Donald Judd, Laurie Anderson und John Cage zusammengearbeitet hat. Im postmodernen Tanz ging es in den 60er und 70er Jahren unter anderem darum, die alltäglichen Bewegungen aufführenswert zu machen. Raum ist für Brown an das Zusammenspiel von Tanz, bildender Kunst und Musik gebunden. Sich wiederholende und ineinander übergehende Bewegungen und das Experimentieren mit der Schwerkraft und deren Überwindung sind nicht nur zentral für ihr Verständnis von Tanz und Performance, sondern finden sich als künstlerisches Prinzip auch in den Zeichnungen wieder. Ihre frühen Aufführungen fanden oftmals in Kunsträumen und Galerien statt. Häuserwände und Dächer im Außenraum wurden einbezogen. Browns zeichnerische Arbeit hat zunehmend an Bedeutung für die choreografische Arbeit gewonnen und diese immer stärker strukturiert. „The drawing is a secondary activity in comparison with choreography. Perhaps one day this order will be inverted?“4, fragt Trisha Brown 1998. Wie hat sich das Verhältnis von Zeichnung und Choreografie wenn schon nicht umgekehrt, dann doch verschoben? Was bedeutet das für die Konstruktion von Räumlichkeit?
1 Trisha Brown im Interview mit Hendel Teicher, in: Trisha Brown. Danse, précis de liberté, Musée de Marseille 1998, S. 9. 2 Trisha Brown. Danse, précis de liberté, a.a.O. 3 Trisha Brown, zitiert in dem Fernsehbericht titel thesen temperamente: Die Tänzerin Trisha Brown, documenta 12, ARD 12. Juni 2007. 4 Trisha Brown, zitiert von Corinne Diserens in: Trisha Brown. Danse, précis de liberté, a.a.O., S. 9.
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It’s a draw – Tänze auf Papier „Dann breitet ihre Assistentin das erste von drei großen Skizzenblättern in der Mitte des Raumes aus. Brown nimmt Zeichenkohle in die Fäuste und wirft sich mit einer temperamentvollen Drehung auf diesen neuen, weißen, leeren Teppich. Schwarze Kohlekreise malen ihre Bewegungen im Entstehen nach. Am Ende, wenn alle drei Blätter an der Wand befestigt sind und Brown sich die schwarzen Spuren ihrer Arbeit von Füßen und Händen gewaschen hat, folgt eine letzte, kurze, tänzerische Wiederaufnahme der Anfangsmotive.“5 Diese Rezension der Tanzperformance It’s a draw, die Trisha Brown erstmals anlässlich des Festivals für zeitgenössische Choreografie in Montpellier (2002) und zum Fabric Workshop in Amerika (2003) aufführte (siehe Abb. 1 auf der DVD), bringt ihren kalkulierten Einsatz des Visuellen treffend zum Ausdruck. In einem Arbeitsvideo ist zu sehen, wie sie in einem leeren, weiß gestrichenen Raum konzentriert auf einem großen Bogen Papier steht – Arme und Beine zum Schwung einer Bewegung angesetzt. Zwischen die Zehen sind Kohlestücke geklemmt. Der Blick ist zum Boden gerichtet, und sie beginnt mit halbkreisförmigen Drehungen der Füße ihre fließenden und energischen Tanzschritte. Ihre Äußerung, dass die Zeichnung eine „kritische Position“6 einnimmt, gewinnt Bedeutung. Der bewusste Blick auf die Zeichnung beeinflusst den Tanz, und umgekehrt ist die Zeichnung ohne die tänzerische Bewegung nicht möglich. Die Gesten scheinen sich nach den Linien auszurichten, die Präzision einer choreografischen Figur oder Sequenz aus den Spuren zu entwickeln. Dabei bilden schwarze Kohlekreise auf dem Papier die Spur ihrer Bewegungen im Prozess des Entstehens. „Some aspects of my dancing are just looking for form“.7 Es geht nicht darum, dass die Zeichnung ihre Bewegungen im Entstehen nachmalt, wie es in der Besprechung heißt. Sonst wäre ein blindes Agieren möglich. Vielmehr ist die Kontrolle des Blicks arbeitskonstituierend. Die Zeichnungen wirken als Katalysator für den Tanz und umgekehrt. Das Gleiten der Füße markiert sich als Strich und das Landen eines Sprungs als Punkt. Brown geht in die Knie oder zieht den Körper in Rückwärtsbewegung, balanciert dabei das Gewicht mit den Armen aus und richtet sich danach mit erhobenem Kopf wieder auf. Diese Bewegungen schwingen in den Unterbrechungen der Linie, deren Breite und dem Tief des Schwarzes in den Kohlezügen nach. So korrespondieren die Beugung der Arme, die Streckung der Beine und die Veränderung der Körperhaltung zur Arabeske mit den Spuren auf dem Papier. Die Tänzerin zeichnet sitzend, kniend oder liegend, womit sich die Blickrichtung auf die Zeichnung ändert (Abb. 2). Mit Kreide zwischen den Zehen oder Fingern choreografiert sie die Bewegungen auf das Papier. Auch hier ist es zunächst der Fuß, mit dem sie zeichnet. Mit dem Fußballen schiebt oder stößt sie die dickeren Kohlestücke vorwärts, zieht den Radius eines um die Achse gedrehten Fußes nach oder stampft mit dem geschwärzten Hacken auf den papiernen Boden. Aber auch die Fingerspitzen werden eingesetzt, indem sie die Kohle bedachtsam auf dem Papier nach vorn rollt. Die entstehenden Formen der Zeichnung verweisen als konkrete Form eines Vorgangs auf die Erkundung des Tanzbodens durch kleine und kraftvoll ineinander übergehende tänzerische Schritte und Gesten. Bewegung wird im dreidimensionalen Raum erprobt und im zweidimensionalen Format des Papiers fixiert. Das Papier wird nicht zerkratzt, wie es etwa die Schlittschuhläufer auf dem Eis tun, oder zerstört, sondern mit der Kohle bedeckt, so dass einzelne Züge verwischt werden können und sich die Schichten der schleifenden Bewegungen übereinanderlagern (siehe Abb. 3 auf der DVD). Die Modellierung des Raumes durch die Bewegung ist bei Trisha Brown nicht materiell, wie es Georges
5 Wiebke Hüster, zitiert in: Raum. Orte der Kunst, hrsg. von Matthias Flügge, Robert Kudielka und Angela Lammert, Berlin und Nürnberg 2007, S. 296. 6 Hendel Teicher, in: ders. (Hrsg.): Dance and Art in Dialogue, Cambridge, MA 2002, S. 281. 7 Trisha Brown, in: Trisha Brown. Danse, précis de liberté, a.a.O., S. 20.
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Abb. 2: Trisha Brown, Still aus der Performance It’s a draw, Fabric Workshop, 2003.
Didi-Huberman für eine den Erdstaub aufwirbelnde spanische Tänzerin beschreibt8, sondern die Koordinaten des Tanzraumes werden ausgelotet und in einer jeweils veränderten Form bestimmt, indem Füße und Hände den Körperumraum bezeichnen und in den palimpsestartigen visuellen Spuren erweitern. Dichte und Flüchtigkeit der Modulierung hinterlassen den Eindruck eines sich in ständiger Bewegung bildenden Raumes. Die Struktur der entstehenden zeichnerischen Form pointiert die temporäre und im schnellen Rhythmus sich ereignende Berührung von Boden und Köper. Es entsteht das Protokoll eines gestischen Bewegungsrhythmus und zugleich bestimmt die Blickkontrolle der Tanzspur die Performance selbst. Man kann davon sprechen, dass durch Entkörperlichung ein präzises Körperprotokoll entsteht. Das Ausloten des Raumes durch Änderung von Bewegung und Blickrichtung in der Tanzperformance wird nach der Aufführung radikalisiert, indem Brown die daraus entstehenden Bodenzeichnungen in Ausstellungen zeigt und sie dadurch von ihrem mit dem Tanz verbundenen Entstehungsprozess separiert. Der Moment des Tanzens wird damit vom Kontext getrennt, die temporäre Bewegung im Raum in die dauerhafte Darstellung von räumlicher Bewegung übertragen. Die unterschiedlichen Präsentationen der Zeichnungen – hängend an der Wand oder gerahmt auf dem Boden liegend wie auf der documenta 12 – nehmen die Änderung der Blickrichtung im Tanz auf und erlauben eine simultane Wahrnehmung aufeinander folgender Bewegungssequenzen. Hängt die Bodenzeichnung an der Wand, ermöglicht die Achsenverschiebung von der Horizontalen zur Vertikalen einen anderen Blick auf die Tanzbewegung und die damit verbundene Erkundung des Raumes. Das entspricht dem Atelierprinzip von Trisha Brown: Nach der Performance markieren die an die Wand gehefteten Zeichnungen den unmittelbaren Ereignisraum. Die Installation gerahmter Arbeiten zu einem aufeinandergestapelten Hügel wirkt hingegen trotz der Verschiebung aus der Horizontalen illustrativ, auf den Entstehungszusammenhang verweisend.9 Der Wechsel in der traditionell vertikalen Orientierung auf Zeichnungen oder Bilder ist keine Erfindung von Trisha Brown, denkt man nur an die Drip paintings (1947) von Jackson Pollock oder die Performances und Körperabdrücke von Yves Klein. Die Darstellung des Raumes im Bild ist bei Pollock nicht mehr auf die Hierarchie von Elementen ausgerichtet, sondern die einzelnen Partien sind im „All-over-Verfahren“ gleichwertig behandelt. Durch die Bindung an den tanzenden Körper bei Brown entsteht in ihren Zeichnungen eine Verbindung beider kompositorischer Formen. Diese Zeichnungen erinnern an Robert Rauschenbergs Time Paintings (1961), die er für Trisha Browns
8 Vgl. den Beitrag von Georges Didi-Huberman, „Die Erde bewegt sich unter den Schritten des Tänzers“ im vorliegenden Band. 9 Obwohl an anderer Stelle der documenta 12 Videos von älteren Tanzperformances Trisha Browns zu sehen waren, wird bei It’s a draw darauf verzichtet. Ob die Installation der Arbeiten das aufwiegt, darf bezweifelt werden. Wünschenswert wäre eine konsequente Separierung gewesen, indem die Zeichnungen an der Wand angebracht werden, wie sie die Künstlerin selbst in ihren Performances bevorzugt hat. Die für einen Ausstellungszusammenhang notwendige Rahmung verstärkt diesen Eindruck noch.
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Choreografie zu Home to David Tudor mit Musik von John Cage innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens mit dem Rücken zum Publikum anfertigte. Wenn man jedoch von einer weiterführenden Erfindung bei Trisha Brown sprechen möchte, so liegt diese in der Verbindung von Zeichnung und Tanz. Der Grundriss gerät dabei zur Ansicht. In der Präsentation der Zeichnungen offenbart sich auch das Prinzip des Seriellen. Es entstehen immer mehrere Zeichnungen, die den Eindruck von aufeinanderfolgenden Sequenzen vermitteln. Den Tanzbewegungen entsprechend wiederholen sich halbkreisförmige Formen, gleichmäßig langgezogene Striche und bewusst gesetzte Verdichtungspunkte. Durch die weich aufgetragene Kohle ist den Zeichnungen ein malerischer Charakter eigen. Kräftige und zarte Linien umfangen in ihren Ausbuchtungen solche Zentren, aus denen sich das abstrakte Liniengeflecht zu entwickeln scheint, das sich niemals über das gesamte Blattformat ausbreitet oder eine leere Mitte umschließt. Es gibt keine parallelen Schraffuren oder gedrängte Kratzspuren, sondern eher ein unterschiedlich starkes An- und Absetzen der Linie und ein Auslaufen des Strichs. Dabei wird die Kohle mit der Spitze oder mit der Längsseite eingesetzt, werden entsprechend lineare oder flächige Bewegungsschleifen auf das Papier übertragen. Die Füße schreiben in ihrer körperlichen Verbindung zum Boden die Positionierung im Raum förmlich auf, indem sie die Verdichtung und den Fluss der Bewegungen festhalten. Das Zeichnen wird hier als kritische Instanz und Möglichkeit der Distanz im Entstehungsprozess eingesetzt und strukturiert die tänzerische Performance mit. Browns choreografische Arbeit wird so in das zweidimensionale Format der Zeichnung übersetzt. Für sie haben die Zeichnungen die Funktion, den Tanzprozess zu durchdringen: „[I]deas in the drawings, and all those ideas infiltrate the dance process […]. The movement now functions as a drawing.“10 Trisha Brown sucht vor allem nach „frischen Gesten, in die [sie] noch nie eingetaucht ist“11 – und das in der Zeichnung wie im Tanz. Ihre Zeichnungen sind gestisch, aber nie expressiv.
Zeichnung und Performance – Notation und Blickkontrolle Auf die Frage, ob Zeichnen eine Performance sei, antwortete Trisha Brown in einem Interview: „I think performance is when other people are looking […]. Drawing is very private.“12 Die Anziehungskraft des Mediums Zeichnung für Trisha Brown lag zunächst in dieser Privatheit.13 Diese Vorstellung wird – wiederum unter Einbeziehung von Selbstäußerungen – in der Interpretation der Zeichnungen aufgegriffen, indem mit Blick auf ein Tanzvokabular von der „Unschuld des ersten Aktes“14 im Ereignis die Rede ist. In der eingangs beschriebenen Arbeit It’s a draw wird jedoch der private Akt des Zeichnens in einer Performance öffentlich gemacht. Auch als die inzwischen 71-jährige Künstlerin zur documenta 12 eine neue Serie gleichen Titels in ihrem New Yorker Atelier anfertigt, lässt sie diese Performance filmen. Es entsteht ein Video, das noch immer durch das Internet geistert.15 Dem veränderten Verhältnis von Zeichnung, Tanz und Raum sei im Folgenden anhand ausgewählter Zeichnungsfolgen der Tänzerin nachgegangen. Die Zeichnungen von Trisha Brown sind relativ spät in einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen worden. Obwohl man schon seit Mitte der siebziger Jahre von „autonomen Zeichnungen“16
10 Interview mit Trisha Brown von Hendel Teicher, Februar/März 1998, zitiert in: Teicher, Dance and Art in Dialogue, a.a.O., S. 281. 11 titel thesen temperamente. Die Tänzerin Trisha Brown, a.a.O. 12 Brown im Interview mit Teicher, in: Trisha Brown. Danse, précis de liberté, a.a.O., S. 28. 13 Teicher, Dance and Art in Dialogue, a.a.O., S. 281. 14 Trisha Brown, zitiert in: Laurence Louppe, „Vorwort“, in: Danses Tracées, Paris 1994, S. 7. 15 titel thesen temperamente: Die Tänzerin Trisha Brown, a.a.O. 16 Teicher, in: Trisha Brown. Danse, précis de liberté, a.a.O., S. 18.
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sprechen kann, kommt es erst 1998 zu einer Ausstellung im „Drawing Room“ in New York und im Centre de la Vieille Charité in Marseille. 2002 ist dann die große Retrospektive in den USA zu sehen. Die gleichzeitig entstandenen Bodenzeichnungen spielen im Katalog dieser Ausstellung keine Rolle.17 Sie entsprechen der Vorstellung von der Einsamkeit des Zeichnens nicht. Wird in jüngster Zeit über Trisha Brown geschrieben, steht vor allem das Zusammenspiel von bildender Kunst und Tanz in ihren frühen Arbeiten im Vordergrund. Die aktuellen Arbeiten interessieren die Kritiker weniger.18 Umso interessanter ist es, dass es gerade Robert Rauschenberg, der Künstlerfreund der frühen Jahre, war, der sie zu ihrer Idee, tanzend mit beiden Händen zeichnen zu wollen, ermutigte. Er soll Brown gegenüber geäußert haben, dass dies ihre „beste üble Idee“ sei, die sie je gehabt habe.19 Im Folgenden seien einige Werkgruppen ihres 35-jährigen Zeichnungswerkes skizziert, die für die Frage nach dem Verhältnis von Raum, Zeichnung und Tanz exemplarisch sind.
Alphabets Zunächst war das Zeichnen eine Möglichkeit, die Tanzbewegung zu notieren, bevor es die Videokamera tat.20 Es ging ihr um visuelle Darstellung von Bewegung für sich und für andere Tänzer – vor, während und nach der tänzerischen Aktion. In diesem Sinne denkt sie im Zusammenhang mit ihren Tanzstücken Accumulation (1971), die von Yvonne Rainer als „ a new dance grammar“ bezeichnet worden sind21, über eine Tanzschrift nach (siehe Abb. 4 auf der DVD). Sie spricht selbst von „alphabets“. Interessant in unserem Zusammenhang ist, dass Accumulation von einer Drehung des Daumens ausgeht, der dann sämtliche Bewegungen folgen. Es sind also gestische Untersuchungen der Körpers im Raum. Man sieht, wie Brown zunächst die Variationsmöglichkeiten von Bewegungsrichtungen des Tanzes auf einem rechteckigen Boden in Tanzpartituren analysiert und versucht, ihre Choreografie verständlich zu machen. Schon hier überschreitet das zeichnerische Denken die Dokumentation und vermittelt die zeichnerische Bewegung des Tanzprozesses. Notation ist nicht nur als Aufzeichnungssystem zu verstehen, sondern als ein Verfahren, das die Entstehung der Formideen beeinflusst.22 Zunehmend mündet Trisha Browns zeichnerisches Denken in Blättern, die durch einen der Schriftform ähnlichen durchgezogenen Strich gekennzeichnet sind, der in einzelne durch Linien getrennte Schriftzeilen eingeschrieben ist und keine kubische Einfassung der einzelnen Bewegungsabläufe mehr erkennen lässt. Sie sind keine grafischen Darstellungen der Tanzbewegung, sondern „formen Raum“, wie sie selbst anmerkt.23
Pyramid In einer Werkgruppe Mitte der siebziger Jahre beschäftigt sie sich nicht mehr mit einer Tanzschrift, sondern mit der Möglichkeit, ihre Vorstellung von Tänzern und deren Ansammlung und Auflösung
17 Teicher, Dance and Art in Dialogue, a.a.O. 18 Vgl. hierzu den Katalog Tanzen und Sehen, Siegen, Sevilla, Frankfurt am Main 2007. 19 Wiebke Hüster, „Mit den Zehenspitzen auf den Punkt kommen. Der Tanz als Himmelsmacht. Zwei neue Arbeiten von Trisha Brown beim Festival für zeitgenössischen Choreographie in Montpellier“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 9. Juli 2002. 20 Brown im Interview mit Teicher, in: Trisha Brown. Danse, précis de liberté, a.a.O., S. 13. 21 Yvonne Rainer, in: Teicher, Dance and Art in Dialogue, a.a.O., S. 49. 22 Angela Lammert, „Von der Bildlichkeit der Notation“, in: Notation, Kalkül und Form in den Künsten, hrsg. von Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel, Angela Lammert, Berlin, Karlsruhe 2008, S. 39 ff. 23 Brown im Interview mit Teicher, in: Trisha Brown. Danse, précis de liberté, a.a.O., S. 15.
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im Raum zu vermitteln.24 So entstehen im Zusammenhang mit ihrer Choreografie Pyramid mehrere auf kariertem Papier angefertigte Zeichnungen, die Bewegungsbahnen und -richtungen in ihrem Auf und Ab sich wiederholender Gänge markieren.25 In diesen Zeichnungen verselbständigen sich Formen der Bewegungsbahnen zu Mustern, die ein Eigenleben führen und Katalysatoren für die Tanzbewegungen im Raum werden. Die Bewegungsschleifen, die auf dem Tanzboden gezogen werden, sind streng geometrisch organisiert und von formaler Radikalität. Die die Schwerelosigkeit außer Kraft setzenden früheren Performances an Häuserwänden oder Galerieräumen werden auf den Tanzboden geerdet und die Blickachse damit geändert.
Autonomous drawings Zur gleichen Zeit entstehen die ersten autonomen Zeichnungen, die mit Signatur, Datum und Titel bezeichnet sind und zu denen sie erklärt, sie seien „not intended to produce anything in dance. They have no mission […] nothing more than an infatuation with visual art and mouvement“.26 Sie verbindet linguistische, autobiografische und geometrische Formen (Abb. 5), so dass komplexe Liniengeflechte entstehen, bei denen es nicht mehr um das visuelle Organisieren der Tanzbewegungen geht. So notiert sie auf einem Blatt dieser Serie die Auswahl einer Textpassage, die die Grundelemente von Bewegung beschreibt – „pure movement is a movement that has no other connotation, is not functional, or pantomimic“27 –, und verbindet jeweils die gleichen Buchstaben dieses Textes durch gerade Linien. Diese wie ein Motto für Browns Performances stehende Textpassage demonstriert – entgegen eigenen Aussagen – ihr Agieren von der Bewegung im Raum her, auch in den autonomen Zeichnungen. Der freigelassene vertikale Schriftbalken teilt und öffnet das diagonale Netz der Bleistiftlinien, und ein weißer Zwischenraum hat für sie dieselben Qualitäten wie die Stille in der Choreografie.28 Steht bei diesen Zeichnungen das visuelle Organisieren der Tanzbewegung nicht im Vordergrund, so ist das bildnerische Denken aus dem Tanz heraus offensichtlich. Trisha Brown stellt die Frage nach dem Bezugssystem: Wie groß ist der Raum, in dem getanzt wird, und wie groß ist der Raum, der betanzt wird. Der ebenfalls freigelassene Rand des Papiers entspricht den Koordinaten des Tanzraumes und ist für die Struktur der Komposition und die potenzielle Änderbarkeit hin zum Rand von wesentlicher Bedeutung.
Figuration appears 1980 entsteht eine Werkgruppe, die sie aus Umrisszeichnungen ihrer eigenen Hände entwickelt. Die eigene linke Hand zeichnet die rechte in ihren Drehbewegungen und Fingergesten und umgekehrt. Es sind Blätter, die auf neue Weise direkt mit dem Tanzprozess verbunden sind und das Motiv als Gegenständliches erkennen lassen.29 Ansichten der Tanzwerkzeuge – Hand und Fuß – lösen die gestischen Untersuchungen des Körpers ab. Sie sind vor allem Ausdruck von Distanz, als würde ständig der Abstand zwischen dem eigenen Blick und den Gliedmaßen ausgelotet. Dabei sind die Hand- von den Fußzeichnungen zu unterscheiden, da die Füße in ihrer Verbindung mit dem Boden den Gang
24 Ebd., S. 14. 25 Unter anderem Untitled, 1975, und Drawing for Pyramid, 1975, Abb. in: Flügge, Kudielka, Lammert, Raum. Orte der Kunst, a.a.O., S. 297. 26 Brown im Interview mit Teicher, in: Trisha Brown. Danse, précis de liberté, a.a.O., S. 18. 27 Ebd. 28 Ebd, S. 19. 29 Left hand drawn by right hand #1, 1980, und Token for Bob, 1980, Abb. in: ebd., S. 60 f.
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Abb. 5: Trisha Brown, Glacial Decoy, 1980, Bleistift auf Papier, 41,9 x 27,9 cm, Collection Nancy Graves Foundation, Foto: D. James Dee (Trisha Brown. Danse, précis de liberté, Musée des Marseille 1998, S. 58).
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und die Ortsveränderung der Tänzerin möglich machen, wohingegen die Hände stärker an die Geste gebunden sind und den Umraum des Tanzes modellieren. Mitte der neunziger Jahre werden die Handzeichnungen durch Fußzeichnungen abgelöst (siehe Abb. 6 auf der DVD), die im Gebrauch des Zeichenmaterials, im Einklemmen zwischen den Zehen, auf die Bodenzeichnungen vorausweisen, auch wenn sie Umrisse bilden und noch nicht die Spuren der Bewegung darstellen. Sie sind jedoch schon die Schnittstelle zwischen dem den Tänzer umgebenden Raum und seinem Körper: „They are the connecting interface between body and ground“.30 Intimität des Herstellungsprozesses und der Arbeitscharakter verbinden diese eher kleinformatigen Zeichnungen, die sich von den circa drei mal fünf Meter großen Bodenzeichnungen unterscheiden. Bei den Bodenzeichnungen zu It’s a draw finden ein bewusster Maßstabswechsel im Papierformat und die Integration mit und in der Tanzperformance statt.
Compass Eine Serie von zehn Radierungen, die in den letzten zwei Jahren entstanden ist, ähnelt diesen Bodenzeichnungen (Abb. 7). Die Gesten der Fußspuren verbinden sich mit der Darstellung des reduzierten Ausschnitts eines Bewegungsablaufs. Einzelne Sequenzen eines Ganges auf dem Papier akzentuieren deutlich das Anschwellen und Abschwellen der Bewegungen, einem Crescendo und Decrescendo gleich – einem Rhythmus, der uns an die Zeichnungen auf kariertem Papier aus den siebziger Jahren erinnert, aber hier an den realen Ablauf des Tanzes gebunden ist. Das Gestische der Hand- und Fußzeichnungen wird mit dem Prinzip der Bodenzeichnung zusammengeführt. Wie bei der Kohlespur der Bodenzeichnung benutzt Trisha Brown ihren Fußabdruck, den sie auf die gleichmäßig mit einer Walze eingestrichene Druckplatte variiert und zentrisch kreist. Die Zeichnung auf der Kupferplatte ist aus den Erfahrungen der Performance It’s a draw entstanden, verselbständigt sich jedoch in der Zeichenhaftigkeit der fast ornamenthaften Form. Der Bildraum friert das Zeitliche der Bewegung ein, und die Komposition scheint wieder stärker von der zentrischen Ausrichtung der Zeichnung bestimmt zu sein. Selbst bei bis an den Rand gehenden Lithografien ist der Ausgangspunkt von der Mitte heraus zu erkennen. Titel wie Compass (2006) scheinen diesen Eindruck zu betonen. Die Praxis von Trisha Brown, ihre Performances nicht nur durch die Fotografie oder das Video festzuhalten – wie es einer seit Jahrzehnten üblichen Dokumentation entspricht –, sondern von Anfang an mit der Zeichnung als Denkmethode für die Choreografie zu arbeiten, macht die Zeichnung auf eine ganz eigene Weise zu einem Katalysator für die Formen der Tanzbewegung: angefangen vom Nachdenken über eine Tanzschrift über die Verselbständigung der Formen von Bewegungsbahnen in den autonomen Zeichnungen bis hin zur Verbindung von Zeichnung und Tanz in der Performance. Dabei scheint es nicht nur um das Gleichgewicht und die Balance eines privaten Herstellungsprozesses im Vergleich zur öffentlichen Aufführung zu gehen – auch wenn sie dem ersten Schaffensimpuls entsprechen –, sondern um ein sich gegenseitig anregendes Denken über Raum als Bewegung mit der Zeichnung und mit dem Tanz. Der Tanz als Raumkunst und der Bildraum der Zeichnung werden gleichermaßen durch die Bewegung geformt. Die Hinwendung zum institutionellen Theaterraum 1998 – vier Jahre vor It’s a draw – bezeichnet einen Einschnitt im Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit. Trisha Brown arbeitet mehrfach für die Oper. Für den Umgang mit der Zeichnung sind ihre Produktionen mit Terry Winters und Dave Douglas hervorzuheben. In Five Part Weather Invention (1999), dem ersten Teil einer Triologie, wird eine große schwarz-weiße Zeichenwand als Kulissenhintergrund in bestimmten Momenten der Auf-
30 Kommentar zur Ausstellung im Drawing Room, 1998, Internet.
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Abb. 7: Trisha Brown, Untitled, 2006, Radierung (Soft ground etching with relief roll), 64 x 56 cm.
führung so einbezogen, dass die verschieden großen Schatten Teil eines Liniengeflechtes werden, das deren Struktur im Prozess des Tanzes verändert. Auf diese Weise hinterlassen die tänzerischen Bewegungen temporäre Spuren auf der Zeichnung. Der Schritt zu den Bodenzeichnungen, bei denen eine Achsendrehung in die Horizontale stattfindet, ist nicht weit. Werkcharakter und prozesshaftes Denken ihrer frühen Arbeiten werden beibehalten und der intime Charakter transferiert, indem das Zeichnen mit dem Tanzen in Performances verbunden wird.
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Zeichnungen in der Luft Wie sehr die Choreografien von Anfang an durch die Form bestimmt sind, die der Betrachter im Raum wahrnehmen kann, zeigt die Arbeit Floor of the Forest (1970) – ein quadratisches, an ein Trampolin erinnerndes Gerüst mit netzartig angebrachten Stricken, an denen Kleidungsstücke befestigt sind – die als Requisit und Material des Tanzes dienen. Wichtig für die Rezeption dieser Tanzperformance ist auch hier die Blickrichtung. Das Publikum befindet sich nicht dem Tänzer auf Blickhöhe, jeweils sitzend oder aufrecht stehend, gegenüber, sondern kann und muss sich setzen, bücken oder legen oder am besten seine Position während der Aufführung verändern, um bestimmte Elemente und Formen des Ganzen wahrnehmen zu können. Ähnlich wie bei Man walking Down the Side of a Building (1966) wird die konventionelle Haltung des Betrachters und des Performers außer Kraft gesetzt und werden die gewohnten Koordinaten des Raumes und der Schwerkraft irritiert. Das Raster oder Gitter als geometrische Form, die man von oben sehen kann und die in Fotografien dieser Arbeit bewusst inszeniert wurde (siehe Abb. 8 auf der DVD), korrespondiert nicht nur mit Mustern der Minimal Art auf der einen Seite und den Zeichnungen auf der anderen Seite, sondern macht deutlich, wie wichtig Trisha Brown der Sehsinn als ein die Arbeit strukturierendes Element ist. Zur Performance Floor of the Forest gibt es keine während der Aktion entstehenden Zeichnungen, die Installation funktioniert jedoch als Bild und nicht allein als Objekt. Nicht nur der Tanz selbst, sondern auch das Objekt, das als Raum die Bewegung vorgibt, sind „Zeichnungen in der Luft“. Das im klassischen Sinne mit dem Zweidimensionalen des Blatt Papiers verbundene Zeichnen wird wie bei den Rauminterventionen der bildenden Künstler gleichermaßen dreidimensional definiert.31 Dabei sind bei Trisha Brown die Koordinaten der Bewegung bestimmend: Schwerkraft, Schwerelosigkeit, Dauer, Sequenz und Wiederholung. Auf einer frühen Zeichnung von 1975, die aus einer 12-teiligen Serie stammt und die während der Choreografie zu Locus (1975) entstanden ist (Abb. 9), scheinen die eingekreisten Nummern um den Kubus herum und in Positionierung zu ihm zu schweben und Verdichtungszentren zu bezeichnen, wie wir sie in anderer Form bei den Bodenzeichnungen wiederfinden. Es ist zu spüren, dass Brown dreidimensional denkt und den eigenen Abstand zu den Körperteilen und -gliedern misst, die den Radius für den Raum des Tanzes ausmachen. Trotz des großen Formates bleiben die Proportionen an den Körper rückgebunden und bestimmen, auch ohne dass Umrisse markiert werden, die Spur der Raumbewegungen auf dem Papier. Julia Kristeva beschreibt diesen Prozess als Aufhebung der Distanz zwischen „the thought and the hand; their instaneous unity captures the most concontrated interiority in visible bodies“.32 Das Zeichnen als Spur der Bewegung auf dem Papier und der Tanz als Zeichnen in der Luft können als parallele Erkenntnisformen verstanden werden, die raumbezogen entstehen. Hat sich der Schwerpunkt auch von dem Vorrang des Sehsinns für die Einrichtung von Raum hin zu einem kinästhetischen Ansatz verschoben, so ist die fortwährende Erzeugung und Modifizierung des Raumes ohne den Sehsinn nicht zu erfassen. Die visuelle Kontrolle und Steuerung von Körperbewegungen wird gerade in den Tanzperformances deutlich, in denen Trisha Brown das Zeichnen als Bewegung in ihren Tanz integriert. Raum entsteht durch körperliche Bewegung und ist zugleich Szene körperlicher Bewegung. Trisha Browns Zeichnungen stehen für eine solche Synthese zwischen zweidimensionaler Aufzeichnung und dreidimensionaler Bewegung. Für die Tänzerin standen nicht die tradierten Fragen einer Tanzschrift im Vordergrund. Die alten Fragen, wie sich der Körper in Bewegung aufzeichnen lässt und wie die Zeichnung in Bewegung zu sehen ist, standen für die Tänzerin nicht im Vordergrund. Es ging auch nicht um eine neue Tanz-
31 Besonders Kapitel IV. „Zeichnung im Raum“, in: Räume der Zeichnung, hrsg. von Angela Lammert, Carolin Meister, Jan-Philipp Frühsorge, Andreas Schalhorn, Nürnberg 2007, S. 169 ff. 32 Julia Kristeva, Visions capitals, zitiert in: Trisha Brown. Danse, précis de liberté, a.a.O., S. 12.
TRISHA BROWN
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Abb. 9: Trisha Brown, Untitled, 1975, Feder und Bleistift auf Papier, 30,6 x 22,9 cm, Collection Trisha Brown, Foto: D. James Dee.
schrift. Durch die prozessuale Verbindung in den Bodenzeichnungen hat Trisha Brown einen neuartigen Umgang mit der Zeichnung erprobt. Dabei stand die Bewegung im Vordergrund, durch die für sie der Raum erst entstehen kann: „Wether they are in air or on paper, it’s a whole other vista of possibility, another way of thinking about the body moving in space that frees me up to do things I would never think of doing in dance.“33 Ihre Zeichnungen sind Spuren der Bewegung auf dem Papier, und der Tanz ist ein Zeichnen in der Luft. Zeichnen, so betont Trisha Brown, „steht in der Luft zwischen mir und meinen Tänzern“.34
33 Hendel Teicher, Kommentar zur Ausstellung im Drawing Room, New York 1998. 34 Ebd.
ANNA HUBER
Raum nehmen | Raum geben Ein Gespräch mit Isa Wortelkamp über das Projekt umwege
Isa Wortelkamp: Wie verhält sich ein Körper zu seiner Umgebung und welche Rolle spielt dabei die Bewegung? Ich möchte dich fragen, ob du deine choreografische Arbeit als ein Erkunden oder Erforschen von Raum beschreiben würdest. Anna Huber: Ganz bestimmt. Ein wesentlicher Aspekt ist für mich, dass diese Erkundung mit allen Sinnen stattfindet, also über die Bewegung, aber auch über das Ertasten und Erspüren der verschiedenen Materialien, Oberflächen und Beschaffenheiten. Dazu gehört auch das Hören: Wie klingen meine eigenen Schritte oder die der anderen? Wie hallt der Raum durch meine Bewegung oder auch die Bewegung von anderen? Jeder Raum löst eine bestimmte Befindlichkeit aus, die auch eine emotionale Dimension hat. Dass dieses „Sich-Befinden“ und „Sich-Bewegen“ auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig stattfindet, ist sehr wichtig für mich. Ich könnte ja auch rein abstrakt vorgehen, indem ich mich mit meiner Körpergeometrie im Raum, zum Raum verhalte, mich ihm anpasse oder ihm etwas entgegenstelle. Oder eben nur emotional, indem ich frage: Was löst dieser Raum in mir aus? Die Viel-Sinnigkeit deiner Arbeit ist für mich ein wichtiger Punkt. Würdest du sagen, dass es dabei so etwas wie eine Hierarchie der Sinne gibt? In unserer Gesellschaft dominiert im Allgemeinen das Sehen. Dennoch bewegen wir uns im Alltag fast jeden Tag mit unserem Körper durch die Straßen und erfahren sehr viel durch den Bewegungssinn – nur eben weniger bewusst. Wenn ich mir in meiner Arbeit einen neuen Raum erkunde, ertaste, erobere, dann geschieht dies vor allem über das Körperliche, aber eben auf allen Ebenen, die dazugehören. Dabei überprüfe ich als Erstes, wie die Größenverhältnisse und Raumdimensionen sind, und frage mich: Wie klein bin ich in diesem Raum? Klein – im Sinne von Maß? Das würde ja dann sowohl das objektive „Befinden“, bezogen auf deine Statur, als auch das emotionale „Sich-Befinden“, im Sinne der Frage „Fühle ich mich klein“, betreffen? Oder hängt das vielleicht zusammen? Das hängt sicher zusammen. Natürlich spiele ich auch gern damit, objektive Größenordnungen und Größenverhältnisse umzukippen oder zu verstärken und so unsere Sehgewohnheiten zu irritieren: Plötzlich wird der Körper noch kleiner in einem riesigen Raum, oder er dehnt sich von einer engen Nische oder Ecke in den Raum aus. Und natürlich überträgt sich auch das Sich-klein-Fühlen auf die Qualität der Bewegung. Das geht hin und her: Wenn ich mich innerlich klein mache, dann wird automatisch die Bewegung kleiner – und umgekehrt. Ich möchte noch einmal nach dem Beginn einer Erkundung fragen: Wenn du einen Raum erforschst – wonach schaust du dann zuerst? Beispielsweise frage ich nach Richtungen: Was gibt der Raum vor? Wie ist er selbst strukturiert? Gibt es überhaupt schon eine Struktur, oder ist es eher ein beliebiger, unspezifischer Raum? Hat oder hatte er eine bestimmte Funktion, die meine Recherche und die Wahrnehmung beeinflusst? Was hat er
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Abb. 1: Therme Vals, Wandfigur: „In diese Linien und Zwischenräume konnte ich meinen Körper einfügen. Aber während des Arbeitens an einer dieser Wände habe ich plötzlich diese kleinen, fast verspielten Zeichnungen, die Maserungen im Stein entdeckt. So kam ich von strengen, klaren Strukturen zu organischen, fast archaischen Formen und Figuren. Das fand ich inspirierend: Einerseits gibt es das Theoretische, Abstrakte, und dann tun sich plötzlich ganz andere Formen und Richtungen auf.“ (© Ute Schendel)
für eine Geschichte? Wie sind die Energien, Dynamiken in diesem Raum? Ein wichtiger Aspekt sind dabei auch die Blickachsen. Schließlich soll es irgendwann auch eine Performance mit Zuschauern geben. Und daran muss ich von Anfang an denken: Aus welcher Richtung ist was überhaupt sichtbar, welches ist die spannendste Perspektive? Manchmal sind die interessantesten Winkel und Perspektiven in einem Raum leider gar nicht einsehbar. Das sind relativ banale logistische Probleme, aber sie entscheiden darüber, ob man etwas machen kann oder nicht. In der Blackbox der Berliner Akademie der Künste beispielsweise wollten die Veranstalter erst eine Tribüne aufstellen, aber ich wollte, dass die Leute von oben gucken, auch wenn das heißt, eine halbe Stunde zu stehen. Das fand ich einfach spannender, als in diesen spezifischen Raum eine Bühne hineinzubauen. Das ist zugleich auch die erste künstlerische Entscheidung. Gerade bei dieser Performance hat die besondere Perspektive, wie ich finde, sehr gut funktioniert. Und das Stehen am Geländer gehörte dazu, weil man so spüren konnte, sich in diesem spezifischen Raum zu befinden. Es ist also nicht nur die Perspektive, auch das für den einen oder anderen Zuschauer vielleicht beschwerliche Stehen intensiviert die Wahrnehmung von Raum über den eigenen Körper. Ich denke auch, dass man die Materialität dieses Raumes anders wahrnehmen kann, als wenn man selbst auf einem gepolsterten Stuhl sitzt und denkt: Die tanzt und rollt da auf dem nackten Beton. Das hat viel mit dem Taktilen zu tun. Man hat ein anderes Mitempfinden mit dem Körper, wenn man sich als Zuschauer selbst als Bestandteil des Raums wahrnimmt oder sich gar selbst in Bewegung befindet.
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Ist mein Eindruck richtig, dass es dein Ziel in umwege war, eine immer andere, spezifische Zuschauerposition herzustellen? Die Zuschauerposition ist in allen Arbeiten eine wichtige Frage, aber die Lösungen sind unterschiedlich. Manchmal gab es Sitzgelegenheiten, manchmal mussten die Leute einen Teil mitgehen, um eine andere Perspektive einzunehmen. Aber wir wollten nicht, dass es zu viele Vorschriften braucht. Das ist immer wieder eine Aufgabe: Wie viel muss man tatsächlich organisieren und festlegen, und wie viel kann man offen lassen? Im Feuerwehrhaus von Zaha Hadid in Weil am Rhein schien mir der Weg der Zuschauer genau choreografiert. Da hattest du anscheinend einen ganz genauen Plan: Von wo gucken sie, von wo kommen sie, was haben sie vorher gesehen, wie nähern sie sich diesem Gebäude? Ich fand auch bemerkenswert, dass sie erst einmal außen um das Gebäude herumgeführt wurden und erst danach hineinkamen. Wie kamen diese Entscheidungen zustande? Welche Rolle spielte das Gebäude selbst dabei? Ich habe dort sehr lange geschaut, mich selbst bewegt und vieles ausprobiert. Dabei sind wir auf Perspektiven gestoßen, die wir einfach nicht verschenken wollten. Dazu gehört der Weg auf das Gebäude zu: Ein paar hundert Meter entfernt liegt ein Wärterhäuschen, bei dem wir die Zuschauer versammelt haben, und zwar im Dezember, mitten in der Nacht. Von dort aus sind sie dann auf das Gebäude zugegangen. Drinnen war Licht, und ich war als Schattenriss in diesen Fenstern zu sehen, deren Verstrebungen wie ein Gerippe wirkten. Mein Körper war also zuerst ein Element dieser Struktur, wie ein Strichmännchen in einem Scherenschnittbild. Dann bin ich verschwunden, und die Zuschauer sind um das Gebäude herum in die riesige Halle hineingegangen. Dort haben sie mich wieder gesehen, aber aus großer Entfernung. Ich war wieder ganz vorne bei den Fenstern, aber nun als kleine Figur, als ein Knäuel am Boden. Das war eine ganz andere Perspektive als die Sicht durch das Fenster – drinnen war mein Körper sehr plastisch und hatte eine besondere Bewegungsqualität und Befindlichkeit. So etwas ergibt sich natürlich nicht immer. Hinzu kommt, dass wir auch Zwängen ausgesetzt sind. Im KKL in Luzern mussten wir eine Minitribüne aufstellen, weil die Performance in einem geschlossenen Bereich des Gebäudes stattfand, zu dem normalerweise keine Besucher zugelassen sind. (siehe Abb. 2 auf der DVD) Das heißt, dass nicht nur die architektonischen, sondern auch die sozialen Bedingungen, Begrenzungen, Beschränkungen, die insbesondere bei öffentlichen Bauten gegeben sind, Einfluss auf künstlerische Entscheidungen nehmen. Umso spannender ist es, wenn sich durch die Arbeit Räume öffnen, die für ein Publikum normalerweise gar nicht zugänglich sind. Das Betreten der Echokammer des KKL zum Beispiel ist eigentlich verboten. In Berlin gab es einen sehr unwirtlichen Ort, einen noch im Bau befindlichen Durchgang zur U-Bahn am Potsdamer Platz, wo zuerst eigentlich alles verboten war. Michel de Certeau sagt: „Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen“.1 Ich verstehe das so, dass ein Ort erst durch die Möglichkeiten der Bewegung zu einem spezifischen Raum wird, etwa dann, wenn man mit vorgegebenen Wegführungen oder Bewegungsführungen umgeht. Die Orte, Räume oder Zonen, die öffentlich zugängig sind, sind eigentlich meistens weniger spannend als diese Unorte, die man entdecken und erlebbar machen kann. Ich empfinde es allerdings 1 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 188.
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Abb. 3: Akademie der Künste, Blick von oben: „… ich wollte, dass die Leute von oben gucken, auch wenn das heißt, eine halbe Stunde zu stehen. Das fand ich einfach spannender, als in diesen spezifischen Raum eine Bühne hineinzubauen.“ (© Ute Schendel)
immer als eine Herausforderung, neue Perspektiven zu öffnen. Im Kunstmuseum Stuttgart waren die Räume zwar öffentlich, aber wir haben dann mit ganz extremen Perspektiven – von oben, von ganz weit weg oder von ganz nah – gespielt. So kann auch jemand, der den Raum schon kennt, ihn anders und neu wahrnehmen. Wenn du die Räume vergleichen würdest, in denen die umwege stattgefunden haben: Was war an diesen Räumen reizvoll? Es waren Räume, die eigentlich nichts anderes brauchen. Als wir in der Therme Vals von Peter Zumthor gearbeitet haben, war dieser Eindruck besonders stark. Ein solches Bauwerk braucht keinen Tanz, es braucht niemanden, der zeigt, wie man es erfahren kann, weil es in sich so stimmig ist: die Dimensionen, die Raumverhältnisse, die Materialien. Auf eine fast gegenteilige Weise reizvoll war die Arbeit im Berliner U-Bahnhof Potsdamer Platz. Es war ein Rohbau, auf reine Funktionalität ausgerichtet, kalt und brutal. Ich bin von Räumen fasziniert, die eine spezielle Kraft oder Sperrigkeit haben oder besondere Elemente, die Lust machen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Für mich besteht die Herausforderung darin, an meine Grenzen zu stoßen. Ein vielleicht interessanter Raum, dem die Sperrigkeit fehlt, bietet dieses Potenzial weniger. Im Gespräch nach der Aufführung in der Akademie der Künste hast du gesagt, dass dich die Frage interessiert, ob man in diesen Räumen leben könnte. Mich beschäftigt dabei das menschliche Grundbedürfnis, sich niederzulassen, seinen Raum, seinen Platz oder seinen Ort zu finden, sich einzunisten und es sich gemütlich zu machen. Dazu gehört auch das Thema, seinen eigenen Körper als Raum wahrzunehmen und sich darin einzurichten.
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Abb. 4: U-Bahnhof Potsdamer Platz, Berlin, Rohbau: „Es war ein Rohbau, auf reine Funktionalität ausgerichtet, kalt und brutal.“ (© Ute Schendel)
Du hast erzählt, dass du von deiner eigenen Wahrnehmung ausgehst, wenn du eine Arbeit beginnst, dass du bei der Gestaltung der Performance aber auch die Wahrnehmung des Zuschauers berücksichtigst. Würdest du sagen, dass deine Wahrnehmung des Raums sicht- und erfahrbar wird? Ist deine Wahrnehmung von bestimmten Richtungen oder Qualitäten des Raums übertragbar? Ich denke schon. Es gibt Räume, die wie ein Tunnel in die Tiefe gehen und bei denen ich mit dieser Tiefe gespielt habe. Oder ich habe mich mit nah und fern, groß und klein, weit und eng und mit den Blickachsen beschäftigt. Und auch wenn die Räume vom Grundriss her wenig spezifisch sind, kann ich mit dem Körper klare Richtungen etablieren, etwa durch Diagonalen oder mit kurzen und langen Wegen, bei denen der Körper den Raum einteilt. Auch die Materialien der Architektur können ein Ansatz für Bewegungen sein, wobei mich besonders der Gegensatz von Makro- und Mikrostrukturen interessiert. In der Therme Vals zum Beispiel gibt es Schichtungen von Steinplatten sowohl im Innenwie im Außenbereich. In diese Linien und Zwischenräume konnte ich meinen Körper einfügen. Aber während des Arbeitens an einer dieser Wände habe ich plötzlich diese kleinen, fast verspielten Zeichnungen, die Maserungen im Stein entdeckt. So kam ich von strengen, klaren Strukturen zu organischen, fast archaischen Formen und Figuren. Das fand ich inspirierend: Einerseits gibt es das Theoretische, Abstrakte, und dann tun sich plötzlich ganz andere Formen und Richtungen auf. Und wie hast du diese visuell-taktile Wahrnehmung einer Struktur in Bewegung umgesetzt, wie hat sie deine Choreografie beeinflusst? Die Erfahrung der kleinen Zeichnungen im Stein war tatsächlich Anlass für eine Bewegungsrecherche, in der ich versucht habe, sie in Bewegung umzusetzen. Wenn ich vom Gesamtraum ausgehe und ihm etwas entgegenstelle oder mich ihm angleiche, führt das eher zu geometrischen Bewegungen.
