Raum, Gott, Gravitation: Eine Untersuchung zum Verhältnis von Wissenschaft und Metaphysik anhand des ‚absoluten Raumes‘ von Newton über Kant zu Fries 3515117806, 9783515117807

Die Principia Isaac Newtons (1643–1727) gelten als zentraler Beitrag zur klassischen Mechanik. Eine nähere Betrachtung z

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German Pages 279 [286] Year 2018

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DANKSAGUNG
INHALTSVERZEICHNIS
1 EINLEITUNG
1.1 PHYSIKALISCH-SYSTEMATISCHER HINTERGRUND DER RAUMDEBATTE
1.2 KRITERIEN DER KLASSISCHEN UND MODERNEN WISSENSCHAFT
1.3 DIE LEITFRAGEN DER ARBEIT
1.4 GOTT/VERNUNFT, RAUM UND GRAVITATION
1.5 FORSCHUNGSSTAND UND STRUKTUR DER ARBEIT
2 NEWTONS RAUMKONZEPTION
2.1 VERORTUNG DES RAUMES IM DENKEN NEWTONS
2.2 DER RAUM ALS GRUNDLAGE DER BEWEGUNGSKONZEPTION
2.2.1 Der Status des Raumes
2.2.2 Newtons Bewegungskonzeption
2.2.3 Die Eigenschaften, Wirkungen und Ursachen wahrer Bewegung
2.2.4 Empirische Bestimmung wahrer Bewegung
2.2.5 Der absolute Raum in seinem Verhältnis zu den Korollarien
2.2.6 Newtons kosmologische Lösung
2.2.7 Zusammenfassung und Ausblick
2.3 ZUR METAPHYSISCH-THEOLOGISCHEN SEITE DES RAUMES
2.3.1 Das Verhältnis von Religion und Naturphilosophie bei Newton
2.3.2 Die Kritik der cartesianischen Bewegungslehre in De Gravitatione
2.3.3 Metaphysische Fundierung und Eigenschaften des Raumes
2.3.4. Der epistemologische Status des Raumes und das Substanz-Akzidenz-Schema
2.3.5 Der Raum und Newtons mathematischer Realismus
2.3.6 Der Raum als Grenzbegriff
2.4 SYSTEMATISCHE ZUSAMMENFASSUNG DER NEWTONSCHEN RAUMKONZEPTION
3 ZENTRALE KRITIKER IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 18. JAHRHUNDERTS
3.1 LEIBNIZ IN DER DEBATTE MIT CLARKE (1715–1716)
3.1.1 Leibniz’ Kritik der newtonschen Raumkonzeption
3.1.2 Leibniz’ Gegenkonzeption
3.1.3 Clarkes Erwiderung
3.1.4 Systematische Zusammenfassung der Debatte
3.2 BERKELEYS KRITIK DES NEWTONSCHEN RAUMES
3.2.1 Treatise (1710)
3.2.2 De Motu (1721)
3.2.3 Systematische Diskussion der berkeleyschen Kritik
3.3 EULERS PLÄDOYER FÜR EINEN ABSOLUTEN RAUM
3.3.1 Mechanica (1736)
3.3.2 Reflexionen über Raum und Zeit (1748)
3.3.3 Theoria Motus (1765)
3.3.4 Zum Trägheitsgesetz bei Euler
3.3.5 Systematische Beurteilung der eulerschen Diskussion des absoluten Raumes
4 KANTS RAUMKONZEPTION
4.1 DER WEG ZUR KRITISCHEN RAUMLEHRE
4.1.1 Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746)
4.1.2 Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755)
4.1.3 Nova dilucidatio (1755)
4.1.4 Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (1758)
4.1.5 Vom ersten Unterschiede der Gegenden im Raum (1768)
4.1.6 Eine Notiz zu Kants Raumdiskussion im stillen Jahrzehnt
4.1.7 Zusammenfassung der Untersuchung zur vorkritischen Phase
4.2 DER RAUM IN KANTS KRITISCHER PHILOSOPHIE (AB 1781)
4.2.1 Der Raum in Kants theoretischem Hauptwerk
4.2.2 Der Raum in den MAN
4.3 SYSTEMATISCHE ZUSAMMENFASSUNG DER KANTISCHEN RAUMKONZEPTION
5 FRIES’ RAUMKONZEPTION
5.1 FRIES’ NEWTONREZEPTION UND SEIN VERHÄLTNIS ZUR PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT
5.1.1 Biografische Skizze zu Fries
5.1.2 Fries’ Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft seiner Zeit
5.1.3 Fries’ Newtonrezeption
5.1.4 Der Raum in der Anthropologischen Kritik der Vernunft
5.2 DER RAUM IN DER MATHEMATISCHEN NATURPHILOSOPHIE
5.2.1 Naturbegriffe und Ideen bei Fries
5.2.2 Ziel und Inhalt der Mathematischen Naturphilosophie
5.2.3 Die Raum- und Bewegungslehre in der Mathematischen Naturphilosophie
5.3 ZUSAMMENFASSUNG DER FRIESSCHEN RAUM- UND BEWEGUNGSKONZEPTION
6 FAZIT UND AUSBLICK
BIBLIOGRAPHIE
ZITIERWEISE UND ABKÜRZUNGEN DER WERKE
ABKÜRZUNGEN DER ZEITSCHRIFTEN
LITERATURVERZEICHNIS
REGISTER
PERSONENREGISTER
SACHREGISTER
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Raum, Gott, Gravitation: Eine Untersuchung zum Verhältnis von Wissenschaft und Metaphysik anhand des ‚absoluten Raumes‘ von Newton über Kant zu Fries
 3515117806, 9783515117807

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Erdmann Görg

Raum, Gott, Gravitation Eine Untersuchung zum Verhältnis von Wissenschaft und Metaphysik anhand des ‚absoluten Raumes‘ von Newton über Kant zu Fries

Wissenschaftsgeschichte Franz Steiner Verlag

Boethius – 70

Erdmann Görg Raum, Gott, Gravitation

b oet h ius Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften Begründet von Joseph Ehrenfried Hofmann, Friedrich Klemm und Bernhard Sticker Herausgegeben von Menso Folkerts und Richard L. Kremer Band 70

Erdmann Görg

Raum, Gott, Gravitation Eine Untersuchung zum Verhältnis von Wissenschaft und Metaphysik anhand des ‚absoluten Raumes‘ von Newton über Kant zu Fries

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11780-7 (Print) ISBN 978-3-515-11783-8 (E-Book)

DANKSAGUNG Die vorliegende Arbeit wurde im April 2015 fertiggestellt und für die Drucklegung an einigen Stellen redigiert. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Helmut Pulte für seine überaus konstruktive und engagierte Betreuung sowie seine Offenheit und Diskussionsbereitschaft gegenüber meinen Ideen. Herrn Prof. Dr. Gregor Schiemann bin ich sehr dankbar für die Übernahme des Zweitgutachtens und die wertvollen Hinweise. Erste Gedanken zu der vorliegenden Arbeit entstanden an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. PD Dr. Temilo van Zantwijk und Prof. Dr. Gottfried Gabriel bin ich dankbar für ihre Unterstützung und dafür, dass sie mich ermuntert haben, diese Ideen im Rahmen einer Doktorarbeit zu verfolgen. Den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte danke ich für ihre fachliche und menschliche Unterstützung bei der Verfassung dieser Arbeit. Namentlich sind dies: Dr. Jan Baedke, Benedikt Fait, Maria Sojka, Maria Wargin sowie die ehemaligen Lehrstuhlmitglieder PD Dr. Michael Anacker, Matthias Büscher, Dr. Janelle Pötzsch und Dr. Tobias Schöttler. Zahlreiche Gedanken der vorliegenden Arbeit durfte ich auf internationalen Tagungen und Workshops vorstellen, u. a. in Athen, Helsinki, Bukarest und Gent. Dies wurde mir dankbarerweise durch die Unterstützung der Research School Bochum ermöglicht. Des Weiteren gilt mein Dank Meike Schlumberger, Stefan Radl, Dr. Simone Heinemann, PD Dr. Stefan Rosemann und Taya Bilimava für fruchtbare Diskussionen und kritische Hinweise. Besonders dankbar bin ich Marcel Levermann für die Schlusskorrektur meines Manuskripts. Zuletzt möchte ich Tilman, Karin, Sophie und Mathis Görg für ihre ideelle und emotionale Unterstützung danken. Diese Arbeit widme ich meinen Großeltern. Bochum, August 2018