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Anders ist es mit organischen Mustern. Auch die persönliche Erinnerung daran, woher eine bestimmte Bewegungslinie kommt, macht einen Unterschied. Jetzt haben wir von der Struktur eines Materials gesprochen. Welche Rolle spielt der Begriff der Struktur in deiner Arbeit noch? Ich spiele mit Kräfteverhältnissen, etwa einer Wand gegenüber. Dabei stütze ich mich an der Wand ab oder stemme mich ihr in einem Winkel entgegen. Ich versuche dabei, ein gedankliches Umkippen umzusetzen, indem ich mir Fragen stelle wie: Lehne ich an der Wand, oder muss ich die Wand stützen? Diese Erfahrung des Umkippens möchte ich auch dem Zuschauer ermöglichen, so dass er plötzlich denkt: Sie muss die Wand stützen, die würde sonst ja umkippen! Das ist etwas, was ich im Machen und Betrachten herausfinde, im Ausprobieren über den Körper und die Bewegung. Da geht es auch wieder um die Perspektive: Der Boden kann plötzlich zur Wand werden, wenn die Zuschauer von oben draufschauen und die Tänzerin plötzlich am Boden bzw. an der Wand zu kleben scheint. Oder umgekehrt: Die reale Wand wird zum Boden, weil man so daraufguckt, als würde man an der Wand liegen oder auf der Wand sitzen. Kannst du deine Strategie noch genauer beschreiben? Ich denke da an die Schräge des Bodens oder die Schräge einer Wand: Kannst du sagen, wie du das sichtbar machst? Im U-Bahnhof am Potsdamer Platz gab es ja diese schräge Fläche mit einer Neigung von etwa 45 Grad. Wie arbeitest du damit, dass diese Situation tatsächlich für den Zuschauer wirksam wird, auch wenn er sie selbst nicht betritt? Auch in diesem Fall spiele ich mit Gegensätzen. Ich frage mich: Wie kann ich den Eindruck der Schräge erfahrbar machen oder sogar noch verstärken? Die Schräge wird dann als Schräge empfunden, wenn der Körper ihr etwas entgegensetzt, etwa indem er in der Vertikalen ist, oder mit der Schräge mitgeht, sich an die Wand anlehnt. Oder noch extremer: dadurch, dass er eine Position einnimmt, in der er über das Gewohnte hinaus in eine andere Richtung kippt. Ich mag es, mit diesem Kippen zu spielen, mit einem Schwanken, das den Körper in Bewegung hält. Ich möchte beim Zuschauer erreichen, dass er nicht mehr sicher sein kann: Schwankt jetzt der Boden, schwankt die Tänzerin, schwanken die Wände oder bin ich es selbst? Das heißt, du willst die Position des Betrachters destabilisieren. Geht es darum, mehrere Möglichkeiten von Wahrnehmung zu vermitteln, oder geht es um eine bestimmte Wahrnehmung? Ich denke, es geht immer um eine Vielzahl von Möglichkeiten. Das ist auch nicht anders bei meinen Bühnenstücken, bei denen ich dem Zuschauer auch eine Freiheit in der Wahrnehmung und der eigenen Fantasie geben möchte. Gerade etwas so Einfaches wie eine Schräge zusammen mit meinen schwankenden Bewegungen führt ja zu ganz unterschiedlichen Reaktionen: Bei manchen löst das Angst aus, manche finden gerade das toll, und es gibt Leute, denen macht das alles gar nichts aus. Ich möchte noch auf einen anderen Wechsel der Perspektive zu sprechen kommen: Du bist als Choreografin tätig und bist zugleich auch Tänzerin. Nimmst du Architektur eher als Tänzerin oder als Choreografin wahr? Und wie schlägt sich dies in deiner Arbeit nieder? Bei der Erkundung von architektonischen Räumen liegen diese Ebenen sehr eng beieinander. Bei einer Raumerkundung durch Ausprobieren, durch das Herantasten sowohl im physischen wie im übertragenden Sinn, handele ich als Tänzerin und reflektiere als Choreografin. Manchmal bilden sich spezielle Perspektiven, in denen ich mich selber gar nicht sehen kann. Dann kann ich mir nur vorstel-
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len, dass ich jetzt wirklich ganz winzig bin auf dieser riesigen Fläche. Oder ich bitte jemanden: Kannst du dich mal dahin stellen oder kannst du dich jetzt mal hinlegen oder hinkauern, damit ich das sehe. Und es gibt noch den Blick über die Kamera, durch den ich als Choreografin von außen schauen kann. Das hilft mir dabei, etwas, das ich empfinde oder das mir vorschwebt, umzusetzen oder zu intensivieren. Eine grundsätzliche, eher spielerische Frage: Choreografierst du die Architektur oder choreografiert die Architektur dich? Das geht ständig hin und her. Wenn ich an einen neuen Raum herangehe, würde ich das gar nicht trennen. Aber besonders spannend ist es, einen Punkt zu erreichen, an dem man sagen kann: Jetzt lasse ich den Raum etwas mit mir machen. Oder wenn ich etwas dem Raum entgegensetzte oder etwas mit ihm mache. Dabei kann ich den Raum selbst natürlich nicht wirklich verändern. Mein Körper verändert sich, und ich kann die Wahrnehmung verändern, aber ich kann den Raum nicht durchkneten, durchschütteln oder umkippen. Ich arbeite über die Vorstellung und über die Phantasie, meine eigene und die der Zuschauer, aber das wird zu einer Realität, es wird sicht- und erfahrbar. Georges Didi-Huberman hat hier auf der Tagung ein Schlagwort geprägt: „L’Espace danse“. Nimmst du Räume selbst als in sich bewegt, als beweglich wahr? Ich glaube, das ist wirklich von Raum zu Raum unterschiedlich. Vorhin hast du gefragt, wie ich Räume aussuche oder was mich an Räumen fasziniert. Geantwortet habe ich, dass sie eine Herausforderung bieten oder dass es eine Reibung gibt, eine Besonderheit oder große Qualität. Aber dazu kommt noch, dass sie die Großzügigkeit haben, sich selbst zu bewegen und zu transformieren. Das ist eine ganz besondere Qualität, die auch etwas Spielerisches für mich hat. Räume, die nur gebaut sind, um dazustehen für alle Ewigkeit, als Monument, die bewegen sich und mich nicht. Aber ich finde es eine Qualität von Räumen, wenn sie sich bewegen können, im Sinne einer Leichtigkeit. Vielleicht könnte man sagen, dass manche Räume einen fast selbstironischen Umgang der Architektur mit sich selbst zeigen. Also: Bewegung gestaltet Raum, Raum gestaltet Bewegung. Bewegung schafft Raum und – um noch auf einen letzten Aspekt zu kommen – bringt Zeit in ihn ein. Wie siehst du das? Das Material der Architektur hat eine andere Zeitdauer als ein Körper. Nicht nur, weil wir selbst vergänglich sind, sondern auch weil jede Bewegung vergeht und vorübergeht. Interessiert dich dieses Zeitmoment? Setzt du, wenn du in und in Bezug auf Architektur arbeitest, Zeit als einen Kontrast ein? Ich denke, dieser Kontrast ist ein ganz wichtiger Aspekt. Denn selbst wenn man davon ausgeht, dass der Raum sich bewegt, ist er im Vergleich zum Körper relativ statisch. Und auch der Kontrast zwischen den meistens harten, manchmal sogar brutalen Materialien und der Flüchtigkeit von Bewegung, ihrer Vergänglichkeit und der Verletzlichkeit des Körpers fasziniert mich sehr. Tanz ist für mich wie sichtbar vergehende Zeit in einem Raum. Wenn ich einen Raum betrachte und in ihm ein Lebewesen sehe, das kann eine Spinne oder ein kleiner Käfer sein, dann spüre ich, dass er durch sie belebt wird. Ich schaue oft Insekten zu, wenn ich ganz alleine in solchen Räumen recherchiere. Die sind sehr verletzlich und vergänglich, und der Raum besteht weiter. Und wird durch sie zum Leben erweckt.
OLIVER KORTE
Leere Räume
„rien nul n’aura été pour rien tant été rien nul“ Samuel Beckett1
Jeder Versuch, das Nichts zu imaginieren, überfordert den menschlichen Geist hoffnungslos. Allenfalls die Hilfskonstruktion der „Abwesenheit von Etwas“ führt ein wenig näher heran. So läuft jeder Prozess einer Ausdünnung, zu Ende gedacht, in die Leere. Wachsende Stille – dann Nichts. Blaise Pascal, dessen Werk ein wichtiger Referenzpunkt meiner komositorischen Arbeit ist, war der Faszination der Leere verfallen, und sein Kollege René Descartes spottete, er habe eben „zuviel Vakuum im Kopf“.2 Samuel Beckett kommt dem Nichts erschreckend nahe. Seine Gedichtsammlung Mirlitonnades war ein Katalysator für mein Sextett rien nul. „Nichts, niemand wird gewesen sein, um nichts so viel gewesen sein. Nichts, niemand.“3 In Becketts gedanklicher Konstruktion fällt die Leere den Leser hinterrücks an: Aus einer unbestimmten Zukunft richtet sich der Blick zurück auf die Gegenwart, nur um dort nichts mehr zu entdecken. Diese winzige Schleife überspannt eine unermessliche Leere. An anderer Stelle der Mirlitonnades beschwört Beckett einen „feinen Abgrund des Nichts“.4 Um dessen zwischen Schrecken und Befreiung schwankende Schönheit geht es im Sextett rien nul. Selbst der Urknall hinterließ nur einen winzigen Rest, den Schatten eines Ereignisses, spürbar allenfalls für die sensibelsten Detektoren. Was in rien nul zu hören ist – noch zu hören ist –, ist auch nicht mehr als ein entstofflichtes Echo. Überall klafft der leere Raum: in den Pausen zwischen zwei Tönen, in der Lücke zwischen einem hohen und einem tiefen Ton und sogar im Inneren eines Tones selbst, zum Beispiel in der Körperlosigkeit eines hingehauchten Flageoletts. Die größte Leere lauert jedoch in der vor dem ersten Ton des Stückes vergangenen Zeit. Wie war der prähistorische Klang beschaffen, dessen Rest man in rien nul hört? Das Stück erfordert eine Haltung des aktiven Hineinlauschens viel mehr als des gewöhnlichen, passiven, nebensächlichen Hörens.
1 Samuel Beckett, Flötentöne, Frankfurt am Main 1982, S. 36. 2 René Descartes, Brief an Christiaan Huygens vom 8. Dezember 1647, in: Œuvres de Descartes, hrsg. v. Charles Adam und Paul Tannery, Bd. 5 (Correspondance V, Mai 1647 – Février 1650), Paris 1975, S. 653. 3 Übertragung von Elmar Tophoven, in: Flötentöne, a.a.O., S. 37. 4 „fin fond du néant“ (Flötentöne, a.a.O., S. 16–17).
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OLIVER KORTE
rien nul/zero Ende des Jahres 2001 erhielt ich vom Berliner Neue-Musik-Ensemble Modern Art Sextet den Auftrag, eine Komposition für deren Besetzung zu schreiben: Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello und Klavier. Ich hatte gerade eine Reihe von drei kleineren Werken abgeschlossen, die alle den Untertitel „Elementarstudien“ tragen: Glas für drei Violoncelli, Kies für vier Klarinetten und Frost für Glockenspiel und Klavier. In diesen Stücken habe ich einige kompositorische Strategien gewissermaßen unter Laborbedingungen erprobt, also in eher kleinen Formaten und mit einem sehr begrenzten Fundus an Materialien und kompositorischen Prozeduren. Nun kam es mir sehr gelegen, diese Strategien auf ein längeres Werk für ein etwas größeres Ensemble zu übertragen. rien nul wurde am 7. November 2002 in einem Konzert der Reihe „Klangwerkstatt“ in Berlin uraufgeführt. Werner Gasser lernte ich 2006 bei der Vorbereitung einer Transversale-Tagung kennen. Beim Hören des Uraufführungsmitschnittes von rien nul kam ihm der Gedanke, das Stück mit bisher ungenutztem Filmmaterial zu verbinden, das er aus Chicago mitgebracht hat. Sein Video zero hat er auf die Aufnahme der Uraufführung von rien nul geschnitten. rien nul/zero erlebte seine Premiere am 3. Februar 2007 in der Akademie der Künste Berlin.
Raum Ein guter Freund äußerte nach dem Hören von Frost den Eindruck, man könne in dieser Musik „spazieren gehen“. Das hat mich sehr gefreut. In der Tat versuche ich in einer größeren Werkgruppe – zu der Frost ebenso zählt wie rien nul – das Konzept einer „landschaftlichen“ Musik zu verwirklichen. Es geht um das Entfalten eines imaginären musikalischen Raumes und darum, dem Rezipienten die Gelegenheit zu geben, sich darin frei zu bewegen. Hören wird zum Ausschreiten einer Landschaft. Das erfordert Aktivität des Rezipienten: Man muss gehen. Die sicherlich wichtigste Größe, welche den innermusikalischen Raum definiert, ist die Zeit. Nicht zufällig bezeichnen wir eine Zeitstrecke ganz selbstverständlich als einen „Zeitraum“. Zeit ist schwer nur als zweidimensionaler Strahl vorstellbar; im Gegenteil kann sie sich in unserer Wahrnehmung zu einem gigantischen Volumen auftürmen. Dieses Volumen wird in einem Haiku von Taniguchi Buson (1715–1783), das ich 1990 vertont habe, greifbar: „Aus späten Tagen Sind aufgehäuft die fernen Die alten Zeiten.“5
Neben der Zeit liegt ein weiterer räumlicher Aspekt der Musik in der Frequenz von Tönen. Wir bedienen uns hier eines ausgeprägt räumlichen Vokabulars und sprechen je nach Hertzzahl von „hohen“ und „tiefen“ Tönen. Der Mensch kann Töne von etwa 16 Hertz bis hinauf zu etwa 20 000 Hertz wahrnehmen; unser Hörraum erstreckt sich über rund zehn Oktaven und verliert sich ohne genau bestimmbare Grenzen irgendwo in himmelstürmender Höhe und abgründiger Tiefe. Schließlich ist noch der Aspekt des „harmonischen Raumes“ bedeutsam. Als harmonischen Raum möchte ich ein wohldefiniertes Beziehungssystem von Intervallen und Klängen bezeichnen. Der Wechsel des harmonischen Raumes, also das Überschreiten der Grenzen des harmonischen Bezugssystems, kann geradezu schockierend wirken.
5 Kirschblüten und wilde Astern. Japanische Haikus, ausgewählt und aus dem Urtext übertragen von Jan Ulenbrook, München 1989, S. 96.
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LEERE RÄUME
Proportionen und Schichten Zuerst die Zeit: Die zeitliche Gestalt von rien nul folgt keiner Prozesslogik, nach der sich eine Entwicklung sukzessive vom Beginn bis zum Ende vollzöge; vielmehr herrscht eine Logik, die ich topografisch oder auch architektonisch nennen möchte. Am Anfang der Komposition steht der leere, ungeteilte musikalische Raum. Aus diesem Raum schneide ich ein Quantum heraus und gliedere es vermittels eines Netzes von proportionalen Beziehungen: Ich vermesse es, setze Landmarken und mache den Raum so erst erfahrbar. So sind im ersten der drei Teile von rien nul (Takt 1–110) drei verschiedene Proportionsschichten übereinandergeblendet, so dass musikalische Ereignisse sukzessive, aber auch simultan ablaufen: Takt: 1
„Tonschicht“ „Rauschschicht“ „Impulsschicht“
11 10
21
31
10 2 20
41
10 2,5
10 3
61
71
10 3,5
81
10
101
4,5
10 5
5,5
20 9
20 6
7,5 181/3
91 10
4
20 12 7,5
231/3
51
7,5 131/3
3 7,5 7,5
7,5 81/3
31/3
+ freie Klavierstimme (quasi solo)
-11/3
Legende: - Graue Balken sind Teil der Proportionsberechnungen, ohne jedoch tatsächlich zu erklingen. - Die Pausen in der „Tonschicht“ werden mit jedem Mal um 0,5 Takte länger, in der „Rauschschicht“ werden sie dagegen stets um 3 Takte kürzer und in der Impulsschicht immer 5 Takte kürzer, so dass sich in letzterer schließlich zwei klingende Phasen überschneiden.
Abb. 1: rien nul, Proportionsgefüge der musikalischen Schichten im ersten Teil (Takt 1–110).
Die Schichten sind dadurch klar unterscheidbar, dass sie mit sehr unterschiedlichem Material gefüllt sind. Die „Ton-Schicht“ ist dominiert von sehr hohen, luftigen Flageolett-Tönen der Streicher (sie soll weiter unten genauer beschrieben werden). Hinzu tritt eine „Rausch-Schicht“; sie wird vor allem von den tiefen Instrumenten getragen: Cello, Bassklarinette und manchmal auch Viola. Zeitversetzt schälen sich hier aus dem Rauschen distinkte Töne, um nach einiger Zeit wieder zu verschwinden. Die dritte Schicht ist eine „Impuls-Schicht“; sie besteht aus den geflüsterten Phonemen [t] und [k]. Die drei Schichten mischen sich nicht; es ergibt sich eine räumliche Staffelung. Strukturell verbunden sind die Schichten jedoch durch die Tatsache, dass sie sich, jede nach ihren eigenen proportionalen Regeln, genau in die 110 Takte des ersten Teils von rien nul fügen. Sehr deutlich wird die räumliche Staffelung der klanglichen Ereignisse auch im dritten Teil des Stückes (Takt 146–220, im Video ab Minute 13:13). Hier überlagern sich mehrere Klangbänder, wobei jedes Band in einem eigenen Tempo pulsiert; es tritt aus dem Kontinuum hervor, erreicht einen Höhepunkt und verschwindet dann wieder im Gesamtklang. Auf diese Weise färbt sich das polymetrische Pulsieren kontinuierlich um. Hinsichtlich des Prinzips der Schichtengliederung stimmt das Video zero mit rien nul überein. Werner Gasser hat in Chicago Menschen und Fahrzeuge gefilmt, die eine Brücke überqueren. Dabei bleibt die Kameraeinstellung über die gesamte Dauer von knapp zwanzig Minuten unverändert. Zwar hat Gasser die Brücke aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen, doch entschied er sich schließlich nur für einen einzigen. Mehr und mehr rückt im Verlaufe des Films das Einzelereignis in den
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OLIVER KORTE
Hinter- und die Bildkomposition in den Vordergrund; der Zuschauer erlebt das Paradoxon eines bewegten Stilllebens. Das Bild ist deutlich in Schichten gestaffelt, zwei bewegte Schichten: Die Passanten im Hinter- und die Autos im Vordergrund werden durch die statische Schicht der Brückenarchitektur getrennt. Eine hinter der Kamera liegende Schicht wird nur für Augenblicke sichtbar. Die Reflexionen auf den Autofenstern zeigen Ausschnitte der Architektur auf der gegenüberliegenden Straßenseite:
Abb. 2: zero, Minute 7:53.
Das Video zero beginnt und endet in einer leeren weißen Fläche, der Abwesenheit jedes Raumes und jeder „Handschrift“. Diese Initiale frisst sich gleichsam in die Filmaufnahmen hinein: Die Brücke befindet sich anfangs in einem vollkommen unbestimmten Raum vor einem leuchtend weißen Hintergrund. Erst im Laufe der Zeit entpuppt sich dieses weiße Nichts durch langsame Lichtveränderung als eine weitere architektonische Schicht: eine Wand des Chicago Opera House. Die Bild- und die Tonspur von rien nul/zero verbinden sich zu einem komplexen System gestaffelter Schichten, die parallel zueinander einen festgelegten Zeit-Raum durchziehen, die unabhängig sind und doch in vielfältige Wechselwirkung treten und dabei strukturelle Verwandtschaften offenbaren.
Tonhöhen, Dauern und Harmonik Die erste kompositorische Arbeit an rien nul lag noch vor der Niederschrift des ersten Tones; sie bestand in der oben beschriebenen zeitlichen Vorordnung, der Errichtung eines Proportionsgefüges. Erst auf dieser Grundlage erfolgte nun als nächster Schritt der Entwurf konkreter musikalischer Gestalten. Dabei folgte ich zwei Grundsätzen. Erstens dem Gleichgewichtsgebot: Alle Elemente sollten so gegeneinander aufgewogen sein, dass keines ein Übergewicht erhält. Zweitens dem Abwechslungsgebot: Während sich die musikalische Landschaft als Ganze nur langsam verändert, werden am Wegesrand stets neue Details erkennbar. In rien nul treten Konstruktion und Ausdruck in ein spannungsreiches Verhältnis. Zur Verdeutlichung möchte ich die Struktur eines kurzen Abschnittes, des achten und letzten der oben erwähnten „Ton-Felder“, beschreiben. Die musikalische Textur von rien nul verstehe ich – um noch einmal das Bild Samuel Becketts aufzurufen – als ein Netz, gespannt über einem „feinen Abgrund des Nichts“. Durch die Maschen hindurch starrt einen eventuell das Nichts an. Damit das überhaupt gelingen
171
LEERE RÄUME
kann, ist jedoch ein überaus filigranes Netz vonnöten, ein sorgfältig ohne Verschlingungen und Knötchen geknüpftes Netz, ein Netz, das trotz seiner Luftigkeit nicht reißt. Um die Stabilität der Textur sicherzustellen, habe ich mich bei der Komposition einer strengen Ordnung unterworfen: Die Dauer, die Tonhöhe und die Oktavlage jedes einzelnen Tones beruhen auf Permutationen mehrgliedriger Zahlenreihen. In der folgenden Grafik ist dies dargestellt: Konstruktion des achten Flageolett-Feldes aus rien nul, Takt 95ff Dauern:
w
1=e; 2=f; 3=fis; 4=b; 5=h; 6=c
Oktavlagen: 1. Lage: e1–c2 2. Lage: e2–c3 3. Lage: e3–c4 4. Lage: e4–c5
Reihenfolge der Oktavlagen jedes Tones: Ton 1 (e): 2–1–3–4 Ton 2 (f): 2–1–4–3 Ton 3 (fis): 1–2–3–4 Ton 4 (b): 4–3–1–2 Ton 5 (h): 3–4–2–1 Ton 6 (c): 3–4–1–2
w
Verhältnis 1:2 Verhältnis 1:4
˙ w
˙.
w
w
œ w
Verhältnis 4:2
w
˙ w
w
Verhältnis 4:3
w
œ ˙.
Verhältnis 3:2
w
˙.
˙
w
Verhältnis 3:1
w
w
Töne:
Verhältnis 2:4
˙5.
˙
Länge der Taktgruppen: 3–4–1–2
w
w
Verhältnis 2:3 Länge der Taktgruppen: 1–4–2–3
w
w
Verhältnis 2:1
Länge der Taktgruppen: 4–2–1–3
Die Permutationen: 6–3–2–5–4–1 Flöte
w
31 *
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Violine (flag.)
&
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5
53
Viola (flag.)
&
63
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44
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Verhältnis 3:4
52
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5
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5
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2–6–5–3–4–1 œ œ 3 3–2–5–6–4–1 ˙ œ nœ ˙ J . œœ w w
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2–5–3–1–6–4 3
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33
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51
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34
œ . œœ w R 7
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42
* Erläuterung: Die große Zahl bezeichnet den Ton, die hochgestellte kleine Zahl dessen Oktavlage
Abb. 3: rien nul, achtes „Ton-Feld“, Takt 95–105, Minute 8:37–9:30.
Das abgebildete Tonfeld ruht, wie alle anderen auch, in einem konstanten harmonischen Raum, der die sechs Tonhöhen e–f–fis und b–h–c umfasst: zwei dreitönige chromatische Cluster im Tritonusabstand. Diese Sechstongruppe erscheint genau viermal hintereinander, und zwar immer in einer anderen Permutation. Bei einer so sparsamen Textur von nur 24 Tönen kann bereits die Wiederholung eines einzigen Tones in derselben Oktavlage das Gleichgewicht empfindlich stören. Darum erscheint jeder Ton viermal in einer anderen Oktavlage. Daraus resultiert ein sehr weiter, gespreizter Ambitus des Feldes. Zwingend ergeben sich so in jeder der drei Stimmen (Flöte, Violine und Viola) von Ton zu Ton große Sprünge. Auf diese Weise vermeide ich die Entstehung von Melodien im herkömmlichen Sinne, denn ebenso wie eine Tonwiederholung in gleicher Oktavlage brächte auch eine noch so kleine Melodie die Textur ins Ungleichgewicht.6 Das beschriebene Tonfeld gleicht einem ausbalancierten Mobile, welches, in der Zeit bewegt, immer neue Konstellationen eines konstanten Materials hervorbringt. Ebenso wichtig wie die Anordnung der Elemente im musikalischen Raum wird aber zugleich die Blick- bzw. Hörrichtung des Rezipienten; seine Aufmerksamkeit kann sich ebenso aufs Ganze wie auf ein Detail richten. Hier lasse ich einen Teil meines Anspruchs fallen, den Rezipienten durch das Werk zu führen, und muss auf Eigeninitiative hoffen: Man muss gehen. Zahlen und Proportionen gewährleisten eine Balance aller Bestandteile und einen Ausgleich der musikalischen Gewichte. Dabei lassen die strengen Spielregeln mehr Raum für Detailentscheidun6 Auch das Gleichgewicht der Tondauern wird durch Permutationsreihen gewährleistet. Jede der drei Stimmen des zehntaktigen Feldes wurde in einem ersten Schritt in vier Strecken mit dem Längenverhältnis 1 zu 2 zu 3 zu 4 (in ungeordneter Reihenfolge) geteilt. Anschließend wurde jede der so entstandenen zwölf Strekken in zwei Stücke zerteilt, und zwar jeweils unter Nutzung einer der zwölf Proportionen, die sich mit denselben Zahlen 1, 2, 3 und 4 bilden lassen. Auf diese Weise ergibt sich ein Proportionsgefüge mit 24 Dauern, dem sich die 24 unterschiedlichen Töne zuordnen lassen.
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OLIVER KORTE
gen, als man vielleicht vermuten mag, doch ein besonderer Reiz des beschriebenen Permutationsspiels liegt in der Tatsache, dass das Spiel innerhalb der definierten Grenzen unerwartete Schönheiten hervorbringt. Ordnung und Zufall verbünden sich. Ich bin davon überzeugt, dass auf der einen Seite eine strenge Ordnung eine ganz eigene, unverwechselbare Magie ausstrahlt, dass diese jedoch auf der anderen Seite in keiner Weise hinreichend ist, eine gelungene musikalische Formulierung zu gewährleisten. Im Gegenteil: Strukturelle Strenge und musikalische Wirkung verbinden sich nur widerstrebend. Daher nehme ich mir stets die Freiheit, eine durch die Spielregeln generierte Struktur zu verwerfen. So vergeht manchmal viel Zeit, bis ich die eine schöne unter den vielen korrekten Lösungen gefunden habe. Auf dem Weg liegt mancher hässlicher Fehlversuch.
Nichts rien nul ist eine Komposition der Leere, vor allem der Menschenleere. Im Vergleich dazu ist das Video zero überbevölkert. Auf den zweiten Blick jedoch herrscht auch hier eine sonderbare Öde; so sieht man zu Beginn eine Frau in Rückenansicht auf einer Brücke stehen und in eine unbestimmte Ferne schauen:
Abb. 4: zero, Minute 0:45.
„So könnte ein französischer Film beginnen“, sagte Werner Gasser mir nebenbei. Doch die Frau verlässt das Bild, um nicht wieder zu erscheinen. Nicht anders der telefonierende Autofahrer am Ende des Films. Keine der angedeuteten Narrationen führt irgendwohin. Ebenso im kurzen Mittelteil von rien nul (Takt 111–145; Minute 10:09–13:13). Immer wieder erklingen hier melodische Ansätze, vorsichtige, tastende Versuche einzelner Instrumente. Keiner wird ausgesungen, alle münden in weiträumige Generalpausen. Einige der melodischen Ansätze verschwinden unauffällig, andere werden unterbunden:
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LEERE RÄUME
[q = 58–62]
122 Flöte
& 44
Klarinette
4 &4
5
& 44
? 44
Violine
& 44
Viola
& 44
Klavier
& 44
solo
p äußerst zart
œ œ. J
œ ‰Œ 5
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5
‰‰‰ Ó P ordinario
5
Cello
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Œ bœ ˙
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‰‰‰ flageolett
w
Ó
*
v 3portato3 3 3 3 œ œœ œœ œ œœœ œœœ œœœ
sehr kurz Saite sogleich mit dem Finger stoppen
Œ JŒ ƒS
Bartokpizz.
Œ Œ œ. Œ J ƒS portato 5 >5 b vœ œœ œœ œ œœœ œ œœ b œ œœ Œ Œ Ó 3 3 3 3 3 F spiccato auf dem Steg œ (Saiten stoppen) 15 >15 Ó Œ. Ó Œ Ó F 5
spiccato auf dem Steg (Saiten stoppen)
Abb. 5: rien nul, Takt 122–127, Minute 11:00–11:33.
Hier beendet ein leises Cello-Flageolett, angefärbt von einem Klavierton, eine recht lange Stille. Aus diesem Ton erwachsen pulsierende Triolen der Violine und Viola, die ihrerseits einen zarten melodischen Ansatz der Flöte stützen. Dieser melodische Ansatz jedoch wird sogleich von einem scharfen Stakkato des Klaviers und einem Bartok-Pizzikato der Violine abgebrochen. Ein vom Knall aufgeschrecktes und sogleich verhuschendes Tickern der Viola und des Cellos mündet wiederum in Stille. Die Geschichte der Menschen in Gassers Video bleibt ebenso offen wie die der Melodiefragmente im Mittelteil von rien nul. Im Gegenteil werden die einzelnen Passanten im Laufe der Zeit ihrer Persönlichkeit beraubt. Sie verschmelzen zu einem Strom, einem Schwarm, der sich eher durch seine Dichte, seine Richtung und sein Tempo definiert als durch die Individuen, aus denen er sich zusammensetzt. In gleicher Weise verhalten sich in rien nul einige Impulsfelder: klickernde Klappengeräusche der Holzbläser und die von den Streichern geflüsterten Phoneme [t] und [k]. Sie sind rhythmisch nicht präzise festgelegt, sondern vielmehr statistisch angeordnet. Die von Werner Gasser gefilmte Szene ist geprägt vom Übergang. Alle Menschen auf der Brücke sind auf dem Weg irgendwohin, doch das Ziel bleibt ebenso offen wie der Ausgangspunkt. Die Bewegung bezieht sich nur auf sich selbst. Aus der Distanz betrachtet und ihres Kontextes entkleidet, wird die Betriebsamkeit ebenso richtungs- wie sinnlos. Gottfried Benn schreibt: „Bahnhofsstraßen und rue’en Boulevards, Lidos, Laan – selbst auf den fifth avenue’en fällt Sie die Leere an –
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OLIVER KORTE
ach, vergeblich das Fahren! Spät erst erfahren Sie sich: bleiben und stille bewahren das sich umgrenzende Ich.“7
Vergeblich schien zunächst auch Werner Gassers Chicagoreise, denn seine noch unbearbeiteten Filmaufnahmen wurden bei Gepäckkontrollen auf Flughäfen starker Strahlung ausgesetzt und beschädigt. Doch genau hier hat Gasser schließlich angesetzt: Er hat in minutiöser Kleinarbeit den Zerfall weitergetrieben. So gehört nicht nur das Gezeigte der Vergangenheit an, sondern auch das Bildmaterial selbst trägt bereits deutliche Spuren des Vergehens. Zero Sehen Sie die Arbeit von Werner Gasser auf der DVD.
7 Gottfried Benn, „Reisen“, in: ders., Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, hrsg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt am Main 1982, S. 384.
INGRID ALLWARDT
Raum der Musik – Spielräume des Hörens
„Der Raum, in dem wir leben […], ist selber auch ein heterogener Raum. Anders gesagt: wir leben nicht in einer Leere, die nachträglich mit bunten Farben eingefärbt wird, innerhalb derer man Individuen und Dinge einfach situieren kann. Wir leben in einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.“ Michel Foucault1
Raum und Musik, zumeist als eine Zeit- und Bewegungskunst gefasst, verbindet eine lange Geschichte. Diese aufzurollen ist hier nicht der Ort. Stattdessen soll mit Blick auf den „spatial turn“ der neunziger Jahre partiell für die Musik gefragt werden, wie eine Konzeption von Raum interessant wird, die eben den Raum nicht mehr als Behälter, sondern als Ergebnis von Bezügen versteht, das simultane Einheiten zusammenzuschließen imstande ist.2 Vor dem Hintergrund eines in der Musik der fünfziger Jahre zu konstatierenden Paradigmenwechsels im Umgang mit dem Parameter Raum in der kompositorischen Arbeit soll an zwei Beispielen aus dem Werk Luigi Nonos gezeigt werden, wie der Spielraum der Musik im wahrsten Sinne des Wortes zum Spielraum des Hörens wird und in welcher Weise die Frage des Raumes gerade dort virulent wird, wo verschiedene Künste aufeinandertreffen. Nonos Prometeo. Tragedia dell’ascolto und sein Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima generieren in ihrer Verschränkung von Sprach- und Klangraum neue Spielräume des Hörens. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Beschreibungen von Musik oftmals von einer räumlichen Metaphorik geprägt sind: Sprechen wir über Musik, so ist oft von hohen und tiefen Tönen, von steigenden und fallenden Sequenzen, weiten und engen Lagen, Bögen, Linien, Fläche und Grund die Rede. Musiktheorie und -wissenschaft verwenden den räumlichen Ausdruck Intervall („Zwischenraum“) für eine elementare Tonhöhenbeziehung – ganz zu schweigen von der Tonleiter, über deren Schritte der Klangraum begehbar zu werden scheint. Der Gedanke aufeinander bezogener Töne lässt auf eine in seinem Inneren räumliche Struktur der Bezogenheit schließen, und folglich erscheint es naheliegend, den Raum als eine Grundlage musikalischen Geschehens aufzufassen. Umso bemerkenswerter ist es, dass es eine zeitlang nur eine verhaltene systematische Auseinandersetzung mit diesem als eigenständig zu setzenden Parameter der Musik gibt.3 Im ästhetischen Feld der Musik gewann Räumlichkeit durch die serielle Musik – und den durch sie indizierten kompositorischen Paradigmenwechsel – in den fünfziger Jahren auch als Gegenstand neue Beachtung. Die Erkenntnisleistung dieser Musik bezog sich insbesondere auf die Möglichkeit, den einzelnen Ton nach verschiedenen Parametern zu differenzieren. Durch die Beschreibung der in der seriellen Musik zu beobachtenden Gesetze wurden 1 Michel Foucault, „Andere Räume“, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. v. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter, Leipzig 1993, S. 34–46, hier: S. 38. 2 Stephan Günzel, „Raum – Topographie – Topologie“, in: ders. (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007. 3 Gisela Nauck, Musik im Raum – Raum in der Musik. Ein Beitrag zur Geschichte der seriellen Musik, Stuttgart 1997.
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INGRID ALLWARDT
die elementaren Bedingungen für Komposition und Musik neu definiert. Zwar hatten sich diese innovativen Impulse der musikalischen Avantgarde, die ihre Kompositions- und Handwerkstechnik und damit ihr musikalisches Material radikal erneuerte, bereits Ende der fünfziger Jahre erschöpft, doch nachhaltig blieb durch sie eine neue Dimension in der musikalischen Gestaltung wirkungsmächtig: die Integration des realen Raumes als musikalisch kalkulierbares und in die Komposition integrierbares Element, als Ort klanglicher Transparenz, oszillierender Vielschichtigkeit und Bewegung. So stellte etwa Karlheinz Stockhausen dieses Phänomen einer „Musik im Raum“ einige Zeit ins Zentrum seines Schaffens, markierte es doch einen in dreifacher Hinsicht entscheidenden Einschnitt in die musikalische Moderne: Durch das Ineinandersetzen von zeitlichen und räumlichen Prozessen wurde die klassische Unterscheidung der Künste in Raumkünste und Zeitkünste in Frage gestellt. Seitdem begann die räumliche Dimension erstens in ihrer instrumentalen und zweitens in der elektronischen Variante, durch jeweils individuelle Klangtopologien für jedes Werk oder als werkspezifische klangliche Materialisierungen von Raum die musikalische Gestalt einer Komposition unmittelbar zu formen. Mit der Verteilung von Instrumenten oder Lautsprechern im Aufführungsraum entstand drittens eine neue Situation für musikalisches Hören und damit für die Rezeption. Die traditionelle, einseitige Gegenüberstellung von Bühne (Musik) und Auditorium (Hörer) wurde aufgehoben, der Konzertsaal als solcher immer wieder verlassen, variiert oder umgestaltet. So gibt es also den Raum, in dem Musik zur Aufführung kommt, der mit den konkreten Klängen klingt, an dem sich Interpreten wie Komponisten abarbeiten. Doch ertönt Musik nicht nur im realen Raum, sondern generiert auch eine eigene Art von Raum in sich, der mit jenem äußeren Raum nicht identisch ist und sich wesentlich über die Abgrenzung vom Außenraum konstituiert. Der Raum, in dem sie erklingt, ist der physikalische – der Raum, den sie evoziert, der musikalische. Zwar kann der musikalische Raum durch seine Funktion für die erklingende Musik mitgeprägt werden, doch sind der Raum, in dem Musik erklingt, und der Raum, der in Musik erklingt, zwei verschiedene Aspekte der Wahrnehmung. Der Innenraum der Musik ist dabei ein heterogenes Feld, in dem unmittelbare Erfahrung eines physikalischen Raumes und eines Raumes mit einer eigenen Wirklichkeit, der musikalischen Wirklichkeit, gleichermaßen zu finden sind, bestimmt durch das Gefüge von Klängen, deren Identifizierbarkeit durch den musikalischen Raum ermöglicht wird. Musik geht nun auf höchst unterschiedliche Weise mit diesem spannungsvollen Geflecht um – die Geschichte von Beziehung und Abgrenzung dieser beiden hier nur knapp skizzierten Räumlichkeiten verläuft in der kompositorischen Praxis von der scharfen Grenzziehung über die vorsichtige Öffnung bis zu einer ausdrücklichen Einbeziehung des äußeren Raums in den inneren. Wenn innermusikalische Komplexität sich historisch wesentlich der Abgrenzung und Autonomisierung verdankt, so beanspruchen Stücke, die ihr eigenes Stattfinden im Raum ausdrücklich thematisieren und jene Autonomisierung so teilweise zurücknehmen, eine andere Form von Komplexität, die sich auf die Unkontrollierbarkeit der Einbeziehung von konkreten Resonanzen und Assoziationen einlässt. Luigi Nonos Konzept der Tragedia dell’ascolto (am 29. September 1984 in der säkularisierten Kirche San Lorenzo in Venedig uraufgeführt) durchbrach die Grenzziehung zugunsten der Suche nach den risonanze erranti. Nono erkannte die Eigenständigkeit des Raumes als Klangkörper, der von den architektonischen Bedingungen und der Musik, die ihn zum Schwingen bringt, abhängig ist: der Raum als Ort und Medium der Rezeption und als Funktion der Komposition. Orientiert am geometrischen Raum versuchte Nono in dessen erkennbaren Grenzen einen ebenfalls erkennbaren, das heißt erhörbaren Klangraum zu schaffen. Dieser Klangraum kann dem geometrischen Raum entsprechen, muss es aber nicht, und so entwarf Nono Klangwege und Klangbewegungen bezogen auf einen geometrischen Raum, wissend, den Klangraum nie in dieser Weise hören zu können, denn Standort des Hörers, Schallreflexion und Schallabsorption beeinflussen den gedachten Klangweg. Das Spiel mit dieser Ungewissheit und der Herausforderung, im Moment des Erklingens kreativ mit der Klangsituation umzugehen, ließ ihn neue Klang- und Zeiträume in der Musik erschließen. An dieser Stelle ereignet sich
RAUM DER MUSIK – SPIELRÄUME DES HÖRENS
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Abb. 1: Partiturausschnitt aus Luigi Nono, Prometeo. Tragedia dell’ascolto, Milano 1985, S. 138.
die Tragedia dell’ascolto: Das Hören dieses Möglichen ist das Hören, in dem kein Unterschied zwischen Innerem und Äußeren besteht. Der Möglichkeit dieses Hörens, „als wäre mein Kopf San Lorenzo“, diesem entgrenzten Hören, steht immer sein Problematisches, die Notwendigkeit von Darstellung entgegen. Nono unterstreicht die Bedeutung des von Renzo Piano umgebauten Innenraums der Kirche San Lorenzo in Venedig, für den er das Stück geschrieben hat, für seine Komposition: Er sei nicht nur „Bühnenbild“, sondern Ort einer „[a]ndere[n] mögliche[n] Wahrnehmung, im Innern, in den ‚Eingeweiden‘ des phantastischen musikalischen Holzinstruments […].“4 Ist dieses Werk somit ohne den Renzo-Piano-Bau nicht spielbar? Mehrere erfolgreiche Wiederaufführungen des Prometeo hat es seit der Uraufführung 1985 in Venedig gegeben. Die Aufführung in der Alten Oper in Frankfurt bewertete der Komponist hinsichtlich der Live-Elektronik als die gelungenste. Zu erkennen ist darin das Ansinnen Nonos, den Raum gänzlich durch elektroakustische Installationen zu bestimmen, ihn selbst durch die Möglichkeiten der Live-Elektronik zu etablieren: Hör-Raum, dessen Innerstes Klang und Stille, Nähe und Ferne sei. Erst inspiriert, dann unabhängig vom Außenraum geht Nono vom musikalischen Innenraum der Klänge aus. Die Hölderlinvertonung der zweiten sogenannten „Insel“ der Komposition Prometeo. Tragedia dell’ascolto zeigt die Kunst, den Raum quasi zerbersten zu lassen. Klagend erklingen zwei hohe Sopranstimmen mit dem eigenen Echo verschränkt. Dieses Stimmengeflecht wird durch instrumentale Klangtupfer durchwoben, die sich mehr und mehr in die Tiefe senken. Der Raum scheint sich auszudehnen, zu wachsen und schließlich zu zerreißen. Schwebende Höhe und Untergrund entfernen sich mehr und mehr voneinander. Obgleich die Höhe der Vertikale in Form der vergleichsweise statisch erscheinenden Klänge der Sopranstimmen erhalten bleibt, stellt diese in Relation zu den sinkenden Stimmen keine raumbestimmende Größe dar. Sie bildet vielmehr den Bezugspunkt, vor dem das Bersten des Raumes hörbar wird. Der musikalische Raum spannt sich, bis in eine Art musikalisches Vakuum zwei Sprechstimmen einfallen: „Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen blindlings wie Wasser von Klippe zu Klippe ins Ungewisse hinab“ (Schicksalslied, Friedrich Hölderlin). Aber auch diese Textur zerreißt und klingt eigentümlich nach. Den Klängen, Tönen oder Clustern nachhörend, entfalten sich Tiefenschichten, Klangräume beginnen in ephemerer Präsenz zu oszillieren. Musikalischer Sinn, Zusammenhang und damit Inhalt entstehen nun nicht mehr durch melodisch-harmonische Verbindungen, also durch lineares Fortschreiten, sondern durch eine sich permanent erneuernde Gestalt. Die Spielräume der kreisenden, in sich beweglichen, durch LiveElektronik gesteuerten akustischen Ereignisse werden von Lautsprecher zu Lautsprecher geschickt. Sie entstehen mit Hilfe verschiedener Geräte elektronischer Klangumformung nach Klanggestalt und nach Verhalten im Raum. So wird der Klang zur „Deutung des Raumes“ (Nono).5 An dieser nicht 4 „Auf dem Weg zum Prometheus“. Gespräch zwischen Luigi Nono und Massimo Cacciari, in: Prometeo. Tragedia dell’ascolto, Programmheft für die „Frankfurt Feste“ 12./13. August 1987, o.S. 5 Ebd.
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statischen, in sich oszillierenden Gestalt zeigt Nono die Idee des „suono mobile“, der als komplexes und rätselhaftes Phänomen ein ganz anderes Hören verlangt: ein bewegter, beweglicher und flexibler Klang, dessen Anfang und Ende nicht eindeutig sind, ein Klang, der auf sich selbst als eine Bewegung in Zeit und Raum aufmerksam macht und eine veränderte Wahrnehmung anregt, die sich auf den Prozess des Hörens selbst richtet. Nicht „etwas“ als benennbares Ereignis bildet hier den Fokus der Wahrnehmung, sondern ein Moment der Weitstellung und der gleichzeitigen Konzentration auf einen Punkt, der als solcher nicht fixierbar scheint. Diese Art der Wahrnehmung verweist auf die Idee einer „Topologie des Hörens“ anhand der fragilen Existenz des Sich-Ereignens eines Klanges. Leise, zarte Klänge, die ohne hörbaren Einsatz „sich ereignen“, Klänge, die von sich selbst zu kommen scheinen, stellen die Frage der Erinnerung und sind geneigt, anerkannte Kategorien des Hörens zu irritieren, jedoch nicht geeignet, andere Dinge zu begreifen. Die Synthese des Überlagerns von zeitlichen und räumlichen Ebenen und des Appells an ein neues Hören, das auch die Stille wahrnimmt, formuliert Nono 1987 in den Anmerkungen zu Découvrir la subversion. Hommage à Edmond Jabès: „Gestern-Heute-Morgen durch die Echos / Erinnerungen / vergessenen Momente der Stille“.6 Wenn Nono in seinen Skizzen zum Prometeo7 immer wieder von der fragilen Existenz und von „zerbrechen“ spricht, so steht die musikalisch-räumliche Umsetzung des Textes im Vordergrund, der auf diese Weise nicht nur in den Klangraum – damit aber auch in den klangarchitektonischen Raum – projiziert wird, sondern der damit auch zugleich in Bewegung gesetzt wird. Die Einlassung des Textes vollzieht sich über ständig wandelnde Klang- und formrelevante Strukturkonstellationen: Wie bereits in seinem Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima greift Nono auf Kompositionsprinzipien Hölderlins zurück. Die Bildworte des Dichters, die als mehrdimensionale Sinngefüge zu lesen und zu hören sind, lassen einen verborgenen Zusammenhang einzelner Ereignisse sichtbar werden. Sein Arbeiten mit einer Technik poetischer Chiffren, die vom Leser nur bei mehrdimensionaler, plastischer Wahrnehmung adäquat aufgefasst werden können, führt zu einer Deutung, die sich stets in einem strukturellen Geflecht bewegt, in dem insbesondere die Stimme in Bezug auf Zeit, Raum und Bedeutung die Verbindung herzustellen imstande ist. In seinem Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima reichert Nono sein musikalisches Notationssystem durch poetische Worte an: Er verteilt Versfetzen aus Gedichten Hölderlins zwischen den Stimmen der Partitur und fordert die Interpreten in dem begleitenden Vorwort zur Komposition auf, diese Fragmente zu singen, und zwar ganz „nach ihrem Selbstverständnis, nach dem Selbstverständnis von Klängen“, was bedeutet: nicht laut, nicht hörbar, sondern innerlich – nicht die notierte Instrumentalstimme der Partitur, sondern die Worte des Dichters Friedrich Hölderlin sollen gesungen werden. Worte, die evoziert und gleichzeitig verschwiegen werden. Der Stimme wird über dieses künstlerische Verfahren in der Komposition die mediale Kraft zugeschrieben, Wissen und Spüren in ein oszillierendes Verhältnis zueinander zu führen. Folgt man der Spur verräumlichter Schrift im Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima, so findet man auch hier ein Kompositionsprinzip als mehrdimensionales Sinngefüge, das einen verborgenen Zusammenhang der einzelnen Ereignisse hörbar werden lässt. Das strukturelle Geflecht, in dem hier die verschwiegene, nur innerlich vernehmbare Stimme die Verschränkung von Zeit und Raum herzustellen imstande ist, verweist auf die Konfiguration flüchtiger Ereignisse: eine Topologie, die der Heterogenität ihren Raum lässt und die Differenz von Innen- und Außenraum zum Oszillieren bringt. Erst im Resonanzraum des Wahrnehmenden, dessen Ohr geschärft ist für die Veränderun-
6 Luigi Nono, Écrits, hrsg. u. komm. v. Leurent Feneyrou“, Paris 1993, zit. n. Franziska Breuning, „Ein reiner Gesang der Hoffnung“, in: Musik und Ästhetik 5, 2001, Heft 19, S. 57–71, hier: S. 70. 7 Luigi Nono, Prometeo. Tragedia dell’ascolto, Mailand 1995, o.S.