Erdmann Görg

INHALTSVERZEICHNIS 1

EINLEITUNG .................................................................................... 9

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Physikalisch-systematischer Hintergrund der Raumdebatte ............ 10 Kriterien der klassischen und modernen Wissenschaft .................... 16 Die Leitfragen der Arbeit ................................................................. 20 Gott/Vernunft, Raum und Gravitation .............................................. 23 Forschungsstand und Struktur der Arbeit ......................................... 24

2

NEWTONS RAUMKONZEPTION ................................................ 29

2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3

Verortung des Raumes im Denken Newtons .................................... 30 Der Raum als Grundlage der Bewegungskonzeption ....................... 33 Der Status des Raumes ..................................................................... 36 Newtons Bewegungskonzeption....................................................... 38 Die Eigenschaften, Wirkungen und Ursachen wahrer Bewegung ......................................................................................... 40 Empirische Bestimmung wahrer Bewegung .................................... 44 Der absolute Raum in seinem Verhältnis zu den Korollarien .......... 45 Newtons kosmologische Lösung ...................................................... 47 Zusammenfassung und Ausblick ...................................................... 50 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes ......................... 51 Das Verhältnis von Religion und Naturphilosophie bei Newton.............................................................................................. 53 Die Kritik der cartesianischen Bewegungslehre in De Gravitatione ................................................................................ 57 Metaphysische Fundierung und Eigenschaften des Raumes ............ 63 Der epistemologische Status des Raumes und das SubstanzAkzidenz-Schema ............................................................................. 66 Der Raum und Newtons mathematischer Realismus ....................... 68 Der Raum als Grenzbegriff............................................................... 70 Systematische Zusammenfassung der newtonschen Raumkonzeption ............................................................................... 72

2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4. 2.3.5 2.3.6 2.4

3

ZENTRALE KRITIKER IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 18. JAHRHUNDERTS .......................................................................... 75

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3

Leibniz in der Debatte mit Clarke (1715–1716) ............................... 76 Leibniz’ Kritik der newtonschen Raumkonzeption .......................... 77 Leibniz’ Gegenkonzeption ............................................................... 82 Clarkes Erwiderung .......................................................................... 84

6

Inhaltsverzeichnis

3.1.4 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5

Systematische Zusammenfassung der Debatte ................................. 88 Berkeleys Kritik des newtonschen Raumes...................................... 90 Treatise (1710) ................................................................................. 91 De Motu (1721) ................................................................................ 95 Systematische Diskussion der berkeleyschen Kritik ........................ 99 Eulers Plädoyer für einen absoluten Raum..................................... 102 Mechanica (1736) ........................................................................... 103 Reflexionen über Raum und Zeit (1748) ......................................... 104 Theoria Motus (1765) ..................................................................... 110 Zum Trägheitsgesetz bei Euler ....................................................... 113 Systematische Beurteilung der eulerschen Diskussion des absoluten Raumes ........................................................................... 116

4

KANTS RAUMKONZEPTION..................................................... 120

4.1 4.1.1

Der Weg zur kritischen Raumlehre ................................................ 123 Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746).............................................................................................. 123 Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755).............................................................................................. 126 Nova dilucidatio (1755) .................................................................. 127 Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (1758) ....................... 130 Vom ersten Unterschiede der Gegenden im Raum (1768) ............. 132 Eine Notiz zu Kants Raumdiskussion im stillen Jahrzehnt ............ 136 Zusammenfassung der Untersuchung zur vorkritischen Phase ...... 138 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781) ..................... 139 Der Raum in Kants theoretischem Hauptwerk ............................... 139 Der Raum der transzendentalen Ästhetik ....................................... 139 Widerlegung des Idealismus ........................................................... 149 Der Raum in den MAN ................................................................... 153 Einordnung der MAN ...................................................................... 153 Phoronomie ..................................................................................... 161 Dynamik ......................................................................................... 166 Mechanik ........................................................................................ 170 Phänomenologie ............................................................................. 175 Der absolute Raum als Idee der Körperlehre.................................. 183 Diskussion der kantischen Konzeption........................................... 187 Systematische Zusammenfassung der kantischen Raumkonzeption ............................................................................. 193