RAUM DER MUSIK – SPIELRÄUME DES HÖRENS
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gen eines in sich kreisenden Feldes fluktuierender Klang- und Spannungsrelationen, erhält Musik ihre lebendige Dimension – beim späten Nono oft in der Stille eines „singenden“ Kontinuums. Hörbar wird der Versuch, in der Verbindung von Text und Musik mit einer Pluralität von Zeit und Raum umzugehen, auf provozierende Verknüpfungen von Räumen und Zeiten aufmerksam zu machen, aufzufordern, überaus feinen Resonanzen nachzuhorchen und sich so die Schwierigkeit immer wieder zu vergegenwärtigen, welche die Auseinandersetzung mit den rätselhaften Momenten in sich trägt. Das per se Rätselhafte gibt sodann den Anlass, auch das vermeintlich Eindeutige zu hinterfragen. In der bemerkenswerten Spannung zwischen dem Konzept des geschichtlich Diskontinuierlichen, der latenten Präsenz literarischer Texte und den musikalischen Momenten von Kontinuität erscheint eine Bewegung, die sich als Suchen, als Prozess des Ringens um Erkenntnis darstellt, gleich einem Aufbruch ins Unsichere. Durch Zeit- und Raumkonstellationen, durch ungewöhnliche Schichtungen von Erfahrungsräumen akzentuiert Nono eine Ortlosigkeit, die dem gestalterischen Hörsinn seinen Spielraum im Raum der Musik eröffnet. „In vielfältigen Augenblicken sind Gedanken schweigende ‚Gesänge‘ aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln […].“ Luigi Nono8
8 Luigi Nono, Fragmente – Stille, An Diotima, Mailand 1980, o.S.
BENJAMIN WIHSTUTZ
Heterotope Resonanzen Romeo Castelluccis Inferno und die Topologie des Theaters
Der Palais des Papes in Avignon verfügt über eine Fassade enormer Ausmaße; bei Anbruch der Dunkelheit verleihen ihm die massiven alten Mauern mit ihren gotischen Fenstern etwas Mystisches, beinahe Unwirkliches. Nicht ohne Grund gilt der Cour d’Honneur des Palastes beim alljährlich stattfindenden Theaterfestival der Stadt als renommiertester aller Aufführungsorte, der sich nur schwer bespielen lässt. Als Romeo Castellucci 2008 als artiste associé für das Festival d’Avignon den Auftrag bekam, in jenem beeindruckenden Palasthof zu inszenieren, nahm er sich nicht irgendein Theaterstück vor, sondern mit Dantes Inferno eine literarische Vorlage, die das Alter des gotischen Bauwerks sogar noch um einige Jahre übertraf.1 Vor allem aber gab ihm Dantes Text – diese eigentümliche wie faszinierende Berichterstattung aus dem Jenseits – als Inspirationsquelle den Anlass, das Verhältnis von Theater und Raum auf neue und doch zugleich altbekannte Weise zu thematisieren. Denn das Theater als anderen Raum in Szene zu setzen, der selbst das Unvorstellbare vorstellbar werden lässt, mithin als Gegenort der Gesellschaft und des Alltags, ist zweifellos eine Möglichkeit, die der Topologie des Theaters selbst eingeschrieben ist. Seit jeher stellt die Aufführung für ihre Teilnehmer, das heißt für Zuschauer und Akteure, einen liminalen Zeit-Raum dar: einen real zugänglichen und doch auf besondere Weise begrenzten, durch Schwellen markierten Raum, in dem nicht nur gewisse Regeln und Normen außer Kraft gesetzt werden, sondern auch eine spezifische spatiale Verdoppelung vorliegt. Der theatrale Raum erfährt eine Aufspaltung, indem er einerseits Spielort realer hic et nunc stattfindender Ereignisse ist und diese andererseits fiktive, imaginäre und utopische Orte und Zeiten zu repräsentieren vermögen. Dabei ist das utopische Moment keineswegs zwangsläufig an die Repräsentation eines dramatischen Handlungsverlaufs gebunden, vielmehr liegt bereits im Ereignishaften der Aufführung und ihrer Wahrnehmung selbst, welches sich von alltäglichen Ereignissen räumlich und zeitlich abzugrenzen weiß, ein utopisches Potenzial. Wenn sich für die Zuschauer ein liminaler Zwischenraum von Fiktion und Realität eröffnet oder angesichts einer sich kollektiv ereignenden besonderen ästhetischen Erfahrung eine Art Zeugengemeinschaft der Aufführungsteilnehmer entsteht, so behauptet sich das Theater auf unterschiedliche Weisen „immer wieder als Distanznahme zum Alltäglichen“ und setzt sich als „Ausnahme-Ort“2 in Szene, als anderer Raum. Für Michel Foucault diente das Theater aufgrund seiner besonderen topologischen Eigenschaften als ein Beispiel für die von ihm so genannten Heterotopien, jene Gegenräume der Gesellschaft, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Heteropien sind laut Foucault „tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“.3 So gibt es Abweichungsheterotopien wie das Gefängnis, das Altersheim oder die Psychiat1 Castellucci inszenierte die Trilogie von Dantes Divina Commedia (ursprünglich Commedia) beim Festival d’Avignon in drei getrennten Inszenierungen. Die Premiere von Inferno fand am 5. Juli 2008 im Cour d’Honneur du Palais des Papes statt, die Premiere von Purgatorio am 9. Juli 2008 im Parc des Expositions von Châteaublanc (bei Avignon), Paradiso, eine begehbare Installation, wurde am 11. Juli in der Église des Célestins eröffnet. 2 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 2005, S. 303. 3 Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, in: ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 4: 1980–1988, Frankfurt am Main 2005, S. 931–942, hier: S. 935.
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rie; es gibt Heterotopien, die zugleich Heterochronien darstellen, Orte, in denen die Zeit angesammelt wird, wie das Museum oder das Archiv. Und es gibt Heterotopien, die die Fähigkeit besitzen, „mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen“.4 Zu diesen Heterotopien zählt Foucault auch das Theater, da es „auf dem Rechteck der Bühne nacheinander eine ganze Reihe von Orten zur Darstellung“ bringt, „die sich gänzlich fremd sind“.5 Nun ist bei dieser Klassifizierung offensichtlich, dass Foucault das Theater als Heterotopie in erster Linie auf seine Funktion der Repräsentation reduziert – eine Beschreibung, die aus heutiger Sicht angesichts postdramatischer Raumstrategien6 und der zunehmenden Hybridisierung von Theater und Performance-Kunst seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen gewissen Anklang von Anachronismus nicht verbergen kann. Und doch ist Foucaults Beschreibung des Theaters als Heterotopie keineswegs als obsolet zu betrachten. Hingegen scheint sich das Gegenwartstheater auf neue Weise dem Publikum als anderer Raum anzubieten, weniger als Repräsentationsraum vorgegebener dramatischer Orte und Handlungen, vielmehr als heterotoper Spiel-Raum, der mit verschiedenen Schichten, Verschachtelungen sowie Zeit- und Zwischenräumen experimentiert. Der theatrale Raum tritt dabei nicht selten als Resonanzraum in Erscheinung, der vergangene Zeiten und Orte, andere Inszenierungen und Kunstwerke sowie die dramatische oder literarische Vorlage der Aufführung anklingen und nachhallen lässt, anstatt sie lediglich zu repräsentieren. Im Folgenden soll es darum gehen, einige grundlegende Überlegungen zur Topologie und Heterotopologie des Theaters anzustellen und anhand der Analyse von Romeo Castelluccis Inszenierung Inferno exemplarisch zu zeigen, dass sich das Theater auch heute noch als ein Raum begreifen lässt, der den Zuschauern auf unterschiedliche Weise heterotope Erfahrungen ermöglicht.
Raum und Orte des Theaters Zunächst ist eine Begriffsklärung zu leisten: Was ist eigentlich gemeint, wenn vom Raum oder von den Orten des Theaters die Rede ist? Grundsätzlich gilt, dass Theater an jedem Ort stattfinden kann, aber immer einen konkreten lokalisierbaren Ort braucht, um sich zu realisieren. Dieser Ort muss keineswegs ein Gebäude sein, geschweige denn benötigt er eine architektonisch entworfene Bühne oder einen Zuschauersaal mit Sitzgelegenheiten. Jeder Ort, an dem Zuschauer und Akteure für eine „live“ stattfindende Aufführung zusammenkommen, kann als theatraler Ort bezeichnet werden. Dieser Ort darf kein virtueller Ort sein; er muss demzufolge real begehbar sein und von Zuschauern und Akteuren zeitgleich aufgesucht werden. Erst mit der Kopräsenz von Zuschauern und Akteuren wird der Ort der Aufführung zu einem theatralen Ort. Nun wird häufig zwischen Ort und Raum dergestalt unterschieden, dass ein konzeptioneller Ort als Ordnung einem von Bewegung und Erfahrung geprägten Raum gegenübergestellt wird, wie es beispielsweise Michel de Certeau in Die Kunst des Handelns vorgeführt hat. Als Geflecht von beweglichen Elementen macht demnach der Raum (espace) den (toten) Ort (lieu) lebendig und erfahrbar.7 Für das Theater wurde eine ähnliche Unterscheidung an anderer Stelle mit den Begriffen „geometrischer“ und „performativer“ Raum beschrieben.8 Grundsätzlich lässt sich wohl nicht bestreiten, dass Theater immer an einem gegebenen physischen Ort
4 Ebd., S. 937. 5 Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt am Main 2005, S. 14. 6 Zum Begriff des Postdramatischen siehe Lehmann, Postdramatisches Theater, a.a.O., insbesondere auch das Kapitel „Raum“, S. 285–308. 7 Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 217. 8 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 185 ff.
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stattfindet und zugleich einen Raum bespielt, der von Zuschauern und Akteuren bevölkert und erfahren wird. Allerdings sollte vermieden werden, Ort und Raum in einer Weise als Gegensätze zu begreifen, die dem unlebendigen physischen Ort die phänomenale Erfahrungsdimension abspricht. Eine Raumerfahrung beginnt im Theater nicht erst durch den performativen Raum, sondern ist bereits ebenso geprägt von der jeweiligen Architektur und Umwelt, beispielsweise von der sichtbaren umgebenen Landschaft im Amphitheater, von den Holzpodesten auf dem Marktplatz der Simultanbühnen im Mittelalter oder von den Säulen und Ornamenten der Logen in Theatergebäuden, wie wir sie heute noch kennen. Nicht ohne Grund haben neue Theaterästhetiken in der Geschichte immer wieder neue Theaterarchitekturen hervorgebracht, und vice versa haben neue Theaterarchitekturen neuen theatralen Ästhetiken den Weg geebnet.9 Die australische Theaterwissenschaftlerin Gay McAuley fasst diesen Aspekt des theatralen Raums folgendermaßen zusammen: „The building, as it exists within or outside the urban space, in relation to other buildings and the activities associated with them, the connotations of its past history, its architectural design, and the kind of access it invites or denies, are all part of the experience of theatre for both practitioners and spectators, and affect the way performance is experienced and interpreted.“10
Der theatrale Raum betrifft somit immer auch eine Politik des Raumes, die Verfahren der Öffnung und Schließung hinsichtlich des sozialen Raumes, der In- und Exklusion festlegt. Das betrifft zum einen die Grenzziehung des theatralen Raumes nach außen: So wird, wie Jens Roselt richtig bemerkt, „[d]urch tatsächliche oder symbolische Eingrenzungen, wie z. B. Eintrittsgeld, […] über den Zugang zum Theater und die Zusammensetzung des Publikums entschieden“.11 Zum anderen betrifft die Politik des Raumes die Grenzziehung innerhalb der Aufführung selbst: Der theatrale Raum organisiert dabei die Art und Weise, „wie Zuschauer und Akteure zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Seine Anordnung weist den Beteiligten ihre Funktionen zu, grenzt ihren Wirkungskreis ein und hat damit wesentlichen Einfluss auf die Medialität von Aufführungen.“12 Mithin erfährt jeder theatrale Raum eine Aufteilung und weist damit Zuschauern und Akteuren Orte innerhalb dieses aufgeteilten Raumes zu.13 Zwar findet Theater an einem Ort und in einem Raum statt, zugleich umfasst dieser Raum jedoch mehrere Orte, die als Raumstellen verschiedene Funktionen haben, wie beispielsweise Bühne und Zuschauersaal. Hinzu kommen zudem repräsentierte und imaginierte Orte, die ebenfalls als Bestandteile des theatralen Raums betrachtet werden müssen. An diese Orte vermögen sich die Akteure und Zuschauer mittels ihrer Einbildungskraft zu versetzen. Um auf die Differenzierung zwischen Ort und Raum zurückzukommen, möchte ich daher vorschlagen, anders als Michel de Certeau zwischen Ort und Raum in einer Weise zu unterscheiden, wie sie bereits die Alltagssprache andeutet und wie sie Bernhard Waldenfels beschrieben hat: 9 Zur historischen Bedeutung von Theaterarchitekturen siehe Marvin Carlson, Places of Performance. The Semiotics of Theatre Architecture, Ithaca, London 1989. 10 Gay McAuley, Space in Performance. Making Meaning in the Theatre, Ann Arbor 2000, S. 24 f. 11 Jens Roselt, „Raum“, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat (Hrsg.), Metzler-Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 260–267, hier: S. 260. 12 Ebd. 13 Mithin ließe sich eine „Politik des Raumes“ im Theater hier durchaus auch im Sinne der von Jacques Rancière ins Spiel gebrachten „Aufteilung des Sinnlichen“ (le partage du sensible) einer „Politik der Ästhetik“ verstehen. Demnach sind Politik und Ästhetik nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern gerade in der Frage nach der Aufteilung des und Teilhabe am Sinnlichen miteinander verwoben. Politik findet nach Rancière also immer dann statt, wenn ein Dissens entsteht, weil von Akteuren eine Neuaufteilung des Sinnlichen eingefordert wird – dies betrifft emanzipationspolitische Akte ebenso wie die Sichtbarmachung neuer Ordnungen und sinnlicher Aufteilungen in der Kunst. Ästhetik und Politik stehen mithin beide für die Einforderung von Gleichheit und Gleichgültigkeit. Vgl. u. a. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006.
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„Von Ort werde ich in dem Sinne sprechen, daß jemand oder etwas an (s)einem Ort ist. Der Ort breitet sich mehr oder weniger aus, doch er hat keine Teile. Von herausragender Bedeutung ist die Verbindung des Ortes mit einem Selbst, das sich hier befindet und dieses Hiersein auch bezeichnet. […] Von Raum spreche ich dagegen in der Weise, daß etwas im Raum vorkommt, eine Raumstelle einnimmt, sich in ein Raumnetz einfügt und von Raumgrenzen umgeben ist. Der Raum ist teilbar und meßbar.“14
Auf das Theater übertragen ließe sich zusammenfassend feststellen: Jede Theateraufführung findet in einem Raum statt, der von markierten Raumgrenzen umgeben ist, sich in ein Raumnetz einfügt und eine Aufteilung erfährt. Der Raum ist teilbar und messbar, zugleich wird er jedoch als performativer Raum erst mit der Aufführung hervorgebracht und erfahren, indem Zuschauer und Akteure ihre Plätze einnehmen, diese wechseln können, sich bewegen und damit den Raum der Aufführung konstituieren. Was den Ort betrifft, so ist entscheidend, dass sich die Aufführungsteilnehmer durch die theatrale Wahrnehmungsstrukter von Präsenz und Repräsentation, von Wahrnehmung und Imagination stets mit mehreren Orten zugleich konfrontiert sehen, die sich mittels der Einbildungskraft alle als hier erfahren lassen. Das phänomenale Hier wechselt gewissermaßen von Ort zu Ort, wenn die Zuschauerwahrnehmung zwischen Präsenz der Bühne und repräsentierten und imaginierten Orten oszilliert. Laut Max Herrmann, dem Begründer der Theaterwissenschaft, erfährt der Bühnenraum durch diese theatrale Struktur eine Verwandlung in einen „andersgearteten Raum“, der von Schauspielern, Publikum, dramatischem Dichter und Regisseur (inklusive Helfer wie Dramaturg oder Bühnenbildner) gemeinsam hervorgebracht und als „theatralisches Raumerlebnis“ unter dem Einfluss jener vier schöpferischen Faktoren erfahren wird.15 Die Raumerfahrung im Theater besteht demzufolge keineswegs allein in der Wahrnehmung und Imagination verschiedener repräsentierter Orte auf der Bühne. Vielmehr sieht sich der Zuschauer mit einem komplexen Spiel aus übereinandergelagerten Orten konfrontiert, die verschiedenen Ebenen der Präsenz und Repräsentation entsprechen und diese wahrnehmbar werden lassen. Der gegebenenfalls im dramatischen Text fixierte, fiktive Ort der Handlung betrifft dabei immer nur eine dieser Raumebenen. Unter dem Begriff der „Topologie“ des Theaters lassen sich nun all jene nur träge veränderbaren Strukturen und Aufteilungen des Raumes fassen, die die Wahrnehmung einer Aufführung von vornherein beeinflussen und prägen.16 Während der topografische Blick aufs Theater vor allem Raumrepräsentationen und ihre Erfahrung betrifft, geht es der Topologie um Lagebeziehungen von Orten und um diesbezüglich grundlegende Grenzziehungen, die jede Inszenierung mit sich bringt: sei es die Aufteilung zwischen Bühne und Zuschauerraum, seien es die gegebenen architektonischen Strukturen und ihre Verwendung oder sei es die Aufteilung zwischen Präsenz und Repräsentation. Die Topologie des Theaters betrifft somit immer einen geometrischen, architektonischen und sozialen Raum zugleich. Sie betrifft Ein- und Ausgrenzungen, Möglichkeiten der Grenzüberschreitung und das Verhältnis vom Raum der Aufführung zu abwesenden Orten. Als Heterotopie offeriert die Topologie des Theaters eine Öffnung und Schließung des Raumes zugleich, die ihm Laborcharakter verleiht und ihn in Beziehung zum Utopischen setzt. Um Castelluccis Inferno als Inszenierung einer bestimmten Form der Heterotopie zu begreifen, lohnt es sich daher, zuvor einige kurze theoretische und historiografische Anmerkungen zur heterotopen Qualität des Theaters zu machen.
14 Bernhard Waldenfels, „Polarität von Ort und Raum“, unveröffentlichter Vortrag auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung, Darmstadt 2007. 15 Max Herrmann, „Das theatralische Raumerlebnis“, in: Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie, Frankfurt am Main 2006, S. 502. 16 Zum Topologiebegriff siehe auch: Stephan Günzel (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kulturund Medienwissenschaften, Bielefeld 2007; insbesondere die Einleitung des Herausgebers, S. 13–29.
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Heterotopien und Utopien des Theaters Das Theater als Heterotopie zu betrachten, impliziert, dass es sich räumlich und zeitlich vom Alltag abgrenzt. Dabei sind die Konventionen, die jene zeitlichen und räumlichen Grenzen markieren und den besonderen Zeit-Raum der Aufführung ‚einläuten‘ – wie beispielsweise der Saaleinlass, das Abdunkeln des Zuschauerraums oder das Öffnen des Vorhangs –, historisch einem steten Wandel unterworfen. Während der Aufführung gelten im Theater traditionell andere Gesetze als außerhalb des Theaterraumes: So können in der Regel Figuren auf der Bühne sterben und zum Applaus wieder auferstehen, Ortswechsel und utopische Handlungen können repräsentiert werden. Doch ist auch die Repräsentation nur eine historisch hervorgebrachte Möglichkeit, die das Theater zur Heterotopie macht. Betrachtet man das Theater als einen Ort der Gesellschaft, der zu allen Zeiten als Heterotopie fungiert hat, so fällt auf, dass in bestimmten Epochen ganz andere heterotope Qualitäten in den Vordergrund traten als die Funktion der Repräsentation. So ist hinlänglich gezeigt worden, dass das europäische Theater in seinen Anfängen in der Antike an rituelle und festliche Praktiken geknüpft war, die dem Opferkult des Gottes Dionysos dienten.17 Auch im Mittelalter und der Renaissance waren theatrale Aufführungen eng an Feste gebunden, wie beispielsweise Untersuchungen der geistlichen Passions- und städtischen Fastnachtspiele gezeigt haben.18 Offenbar stand die Heterotopie des Theaters vor allem in frühen Epochen in engem Zusammenhang mit der Heterochronie des Festes, die – wie im Fall der Fastnachtsspiele – einen zeitlich begrenzten ‚Ausnahmezustand‘ der Beteiligten erlaubte.19 Die Darstellung von imaginären Orten war dabei im Rahmen von Aufführungen durchaus üblich. So gab es auf den Simultanbühnen des Mittelalters in der Regel Himmel und Hölle als fest installierte, meist auf dem Marktplatz gegenübergestellte Bühnen, auf denen nicht nur gespielt wurde, sondern zu denen sich auch die Zuschauer bei einem Ortswechsel der Handlung hinbewegten.20 Moderne Theaterfestivals wie das von Avignon stellen zweifellos auch heute noch Heterochronien dar, die die gesamte Innenstadt mehrere Wochen lang in einen riesigen theatralen Raum mit unzähligen Bühnen auf Plätzen und in historischen Gebäuden und Höfen verwandeln und jeden Sommer neben den Touristenscharen und Zuschauern auch zahlreiche Amateurtheatergruppen, Straßenkünstler und Gaukler anziehen, die in den Gassen kleine Szenen, Stegreifspiele und Zaubertricks vorführen. Man könnte sagen, dass sich Romeo Castellucci, als er Dantes Inferno in Avignon inszenierte, gleich in doppelter, indirekter Weise auf die heterotope Theaterpraxis des Mittelalters bezog. Zum einen indem er die religiöse literarische Vorlage nicht irgendwo, sondern innerhalb des Festivals einer mittelalterlichen Stadt inszenierte. Zum anderen indem er inmitten dieser Festivalatmosphäre gerade die Hölle Dantes in Szene setzte. Zwar handelt es sich bei der Göttlichen Komödie um keinen dramatischen Text. In Anbetracht der Tatsache, dass Höllenrepräsentationen im Mittelalter keine Seltenheit waren, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sich sowohl Dante an Vorstellungen und My17 Für eine umfangreiche Darstellung des Zusammenhangs von Theater und Fest in der griechischen Antike siehe Theo Girshausen, Ursprungszeiten des Theaters. Das Theater in der Antike, Berlin 1999. 18 Vgl. Erika Fischer-Lichte, „Städtische Festkultur und Theater im Mittelalter“, in: Kurze Geschichte des Deutschen Theaters, Tübingen, Basel 1999, S. 15–40. 19 Hier muss erwähnt werden, dass Theater und Fest natürlich auch seit dem 19. Jahrhundert immer wieder eng aufeinander bezogen wurden, man denke nur an die von Richard Wagner ins Leben gerufenen Bayreuther Festspiele, an Georg Fuchs’ einflussreiche Schrift Die Schaubühne der Zukunft (1905) oder an die Thingspiele im Dritten Reich. Vgl. Matthias Warstat, „Fest“, in: Fischer-Lichte, Kolesch und Warstat, Metzler-Lexikon Theatertheorie, a.a.O., S.101–104. 20 Vgl. dazu: Friedemann Kreuder, „Himmel und Hölle. Zum theatralischen Raumerlebnis im geistlichen Spiel“, in: Christel Weiler, Jens Roselt und Clemens Risi (Hrsg.), Strahlkräfte. Festschrift für Erika FischerLichte, Berlin 2008, S. 87–100.
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then seiner Zeit bezüglich der Hölle orientierte, die häufig Gegenstand theatraler Darstellung waren, als auch umgekehrt Dantes Beschreibungen der Höllenqualen nach der Verbreitung des Textes inhaltliche Grundlage zahlreicher Höllendarbietungen wurde. Eine wiederum ganz andere Heterotopie stellte das Theater zur Zeit der Entstehung des Bürgertums gegen Ende des 18. Jahrhunderts dar. Bei der Betrachtung von Aufführungsberichten und Dokumenten aus dieser Zeit fällt auf, dass die heterotope Qualität des Theaters auch hier weniger in der Repräsentation verschiedener Orte auf der Bühne lag, als vielmehr darin, für das Bürgertum einen anderen Raum zur Herausbildung und Einübung von Emotionen zu bieten, die sich im Alltag nicht erfahren ließen. Wie Rainer Ruppert und andere gezeigt haben, bestand die Hauptattraktion eines Theaterabends jener Zeit vor allem darin, sich hemmungslos den Tränen hingeben zu können und somit etwas zu tun, was außerhalb eines Aufführungsbesuchs nicht akzeptiert war: gemeinsam zu weinen.21 Das Theater kann aus dieser Sicht sowohl auf seine festlichen Ausprägungen im Mittelalter als auch auf das 18. Jahrhundert in gewisser Weise als Abweichungsheterotopie betrachtet werden. Die Menschen hatten mit dem Theater einen sozialen Ort etabliert, an dem sie sich anders verhalten durften als im Alltag. Postdramatische Inszenierungen des Gegenwartstheaters wie die von Romeo Castellucci scheinen bisweilen ebenfalls auf einen Modus der Abweichung zurückzugreifen. Nicht etwa indem geweint wird wie im 18. Jahrhundert – dafür ist seit dem 20. Jahrhundert die Heterotopie des Kinos vorgesehen22 –, sondern indem das Publikum Zeuge von Außergewöhnlichem wird, indem es in einen irritierenden Zwischenraum von Imaginärem und Realem, von Vergangenheit und Gegenwart versetzt wird. In Anbetracht dieser Abweichung vom Gewöhnlichen wird deutlich, warum Heterotopien „tatsächlich verwirklichte Utopien“ darstellen können, wie Foucault schreibt. Gerade weil die Aufführung zeitlich und räumlich begrenzt ist, kann das Theater als utopischer Raum in Erscheinung treten, in dem Dinge passieren und ausprobiert werden, die anderswo nicht möglich sind, sei es die Entstehung neuer (wenn auch zeitlich begrenzter) Gemeinschaften, das Eintreten in einen imaginativen Zwischenraum oder die Einübung eines gewissermaßen noch ‚utopischen‘ Umgangs mit Emotionen. Das Theater trat in seiner Geschichte aber auch immer wieder als ein Ort in Erscheinung, der, gerade was technische Entwicklungen betrifft, dem Publikum auf der Bühne Utopisches präsentierte. Als zwei willkürlich gewählte, historische Beispiele können der Einsatz von Flugmaschinen in Aufführungen zur Zeit Leonardo da Vincis23 oder die mit vielen technischen Raffinessen ausgestatteten Piscator-Bühnen der 1920er Jahre genannt werden, die vom Regisseur als vorrevolutionäre Räume in Szene gesetzt wurden. Dass dabei auch die Theaterarchitektur selbst Gegenstand utopischer Konzeptionen wurde, zeigt unter anderem der für Piscator konzipierte Entwurf des „Total-Theaters“ von Walter Gropius, das letztendlich nie verwirklicht wurde. Spielflächen und Zuschauerbereich sind darauf als umeinander kreisende Flächen abgebildet, so dass sowohl die Möglichkeit bestünde, verschiedene Raumordnungen wie Amphitheater, Arena oder Guckkasten herzustellen, als auch auf mehreren Bühnen gleichzeitig zu spielen und den Zuschauerraum auf unterschiedliche Weise räumlich einzubeziehen.24 Bei Romeo Castelluccis Inferno schien der utopische Gehalt der Architektur hingegen nicht in der Zukunft, sondern gewissermaßen in der Vergangenheit zu liegen. Der mittelalterliche Papstpalast diente dem Regisseur weniger als Kulisse, vielmehr als Resonanzraum, der unterschiedliche Orte und 21 Vgl. Rainer Ruppert, Labor der Seele und der Emotionen, Berlin 2002. 22 Vgl. hierzu Hermann Kappelhoff, Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodram und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004. 23 Siehe dazu die Dissertationsschrift von Viktoria Tkaczyk, Himmels-Falten. Zur Theatralität des Fliegens in der Frühen Neuzeit, Freie Universität Berlin 2008, München 2010 24 Vgl. dazu Silke Koneffke, Theater-Raum. Visionen und Projekte von Theaterleuten und Architekten zum anderen Aufführungsort, Berlin 1999.
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Werke der Vergangenheit, aber auch in Vergessenheit geratene Mythen und imaginäre Vorstellungen nachhallen ließ, um den dystopischen Ort der Hölle zum Leben zu erwecken.
Resonanzen des Imaginären Zu Beginn der Aufführung25 bot sich den Zuschauern in Avignon ein für das Theater eher ungewöhnliches Bild. Wer zum ersten Mal die im Hof errichteten Zuschauertribünen des Palastes betrat, bemerkte die umherwandelnden Menschen auf der Bühne vielleicht zunächst noch gar nicht, so überwältigend mochte die Präsenz der Festungsmauern wirken. Denjenigen jedoch, die den Ort bereits kannten, drängte sich zwangsläufig die Frage auf, ob hier nicht versehentlich vergessen wurde, den von Besuchern Tag für Tag besichtigten Hof des Papstpalastes rechtzeitig für die Aufführung zu schließen. Etwa ein Dutzend flanierende Touristen mit Rucksäcken und Audioguides waren auf dem Hof und hinter den gotischen Fenstern der Fassade beim Hin und Herschlendern zu sehen, offenbar mit der Besichtigung des Palastes beschäftigt. Undeutlich ließ sich nach einer Weile auch die Stimme eines Audioguides für die Zuschauer vernehmen, Bruchstücke des französischen Kommentars waren zu hören, Bemerkungen über die mittelalterliche Architektur und das Palastleben im 14. Jahrhundert. Dass es sich bei den Touristen in Wirklichkeit um Schauspieler handelte, wurde spätestens in dem Moment zur Gewissheit, als das auf die Zuschauertribünen gerichtete Scheinwerferlicht erlosch und die Menschen mit ihren Rucksäcken unaufgefordert die Bühne verließen. Castelluccis Reise in die mystische Welt Dantes begann also nicht in irgendeinem Jenseits, nicht im Imaginären; sie begann im Hier und Jetzt, an diesem historischen Ort, wie er heute gelebt und wahrgenommen wird. Das, was hier repräsentiert wurde – die Besichtigung des Palastes durch Touristen –, war nichts anderes als die alltägliche Wahrnehmung und Funktion dieses Ortes, einer mittelalterlichen Sehenswürdigkeit, deren Präsenz sich Tag für Tag den Besuchern als Zeugnis vergangener Epochen darbietet. Die Inszenierung stellte auf diese Weise nicht allein die architektonische Präsenz des Papstpalastes von Anfang an in den Mittelpunkt26, sondern vor allem auch eine sich offenbarende raumzeitliche Differenz, die für das Theater konstitutiv ist: So, wie sich der Tourist den mittelalterlichen Raum aneignet, indem er ihn durchschreitet und versucht, Daten, Namen und sichtbare Spuren eines anderen, der Erfahrung unzugänglichen Ortes aus der Vergangenheit mit der phänomenalen Präsenz des Bauwerks in Beziehung zu setzen, vermag auch der Zuschauer im Theater mit mehreren Orten und Zeiten zugleich konfrontiert zu werden, die der Erfahrung mal mehr und mal weniger zugänglich sind. Auch wenn sich die Wahrnehmung eines Bauwerkes grundsätzlich von der einer Aufführung – aufgrund ihrer Transitorik und Singularität – unterscheidet, ereignet sich die
25 Alle meine Beschreibungen beziehen sich auf meine Aufzeichnungen und Erinnerungen zur Aufführung vom 6. Juli 2008 in Avignon. 26 Hier ließen sich zahlreiche weitere Szenen anführen, bei denen die architektonische Präsenz des Bauwerks in den Mittelpunkt der Aufführung gerückt wurde. So trat beispielsweise Vergil, der Begleiter Dantes, als Fassadenkletterer auf, der sich mit baren Händen und Füßen auf beeindruckende Weise die etwa 50 Meter hohe Festungsmauer emporhangelte. In anderen Momenten setzte der computergestützte Lichteinsatz den Palast in Szene, indem ein aus dem Innern des Gebäudes herausleuchtender Scheinwerfer zwischen den Fenstern der Fassade hin und her wanderte, als wären sie allesamt Teil eines einzigen riesigen Saals, in dem jemand gesucht oder verfolgt würde. Szenen wie diese verdeutlichen, dass die Aufführung nicht von einem „leeren Raum“ oder einer „nackten Bühne“ (Peter Brook) ausging, sondern dem Cour d’Honneur des Palastes selbst zu einem theatralen Auftritt verhalf, ohne ihn zu verkleiden, ohne ihn mit Kulissen und Requisiten zu verwandeln, indem sie vielmehr immer wieder unterschiedliche Facetten und Details der Architektur ins Rampenlicht rückte.
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Raumerfahrung doch in beiden Fällen als Spiel der Wahrnehmung zwischen An- und Abwesenheit, zwischen Präsenz und Repräsentation27, zwischen inhaltlicher Vorlage und Aufführung. Nun gab es bei der Aufführung von Inferno in Avignon weder ein Drama als Vorlage, noch wurde auch nur ein einziges Wort der Commedia von Dante gesprochen. Direkt beteiligt war hingegen der Regisseur. Nachdem die „Touristen“ den Cour d’Honneur verlassen hatten, trat ein Mann allein auf die Bühne und sagte: „Je m’appelle Romeo Castellucci“. Er bekam einen wattierten schwarzen Schutzanzug überreicht und zog ihn sich über. Schon bald war im Hof das Widerhallen von lautem Hundebellen zu hören. Im nächsten Moment wurden von links acht ausgewachsene Schäferhunde auf die Bühne geführt und in einer Reihe an der Rampe festgekettet. Das laute, widerhallende Bellen und die von kaltem hellen Licht angestrahlte Festungsmauer verbreiteten eine furchteinflößende, frostige Atmosphäre. Castellucci selbst blieb ruhig mit ausgebreiteten Armen in der Bühnenmitte stehen, als plötzlich drei weitere unangeleinte Schäferhunde ohne Vorwarnung nacheinander von links in einem atemberaubenden Tempo auf ihn zurannten und sich direkt auf ihn stürzten. Die drei Hunde bissen sofort in seine vom Anzug beschützten Arme und Beine, rissen den Regisseur zu Boden und zerrten den wehrlosen Körper hin und her, während die anderen Hunde an den Ketten nicht aufhörten, laut und aggressiv zu bellen. Schließlich ertönten mehrere Pfiffe abseits der Bühne, die dem Bild der Gewalt und Wehrlosigkeit ein Ende bereiteten und die Hunde ebenso schnell die Bühne verlassen ließen, wie sie gekommen waren. Die Commedia beginnt im ersten Gesang ebenfalls mit einer furchteinflößenden Begegnung Dantes mit drei gefährlichen Tieren; auf dem Weg ins Jenseits wird er von einem Panther, einem Löwen und einer Wölfin in ein Tal vertrieben, „dorthin, wo keine Sonne scheinet“.28 Mit der Schäferhundszene griff Castellucci in seiner Inszenierung das Motiv der gefährlichen Tiere auf, wies mit der Szene jedoch im selben Moment wieder auf die raumzeitliche Differenz des Theaters zwischen Text und Aufführung hin. Indem sich der Regisseur selbst an die Stelle Dantes setzte und sich von den Hunden anfallen ließ, versuchte er gar nicht erst, den Anschein zu erwecken, als würde hier in irgendeiner Weise ein literarischer Text aufgeführt. Insbesondere die performative Äußerung „Je m’appelle Romeo Castellucci“ wies die Zuschauer darauf hin, dass hier nichts vor- oder nachgespielt werden sollte, sondern der Regisseur seine eigenen Bilder des Infernos von Beginn an in den Mittelpunkt stellte. So wie Castellucci vorgab, sich den Hunden zu opfern, wurde auch das Werk Dantes gewissermaßen geopfert und in etwas Neues transformiert, in eine Aufführung, die – wie die drei Hunde – lediglich Bruchstücke des Werkes resonierte.29 In der Tat wurde der Cour d’Honneur zu einem Resonanzraum, der nicht allein das Hundebellen widerhallen ließ und den Hof somit als akustischen Raum in Szene setzte, sondern auch visuell und vor allem atmosphärisch kaleidoskopartigen Bruchstücken von Höllenphantasien und alptraumhaften Bildern des Unbewussten zur Erscheinung verhalf. Diese Bilder,
27 Zur Oszillation zwischen Präsenz und Repräsentation siehe Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.a.O., S. 255 ff. 28 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Stuttgart 2001, S. 8. 29 Erika Fischer-Lichte hat in Bezug auf die Aufführung antiker Dramen gezeigt, dass mit der Aufführung antiker und mittelalterlicher Texte zwangsläufig eine Opferung des Werkes einhergehen muss, schon allein da eine ‚angemessene‘ Rezeption dieser Texte aufgrund ihrer Historizität nicht mehr möglich ist. Die Zerstückelung antiker Texte (wie bei Klaus Michael Grübers Inszenierung der Bacchien, die sie als Beispiel anführt) vermag heute gewissermaßen die Opferrituale zu Ehren Dionysos widerzuspiegeln, in deren Rahmen die Theateraufführungen im antiken Griechenland ursprünglich stattfanden. „Thus, the purpose of staging Greek – and other ancient – texts is to remind us of this distance and to enable us to find ways of coping with it individually and perhaps to insert fragments of such texts into the context of our contemporary reflections, life and culture. / That is to say that the text has to be dismembered in order to be staged. And this is what generally characterizes the relationship between text and performance. To stage a text means to perform a sparagmos and an omophageia – to perform a sacrifice.“ (Erika Fischer-Lichte, Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre, London 2005, S. 233 ff.)
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die wie Fossile aus dem Untergrund imaginärer Welten30 von der Inszenierung zum Leben erweckt wurden, erzählten keine konkreten Geschichten oder eine dramatische Handlung, geschweige denn die Commedia von Dante. Vielmehr gaben sie dem Publikum Spuren und metaphorische Andeutungen, die vom geopferten Werk Dantes, aber auch von Künstlern der Avantgarde oder einer in Mitteleuropa längst in Vergessenheit geratenen katholischen Mystik zeugten. Dass die Aufführung für das Publikum nicht allein einen realen Resonanzraum für Dantes Werk darstellte, sondern sich als Vorstellungsraum zugleich auf andere zahlreiche Künstler und Werke bezog, zeigt der Bericht eines Kritikers: „Die bei Dante auftretenden Maler Giotto und Cimabue werden durch Künstler des 20. Jahrhunderts ersetzt – und ihre Arbeiten beginnen miteinander zu kommunizieren. Der Auftritt eines Schimmels erinnert an Jannis Kounellis’ Aktion in der Galleria l’Attico von 1969, das Verbrennen eines Flügels zu Arvo Pärts ‚Spiegel im Spiegel‘ an Nam June Paiks Global Groove von 2004. Am eindringlichsten sind die Warhol-Bezüge, dessen Selbstmord- und Katastrophen-Serie ‚car crash‘ per Tonspur zitiert werden. Die Geräusche des zerberstenden Metalls und zersplitternden Glases werden zum höllischen Sound, der Horrorbilder aufruft und mit der steinernen Architektur des Papstpalastes in den Dialog tritt.“31
Bei keiner der in der Rezension erwähnten Szenen handelte es sich um direkte Zitate von Performances oder Kunstwerken. Abgesehen von einer Szene, in der ein Schauspieler mit Warhol-Perücke aus einem Autowrack ausstieg und die Zuschauer mit einer Polaroidkamera fotografierte, ließen sich die Szenen meist nur als vage Andeutungen und bildhafte Verweise lesen. Auch der Kritiker spricht daher von „Dantes Resonanzraum“, in den die Verweise und Bildzitate eindrangen. Es blieb der Phantasie und den Assoziationen der Zuschauer überlassen, inwiefern Bezüge zu anderen künstlerischen Räumen und Bildern hergestellt wurden. Insbesondere das Sound-Design appellierte dabei an die Phantasie der Zuschauer. Was für den einen die „Tonspur“ von Andy Warhols Car-Crash-Serie darstellte, konnte für einen anderen traumatische Erinnerungen an einen selbst erlebten Autounfall wachrufen oder einfach nur alptraumhaft laute Geräusche gewaltvoller Zerstörungen darstellen. In anderen Szenen trat der Tod visuell in Erscheinung, indem sich zahlreiche Darsteller gegenseitig die Kehle durchschnitten oder sich als Selbstmörder mit ausgebreiteten Armen rücklings einen Abgrund herunterstürzten. Zeitgleich wurden dabei an die Palastmauer Namen ehemaliger, verstorbener Mitglieder der Schauspieltruppe mit den ankündigenden Worten „A vous, acteurs de la Societas Raffaello Sanzio, qui avez joué avec nous et qui aujourd’hui n’êtes plus“ projiziert. Auch für die Truppe selbst wurde somit der theatrale Raum zu einem Raum der Erinnerung erklärt, der die Präsenz der Verstorbenen und vergangener Inszenierungen mit ihnen resonierte. Als Resonanzraum ließ der Cour d’Honneur verschiedene reale und imaginäre Orte und Zeiten nachhallen, wobei der emergierende atmosphärische Raum des Infernos in jedem Fall eines subjektiven Surplus des Imaginären bedurfte, das den visuellen und akustischen Bildern erst ihre Bedeutung verlieh. Erst durch diese imaginative Tätigkeit der Zuschauer vermochte das Theater zu einem Resonanzraum des Imaginären zu werden, in dem sich Erinnerungen, Vorstellungen von anderen Zeiten und Orten, Spuren und Fragmente des Gewesenen mit Momenten der Präsenz vermischten und dem Abwesendem somit zu einer indirekten Präsenz verhalfen. Gerade auch aufgrund des präsenten historischen Ortes als Bühne wurde das Theater damit zugleich zu einer Heterochronie, die durchaus jene 30 Maurice Merleau-Ponty spricht in seinem Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare bezüglich der latenten Dichte des „Fleisches“ von „Fossil[en], hervorgeholt aus dem Untergrund imaginärer Welten“, so von zahlreichen unterschiedlichen Bedeutungen und Querverweisen der Farbe Rot, die als Unsichtbares bereits im Sichtbaren mitschwingen. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen, hrsg. v. Claude Lefort, übers. v. Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München 2004, S. 174. 31 Stefan Tigges, „Alptraum mit Dante“, in: Frankfurter Rundschau v. 15. Juli 2008, http://www.fr-online.de/ in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=1367426 (aufgerufen: 9. Februar 2009).
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die Moderne auszeichnenden Qualitäten anklingen ließ, die Foucault den Heterotopien Archiv, Bibliothek und Museum attestierte: „Die Idee, alles zu sammeln und damit gleichsam die Zeit anzuhalten oder sie vielmehr bis ins Unendliche in einem besonderen Raum zu deponieren; die Idee, das allgemeine Archiv einer Kultur zu schaffen; der Wunsch, alle Zeiten, alle Epochen, alle Formen und Geschmacksrichtungen an einem Ort einzuschließen; die Idee, einen Raum aller Zeiten zu schaffen, als könnte dieser Raum selbst endgültig außerhalb der Zeit stehen, diese Idee ist ein ganz und gar moderner Gedanke.“32
Indem Castellucci seine subjektive Version von Inferno als heterotopen Resonanzraum inszenierte, der verschiedene Zeiten und Epochen sowie Fragmente von Kunstzitaten und imaginären Horrorszenarien widerhallen ließ, erschuf er einen heterotopen Raum, der das moderne Prinzip des Ansammelns von Geschichte mit der postmodernen Idee vereinte, den Zugang zum historischen Werk, sprich zur literarischen Vorlage Dantes, als schon immer versperrt und verschüttet auszuweisen. Das Theater ereignete sich nicht als Repräsentation einer im Text vorgezeichneten (Unter-)Welt, sondern in einem mittels der Einbildungskraft hervorgebrachten Zwischen-Raum von realen Sinneseindrücken und imaginären Projektionen.
Heterotope Erfahrung Neben den Resonanzen des Imaginären bot die Aufführung dem Publikum aber auch eine Szene, die den perfekt inszenierten atmosphärischen Raum in Frage stellte, ja ihn plötzlich als kontingent und verletzlich aufscheinen ließ und die Zuschauer in irritierender Weise mit ihrer eigenen Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit konfrontierte. Es handelte sich um eine Szene nach etwa einer halben Stunde der Aufführung, bei der ein von schwarzem Stoff bedeckter, gläserner Kubus inmitten der Bühne enthüllt wurde und die laute sakrale Musik, die zuvor die Aufführung begleitet hatte, für einen Moment verstummte. Was nun zum Vorschein kam, war mehr als erstaunlich: In dem gläsernen Kubus waren ein Dutzend Kleinkinder zwischen einem und drei Jahren zu sehen, die in aller Ruhe miteinander spielten und zunächst keineswegs den Eindruck erweckten, als ließen sie sich in irgendeiner Weise von der Beobachtung der Zuschauer stören. Außer den Kindern befanden sich in dem Raum noch einige Spielzeuge sowie ein großer Teddybär, der sich als kostümierter Erwachsener herausstellte. Zweifellos konnte sich die Szene nur auf den bei Dante im vierten Gesang geschilderten Limbus beziehen, die Vorhölle des ersten Höllenkreises – einen Ort, an dem sich die ungetauften Seelen aufhalten und Dante unter anderem auch Kindern begegnet. Der Anblick der Kleinkinder erschien für die Zuschauer innerhalb der infernalischen Atmosphäre der Aufführung zunächst einmal als vollkommen unwirklich. Was ihren Auftritt jedoch gleichzeitig unnachahmlich authentisch und zu einem „Einbruch des Realen“33 machte, waren die Geräusche, die mithilfe von Mikrofonen aus dem Kubus verstärkt nach außen übertragen wurden. Das Lachen und die Laute der Kinder beim Spielen waren deutlich zu hören. Eine Mischung aus Staunen und beklemmender Unsicherheit schien sich auf den Zuschauertribünen auszubreiten. Sollte der Regisseur tatsächlich derart kleine Kinder in einer solch furchteinflößenden Inszenierung auf der Bühne spielen lassen? Der gläserne Kubus schien das Publikum mit einem merkwürdigen Zwischenraum zu konfrontieren, der aufgrund der medialen Distanz und seiner räumlichen Abgetrenntheit auf paradoxe 32 Foucault, Die Heterotopien, a.a.O., S. 16. 33 Ich zitiere hierbei Hans-Thies Lehmann, der das „postdramatische Theater“ auch als „Theater des Realen“ bezeichnet hat und bezüglich seiner selbstreferenziellen Authentizitätseffekte vom „Einbruch des Realen“ spricht (vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, a.a.O., S. 170 ff.).
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Weise surreal und authentisch zugleich wirkte. Gesteigert wurde diese irritierende Situation noch, als eines der Kinder plötzlich anfing zu weinen und nicht viel später auch andere Kinder in das Wimmern einsetzten. Jetzt haftete der Szene erst recht etwas Unwirkliches und Unheimliches an, das Inferno schien sich gewissermaßen zu verselbständigen und in den geschützten Raum der unschuldigen Kinder hinüberzuschwappen. War das Weinen der Kinder Teil der Inszenierung? Gab es vielleicht irgendeinen unsichtbaren Trick, kamen die Geräusche womöglich sogar vom Band? Oder war dies lediglich der Preis für das unkalkulierbare Risiko, spielende Kleinkinder zum Bestandteil einer Theateraufführung zu machen? Letztendlich ließ sich für die Zuschauer nicht endgültig entscheiden, wie sie die Situation zu bewerten oder zu rahmen hatten, ob sie sich empören oder lediglich über die Radikalität der Inszenierung staunen sollten. Sie wurden mit einer Unsicherheit allein gelassen, die man als liminales Moment der Wahrnehmung bezeichnen könnte, eine Schwelle zwischen Fiktion und Realität, zwischen Inszenierung und diese durchbrechende Wirklichkeit, die der Heterotopie des Theaters stets anhaftet, aber nur selten in dieser Weise hervortritt. Jede Theateraufführung beruht gleichermaßen auf Inszenierung und Kontingenz, jedes Theater ist ästhetischer und sozialer Raum zugleich. Als anderer Raum tritt die Heterotopie des Theaters aber gerade dann in Erscheinung, wenn sich für den Rezipienten nicht mehr entscheiden lässt, mit welcher Perspektive, mit welcher Rahmung der theatrale Raum angemessen zu betrachten und zu beurteilen ist. Genau in diesen Momenten lässt sich von einer heterotopen Erfahrung des Zuschauers sprechen, die zugleich konstitutiver Kern jeder ästhetischen Erfahrung im Theater ist. Es ist das irritierende Moment, sich in einem Dazwischen zu befinden, in einem Raum, der weder Fiktion noch Realität darstellt, weder schlichte Gegenwart noch Repräsentation eines Werkes der Vergangenheit, sondern liminalen Zwischenraum, Schwelle, permanente Wandlung.34 Der „Einbruch des Realen“35, das Emergieren des Nicht-Perfekten36 vermag auch eine noch so perfekte bild- und soundgewaltige Inszenierung zu durchbrechen und mit einer Verletzlichkeit auszustatten, die andererseits immer auch als Zeichen der Perfektion und des Kalküls der Inszenierung gelesen werden kann. Der theatrale Raum erfährt hier eine Verfremdung, die kaum noch etwas mit der Brecht’schen Verfremdung gemein hat, sondern das theatrale Spiel als unabgeschlossenen performativen Raum zwischen Fiktion und Realität präsentiert. In einem anderen Kontext hat der Theaterwissenschaftler Nikolaus Müller-Schöll in diesem Sinne vorgeschlagen, das theatrale Spiel selbst als unabschließbare „Praxis im Denken“ zu begreifen: „Ausgehend von der Erkenntnis, dass Theater ein Resonanzraum ist, in und nicht vor oder nach dem das Denken stattfindet, geht diese Praxis auch auf Distanz zur Brecht’schen Distanz. […] Affimiert wird so in jedem Fall eine Andersheit, die dem dargestellten anderen eine Bühne für das eröffnet, was noch nicht und vielleicht niemals da sein kann, was im Zustand des Tanzens, Spielens, Sprechens das Kommende ermöglicht und immer von Neuem beendet.“37
Castelluccis Inferno ließ das Publikum den Raum einer solchen Andersheit erfahren, einen Raum, der in seiner Verletzlichkeit, seiner Vielschichtigkeit, mit seinen Resonanzen und Querverweisen, aber auch seinen Authentizitäts- und Verfremdungseffekten eine heterotope Erfahrung zwischen Diesseits 34 Zur ästhetischen Erfahrung als Schwellenerfahrung siehe Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.a.O., S. 332–350, sowie Benjamin Wihstutz, Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers, Berlin 2007, S. 108–133. 35 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, a.a.O., S. 170 ff. 36 Zur Inszenierung des Nicht-Perfekten im Gegenwartstheater siehe Jens Roselt, „Die Arbeit am Nicht-Perfekten“, in: Erika Fischer-Lichte, Barbara Gronau und Sabine Schouten (Hrsg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit, Berlin 2006, S. 28–38. 37 Nikolaus Müller-Schöll, „Raisonner sur scène. Über zwei Arbeiten Laurent Chétouanes“, in: Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk und Rebecca Wolf (Hrsg.): Resonanz. Potenziale einer akustischen Figur, München 2009, S. 291–305, hier S. 304 f.
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und Jenseits, zwischen Realem und Imaginärem ermöglichte. Auf sich selbst zurückgeworfen wurden die Zuschauer dabei nicht allein durch das Appellieren an ihr Denken und ihre Einbildungskraft sowie durch die irritierende Erfahrung, dass ein Urteilen über eine wahrgenommene Bühnensituation wie die der weinenden Kleinkinder letztendlich nicht möglich ist, sondern auch durch das reale Verschwinden des Bühnenraums: Während sich auf der Bühne die bereits beschriebene Szene der Selbstmörder abspielte, die sich hintereinander zu gregorianischer Musik rücklings in den Abgrund stürzten, wurde den ersten Zuschauerreihen eine riesengroße weiße Stoffbahn überreicht, die sich langsam, von hunderten Händen im Publikum getragen, von unten nach oben über alle Ränge ausbreitete, bis sich schließlich alle Zuschauer darunter befanden. Perspektivisch gefangen, ohne Akteure, ohne Bilder von außen, ohne Castelluccis Szenario der Hölle und lediglich begleitet von den mittelalterlichen Gesängen, reduzierte sich der theatrale Raum nach und nach auf den Zuschauerraum und konfrontierte das Publikum für einen Augenblick mit nichts anderem als sich selbst und der gemeinschaftlich geteilten Wahrnehmung. Die chorischen Formationen der Bühne wurden hier mit einem sich nun offenbarenden geteilten Raum der Zuschauer beantwortet, der unweigerlich darauf hinwies, dass die inszenierten Bilder der Hölle, jene repräsentierten Vorstellungen von Opferung und Marter, keine individuellen Phantasien des Regisseurs oder Dantes darstellten, sondern gemeinschaftlich hervorgebrachte und geteilte Vorstellungen eines kulturellen Imaginären widerspiegelten. Zugleich verwies die Inszenierung mit diesem simplen, aber effektiven Einfall jedoch auf eine weitere grundlegende Eigenschaft des theatralen Raumes: Ohne Zuschauer, ohne die Gemeinschaft der Augen- und Ohrenzeugen, ohne die geteilte Wahrnehmung eines Aufführungsgeschehens gäbe es kein Theater. Die Heterotopie des Theaters beginnt immer im Hier und Jetzt mit dem Theatron, einem geteilten Raum zum Schauen38, einem Ort realer Begegnung, der rar und kostbar geworden zu sein scheint in einer Zeit der virtuellen Räume und ihrer Vernetzung. Gerade nicht allein im Fiktiven und im Repräsentativen scheint sich das Theater heute als Heterotopie unter anderen Heterotopien auszuzeichnen, sondern mit jener gemeinsamen und geteilten Wahrnehmung realer Ereignisse, die zugleich Resonanzen unterschiedlicher Orte und Zeiten darzustellen vermögen. Das Publikum der Aufführung ist dabei immer auch Teil einer utopischen sozialen Idee, der Idee einer temporal begrenzten Gemeinschaft, die ein Stück Lebenszeit teilt, einer Gemeinschaft von Zeugen – keine Betrachter eines bestehen bleibenden Kunstwerks, sondern Zeugen eines singulären kontingenten Kunstereignisses zwischen sozialem und ästhetischem Raum, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, kurz: einer Aufführung als heterotoper Praxis. Sehen Sie einen Ausschnitt einer Aufzeichnung von Inferno auf der DVD.
38 Etymologisch stammt der Begriff „Theater“ von griechisch theatron = Platz, Ort, von dem man schaut, ab, „Theatron bezeichnete jede Anlage von Sitzreihen oder aufgestellten Tribünen als Versammlungsort für festliche, kultische oder sportliche Vorführungen“ (Andreas Kotte, „Theaterbegriffe“, in: Fischer-Lichte, Kolesch und Warstat, Metzler-Lexikon Theatertheorie, a.a.O., S. 337–344).
3. POLITISCH-TECHNISCHE REKONFIGURATIONEN
CAROLIN HÖFLER
Performanz der Form Prozessorientiertes Entwerfen in der Architektur
Blickverschiebungen Ohne Frage hat sich der Begriff der architektonischen Form durch die Digitalisierung und Mediatisierung des Entwurfsprozesses grundlegend verändert, was jedoch nicht heißt, dass der Computer als Instrument zur Gestaltbildung wahrgenommen und akzeptiert wird. Nur wenige Protagonisten der experimentellen Architektur haben sich mit den durch das Medium des Computers veränderten Bedingungen und Möglichkeiten für die architektonische Formfindung auseinandergesetzt. Ihre Beiträge und Projekte spiegeln das Potenzial des Computers zur systematischen Erzeugung und zeitlichen Modulation der Form wider. Zu den zentralen Theoretikern einer „Architektur im Zeitalter der elektronischen Medien“1 gehört der bauende und schreibende Architekt Peter Eisenman, der im Computer vor allem ein wirkungsmächtiges Instrument zur „Überwindung der Metaphysik der Architektur“2 sieht. Seit Mitte der siebziger Jahre bemüht er sich um eine architekturtheoretische Position, die den philosophischen und geschichtlichen Gehalt des „Projekts der Moderne“ kritisch reflektiert, ohne es aufzugeben.3 Im Jahr 1976 veröffentlichte er den programmatischen Aufsatz „Post-Functionalism“, worin er den Funktionalismus der Architekturmoderne zum Ausdruck eines verloren gegangenen idealistischen Weltbildes erklärte.4 Um modern zu sein, so lautete seine Forderung, müsse die Architektur die „Verschiebung des Menschen aus dem Zentrum seiner Welt“5 thematisieren. Eisenman beklagte, dass die Architektur intellektuell noch gar nicht in der Moderne angekommen war und sich im Unterschied zu Literatur, bildender Kunst, Film und Musik den geistigen Herausforderungen des metaphysikkritischen Denkens seit Nietzsche nicht gestellt hatte.6 Die Schaffung einer zeitgenössischen Architektur erforderte in seinen Augen eine radikale Anwendung der Moderne auf die Architektur selbst, eine Selbstaufklärung über unreflektierte Traditionsbestände, die der Autor polemisch als „Metaphysik der Architektur“ bezeichnete.7 Ausgehend von der Dezentrierung des Subjekts prognostizierte Eisenman weitreichende Folgen für den architektonischen Entwurfsvorgang. Der Entwerfer büßt zwangsläufig seine Rolle als zentraler Sinn- und Strukturstifter ein: „Er tritt weder als Erzeuger einer linearen Entwicklung mit einem Anfang und einem Ende auf, noch als Erfinder einer Form … Die Objekte werden als unabhängig von ihm verstanden.“8 Die Absage an das Werk als künstlerische Imagination löst dessen Entstehungsprozess aus dem Ableitungssystem eines klaren und vorgefassten Plans. Die Entsubjektivierung des Entwurfsprozesses zielt auf die Herstellung einer Architektur als Erfahrungsraum, der nicht länger nach den stabilen Ordnungsmustern traditioneller Architekturrationalität gefügt ist. Statt idealistische Vor-
1 Vgl. Peter Eisenman, „Visions’ Unfolding. Architektur im Zeitalter der elektronischen Medien“, in: ders., Aura und Exzess. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur, Wien 1995, S. 203–215. 2 Vgl. Eisenman, Aura und Exzess, a.a.O. 3 Vgl. Ullrich Schwarz, „Peter Eisenman. Dazwischen“, in: Der Architekt, 1993, Nr. 1, S. 43. 4 Vgl. Peter Eisenman, „Postfunktionalismus“, in: ders., Aura und Exzess, a.a.O., S. 35–41. 5 Ebd., S. 39. 6 Vgl. Ullrich Schwarz, „Ist der Architektur noch zu helfen?“, in: Die Zeit v. 6. Dezember 2001, S. 63. 7 Vgl. Ullrich Schwarz, „Another look – anOther gaze. Zur Architekturtheorie Peter Eisenmans“, in: Eisenman, Aura und Exzess, a.a.O., S. 13. 8 Eisenman, „Postfunktionalismus“, a.a.O., S. 39.
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Abb. 1: Peter Eisenman, House IV, Falls Village, Entwurf, 1971, Konzeptdiagramme (Peter Eisenman, Houses of Cards, New York, Oxford 1987, S. 66 f., © Peter Eisenman).
stellungen wie die Angemessenheit von Form und Funktion zu erfüllen, soll die Architektur ihrer eigenen formalen Logik folgen.
Formvariationen Seit Beginn seiner architektonischen Tätigkeit erprobt Eisenman Entwurfsverfahren, welche die Entwicklung unvorhersehbarer und zufälliger Formen ermöglichen sollen. Exemplarisch für die Verwandlung klar definierter Körper in unüberschaubare Raumgeflechte steht seine Studie von Hausentwürfen aus den sechziger und siebziger Jahren (Abb. 1).9 Eisenman ging bei jedem dieser Projekte von der Idealfigur eines Würfels aus, die er einem logisch-geometrischen Transformationsprozess unterwarf.10 Festgelegt waren die Modi der Formverwandlung sowie Art und Anzahl der zu verändernden Elemente. Beim House IV wurden etwa kubische Körper, vertikale Flächen und ein räumliches NeunQuadrat-Raster durch „Verschiebung, Drehung, Kompression und Ausweitung“11 organisiert. Eisenman stellte die jeweilige Hausform in einer zeitlichen Abfolge von Verdichtung, Schichtung und Überlagerung geometrischer Elemente dar und zeigte die verschiedenen Stufen der Formverwandlung in axonometrischen Prozessdiagrammen. Mit der Axonometrie als Darstellungsmodus ließ sich der erdachte Raum als wandelbare Figuration von offener Gliederung beschreiben, wohingegen die Perspektive ihn gewöhnlich als starre Dreidimensionalität erfasst.12 Eisenman schuf für jedes Projekt eine individuelle, logische Formel, nach der Grundelemente wie Linie, Ebene und Körper in Bewegung gesetzt wurden. Die Anwendung der Formel führte zu Objekten, die sich scheinbar „selbst entwarfen“.13 Die Aufgabe des Architekten bestand für Eisenman nicht darin, ein Objekt zu entwerfen, sondern ein „Transformationsprogramm“ zu erfinden, „das von traditionellen Beschränkungen des Schaffensprozesses frei war“.14 Charakteristisch für sein Entwurfsverfahren ist, dass der Architekt das Formbildungsverfahren initiiert, dann aber als Autor hinter dessen
Vgl. Peter Eisenman, Houses of Cards, New York 1987. Vgl. Jörg H. Gleiter, Architekturtheorie heute, Bielefeld 2008, S. 87 f. Peter Eisenman. Barfuß auf weiß glühenden Mauern, hrsg. v. Peter Noever, Ostfildern-Ruit 2004, S. 88. Vgl. Roland Knauer, Entwerfen und Darstellen. Die Zeichnung als Mittel des architektonischen Entwurfs, Berlin 2002, S. 77. 13 Peter Eisenman, a.a.O., S. 91. 14 Ebd. 9 10 11 12
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Automatismus verschwindet. Jeder der Entwürfe wurde von langen Protokollen15 und Diagrammserien begleitet, die zum Ziel hatten, die logische Stringenz der Verfahren zu beweisen, mit der die Architektur jenseits aller gestalterischen Subjektivität auf die „Grammatik der Zeichen“16 verpflichtet wurde. Ein geeignetes Instrument zur Erzeugung autorloser Transformationsprozesse erkannte Eisenman Anfang der neunziger Jahre im Computer. Für ihn lag die wesentliche Qualität des Rechners darin, Bilder zu schaffen, „die abgelöst sind von der Geschichte der Architektur und der Geschichte des konzeptionalisierenden Einzelnen“.17 Er nutzte die digitalen Techniken, um die Präsenz des Autors zurückzudrängen und selbstgenerierende Mechanismen der Gestaltbildung zu stärken. Zu den Vorzügen des Computers zählte er, dass mit ihm Formen nach festgelegten Regeln, aber ohne festgelegtes Ziel hervorgebracht werden können. Da die Formergebnisse von der Manipulation des Computers abhängig seien, ließen sie sich vom Entwurfsautor nicht vorhersehen, sondern nur entdecken.
Raumbeziehungen Eisenman sah den Nutzen des Computers nicht nur in der Erzeugung unvorhersehbarer Bilder, sondern auch in der Organisation räumlicher Beziehungen. Die Fähigkeit des Rechners, Zusammenhänge, logische Ketten und Wirkungsgefüge zu erfassen und zu gestalten, erlaubte ihm, architektonischen Raum als ein Beziehungssystem zu betrachten. Der Wandel des Raumbildes von der Idee des unabhängigen, absoluten Behälters zur Vorstellung der netzartigen, relationalen Ordnungsstruktur war für Eisenman eines der bezwingendsten Ergebnisse des „Projekts der Moderne“, das er als fundamentale Welterkenntnis in seinen Entwürfen veranschaulichen wollte. Zur Erzeugung offener Zwischenraumstrukturen entwickelte der Architekt in den achtziger Jahren eine diagrammatische Methode, bei der er den Plan des Baugrundes mit ortsprägenden Linienmustern und städtebaulichen Rastern überlagerte (siehe Abb. 2 auf der DVD). Mit derartigen Netzen einander schneidender Beziehungslinien überformte er das vorgefundene Gelände und definierte einen neuen künstlichen Grund, aus dem er seine Baukörper hervortrieb. Das Ineinanderweben und Verschachteln der sich überlagernden Raster auf dem Plan lieferte eine Matrix, die sämtliche Bauund Freiflächen zu Verbindungsstrukturen machte. Ziel dieses Verfahrens war es, den architektonischen Raum durch eine „Einschreibung“ zu prägen, die „weder vorrangig durch eine entwurfliche Gestaltungsvorstellung noch durch Funktion bestimmt ist“18, sondern durch verdeckte Beziehungen des Ortes, die durch die Architektur freigelegt werden sollen. Die von Eisenman zunächst analog entwickelten Beziehungsfelder lassen sich als konzeptionelle Vorwegnahmen der topologischen Computerflächen in der Architektur der neunziger Jahre verstehen, die geometrisch durch ihre Lagebeziehungen definiert werden. Konsequent verwendete Eisenman als einer der ersten Architekten das avancierte 3D-Modellierungsprogramm „Form.Z“, das mit topologischen Geometrien operiert.
15 Peter Eisenman, „Transformations, Decompositions and Critiques. House X“, in: Architecture and urbanism Nr. 112, Januar 1980, S. 25–151. 16 Vgl. Gleiter, Architekturtheorie heute, a.a.O., S. 87. 17 Peter Eisenman, „Interview“, v. Selim Koder, in: Intelligente Ambiente, Festival-Katalog, Bd. 1, Ars Eletronica, Linz 1994, http://www.aec.at/de/archives/festival_archive/festival_catalogs/festival_artikel.asp?iProjectID =8672 (aufgerufen: Dezember 2008). 18 Eisenman, „Visions’ Unfolding“, a.a.O., S. 211.
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Gestaltvibrationen Durch die Freilegung von räumlichen und zeitlichen Bezügen stellte Eisenman die stabile Identität eines Ortes in Frage. Seine Kritik richtete sich gegen die euklidische Raumvorstellung und die damit korrespondierende Idee einer feststehenden, Schutz bietenden Architektur. Seine diagrammatischen Experimente zielten auf eine Verzeitlichung der architektonischen Form, die durch die Digitalisierung des Entwurfsprozesses eine neue Phase erreichte. In seinen frühen Versuchen geometrischer Mobilisierung vollzog Eisenman eine systematische Deformation klassischer Grundformen der Architektur. Dabei stellte er nicht die Annahmen der traditionellen abendländischen Geometrie in Frage, sondern zwang sie, sich dem destabilisierenden Einfluss der Zeit zu unterwerfen.19 Alle frühen Arbeiten Eisenmans waren stets Variationen dieser einen Operation – der Mobilisierung der statischen Punkte der traditionellen Geometrie und ihrer Umwandlung in Oszillatoren. Erzeugte Eisenman Gestaltveränderungen zunächst innerhalb der geschlossenen Kubatur, so lenkte er die Aufmerksamkeit bald auf die Formabweichung selbst.20 In seinem Entwurf des Carnegie Mellon Research Institute für Pittsburgh spielte das Motiv des „Hyperwürfels“ eine zentrale Rolle (siehe Abb. 3 auf der DVD).21 Der „Hyperwürfel“ ist ein Würfel im vierdimensionalen Raum, der durch Projektion eines dreidimensionalen Würfels erzeugt wird. In axonometrischen Diagrammen entwickelte Eisenman komplexe Würfelreihen durch Vervielfältigung, Verschiebung und Überlagerung eines dreidimensionalen Kubus und übersetzte sie anschließend in eine Gebäudeform. Die Abweichung von Quadrat und Kubus erweiterte Eisenman zu einem System schwingender und einander durchdringender L-Formen, die Ausschnitthaftigkeit und Instabilität darstellen. Ein Leitdiagramm zeigt die grundlegende Operation der Zerlegung eines Quadrats in zwei L-Formen: Verschiebt man einen beliebigen Punkt auf einem Quadrat zu einer anderen Position auf der x- und der y-Achse, dann erhält man – vorausgesetzt, diese Verschiebung bleibt innerhalb der Ausmaße des ursprünglichen Quadrats – immer zwei L-förmige Gebilde, die in einer umgekehrten, wechselseitigen und oszillierenden Beziehung zueinander stehen (siehe Abb. 4 auf der DVD). Indem sowohl die beiden L-Figuren als auch die Übergangszone als aktive Flächen behandelt werden, scheint die ursprünglich regelmäßige, unveränderliche und strukturell stabile Form des Quadrats auf dem Papiergrund zu vibrieren. Die Multiplikation, Verschiebung und Überlagerung des Linienquadrats wiederholte Eisenman in Grund- und Aufriss, um den dargestellten Raum in Schwingung zu versetzen (Abb. 5). Die oszillierenden Figuren verursachten Abdrücke auf den zugrunde liegenden Formen, die anschließend selbst bewegt wurden und Spuren hinterließen. Auf Grundlage dieser Bewegungsaufzeichnungen entstand eine architektonische Form, die beständig zwischen Raum und Körper, Figur und Grund, innen und außen wechselte. Die von Eisenman manuell erprobten Verfahren der Objektbewegung nahmen die computergestützten Techniken der geometrischen Transformation wie Translation, Rotation oder Reflexion vorweg. Umgekehrt erlaubten die digitalen Techniken die Entwicklung geometrisch komplexer Figuren, die ohne Einsatz des Rechners so nicht vorstellbar gewesen wären. Das von Eisenman Anfang der neunziger Jahre eingesetzte Programm „Form.Z“ stellt dem Anwender nicht nur eine Fülle von Werkzeugen für die Gestaltverwandlung zur Verfügung, sondern erlaubt auch eine dynamische Interaktion mit der geometrischen Form. Mit der neuen Software sah Eisenman die Möglichkeit zur Temporalisierung und Prozeduralisierung der Architektur gegeben. Ausdrucksform für das digitale Raum-Zeit19 Vgl. Sanford Kwinter, „Der Genius der Materie. Eisenmans Projekt für Cincinnati“, in: Archplus Nr. 119/120, Dezember 1993, S. 44. 20 Vgl. Werner Oechslin, „Peter Eisenman. Der Kubus und seine Abweichungen“, in: Daidalos Nr. 35 v. 15. März 1990, S. 50. 21 Vgl. Auf den Spuren von Eisenman, hrsg. v. Cynthia C. Davidson, Sulgen 2006, S. 144–147.
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Abb. 5: Peter Eisenman, Guardiola House, Cádiz, Entwurf, 1988, Konzeptdiagramme in Grundriss (erste und dritte Reihe) und Aufriss (zweite und vierte Reihe) (Peter Eisenman. Barfuß auf weiß glühenden Mauern, hrsg. v. Peter Noever, Ostfildern-Ruit 2004, S. 102 f., © Peter Eisenman).
Kontinuum war die systematisch errechnete, fein gegliederte Kurve. Im Entwurf für das Aronoff Center for Design and Art der University of Cincinnati überlagerte Eisenman die bestehenden Bauteile mit einer kontinuierlichen Wellenform, die er aus der Anreihung gleich großer Rechteckglieder und einer Kurvendeformation gewann (siehe Abb. 6 auf der DVD).22
Systemänderungen Setzte Eisenman die Techniken der Formabweichung in seinen frühen Arbeiten für die Verwandlung geometrischer Grundkörper ein, verwendete er sie seit den neunziger Jahren für die Modulation strukturierter Bodenflächen, womit sich der Gegenstand der Gestaltung vom Objekt zum Terrain verschob. Orthogonal gegliederte Planraster und ortsbezogene Linienstrukturen wurden kombiniert und über Punktverschiebung in verzerrte Raumnetze verwandelt, aus denen die Baufiguren hervortraten (siehe Abb. 7 auf der DVD und Abb. 8). Eisenman ging von einem dynamischen Gestaltbegriff aus, wenn er die Verformung der Rastersysteme durch einen „Energieimpuls“ oder eine „Bewegung von Kräften in der horizontalen Dimension“23 ausgelöst sah. Zu solchen Kräften, die unabhängig von der Schwerkraft wirken, zählte er „externe urbane Zwänge“ und „interne funktionale Anforderungen“.24 Den von äußeren und inneren Kräften deformierten Raum verglich er mit dem topologischen Modell eines gefüllten Luftballons, der verformt werden kann, ohne zu zerreißen: „Wird der Ballon gefüllt und geknufft, platzt er nicht, sondern ändert nur im Laufe der Zeit seine Form. Drückt man ihn an einer Stelle ein, beult er an einer anderen Stelle aus. Das Innere wirkt sich also auf das Äußere aus.“25 Wie der Ballon sollte sich der
22 Vgl. ebd., S. 154–161. 23 Peter Eisenman, „Das Diagramm als Raum der Differenz. Die MAK-Ausstellung“, in: Peter Eisenman, a.a.O., S. 16. 24 Peter Eisenman, „Zwischenraum“, in: Archplus Nr. 144/145, Dezember 1998, S. 79. 25 Ebd.
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Abb. 8: Peter Eisenman, Masterplan Rebstockpark, Frankfurt am Main, Entwurf, 1990–1992, Konzeptdiagramm, Entwicklung eines durchgehenden, dreidimensional gefalteten Netzes (Eisenman Architects, Albert Speer & Partner – Hanna/Olin, Frankfurt Rebstockpark. Folding in Time, hrsg. v. Volker Fischer, München 1992, S. 59, Abb. 3, © Peter Eisenman).
architektonische Raum entsprechend äußeren und inneren Bedingungen ausdehnen oder zusammenziehen. Eisenman erklärte die Architektur zu einer eingefrorenen Bewegung der städtebaulichen und programmatischen Energieflüsse. Für ihn war die architektonische Form keine Repräsentation von Funktion und Bedeutung, sondern eine „Manifestation des Werdens“.26 Wurde Architektur traditionell als Komposition solider Raumkörper mit erkennbarem Profil betrachtet, definierte sie Eisenman als „zeitliche Modulation im Sinne einer ständigen Variation der Materie“.27 Anregungen für instabile, dynamische Ordnungsstrukturen erhielt die Architektur in den späten achtziger Jahren von den neuen Naturwissenschaften und der modernen Geometrie.28 Die Vertreter des neuen naturwissenschaftlichen Denkens wie René Thom und Gilles Deleuze zeichneten ein Bild der Natur, das nicht mehr von starrer Regelmäßigkeit, Gleichgewicht und Linearität geprägt war. Vielmehr versuchten die Protagonisten der Katastrophentheorie, Chaosforschung und Synergetik, die evolutionäre Bewegung der Natur in ihrer nichtlinearen, nichtdeterministischen Strukturdynamik zu beschreiben. Im Unterschied zur Vorstellung der klassischen Physik schufen sie das Bild eines Naturprozesses, der dynamisch, selbstorganisierend und unvorhersagbar ablief. Dieses Naturmodell suchte Eisenman für die Architektur konzeptionell und visuell zu adaptieren. In Anlehnung an Thoms Katastrophentheorie und Deleuzes Analyse des Begriffs der Faltung bei Leibniz entwickelte er die Vorstellung einer Architektur des Ereignisses, die sich selbst organisierend entfaltet.29 Gleichzeitig 26 27 28 29
Peter Eisenman, a.a.O., S. 92. Peter Eisenman, „Die Entfaltung des Ereignisses“, in: ders., Aura und Exzess, a.a.O., S. 198. Vgl. Schwarz, „Another look – anOther gaze“, a.a.O., S. 26. Eisenman, „Die Entfaltung des Ereignisses“, a.a.O., S. 193-201.
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formulierte er im Hinblick auf Thoms Katastrophendiagramme eine formale Vorschrift, nach der Raum durch Faltung seiner begrenzenden Oberflächen gebildet wird (siehe Abb. 9 auf der DVD).
Flächenfaltungen Die Faltung von Flächen als Entwurfstechnik richtete sich gegen die traditionelle Raumgestaltung nach den kartesianischen Prinzipien der Trennung von Figur und Grund, innen und außen, oben und unten. In der klassischen Architekturtheorie wurden Figur und Grund als zwei statische Zustände des Objekts definiert, die jeweils ein unterschiedliches Städtebaukonzept begründeten. Aus der Betonung der Figur ging die Idee des modernen Solitärs auf neutralem Grund hervor, die das Objekt in das Zentrum der Gestaltung stellte und eine Beziehung zwischen Figur und Grund negierte. Die Akzentuierung des Grundes motivierte die Vorstellung des postmodernen Kontextualismus, der von einem wechselseitigen Wirkverhältnis zwischen Baublöcken und Leerraum ausging und in jedem Umfeld latente historische Strukturen als Ausgangspunkt für einen gegenwärtigen Städtebau vermutete.30 In beiden Fällen, so Eisenman, waren die Begriffe Figur und Grund „bestimmend und allumfassend“31 und sorgten für eine Wahrnehmung des Raumes als starre Dreidimensionalität. Die Falte als „eine Art Mittelding oder dritte Figur“32 zielt hingegen auf eine Dynamisierung von Raum, indem sie ein neues Verhältnis zwischen den Grundkategorien der traditionellen Sehweise ausdrückt. In seinem Aufsatz „Visions’ Unfolding“ von 1992 plädierte Eisenman für eine Architektur, die analog zum Möbiusband einen kontinuierlichen Zusammenhang zwischen innen und außen schafft.33 Wie die Katastrophendiagramme von Thom dienten die Darstellungen topologischer Figuren nicht nur als abstrakte Denkmodelle, sondern auch als konkrete Raumbilder einer neuen Architektur. Eisenmans programmatischer Entwurf für das Max-Reinhardt-Haus in Berlin baute auf dem Motiv der einseitig berandeten Fläche auf, deren Modell sich durch gegensinniges Zusammenfügen zweier Kanten eines Bandes herstellen lässt (siehe Abb. 10 auf der DVD). Mit der Faltung sollte der Architektur die Zeitdimension erschlossen werden: „Anders als der Raum der klassischen Sehordnung überwindet der Gedanke des gefalteten Raums die Wahrnehmungsfixierung zugunsten einer zeitlichen Modulation. Durch die Faltung wird nicht länger die planimetrische Projektion bevorzugt; stattdessen gibt es eine veränderliche Krümmung.“34
Das zum Ereignis gewordene Gebäude „entzieht sich einer rein kartesischen Definition, da es nicht das Wesen der Form repräsentiert. Es ist Form, die im Werden begriffen ist“.35
Formanimationen Als in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts Eisenmans ehemaliger Schüler und Mitarbeiter Greg Lynn digitale Animationstechniken zur Formbildung einsetzte, schien der Architektur eine neue Möglichkeit gegeben, Raum und Zeit zu vereinigen.36 Mit der Integration des Computers in den 30 31 32 33 34 35 36
Vgl. ebd., S. 194 ff. Ebd., S. 196. Ebd., S. 200. Vgl. Eisenman, „Visions’ Unfolding“, a.a.O., S. 211. Ebd. Eisenman, „Alteka Bürogebäude“, in: Auf den Spuren von Eisenman, a.a.O., S. 214. Greg Lynn war zwischen 1987 und 1991 als Mitarbeiter in Peter Eisenmans Architekturbüro in New York beschäftigt. 1994 gründete er sein eigenes Büro „Greg Lynn FORM“, das sich seit 1998 in Venice, Kalifornien befindet. Vgl. http://www.glform.com (aufgerufen: Dezember 2008).
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Entwurfsprozess führte der 1964 in den USA geborene Architekt die digitalen Formexperimente seines Lehrers fort. Eisenmans Forderung, die räumliche Gestalt in die Zeit zu projizieren, ließ sich durch das Medium der Computeranimation unmittelbar umsetzen. Auch seine Vorstellung der sich selbst erzeugenden Form fand im Konzept des parametrischen Computermodells eine Entsprechung. Greg Lynn operierte vor allem mit Modellierungs- und Animationsprogrammen aus Hollywoods Spezialeffekte-Industrie.37 Derartige Programme hatten in den neunziger Jahren ein so hohes Funktions- und Leistungsniveau erreicht, dass sie auf heimischen Personal Computern Bilder von 3DObjekten in Bewegung erzeugen konnten. Während Eisenman seine verformten Baukörper aus planimetrischen Zeichnungen gewann, entwickelte Lynn seine Gebilde direkt als digitale Objekte im simulierten 3D-Raum. Die Vorstellung der räumlichen Gestalt als systemische, reaktive Struktur wurde durch die neuen Entwurfsmedien angeregt. Zentrales Element der von Lynn verwendeten Animationssysteme war der interaktive, parametrische, das heißt auf vorprogrammierten Regeln basierende Entwurf.38 Dabei werden die form- und bewegungsgenerierenden Parameter des 3D-Modells als Variablen gespeichert. Wird ein Zahlenwert geändert, werden die übrigen Werte aufgrund der bei der Modellerstellung formulierten Bezüge automatisch vom Rechner angepasst. Die Erzeugung und Aktivierung der Gestalt durch einwirkende Kräfte gehörte zu den zentralen Innovationen der neuen Technologie. Die parameterbasierten Animationsprogramme verfügen über ein hoch entwickeltes System von mathematischen Funktionen, wodurch sie in der Lage sind, auf Basis von Kraftfeldern topologische Transformationen von materiellen oder energetischen Körpern in Zeit und Raum auszuführen.39
Kraftwirkungen Zur Gestaltbildung nutzte Lynn vor allem die Animationstechnik des „Morphing“, womit die schrittweise und nahezu unmerkliche Verwandlung eines Objekts gemeint ist.40 Was in der Regel als „Morphing“ bezeichnet wird, ist ein „Blend Shape“ mit versteckten Formquellen. Zu dessen Erzeugung wird ein definiertes Basisobjekt über einen bestimmten Zeitraum hinweg in die Form eines oder mehrerer Zielobjekte stufenlos übergeblendet, wobei Ursprungs- und Verformungsobjekte geometrisch die gleiche Anzahl von Definitionspunkten haben. Der Computer errechnet automatisch die Schritte zwischen den verschiedenen Formen durch Interpolation. Morphing beschreibt keinen Zustand, sondern einen Prozess, bei dem ein Objekt seine Gestalteigenschaften allmählich verändert. Das von Lynn hauptsächlich verwendete 3D-Modellierungs- und Animationsprogramm „Maya“ ermöglicht darüber hinaus die modellhafte Darstellung dynamischer Effekte. Mit dem Programmelement „Dynamics“ lassen sich Bewegungen und Deformationen von geometrischen Objekten oder Partikeln nachbilden, die durch physikalische Kräfte wie Gravitation, Turbulenz oder Wind beeinflusst werden (Film 1). So können Objekte mit Anziehungskräften ausgestattet werden, innerhalb derer es zu Verschmelzungen der Formen kommt (Film 2). Die physikalischen Kräfte, die ein Objekt in Bewegung versetzen oder verformen, werden mit aufwändigen mathematischen Verfahren berech37 Greg Lynn verwendete zur architektonischen Formbildung vor allem das Modellierungs- und Animationsprogramm „Maya“ der kanadischen Firma Alias. Ein direkter Vorläufer dieser Software mit dem Namen „Power Animator“ wurde in der Filmindustrie 1993 für die Dinosaurier-Animationen im Spielfilm Jurassic Park von Steven Spielberg eingesetzt. Siehe die Internetseite von Autodesk: http://www.autodesk.de/adsk/ servlet/index?siteID=403786&id=11473933 (aufgerufen: Dezember 2008). 38 Vgl. Florian Böhm, „Zum Stand der Kunst des industriellen Bauens“, in: Archplus Nr. 158, Dezember 2001, S. 79. 39 Vgl. Florian Böhm, „Neue Dimensionen für die Architektur?“, in: Archplus Nr. 148, Oktober 1999, S. 104. 40 Vgl. Greg Lynn, „Architectural Curvilinearity. The Folded, the Pliant and the Supple“, in: ders., Folds, Bodies & Blobs. Collected Essays, Brüssel 1998, S. 123.
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Abb. 12: Greg Lynn, Port Authority Gateway, New York, Entwurf, 1995, Perspektive überlagerter Bewegungsspuren von Partikeln in der Ninth Avenue, Computerrendering (Greg Lynn, Animate Form, New York 1998, S. 109, Abb. 153, © Greg Lynn).
net, wobei je nach gegebenen Variablen ein jeweils anderes Ergebnis entsteht. Bei derartigen Anwendungen wird die Animationssoftware nicht zur visuellen Mobilisierung eines bereits fertiggestellten Raummodells, sondern zur strukturellen Aktivierung und Selbstbildung der Form eingesetzt. Grundlage dieses Animationsbegriffs ist weniger eine kinematische als eine dynamische Vorstellung von Objekten.41 Die durch Kraft erzeugte Bewegung wird zur Bedingung von Form. Vor dem Hintergrund solcher Animationstechniken ist der geometrische Körper nicht mehr nur diskret, sondern als verformbares Kontinuum vorhanden. Ähnlich definierte Lynn seinen Begriff der „Animate Form“42. Innerhalb des Raums der Kraftfelder gibt es keine feststehenden Urformen, sondern dynamische Oberflächen und Figuren, die auf Krafteinfluss mit Verformung reagieren. Nicht eine entmaterialisierte Vorstellung von Architektur suchte Lynn mit diesem Formbegriff zu etablieren, sondern ein körperliches Verständnis, bei dem das Material durch einwirkende Kräfte manipuliert wird.43 Diese Animationstechniken wurden in der Filmindustrie entwickelt, um organische Körper oder natürliche Erscheinungen möglichst naturalistisch nachahmen zu können. So stellt „Blend Shape“ etwa ein mächtiges Werkzeug zur Gesichtsanimation dar, während „Dynamics“ die Nachbildung ephemerer und bewegter Phänomene wie Rauch, Feuer oder Wasser erlaubt. Lynn setzte die Techniken dagegen ein, um abstrakte architektonische Formgebilde zu erzeugen. Für eine Ausstellungsgestaltung in der Galerie Artists Space in New York 1995 entwarf er beispielsweise eine Animation, in der sich fünf bewegliche Kugeln in dem digital nachgebildeten Galerieraum verteilten, größer wurden und miteinander verschmolzen (Film 3).44 Jede der Kugeln erhielt eine unterschiedlich große Einflusszone, die den Grad der Verbindung zwischen den Elementen bestimmte. Aus der Hüllfläche der 41 42 43 44
Vgl. Greg Lynn, Animate Form, New York 1998, S. 11. Ebd., S. 9. Vgl. Greg Lynn, „Differential Gravities“, in: ders., Folds, Bodies & Blobs, a.a.O., S. 95–108. Vgl. Lynn, Animate Form, a.a.O., S. 62–81.
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Verschmelzungsfigur entwickelte Lynn anschließend eine geschwungene Ausstellungswand für die Galerie (siehe Abb. 11 auf der DVD). Der Ablauf derartiger Prozeduren zielt darauf ab, endgültige Formen oder Strukturen zu gewinnen. Die architektonische Gestalt erhält Lynn, indem er die fortlaufende Koordinatentransformation an einem bestimmten Zeitpunkt anhält und die in dem Moment dargestellte Form einfriert – was dem dynamischen Charakter der Animation zunächst widerspricht. Die Faktoren, die den fortwährenden geometrischen Transformationsprozess steuern, sind im Animationsprogramm nicht enthalten, sondern werden vom Anwender vorgegeben. Ähnlich wie Eisenman bildet Lynn Vorgaben aus empirischen Daten, aus Gegebenheiten des räumlichen Kontextes oder der Aufgabenstellung des Projektes und ersetzt das konventionelle Verständnis eines physischen Ortes durch das Konzept eines dynamischen Kraftfeldes. Für den Entwurf eines Einfamilienhauses auf Long Island übertrug er spezifische, grundstücksprägende Elemente wie einen Baum, einen Fahrweg oder ein benachbartes Haus in physikalische Kräfte von unterschiedlicher Ausrichtung, Bewegung, Geschwindigkeit und Dauer. Als verformbaren Baukörper definierte er einen quaderförmigen Hüllkörper mit einem innenliegenden Skelett aus Knochen und Gelenken, das in der Filmanimation gewöhnlich zum Antrieb von 3D-Charakteren dient (Film 4). Verwendete Lynn bei seinem Einfamilienhaus-Projekt statische Elemente als Parameter der Gestaltbildung, nutzte er in dem Entwurf eines Flugdaches für die New Yorker Hafenbehörde dynamische Informationen.45 Zur Formfindung des Daches untersuchte er zeitliche Vorgänge und dynamische Eigenschaften des Entwurfsortes und bestimmte Bewegungen, Geschwindigkeiten und Intensitäten von Fußgängern, Autos und Bussen. Diese visualisierte er mittels geometrischer Partikelströme, die sich entsprechend den Krafteinwirkungen bewegten und veränderten (Film 5 und 6). Anschließend überlagerte er verschiedene Bewegungspositionen einzelner Partikel über einen bestimmten Zeitraum und entwickelte aus den Bewegungsspuren die Formen für die Rahmenkonstruktion des Daches (siehe Abb. 12 und Abb. 13 auf der DVD).
Selbstbildungen Wie Eisenmans zeichnerische Formfindung wird auch Lynns digitale Modellbildung von der Gestaltvision sich selbst erzeugender Formen geprägt. Während Eisenman die Formbewegungen selbsttätig ausführte, delegierte sie Lynn an den Computer. Kennzeichnend für das von Lynn als „Animate Design“46 bezeichnete Formbildungsverfahren ist, dass auf den laufenden Generierungsprozess nur geringfügig Einfluss genommen wird.47 Stattdessen fließen Aktivität und Kreativität des Architekten in die Erfindung und Beschreibung der prozesssteuernden Faktoren und der formbestimmenden Funktionen sowie in die Wahl der zugrunde zu legenden Randbedingungen ein. Schließlich bleiben auch die Auswahl, die Abwandlung, die Gruppierung oder Kombination von prozessual gewonnenen Formen und Strukturen der Intention und Subjektivität des Gestaltenden vorbehalten. So agiert der Architekt als Regisseur, der die Formen nicht mehr direkt entwirft, sondern die Bedingungen und Regeln vorgibt, nach denen Formen und Verhaltensmuster entstehen. Da zu Beginn des Verlaufs viel mehr eine Prozess- als eine Formvorstellung existiert, wartet der Entwerfer auf die Form, statt diese aktiv zum Ausdruck zu bringen.48 In der Tat lassen sich die Formergebnisse digitaler Automatismen und Prozesse nur schwer vorhersehen. Die Rechenvorgänge zur Steuerung von Kraftfeldern sind der45 46 47 48
Vgl. ebd., S. 102–119. Ebd., S. 11. Vgl. Martin Trautz, „Formfindung versus Formgebung“, in: Bauwelt Nr. 21 v. 28. Mai 2004, S. 14. Vgl. Harald Kloft, „Tragwerksplanung im Digitalen Workflow“, in: Digital, real. Blobmeister: erste gebaute Projekte, hrsg. v. Peter Cachola Schmal, Basel, Boston, Berlin 2001, S. 202.
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Abb. 15: Steffen Reichert, Reaktive Flächenstruktur, Entwurf, 2005–2007, HfG Offenbach, Lehrbereich Formgenerierung und Materialisierung, Projektbetreuung: Achim Menges, Prototyp mit geschlossenen Holzfurnierelementen (Achim Menges, „Responsive Surface Structures. Instrumentalising Moisture Content Activated Dimensional Changes of Timber Components“, in: Architectural Design Nr. 2, März/April 2008, S. 41, © Achim Menges).
art komplex, dass minimale Veränderungen der Anfangsbedingungen meist zu neuartigen und überraschenden Konstellationen führen.49 Im Unterschied zum klassischen Entwerfer gibt Lynn dem Material nicht eine Form, sondern findet die Form in einer Reihe von Verformungszuständen. Die parameterbasierten Computerformen existieren nicht als Einzelform im Sinne eines Unikats, sondern als unendliche Möglichkeiten potenzieller Formen. Denn jede spezifische Form ist nur die Variante eines vorgegebenen Regelwerks. Bei Lynn entwickelt sich Form nicht im real-physischen Material, sondern gerät zu einer aus den Parametern ihrer Einflussfaktoren resultierenden, rationalen Struktur. Auch wenn die Auswahl der formbestimmenden Bedingungen und der Zeitpunkt der Unterbrechung der Animation wählbar sind, so ist die Form selbst nicht beliebig, sondern das Ergebnis eines methodisch genau strukturierten Formgenerierungsprozesses.
Materialkonstruktionen Die in einem bestimmten Moment ihrer Bewegung eingefrorenen Computerformen überträgt Lynn in real-physische 3D-Modelle, die direkt aus dem Datensatz abgeleitet und unter Zuhilfenahme von rechnergesteuerten Fertigungsmaschinen produziert werden (siehe Abb. 14 auf der DVD). Entgegen ihrer digitalen Beweglichkeit und optischen Biegsamkeit sind die physischen Formen starr und unflexibel. Die relationale Computergestalt, die in einem wechselseitigen Wirkverhältnis mit ihrem dynamischen Umraum steht, verwandelt sich im Zuge ihrer physischen Materialisierung in ein absolutes und autonomes Objekt. Paradoxerweise wirkt die Unnachgiebigkeit der Bauform gegenüber ihrer Nutzung und ihrer Umgebung den Gestaltabsichten ihres Autors entgegen. Mit den erstarrten Bewegungsformen lassen sich weder heterogene Aktivitäten in einen kontinuierlichen Zusammenhang bringen, noch neue Bewegungen im Raum vorausdenken.50 Computergenerierte Partikelströme, die in einem bestimmten Moment angehalten und in architektonische Formen übersetzt werden, provozieren nicht notwendigerweise eine dynamische Art des Umgangs mit Raum. Derartige Formen veranschaulichen vor allem den Prozess ihrer Entstehung, wohingegen ihre Funktion und Wirkung unbestimmt bleiben. Statt sich zu integrieren, geraten die Objekte in jene Entfremdung gegenüber ihrem Kontext, der sie durch die Aufnahme lokaler Informationen gerade zu entgehen suchten. Gegen diese Trennung von digitaler Entwurfs- und analoger Bauform wandten sich in jüngster Vergangenheit vor allem die Architekten Michael Hensel und Achim Menges mit ihrem Konzept der
49 Vgl. Bernard Franken, „Aus Freude am Fahren“, in: Digital, real, a.a.O., S. 185 f. 50 Vgl. Ashley Schafer, „Theory After (After-Theory)“, in: Bauwelt Nr. 24 v. 22. Juni 2007, S. 52.
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integralen Form- und Materialwerdung.51 Ziel dieses Konzepts ist die Entwicklung einer performativen Architektur52, deren differenzierte Struktur eine flexible Anpassung an spezifische Umweltanforderungen erlaubt. Die durch einwirkende Kräfte erzeugte Bewegung der digitalen Form wird nicht zum Stillstand gebracht, sondern in reaktiven, sich selbst bildenden Materialkonstruktionen fortgesetzt. Zentral für diesen Forschungs- und Entwurfsansatz ist der Begriff des Materialsystems, womit eine Struktur aus gleichzeitig raumbildenden, kraftabtragenden, energieleitenden und -speichernden Elementen gemeint ist, die aus den spezifischen Eigenschaften der zur Verwendung kommenden Materialien und Herstellungsprozesse hervorgehen.53 Ein solches Materialsystem entsteht in einem analog-digitalen Formfindungsprozess, in dem der Computer nicht nur zur Darstellung geometrisch komplexer Oberflächen, sondern auch zur Beschreibung des Systemverhaltens genutzt wird. 2005 entwickelte Menges mit Studierenden der HfG Offenbach eine sich selbsttätig öffnende und schließende Flächenstruktur, die auf dem Formungsverhalten von Holzblättern bei wechselnder Luftfeuchtigkeit beruhte (Abb. 15).54 Die Struktur wurde aus geometrisch individuellen Komponenten zusammengesetzt, die jeweils aus einer tragenden, porösen Faltstruktur und zwei flüssigkeitsempfindlichen Holzfurnierelementen bestanden. Bei hoher Luftfeuchtigkeit krümmten sich die Furnierelemente, wodurch sich eine Öffnung zwischen Tragstruktur und Deckfläche ergab (siehe Abb. 16 auf der DVD). Um die geometrischen Beziehungen und Eigenschaften des Materialsystems erfassen zu können, wurde ein parametrisches Computermodell entwickelt, das mit einer Analyse von Feuchtigkeit zu- und abführenden Luftströmen verkettet war (siehe Abb. 17 und 18 auf der DVD). Mit diesem Modell konnten die Einzelelemente und die Gesamtstruktur des Systems in Abhängigkeit von thermodynamischen Einflüssen bestimmt werden. Die Vorstellung von Architektur als komplexes, adaptives und dynamisches Materialsystem schließt an Lynns Begriff der „Animate Form“ an, wobei die Aktivierung der Gestalt sowohl die digitale als auch die physische Formfindung kennzeichnet. Die physische Materialisierung ist der Digitalisierung des Entwurfsprozesses nicht nachgeordnet, sondern bildet einen integralen Bestandteil der Formwerdung. Die Beschäftigung von Hensel und Menges mit sich selbst erzeugenden Materialsystemen und generativen Modellen aus Natur, Wissenschaft und Technik lässt sich als Teil einer Traditionslinie begreifen, innerhalb derer Architekten, Theoretiker und Ingenieure nach einer Befreiung der Architektur von ästhetischen Vorgaben strebten. Obwohl sich Verfahren und Formen geändert haben, ist die Selbstgenerierung der Gestalt über ein Jahrhundert hinweg Ziel der experimentellen Architektur gewesen. Die bekannte Polemik der avantgardistischen Vertreter im 20. Jahrhundert gegen allgemein anerkannte Stile oder gestalterische Systeme in Kunst und Architektur kann als Teil eines umfassenden Wandels von der Vorstellung der Vorherbestimmung zur Idee der Selbstgenerierung, von der Transzendenz zur Immanenz verstanden werden.55 Die Gestalttransformationen von Eisenman, die Formanimationen von Lynn und die Materialkonstruktionen von Hensel und Menges sind Ausdruck dieses Paradigmenwechsels von der prädestinierten zur selbstorganisierten Form. Ihre Entwürfe veranschaulichen nicht nur eine technologische, sondern auch eine kulturelle Dynamisierung der Architektur. 51 Michael Hensel und Achim Menges (*1975) lehren zurzeit im Masterprogramm „Emergent Technologies and Design“ an der Architectural Association School of Architecture (AA) in London. Menges wurde 2008 zum Professor an die Universität Stuttgart berufen. Beide Architekten arbeiten im interdisziplinären Forschungsnetzwerk „Ocean“. Ihren Forschungs- und Entwurfsansatz stellten sie 2006 in der AA-Publikation Morpho-Ecologies dar. 52 Vgl. Michael Hensel und Achim Menges, „Am Anfang einer neuen Architektur des Performativen“, in: Archplus Nr. 188, Juli 2008, S. 17. 53 Vgl. Michael Hensel und Achim Menges, „Performance als Forschungs- und Entwurfskonzept. Begriffe und Bezugssysteme“, in: Archplus Nr. 188, Juli 2008, S. 31. 54 Vgl. Achim Menges, „Reaktive Flächenstruktur“, in: Archplus Nr. 188, Juli 2008, S. 44 f. 55 Vgl. Detlef Mertins, „Biokonstruktivismus“, in: Lars Spuybroek, NOX. Bauten und Projekte. Machining Architecture, München 2004, S. 360.