4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.2 4.2.1 4.2.1.1 4.2.1.2 4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 4.2.2.3 4.2.2.4 4.2.2.5 4.2.2.6 4.2.2.7 4.3

5

FRIES´ RAUMKONZEPTION ...................................................... 198

5.1

Fries’ Newtonrezeption und sein Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft ................................................................................... 198 Biografische Skizze zu Fries .......................................................... 199

5.1.1

Inhaltsverzeichnis

5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.3.1 5.2.3.2 5.2.3.3 5.2.3.4 5.3

6

Fries’ Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft seiner Zeit ................................................................................................. 201 Fries’ Newtonrezeption .................................................................. 204 Der Raum in der Anthropologischen Kritik der Vernunft .............. 207 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie ..................... 212 Naturbegriffe und Ideen bei Fries ................................................... 212 Ziel und Inhalt der Mathematischen Naturphilosophie .................. 215 Die Raum- und Bewegungslehre in der Mathematischen Naturphilosophie ............................................................................ 219 Phoronomie ..................................................................................... 220 Dynamik ......................................................................................... 228 Mechanik ........................................................................................ 233 Phänomenologie ............................................................................. 237 Zusammenfassung der friesschen Raum- und Bewegungskonzeption ...................................................................................... 241 FAZIT UND AUSBLICK .............................................................. 249 BIBLIOGRAPHIE.......................................................................... 258 Zitierweise und Abkürzungen der Werke ....................................... 258 Abkürzungen der Zeitschriften ....................................................... 260 Literaturverzeichnis ........................................................................ 261 REGISTER ..................................................................................... 274 Personenregister.............................................................................. 274 Sacheregister ................................................................................... 276

7

1 EINLEITUNG Das Thema dieser Arbeit ist Isaac Newtons (1643–1727) absoluter Raum und die Kritik dieser Konzeption durch Immanuel Kant (1724–1804) und Jakob Friedrich Fries (1773–1843). Kants Transformation des absoluten Raumes bildet einen Schwerpunkt der Kantforschung der letzten Jahre, wohingegen der Philosoph, Physiker und Mathematiker Fries noch nicht die nötige Aufmerksamkeit erhalten hat. Dies gilt insbesondere für seine Kritik des newtonschen Raumes. Da die friessche Naturphilosophie in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance erfährt, schlägt diese Untersuchung eine Brücke zwischen den sich entwickelnden Forschungsbereichen und erweitert die aktuelle Debatte. Die Diskussionen um Newtons absoluten Raum sind so alt wie die Philosophiae Naturalis Principia Mathematica1 (1687) selbst. Dabei dominiert im achtzehnten und in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine philosophische Kritik, die mit Verzögerung ein naturwissenschaftliches Echo findet. Spätestens seit der speziellen Relativitätstheorie gilt die Vorstellung eines absoluten Bezugssystems als überholt. Für den Wissenschaftstheoretiker und -historiker liegt das Interesse an der Theorie des absoluten Raums und seiner Kritik durch Kant deshalb auf der Hand: Auf der einen Seite ist die klassische Mechanik das Paradebeispiel einer wissenschaftlichen Disziplin, zu deren Entwicklung und Etablierung Newton wesentlich beigetragen hat. Auf der anderen Seite ist Kant einer der prominentesten und einflussreichsten Kritiker des newtonschen Raumes. Hinzu kommt jedoch eine thematische Eigenart dieser Konzeption, die in ihrer weitreichenden Konsequenz noch nicht ausreichend durch die Forschung erschlossen wurde, ja zum Teil absichtlich vernachlässigt wird: die Vielschichtigkeit der Raumfrage. Newton entwirft seine Raumkonzeption im Spannungsfeld von physikalischen, philosophischen, mathematischen und theologischen Debatten. Ein Verdienst der Debatten im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert um die Grundlagen der Mechanik ist

1

Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica wird im Folgenden als Principia abgekürzt. Im Falle von eingerückten Zitaten wird sie nach der Übersetzung von Cohen und Whitman zitiert. Es handelt sich bei ihr um die adäquateste verfügbare Übertragung ins Englische. Mit ihrem Erscheinen verdrängte sie die Übersetzung durch De Motte aus dem Jahr 1729 und wird im Allgemeinen in der aktuellen Newtonforschung verwendet. Um sprachliche Kontinuität zu gewährleisten, wird im Fließtext auf die deutsche Übersetzung von Schüller zurückgegriffen. Diese zeichnet sich gegenüber der Ausgabe von Cohen und Whitman durch ihren philologischen Anspruch aus und orientiert sich dichter am lateinischen Originaltext. In der Regel übernehme ich einzelne Termini aus der Ausgabe von Schüller (so z. B. Scholion statt Scholium). Um wichtige Begriffe genauer zu bestimmen, werden mitunter beide Übersetzungen herangezogen.

10

1 Einleitung

es jedoch, die dabei entstehenden Probleme herausgearbeitet und z. T. gelöst zu haben. Anstatt dies zu sehen und das damit einhergehende wissenschaftstheoretische Potential der Raumfrage auszuschöpfen, gibt es in der Forschung die Tendenz, über die internen Spannungen im newtonschen Werk hinwegzugehen und die Bedeutung der nachnewtonschen Naturphilosophie zu unterschätzen. Dem will sich diese Arbeit entgegenstellen. Anhand einer Analyse der Rezeption und Transformation des absoluten Raumes soll sie einen Beitrag zum Verständnis der Wechselwirkung von Metaphysik und Naturwissenschaft liefern. Es soll genauer betrachtet werden, wie sich beide Bereiche ausdifferenzieren und sich gegeneinander abgrenzen. Dies macht eine Analyse der Position Fries’ so interessant. Fries ist ein früher Anhänger Kants, der in kritischer Distanz dessen Lehre weiter ausarbeitet. Einer seiner Schwerpunkte liegt auf der Erweiterung der kantischen Naturphilosophie, wobei er ein feines Gespür für die philosophischen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit beweist. Sein Ziel ist es, zentrale Gedanken Kants an die sich verändernde Wissenschaftslandschaft anzupassen. Dies gilt insbesondere für seine Weiterentwicklung der kantischen Kritik des newtonschen Raumes. In dieser Einleitung sollen die Leitfragen der Untersuchung anhand physikalischer und philosophischer Vorüberlegungen entwickelt werden. Zunächst werden dafür die physikalischen Probleme einer Raum- und Bewegungskonzeption der klassischen Mechanik herausgearbeitet (1.1). Daraufhin gilt es, eine übergeordnete philosophische Systematik darzulegen, anhand derer sich die Raumkonzeptionen Newtons, Kants und Fries’ analysieren lassen (1.2). Daraus ergeben sich die Leitfragen (1.3) und die systematische Trias (1.4) der Untersuchung. Zuletzt wird das konkrete Vorgehen mit Bezug auf den aktuellen Forschungsstand skizziert (1.5).

1.1 PHYSIKALISCH-SYSTEMATISCHER HINTERGRUND DER RAUMDEBATTE Für Kant und Fries sind Newtons Principia das Werk, das die Mechanik in den Status einer Wissenschaft erhoben hat. Während Kant und Fries die Physik der Principia weitgehend anerkennen, gilt ihre Kritik den metaphysischen Grundlagen des newtonschen Hauptwerks. Das erklärte Ziel von Kants Metaphysische Anfangsgründen der Naturwissenschaft2 und Fries’ Mathematische[r] Naturphilosophie3 ist es deshalb, das metaphysische Fundament der Principia zu ersetzen. Zentrale Grundkonzeptionen der Principia wie das Gravitationsgesetz, die Konstitution der Materie und das Wesen des Raumes werden deshalb revidiert. Dabei soll die Mechanik Newtons jedoch weiterhin ihre Gültigkeit behalten. 2 3

Kants Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft werden im Folgenden als MAN abgekürzt. Fries’ Mathematische Naturphilosophie wird im Folgenden als MN abgekürzt.