TINO SCHAEDLER UND MICHAEL J. BROWN
Für eine cineplastische Architektur
Arglos erwarten wir, dass die Geschichte erzählt wird wie jede andere: als glatte chronologische Entfaltung der Ereignisse. Doch dann verspricht die Eröffnungsszene von David Finchers Fight Club einen Film, der alles andere als gewöhnlich ist. Es fängt damit an, dass wir mikroskopisch klein aus einer Pore im Gesicht des Protagonisten hervorkommen und auf den verschwommenen Konturen der Pistole in seinem Mund hinaufgleiten. Er wechselt ein paar Worte mit seinem Alter Ego, während die Kamera durch die Außenfassade gleitet, um durch die Spiegelglasscheibe auf einen bedrohlich aussehenden Tyler Durden zurückzublicken. Mit einem plötzlichen Ruck fallen wir 20 Stockwerke tief auf Straßenniveau, durchschneiden auf unbegreifliche Weise das Pflaster und landen in der mehrstöckigen Parkgarage darunter. Eine fugenlose Vermischung realer und digitaler Segmente macht es möglich, dass wir die Erzählung des Gebäudeeinsturzes visuell verfolgen, indem wir durch das Einschussloch in der Frontscheibe eines geparkten Kleinbusses fliegen, um schließlich zu erleben, wie die darin deponierte Sprengladung explodiert. Wunderbar ausgeführt und kunstvoll konzipiert, ist diese Eröffnungsszene radikal entfernt von jeder Route, die wir tatsächlich „erleben“ könnten, dennoch bleibt sie auf unheimliche Weise intuitiv richtig. Finchers meisterhafte Kameraarbeit ignoriert die Konventionen von Entfernung und Zeit, schlängelt sich durch unterschiedliche Größenordnungen und Räume, um die Erzählung entlang ihrer einzigartigen Zeitachse offenzulegen. Er baut Raum nicht durch montierte Schnipsel auf, sondern durch sorgfältig konstruierte Plansequenzen, die das Publikum in Atem halten und gleichzeitig unsere Sicht auf die Welt ins Surreale umformen. Durch die Übersteigung unseres gewöhnlichen Erlebens von Architektur offenbart diese Choreografie auf subtile Weise die dem Film inhärente poetische, untrennbare Verbundenheit von Raum und Zeit.
Unsere Wahrnehmung ist niemals statisch; auch wenn wir regungslos dasitzen, wandert unser Blick und aktiviert den Raum um uns. Es geht um eine Entwicklung, die der Kunsthistoriker Elie Faure voraussah, als er 1922 in seiner Abhandlung De la Cinéplastique schrieb: „Mit der Idee der Dauer, die als konstitutives Element im Begriff des Raumes eine wichtige Rolle spielt, können wir uns leicht vorstellen, wie eine Kunst der ‚Cineplastik‘ gedeiht, die nichts anderes als ideale Architektur wäre.“1 Im Lichte der jüngsten Fortschritte in der digitalen Technologie kündet Faures Abhandlung heute mehr denn je von einer neuen Sicht auf die Beziehung zwischen Architektur und Film. Der Begriff des cineplastischen Raumes ist abhängig von der Veranschaulichung jener komplexen Sinfonie sinnlicher Eindrücke, die wir als räumliche Wahrnehmung definieren. Mithilfe unserer umherwandernden Augen – die die Sinneseindrücke von Farbe, Proportion und Rhythmus einscannen – lesen und definieren wir Raum. Unsere Wahrnehmung ist nie statisch; auch wenn wir regungslos sitzen, wandert unser Blick und aktiviert den Raum um uns. Wie eine bewegliche Filmkamera erleben wir unseren eigenen fortlaufenden Film fließender, sich dynamisch entfaltender Volumina, einen Film, der durch den Lidschlag unserer Augen geschnitten wird.
1 Elie Faure, „De la Cinéplastique“, in: L’Arbre d’Eden, Paris 1922, S. 276, Übers. v. T. S.
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Der Übergang von abstrakten, statischen Raumvorstellungen zu naturalistischen und dynamischen Modi im Kino verlief ebenso rasant, wie er sich dabei als vorausschauend erwies. Insbesondere nach 1906, dem Jahr, in dem die Kamera vom Stativ befreit wurde, deckte der filmische Raum die untrennbare Verbundenheit von Raum und Zeit auf. Während die frühen Filme Szenen aus einer unbeirrbaren frontalen Sicht präsentierten – eben wie gefilmtes Theater –, nahm der Übergang zu einer komplexen Verflechtung der Perspektiven und einer montierten Erzählung nur einige Jahrzehnte in Anspruch; und die Entwicklung wurde von anderen Medien aufgegriffen. Prosaliteratur – wie der Roman Mrs. Dalloway (1925) von Virginia Woolf – und Werke der bildenden Kunst – wie Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 (1912) von Marcel Duchamp – spiegeln diese neuen Wahrnehmungsformen mit ihren Versuchen, das Element des Zeitlichen festzuhalten, wider. Doch von einigen Ausnahmen abgesehen entzog sich die Idee einer dynamischen Wahrnehmung der Architektur. Cineplastische Architektur sieht in der Zeit die natürliche Dimension der Form; es ist eine Architektur, in der Form durch die Zeit belebt wird, statt nur passiver Empfänger der Zeit zu sein. Doch gibt es nur eine Handvoll von Ausnahmebauten, die Elemente von Bewegung und Tempo verkörpern. Die Staatsbibliothek von Hans Scharoun in Berlin, das Guggenheim Museum von Frank Lloyd Wright und der Yokohama Port Terminal von Foreign Office Architects sind Gebäude, geformt durch Bewegungen von unterschiedlicher Geschwindigkeit, die eine immanente Verbundenheit von Zeit und Form feiern. Entworfen im cineplastischen Geist, bedingen sie unsere Wahrnehmung durch ihr eingeschriebenes Skript, lenken unsere Sicht und verändern unsere Richtung, unsere Geschwindigkeit und manchmal sogar unsere Haltung. Sie führen bestimmte Teile des Ganzen ein, während sie andere im gleichen Moment verbergen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu präsentieren. Kurz, das Erlebnis des Gebäudes ist untrennbar mit dem Momentum unserer Bewegung durch das Gebäude hindurch verbunden. Mit welchem Werkzeug lässt sich dieses neue Verständnis von Raum und Architektur fassen? In seinem Buch The Projective Cast (1995) zeichnet der Verfasser Robin Evans die enge Verbindung zwischen architektonischem Design und den Mitteln seiner Darstellung nach. Die Architektur, die wir schaffen, kann nicht von den Mitteln getrennt werden, mit denen wir sie auf den zahlreichen Stufen – von der anfänglichen Idee bis zur Realisierung – darstellen (und so bewerten). Von daher muss die Entwicklung einer Architektur der Cineplastik ein Umdenken unserer eigenen Methoden einschließen. Vor der Einführung der digitalen Datenverarbeitung und der filmischen Möglichkeiten, die sie eröffnet, basierte die gemeinsame Designsprache auf der projektiven Geometrie. Ihre Hauptkomponenten – Grundriss, Querschnitt und Aufriss – sind statische Projektionen, die eine träge Vorstellung von Raum innerhalb der Grenzen der euklidischen Geometrie begünstigen. Mit wenigen Ausnahmen, etwa in der arabischen und japanischen Architektur, beherrschte diese Wechselbeziehung die Geschichte der Architektur. Die Erfindung der linearen Perspektive im 15. Jahrhundert zum Beispiel führte in Renaissance und Barock zu einer Explosion axialer architektonischer und Stadtkompositionen, dazu bestimmt, von einigen festgelegten Blickwinkeln aus betrachtet zu werden. Dieses Medium, später ergänzt durch die architektonische Fotografie und – auf technischer Ebene – durch den Computer leichter zu handhaben, ist auch heute noch eines der Highlights architektonischer Darstellung. Doch es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Methoden und Grundideen des Kinos und die Architektur mehr und mehr gegenseitig befruchten, um einen neuen, komplexeren Begriff von Raum zu schaffen. Im Film waren die Storyboards für viele Jahre das Mittel, die Handlung in ihrer zeitlichen und räumlichen Dimension visuell zu erfassen. Aufgrund der Aufschlüsselung des Zeit/Raum-Flusses in Schlüsselframes entsprechen Storyboards zwar der Verwendung des perspektivischen Zeichnens durch den Architekten; doch sie sind dem Entwerfen mit einer dynamischen Auffassung bereits einen Entwicklungsschritt näher. Le Corbusier und Bernard Tschumi wendeten in ihren Entwürfen für die
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Villa Meyer bzw. den Parc de la Villette die Storyboard-Technik an. Beides sind wunderbare Beispiele für eine Architektur, die als entlang einem linearen Pfad arrangierte Sequenz gerahmter Ansichten konzipiert ist. Doch obschon die Zeit als ein Designfaktor Berücksichtigung findet, geschieht dies noch immer auf einer fotografischen Ebene, da Bewegung und Momentquerschnitte des Raums getrennte Entitäten bleiben. Die Erkundungen, die Zaha Hadid vor einiger Zeit in axonometrischer und perspektivischer Projektion unternahm, illustrieren die Wechselbeziehung zwischen Darstellung und Design wesentlich flüssiger. In Digital Hadid zeichnet Patrik Schumacher nach, wie sich ein in erster Linie grafisches Vehikel, das den Präsentationen eine dynamische Note verlieh, zu einem raffinierten Tool für die Entwicklung expressionistischer Formen wandelte. In Hadids gigantischen Malereistudien verschmelzen Konstruktionen mit multiplen Perspektiven zu einem verzerrten, übergangslosen, belebten Teppich. Schumacher versteht diese Bilder „als Versuche, das Erlebnis, sich durch eine architektonische Komposition mit einer Abfolge sehr unterschiedlicher Ansichten zu bewegen, nachzubilden“.2 Als solche schließen sie den Kreis von Präsentation und Hervorbringung und markieren einen bemerkenswerten Entwicklungsschritt jenseits der hergebrachten architektonischen Strategien mit ihrem einzigen Gesichtswinkel. In den späten 1960er Jahren entwickelte der kalifornische Landschaftsarchitekt Halprin unter dem Namen „Mo-tation“ – eine Zusammenziehung der Wörter Bewegung und Notation – ein grafisches System. Diese Technik ähnelt dem Storyboarding, lässt aber eine fließendere Konzeption zu, da sie als Zeitachse gedacht ist und nicht als an einer Zeitachse entlang arrangierte Schlüsselframes. Das System Halprins ist als grafisches Hilfsmittel für die Notation nützlich, doch lässt es die Kapazität vermissen, unvorhersehbare dynamische Phänomene zu erkunden, die der cineplastischen Architektur innewohnen. Um bei der Analogie zur musikalischen Notation zu bleiben: Es bietet ein Hilfsmittel, um die Partitur zu schreiben, doch fehlt das Instrument, mit dem wir experimentieren könnten. Mit den rasanten Fortschritten in der digitalen Technologie, die eine Einbeziehung dynamischer Wahrnehmung in den Prozess des Entwerfens erlauben, während Modellierungs- und Fertigungstools neue Modi der Konzeption und Geometrie eröffneten, hat es in den letzten Jahren echte Innovationen gegeben. Insbesondere hat Greg Lynn mit Überlegungen, wie die Zeit in das räumliche Design integriert werden kann, experimentiert. Seine Herangehensweise gründet jedoch nicht auf der Wahrnehmung, konzentriert sich vielmehr auf parametrische Simulationen zukünftiger Kräfte innerhalb des Entwurfsprozesses. Mit Hinsicht auf cineplastische Architektur bieten die für die Filmindustrie entwickelten Animationstools von Software-Paketen wie Autodesk Maya und Softimage interessante Möglichkeiten, die noch lange nicht ausgelotet sind.
Cineplastische Architektur sieht in der Zeit dienatürliche Dimension der Form; es ist eine Architektur, in der Form durch die Zeit belebt wird, statt nur passiver Empfänger der Zeit zu sein. Durch die Integration digitaler Innovationen ist das Filmemachen im letzten Jahrzehnt in eine neue Epoche eingetreten. Auch wenn Filme wie Jurassic Park einen Durchbruch erzielten und Meilensteine für den Fotorealismus setzten, gehen hyperrealistische Filme wie Sin City oder die Werke von David Fincher viel weiter und nutzen das Medium, um Welten jenseits der Alltagsrealität zu entwerfen. Wie der expressionistische Film der 20er Jahre Faure anregte, über eine neue Architektur nachzudenken, wohnen dieser neuen Filmepoche – der digitalen Epoche – für die Architektur neue Impulse inne. Die für den Film entwickelten Techniken haben eine neue Ästhetik und neue Sehkonventionen her2 Patrick Schumacher, „Digital Hadid. Landscape in Motion“ (http://www.patrikschumacher.com/Texts/digitalhadid.htm), Übers. v. T. S.
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Abb. 5: Entwurf eines Video-Footballspiel-Stadions mit 4D-Modelling (Tino Schaedler und Michael J. Brown, „Towards a cineplastic architecture“, in: Mark. Another Architecture, 2007, H. 9, S. 182–183, Fotografie: © Tino Schaedler).
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vorgebracht – für den Filmdesigner genau wie für das Kinopublikum. Anders als im Jahr 1922 reichen diese Stimulationen über die Paarung Film/Architektur hinaus und umfassen Videospieldesign und gigantische Online-Welten – Bereiche, in denen Architekten fündig werden können, um die Ideen einer cineplastischen Architektur voranzutreiben. Eine von fortschrittlichen Regisseuren wie David Fincher genutzte Technik verwendet während der Filmproduktion in großem Maßstab Vorvisualiserung (Previsualisation). „Pre-vis“ ist eine Technik, bei der kostengünstige digitale 3D-Animation den Prozess des Filmemachens unterstützt, indem sie von den Einstellungen einer Filmsequenz Rohfassungen kreiert. Die Filme von Fincher, etwa Fight Club und Panic Room, zeigen unglaublich komplexe und temporeiche Kamerabewegungen, die ohne die Hilfe von Pre-vis unvorstellbar sind. Diese einzigartigen Kamerabewegungen dringen mit einem noch nie da gewesenen dynamischen Fließen in Gebäude und Räume ein. Anders als die auf Schlüsselframes beruhenden Storyboards bietet Pre-vis das volle Potenzial, in Echtzeit-4D zu entwerfen, und ist für das Design echter architektonischer Zeiträume äußerst vielversprechend. Ein andere Technik integriert Videospieltechnologie in die Filmproduktion. James Cameron und Robert Zemeckis haben vor nicht langer Zeit damit begonnen, sogenannte virtuelle Kameras zu verwenden, um virtuelle Filmsets und „Motion-Capture“-Darstellungen von Schauspielern in ein System zu laden, das mit einem Kamerasucher verbunden ist. Der Regisseur kann mit der Kamera durch den Raum schreiten und sehen, wie das digitale Set und das echte Set, die sich überlappen, gleichzeitig reagieren. Dies ermöglicht ihm, das Schauspielen unabhängig von Standardkameraperspektiven aufzunehmen, während er sich ein hohes Niveau filmischer Freiheit bewahrt. Technische Grenzen ermöglichen zur Zeit nur eine Echtzeit-Displayqualität, die der einfacher Videospiele entspricht. Doch wenn man bedenkt, wie rasant sich die digitale Technologie weiterentwickelt, erwarten wir bedeutsame Experimente, die in naher Zukunft ein fotorealistisches Display ermöglichen. Wie nicht anders zu erwarten, dringen diese Anwendungen allmählich auch in die Randbereiche der architektonischen Welt ein. NAU architecture hat eine Methode entwickelt, die treffend ‚4DModelling‘ heißt: Die dynamische Wahrnehmung steht im Mittelpunkt des digitalen virtuellen Entwurfs. Ursprünglich verwendet, um für ein futuristisches amerikanisches Video-Footballspiel Stadien zu entwerfen, nimmt 4D-Modelling die Videospielen eigene universelle Erzählperspektive in der ersten Person ein, wobei es verschiedene Kamerapfade animiert, die die zukünftigen oder möglichen Bewegungen der Figur simulieren. Der Designer geht durch diese Kameraperspektiven hindurch, skizziert grob die Geometrie und verfeinert sie allmählich mit Einzelheiten, die das Erlebnis in die vierte Dimension hinein formen. Das Ergebnis sind virtuelle Räume, die ihre Tiefe und Vielfalt nur durch die Bewegung des Spielers über das Feld hinweg enthüllen. Seine Geschwindigkeit und sein Blickwinkel variieren die räumliche Wahrnehmung des Nutzers und bewirken, dass die umgebenden Stadionformen wie geschmeidige Sequenzen sich endlos wiederholender Wellen zu fließen scheinen – echte cineplastische Architektur. Solche Experimente definieren die Verwendung von Animationen in der architektonischen Praxis neu. Sie heben diese auf eine höhere Ebene, befreien sie von ihrer Rolle als fades Präsentationsmedium – das heißt fantasielose „Fly-throughs“ (die Bewegung eines Objekts oder Modells durch einen vordefinierten Pfad) – und betten sie unmittelbar in den Designprozess ein. Techniken wie 4DModelling erlauben es dem Architekten, einen Entwurf in Hinblick auf Storytelling und die sich zeitlich entfaltende Komposition intuitiv zu entwickeln – näher an der Arbeit eines Animators als an der eines traditionellen „Baumeisters“. Architektur kann als Ereignis geplant werden, das Aspekte wie die Veränderung von Beleuchtung, Textur und Fläche integriert. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt, um die Verschmelzung all dieser Technologien vorherzusagen, mit der die interaktive Bewertung eines Designs, vor Ort und in Echtzeit, möglich wird. Nicht länger werden Designmedien lediglich reduzierte, abstrahierte Skizzen der Realität sein; sie entwickeln sich zu parallelen, sich überlappenden Versionen der Realität. Beginnend mit einem 3D-
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Modell vor Ort, werden Architekten in der Lage sein, ihr Skript für das Gebäude zu entwickeln und verschiedene Geschwindigkeiten, Annäherungsweisen und Beleuchtungszustände einzuschätzen. Bevor sie über die Architektur als solche nachdenken, können sie sich auf die Bewegung in und durch das Gebäude konzentrieren und die grundlegende Geometrie und den Weg skizzieren. Mit einer fortgeschrittenen Game-Engine wird unser Architekt der Zukunft das Gebäude vor Ort durch ein Visier erkunden und Innenraum und Außenseite abgleichen, während ein Assistent zur gleichen Zeit Anpassungen in Echtzeit durchführt. Während des gesamten Designprozesses gibt es diese Übergänge zwischen realen und digitalen Modi, die auf jeder Ebene den Designer aufs Neue überraschen und ihm etwas beibringen. Neue und nuanciertere Konzeptionen des Raumes gehen daraus hervor, nicht nur weil die Technologie es möglich macht, sie zu entdecken und zu bewerten, sondern auch weil die Architekten überhaupt erst von der Linie und vom Papier befreit sind. Gewiss hatte auch die Architektur ihren Teil an Propheten und Wahrsagern; und es liegt auf der Hand, dass die hier untersuchten Ideen nicht auf jede architektonische Aufgabe angewendet werden können. Die Berührungen und der Austausch zwischen der Welt des Films und der Welt der Architektur jedoch nehmen beständig zu. Zweifellos wird die gegenseitige Befruchtung dieser Bereiche die Werkzeuge und Ideen hervorbringen, um sowohl Architekten, die erpicht darauf sind, neue Räume zu errichten, als auch einem von der populären Kultur konditionierten Publikum, das nach solchen Räumen hungert, gerecht zu werden. Die Verschmelzung filmischer und architektonischer Welten wird die cineplastische Vision Faures endgültig möglich machen – wenn auch vielleicht auf Weisen, die er sich nicht hätte träumen lassen. Sehen Sie auch das Material zu Back Breacker. Deep Sea Stadium auf der DVD. Übersetzung von Marc Svetov.
EYAL WEIZMAN
Durch Wände gehen
Ein von Einheiten der israelischen Armee während des Angriffs auf die Stadt Nablus im April 2002 durchgeführtes Manöver wurde von seinem Befehlshaber, Brigadegeneral Aviv Kochavi, als „inversive Geometrie“ beschrieben. Er erklärte diese zur „Re-Organisation“ der urbanen Syntax mit den Mitteln einer Serie von mikrotaktischen Aktionen. Während des Angriffes bewegten sich die Soldaten innerhalb der Stadt wie durch hundert Meter lange „oberirdische Tunnel“, die durch eine dichte und zusammenhängende städtische Textur geschlagen wurden. Sie waren dermaßen in diese Textur verwoben, dass die meisten von ihnen zu keinem Zeitpunkt von oben aus zu sehen waren, obwohl sich zeitgleich mehrere tausend Soldaten und Hunderte von palästinensischen Guerilla-KämpferInnen durch die Stadt bewegten. Darüber hinaus benutzten die Soldaten selten die Straßen, Wege, Durchgänge oder Innenhöfe, die die Syntax der Stadt ausmachen, und ebenso selten die Eingangstüren, Innentreppen und Fenster, aus denen sich die Ordnung der Gebäude zusammensetzt, sondern bewegten sich eher horizontal durch Wohnungstrennwände und vertikal durch Löcher, die in Decken und Böden gesprengt worden waren. Diese Form der Bewegung ist Teil einer Taktik, mit der das Militär sich auf Metaphern aus dem Tierreich wie „Ausschwärmen“ oder „Befallen“ bezieht. Indem sie sich durch häusliche Interieurs bewegen, machen diese Manöver das Außen zum Inneren und den privaten Bereich zu Durchfahrstraßen. Die Kämpfe fanden in halb zerstörten Wohnzimmern, Schlafzimmern und Fluren von schlecht gebauten Flüchtlingshäusern statt, in denen vielleicht der Fernseher noch lief und der Topf noch auf dem Herd stand. Anstatt sich der Autorität der konventionellen räumlichen Grenzen zu fügen, wurde Bewegung hier konstitutiv für den Raum, und der Raum wurde als Ereignis konstituiert. Es war nicht die Ordnung des Raumes, die die Modelle der Bewegung bestimmte, sondern die Bewegung, die den Raum um sich herum produzierte und praktizierte. Die dreidimensionale Bewegung kreuz und quer durch Wände, Decken und Böden der Großstadt hindurch schloss die architektonische und die städtische Syntax kurz, reinterpretierte sie und setzte sie neu zusammen. Die Taktik des „Durch-Wände-Gehens“ beinhaltet ein Konzept der Stadt, das diese nicht einfach als Ort, sondern als das Medium der Kriegsführung selbst betrachtet – als flexible, beinahe flüssige Angelegenheit, die immer kontingent und im Fluss ist. Laut dem Geografen Stephen Graham hat sich seit Ende des Kalten Krieges ein enormes internationales „intellektuelles Feld“ herausgebildet, das er „Schattenwelt der militärischen Stadtforschungsinstitute und Trainingszentren“ nennt. Aufgabe dieser „Schattenwelt“ ist es, militärische Operationen im Stadtgebiet neu zu durchdenken.1 Dies ist als Antwort auf die Urbanisierung der Aufstände zu verstehen. Die expandierenden Netzwerke dieser „Schattenwelten“ umfassen nicht nur Schulen, Stadtforschungsinstitute und Trainingszentren, sondern auch Mechanismen des Wissensaustausches zwischen verschiedenen Militärs. Dazu zählen Konferenzen, Workshops und gemeinsame Einsatzübungen. In ihrem Bestreben, das urbane Leben zu verstehen, nehmen die Soldaten – die urbanen Fachleute von heute – Crash-Kurse in Hauptthemengebieten wie städtische Infrastruktur, Analyse komplexer Systeme, strukturelle Stabilität und Gebäudetechnik, und sie beziehen sich ebenso auf eine 1 Zu einer solchen militärischen Konferenz, 2002 von der Geografiefakultät an der Universität Haifa organisiert, vgl. Stephen Graham, „Remember Falluja. Demonizing Place, Constructing Atrocity“, in: Society and Space 23, 2005, S. 1–10, sowie Stephen Graham, „Cities and the ‚War on Terror‘“, in: International Journal of Urban and Regional Research 30, 2. Juni 2006, S. 255–276.
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Abb. 1: Eyal Weizman, Nablus 2002, Fotografie des Autors (© Eyal Weizman).
Vielzahl von Theorien und Methodologien, die innerhalb der gegenwärtigen zivilen Akademie entwickelt worden sind. Auf diese Weise entsteht eine neue Beziehung zwischen drei miteinander in Wechselverhältnissen stehenden Komponenten: bewaffneten Konflikten, der gebauten Umwelt und jener theoretischen Sprache, die dazu entwickelt wurde, sie zu konzeptualisieren. Dem globalen Trend des letzten Jahrzehnts folgend, etablierten die israelischen Verteidigungskräfte (Israel Defense Forces, IDF) eine ganze Reihe von Instituten und Thinktanks auf verschiedenen ihrer Kommandoebenen. Diese wurden mit der Aufgabe betraut, strategische, taktische und organisatorische Antworten auf die brutalen Polizeieinsätze zu finden, die als „schmutziger Krieg“ oder „Krieg niederer Intensität“ bekannt geworden waren. Zu den beachtenswerten darunter gehören das 1996 gegründete Operational Theory Research Institute (OTRI) und das Alternative Team, 2003 gegründet.2 Diese Institute setzen sich nicht nur aus Offizieren, sondern auch aus zivilen HochschullehrerInnen und TechnikexpertInnen zusammen. Zwei der diesen Instituten angehörigen Hauptfiguren, Shimon Naveh, ein pensionierter Birgadegeneral und Direktor des OTRI, und Aviv Kochavi, ein aktiver Offizier, werden im Folgenden ausführlich zitiert.
Inverse urbane Geografie Die Taktiken des Durch-Wände-Gehens, die die Militärs bei ihren urbanen Attacken auf Flüchtlingslager anwandten, waren kein Ergebnis der theoretischen Einflüsse, sondern sie waren eine Möglichkeit, in die vorher „undurchdringlichen“ Flüchtlingscamps einzudringen. Aviv Kochavi, damals 2 Yedidia Ya’ari und Haim Assa, Diffused Warfare. War in the 21st Century, Tel Aviv 2005 [Hebräisch], S. 9–13, 146.
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Kommandeur der Fallschirmjäger-Brigade, legt die Prinzipien dar, auf denen die Angriffe auf die Flüchtlingslager von Batala und die benachbarte Altstadt von Nablus (Kasbah) basierten: „Dieser Raum, den Sie hier sehen, ist nichts weiter als Ihre Interpretation davon. Nun können Sie die Grenzen Ihrer Interpretation ausdehnen, aber nicht unbegrenzt, letztlich muss sie an die Physik gebunden bleiben, so wie sie Gebäude und Wege beinhaltet. Die Frage lautet: Wie interpretieren Sie einen Weg? Interpretieren Sie den Weg, wie alle Architekten und alle Stadtplaner es tun, als einen Ort, den man durchquert, oder interpretieren Sie den Weg als einen Ort, den man nicht durchqueren darf? Das hängt einzig und allein von Ihrer Interpretation ab. Wir interpretierten den Weg als einen Ort, den wir nicht durchqueren dürfen, und die Tür als einen Ort, durch den wir nicht hindurchgehen dürfen, und das Fenster als etwas, durch das wir nicht hindurchgucken dürfen, denn in der Straße erwartet uns eine Waffe, und eine Sprengfalle erwartet uns hinter der Tür. Das liegt daran, dass der Feind den Raum in traditioneller, klassischer Weise interpretiert, und ich möchte dieser Interpretation nicht folgen, um dann in seine Falle zu tappen. Ich möchte nicht nur nicht in seine Fallen tappen, sondern ich möchte ihn überraschen! Dies ist das Wesen des Krieges. Ich muss gewinnen. Ich muss von einem unerwarteten Ort aus auftauchen. Und das haben wir versucht. Aus diesem Grund haben wir uns für die Option Durch-Wände-Gehen entschieden. […] Wie ein Wurm, der sich seinen Weg vorwärts freifrisst, an einem Punkt auftaucht und dann wieder verschwindet. So konnten wir uns vom Inneren der Wohnungen auf überraschende Art und Weise zum Äußeren und an Orten bewegen, an denen wir nicht erwartet wurden. Wir kamen von hinten und schlugen den Feind, der hinter einer Ecke auf uns gewartet hatte. […] Weil es das erste Mal war, dass diese Methode [in dieser Größenordnung] erprobt wurde, haben wir während des Einsatzes gelernt, uns an den relevanten städtischen Raum anzupassen und in ähnlicher Art und Weise den relevanten städtischen Raum unseren Bedürfnissen anzupassen. […] Wir nahmen diese mikrotaktische Praxis [des Durch-Wände-Gehens] und verwandelten sie in eine Methode. Dank dieser Methode waren wir dann dazu in der Lage, den gesamten Raum anders zu interpretieren! […] Ich sagte zu meinen Truppen: ‚Freunde! Ihr habt keine Wahl! Es gibt keine andere Möglichkeit, sich zu bewegen! Wenn ihr bislang daran gewöhnt wart, euch entlang von Straßen und Bürgersteigen zu bewegen, vergesst es! Von nun an gehen wir durch Wände!‘“3
Wenn die Militärs es als „humane“ Antwort auf die mutwillige Zerstörung der traditionellen urbanen Kriegsführung herausstellen, durch Wände zu gehen, und dies als eine „elegante“ Alternative zur Jenin-mäßigen städtischen Zerstörung darstellen können, dann nur deshalb, weil der Schaden, den es anrichtet, oft im Inneren der Wohnungen verborgen bleibt. Das unerwartete Eindringen des Krieges in die private Domäne der Wohnung wurde, wie auch im Irak, von PalästinenserInnen als die gründlichste Form des Traumas und der Demütigung erfahren. Seitdem palästinensische Guerilla-KämpferInnen sich selbst durch Wände und vorweg geplante Öffnungen bewegen, finden die meisten Kämpfe innerhalb von Wohnungen statt. Manche Gebäude werden dabei zu einer Art Schichtkuchen, mit israelischen Soldaten oben und unten und mit einer Lage in der Falle sitzender PalästinenserInnen dazwischen. Städtische Kriegsführung hängt in wachsendem Maße von Technologien ab, die zu dem Zweck entwickelt wurden, die Wände zu entwänden [„un-walling of the wall“], um einen Begriff von Gordon Matta-Clark zu benutzen. In Ergänzung zu militärischen Taktiken, die die physikalische Durchbrechung von und das Gehen durch Wände beinhalten, sind zugleich neue Methoden entwickelt worden, die es Soldaten erlauben, nicht nur durch feste Wände hindurchzusehen, sondern auch durch sie hindurchzuschießen und zu töten. Die israelische Firma Camero hat einen tragbaren Sichtungsapparat entwickelt, der wärmetechnische Abbildungen mit Ultra-Breitband-Radar kombiniert, das es ähnlich wie Schwangerschafts-Ultraschallgeräte ermöglicht, dreidimensionale Wiedergaben von hinter Mauern verstecktem biologischen Leben zu erzeugen.4 3 Eyal Weizman und Nadav Harel, Interview mit Aviv Kochavi, 24. September 2004, in einer israelischen Militärbasis nahe Tel Aviv, auf Video dokumentiert von Nadav Harel und Zohar Kaniel. 4 Zuri Dar und Oded Hermoni, „Israeli Start-Up Develops Technology to See Through Walls“, in: Ha’aretz v. 1. Juli 2004; Amir Golan, „The Components of the Ability to Fight in Urban Areas“, in: Ma’arachot 384,
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Abb. 2: Eyal Weizman, Nablus 2002, Fotografie des Autors (© Eyal Weizman).
Die dem NATO-Standard entsprechenden Waffen mit 5,56-mm-Geschossen wurden ergänzt durch 7,62-mm-Geschosse, mit denen man durch Stein, Holz und Lehmziegel schießen kann, ohne dass die Kugel groß umgelenkt wird. Geräte von „buchstäblicher Transparenz“ sind die Hauptkomponenten bei den Versuchen, eine geisterhafte (oder computerspielmäßige) militärische Fantasiewelt ungebundener Fluidität zu errichten, in der der Raum der Stadt so durchschifft werden kann wie ein Ozean. In ihrem Bemühen, auf das blicken zu können, was hinter Mauern und Wänden versteckt ist, sich durch sie hindurchzubewegen und Munition durch sie hindurchzujagen, scheint es, als habe das Militär – indem es sich durch mehr oder weniger zeitgenössische Theorie legitimierte – die zeitgenössischen Technologien auf die Ebene der Metaphysik gehoben: danach trachtend, sich über das Hier und Jetzt der physischen Realität hinauszubewegen und Zeit und Raum zusammenbrechen zu lassen.
Juli 2002, S. 97; vgl. auch Ross Stapleton-Gray, „Mobile mapping. Looking through Walls for On-site Reconnaissance“, in: Journal for Net Centric Warfare C4ISR, 11. September 2006.
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Akademie des Straßenkampfs Shimon Naveh, ein pensionierter Brigadegeneral, war bis Mai 2006 Kodirektor des Operational Theory Research Institute. In einem Interview, das ich mit ihm führte, erklärte Naveh die Ziele des Instituts: „[Der Einsatz in] Jenin war ein kompletter Misserfolg für die IDF, der Schaden, den diese Zerstörung den IDF zugefügt hat, ist größer als der, den wir den Palästinensern [sic] beigebracht haben. Der Einsatz wurde von extrem unerfahrenen Offizieren geleitet, die einfach in Panik gerieten und zu denken aufhörten.“
Er schlug vor, dass die IDF den Ansatz weiter verfolgen sollten, den sie in Nablus und Balata angewandt hatten. Er sah seine Arbeit darin, die „Aktionen der IDF effizienter, gewiefter […] und auf diese Weise humaner zu machen“. Er fasste die Mission des Instituts folgendermaßen zusammen: „Wir sind wie der Jesuitenorden. Wir versuchen, das Denken der Soldaten zu unterrichten und auszubilden.“ Hinsichtlich der Theorien, die das Institut anwendet, sagte er: „Wir lesen Christopher Alexander […], können Sie sich das vorstellen? Wir lesen John Forester […]. Wir lesen Gregory Bateson, wir lesen Cliffort Geertz. Nicht nur ich, sondern unsere Soldaten und unsere Generäle reflektieren solche Art von Material. Wir haben eine Schule eingerichtet und einen Lehrplan entwickelt, die ‚Einsatzarchitekten‘ [operational architects] ausbilden.“
In einer Vorlesung, der ich beiwohnte, präsentierte Naveh ein Diagramm, das einem „Quadrat von Gegensätzen“ ähnelte und eine Reihe von logischen Verbindungen zwischen bestimmten auf Militärund Guerillaeinsätze bezogenen Behauptungen verzeichnete. Bezeichnungen wie „Differenz und Wiederholung“, „Dialektik von Strukturierung und Struktur“, „‚formlose‘ rivalisierende Entitäten“, „fraktales Manöver“, „schlagartige Überfälle“, „Geschwindigkeit vs. Rhythmus“, „Wahhabi-Kriegsmaschine“, „postmoderne AnarchistInnen“, „nomadische TerroristInnen“ usw. wandten die Sprache der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari an. In dem Interview fragte ich Naveh: „Warum Deleuze und Guattari?“ Und er antwortete: „Viele der Konzepte in Tausend Plateaus wurden hilfreich für uns […], sie erlaubten es uns, gegenwärtige Situationen zu erklären, die uns ansonsten unerklärlich geblieben wären. Es problematisierte unsere eigenen Paradigmen […]. Am wichtigsten für uns war die Unterscheidung, die sie zwischen ‚glattem‘ und ‚gekerbtem‘ Raum getroffen haben [und die sich wiederum] in den organisatorischen Konzepten der ‚Kriegsmaschine‘ und des ‚Staatsapparates‘ [spiegeln] […]. In den IDF benutzen wir nun häufig den Begriff ‚den Raum glätten‘ [to smooth out space], wenn wir uns auf einen Einsatz im Raum beziehen, als hätte er keine Grenzen. Wir versuchen den Einsatzort auf eine Art und Weise zu produzieren, dass Grenzen uns nicht beeinflussen. Palästinensische Gebiete könnten sicherlich insofern als ‚gekerbt‘ gedacht werden, als sie von Zäunen, Mauern, Gräben, Straßensperren etc. umgeben sind […]. Wir wollen dem ‚gekerbten‘ Raum der traditionellen, altmodischen militärischen Praxis [mit der die meisten Militäreinheiten heute operieren] mit einer Glätte begegnen, die uns die Bewegung durch den Raum ermöglicht und alle Grenzen und Barrieren überwindet. Anstatt unsere Streitkräften gemäß existierenden Grenzen zu kontrollieren und zu organisieren, geht es uns darum, diese Grenzen zu durchqueren.“
Naveh hat gerade die Übersetzung einiger Kapitel aus Bernard Tschumis Architecture and Disjunction ins Hebräische abgeschlossen. Zusätzlich zu diesen theoretischen Positionen sind solche kanonischen Elemente urbanistischer Theorie wie die situationistischen Praktiken des dérive und détournement seine Bezugspunkte. Diese Ideen waren im Kontext allgemeiner Ansätze konzipiert worden, die darauf ausgerichtet waren, die gebaute Hierarchie der kapitalistischen Stadt in Frage zu stellen. Sie hatten es darauf abgesehen, die Unterscheidungen zwischen privat und öffentlich, innen und außen, Nutzen und Funktion einzureißen und den privaten Raum durch eine „grenzenlose“ öffentliche Oberfläche zu ersetzen. Naveh bezog sich ebenfalls auf Georges Bataille, der auch von dem Wunsch gesprochen hatte, die Architektur anzugreifen: Sein Ruf zur Waffe zielte darauf ab, den rigiden Rationalismus der
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Nachkriegsordnung zu diskreditieren, der „architektonischen Zwangsjacke“ zu entfliehen und die unterdrückten menschlichen Wünsche zu befreien. Obwohl sie ein Spektrum sehr verschiedener Positionen und Epochen repräsentieren, ging es sowohl Bataille als auch den SituationistInnen und Tschumi darum, die repressive Macht der bürgerlichen Stadt mit neuen Strategien der Durchquerung und Durchkreuzung zu untergraben. Diese Ideen und Taktiken spiegelten ein allgemeines Vertrauensdefizit gegenüber den staatlichen Strukturen in Bezug auf ihre Kapazitäten, die Demokratie zu schützen oder zu befördern. Die nichtstaatlichen Mikropolitiken dieser Zeit repräsentierten auf vielfältige Arten und Weisen die Bemühungen, eine mentale und affektive Guerilla auf den intimen Ebenen des Körpers, der Sexualität und der Intersubjektivität zu konstituieren, ein Individuum, in dem das Persönliche subversiv politisch wurde. So boten diese theoretischen Positionen eine Strategie des Rückzugs vom formalen Staatsapparat in den privaten Bereich. Während diese Taktiken als Übertretung der etablierten „bürgerlichen Ordnung“ der Stadt verstanden wurden, wobei das architektonische Element der Wand – häuslich, städtisch oder geopolitisch – als Verkörperung sozialer und politischer Repression gesehen wurde, werden die durch jene Denker inspirierten Taktiken in den Händen israelischer Militärs zur Grundlage für Angriffe auf die „feindliche“ Stadt. Eine geisteswissenschaftliche Bildung – oft für eine der mächtigsten Waffen gegen den Imperialismus gehalten – wurde hier als ein machtvolles Werkzeug für koloniale Machtausübung angeeignet. All dies wurde hier nicht skizziert, um diese Theorie, ihre Erfinder oder die Reinheit ihrer Absichten zu beschuldigen oder einen antitheoretischen Ansatz anzupreisen, sondern in dem Bemühen, unsere Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit zu richten, dass, wie Herbert Marcuse behauptet hat, mit der wachsenden Integration der vielen verschiedenen Aspekte der Gesellschaft Widerspruch und Kritik gleichermaßen subsumiert und durch die hegemoniale Macht als instrumentelles Werkzeug operativ gemacht werden können – in diesem Fall poststrukturalistische und sogar postkolonialistische Theorie durch den kolonialen Staat.5
Ausschwärmen Laut Naveh ist eine zentrale Kategorie in den Konzeptionen der IDF zu den neuen urbanen Einsätzen das Ausschwärmen. Es bezieht sich auf eine koordinierte gemeinsame Aktion, die von einer netzwerkartigen Organisationsform unternommen wird, deren einzelne Einheiten alle halbautonom, aber in allgemeiner Synergie mit allen anderen operieren. Die Theoretiker des Unternehmens RAND, denen die Popularisierung der militärischen Implikationen des Begriffes zugeschrieben wird, David Ronfeldt und John Arquilla, stellen heraus, dass das Ausschwärmen historisch in der Kriegsführung nomadischer Stämme angewandt wurde und gegenwärtig bei verschiedenen Organisationen quer durch das Spektrum sozialer und politischer Konflikte zur Anwendung gelangt, so beispielsweise bei TerroristInnen und Guerillaorganisationen und bei kriminellen Mafiosi ebenso wie bei gewaltfreien sozialen AktivistInnen.6 In unserem Interview erklärte Kochavi, wie die IDF das Konzept verstehen und anwenden:
5 „Gegenüber dem totalen Charakter der Errungenschaften der fortgeschrittenen Industriegesellschaft gebricht es der kritischen Theorie an einer rationalen Grundlage zum Transzendieren dieser Gesellschaft. Dieses Vakuum entleert die theoretische Struktur selbst, weil die Kategorien einer kritischen Theorie der Gesellschaft während einer Periode entwickelt wurden, in der sich das Bedürfnis nach Weigerung und Subversion im Handeln wirksamer sozialer Kräfte verkörperte.“ (Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied und Berlin 1970, S. 16.) 6 David Ronfeldt, John Arquilla, Graham Fuller und Melissa Fuller, in: The Zapatista „Social Netwar“ in Mexico, Santa Monica, CA 1998 (RAND).
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„Eine staatliche Armee, deren Feind wie ein Netzwerk lose organisierter Gangs zerstreut ist, […] muss sich selbst vom alten Konzept der geraden Linien, Einheiten in linearer Formation, Regimenter und Bataillonen befreien […] und muss selbst viel diffuser und zerstreuter werden, flexibel und schwarmartig. […] Tatsächlich muss es sich selbst der verstohlenen Fähigkeit des Feindes anpassen […]. Ausschwärmen ist in meinem Verständnis die gleichzeitige Ankunft am Ziel einer großen Anzahl von Knotenpunkten – wenn möglich von 360 Grad aus, […] die sich dann voneinander trennen und wieder zerstreuen.“
Laut Gal Hirsh erzeugt das Ausschwärmen ein „lautes Brummen“, das es für den Feind sehr schwer macht, zu wissen, wo das Militär sich befindet und in welche Richtung seine Bewegung verläuft.7 Die Grundannahme des Konfliktes niederer Intensität ist es, wie Arquilla und Ronfeldt formuliert haben, dass „es eines Netzwerks bedarf, um ein Netzwerk zu bekämpfen“.8 So verstanden ist ein urbanes Gefecht nicht die Aktion einer lebendigen Streitkraft gegen eine leblose Masse, sondern der Zusammenprall zweier Netzwerke.9 Indem sie sich aneinander anpassen, sich imitieren und voneinander lernen, treten die Guerilla und die Militärs in einen Kreislauf der Koevolution ein. Die militärischen Fähigkeiten entstehen aus der Beziehung zum Widerstand, der sich wiederum in Relation zur Transformation der militärischen Praktiken entwickelt. Allerdings sind die Behauptungen eines totalen Zusammenbruchs vertikaler Hierarchien in zeitgenössischen Armeen weit übertrieben. Hinter der Rhetorik der Selbstorganisation und der abflachenden Hierarchien sind militärische Netzwerke immer noch weitgehend innerhalb traditioneller institutioneller Hierarchien verankert. Das nichtlineare Ausschwärmen wird am äußersten taktischen Ende eines inhärent hierarchischen Systems praktiziert.10 Räumliche Nicht-Linearität ist deshalb gewährleistet, weil Israel immer noch alle linearen Versorgungslinien kontrolliert – die Straßen innerhalb der Westbank und die, die sie mit den großen Stützpunkten in Israel selbst verbinden, ebenso wie die Vielzahl an linearen Sperren, die entlang den Straßen errichtet worden sind. Darüber hinaus sind das Ausschwärmen und das Durch-WändeGehen vor allem dann erfolgreich, wenn der Feind relativ schwach, desorganisiert und kaum in der Lage ist, den Widerstand zu koordinieren, und insbesondere wenn die Überlegenheit in Technologie, Ausbildung und Schlagkraft klar auf der Seite des Militärs liegt. Während der Jahre der Intifada stellten sich die Besatzungstruppen ihre Angriffe auf schlecht bewaffnete Guerillas als „Schlachten“ vor und bliesen ihre Erfolge zu beachtlichen militärischen Leistungen auf. Die Jahre, die sie damit verbrachten, erfolgreich die schwachen palästinensischen Organisationen anzugreifen, waren ohne Zweifel einer der Gründe für die Inkompetenz, die die gleichen israelischen Soldaten an den Tag legten, als sie 2006 den stärkeren, besser bewaffneten und gut ausgebildeten Hisbollah-Kämpfern im Libanon gegenüberstanden. Und tatsächlich waren die beiden am meisten in die Ereignisse des Sommers 2006 in Gaza und im Libanon involvierten Offiziere keine anderen als die zwei israelischen Militärabsolventen des OTRI, die Veteranen der Angriffe auf Balata und Nablus 2002, Aviv Kochavi (Befehlshaber der Gaza-Division) und Gal Hirsh (Befehlshaber der NordgaliläaDivision 91). Kochavi, der den Angriff auf Gaza im Sommer 2006 befehligte, klebte an seiner verschleiernden Sprache: „Wir versuchten, auf der palästinensischen Seite ein Chaos zu erzeugen, um von einem Ort zum anderen springen zu können, das Gebiet zu verlassen und dann wieder aufzutau7 Gal Hirsch, „On Dinosaurs and Hornets, ‚A Critical View on Operational Moulds in Asymmetric Conflicts‘“, in: RUSI Journal, August 2003, S. 63. 8 John Arquilla und David F. Ronfeldt, Networks and Netwars. The future of terror, crime, and militancy, Santa Monica, CA 2001, S. 15. 9 „Nun ist der Krieg nicht das Wirken einer lebendigen Kraft auf eine tote Masse, sondern, weil ein absolutes Leiden kein Kriegführen sein würde, so ist er immer der Stoß zweier lebendiger Kräfte gegeneinander“ (Carl von Clausewitz, Vom Kriege [Berlin, 1832], hier zitiert nach http://www.clausewitz.com/CWZHOME/ VomKriege/Book1Ch01VK.htm, aufgerufen: 11. April 2007). 10 Vgl. hierzu Ryan Bishop, „‚The Vertical Order Has Come to an End‘. The Insignia of the Military C3I and Urbanism in Global Networks“, in: Ryan Bishop, John Phillips und Wei-Wei Yeo (Hrsg.), Beyond Description. Space Historicity Singapore, Architext Series, London und New York 2004.
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chen. […] Wir werden eher die Vorteile eines ‚Überfalls‘ ausnutzen als die der ‚Besatzung‘.“11 Auch Hirsh forderte im Libanon „Überfälle statt Besatzung“ und befahl den erst neuerdings unter seinem Kommando stehenden Batallionen, die die von ihm benutzte Sprache des OTRI nicht gewohnt waren, „auszuschwärmen“ und das Gebiet „zu befallen“. Allerdings schienen seine untergebenen Offiziere nicht zu verstehen, was damit hätte gemeint sein können. Später wurde Hirsh für seine Arroganz, seinen Intellektualismus und seine Abgehobenheit kritisiert. Naveh selbst musste, über das Ergebnis sinnierend, im öffentlichen Fernsehen eingestehen: „Der Krieg im Libanon war ein Fehler, und ich habe großen Anteil daran. Das, wozu ich die IDF veranlasst habe, war falsch.“ Das Chaos hingegen war auf der israelischen Seite. Ständiger Beschuss durch die immer frustriertere IDF verwandelte allmählich Dörfer und Gemeinden in schneidende Topografien aus aufgesprengtem Beton und zerborstenem Glas, übersät mit verbogenen Metallplatten. In dieser mondähnlichen Landschaft waren die Geröllhügel überzogen mit Höhlen aus begrabenen Räumen, die den Guerillas paradoxerweise mehr Verstecke boten. Die Hisbollah-Kämpfer schwärmten ihrerseits sehr gekonnt durch dieses Geröll und die Kriegstrümmer, benutzten zum Teil versteckte Tunnelsysteme, studierten die Manöver der israelischen Soldaten und griffen sie mit Anti-Panzer-Waffen genau dann an, wenn sie in libanesische Häuser eindrangen, sich in ihnen organisierten und bewegten, wie sie dies aus den Städten und Flüchtlingslagern in der Westbank gewohnt waren.
Tödliche Theorie Die Terminologie der Nicht-Linearität und der Netzwerke hat ihren Ursprung im militärischen Diskurs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie wurde in der US-Militärdoktrin Luft-Land-Schlacht von 1982 eingesetzt, die die Zusammenarbeit der verschiedenen (Land-, Luft- und See-)Streitkräfte hervorhob und die Strategie verfolgte, den Feind an systematischen Schwachstellen zu treffen – Brücken, Hauptquartiere und Versorgungslinien –, um ihn aus dem Gleichgewicht zu werfen. Sie wurde entwickelt, um einen Einmarsch der Sowjets in Mitteleuropa zu stoppen, und wurde erstmals im Golfkrieg von 1991 angewendet. Die Durchsetzung dieses Strangs führte zur Netzwerkzentrierten Doktrin im Kontext der Revolution militärischer Angelegenheiten (Revolution in Military Affairs, RMA) nach dem Ende des Kalten Krieges. Die netzwerkzentrierte Kriegsführung konzeptualisierte das Feld militärischer Einsätze als dezentrale Netzwerksysteme, die durch Informationstechnologie über die gesamte operationale Bandbreite miteinander verwoben sind. Diesen Transformationen, von Neokonservativen wie Donald Rumsfeld betrieben, stand eine starke Opposition innerhalb der USStreitkräfte entgegen. Diese Opposition erfuhr zuletzt im Zusammenhang mit den militärischen Fehlschlägen der US-Armee im Irak eine Beschleunigung. Die IDF durchleben seit Beginn der 1990er Jahre auf sehr ähnliche Weise institutionelle Konflikte im Zusammenhang mit diesen Transformationen. Innerhalb dieser internen Konflikte wurde eine spezielle, auf poststrukturalistischer Theorie basierende Sprache benutzt, um die Kritik am existierenden System zu artikulieren und für Umgestaltungen und weitere Reorganisierungen zu plädieren, wie Naveh erklärte: „Wir verwenden kritische Theorien in erster Linie, um die militärische Institution selbst zu kritisieren – ihre feststehenden und schwerfälligen konzeptuellen Grundlagen“. Einer der internen, sowohl die konzeptuelle als auch die hierarchische Ebene betreffenden Konflikte innerhalb der IDF spielte sich im Kontext der Debatte ab, die der Schließung des OTRI im Frühjahr 2006 und der umstrittenen Entlassung von Naveh und seinem Kodirektor Dov Tamari folgte. Diese wiederum fand im Zusammenhang mit dem Austausch des Mitarbeiterstabes statt, der im
11 Hannan Greenberg, „The Commander of the Gaza Division. The Palestinians are in Shock“, in: Ynet, 7. Juli 2006, http:www.ynet.co.il [Hebräisch].
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Anschluss an die Auswechselung von Moshe Ya’alom als Stabschef durch seinen Rivalen Dan Halutz vollzogen wurde.12 Nachdem er das OTRI aufgelöst hatte, gründete Halutz ein alternatives Institut für „operationales Denken“, das auf dem Modell einer ähnlichen Abteilung basiert, die Halutz zuvor bei der Luftwaffe ins Leben gerufen hatte. Naveh verstand seine Entlassung als „Coup gegen das OTRI und gegen die Theorie“. Die militärische Debatte reflektiert politische Fragestellungen. Naveh unterstützte gemeinsam mit den meisten seiner KollegInnen den israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen ebenso wie den israelischen Rückzug aus dem Südlibanon, bevor dieser im Jahr 2000 tatsächlich vollzogen wurde. Ähnlich unterstützt er den Rückzug aus der Westbank. Tatsächlich kann seine politische Position dem zugerechnet werden, was in Israel die „zionistische Linke“ genannt wird. Seine Stimmenabgabe wechselte zwischen der Arbeiterpartei und Meretz. Ebenso übernahm Kochavi enthusiastisch das Kommando für den Militäreinsatz bei der Evakuierung und der Auflösung der Siedlungen im Gazastreifen. Auch er gilt, ungeachtet der Gräueltaten, für die er in Gaza verantwortlich gemacht wird, als „linker“ Offizier. Laut Naveh sollte das Einsatzparadigma versuchen, die Präsenz in den besetzten Gebieten durch die Fähigkeit zu ersetzen, sich durch sie hindurchzubewegen und das zu produzieren, was er „Effekte“ nennt. Das sind „militärische Einsätze wie beispielsweise Luftangriffe oder Kommandoüberfälle […], die den Feind psychologisch und organisatorisch treffen“. Die neuen Taktiken sind dazu da, die Herrschaft über die Sicherheitslage in den evakuierten palästinensischen Gebieten zu behalten, und ihre Entwicklung wurde als Vorbedingung für den Rückzug betrachtet. Der Rückzug wird innerhalb der IDF als abhängig von Israels Fähigkeit betrachtet, ihn in Notsituationen, die sie selbst definieren, sofort abzubrechen. Dies macht unzweifelhaft einiges von der angenommenen Symmetrie der Grenzen zunichte, die die Ikonografie der Westbankmauer verkörpert, ebenso wie es all die diplomatische Rhetorik zunichte macht, die auf der anderen Seite der Mauer – was auch immer vom Gemeinwesen noch übrig ist, so fragmentiert und perforiert es auch sein mag – einen palästinensischen Staat erkennen will. Dieser Logik folgend, behauptet Naveh, „auf welche Linie auch immer sie [die PolitikerInnen] sich einigen, dort sollten sie den Zaun [die Mauer] errichten. Für mich geht das in Ordnung […] allerdings nur so lange, wie ich diesen Zaun überqueren kann. Was für uns notwendig ist, ist nicht dort zu sein, sondern […] dort zu agieren […]. Der Rückzug ist nicht das Ende der Geschichte.“
In dieser Hinsicht ist die große „Staatsmauer“ genauso konzipiert wie eine Hauswand – als ein transparentes und durchlässiges Medium, das es dem israelischen Militär erlaubt, sich „sanft“ hindurchund darüber hinwegzubewegen. Ein Vergleich der Angriffe von Jenin mit jenen von Nablus führt das Paradox vor Augen, dass die linken Offiziere im Endeffekt um einiges zerstörerischer wirkten. Ein Loch in der Wand ist vielleicht nicht so verheerend wie die Zerstörung des gesamten Hauses, aber die ganze Angelegenheit muss auch im Hinblick auf die lokale und internationale Gegnerschaft gegen die Angriffe betrachtet werden: Da die Besatzungsmächte bislang nicht in der Lage waren, in ein Flüchtlingslager einzudringen, ohne es zu zerstören, wie sie es in Jenin getan haben, haben sie in den meisten Fällen die Flüchtlingslager vermutlich gar nicht erst angegriffen, mit Sicherheit jedenfalls nicht so häufig, wie sie es jetzt tun, wo sie das entsprechende Werkzeug dafür gefunden haben. Anstatt einen politischen Verhand-
12 Halutz griff die vom OTRI entwickelten theoretischen Konzepte nicht direkt an. Das allgemeine Einsatzkonzept (General Staff ’s Operational Concept) der IDF basiert nach wie vor auf der theoretischen Doktrin der systematischen Einsatzgestaltung, die das OTRI vorgelegt hat, vgl. Caroline Glick, „Halutz’s Stalinist moment. Why were Dovik Tamari and Shimon Naveh Fired?“, in: Jerusalem Post v. 17. Juni 2006, und Rapaport, „Dan Halutz is a Bluff“. Gegenwärtig ist Naveh beim Entwicklungskommando des US Marine Corps als Seniorberater für deren Einsatzexperiment „Entdeckungskrieger“ (Expeditionary Warrior) angestellt.
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lungsprozess mit der Hamas zu beginnen, unterstützt das Vertrauen ins Militär die Regierung dabei, Politik zu umgehen.
Mauern/Gesetze In Belagerungskriegen kam das Durchbrechen der äußeren Mauer der Zerstörung der Souveränität des Stadtstaates gleich. Deshalb widmete sich auch die historische „Kunst“ des Belagerungskrieges der Geometrie von Stadtmauern und ähnlichen komplexen Technologien, die darauf abzielten, sich der Mauer zu nähern und sie schließlich einzureißen. Im Gegensatz dazu ist die urbane Kriegsführung der Gegenwart mehr und mehr mit Methoden beschäftigt, die dazu dienen, durch Hauswände verkörperte Begrenzungen zu überwinden. Insofern erscheint es sinnvoll, die (privaten) Hauswände als (öffentliche) Stadtmauern zu denken – als wirkmächtige Eckpfeiler des Gesetzes und der Bedingungen für demokratisches, städtisches Leben. Laut Hannah Arendt wurde der politische Bereich der griechischen Stadt durch zwei Arten von Mauern (oder mauerartigen Gesetzen) garantiert: die Mauer, die die Stadt umgab und die die Zone des Politischen definierte, und die Mauern oder Wände, die den privaten Raum vom öffentlichen Bereich abgrenzten und die Autonomie des häuslichen Bereichs gewährleisteten. „Ohne die Mauer des Gesetzes konnte ein öffentlicher Raum so wenig existieren wie ein Stück Grundeigentum ohne den es einhegenden Zaun; jene umhegte und beherbergte das politische Leben der Stadt, wie dieser das ‚private‘ Leben ihrer Bewohner schirmte und schützte.“13
Die gesamte Ordnung der Stadt beruhte demnach auf der Fantasie von der Mauer als stabil, solide und feststehend. Und auf der anderen Seite tendiert der architektonische Diskurs dazu, die Mauern oder Wände als irreduzible Gegebenheiten der Architektur zu betrachten. Die militärische Praxis des Durch-Wände-Gehens – auf der Ebene des Hauses, der Stadt oder des Staates – verbindet die physikalischen Beschaffenheiten des Bauens mit der Syntax architektonischer, sozialer und politischer Ordnungen. Neue Technologien erlauben es den Soldaten, lebendige Organismen durch Mauern hindurch zu sehen und erleichtern es ihnen, durch sie hindurchzugehen und Waffen abzufeuern. Das berührt nicht nur die Materialität der Mauer oder Wand, sondern ihr gesamtes Konzept. Mit der Mauer, die physikalisch und konzeptuell nicht länger stabil oder rechtlich undurchdringbar ist, stürzt die funktionale räumliche Syntax, die sie geschaffen hat – die Trennung von innen und außen, privat und öffentlich – in sich zusammen. Ohne diese Mauer, führt Arendt weiter aus, „konnte es zwar eine Stadt im Sinne einer Ansammlung von Häusern für das Zusammenleben von Menschen geben (asty), aber keine polis, keinen Stadtstaat als eine politische Gemeinschaft.“14 Die Unterscheidung zwischen einer Stadt (city) als einem politischen Bereich und einer Ortschaft (town) (als die Gegenthese zur Stadt ist hier das Flüchtlingslager zu verstehen) basiert auf der konzeptuellen Stabilität der Elemente, die sowohl die Existenz des öffentlichen als auch des privaten Bereichs sicherstellen. Eine prägnante Beobachtung Giorgio Agambens folgt der Spur, die Arendt gelegt hat: „[I]m Lager sind Staat und Haus ununterscheidbar geworden.“15 Das Durchbrechen der physischen, visuellen und konzeptuellen Grenze/Mauer/Wand eröffnet neue Bereiche der politischen Macht und bietet auf diese Weise ein physisches Diagramm vom Konzept des Ausnahmezustands. (Abb.3) Wenn Kochavi behauptet, Raum sei „bloß eine Interpretation“ und seine Bewegung durch die gebaute Textur der Stadt reinterpretiere die architektonischen Elemente (Wände, Fenster und Türen),
13 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 2007, 5. Aufl., S. 78. 14 Ebd. 15 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002, S. 197.
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Abb. 3: Eyal Weizman, Nablus 2002, Fotografie des Autors (© Eyal Weizman).
und wenn Naveh erklärt, er würde jede Grenze akzeptieren, solange er sie überqueren könne, dann benutzen sie einen transgressiven theoretischen Ansatz, um nahezulegen, dass es beim Krieg und bei Angriffen nicht länger um die Zerstörung von Raum, sondern um dessen „Reorganisation“ gehe. Wenn eine Mauer oder Wand nur noch ein Zeichen für „Mauer“ oder „Wand“ ist, das Skalen politischer Ordnungen markiert, dann wird das Entmauern/Entwänden auch nur zu einer Form des durch die Theorie angeheizten Neuschreibens – und beschreibt einen konstanten Prozess der Zerstörung. Wenn das „Durch-Wände-Gehen“ zu einer Methode der „Reinterpretation des Raumes“ wird und
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wenn die Beschaffenheit des Raumes nur „in Beziehung“ zu dieser Form der Interpretation besteht, kann diese „Reinterpretation“ dann töten? Wenn die Antwort „Ja“ lautet, dann wird die „inverse Geometrie“, die die Stadt „von innen nach außen“ kehrt, indem sie ihre privaten und öffentlichen Räume vermischt, und die die Idee eines „palästinensischen Staates“ von außen nach innen kehrt, Konsequenzen für militärische Einsätze bewirken, die über physische und soziale Zerstörung hinausgehen. Und sie zwingt uns, die „konzeptuelle Zerstörung“ politischer Kategorien zu reflektieren, die diese Einsätze implizieren. Übersetzung von Jens Kastner. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Edition Nautilus.
JACQUES RANCIÈRE
Die Politik des Topografen
Der 2008 entstandene Film Inland des algerischen Regisseurs Tariq Teguia erzählt die Geschichte des politischen Aktivisten Malek, der sich aus diesem Engagement zurückzieht. Er nimmt eine Arbeit als Landvermesser für den Bau neuer Stromleitungen in Süd-Oran an und findet sich in einer ebenso armen wie verlassenen Gegend Algeriens wieder – weit weg von den deleuzianisch grundierten Diskussionen seiner Freunde. Dort wird er mit der Wirklichkeit der Polizeimacht, mit islamistischer Gewalt und der Migration aus Afrika konfrontiert. Seine Rückgezogenheit und das Topografieren des von der Zentralregierung zu entwickelnden Gebiets werden durch die Begegnung mit einer jungen Afrikanerin unterbrochen, deren Migration nach Europa in der Nähe seines Basislagers scheitert. Statt ihre Reise fortzusetzen, entschließt sich die schweigende Frau, eine andere Route einzuschlagen. Auf dieser Fahrt zurück zur Grenze des Landes, durch die Wüste, wird sie von Malek begleitet, der seine Vermessungsarbeit aufgibt und in dieser Begegnung andere Linien in die gemeinsam durchquerte Landschaft zeichnet. Linien, in denen eine Politik des Landvermessers vor Augen geführt wird, eine Politik, die die des Filmemachers Teguia und seiner Geschichte Algeriens nach Bürgerkrieg und Kampf gegen islamistischen Terror ist.
Gabbla, wie der Originaltitel von Inland im Arabischen Algeriens lautet, veranschaulicht für mich eine bestimmte Idee davon, was „Fiktion“ ist und inwiefern diese „politisch“ ist. Der Film beginnt mit bloßer Farbe: einer grau-gelben Oberfläche, aus welcher langsam die Masten einer Hochspannungsleitung auftauchen. Er endet mit der Auflösung der jungen Frau, einem sich bewegenden Punkt, der in einem Gelb verschwindet, welches die Farbe der Sonne und des Sands ist, die Farbe ihrer Ununterscheidbarkeit. Er beginnt mit bloßer Farbe und kehrt zu bloßer Farbe zurück. In dieser Hinsicht ist er in Einklang mit der klassischen – beziehungsweise repräsentativen – Konzeption von Fiktion: eine Abfolge von Ereignissen, die vom Fluss des wirklichen Lebens durch einen Anfang und ein Ende geschieden ist. In der repräsentativen Konzeption von Fiktion sind dieser Anfang und dieses Ende durch die Konstruktion einer Handlungsabfolge verbunden. Eine klar bestimmte Kette von Ereignissen resultiert aus dem Aufeinandertreffen, der Interaktion und der Opposition von Protagonisten, welche verschiedene Ziele verfolgen. Diese Kette von Ereignissen mag im künstlerischen Gebrauch der Fiktion immer noch existieren, sie wird jedoch einer anderen narrativen Ebene untergeordnet – und möglicherweise durch diese ersetzt. Die erste Frage ist: Was geschieht? Geschieht etwas? Was bedeutet „geschehen“? Das Material der Fiktion wird durch Räume, Bewegungen, Rhythmen und andere sinnliche Veränderungen gebildet. Die Formen des Aufeinandertreffens, der Interaktion und der Opposition, welche ihre Struktur definieren, konfrontieren nicht länger Protagonisten oder deren Willen; sie konfrontieren Arten der Wahrnehmung, welche versuchen, diese sinnlichen Ereignisse zu erfassen, Formen der narrativen Modellierung, welche ihnen eine Zeit geben, interpretative Schemata, welche aus ihnen Sinn machen. Dies trifft auf diesen Film zu. Auf einer ersten Ebene hat er eine Handlung. Er ist kein Dokumentarfilm über das algerische Landesinnere. Er ist die Geschichte einiger Personen, die sich auf einem Territorium bewegen, um bestimmte Dinge zu tun, und die hierdurch neue Beziehungen eingehen. Aber zugleich ergibt es keinen Sinn zu fragen, was mit dem Hauptprotagonisten Malek oder mit der jungen Frau, welche er zurück an die Grenze ihres Landes gefahren hat, geschehen wird. Sie sind aus
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Abb. 1: Filmstill aus: Gabbla, Algerien/Frankreich 2008, Regie: Tariq Teguia, Neffa Films 2008.
einem Zustand der Ununterscheidbarkeit aufgetaucht, und ihre Reise durch Räume endet in einem ähnlichen Zustand der Ununterscheidbarkeit. Dies bedeutet aber nicht, dass dies ein „formaler“ Film im geläufigen Sinn ist, das heißt ein Film, der sich auf Kosten des erzählerischen Inhalts ausschließlich mit Rhythmen, Linien und Farben befasst. Vielmehr schaffen Räume, Rhythmen, Linien und Farben eine andere Art von Dramaturgie. Die entscheidende Frage ist nicht, was Malek möchte oder was er denkt und ob er erfolgreich ist oder nicht. Worauf es ankommt, ist, wie Maleks Reise zwischen zwei Polen der Ununterscheidbarkeit eine Linie durch den Raum zieht, wie diese Linie eine Anzahl verschiedener anderer Linien kreuzt und wie sie, als sie die Linie der jungen Frau kreuzt, von dieser abgelenkt wird und gemeinsam mit ihr eine neue Linie zieht. Derart macht die Kombination von Linien die Gegenwart eines Volkes wahrnehmbar, ein Land sichtbar und die Arten und Weisen, dieses zu bewohnen, sagbar. Aber welche Verbindung hat diese Konzeption von Fiktion mit einer Idee von Politik? Sie ist mit einer Idee von Politik verbunden, die diese vor allem als Konstruktion eines Gemeinsinns sieht, als eine gewisse Kadrierung von Raum und Zeit, als eine Angelegenheit der Einschließung oder Ausschließung von Körpern in diesem Raum, als eine Weise, deren Fähigkeit zu konstruieren, Situationen wahrzunehmen, diese zu benennen und in ihnen zu handeln. In diesem Sinne ist die Fiktion von Inland eine politische Fiktion. Es ist ein Film über Algerien. Er handelt nicht von der Politik der algerischen Regierung, den Strategien der Parteien, den Streiks und den Wahlen. Er handelt von Algerien selbst als einem Land, das heißt sowohl von einem konkreten Staatsgebiet, dem Produkt einer bestimmten Geschichte, als auch von dem ihm zugewiesenen Platz in der Welt, vom heutigen Algerien im Prozess der Globalisierung. Die offizielle Darstellung des Algerien von heute, die wir im Film aus dem Mund des Chefs oder durch die Stimme aus dem Radio hören, bildet den Hintergrund
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Abb. 2: Filmstill aus: Gabbla, Algerien/Frankreich 2008, Regie: Tariq Teguia, Neffa Films 2008.
des Filmes: Der von der algerischen Regierung gegen den Terror geführte Krieg ist gewonnen, ein neues Algerien entsteht, ein Algerien, das „gewinnt“, oder ein Algerien, das mit dem Strom der liberalen Globalisierung schwimmt. Malek wird angeboten, eine kurze Reise ins Herz dieses von den offiziellen Stimmen verkündeten friedlichen und modernen Algerien zu unternehmen. Seine Reise geht jedoch in eine andere Richtung, weil von Beginn an dem Körper Maleks in der Art, in der sein kinematografischer Körper uns erscheint, eine andere Weise des Reisens eigen ist. Er wird durch die Beziehung dreier Elemente konstruiert: Da ist erstens sein Schweigen, die Art, in der seine lange und dünne Silhouette uns zum ersten Mal erscheint, von einem weiten und leeren Raum umgeben, in keiner Aktivität befangen; da ist zweitens der Lärm, aus dem dieses Schweigen hervorgeht: das in Nahaufnahme in einem engen Raum gefilmte Gespräch der Intellektuellen und Aktivisten: Wir verstehen, dass Malek wohl Teil ihrer Gemeinschaft gewesen war und dass er ihnen nun fern ist, nicht willens, irgendeine politische Aussage zu machen, irgendeine Aussage über den Zustand der Welt und ihre Zukunft. Das dritte Element ist die Erinnerung an einen Selbstmord in einer grünen Landschaft, der wie ein Schauspiel auftaucht, das in einer Gegeneinstellung wahrgenommen wird – eine Panorama-Aufnahme, so weit wie die Wüstenlandschaft rund um Maleks Heim und hierdurch ein Raum der Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart. In diesem Raum ist der Erhängte nur ein kleiner schwarzer Strich, die Protagonisten sind nicht erkennbar, und die Handlung ist kaum wahrnehmbar. Wir werden nicht erfahren, wer der Erhängte ist und warum er Maleks Raum heimsucht. Wir können uns vorstellen, dass er ein Opfer von Unterdrückung ist, das Malek nicht beschützen konnte, einer seiner Aktivistenfreunde, der an der Unmöglichkeit politischer Handlung verzweifelt, oder was auch immer. Auf jeden Fall fungiert diese Szene als Ursache für Maleks Unfähigkeit, an den Diskussionen und Projekten seiner Freunde teilzunehmen, und bestimmt seine kontemplative
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Haltung. Ich sagte die „Ursache“, aber diese Ursache ist aus jeder Kausalkette herausgelöst. Sie ist eine Einstellung, die mit anderen Einstellungen koexistiert. Sie ist kein traumatischer Schock. Es handelt sich um eine sehr friedvolle Szene, die eher von Kontemplation als von Beklemmung bestimmt wird. Maleks kontemplative Haltung mag uns an die deleuzianische Analyse des Bruches des sensomotorischen Schemas erinnern. Malek ist jedoch nicht paralysiert, er kann handeln. Aber er ist unfähig, dem, was er macht, irgendein Ziel oder eine Bedeutung zu geben, unfähig, seine Handlungen in ein wie auch immer geartetes Projekt zu integrieren. Er ist nicht „passiv“. Er macht lediglich das, was er macht, als ob der Gegensatz von Aktivität und Passivität selbst neutralisiert wäre. Nun ist das, was er macht, ziemlich spezifisch, weil es sich dabei darum handelt, in ein Objektiv zu schauen, um Linien zu ziehen und Verbindungen auf einem Terrain herzustellen. Die lange und dünne Silhouette ist die Silhouette eines Mannes, der sich einzig der Aufgabe widmet, Räume auszumessen. Malek ist ein Landvermesser oder Topograf. Drei Bemerkungen hierzu: Zuerst kompliziert Maleks Reise das deleuzianische Szenario des durch das Desaster hervorgerufenen Bruches mit dem sensomotorischen Schema und der Verschiebung zu rein optischen und akustischen Situationen. Tatsächlich endet sein Rückzug von der Logik der Aktion in einer neuen Verbindung von Bewegung und Sehen. Es handelt sich hierbei um eine reine Verbindung, die sowohl frei von jeder Voraussetzung der Bedeutung dessen, was gesehen wird, als auch des letztendlichen Ziels der Bewegung ist. Malek sieht einfach, was er sieht, wie zum Beispiel Spuren von Blut an der Wand der Hütte, und hört, was er hört, wie zum Beispiel das Geräusch einer Explosion in der Nacht. So ist bloßes Sehen nicht dem sensomotorischen Schema entgegengesetzt. Die Opposition ist die zweier unterschiedlicher Verbindungen von Sehen und Bewegung. Zweite Bemerkung: Die Figur des Landvermessers und seine problematische Beziehung zu jener Art bürokratischer Macht, die normalerweise als „kafkaesk“ bezeichnet wird, mag an den Landvermesser in Das Schloss erinnern. Aber Malek ist nicht mit einer mysteriösen und enigmatischen Macht konfrontiert. Er muss mit dem Gegensatz zwischen dem Land, das von der Stimme der Bürokratie eingerahmt wird, und dem Land, das er sehen und mit seinen Instrumenten vermessen kann, umgehen. Da ist kein Gefühl von Absurdität, nur die Erfahrung mit dem Gegensatz zwischen verschiedenen Arten, ein Land zu kartografieren und zu „vermessen“: Der Chef in seinem Büro sieht das Land als neue Geschäftsmöglichkeit, bei der es darum geht, gerade Linien zu bauen und das schnellere Angebot zu machen; die Polizei sieht das Territorium der Staatsgewalt, wo, wenn ihre Sirene ertönt, jedes Individuum erscheinen, seine Papiere vorzeigen und über seine Anwesenheit an diesem Ort Rechenschaft ablegen muss. Was Malek betrifft, er sieht und hört sich um: Er sieht die ruinierten Bauernhöfe, die Wälder, die auf dem verlassenen Land gewachsen sind, das Vieh inmitten der herumliegenden Abfälle, die rostigen Eisentafeln und die arbeitslosen Menschen, die Straßensperre und dieses unerwartete schwarze Gesicht in der Dunkelheit der Hütte; er hört das Säuseln des Windes und den Lärm von Explosionen in der Nacht, die Musik der Sänger, die Worte der Bauern oder auch die Rufe dieser rätselhaften Aufrührer, die einen „neuen Krieg“ verkünden. Dies führt mich zu einer dritten Bemerkung: Maleks Aufgabe – vor Ort gehen, in ein Objektiv schauen, Linien ziehen – entspricht in einem gewissen Sinne der Aufgabe des Kinos. Ein bekannter Text von Deleuze charakterisiert das Werk Foucaults als das eines neuen Kartografen. Als Tariq Teguia Philosophie studierte, schrieb er eine Dissertation über Foucault, und seine Art, Filme zu machen, kann sicherlich als die eines neuen Topografen charakterisiert werden. Dies bedeutet nicht, dass die Geschichte Maleks eine Metapher für das Kino ist. Sie impliziert jedoch eine Vorstellung von der „metaphorischen“ Aufgabe des Kinos. Um diese zu verstehen, müssen wir die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Metapher berücksichtigen: eine Verlagerung, eine Verschiebung auf dem Territorium, auf welchem Territorien selbst kartografiert werden, wo Dinge gesehen werden und wo sie Namen und Bedeutungen erhalten. In diesem Sinne kann die „metaphorische“ Aufgabe des Kinos darin gesehen werden, eine vorgegebene metaphorische Ordnung zu untergraben, nämlich die offizi-
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elle Kartografierung von Raum und Zeit, welche sowohl Orte definiert als auch bestimmt, was an diesen Orten zu sehen und zu tun ist, die Weisen, in denen sie bewohnt werden, und die Fähigkeiten – und Unfähigkeiten – derer, die sie bewohnen. In diesem Sinne ist die Aufgabe des Filmemachers/ Topografen die visuelle und sonore Konfrontation mehrerer verschiedener „Algerien“. Nun gibt es zwei Arten, diese Konfrontation zu verstehen: Da ist einerseits die „dialektische“ Sichtweise, die den durch Worte konstruierten Raum und den durch die Kamera erfassten Raum gegenüberstellt. Zum Beispiel zeigt uns, während der Chef in seinem Büro über das Geschäft und das neue Algerien spricht, die Kamera in Schuss und Gegenschuss ein Stück Pappe auf einem zerbrochenen Fenster oder einen Haufen von staubigen alten Ordnern; oder die Kamera wechselt abrupt von der Diskussion der Intellektuellen über die Intellektualität, die die ganze Gesellschaft durchdringt, zur Einsamkeit Maleks und der Wüste, die ihn umgibt. Doch wir sollten uns nicht täuschen: Es geht nicht einfach darum, Rede und Realität einander gegenüberzustellen. Auch Rede ist Realität. Sie konstruiert einen Raum, sie ist eine Art, das der Gemeinschaft Gemeine zu erfassen. Entscheidend ist nicht, diese Konstruktion zu negieren, sondern sie als eine Kartografierung unter vielen anderen möglichen erscheinen zu lassen. Diese Vervielfältigung ist eine Aktivität des Dissenses. Die herrschende Verteilung des Sinnlichen konstruiert ihr Territorium in einer dualistischen Weise: Da sind die Kräfte der Zukunft und die ihnen widerstehenden Kräfte der Vergangenheit; oder da ist der Gegensatz von Realität und Fiktion oder Utopie. Tariq Teguia hat das erste Szenario, die Opposition von Modernität und Archaismus und insbesondere von Modernität und Religion, in ihrer üblichen Form verabschiedet. Es ist recht überraschend, die Darstellung eines Dorfes im Landesinneren eines moslemischen Land zu sehen, in dem die Zeichen der Religion so rar sind. Was das zweite Szenario betrifft, so könnten wir auf den ersten Blick versucht sein, es hier wiederzufinden: Zum Beispiel können wir leicht das deleuzianische Gerede der Intellektuellen, die sich in ihrem geschlossenen Raum auf ihr Frau- oder Hermaphrodit-Werden berufen, der verwüsteten Realität der Dörfer im Landesinneren entgegensetzen. Aber dem ist nicht so. Das Gerede der Intellektuellen ist in zweierlei Hinsicht ebenso eine Vermessung Algeriens: Es zeigt uns sowohl Menschen, die versuchen, eine Gemeinschaft zu konstruieren, als auch die Einsamkeit dieser Menschen. Diese Vermessung muss ebenso auf die große Karte des Territoriums gelegt werden wie das Fischerboot, auf dem der Jugendliche mit der Kapuze und seine Kameraden vermutlich davon träumen, Spanien zu erreichen, wie die Stimme der Regierung im Radio, wie die panafrikanischen Parolen eines nigerianischen Musikers, wie die Gastfreundschaft des Dorfbewohners, wie die Wanderungen der Schäfer auf der Suche nach Weideland, wie die Raï-Party im Dorf mit der Stimme, die von Wein und Liebe singt, oder wie die Schritte der schwarzen Migranten auf ihrem Weg nach Marokko und Europa. Der Film ist also nicht einfach eine Reise in das Landesinnere, welche die Realität des Landes zeigen soll. Stattdessen konstruiert er aus jenen Räumen ein Land, aus jenen Schritten, Stimmen, Liedern, Einstellungen und Gesten eine Gemeinschaft. Diese Konstruktion impliziert eine Idee von Fiktion, welche die Grenzlinie zwischen Realität und Fiktion verschiebt. Wir wissen, dass dies heutzutage eine wichtige Frage für den Film und für die Kunst im Allgemeinen ist, da der Unterschied zwischen Fiktion und dokumentierter Realität zwei Seiten hat: Auf der einen Seite gibt die konsensuelle Ordnung vor, dass die einzige Realität jene Realität ist, welche sie mit ihren eigenen Worten, Karten und Statistiken konstruiert, und weist hierdurch eine wie auch immer geartete dissensuelle Konstruktion der gemeinsamen Realität von Seiten der Fiktion zurück; andererseits fordert eine gewisse „progressive“ Tradition, dass die Themen von Armut, Verzweiflung und so weiter nicht durch den Filter der Fiktion betrachtet werden sollten, der dazu tendiert, der Realität die Schärfe zu nehmen, und dass sie von jeglicher Art der Ästhetisierung geschützt werden sollten, die sie akzeptabel oder sogar attraktiv machen. Kurz gesagt, Fiktion und Schönheit sollten den Reichen, öde Realität und Objektivität des dokumentarischen Blicks den Armen gehören. Diese „progressive“ Haltung ist de facto eine Art und Weise, diese Verteilung zu bestätigen und zu legitimieren. Tariq Teguia folgt offensichtlich einem anderen Weg. Zunächst konstruiert
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er etwas, das man als offene Fiktion bezeichnen könnte: Einerseits gibt es eine Handlung und Schauspieler, die die Rolle fiktiver Personen spielen. Aber diese fiktiven Personen sind nicht Protagonisten im üblichen Sinne des Wortes: Sie werden nicht durch Strategien, Absichten, Gefühle oder Leidenschaften bestimmt. Sie sind Körper, die von dem, was sie sehen und hören, affiziert werden, die einen bestimmten Gesichtspunkt einnehmen, einen bestimmten Blick kadrieren oder bestimmte Linien auf dem Territorium ziehen. Es sind Lebenslinien, Lebensmöglichkeiten, verkörpert in Empfindungen, Wahrnehmungen, Gesten oder Worten. Aus diesem Grund kann die konstruierte Handlung des Treffens zwischen dem Landvermesser und der jungen Migrantin zufällige Treffen und zusätzliche Akteure, die, wie jene Schafhirten, die durch die Wüste streifen, um Weideland zu finden, im Szenario nicht eingeplant waren, einschließen. Das Land besteht aus Inseln, und die Aufgabe des Filmes wird von Maleks Freund klar gemacht: ein Archipel aus diesen Inseln zu bilden, all diese Lebensmöglichkeiten zu ihrer maximalen Kraft zu erheben. Das „Lange lebe das Leben“ ist nicht nur die theatralische Parole einer Gruppe gesprächiger Intellektueller. Es ist ebenso die Poetik, welche dem Film seine Kraft gibt. Dies ist auch der Grund, weshalb Tariq Teguia keine Angst davor hat, Schönheit im Lande der Armut zu finden. Wie in Pedro Costas Filmen muss die Schönheit, die überall in der Landschaft, aber ebenso in den Gesten oder den Stimmen eines jeden liegt, einem jeden zurückgegeben werden. Ebenso wenig hat er Angst davor, sich Zeit zu nehmen, davor, in derselben „langsamen Gangart“ die Kamera über die Berglandschaft, die verfallenen Mauern der Hütte oder die herumliegenden Abfälle des Dorfes fahren zu lassen. Diese Verlangsamung wird mit dem kategorisierenden Begriff des „Kunstfilms“ oder „Festivalfilms“ assoziiert. Aber die Notwendigkeit und die Fähigkeit zu verlangsamen, die Fähigkeit zur Kontemplation, gehört allen Situationen und dem Leben eines jeden zu. Die Rhythmusunterschiede sind nicht rein künstlerische Kunstgriffe. Sie gehören zur Möglichkeit des „Archipels“ selbst, sie gehören zum Leben eines Landes, welches eine Vielzahl von Gangarten, von hohen und niedrigen Geschwindigkeiten, kurzen und langen Distanzen, eine Vielzahl von Formen der Verbindung von Lärm und Stille kombiniert. Kurz vor Ende des Filmes gibt es eine Szene, in der die junge Frau von anderen Frauen gebeten wird, etwas zu sagen. Als sie fortfährt zu schweigen, sagt eine der Frauen: „Willkommen, auch wenn du nicht sprechen möchtest“. Gastfreundschaft wird oft als die Tugend traditioneller Gesellschaften angesehen und der Kombination von staatlichem Autoritarismus und ökonomischem „Liberalismus“ der in diesen Ländern regierenden Kräfte gegenübergestellt. Ein Film wie Inland tendiert dazu, sie in ein poetisches Prinzip zu verwandeln, eine Art, die Inseln, die multiplen Lebensmöglichkeiten mit ihren Karten, Wahrnehmungsweisen und Dialekten zusammenzuhalten. Ästhetische „Gastfreundschaft“ konstruiert eine Form der Koexistenz von Körpern und Formen der Erfahrung, die sich von den der Logik der Erzählung inhärenten Hierarchien löst. Sie bietet sich selbst als poetisches und politisches Prinzip an. Dies bedeutet jedoch nicht, dass „Gastfreundschaft“ auf ein Prinzip der Indifferenz oder des Eklektizismus reduziert werden kann. Die Poetik/Politik der Gastfreundschaft entzweit uns. Die Poetik der Verbindung von Inseln wird durch eine Fluchtlinie gespalten. Gastfreundschaft stellt sich als die Wirkkraft eines radikalen Bruchs, eines radikalen Richtungswechsels innerhalb des Filmes heraus. Dieser Bruch wird durch die Begegnung mit der „jungen Frau“ bestimmt. Die Art und Weise, in der die „junge Frau“ als kinematografischer Körper konstruiert wird, ist ebenso beachtenswert. Zuerst gehört sie zu jener ununterscheidbaren Masse der Köpfe auf dem Land, welche plötzlich des Nachts die narrative Hauptlinie durchbrechen; dann ist sie der Name, der von dem verletzten Migranten im Krankenhaus ausgesprochen wird, bevor sie ein dunkles Gesicht in der Dunkelheit der Hütte wird, das ein einziges Wort äußert: „nein“. Sie wird langsam zu einem Körper werden, zu einem zuerst quasi stummen Körper, bevor sie zu einer Person wird, fähig zu lachen und zu sprechen. Aber sie wird namenlos bleiben. Zudem ist da eine sprachliche Anomalie: Die junge Frau spricht Englisch, obwohl sie offensichtlich aus einem französischsprachigen Land stammt, und die franzö-
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Abb. 3: Filmstill aus: Gabbla, Algerien/Frankreich 2008, Regie: Tariq Teguia, Neffa Films 2008.
sischsprachige Schauspielerin, die ihre Rolle spielt, macht keine Anstrengungen, ihr Englisch natürlicher klingen zu lassen. Die junge Frau hat keinen Namen, und sie spricht eine Sprache, welche nicht ihre Sprache ist, sondern eine abstrakte Sprache, eine Sprache von anders- und nirgendwo. Wir wissen nicht, wohin zu gehen sie bereit war, wohin sie zurückkehrt und warum. Das Thema der Einwanderung wurde bewusst abstrakt gemacht. Wir können verstehen, was dies bedeutet, wenn wir die Handlung von Inland mit der Handlung eines wohlmeinenden französischen Filmes über Einwanderung vergleichen, der 2008 in Frankreich erschien. Der Film trägt den Titel Welcome und erzählt die Geschichte eines jener Migranten, welche aus dem Mittleren Osten oder aus Afrika nach Frankreich kommen und versuchen, den Kanal zu überqueren, um England zu erreichen. Der Immigrant in diesem Film ist ein junger Kurde, der zu der von ihm geliebten Frau in England gelangen möchte. Aber als er schwimmen lernt, um den Kanal zu überqueren, und letztendlich im Meer stirbt, muss die junge Frau dem Gesetz patriarchaler Autorität gehorchen und wird von ihrem Vater gezwungen, einen Cousin zu heiraten, der viel älter als sie ist. Die Reise des Immigranten wird somit reduziert auf das vertraute Szenario, das Jugend und Liebe der archaischen Tradition gegenüberstellt. In Inland wird das Thema der Immigration von jeglichem Handlungsschema des Ursprungs und der Bestimmung, der Armut, des Archaismus, der Tradition und der Religion losgelöst. Es ist allein eine Frage des Bleibens oder Fortgehens, eine Frage von Linien und Räumen. Die junge Frau bewegt sich erst in die eine Richtung, dann in die entgegengesetzte. Was entscheidend ist, ist die Weise, in der sie einen Bruch in Maleks Reise hervorruft, einen Bruch in seiner Beziehung zu Raum und Zeit. In diesem Moment wird die Politik des Landvermessers – sich bewegen, sehen, messen, Linien ziehen – von einer anderen Linie abgelenkt. Er hört auf, irgendetwas zu vermessen, und geht stattdessen ins Unmessbare. Er nimmt einen völlig neuen Rhythmus und eine neue Art, sich zu bewegen, an: Er verschleißt Fahrzeuge und verschlingt den Raum der Wüste mit dem alleinigen Ziel, die abstrakte Linie der Grenze zu erreichen. Die Poetik und die Politik des Filmes werden durch die Verkettung und die Spannung dieser zwei Bewegungen konstituiert, dieser zwei Weisen, Räume zu durchqueren. Einerseits ist da die langsame Bewegung des Topografen, welcher einen Schritt nach dem anderen macht und versucht, ein gemeinsames Land zu rekonstruieren, indem er Linien verbindet und die Inseln zu einem Archipel zusam-
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JACQUES RANCIÈRE
menfügt. Auf der anderen Seite ist da das Ziehen einer abstrakten Linie, die das Hier und das Anderswo unmittelbar verbindet, eine abstrakte Bruch- und Fluchtlinie. Auf der einen Seite entwirft der Film eine Politik, die folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Lasst uns die Dinge verlangsamen und uns die Zeit nehmen zu sehen, wo wir sind und wer wir sind. Wir müssen die Sichtbarkeit unserer Gemeinschaft wieder aufbauen, jenseits der offiziellen Szenarien von Dritter Welt oder Entwicklungsländern, Neokolonialismus, Liberalismus, Globalisierung und so weiter. Wir müssen alle Lebensmöglichkeiten kartografieren, die eine völlig andere Sichtbarkeit dieser Gemeinschaft einrahmen. Aber diese Politik des „Sammelns“ muss auf die abstrakte Linie derjenigen treffen, die sich nicht für diese Topografie interessieren, derjenigen, die einfach ein Land durchqueren, das sie nicht kennen, um anderswo hinzugehen, dorthin, wo Leben möglich ist. Diese Linie ist eine andere Möglichkeit, die inkludiert werden muss. Aber zur selben Zeit ist es eine Linie radikaler Fremdheit, die die Bewegung des Topografen unterbricht und mit sich reißt. Die Politik des Films wird durch die Spannung zwischen diesen zwei Politiken erzeugt. Er bietet keine Auflösung dieser Spannung an. Stattdessen konstruiert er eine Bewegung, welche sie zusammen zu dem Punkt führt, an dem beide sich in Sonne und Sand auflösen.
Übersetzung von Mario Horta. Sehen Sie einen Ausschnitt aus Gabbla auf der DVD.
ARMEN AVANESSIAN
Einleitende Bemerkungen
Die Geschichte von Faceless1 erzählt von einer Gesellschaft unter einem technologiegetragenen Regime, das in den Stadtraum ein synthetisches Zeitsystem implementierte. Die ,EchtZeit‘ simuliert eine ewige, scheinbar idyllische Gegenwart, die im alltäglichen Stress verloren gegangen war. Die Vergangenheit, die zu schwer auf den Schultern der Menschen gelastet hatte, wurde kurzerhand abgeschafft, ebenso wurde ein Verständnis der Bedeutung von Zukunft abgeschafft, um damit auch jeder Art von Zukunftsängsten vorzubeugen. Ohne Gedächtnis und ohne Voraussicht verblassten die Gesichtszüge der Menschen aber zunehmend, sie sind geschichts- und im vollen Wortsinn gesichtslos geworden. In dieser unter einem reformierten Kalender existierenden Gesellschaft bricht bei einer Frau, die eines Tages mit einem ‚Gesicht‘ aufwacht, folgerichtig Panik aus. Nur langsam findet die Protagonistin des Films mit der Hilfe einiger ‚Spektralkinder‘ mehr über die Geschichte und verschwundene Kraft des menschlichen Gesichtes heraus und macht sich auf die Suche nach seiner Zukunft. Sie lässt sich von einer traumartigen Imagination leiten, welche sie zunehmend der berauschenden Scheingegenwart entfremdet. Auf diese Weise der omnipräsenten Lenkung des allmächtigen ‚Apparates‘ entzogen, macht die Protagonistin des Science-Fiction-Märchens neue alte Erfahrungen – Erfahrungen, die zusammen mit der früheren Zeitperspektive verschwunden waren: Träume, Gefühle, Erinnerungen. Dieser neuen Dimension des Menschseins ausgesetzt, verirrt die Heroin des Films sich in der Nostalgie einer – vielleicht nie gewesenen – Zusammengehörigkeit. Damit droht sie dem System des ‚Apparates‘ erneut zu verfallen. So weit eine kurze Beschreibung des Films Faceless der Künstlerin, Medienaktivistin und Filmemacherin Manu Luksch. Der folgende Text versteht sich nicht als vollständige Deutung, sondern als Reflexion über einige raumtheoretisch relevante Aspekte des Films. Das anschließende Interview mit Kommentaren zu ausgewählten raumtheoretischen Überlegungen kann als dessen Fortsetzung gelesen werden. An der Stelle von Fragen habe ich Zitate einzelner Raumtheoretiker ausgewählt, auf die Manu Luksch reagiert. Gegenstand ist dabei neben Faceless auch die rauminterventionistische Praxis der Künstlerin.
1 Faceless (2007) von Manu Luksch, eine Koproduktion von Amour Fou Filmproduktion (AT) und Ambient Information Systems (UK). www.ambienttv.net/content/?q=faceless (aufgerufen: 22. Februar 2010).
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Gesichter und Geschichten des Raumes Von technologischen und fiktionalen Räumen „This is the story of a woman haunted by an echo of a memory, a dislocated dream in which the past telescopes into the future. She has no understanding of these images that revisit her, that take her out of RealTime, out of her role in the New Machine. Only later she will recognize them as nostalgia and presentiment.“
Zu Beginn des Films fehlen der Protagonistin überhaupt noch die Worte für jene inversen Gedächtnislücken, also die Erinnerungsinseln und scheinbaren Déjà-Vus, welche ansetzen, die Omnipräsenz der totalitär installierten, synchronisierten und gegenwartsleeren „RealTime“ aus dem Rhythmus zu bringen. Eine paradoxe Ahnung von sich selbst gibt zunächst der Begriff „presentiment“ (Vorahnung), der semantisch auf eine spezifische Form zeitlicher Gegenwärtigkeit verweist. Um die Bedeutung des zweiten Begriffs, „nostalgia“, zu verstehen, bedarf es andererseits einer Rückbesinnung auf die räumliche Konnotation des aus dem Griechischen (von nostos, ‚Heimkehr‘, und algos, ‚Schmerz‘) im 17. Jahrhundert gebildeten Begriffs: Heimweh zunächst nicht nach einer vergangenen Zeit, sondern einem (von jeher unzugänglichen?) Ort. Diese spatio-temporale Bedeutungsverschiebung im 18. Jahrhundert lässt sich etwa in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798 nachlesen. Einerseits wird die Nostalgie von Kant definiert als „Sehnsucht nach den Örtern, wo sie die sehr einfachen Lebensfreuden genossen“.2 Die sogenannte ‚Schweizer Krankheit‘ wird von Kant dann auch stimmig – es waren beim Hören von Kuhglocken in tiefe, pazifizierende Melancholie verfallende Schweizer Söldner, an denen Nostalgie erstmals als konkretes Krankheitsbild konstatiert wurde – an akustischen Auslösern festgemacht. Denn das „Heimweh, namentlich der Schweizer“ werde ausgelöst, wenn diese „in andere Länder kommen, besonders bei Anhörung ihrer Nationalgesänge“.3 Andererseits aber findet sich in Kants anthropologischen Notizen auch schon das moderne Verständnis der Nostalgie als zeitliche Melancholie: „Die phantasie macht aus dem Vergangenen ganz was schöneres als das gegenwartige. Heimweh der Schweitzer“.4 Nach diesen Eingangsüberlegungen zu raumzeitlichen Pathologien komme ich nun zu dem im Film ausgestellten politischen und sozialen Raum. Dieser ist nicht bloß metaphorisch, also etwa nur in Analogie zum realen Raum zu verstehen. Spätestens seit Carl Schmitts Nomos der Erde5 wissen wir von der räumlichen Dimension der Gesetze (nomoi) qua ersten Raum(ein)teilungen, und zwar unabhängig davon, ob man die ersten Grenzziehungen nun wie Rousseau als fundamentales Unrecht auffasst oder als Ermöglichungsgrund gerechter ökonomischer Eigentums- und Haushaltsverhältnisse. Die konkret räumliche Disposition von Faceless erweist sich deswegen nicht zufällig in der politischen Spannung zwischen unterschiedlichen Raumkonzepten, exemplarisch zwischen einem technologisch zugerichteten polizeilich-juridischen und einem ästhetischen Raum. Dieser ästhetische Raum wird hier in der Folge nur als fiktionaler thematisiert. Nur hinweisen kann ich darauf, was sich auch an der Tonspur des Films zeigen ließe: Auch die akustische Raumproduktion steht in aisthetischer Opposition zu den per Gesetz zur Taubheit verpflichteten Über-
2 Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, in: ders., Werkausgabe, Bd. XII, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, 9. Auflage, Frankfurt am Main 1995, S. 87. 3 Immanuel Kant: „Physische Geographie“, in: ders., Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1907 ff., Bd. IX, S. 244. 4 Immanuel Kant: „Handschriftlicher Nachlass. Anthropologie“, in: ders., Kant’s gesammelte Schriften,
a.a.O., Bd. XV, S. 807. 5 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 4. Aufl., Berlin 1997.