1.1 Physikalisch-systematischer Hintergrund der Raumdebatte

11

Einer der zentralen Kritikpunkte Kants und Fries’ ist Newtons absoluter Raum. Innerhalb der Mechanik Newtons kommt ihm eine wichtige erklärende Funktion zu. Um die Gültigkeit der Mechanik zu gewährleisten, muss es Kant und Fries deshalb gelingen, den newtonschen Raum adäquat zu ersetzen. So begründet Newton z. B. das Auftreten der Zentrifugalkraft am Verhältnis einer Bewegung zum absoluten Raum. Um Kants und Fries’ Alternativkonzeptionen zu beurteilen, muss geklärt werden, inwiefern es ihnen gelingt, ohne Rückgriff auf Newtons Raum Zentrifugalkräfte zu erklären. Im Folgenden gilt es, die physikalischen Probleme zu untersuchen, denen sich eine Raumkonzeption der klassischen Mechanik stellen muss. Man betrachte zunächst ein Inertialsystem S, d. h. ein Bezugssystem, in dem sich ein kräftefreier Körper geradlinig-gleichförmig bewegt.4 In diesem System gelten die drei Bewegungsgesetze. Sie lauten: 1. Das Trägheitsprinzip Ein Körper verharrt in Ruhe oder geradliniger und gleichförmiger Bewegung, solange keine Kraft auf ihn wirkt

r p = const. für ⃑ = 0. r

r

Wobei p der Impuls ist und F die Kraft, die auf einen Körper wirkt.

2. Das Aktionsprinzip Die auf einen Körper wirkende Kraft ist gleich der zeitlichen Änderung seines Impulses ⃑ = ⃑. Der Punkt über dem Impuls symbolisiert die Zeitableitung.

3. Das Reaktionsprinzip

r Jede Kraft F 12 eines Körpers 1 auf einen anderen Körper 2 führt gleichzeitig zu r einer gleich großen, in die entgegengesetzte Richtung wirkenden Kraft F 21 des Körpers 2 auf den Körper 1

4

Für die physikalischen Herleitungen vgl. im Folgenden Stephani / Kluge 1995, S. 43–48.

12

1 Einleitung



=−⃑

Diese Gesetze gelten in dem oben genannten Inertialsystem S. Daraus ergibt sich die Frage, wie ein Inertialsystem erkannt werden kann. Die genannten Bewegungsgesetze sind Abstraktionen. So gibt es bspw. streng genommen keine kräftefreien Körper, da alle Körper mit anderen Körpern wechselwirken. Wie lässt sich dann aber ein Inertialsystem bestimmen? Im Weiteren soll untersucht werden, inwiefern sich die oben für ein Inertialsystem aufgestellten Bewegungsgesetze auf andere Bezugssysteme übertragen lassen. Dies kann anhand einer Koordinatentransformation zwischen S und einem anderen Bezugssystem S’ geklärt werden. Das System S habe die Einheitsvektoren ⃑ , ⃑ und ⃑ . Der Ort eines beliebigen Körpers ist dann gegeben durch ⃑ = (x, y, z) = x ∙ ⃑ + y ∙ ⃑ + z ∙ ⃑ S’ sei ein anderes, zum Inertialsystem Sr rotierendes oder r translativ bewegtes Ber zugssystem mit den Einheitsvektoren ex , e y und e z ' . Für die Ortsvektoren beider Systeme gilt dann ⃑ =⃑ +⃑.

Die Geschwindigkeit ⃑(t) eines Körpers als Ableitung des Ortsvektors ⃑ der Zeit t transformiert sich von S nach S’ dann gemäß

nach

1.1 Physikalisch-systematischer Hintergrund der Raumdebatte

⃑= ⃑ = ⃑+ =⃑ +

∙ ⃑′ +

∙ ⃑′ +

∙ ⃑′ +

13

⃑ ∙ ⃑′ +

∙ ⃑′ +

∙ ⃑′ .

Man definiere nun die Winkelgeschwindigkeit des Bezugssystemsystems S’ zu S als ⃑ × ⃑

=

∙ ⃑′ +

∙ ⃑′ +

∙ ⃑′ . Es gilt

⃑= ⃑ + ⃑ + ⃑ × ⃑ . Gemäß diesem Zusammenhang lässt sich die Geschwindigkeit ⃑ von einem System S in ein anderes System S’ transformieren. Das nochmalige Differenzieren führt zur Transformation der Beschleunigung ⃑ = ⃑ = ⃑ +2 ⃑× ⃑ + ⃑×

⃑× ⃑ + ⃑ .

Hiervon lässt sich gemäß dem zweiten Gesetz der Mechanik ( ⃑ = ⃑ = # ∙ ⃑ auf die Transformation der Kräfte zwischen diesen Bezugssystemen schließen: ⃑ = # ∙ ⃑ + 2# ∙ ⃑ × ⃑ + # ∙ ⃑ × ⃑′ + # ∙ ⃑ ×

⃑ × ⃑′ + ⃑ .