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Abb. 1: „Manifesto for CCTV Filmmakers“ von Manu Luksch als Straßenplakat.
wachungskameras6, dem durchgehenden Aufnahmemedium des Films. In diesem Sinne spricht auch das Faceless zugrunde liegende Manifest die ästhetisch widerständige Parallelität von Visuellem und Akustischem an.7 Unter Hinzuziehung einiger Zentralbegriffe der ästhetischen Tradition (Readymade, mediale Entgrenzung und Selbstreflexivität) lässt sich die sowohl künstlerische als auch politische Eigentümlichkeit von Lukschs Film genauer bestimmen. Denn Faceless „treats CCTV images as an example of ‚legal readymades‘. The medium, in the sense of ‚raw materials that are transformed into artwork‘, is not adequately described as image or even captured light. More accurately, the medium is images that exist contingent on particular social and legal circumstances essentially, images with a legal superstructure. Faceless interrogates the laws that govern the video surveillance of society, and in both its mode of coming into being and its plot, critiques such a surveilled society.“8
6 In der Broschüre CCTV code of practice (veränderte Ausgabe von 2008, S. 10), herausgegeben vom In-
formation Commissioner’s Office, werden die Umstände erläutert, unter welchen die Aufnahme von Ton mit CCTV-Geräten gerechtfertigt ist: „There are limited circumstances in which audio recording may be justified, subject to sufficient safeguards“, siehe: http://www.ico.gov.uk/upload/documents/library/data_protection/detailed_specialist_guides/ico_cctvfinal_2301.pdf (aufgerufen: 10. Oktober 2009). – Abhören von Telekommunikation: Regulation of Investigatory Powers Act 2000, siehe: http://www.opsi.gov.uk/acts/acts2000/ukpga_20000023_en_1 (aufgerufen: 10. Oktober 2009). 7 Faceless wurde nach den Regeln des Manifesto for CCTV Filmmakers produziert. Das Manifest legt unter anderem fest, dass angesichts der omnipräsenten Videoüberwachung am Drehort keine zusätzlichen Kameras verwendet werden dürfen. 8 Vgl. Manu Luksch und Mukul Patel, Ambient Information Systems, London 2009, S. 283 (deutsch), S. 280/282 (englisch), http://www.ambienttv.net/content/?q=AIS_pdf_downloads (aufgerufen: 10. Oktober 2009).
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Abb. 2: Filmstill 00131917 aus Faceless, London 2007.
Anders als etwa Filme wie Antonionis Blow up oder Bertoluccis The Conversationist, die aus der Hinterfragung der visuellen und akustischen Modalitäten des Mediums ihre Narration gewinnen, lässt sich das künstlerische Material von Faceless somit nur (als) indirekt bestimmen. So ist das Material des Films stets nicht nur extrem ortsspezifisch (site specific), sondern der umgebende Raum selbst wird vom gefilmten zum eigentlichen Gegenstand des Films. Dies geschieht immer auch im Interesse der Befreiung des Raumes, seiner temporalen, sukzessiven Sichtbarwerdung nicht weniger als des Gesichts seiner Protagonistin. Dass, als Erbe der avantgardistischen Anstrengungen noch der 1960er Jahre9, der Umgebungsraum selbst zum fiktionalen Medium, zum Gegenstand der Geschichte wird, verlangt auch eine Nachjustierung der inzwischen selbst traditionellen These, wonach die Kunst der Moderne zunehmend auf die (medialen) Bedingungen der Möglichkeit ihrer Produktion reflektiert. Mit Rosalind Krauss’ Definition einer post-medium condition lässt sich genauer verstehen, inwiefern „the specificity of mediums, even modernist ones, must be understood as differential, self-differing“, wobei mit der Spannung zwischen immer neueren und ‚veralteten‘ Techniken die innere Komplexizität einzelner 9 Vgl. dazu Manu Lukschs Interview mit der französischen Tageszeitung Libération vom 19. September 2007 (http://www.liberation.fr/cinema/0101111151-un-numero-dans-la-foule, aufgerufen: 10. Oktober 2009). Dort heißt es dazu: „Les artistes conceptuels des années 60 utilisaient leur environnement comme médium pour l’art, c’était pour eux une manière de le questionner. Le cœur de mon travail avec les technologies de contrôle comme les CCTV, se situe dans les règlements attachés à leur usage et ce qu’ils nous disent sur notre société, plutôt que l’image, la représentation qu’ils produisent. Il nous est apparu crucial de poser un ensemble de règles compilées dans ce manifeste. Les règles ont forgé l’histoire et toute la structure de la pièce. Le manifeste sert également d’outil d’instruction pour quiconque souhaiterait répéter ce processus. Vous pouvez le comparer aux règles des films Dogma mais on peut également remonter plus loin, aux années 60, à des pièces musicales de Steve Reich ou Alvin Lucier (deux influences majeures pour Mukul).“
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Abb. 3: Beispiel für eine briefliche Anfrage von Manu Luksch.
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Abb. 4: Filmstill 00094919 aus Faceless, London 2007.
Medien ans Tageslicht befördert wird. Zugleich wird damit „fiction itself […] such a medium, such a form of differential specificity.“10 Was die durch London flanierende Protagonistin sichtbar macht, sind die technischen Aufzeichnungsapparaturen, ist die allgegenwärtige Sichtbarkeit, letztlich das Gesehenwerden selbst. Dies geschieht mittels Fiktionalisierung; Fiktion ist das Medium, in dem das in technischen Bildapparaturen angelegte Überwachungsdispositiv sichtbar (gemacht) werden kann. Dass die Gewinnung des Filmmaterials für Faceless identisch ist mit einer komplexen – und von der Künstlerin genau dokumentierten11 – juridischen und medienaktivistischen Praxis, verweist auf die strukturelle Notwendigkeit, Überlegungen über den städtischen Raum mit solchen über den juridischen Raum zu verbinden. Der Frage nach der (narrativen, fiktionalen) Materialanordnung gleichwertig ist diejenige nach der Materialgewinnung. Der paradoxen ‚Rück‘gewinnung des nie selber produzierten Filmmaterials geht eine langwierige schriftliche Praxis mittels einer Unzahl an meist gar nicht und oft negativ beantworteten Briefen voraus. Zunehmend erschwert durch neue Gesetzesnovellen, denen zufolge man nicht mehr einfach jede Aufnahme seiner selbst binnen 28 Tagen anfordern kann, sondern nur mehr solche, die „biographisch relevantes Material“ enthalten, führte das zu einer Erfolgsquote von neun Prozent an Rückerstattung des eigenen Gesichts (die Gesichter aller anderen auf dem jeweiligen Film befindlichen Personen müssen von den jeweiligen Besitzern der Überwachungskameras vor Absen-
10 Rosalind E. Krauss, A Voyage on the North Sea. Art in the Age of the Post-Medium Condition, London 2000, S. 53. 11 Vgl. Manu Luksch und Mukul Patel, „Faceless. Die Jagd nach Datenschatten“, in: Gerfried Stocker und
Christine Schöpf (Hrsg.), Ars Electronica: Goodbye Privacy, Ostfildern 2007, S. 72 ff.
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Abb. 5: Filmstill 00291422 aus Faceless, London 2007.
dung an den Antragsteller anonymisiert werden12). Und selbst dieses zurückerstattete, quasi ‚heterobiografische‘ Material kann naturgemäß nur einen Bruchteil von jener Zeit sichtbar machen, in der das Vereinigte Königreich seine Untertanen filmisch und fotografisch aufzeichnet. Oft sind es aber weniger öffentliche Verwalter denn individuelle Ladenbesitzer, die als private Hüter der Gesichter fungieren; sie sind eher mitbeteiligte oder involvierte Vermittler der kontrollgesellschaftlichen Gesetzbarkeit denn Repräsentanten eines externen Machtpols. Dem entspricht, dass die Überwacher oft technisch überfordert und über die legalen Modalitäten ihrer Aufnahmepraxis uninformiert sind. Die Dokumention der Daten- qua Filmsammlung zeigt, dass erst im Aufspüren des ansonsten unsichtbaren Gesetzes das Gesicht der Protagonistin sichtbar werden kann. Hier deckt sich die Praxis der Filmemacherin mit den Handlungen der fiktiven Protagonistin. Diese Koalition oder Konstellation bedingt aber keineswegs eine abstrakte Gegenüberstellung von versteckten medialen Machtpraktiken und diese aufdeckende ästhetische Reflexion auf die visuellen Medien. Eher schon verweist die mediale und ästhetische Praxis auf eine intrinsische Ambivalenz von Bildmedien. So erinnern die technischen Defizite von CCTV, etwa das Fortschreiten in ruckartigen Fotogrammen, den Betrachter an Filme aus der Frühzeit des Mediums und dessen immer schon prekäre soziale Implikationen. Denn von Anfang an „war die Geschichte der Fotografie des späten neunzehnten Jahrhunderts durch und durch mit der Geschichte der Verbrechensbekämpfung verbunden“ und fand auch „zunehmend ihren Weg in den Gerichtssaal“.13 Schon früheste Beschreibungsversuche des Potenzials und der Funktionen der neuen Bildtechnologie sprechen in Metaphorik und Vergleichen eine deutli12 Diese Anonymisierung geschieht zumeist durch Einschwärzung der Gesichter. 13 Lorraine Daston und Peter Galison, „Das Bild der Objektivität“, in: Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, hrsg. v. Peter Geimer, Frankfurt am Main 2002, S. 29–99, hier: S. 76.
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Abb. 6: Filmstill 00384619 aus Faceless, London 2007.
che Sprache. Bereits William Henry Fox Talbots The Pencil of Nature von 1844 spekuliert über die Projektion unsichtbarer Strahlen in einen dunklen Überwachungsraum: „[…] und wenn sich in diesem Raum Menschen aufhielten, so könnten sie einander zwar nicht sehen, eine Kamera jedoch könnte jeden, der sich in ihrem Blickfeld befände, aufnehmen und sein Verhalten enthüllen.“14 Dieses technischen Bildern immer schon eingeprägte Überwachungs-Dispositiv hat sowohl eine zeitliche als auch eine räumliche, letztlich eine raumzeitliche Dimension. Der Widerstand gegen die Kontrolle unserer ‚Formen der Anschauung‘ (Kant) macht deswegen Raum und Zeit zum Gegenstand des Films auch auf inhaltlicher Ebene. So stehen sich eine durch eine Kalenderreform überwachungstechnisch durchgesetzte „RealTime“ und die nostalgische Utopie von real children, real friendship (eine intertextuelle Übernahme aus Chris Markers omnipräsenten La Jetée) diametral gegenüber. Die „RealTime that saturates Consciousness“ produziert einen „perfect present“, der jede Melancholie mit einer gedächtnislosen Perfektion zu ersetzen trachtet. Was auch ‚real presence‘ genannt werden kann, meint eine immer schon verschwundene, nie zu sich gekommene Gegenwart bzw. eine nie zu Bewusstsein gelangende Gegenwärtigkeit. Das ganze Projekt von Faceless kann nun als zeitund notwendigerweise auch raumtheoretischer Widerstand gegen diese Entleerung der Gegenwart gesehen werden: im Dienste einer emphatischen Wiedergewinnung gesellschaftlicher Präsenz qua politischer Gegenwärtigkeit. Dieses andere filmische Präsens meint keinen mystisch aufgeladenen Augenblick, sondern vielmehr eine auch ästhetisch relevante Augenblicklichkeit. Eine Differenzierung Derridas kann das verdeutlichen: „Die différance bewirkt“, dass jedes ‚gegenwärtig‘ bedeutende
14 Talbot, Der Zeichenstift der Natur, zit. n. Peter Geimer, „Einleitung“, in: Ordnungen der Sichtbarkeit, a.a.O., S. 7–25, hier: S. 9.
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Abb. 7: Filmstill 00173214 aus Faceless, London 2007.
Element immer auch die Züge seines Vergangenseins trägt und zugleich sich „durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem zukünftigen Element aushöhlen lässt […]. Ein Intervall muß es von dem trennen, was es nicht ist, damit es selbst sei“, wobei dieses „dynamisch sich konstituierende, sich teilende Intervall“ es ist, „was man Verräumlichung nennen kann, Raum-Werden der Zeit und ZeitWerden des Raumes (Temporisation).“15 Vor diesem zeichentheoretischen Hintergrund ist das ästhetische, genauer: fiktionale Moment von Faceless genauer zu bestimmen: das Insistieren auf einem auf Dauer gestellten oder räumlich ausgedehnten Moment, der sich auf die Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft als offen erweist. Diese räumliche Ausdehnung einer präsentischen Dauer und des erinnernden Andauerns zeichnet dieses zweite, vom weiblichen Erzähler (der Off-Stimme Tilda Swintons) propagierte Präsens aus. Will man die sowohl juridische als auch ästhetische Bedeutung genauer auf den Begriff bringen, so bietet sich der Rückgriff auf den „griechischsten aller griechischen Zeitbegriffe“16, ‚Kairos‘, an. Ursprünglich einen (räumlichen) Punkt bezeichnend, tritt in dessen Wortbedeutung später ein temporaler Aspekt in den Vordergrund sowie eine daraus resultierende juridische Anwendung, wonach auch „Maß und Recht aus dem Kairos [als richtigem Moment] entfaltet“17 werden. Weniger Ort plötzlicher Epiphanie, bleibt der Kairos „in der Ursituation des Webens eingeschränkt auf den poietischen Umgang mit Dingen, […] der Welt treu“.18 Sowohl seine ursprünglich aus der Webkunst stammende als auch seine Bedeutung als ‚günstige Gelegenheit‘ – antike Darstellungen zeigen Kairos als glattra15 16 17 18
Jacques Derrida, „Die différance“, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 29–52, hier: S. 39. Vgl. Michael Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2002, S. 804. Vgl. ebd, S. 801. Ebd., S. 805.
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sierten Jüngling, nur mit einem zu ergreifenden Haarbüschel am Hinterkopf – sind für den Plot (dem griechischen mythos) von Faceless zentral. Die Protagonistin ergreift ihr Schicksal nur in und durch bedeutsame, aus dem neutralen Fließen der Zeit bedeutungsvoll herausragende Augenblicke. Die narrative und fiktionstheoretische Eigentümlichkeit von Manu Lukschs Film kann nun abschließend verdeutlicht werden. Weder wird – wie in historischen Erklärungen des Erzählvorgangs – eine zuvor erdachte Fabel (das Material der Gestaltung) durch die Montage in ein Sujet (die künstlerische Anordnung) umgesetzt. Noch konstruiert umgekehrt – wie in vielen erzähltheoretischen Ansätzen der Moderne – das filmische Sujet (Plot) die erzählerische Fabel (Story). Vielmehr sind die beiden Ebenen von Erzähltem und Erzählen untrennbar verwoben. Gewiss ist die Filmemacherin einst wirklich (und oft absichtlich, das heißt nur zu diesem Zweck) an diesen und jenen Schauplätzen gewesen und hat diese und jene überwachten Räume durchquert. Aber aktuell sichtbar werden diese pan-optischen Virtualitäten nur durch und nach ihrer konkretisierenden medienaktivistischen und ästhetischen Aufarbeitung: Das ist zugleich Sujet und Fabel von Faceless, dem filmischen fairytale einer Subjektwerdung. Auf der filmpoetologischen Ebene spiegeln sich die tastenden Suchen von Erzählerin und Protagonistin also ineinander: als Suche nach einer (auto)biografischen Geschichte. Produktions- und fiktionstheoretisch relevant ist nämlich zunächst, dass überhaupt eine Narration aus dem disparaten und beliebigen Material gewonnen werden konnte. Dass wir die einzelnen, zu unregelmäßigen Zeiten und an unterschiedlichsten Orten und vor allem aus dem Überwachungsdispositiv gewonnenen, Aufnahmen überhaupt in einer narrativen Ordnung zu sehen bekommen, dieser Akt narrativer Zärtlichkeit und mythologischer Heilung ist die Geschichte dieser mütterlichen Gesichtwerdung der Protagonistin und der ihr erscheinenden Spektralkinder, von der Faceless erzählt. Käte Hamburger hat diese ‚Vergegenwärtigung von Vergangenem‘19 als verräumlichendes Grundmuster jeder literarischen Fiktion verstanden, und Wolfgang Iser hat die Fiktion als anthropologische Notwendigkeit zu erzählen identifiziert: die „Plastizität des Menschen [drängt] nach Vergegenwärtigung“.20 Der von Gilles Deleuze und Felix Guattari analysierte anthropologische Imperativ, mittels maskenhafter, schauspielerischer Nachahmung aus dem Kopf ein Gesicht zu machen, dieses individuierende Spiegelstadium spielt sich auch in einer Schlüsselszene des Films ab. Und auch das erzähltechnische Korrelat dieses Gesichtwerdens lässt sich als mythologische Figur in Manu Lukschs Film verifizieren. „Es ist die Figur der Prosopopöie, die Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität“, so Paul de Man. „Eine Stimme setzt einen Mund voraus, ein Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poiein, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben. Die Prosopopöie ist die Trope der Autobiographie“21 wie jedes (fiktionalen) Gesichtswerdens. Das Schaffen des Gesichts braucht seinen fiktiven Raum. Die Fragen nach Gesichtern und Sichtbarkeitsräumen sind untrennbar miteinander verbunden. Von den unterschiedlichen Raumgesichtern (und von vielem anderen mehr) erzählt uns Manu Lukschs berührende Raumgeschichte.
19 Vgl. Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, 2., stark veränderte Aufl., Stuttgart 1968. 20 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1993, S. 21. 21 Paul de Man, „Autobiographie und Maskenspiel“, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. v. Christoph Menke, Frankfurt am Main 1993, S. 131–146, hier: S. 140.
MANU LUKSCH
Moonwalk in Echtzeit Ein Interview in Zitaten
Manuel Castells: „[D]as neue Kommunikationssystem [transformiert] Raum und Zeit, die fundamentalen Dimensionen des menschlichen Lebens radikal. Örtlichkeiten werden entkörperlicht und verlieren ihre kulturelle, historische und geographische Bedeutung. Sie werden in funktionale Netzwerke integriert, oder auch in Collagen von Bildern. Dadurch entsteht ein Raum der Ströme anstelle eines Raums der Orte. Die Zeit wird in dem neuen Kommunikationssystem ausradiert, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft programmiert werden können, um miteinander in ein und derselben Botschaft zu interagieren. Der Raum der Ströme und die zeitlose Zeit sind die materiellen Grundlagen einer neuen Kultur, welche die Verschiedenheit des historisch überkommenen Systems der Repräsentation überschreitet und in sich einschließt: die Kultur der realen Virtualität, wo Glaubenmachen Glauben an das Machen ist.“1 Manu Luksch: Referenzpunkt meiner künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Alltag, der durch Informatisierung und Technologisierung Veränderungen unterliegt, ist mein persönliches Erleben solcher Transformationen. Mitte der 90er Jahre, nach meiner Studienzeit, gestalteten E-Mail und Online-Communitys den Arbeitsplatz um, mobiles Studio und ortsübergreifende Diskurse bildeten die Basis eines neuen partizipatorischen Kulturbegriffs, mit welchem ich mich als Leiterin des Medienlabors München im Rahmen der neuen Paradigmen einer Netzkultur befasste. Für die nächste Generation, die bereits inmitten dieser hybriden Realität aufwächst, ist der Eintritt in die vernetzte Welt ein fließender und unkritischer Prozess: Mein dreijähriger Sohn begleitete mich bereits in etwa 15 Länder auf Reisen (und ist 15-fach in der PNR-Datenbank vertreten2), er verwendet IP-Videotelefonie, um sich mit seinen über drei Kontinente verstreuten Verwandten zu unterhalten (und erzeugt dabei verfolgbaren Peer-to-peer-VoIP-Daten-Traffic), und sein Reisepass enthält als erster in der Familie biometrische Daten. Seine Zukunft als Schüler könnte in einem der vielen Londoner Klassenzimmer stattfinden, wo Videoüberwachung (inklusive Tonaufnahmen) eher die Norm als die Ausnahme ist. Während Betroffene Menschenrechtsverletzung und kommerziell motivierten Missbrauch im Zusammenhang mit Datensammlung und -verwertung debattieren, werden bereits Infrastrukturen zu eben demselben Zweck geschaffen. Hierbei wird das Zugriffspektrum auf die persönlichen Daten selten reduziert, sondern gewöhnlich schleichend erweitert. Oftmals lassen wirtschaftliche Interessen wenig Spielraum für das Überdenken einer politischen Positionierung. So sieht in Großbritannien der konservative Shadow Minister for Children, Tim Loughton, kein Problem darin, gleichzeitig im Vorstand von ClassWatch zu sitzen, einem auf Videoüberwachung in Schulen und Kindergärten spezialisierten Unternehmen. In Deutschland war das Potenzial einer offenen Debatte über die Konsequenzen biometrischer Ausweise sicher dadurch beeinträchtigt, dass sich Otto Schily, in seiner Funktion als Innenminister für deren Einführung enga-
1 Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1 der Trilogie. Das Informationszeitalter,
übers. v. Reinhart Kößler, Opladen 2001, S. 429. 2 Die Übermittlung von Fluggastdaten an das U. S. Department of Homeland Security ist ein Bausstein des US Visit Systems, vgl. Florian Rötzer, „Die virtuelle Grenze“, 24. Mai 2004, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/17/17496/1.html (aufgerufen: 10. Oktober 2009).
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gierend, später im Aufsichtsrat zweier Firmen wiederfand (Safe ID Solutions und Byometric Systems AG), die von Aufträgen zur Umsetzung dieser Gesetze profitierten. Dieses Jahr wurde in Großbritannien die Kinder-Datenbank ContactPoint in Betrieb genommen, die Informationen über Wohnort, Schule, medizinische und eventuelle Sozialbetreuung von allen Personen unter 18 Jahren registriert. Jedoch von nur fast allen Kindern. Denn ausgenommen sind ungefähr 50 000 Kinder Prominenter sowie Kinder Abgeordneter, die aus „Diskretion“ nicht registriert werden. Die Zweifel der Regierung an der Sicherheit dieser Datenbank sind, ebenso wie die Zweiklassengesellschaft in Sachen Privatheit, im Design integriert. ContactPoint wurde offiziell ausschließlich zum Schutz von Minderjährigen entworfen. Aber bereits in der Entwicklungsphase wurden die Zugriffsrechte auf die Polizei erweitert, um Monitoring von antisozialem Verhalten und Verhindern von Kriminalität unter Minderjährigen – nicht nur gegen sie –zu ermöglichen. Die Polizei ist gleichzeitig jene Instanz, die eine Datenbank von DNA-Proben3 pflegt, welche von allen entnommen werden dürfen, die festgenommen, wenn auch nicht verurteilt wurden. Unter den Einträgen befinden sich bereits mehr als 50 000 Proben von Kindern. Die Kombination dieser Dateneinträge bietet sich an für Experimente in der Bildung von Profilen. So besteht die Möglichkeit, etwa nach Zusammenhängen zwischen ethnischer Zugehörigkeit oder physiologischen Konditionen und Tendenzen zu kriminellem Verhalten zu suchen, die möglicherweise zur Formulierung von Pauschalbeurteilungen eingesetzt werden. Welche Daten werden in der Zukunft verwendet werden, um zu entscheiden, welche SchülerInnen zu höherer Ausbildung zugelassen werden? Auf welchen Grundlagen wird beurteilt werden, in welcher Preisstufe Anwärter für Führerscheine oder Hypotheken eingestuft werden? Wer bekommt ein Visum, wer qualifiziert sich für eine private Krankenversicherung? Ich erwähne nur einige dieser Fragen, um den potenziellen Einfluss von Datenprofilen zu skizzieren. In den Bumerangeffekten unserer digitalen Schatten drückt sich die „Programmierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ aus, die Castell als Ablösung der Kultur der Repräsentation beschreibt. Die beliebige Rückkoppelung der Zukunft mit Daten aus der Vergangenheit wird neue Herausforderungen und Fragen an das Selbstverständnis der nächsten Generation aufwerfen. Die Antworten darauf werden höchstwahrscheinlich nicht durch von Regierungen in Auftrag gegebene Expertengutachten zu finden sein, sondern in den Subkulturen der betroffenen Generation, im spielerischen Umgang mit Taktiken digitaler Camouflage, in dem vervielfältigte Identitäten als neue Zeitund Raum- Rekonfigurationen zum Ausdruck kommen. Paul Virilio: „Auf die chronologische und historische Zeit, die ,vergeht‘, folgt also das Konzept einer Zeit, die ,sich im Augenblick exponiert‘. Auf dem Bildschirm des Terminals wird die Dauer buchstäblich zum ,Oberflächen-Material‘ [support-surface], in das sich die Information einschreibt – oder vielmehr kinematisch ausgedrückt: die Zeit wird zur Oberfläche.“4 M.L.: Mir scheint Zeit heute mehr und mehr zu einer porösen, schwammhaften Oberfläche zu werden. Informations- und Kommunikationsnetzwerke verbinden uns gleichzeitig mit allen Zeitzonen und entfernen uns gleichzeitig von der Real-Örtlichkeit. Der städtische Raum wird erlebt und kategorisiert anhand der unterschiedlichen unsichtbaren Netzwerke, mit denen er überzogen ist: Wo kann man sich ins Funkbreitbandnetz einloggen? Wo gibt es schlechten oder gar keinen Mobiltele3 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Dezember 2008 entschieden, dass die Speicherung von Fingerabdrücken und DNA-Proben von Verdächtigen, die nicht verurteilt wurden, gegen Artikel 8 der Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Trotzdem werden weiterhin genetische Proben von Unschuldigen in der Polizeidatenbank aufbewahrt. 4 Paul Virilio, „Die Auflösung des Stadtbildes“, in: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie, Frankfurt am Main 2006, S. 261–272, hier: S. 263.
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fonempfang? Befindet man sich innerhalb oder außerhalb der Londoner Innenstadtmautzone, deren lückenloser Ring an Kameras Fahrzeugnummern automatisch mit einer Gebührendatenbank abgleicht? Alle unsere Handlungen, die innerhalb dieses kaum wahrnehmbaren Rasters stattfinden, hinterlassen elektronische Datenspuren: die Busfahrt, die per Oyster Card5 für Londons öffentliche Verkehrsmittel bezahlt wird, ein Gespräch am Mobiltelefon, der Besuch eines videoüberwachten Pubs, ein Einkauf mit Kreditkarte oder soziale Interaktion im Internet. Absorbiert von mehreren simultanen Netzwerkumgebungen, befinden wir uns in vernetzten (und zerfetzten) Zeitzonen, in welchen weder vergessen noch erinnert wird. Diese in einem stark regulierten Raum stattfindende Neuformatierung von Zeitspannen und deren Effekt auf Identität sind zentrales Thema in meinem Film Faceless. Für die (fiktive) Protagonistin ist nur der (dokumentarisch) medial produzierte Raum zugänglich: Sie bewegt sich ausschließlich innerhalb eines Umfeldes, das von Videoüberwachung erfasst wird. Der Filmschnitt, der die über die ganze Stadt verstreuten Handlungsorte einerseits zu einem zusammenhängenden Raum verknüpft, zerstückelt andererseits den Zeitablauf auf sichtbare Weise: Der Timecode, der am Bildrand durchgängig eingestanzt ist, um es den CCTV-Betreibern zu ermöglichen, Material unter den end- und ereignislosen Aufnahmen auffindbar zu machen, wurde dadurch sehr sprunghaft. Einander folgende Timecodes konnten bis zu vier Jahre auseinander liegen! Auf einigen der Aufnahmen waren sogar mehrere widersprüchliche Zeitangaben abgebildet. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, diese Anachronismen aus der Geschichte von Faceless zu eliminieren, um eine durchgängige chronologische Kontinuität herzustellen. Gleichzeitig begann sich aber ein neuer Aspekt im Drehbuch herauszukristallisieren, das sich schrittweise mit jeder erfolgreich akquirierten CCTV-Kassette entwickelt. So machte auf einmal auch der unbeabsichtigte Störfaktor des widersprüchlichen Timecodes Sinn: Er sollte die „EchtZeit“ repräsentieren, das neu implementierte Zeitsystem, in welchem die Gesellschaft in Faceless lebt. Das Regime hatte sich die Bezuglosigkeit zu einer bis zur Unerlebbarkeit fragmentierten Zeit zunutze gemacht und die Kontrolle über den Zeitraum übernommen. „Nous sommes entrés dans une période a-temporelle, instantanée, ce qui montre à quel point, loin d’être une expérience individuelle partagée, le temps est une construction, et même, peut-on soutenir, une construction politique.“6
Die schwarzen Ovale, die uns in Faceless statt der Gesichter angähnen, drängen die Frage auf: Wie sehen die Qualitäten einer Gegenwart aus, der keine Vergangenheit vorausgeht und der keine Zukunft folgt? Ist Zeit in fragmentierter und collagierter Form als Zeit erlebbar? Welche Konsequenzen hat der Verlust der Chronologie für die Suche nach Identität? Faceless konstruiert somit eine Distopia, in der eine permanente Scheingegenwart vorherrscht. Nicht ganz unähnlich unserer Gegenwart, ist diese reduziert auf beliebig aneinandergereihte Zeitfragmente, die wie ein beständiger Puls den Alltag takten. In der EchtZeit des Films wirkt diese Taktung verbindlich, und befähigt den Machtapparat sogar, Geschehnisse vorherzubestimmen. Sorglosigkeit und Sicherheit können bloß durch Manipulation der Zukunft garantiert werden, ein Ansatz, der in Wim Wenders’ Am Ende der Gewalt (1997) modelliert wird, einem Film in dem ein Videoüberwachungssystem Personen eliminiert, bevor sie den Kriminalakt (wahrscheinlich) begehen
5 Die Oyster Card ist ein elektronischer Fahrausweis für Londons öffentlichen Personennahverkehr – zugleich ein symbolischer Ausweis der Zugehörigkeit zur Stadtgesellschaft. 6 „Wir sind einer a-temporale Zeit eingetreten, augenblicklich, an einem Punkt angelangt, fern von einer indivuellen, geteilten Erfahrung. Die Zeit ist eine Konstruktion, und dieselbe ist, so können wir sagen, eine politische Konstruktion.“ (Alain Badiou, Le Siècle, Paris 2005, S. 151, Übers. v. M. L.)
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würden. Zukunftsvorhersage oder -kontrolle ist einer der alten Menschheitsträume, und es verwundert nicht, dass die security industry Entwicklungen in der Videoanalytik durch Referenz auf diese Fähigkeiten als unwiderstehlich erscheinen lassen will. Helmut Willke: „Ort, Raum und Entfernung werden zunehmend zu vernachlässigbaren Größen für wirtschaftliche Transaktionen. Der Begriff der Ortlosigkeit, Atopie, bezeichnet diesen Moment der Marktutopie, der in der Idee des Utopischen das Nirgendwo zum Irgendwo steigert. Utopie bezeichnet den Raum, den es nicht gibt. Atopie bezeichnet die Irrelevanz des Ortes, die globale Ortlosigkeit.“7 M.L.: Die durch die Globalisierung verursachten Entwicklungen sind weitgehend bekannt. So ruft etwa die Unabhängigkeit des Manufakturstandortes von Nähe zu Rohstoffen, Markt oder Schaltzentrale temporäre Atopien hervor. Gleichwohl bleibt aber die totale Austauschbarkeit des Ortes ein neoliberaler Traum. Gleich bei Amtsantritt 1997 führte New Labour den Begriff ‚Cool Britannia‘ ein mit der Absicht, einen Markennamen zu schaffen, der Großbritannien als Nation mit Innovation gleichsetzen sollte. Dafür wurde auch ein Katalog an politischen Maßnahmen erstellt, um international einen Vorsprung in den creative industries zu erzielen, die als Produktion von geistigem Eigentum stark von lokalen Kontexten informiert sind. Dieser Wirtschaftssektor wurde als derjenige mit der höchsten Wachstumsrate identifiziert. Zwischen 1997 und 2009 wuchs der Marktanteil der creative industries durchschnittlich um neun Prozent.8 Als ich damals nach London zog, um meine Arbeit – den künstlerischen, sozialen und taktischen Einsatz von audiovisuellen Medien und Datennetzwerken – fortzusetzen, fand ich ein Studio in der City Fringe area, wo sich ein creative industries cluster zu bilden begann: am Rande des Finanzzentrums, nahe an einem Knoten des Breitbandnetzes gelegen, das damals für jemanden, der unter den präkeren Arbeitsbedingungen des kreativen Milieus arbeitet, noch unerschwinglich war. Seit dem SoHo-Effect der 70er Jahre ist die Verbindung von Kunst und Kultur mit Stadterneuerung eine weltweit angewandte Strategie zur Regeneration verödeter Zentren oder der Erschließung von Zuwachsgebieten. Auf Grund der Lage meines Studios konnte ich das Muster der Gentrifizierung (gentrification) über lange Zeit beobachten. Mit den Immobilienbüros zog auch die Videoüberwachung – mit als viktorianische Gaslaternen getarnten Kameras – in meine Straße ein, während große Teile der eingesessenen Lokalbevölkerung auszogen. Immer geht es darum, daran zu erinnern, dass der steigende Wert des Viertels unter Beobachtung gestellt ist. Niels Werber: „Haben die Anschläge auf das WTC und das Pentagon etwas verändert? Man hat vorgeschlagen, daß die USA sich erst nach diesen Attacken ihres Status bewußt geworden sei, schon seit langem ein Empire zu sein. Aber war diese Lehre, wie manche schulmeistern, wirklich nötig, um zu lernen, daß die Geschichte nicht vorbei sei, sondern nach wie vor im Raum stattfinde?“9 M.L.: In der City waren CCTV-Netzwerke zu einem flächendeckenden System zusammengewachsen, das lückenlose Aufnahmen von einer Durchquerung der City herstellen konnte. Während Drehlizenzen für diese Viertel an Filmproduzenten verkauft wurden, waren dieselben Straßen Schauplatz einer durchgängigen Dokumentation, die in den Datenbankarchiven der CCTV-Betreiber landete.
7 Helmut Wilke, Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2001, S. 13. 8 Department for Culture, Media and Sport, Creative Industries Division. Creative Industries Fact File http://
www.culture.gov.uk/PDF/ci_fact_file.pdf (aufgerufen: 10. Oktober 2009). 9 Niels Werber, Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltordnung, München 2007, S. 17.
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Die CCTV-Kultur wucherte über die Grenzen der City hinaus bis zu dem Eingangstor meines Wohnhauses. Der omnipräsente Blick der Kameras löste in mir zweierlei emotionale Reaktionen aus: Empfindungen von Entwürdigung und Bevormundung, ausgelöst durch eine weitere Untergrabung meiner informationellen Selbstbestimmung. Gleichzeitig sah ich als Filmemacherin in dieser Infrastruktur einen kinematografischen Paradigmenwechsel, hervorgerufen durch das neue Verhältnis zwischen Produzent, Subjekt und Zuschauer, durch die Größenordnung der automatisierten Bilderzeugung vor Ort sowie durch die Ablöse des Diskurses über Bildqualität durch eine Debatte über Quantität, durch die Symbiose von Echtzeitfilm und Datenbankstruktur und letztlich durch die neue Notwendigkeit, die Beziehung zwischen Bilderzeuger und Abgebildeten durch Gesetzesnovellen zu koordinieren. Letzteres könnte man auch als die Beziehung zwischen den Verwaltern von Räumen (dem Schwimmbad, dem Restaurant, dem Gemeindebau, dem Parkplatz etc.) und deren Benützern definieren. Die CCTV-Kameraeinstellung rückt dabei den Ort ins Zentrum des Interesses: Es ist der spezifische Ort, der abgesichert wird, während er von unbestimmten Benützern durchquert wird. Daher stehen die gesetzlichen Eigenschaften des Bildes im Vordergrund meines Films, für den die Wahl der Aufnahmeorte von dem Grad an Überwachung abhing. Faceless entstand durch die Suche nach einer möglichen künstlerischen Form für dieses hier beschriebene neue Dispositiv der Überwachung und Bildproduktion. Marshall McLuhan: „Die wichtigsten Faktoren des Einflusses von Medien auf bestehende Gesellschaftsformen sind Beschleunigung und Aufteilung. Heute ist die Beschleunigung fast total und macht so dem Raum als Hauptfaktor der sozialen Ordnung ein Ende.“10 M.L.: Zuerst waren es die Ballungszentren der Macht, dort, wo Finanzwelt, Presse und Regierung ihren Sitz hatten, an denen CCTV erstmals im großen Stil an öffentlichen Plätzen Einsatz fand. Aus dem Straßenbild der City ragten Kameramaste heraus wie Mahnmale des ungelösten Nordirlandkonfliktes. Die Bombenattentate in den frühen 90er Jahren führten zur Konstruktion des sogenannten ring of steel (die Bezeichnung für dieses Kontrollsystem wurde von Belfasts antiterroristischer Stadtplanung übernommen). In Belfast erinnern in den 70er Jahren errichtete Straßenbarrieren, Wachposten und Mauern – die peace lines zur Trennung der protestantischen und katholischen Nachbarschaften – an mittelalterliche Stadtbefestigungen. In London bezeichnet der ring of steel die durch CCTV, Rüttelschwellen und Polizeipräsenz befestigte Randzone der City. Entscheidend ist die durch ihn erzwungene Verlangsamung des Transits: Durch die Straßenverengungen und Schwellen werden Fahrzeuge genötigt, Geschwindigkeit zu reduzieren, was ihre Sichtbarkeit erhöht. Polizei und Videoüberwachung können so eher Nummerntafeln oder Gesichter erfassen. Es geht darum, die Kontrolle darüber zu erlangen, wer kommt und geht. Doch der Versuch, Bewegung von Einzelpersonen oder Gesellschaftsgruppen durch Abbildung zu kartografieren, ist anachronistisch und inkonsistent. Das kann man auch der technologischen Realität von CCTV ablesen, denn die meisten aktiven CCTVSysteme nehmen nur acht Einzelbilder pro Sekunde auf: Aktion, die zwischen diesen Einzelbildern stattfindet, bleibt undokumentiert. Jacques Rancière: „Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Raum und Zeit, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Eine bestimmte Betätigung legt somit fest, wer fähig oder unfähig zum Gemeinsamen ist. Sie definiert die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit in einem gemeinsamen Raum und bestimmt, wer Zugang zu einer gemeinsamen Sprache hat und wer nicht, etc. Der Politik liegt mithin eine Ästhetik zugrunde, die jedoch nicht das Geringste mit jener ‚Ästhetisierung der Politik‘ im ‚Zeitalter der Massen‘ zu tun hat, von der Benja10 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf, Wien 1968, S. 105.
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min spricht. Diese Ästhetik soll nicht als ein perverser Zugriff eines Kunstwollens auf die Politik oder als die Auffassung der Volksmasse als Kunstwerk verstanden werden. Wenn man nach einer Analogie sucht, kann man diese Ästhetik im Sinne als System der Formen a priori auffassen – vielleicht sogar wie sie von Foucault wieder aufgenommen wurde –, insofern sie bestimmen, was der sinnlichen Erfahrung überhaupt gegeben ist. Diese Unterteilung von Zeiten und Räumen, des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Lärms geben zugleich den Ort und den Gegenstand der Politik als Form der Erfahrung vor. Die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.“11 M.L.: Politische Demonstrationen finden in London traditionell zwischen Parliament Square und Trafalgar Square statt. In diesem Bereich, Whitehall, regelt der Serious Organised Crime and Police Act (SOCPA), dass ausschließlich mit behördlicher Genehmigung demonstriert werden darf. Was eine ‚Demonstration‘ ist, ist im SOCPA strikt definiert: Es genügt, als Einzelperson ein textbedrucktes T-Shirt zu tragen und eine Minute lang herumzustehen, wie die Verhaftung einer Aktivistin illustrierte, die dort eine Torte mit der Zuckergussaufschrift ‚PEACE‘ verteilte. Ein umstrittener Erlass, der unweigerlich in einem Spannungsverhältnis zu dem Menschenrecht der Redefreiheit steht. In Vorbereitung eines Projektes, in welchem es – gegen diese Atmosphäre eines (simulierten) permanenten Konsens – um die Sichtbarmachung der vielfachen übereinanderliegenden Schichten an Videoüberwachung im öffentlichen Raum ging, wählte ich Whitehall als Untersuchungsort. Für Mapping CCTV around Whitehall zeichnete ich jede CCTV-Kamera auf einer Stadtkarte ein und nummerierte und fotografierte das Objekt. Das Areal, das die jeweilige Kamera abdeckte, wurde auf der Karte orange schattiert. Vor Ort wurde meine Aktivität von zwei Polizisten unterbrochen. Sie befragten mich zu meiner Motivation und hatten Schwierigkeiten damit, die von mir erwähnte Kunstabsicht nachzuvollziehen. Sie meinten, dass meine Tätigkeit die Sicherheit der Regierungsgebäude gefährde, da deren Sicherheitssystem exponiert werde. Mir dagegen erschien das wie ein Ping-Pong-Spiel zwischen Kontrolltechnologie und Sicherheitsbeamten. Gestützt auf den Terrorism Act 2003, so wurde mir auf meine Nachfrage erklärt, durchsuchten die Polizisten meinen Rucksack, in dem sich außer einer DVD von Faceless und einem Schlüsselbund nichts Weiteres befand. Ich war jedenfalls ziemlich erleichtert, als sie mich gehen ließen, denn der Counter-Terrorism Bill 2008 hätte der Polizei erlaubt, mich bis zu 42 Tage festzuhalten. Ein paar Tage später, als ich in der U-Bahn auf die Zeitung meines Sitznachbars schiele, springt mir eine Artikelüberschrift ins Auge: Zwei Männer aus Pakistan waren nicht so glimpflich davongekommen. Sie wurden verhaftet, als sie CCTV-Kameras in Whitehall fotografierten. Ein paar Monate später wurde schließlich auch das Fotografieren von Angehörigen der Armee, der Polizei und von Infrastruktur wie Bahnhöfen und Bushaltestellen im Rahmen des UK Counter Terrorism Act, Section 76, untersagt. Die Frage, die ich mir in Mapping CCTV stellte, lautet: Ist Infrastruktur, deren totalitäre Architektur die Beziehung zwischen Betreibern und Betroffenen determiniert, geeignet, um Stabilität für den gebauten und sozialen Kern einer Demokratie zu schaffen? Ich denke, dass die Definition von Sicherheit – genauso wie von Bürgerrechten – einem ständigen partizipatorischen Prozess unterliegt und nicht als Fertigprodukt an die jeweils folgende Generation weitergegeben werden kann. Daher bedauere ich, dass öffentliche Ressourcen in einen technologiefokussierten Fortschrittsglauben investiert werden, der sich dem Management bestehender Missstände 11 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006, S. 26 f.
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verschrieben hat, anstatt in kollaborative Prozesse, die Fortschritt durch ständigen gesellschaftlichen Wandel bewirken könnten.12 Michel de Certeau: „‚Diese oft winzigen Listen der Disziplin‘, kleine, aber unfehlbare Maschinerien, beziehen ihre Wirksamkeit aus dem Verhältnis zwischen den Prozeduren und dem Raum, den sie neu aufteilen, um ihn zu einem ‚Operator‘ zu machen. Aber welche Umgangsweisen mit dem Raum [pratiques de l’espace] entsprechen diesen einen disziplinären Raum erzeugenden Apparaten, wenn man (mit der) Disziplin spielt?“13 M.L.: „Wer überwacht die Überwacher?“, fragt eines der von mir designten T-Shirts. Auf ihm ersetzt das lateinische Originalzitat „Quis custodiet, ipsos custodes?“14 das Motto „‚Scienta est potentia‘ – Knowledge is power“ im Logo des US-amerikanischen Total-Information-Awareness-Programmes. Die erst kurze Geschichte des Datenbankstaates hat bereits viele mediale Fälle an Fahrlässigkeit oder Missbrauch hervorgebracht. So gingen allein in jüngerer Vergangenheit Großbritanniens Finanzverwaltung HM Revenue and Customs 25 Millionen Datensets (Namen, Adressen, Bankdetails von Kinderbeihilfeempfängern) verloren15, dem Department for Work and Pensions kamen 18 000 Daten abhanden, von Personal des Ministry of Defence wurden 659 Laptops (samt Daten) gestohlen, und demselben Ministerium gingen Informationen über 600 000 Militärrekruten verloren, und PA Consulting, ein Auftragnehmer des Innenministeriums, verlor Daten zu allen 84 000 Gefängnisinsassen in England und Wales. Diese fortsetzbare Liste illustriert meine Zweifel, ob diejenigen, die autorisiert sind, unsere Datenprofile zu verwalten, die oftmals ‚im Namen von Sicherheit‘ gesammelt und aufbewahrt werden, überhaupt qualifiziert sind, eine Umgebung gesteigerter Sicherheit zu schaffen. Unfehlbares Datenmanagement kann nicht in absehbarer Zeit gewährleistet werden. Daher stellt sich die Frage, welche zusätzlichen Unsicherheiten durch das Aufbewahren, die Auswertung und Interpretation größerer Datenmengen (data mining, profiling) und durch das Vernetzen von Datenbanken entstehen. Neben Verlust oder Diebstahl sind das Einfordern und der Zugang zu Daten auch für Missbrauch oder illegale Handhabung anfällig. In einer Überwachungsgesellschaft fließen Informationen nur in eine Richtung, und Berichte wie derjenige über Schulanwärter, die durch geheime CCTV-Beobachtung auf die Richtigkeit ihrer Adresse geprüft wurden, gelangen kaum an die Öffentlichkeit.16 Stellen wir uns zum Beispiel den Angestellten im CCTV-control-room vor, der stundenlang Leuten, Autos, Hunden zusieht. Welche Maßnahmen schützen uns vor möglichen voyeuristischen Exzessen? Wie können Machtmissbrauch und function creep17 verhindert werden? Sind die zur Vermeidung von Missbrauch nötige Transparenz und die hierarchische Architektur von CCTV nicht ein Widerspruch in sich? Analoge Fragen und Probleme ergeben sich auch bezüglich des omnipräsenten CCTV-Auges im Londoner Alltag. Oft wird der strukturelle Vergleich mit dem unter anderem von Foucault analysierten Bentham’schen Panopticon verwendet. Das, was man das Dispositiv von CCTV nennen könnte, 12 13 14 15
Vgl. Eric Cazdyn, „The New Chronic. Culture, Politics, Medicine“, in: Prefix Photo 18, 2009. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 187. Juvenal, Satiren.
„Statement by the Chancellor of the Exchequer, The Rt Hon Alistair Darling, MP on the Poynter Review , 25. Juni 2008, HM Treasury Website, http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/+/http:// www.hm-treasury.gov.uk/newsroom_and_speeches/speeches/statement/statement_chx_250608.cfm (aufgerufen: 10. Oktober 2009).
16 „Council admits spying on famliy“, in: BBC News, 10. April 2009, http://news.bbc.co.uk/1/hi/england/ dorset/7341179.stm (aufgerufen: 10. Oktober 2009). 17 Oxford University Press, function creep, http://www.oup.com/elt/catalogue/teachersites/oald7/wotm/wotm_ archive/function_creep?cc=global (aufgerufen: 10. Oktober 2009).
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geht aber darüber in einem entscheidenden Aspekt hinaus. Das Panopticon wirkt sich auf das Verhalten der Anwesenden bereits dadurch aus, dass diese prinzipiell wissen, dass sie beobachtet werden. Immer öfter investiert die öffentliche Hand in Videoüberwachung, die entweder als Gestein oder Strassenlampe getarnt oder versteckt und unbeschildert angebracht werden. Während das Panopticon, ähnlich wie ‚Gottes Auge‘, unüberprüfbar, aber ständig anwesend als zentrale, singuläre Instanz gegenwärtig geglaubt wird, zielt getarntes CCTV nicht auf die abschreckende Wirkung ihrer Präsenz, sondern darauf ab, in flagranti zu ertappen. Die Ausweitung von CCTV auf zivile und getarnte Systeme legen also weniger einen Vergleich mit Benthams Panopticon nahe als mit den ‚Inoffiziellen Mitarbeitern‘, dem Spitzelwesen der DDR. Michel Foucault: „Aber diese Krisenheterotopien verschwinden heute und sie werden, glaube ich, durch Abweichungsheterotopien abgelöst. In sie steckt man die Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm. Das sind die Erholungsheime, die psychiatrischen Klinken; das sind wohlgemerkt auch die Gefängnisse, und man müßte auch die Altersheime dazu zählen, die an der Grenze zwischen der Krisenheterotopie und der Abweichungsheterotopie liegen; denn das Alter ist eine Krise, aber auch eine Abweichung, da in unserer Gesellschaft, wo die Freiheit die Regel ist, der Müßiggang eine Art Abweichung ist.“18 M.L.: Schleichend werden die Technologien, die im Namen der nationalen Sicherheit entwickelt werden, auch auf die eigene Bevölkerung angewandt. Besonders konsumschwache Gruppen (Arbeitslose, ältere Menschen, teilweise Jugendliche) werden zunehmend marginalisiert und vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Mein Projekt Limitations Permitted19 beschäftigt sich mit der Regulierung des öffentlichen Raumes anhand eines Platzes in Südlondon. In Workshops mit lokalen Jugendlichen suchten wir brisante Gesetzesausschnitte aus diversen Erlässen heraus, die das Verhalten im öffentlichen Raum beeinflussen: Einige Bestimmungen waren schlichtweg veraltet („Kein Grasen von Schafen im Park“), manche bizarr („Heißluftballons dürfen nur im Notfall abheben“), manche bedenklich („Fotografieren von Polizeiorganen nicht gestattet“). Den jugendlichen Teilnehmern schien besonders die Anti-Terrorismus-Gesetzgebung von Brisanz, da sie die willkürliche Einflussnahme von Polizei stärkte. Etwa durch die Ermächtigung, Gruppen ab zwei Personen aufzulösen, Passanten ohne Begründung zu stoppen und zu untersuchen, Telekommunikation abzuhören und genetische Proben zu entnehmen und diese aufzubewahren. Die Polizei wird beim Ausschauhalten nach der „Abweichung von der Norm“ durch CCTV unterstützt. Da der menschliche Beobachter als kostenaufwendig, ineffizient und wegen zu kurzer Aufmerksamkeitsspanne als unverlässlich gilt, wird an der Entwicklung von Softwares wie etwa Videalert oder Agent VI Software gearbeitet, die CCTV-Bilder analysieren und Vorentscheidungen treffen. Videoanalysis erweitert das Konzept von Videoüberwachung durch automatische Erkennung von Ereignissen, die ‚außerhalb der Norm‘ liegen. Die Echtzeitbilder werden nach eingegebenen Parametern untersucht. Die Anlage kann ortsspezifisch eingestellt werden, denn an gewissen Orten gilt es als verdächtiges Verhalten, sich zu rasch fortzubewegen, während an anderen umgekehrt eher längeres Verweilen Alarm auslöst. Das Versprechen solcher Softwareprodukte lautet, ‚unerwünschte Ereignisse‘ an der Wurzel zu erkennen, damit sie verhindert werden können, bevor sie passieren. Holt uns die Fiktion ein, und ist das der Versuch einer Optik, die die Zukunft sehen und kontrollieren kann? 18 Michel Foucault, „Andere Räume“, in: Martin Wentz (Hrsg.), Stadt-Räume, Frankfurt am Main, New
York 1991, S. 65–72, hier: S. 69. 19 http://www.ambienttv.net/content/?q=limitationspermitted.
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Hannah Arendt: „Es scheint im Wesen der zwischen den Bereichen des Privaten und des Öffentlichen obwaltenden Bezüge zu liegen, dass das Absterben des Öffentlichen in seinen Endstadien von einer radikalen Bedrohung des Privaten begleitet ist. Soweit diese Dinge in der Neuzeit überhaupt erörtert wurden, hat die Diskussion stets die Fragen des Privateigentums betroffen; und dies ist kein Zufall, denn selbst für antikes politisches Denken verliert das Wort ‚privat‘ seinen privativen Charakter und steht nicht mehr unbedingt im Gegensatz zum Öffentlichen, wenn es im Zusammenhang mit Eigentum gewisse Eigenschaften, die, wiewohl privater Natur, dennoch äußerst wesentlich für das Politische sind.“20 M.L.: Meine Aufmerksamkeit galt lange insbesondere den Angriffen auf die Privatsphäre, doch diese Entwicklung steht in Verbindung mit dem Verschwinden des öffentlichen Raumes, realer und virtueller Orte, an denen Diskurs um gesellschaftlich relevantes Belangen stattfindet. Vielleicht greife ich für meine Antwort wieder auf ein Erlebnis aus dem Londoner Alltag zurück. Eine Piazza in den Londoner Canary Wharfs hat den Anschein eines öffentlichen Platzes: Kettenrestaurants, ein Kino, eine Autobusstation, Begrünung, ein Springbrunnen. Tatsächlich aber gehört der Raum nicht der Gemeinde, sondern einem Konsortium. Zugang zu Gebäuden, Transportsystem und Gastronomie ist gestattet, jedoch nach den Bedingungen der Eigentümer. Die offizielle Webseite der Canary Wharf Group plc21 rühmt sich, dass es weltweit keinen urbanen Raum gebe, dem im Vergleich in der Detailplanung mehr Aufmerksamkeit zugekommen sei. Nicht nur die Raumgestaltung wurde minutiös geplant, sondern die erwartete und gewünschte Art der Benutzung. Dieselbe Webseite bietet etwa einen ausdruckbaren Straßenplan, auf dem die genehmigten Freiluft-Raucherzonen rot markiert sind. Vor nicht allzu langer Zeit erzählte mir eine befreundete Radioproduzentin, die Interviews zur Geschichte des Londoner East End auf der Straße in Canary Wharf aufnahm, wie dort plötzlich Wachpersonal auf sie zueilte. Sie wurde darauf aufmerksam gemacht, dass keinerlei Aufnahmen ohne schriftliche Bewilligung zulässig seien. Also fuhr sie zusammen mit dem in Canary Wharf ansässigen Interviewpartner und ihrem Audioaufnahmegerät ein paar U-Bahn-Stationen weiter. Doch bevor sie noch das Gespräch mit gezückten Mikrofon weiterführen konnte, wurde sie wieder von einem Wachmann derselben privaten Sicherheitsfirma und mit demselben gewundenen, aus dem Ohr wachsenden Kabel, angesprochen: „Haben wir Ihnen nicht gerade gesagt, dass …“. In privatwirtschaftlich erbauten Stadtvierteln ist nicht nur in Sachen Gestaltung kaum etwas dem Zufall überlassen, sondern auch in Bezug auf die Administration von Aktivitäten. Es entsteht ein homogenes, steriles Umfeld, nicht unähnlich dem von Shoppingcentern. Während man sich in öffentlichen Einkaufsstraßen gelegentlich Tierschutzaktivisten (in Protest gegen ein Produkt im Schaufenster) oder Straßenakrobaten (möglicherweise Personen ohne Arbeitserlaubnis) gegenübersieht, wäre dies oder eine politische Demonstration in den kommerziell verwalteten Anlagen nur schwer vorstellbar. Der computerkontrollierte Brunnen, neben welchem die Radioproduzentin gestoppt wurde, erinnert an Jacques Tatis technophilen Alltag in Mon Oncle (1958). Der Wasserstrahl tanzt gelegentlich zu Musik und kann mithilfe von Sensoren die Windrichtung wahrnehmen und die Strahlhöhe adjustieren, um zu verhindern, dass Passanten besprüht werden. Es ist also doch alles in Ordnung in Canary Wharf.
20 Hannah Arendt, „Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten“, in: dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben [1960], München 2002, S. 33–97, hier: S. 38–41 und 73–79. 21 Vgl. http://www.canarywharf.com/mainfrm1.asp (aufgerufen: 10. Oktober 2009).
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Paul Virilio: „So ihrer objektalen Grenzen beraubt, beginnen die architektonischen Elemente ziellos in einem elektronischen Äther vor sich hinzutreiben, der keinerlei räumliche Dimensionen mehr besitzt, dessen einzige Dimensionen vielmehr die einer Zeitlichkeit ist, die alles unmittelbar durchsetzt.“22 M.L.: Wie genau sehen soziales Verhalten und Mobilität in diesen von Virilio als zeitlich beschriebenen Orten des Informationszeitalters aus? Neben der umfassenden drahtlosen Raumvernetzung beobachten wir eine zunehmende Tendenz unseres gegenständlichen Umfeldes, mit menschlichem Verhalten zu interagieren, indem alltägliche Gebrauchsgegenstände, die mit künstlicher Intelligenz, sensorischen Interfaces und vernetzten Servicestellen versehen wurden, kontextbezogenes Bewusstsein entwickeln. Für jede Aktivität gibt es ein uns umgebendes Produkt, das in den Vordergrund tritt. Manchmal bedarf es weder eines smart environments noch externer Überwachungsmaßnahmen, um das Kartografieren von Aktivitäten zuzulassen. Die elektronischen Fußabdrücke der Gesellschaft können überall aufgelesen und einer Interpretation ausgesetzt werden. In meinen Projekten, die eine kritische Untersuchung unserer technologisierten Umgebung und damit einhergehender Vorstellungen von Fortschritt formulieren, arbeite ich mit diesen elektronischen Spuren, um sie erlebbar und begreifbar zu machen. In einer Serie telematischer Performances, die in meiner Zusammenarbeit mit Choreografen, Programmierern, Soundkünstlern und temporären Flaneuren ausgeführt wurden, standen die Daten, die von Mobiltelefonen generiert werden, im Zentrum: Neben der Hauptanwendung, Sprachvermittlung über Distanz, werden bei jedem Anruf Standort des Anrufers und Empfängernummer vom Anbieter sichtbar und vom Telefonanbieter archiviert. Sogenannte ‚location data‘ sind bereits ungefragt Gegenstand von Forschungsprojekten (wie Microsofts Project Lachesis) oder von Datenbanken zum Zwecke nationaler Sicherheit (Echelon Alliance). Location based marketing, das ortsbezogene Werbung auf Basis von GPS-Daten und Standortinformationen der Mobilfunkmasten an Handys schickt, steht auch im deutschsprachigen Raum bereits zur Diskussion. In meiner kollaborativen Produktion trYptIchon23 wurden Standortdaten eines flanierenden Performers innerhalb eines Theaters als Surroundanimation interpretiert. In kurzen Abständen schickte er Textnachrichten an das Theater, die subjektive Eindrücke von seinem Spaziergang enthielten. Die Nachrichten und GPS-Koordinaten bildeten die Basis, um auf der Bühne in Echtzeit ein Environment zu visualisieren, das als Plattform für improvisierte Choreografie diente. Die Tänzerin interpretierte den telematisch produzierten Raum durch die Bewegungen ihres Körpers. Für den Zuseher wurden die Datenspuren, unsere Fußspuren im elektronischen Äther, als audiovisuelle Architektur und Performance fassbar. Siegfried Kracauer: „Gleich dem Stadionmuster steht die Organisation über den Massen, eine monströse Figur, die von ihrem Urheber den Augen ihrer Träger entzogen wird und kaum ihn selbst zum Betrachter hat. – Sie ist nach rationalen Grundsätzen entworfen, aus denen das Taylor-System nur die letzte Folgerung zieht. Den Beinen der Tillergirls entsprechen die Hände der Fabrik. Über das Manuelle hinaus werden auch seelische Dispositionen durch die psychotechnischen Eignungsprüfungen zu errechnen gesucht. Das Massenornament ist der ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität.“24
22 Virilio, „Die Auflösung des Stadtbildes“, a. a. O., S. 262. 23 http://www.ambienttv.net/telejam/3/ (aufgerufen: 10. Oktober 2009), Dokumentationsvideo auf DVD. 24 Siegfried Krakauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 1927, S. 54.
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M.L.: Die kaleidoskopischen Formationen der Revuegirls in Busby Berkelys Filmen der 30er und 40er Jahre brachten den effizienten Umgang mit der mechanischen Zeit zum Ausdruck, erinnerten an die choreografierten Bewegungen der Fließbandarbeiter. In humoristischer Anlehnung an diese entstanden die beiden Interventionsstücke The Eye I und The Eye II – Choreography for Surveilled Space. Unter Teilnahme der Community vor Ort in Brentford, West London, wurde The Eye I gänzlich von den CCTV-Kameras mehrerer Sozialbauten und deren Parkplätzen gefilmt. Die Choreografie spielte bewusst auf die Vogelperspektive der CCTVKameras an, denn die Formationen der Tänzer und Tänzerinnen werden ausschließlich aus diesem Blickwinkel sichtbar. Die Teilnehmer verwendeten Street Dance und Capoeira, eine afrobrasilianische Kunstform, die Elemente aus Kampfsport, Spiel und Tanz vereint. Die Regelmäßigkeit des Straßenalltags im Sinne der video analytics wurde durch den tänzerischen Ausdruck von Individualität und Widerstand unterbrochen. The Eye II entstand in einem Shoppingcenter. Ich wollte in dieser Location arbeiten, da sie für mich auf besonders deutliche Weise die Sterilität einer künstlichen Welt zum Ausdruck bringt, deren Oberfläche sich bestens zur Manipulation von Zeitwahrnehmung eignet. Das Umfeld eines Shoppingcenters schließt alles aus, was an das Verstreichen von Zeit erinnern könnte. Durch die Gleichförmigkeit der Umweltelemente wie Licht, Temperatur und Geräuschkulisse25 wird das Shoppingcenter als Oase im beschleunigten Alltag konstruiert. Unter den Anweisungen der britischen Choreografen The Balletboyz26 bildeten die rund 70 Teilnehmer Konfigurationen, die man ‚Massenornamente des Informationszeitalters‘ nennen könnte. Formationen reproduzierbarer Erinnerung, inspiriert von einer Art Datenbankästhetik: Die Tänzer beschrieben Zeilen, bewegten sich als Querverweise, multiplizierten Muster und, als Showdown-Sequenz in Faceless, brachten das Bewusstsein, exponiert zu sein, zum Ausdruck. Während Tilda Swintons Sprechstimme Folgendes verkündet: „In the sanctum, she encompasses past, present and future in a single glance. Visions impel her – faces returned, the city liberated. Reflected in her gaze, the veil of RealTime begins to fall …“27, erwidert ein von Körpern geformtes, blinkendes Auge den omnipräsenten Blick des überwachenden Apparates. Der Blick als Fenster in Vergangenheit und Zukunft, als Voraussetzung für das Wahrnehmungsvermögen einer Gegenwart, dient als Schlüssel zur Selbstbestimmung, um aus der am Bildschirm eingefrorenen EchtZeit, den Rhythmus der Informationsgesellschaft auszubrechen.
25 Der Bedarf an harmloser Hintergrundmusik führte zur Entstehung der Firma Muzak. 26 Michael Nunn & William Trevitt, http://www.balletboyz.com/ (aufgerufen: 10. Oktober 2009). 27 Ebd.
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Europa – ein politisch-choreographischer Raum? Einführung zu Transversale und DVD
Arts et sciences en recherche transversale Erkundungen in Kunst und Wissenschaft wird mit diesem Band in die neue Form einer thematischen Reihe überführt.1 Durch den Gründungszusammenhang der Deutsch-Französischen Hochschule zunächst als ein beide Länder verbindendes Jahrbuch konzipiert, war transversale von Beginn an auf Städte bezogen und schöpfte insbesondere aus der intellektuellkünstlerischen Szenerie von Paris und Berlin. Auch dieser Band möchte mit den Beiträgen französischer Autoren – Gérard Raulet, Georges Didi-Hubermann, Jacques Rancière – und von Wissenschaftlern aus Deutschland aktuelle Forschung in Berlin und Paris wechselseitig wahrnehmbar machen. Gleichzeitig wird eine weitere europäische Metropole verstärkt sichtbar: London tritt gerade im dritten Kapitel als Ort – und auch Gegenstand – künstlerisch-wissenschaftlicher Produktivität ebenso wie politischen Engagements hervor. Wenn auch anfänglich ein deutsch-französisches Unternehmen, verstand sich transversale ihren Gegenständen nach von Beginn an als eine europäische Publikation, die darauf setzte, das Interesse an den gegenwärtigen Umrissen des Europäischen mit der Aufmerksamkeit für Austauschprozesse zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Produktivität zu verbinden. Zwei Fragen waren hierbei interesseleitend: Ist es in einer globalisierten Weltgesellschaft weiterhin wünschenswert, Europa zu denken, und in welcher Weise wäre diese Anstrengung nach der Kritik von Euro- und Logozentrismus durch den Dekonstruktivismus in emanzipatorischer Weise möglich?2 Wie ist das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft in einer für Darstellungsformen sensibilisierten Reflexion zu fassen, und welchen Platz findet diese in Bemühungen um einen europäischen Raum des Wissens? Als dessen Emblem können Ambrogio Lorenzettis Fresken der Buon Governo (1337–1340) in der Sala della Pace des Palazzo Pubblico von Siena aufgerufen werden, die das politische Programm der Kommune im Trecento ebenso wie die Auswirkungen der guten bzw. der schlechten Regierung auf Stadt und Land vor Augen führen.3 Doch weshalb sind diese Fresken – Herrschaftskunst aus der Frühzeit europäischer Stadtkultur, deren politische Verfassung durchaus noch tyrannische Züge trug – von besonderem Interesse für das Anliegen von transversale? Nicht nur dass die Künste als eine tanzende Gruppe im Zentrum der gut regierten Stadt ihren Platz finden, lässt den Rückblick auf Lorenzettis Fresken für ein Unternehmen lohnend erscheinen, das von Beginn an darauf zielte, die Künste in das Zentrum einer intellektuellen Arbeit an der Verfassung Europas zu setzen. Mehr noch: Mit Lorenzettis Fresken hatten die Künste selbst Anteil an der Ausbildung eines politischen Raums, nicht nur durch die repräsentative Darstellung politischer Ideale der Stadt, sondern als wirksamer 1 Kerstin Hausbei, Franck Hofmann, Nicolas Hubé, J. Emil Sennewald (Hrsg.), Transversale 1: Abstand – Verständnis, distanciation – compréhension, München 2005; dies. (Hrsg.), Transversale 2: Erfahrungsräume – configurations de l’expérience, München 2006. Siehe auch die Internetplattform www.transversale.org. 2 Vgl. Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt am Main 1992; Justine Lacroix, La pensée française à l’épreuve de l’europe, Paris 2008. 3 Mit dieser Rückwendung steht transversale nicht allein. Roger M. Buergels Konzept einer „Migration der Form“ – 2007 kuratorischer Leitgedanke der Documenta 12 – ist ebenfalls auf die Fresken im Sieneser Palazzo Pubblico bezogen. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Motiv der Kordel, das Teil einer über den Bildrand hinausstrahlenden Befragung des Gesellschaftskörpers, der Civitas, sei, in der alle an einem Strang zögen. Diese Kordel wird von Buergel mit anderen gegenwärtigen Bearbeitungen des Motivs in Bezug gesetzt, wodurch „auf der Grundlage formaler Korrespondenzen wieder eine neue Bedeutungsebene, ein neuer Kontext“ entstehe. Vgl. http://www.documenta12.de/1039.html?&L=0.
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Abb. 1: Ambrogio Lorenzetti, Die gut regierte Landschaft (Diana Norman, Painting in Late Medieval and Renaissance Siena [1260–1555], New Haven, London 2003, S. 70).
Bestandteil der Ausbildung eines Bewusstseins städtischer Bürgerschaftlichkeit zum einen, eines Bewusstseins von Natur als Landschaft zum anderen. Lorenzettis Fresken sind zum einen politisches Programm, zum anderen eine der ältesten Landschaftsdarstellungen europäischer Kunst, da sie das organisierte Umland der Stadt – Sienas Contado – als ästhetische ebenso wie als politische Ordnung vor Augen führen.4 Die Frage nach den Formen und Praktiken von Bürgerschaftlichkeit, die, bevor sie die Zugehörigkeit zu einem Staat, die zu einer Stadtgesellschaft meinte, ist eng mit der Thematik der Fresken verbunden. Und sie ist noch heute grundlegend für eine Erfahrung des Europäischen als Erfahrung von Bürgerschaftlichkeit, die intergouvernementaler Politik zur Seite zu treten hat, soll Europa anderes sein als staatlicher Ausdruck wirtschaftlicher Zwänge im Zeitalter der Globalisierung – anderes als ein Player, der sich neben den USA und China zu etablieren sucht. Wie die toskanischen 4 Vgl. etwa Tanja Michalsky, „‚Limes ille Galliarum et Hispaniae, Pirenaeus vertex, inde non cernitur‘. Zum Verständnis von Land und Landschaft in verschiedenen Medien des italienischen Spätmittelalters“, in: KarlHeinz Spieß (Hrsg.), Landschaften im Mittelalter, Stuttgart 2006, S. 238–266.
EINFÜHRUNG ZU TRANSVERSALE UND DVD
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Abb. 2: Ambrogio Lorenzetti, Die gut regierte Stadt (Diana Norman, Painting in Late Medieval and Renaissance Siena [1260–1555], New Haven, London 2003, S. 101).
Städte der Renaissance insgesamt, kann Siena, dessen politisches Ideal Lorenzetti hier nicht nur als Maler, sondern als politischer Philosoph5 bearbeitet, in den Gründungszusammenhang eines Modells der europäischen Stadt eingeordnet werden, das bis heute ein distinktes Merkmal des Europäischen in einer urbanen Weltgesellschaft ist.6 Die Fresken können als ein Referenzpunkt von Bemühungen aufgerufen werden, Europa nicht als Summe und nach dem Modell der Nationalstaaten zu entwerfen, sondern ausgehend von seinen Städten und Landschaften, von Kunst und Wissenschaft, die in deren Entwicklung von grundlegender Bedeutung waren. Diese bei Stadt und Urbanität ansetzenden Bemühungen zielen auf einen Möglichkeitsraum des Wissens, den es den anderen Räumen zur Seite zu stellen gilt, in denen eine Vergemeinschaftung von Politik statthat: den europäischen Räumen der Sicherheit und des Rechts, der Politik und der Ökonomie. Europa wird von transversale nicht nur als ein postnationales, sondern nachdrücklich als ein (trans)urbanes Projekt verstanden, das zum einen Fragen nach dem Zusammenhang von Raum, Zeit und Bewegung aufwirft, zum anderen nach dem von Kunst, Wissen und Politik. Erstere sind insbesondere Gegenstände von Choreografie, Letztere grundlegend an die Stadtgesellschaft gebunden. Beide kommen in Lorenzettis Darstellung einer tanzenden Gruppe zusammen, die Teil ist einer Bearbeitung von Raum im Medium der Künste: von Siena und seiner Landschaft. Diese Tanzszene hat zahlreiche Deutungen erfahren: Ihnen gemeinsam ist die Bedeutung von Tanz in der Konstitution und Repräsentation der Stadtgesellschaft – dabei ist es gleich, ob die tanzende Gruppe nun als Verweis auf die Stellung des Theaters im städtischen Leben7, als Symbolisierung des Ideals der Concordia8 oder aber als Darstellung eines Tripudium-Tanzes in den Straßen Sienas ver5 Quentin Skinner, „Ambrogio Lorenzetti. The artist as political philosopher“, in: Proceedings of the british academy 72, 1986, S. 1–56. 6 Peter Hall, Europe’s urban civilisation in a virtual world, Centre de la Cultura Contemporiània de Barcelona, Barcelona 2008; Eric Hobsbowm in conversation with Donald Sasson, The sense of Europe, Centre de la Cultura Contemporiània de Barcelona, Barcelona 2007. 7 U. Feldges-Henning, „The pictoral programme of the ‚sala della pace‘. A new interpretation“, in: Journal of the Warburg and Courtauls Institutes 35, 1972, S. 145–162 8 Max Seidel, „Vanagloria. Studien zur Ikonographie der Fresken des Ambrogio Lorenzetti in der ‚Salla della Pace‘“, in: Städel Jahrbuch, hrsg. v. Herbert Beck, Neue Folge Bd. 16, München 1997, S. 35–90.
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standen wird, der die Tristitia bannt.9 Der von jungen Männern, die, einem Strang der Forschung folgend, die tanzende Gruppe bilden10, aufgeführte Tanz ist Ausdruck von Gaudium, der Freude11, die sich aus der Herrschaft von Justitia ergibt.12 Eine symbolische Deutung des Reigens hingegen, die in der Anordnung der Tanzenden die Initiale der Stadt Siena erkennen will13, sieht im Tanzmotiv die bildliche Repräsentation der Leitidee der Fresken: eben das Ideal der Concordia14, an der das städtische Leben zu orientieren ist, um das Bonum Commune, das Gemeinwohl, zu gewährleisten.15 In welcher der beiden hier kursorisch erinnerten Lesarten auch immer, Lorenzetti hat in seinen Fresken dem Tanz eine zentrale Funktion zugewiesen, sei es als performative Aufführung oder aber als allegorische Darstellung im Zentrum der Stadt, die über ein von ihr aus organisiertes Umland herrscht. Nicht nur das Zusammenleben der Subjekte im Zeichen von Concordia und von Ordinacio16, auch die Ordnung der Räume wird im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit durch die Ausrichtung auf das Bonum Commune geregelt, dem eine normative und ordnende Funktion zukommt.17 Steht das Umland der durch das Bonum Commune bestimmten Stadt zunächst gegenüber, wird diese Opposition mehr und mehr aufgelöst durch das Abstecken eines territorialen und politischen Raums, in dem die das Gemeinwohl konstituierenden Beziehungen in idealer Weise zu entwickeln waren.18 Durch diese Entwicklung ist nicht nur die Stadt, sondern auch die Landschaft auf die tanzende Gruppe als Ausdruck von Gaudium oder Concordia bezogen. Tanz und Choreografie treten als Elemente einer Entwicklung auch von Landschaftsbewusstsein neben die malerische oder zeichnerische Darstellung von Natur, neben die Akte der Vermessung und Grenzziehung in dieser – durch die die städtische Ordo ausgedehnt wird auf ein „neue[s], weitere[s] und besser regulierbare[s] territoriale[s] Gebiet“19 – und neben die Reise, die in Lorenzettis Fresken als Ausritt einer herrschaftlichen Dame angespielt ist, durch den Sienas Contado visuell mit der Stadt verbunden wird. Von dieser Affirmation städtischer Macht in Lorenzettis Fresken könnte die gesichtslose tanzende Gruppe in einem Londoner Einkaufszentrum, die das Coverbild dieses Bandes zeigt, weiter nicht entfernt sein. Der aus Aufnahmen von Überwachungskameras geschnittene Film von Manu Luksch thematisiert die Veränderung des Lebens in den Metropolen, wenn vermeintliche Sicherheitsbedürfnisse des Staates den öffentlichen in einen überwachten Raum verwandeln. Faceless stellt zugleich auch die Frage nach dem Status der Bilder und nach der Arbeit der Filmemacher unter den Bedingungen eines umfassenden Kontrollraums. – Diese Frage ist eine genuin politische und eine ästhetische zugleich, und auch wenn sie in der globalisierten Kunstproduktion einer urbanen Weltgesellschaft ihren Ort findet, ist sie doch zugleich eine spezifisch europäische Frage. Eine normative Orientierung an Concordia oder Gaudium wird in Faceless nicht mehr aufgerufen, doch das Insistieren auf Öffentlichkeit ist eng mit der Frage nach dem Status von Bürgerschaftlichkeit und Gemeinwohl ver9 Quentin Skinner, „Ambrogio Lorenzetti’s Buon Governo Frescoes. Two old Questions, two new answers“, in: Journal of the Warburg and Courtauls Institutes 62, 1999, S. 1–28. 10 Skinners Interpretation hat diese Auslegung durch Jane Bridgman zur Grundlage, die sie entwickelt in ihrem Aufsatz „Ambrogio Lorenzetti’s Dancing ‚Maidens‘. A Case of Mistaken Identity“, in: Apollo 133, 1991, S. 245–252. Vgl. Skinner, „Ambrogio Lorenzetti’s Buon Governo Frescoes, a.a.O., FN 62. 11 Skinner, „Ambrogio Lorenzetti’s Buon Governo Frescoes“, a.a.O., S. 21 12 Ebd., S. 23. 13 Seidel, „Studien zur Ikonographie“, a.a.O., S. 53. 14 Ebd., S. 52 15 Skinner, „The artist as political philosopher“, a.a.O., S. 11. 16 Pierangelo Schiera, „‚Bonum Commune‘ zwischen Mittelalter und Neuzeit. Überlegungen zur substanziellen Grundlage der modernen Politik“, in: Archiv für Kulturgeschichte, hrsg. von Egon Boshof, Köln, Weimar, Wien 1999, S 283–303, hier: S. 295. 17 Ebd., S. 293. 18 Ebd., S. 294. 19 Ebd., S. 295.
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Abb. 3: Filmstill aus Faceless, Regie: Manu Luksch, London 2007.
bunden, die es gegen den Zugriff staatlicher Überwachung zu verteidigen gilt. Ist der Tanz in Lorenzettis Fresken je nach Lesart Allegorie oder Verweis auf die performative Aufführung eines städtischen Ideals, ist er in Lukschs Film ein choreografischer Akt des Widerstandes. Während die tanzende Gruppe aus anonymisierten, gesichtslosen Subjekten dem sie überwachenden Kameraauge entgegengesetzt wird, lässt Luksch die Sprecherstimme verkünden: „In the sanctum, she encompasses past, present and future in a single glance. Visions impel her – faces returned, the city liberated. Reflected in her gaze, the veil of RealTime begins to fall …“20 Am Ende von Faceless steht ein „Massenornament des Informationszeitalters“, das aus Zeilen, Querverweisen und multiplizierten Mustern gebildet wird und das – dem Gefühl, exponiert zu sein, zum Trotz – zugleich auch Ausdruck einer neuen Gemeinschaft ist, die in dieser Choreografie der Wiederaneignung eines kontrollierten Raums zum Ausdruck kommt. Die von The balletboyz choreografierte Szene kann hier stellvertretend aufgerufen werden für tänzerische Raumerkundungen, die sich ebenso wenig mehr auf einen Bühnenraum beschränken lassen, wie ihr Bewegungsrepertoire einzig das des klassischen Balletts oder der Avantgarden wäre. Auf eine weitere (Stadt-)Landschaft bezogen, sind in den Postmodern Dance und eine gegenwärtige Medienkunst vielmehr gerade auch Alltagsbewegungen eingegangen. Beide setzen, wie auch die Werkstattberichte von Chris Ziegler auf der DVD zeigen, mit den erweiterten (Alltags-)Räumen ihrer Präsenz Tanz und Gang, Reise und Denken in enge Verbindung. Zieglers interaktive Installation 66movingimages – die bei einer Fahrt von Chicago nach L. A. ihren Ausgangspunkt nimmt – verbindet Reise und Morphing, Landschafts- und mediale Raumerfahrung. Ergebnis einer amerikanischen Reise, ist sie ebenso eine Ressource für auf Bewegung bezogene Raumkonzepte wie seine von Shakespeares Sommernachtstraum und Ovids Metamorphosen ausgehende Arbeit Forest 2, in der aus der Konstellation verschiedener Künste eine neue Landschaft aus Licht, Sprache und (Tanz-)Bewegung entsteht. Auf beide ist ein Neudenken des Europäischen nicht weniger bezogen als auf Sienas Contado, gerade weil sich die Reise nicht an die geografischen Grenzen des Kontinents hält und die körperliche Bewegung von Fahrt, Gang und Tanz eng mit der medialen Bewegung verknüpft ist. Auf einen Zusammenhang von Reise und Tanz, von Bewegung und Sinn hat früh Siegfried Kracauer verwiesen, auf dessen Analysen des Ornaments der Masse sich Lukschs Arbeit bezieht. Er beschreibt sie als „Lebensäußerungen“, die unter den Bedingungen von Rationalisierung 20 Vgl. den Beitrag in diesem Band.
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Abb. 4: Chris Ziegler, 66movingimages, interaktive Installation/non-linear Film, ZKM Karlsruhe, 1998/2002.
und Mechanisierung grundlegend modifiziert worden seien, auch wenn sie als Schrumpfform anders nicht möglicher Transzendenzerfahrung ein neues Gewicht gewonnen hätten: Die Reise sei zu einem „puren Raumerlebnis“ reduziert worden und ziele nicht mehr, wie noch Goethes Italienfahrt, auf „das bestimmte Sein einer Landschaft“.21 Der Tanz gerate zu einer bloßen „Skandierung der Zeit“ und bringe, so seine pessimistische Diagnose, als „Kult der Bewegung“ keinen „bestimmten Gehalt“ in der Zeit mehr zur Darstellung. Der Jazz etwa, ein Untergang des Sinns, gebärde sich vital, überlasse jedoch das „bloß Lebendige“ sich selbst, und die durch ihn „inaugurierten Gangarten“ drohten zum „nichtssagenden Schritt sich abzuschleifen“.22 Doch das, was Kracauer als einen Untergang von Sinn und Abwesenheit von bestimmtem Sein und Gehalt kritisiert und gegen das er eine Auffassung von (Tanz- und Landschafts-)Kunst als Ausdruck deutlich bestimmter Form in Stellung bringt, ist bereits in den ihm zeitgenössischen Bewegungskünsten selbst weniger als Verlust denn als Öffnung der Möglichkeit eines nichtfixierten Wissens zu studieren.23 Im Informationszeitalter, dessen Modifikationen von Raum und Bewegung Luksch ebenso wie Ziegler thematisiert, sind die neuen Reiselandschaften einer (trans)urbanen Welt an mediale Konstruktion in Film und Fotografie ebenso gebunden wie an das sie im doppelten Wortsinn er-fahrende Subjekt. Bewegungsformen, die Kracauer noch als bloß vitale „Gangarten“ und „nichtssagende Schritte“ erschienen, gewinnen an Bedeutung in gegenwärtiger Medienkunst und im Postmodern Dance. In Zieglers Forest 2 sind sie ebenso wie in Lukschs Faceless als Teil einer wiederständigen Haltung zu beobachten. Ein bestimmtes Sein jedoch und eine geprägte Form haben beide an der Schnittfläche von Architektur, Choreografie und neuen Medientechnologien nicht mehr nötig.
21 Siegfried Kracauer, „Die Reise und der Tanz“, in: ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 1977, S. 40–49, hier: S. 41. 22 Ebd., S. 42. 23 Vgl. zum Verhältnis von Tanz und Wissen: Gabriele Brandstetter, „Tanz als Wissenskultur. Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung“, in: Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke (Hrsg.), Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007, S. 37–48.
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Abb. 5 und 6: Ausschnitte aus dem Video der Theaterinstallation von Chris Ziegler forest 2 – another midsummer night’s dream, Tanz: Friederike Plafki, ZKM Karlsruhe, Karlsruhe 5. September 2009.
Gleich, ob für ein Denken des Europäischen, das sich von den Vorgaben nationalstaatlicher Verfassung freizumachen sucht, die städtischen Ideale der Renaissance, die Verteidigung urbaner Öffentlichkeit oder die Bearbeitung von (Stadt-)Landschaft in zeitgenössischer Medienkunst als Referenzpunkt aufgerufen werden – der Tanz rückt mit ihnen jeweils ins Zentrum des Interesses. Der Rückblick auf die tanzende Gruppe in Lorenzettis Buon-Governo-Fresken und der widerständige Tanz in Lukschs Film Faceless unterstreichen die Bedeutung, die choreografischen Räumen in der europäischen Stadtgesellschaft zukommt, und Ziegler, der für seine „Improvisation Technologies“ eng mit der Forsythe-Company zusammengearbeitet hat, erzeugt (trans)urbane Landschaften aus der Verschränkung körperlicher und medialer Bewegung.24 Choreografische Räume sind nicht alleine auf den Bewegungssinn der sie konstituierenden Subjekte bezogen wie visuelle Räume auf den Seh- und taktile Räume auf den Tastsinn. Sie bleiben an (historische) Erkenntnis, Kritik und Medialität gebunden, wie sie in den hier diskutierten Tänzen und Bewegungsverläufen im Zentrum des Urbanen kenntlich gemacht werden können. Gerade Choreografie – als Aufführung, visuelle Darstellung oder zeichenhafte Notation – erlaubt es in besonderer Weise, einen historisch je spezifischen Zusammenhang von Raum, Zeit und Bewegung zu diskutieren. Die so verschiedenen Beispiele von Lorenzetti, Luksch und Ziegler verdeutlichen, dass in dieser Konstellation zum einen die Dimensionen sinnlicher Erfahrung von Raum und Zeit auf avancierte Medientechnologien bezogen sind, zum anderen Bewegung nicht nur als eine körperliche Bewegung erscheint, sondern immer einen politischen Index mit sich trägt: Die Konstellation von Konstruktion, Bewegung und Politik bestimmt gerade die Ausbildung choreografischer Räume, die in dem Maße an Gewicht gewinnen, wie nationalstaatliche Grenzziehungen in einem (trans)urbanen Europa an Bedeutung verlieren – in einem europäischen Raum des Wissens, der statt an statischen Grenzsetzungen an einer dynamischen Verschränkung von Stadt24 Während sich Ziegler für die Konstellation von Tanz- und Medienraum interessiert und gerade für die Austauschprozesse zwischen beiden, widmet sich der Bildhauer Peter Welz, von dem eine Arbeit mit Forsythe auf der beiliegenden DVD stammt, dem Zusammenhang von Tanzbewegung, Zeichnung und Raum.
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und Reiselandschaften, statt an normativen Begründungen an prozessualen Erkenntnisvollzügen orientiert ist. Die Wendung von transversale weg von einer expliziten Beschäftigung mit dem Europäischen und hin zu einer Befragung von Raum und seiner Verfassung in den Künsten ist zu verstehen als eine Fortsetzung der Kritik an normativen Vorstellungen und Wertbegründungen Europas, wie sie konservativen Apologien des christlichen Abendlandes von der Romantik bis in unsere Tage eigen ist. Zugleich jedoch auch als Korrektur dieser Kritik, die mit diesen Begründungen bisweilen auch die Frage nach dem spezifisch Europäischen verabschiedete. Nach der Kritik des Eurozentrismus im Zeichen einer Globalisierung, in der ein spezifisch Europäisches – gar im Feld der Künste und der Wissenschaften – kaum mehr auszumachen ist, scheinen Bemühungen um eine Konturierung des Europäischen gerade durch eine Konzentration auf diese paradox. Diesen unbestrittenen Tendenzen zum Trotz wird hier aus einer Notwendigkeit der Charakterisierung heraus dennoch an der Frage nach dem Europäischen festgehalten. Gegen Tendenzen zur Nivellierung ist für einen europäischen Raum des Wissens eine Differenzierung zu behaupten und produktiv zu machen, die mit dem Prozess der Erkenntnis selbst verbunden ist. Unterscheidung ist die Devise, mit Blick auf die Binnenbezüge der europäischen Kulturen ebenso wie im globalisierten Maßstab einer Weltgesellschaft und ihrer ubiquitären Subjekte. Es geht dabei keineswegs darum, nur noch historisch interessierende Konzepte nationaler Künste und nationalen Geistes nun durch eine europäische Spielart abzulösen, sondern darum, das Europäische in einem Raum des Wissens neu denkbar werden zu lassen. Als (trans)urbanes ist das europäische Projekt nachgerade auch das Projekt einer räumlichen Reorganisation, die in geopolitischen Mustern alleine nicht hinreichend zu fassen ist, und es ist auch das Projekt einer Dynamisierung von Wissen, das an die Künste und an die Lebenszusammenhänge seiner Akteure gebunden bleibt.25 Lange bevor Europa als politische Organisationsform am Horizont erschien, hatten etwa die deutschen Künstler des 19. Jahrhunderts bereits eine Einheit Europas konzipiert und in ihren eigenen Lebensentwürfen zumindest in Ansätzen vollzogen: als „Anschauungs-, Lebens- und Sehnsuchtsraum“. Neue Blicke auf Europa beförderten nicht nur der politische und theoretische Diskurs, sondern gerade auch die Konjunktur der Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert26, die wie die urbanistischen Entwürfe der Avantgarden und gegenwärtig die Tanz- und Medienkunst zu einem neuen Landschaftsbewusstsein beitrug. Statt nach nationalen Gründungsmythen und -ideologien in einer Ideengeschichte Europas27 – in denen etwa das deutsche Italien- oder EnglandBild formuliert würde – fragt transversale zum einen nach den Praktiken und Funktionen von Raum in den Künsten, zum anderen nach den Darstellungs- und Verlaufsformen von Erkenntnis (nicht zuletzt in diesen selbst). Die ersten beiden Bände von transversale partizipierten mit ihrem spezifischen Interesse an Europa an der Raumdebatte der letzten Jahre. Diese war Thema im ersten Band zunächst in der Konstellation von Abstand und Verständnis, einer der Einheitsutopie seit der Romantik zugehörigen Grundfigur des Europäischen, und dann mit einer Perspektive auf eine lebensweltliche Fundierung in spezifi25 Hierzu auch der Katalog zur Ausstellung Kommentar zu Europa 1994, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien 1994. 26 Peter-Klaus Schuster, Martin Roth und Reinhold Baumstark, „Vorwort“, in: Blicke auf Europa. Europa und die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts, hrsg. v. den Staatlichen Museen zu Berlin, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Ostfildern 2007 (Kat. Ausst.), S. 17–22, hier: S. 18. 27 Vgl. zu einem solchen Ansatz den von Monika Flacke herausgegebenen Band Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München und Berlin 2001. Schlüsseltexte für die deutsche Literaturgeschichte können studiert werden in Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, Frankfurt am Main 1994.
EINFÜHRUNG ZU TRANSVERSALE UND DVD
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schen Erfahrungshorizonten.28 Nun wird Raum Gegenstand mit Blick auf die Bedeutung des Zusammenhangs von Konstruktion, Bewegung und Politik für seine Konstitution und mit einer spezifischen Ausrichtung, die der Titel anzeigt: Der Band Raum in den Künsten unterscheidet sich in dieser Pointierung seines Themas von kulturwissenschaftlichen und soziologischen Spielarten des Raumdiskurses. Einen spatial turn, eine raumtheoretische Wende wie die Kulturwissenschaften scheinen die Künste, die hier zur Sprache gebracht werden, nicht notwendig gehabt zu haben: Sie sind Fragen der Räumlichkeit immer schon zugewandt, und politisch-gesellschaftliche Konflikte werden in ihnen selbst und nicht ex posteriori ausgetragen.29 Auch deshalb sind unter der Überschrift „Raum in den Künsten“ nicht nur theoretische Beiträge über diese versammelt, sondern gerade auch künstlerische Positionen, die mit Raum in ihrem jeweiligen Medium umgehen. Neben die Frage nach gegenwärtigen Konzeptionen von Raum traten von Beginn an die Frage nach Praktiken der Erkenntnis und die nach den Darstellungsformen eines prozessualen Wissens, denen die ersten beiden Bände durch die grafische Gestaltung, dieser nun vorgelegte durch die Konstellation von Buch und DVD gerecht zu werden suchen. Bemühungen um einen Möglichkeitsraum des Wissens setzen auf eine Neugier der Erkundung – die im Wortsinn die forschende Reise meint und die Verpflichtung, nach Rückkehr von dem Erfahrenen zu berichten, Kunde zu geben. Sie wird durchaus in einem emphatischen Sinn gegen eine festgefügte Wissensordnung nationaler Kulturen gesetzt, die in Akademie und Nationalmuseum, Pantheon und Walhalla petrifizieren.30 Transversale, die experimentelle Ausdrucks- und Darstellungsformen ermutigen möchte, sieht sich in der Tradition von Zeitschriften wie Europa, einem 1925 von Carl Einstein und Paul Westheim herausgegebenen Almanach der künstlerischen Avantgarden, in dem diese nicht die kulturellen Unterschiede Europas diskutierten, sondern seine künstlerische Produktion in einer Vielstimmigkeit präsentierten, die gerade mit Blick auf Fragen des Raums einen losen Rahmen fand: So stand hier El Lissitzkys „Pangeometrie“ neben Gides Überlegungen zu „Europas Zukunft“ und Le Corbusiers „Architekturwende“ neben Schlemmers „Kostümtanz“, französischer Kubismus neben deutschem Expressionismus, Landschaftsmalerei neben Skulptur und Architektur.31 Transversale setzt auf Medien, in denen verschiedene Gegenstände in freier Wahlverwandtschaft nebeneinander platziert werden können, und insistiert methodisch auf dem Eigensinn der Kunst- und Wissenskulturen ebenso wie auf der Diversität der lebensweltlichen Erfahrung ihrer Agenten. Auf der DVD finden sich nicht nur ergänzende Materialien zu den Texten des Buchs und künstlerische Beiträge, auf die diese sich beziehen. Vorgestellt werden im vierten Kapitel Arbeiten, die wie die anderen an Buchbeiträge gebundenen Künstlerarbei28 Vgl. Anm. 1. 29 Zu diesem: Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; Sigrid Weigel, „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte der Kulturwissenschaften“, in: KulturPoetik 2, 2002, H. 2, S. 151–165; Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2006; Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001; Rudolf Maresch und Niels Werber (Hrsg.), Raum Wissen Macht, Frankfurt am Main 2002. Mit Blick auf die Künste vgl. Michael Diers, Angela Lammert, Robert Kudielka und Gert Mattenklott (Hrsg.), Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart, Berlin und Nürnberg 2004. 30 Zum Bildprogramm des Treppenaufgangs in der Alten Nationalgalerie Berlin vgl. etwa Moritz Wullen, Die Deutschen sind im Treppenhaus, Köln 2002. 31 Europa Almanach 1925, Reprint Leipzig 1993. Der Titel des Kompendiums könnte auf Friedrich Schlegels in seiner Pariser Zeit (1802–1804) redigierte Zeitschrift Europa verweisen, in deren Titel wiederum Novalis’ Essay „Die Christenheit oder Europa“ von 1799 aufscheint. Schlegels Zeitschrift ist die konservativ-reaktionäre Ausprägung der Bemühung darum, der romantischen Bewegung einen europäischen Horizont zu geben. Europa – mit Paris als dem unbestrittenen kulturellen Zentrum – wird hier zu einem „Erlebnismedium“ der angestrebten Vielfältigkeit und Inbegriff dessen, was Schlegel im Kulturellen zu verwirklichen strebt: einen neuen Mittelpunkt des Bewusstseins, zu dem die politische Europaidee nur ein Seitentrieb ist (Europa. Eine Zeitschrift, hrsg. v. Friedrich Schlegel, Reprint mit einem Nachwort von Ernst Behler, Stuttgart 1963).
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ten (Romeo Castellucci, Anna Huber/Fritz Hauser, Caroline Höfler, Oliver Korte/Werner Gasser, Martin Nachbar/Jochen Roller, Tino Schädler, Tariq Teguia, Junko Wada/Hans Peter Kuhn, Peter Welz) spezifische Erkundungen von Raum und Bewegung sind: Neben den schon angesprochenen Videos des Medienkünstlers Chris Ziegler, der in zwei Werkstattberichten seine Arbeit an der Schnittstelle von körperlicher Bewegung und medialer Konstruktion erläutert, steht eine Arbeit der Choreografin Mara Kurotschka, die in ihrem Film Beijing moves eine choreografische Matrix der Stadt Peking erforscht. Danach, wie Reisebewegungen in literarischen Formen symbolisch gefasst werden können, fragt Markus Messling in seinen Prosastücken und erkenntnistheoretischen Gedichten, die seinen Essay „Reiseleben“ fortsetzen. Nach Aufenthalten in Ägypten entstanden, werden sie in Konstellation mit Arbeiten des Fotografen Tristan Siegmann präsentiert. Bewusst führen diese und andere auf der DVD präsentierte Reisewege nicht mehr, wie noch zu Zeiten der Bildungsreisen in den Süden um 1800, über den europäischen Kontinent, sondern sind Teil einer Befragung seiner Konturen gerade in Differenzerfahrung und einer Fernstellung des Blicks, die spätestens seit den Avantgarden Teil der Reflexion des Europäischen sind. Die Elemente, auf die Landschaft ihren medialen Transformationen zum Trotz bezogen bleibt, kommen mit einer Arbeit des Bildhauers und Zeichners Benjamin Hochart in den Blick: Er kommentiert ein mit der Objekt- und Videokünstlerin Sarah Tritz gemeinsam produziertes Feuer-Video sowie die Bedeutung einer raumbildenden Bewegung für seine Arbeit. Nicht zufällig wurde in die von Torsten Jahnke entworfene Benutzeroberfläche der DVD eine grafische Landschaft eingefügt, die aus einem Netz beweglicher Linien gebildet wird. In diese eingeordnet sind Begriffe, die jedoch keinen Index ergeben, sondern Aspekte markieren, die für die Konturierung einer von der Bewegung – des Geistes und des Körpers, der Wahrnehmung und der Medien – aus konturierten Räumlichkeit von besonderem Gewicht sind und in den Beiträgen des Bandes auf durchaus unterschiedliche Weise diskutiert werden: Anschauungsform (Kant), Boden, Choreografie, Digitalität, Deleuze, Dynamisierung, Fortbewegung, Haptik, Innen/Außen, Kinetik, Landschaft, Linie, Nähe/Ferne, Narration, Phänomenologie, Politik, Psychologie (der Wahrnehmung), Synästhesie, Überkreuzung der Künste, Ort/Raum, Zeit. Durch diese thematischen Schlüsselbegriffe werden die Beiträge in einer anderen Weise als in der Abfolge des Inhaltsverzeichnisses erschlossen und zu einer Textlandschaft verbunden, durch die der Leser als Ergänzung zu seiner Buchlektüre navigieren kann.