Das heißt, dass beim Übergang von S nach S’ die folgenden Kräfte eingeführt werden müssen: Rotation von S’ gegenüber S Zentrifugalkraft: # ∙ ⃑ × ⃑ × ⃑′ Corioliskraft: 2# ∙ ⃑ × ⃑ Eulerkraft: # ∙ ⃑ × ⃑′

Translative Beschleunigung von S’ gegenüber S #∙ ⃑

Diese Kräfte werden Scheinkräfte genannt, da sie lediglich durch die ‚falsche‘ Koordinatenwahl auftreten. Anhand geeigneter Transformationen können solche

14

1 Einleitung

Scheinkräfte, anders als bspw. in der klassischen Mechanik die Gravitationskraft, eliminiert bzw. durch die Trägheitsbewegung eines Körpers erklärt werden. r r Für nicht rotierende ( r  0r) und translativ nicht beschleunigte ( &r&0  0 ) Ber r && && zugssysteme r rgilt: F  m  r '  F ' . Die Differentialgleichung r0  0 wird erfüllt r ( t ) v t c    durch 0 0 , d. h., wenn die Bezugssysteme sich geradlinig-gleichförmig zueinander bewegen. Ein solches Bezugssystem S*, das sich zu S geradliniggleichförmig bewegt, ist ebenfalls ein Inertialsystem. Es existiert somit eine Klasse von Inertialsystemen, in denen sich kräftefreie Körper gemäß dem ersten Gesetz der Mechanik verhalten. Diese Systeme sind ‚kräftekonservierend‘ zueinander in dem Sinne, dass die Kräfte in einem Inertialsystem S nach der Transformation in S* erhalten bleiben. Also gelten die oben genannten drei Gesetze der Mechanik für alle Inertialsysteme. Diese Eigenschaft wird als Galileiinvarianz bezeichnet. Bei einer Transformation von einem Inertialsystem in ein NichtInertialsystem müssen hingegen die oben genannten Scheinkräfte aufgrund der ‚falschen‘ Koordinatenwahl eingeführt werden. Während in einem Inertialsystem S nur ‚tatsächlich vorhandene‘ Kräfte auftauchen, z. B. die Kraft einer gespannten Feder, müssen in einem Nicht-Inertialsystem Kräfte eingeführt werden, die es eigentlich ‚nicht gibt‘.5 Aus der Galileiinvarianz ergibt sich ein weiteres Problem: Die Geschwindigkeit, die einem Körper zugeschrieben wird, ist vom gewählten Inertialsystem abhängig. Dies gilt bspw. nicht für die Beschleunigung eines Körpers, die ja aus der Wirkung von Kräften resultiert. Ob ein Körper ruht oder sich geradliniggleichförmig bewegt, ist zumindest gemäß den Bewegungsgesetzen lediglich eine Frage des gewählten Inertialsystems. Die geradlinige-gleichförmige Bewegung eines Körpers bringt keine Effekte hervor. Eine wichtige Frage ist jedoch, inwieweit einem Körper unabhängig vom gewählten Inertialsystem eine tatsächliche Geschwindigkeit oder sogar ein tatsächlicher Ort zukommt? Auch wenn diese tatsächliche Geschwindigkeit – man kann sie mit Newton auch absolute Geschwindigkeit nennen – nicht messbar ist, stellt sich die Frage, ob es nicht dennoch eine solche Geschwindigkeit gibt. Dies ist für Newton, Kant und Fries von großer Wichtigkeit. Doch zurück zu den oben hergeleiteten Scheinkräften. Für den in dieser Arbeit behandelten Zeitraum stellt die Erklärung der Zentrifugalkraft das wesentliche Problem dar. Daher werde ich im Folgenden von den anderen Scheinkräften, die bei der Rotation auftreten, absehen. Eine Schwierigkeit besteht nun in den Differenzen zwischen der Translation und der Rotation. Ein Körper bewege sich r in einem Inertialsystem S geradlinig-gleichförmig mit der Geschwindigkeit vS . Im Fall dieser geradlinigen-gleichförmigen Bewe-

5

Ich blende hier absichtlich alle Aspekte der Scheinkräfte in der allgemeinen Relativitätstheorie aus. Diese Entwicklungen spielen für den zu untersuchenden Zeitraum keine Rolle. Eine klassische Betrachtung der Inertialsysteme reicht daher. Gleiches gilt für Aspekte der nichteuklidischen Geometrie, die auf die hier zu diskutierende Entwicklung der Raumdebatte keinen Einfluss haben.

1.1 Physikalisch-systematischer Hintergrund der Raumdebatte

15

gung ist es nun möglich, ein anderes Inertialsystem S* zu wählen, in dem der Körper kräftefrei ruht. Anders ist dies im Fall der Kreisbewegung. Man stelle sich dafür einen Körper vor, der sich gleichförmig auf einer Kreisbahn bewegt, da er bspw. an einem Seil rotiert. Aufgrund der Kreisbewegung spannt sich das Seil. Dies wird in einem Inertialsystem S durch die Abweichung von der Trägheitsbewegung erklärt:

Wie im Fall der geradlinigen-gleichförmigen Bewegung könnte man nun versuchen, ein Bezugssystem S’ zu wählen, das die Bewegung des Körpers mitverfolgt, d. h. in dem der Körper ruht. In einem solchen Bezugssystem S’ kann jedoch die Spannung des Seils nicht erklärt werden. Auf einen Beobachter innerhalb von S’ würde eine Kraft in Abhängigkeit seines Abstandes von der Drehachse wirken. In diesem Bezugssystem muss also eine Scheinkraft eingeführt werden.

Trotz der relativen Ruhe des Körpers lässt sich demnach die Wirkung einer Kraft feststellen. Ein Beobachter in einem abgeschlossenen Bezugssystem S’ kann also aufgrund der Zentrifugalkraft darauf schließen, dass es sich bei seinem Bezugssystem nicht um ein Inertialsystem handelt. Demnach kommt der Kreisbewegung eine Sonderrolle zu, die es zu erklären gilt.

16

1 Einleitung

Von diesen Überlegungen ausgehend lassen sich bereits die ersten Leitfragen der Arbeit skizzieren: 1. Anhand der physikalischen Betrachtungen wurde klar, dass es sich bei den Inertialsystemen um eine Klasse von Bezugssystemen handelt, in denen die Bewegungsgesetze der Mechanik gelten. Da alle Körper jedoch miteinander wechselwirken, findet strenggenommen keine Bewegung gemäß den Bewegungsgesetzen statt. Wie lässt sich dann aber ein Inertialsystem ermitteln? 2. Weiterführend muss das Verhältnis eines solchen Inertialsystems zu den anderen Elementen der Klasse der Inertialsysteme geklärt werden. Es wurde deutlich, dass die Bewegungsgesetze nicht nur in einem, sondern in allen Inertialsystemen gelten. Wie noch genauer zu diskutieren sein wird, geht Newton jedoch von nur einem absoluten Raum aus. Wie lässt sich aber ein solcher absoluter Raum innerhalb der Klasse der Inertialsysteme auffinden? 3. Schließlich muss die Natur verschiedener Bewegungstypen erklärt werden. Wie deutlich wurde, treten bei der Abweichung von der geradlinigen-gleichförmigen Bewegung z. T. Kräfte auf, die begründet werden müssen, sich jedoch nicht durch eine geeignete Koordinatenwahl ‚eliminieren‘ lassen. Vorausgreifend sei gesagt, dass Newton den Sonderstatus der Kreisbewegung in seinem Eimerexperiment aufgreift. Darin wird anhand der Kraft auf eine rotierende Wasseroberfläche deutlich, dass eine bloß relationale Bewegungskonzeption zu kurz greift.6 Die Wasseroberfläche nimmt aufgrund der Drehbewegung eine parabolische Form an. Diesen Effekt gilt es zu erklären. Das Eimerexperiment wird später in seinem historischen Zusammenhang tiefergehend untersucht. Den Kritikern der newtonschen Bewegungskonzeption muss es gelingen, die Effekte der Kreisbewegung verständlich zu machen, ohne auf den absoluten Raum zurückzugreifen.

1.2 KRITERIEN DER KLASSISCHEN UND MODERNEN WISSENSCHAFT Anhand der physikalischen Vorbetrachtung sind zentrale Erfordernisse einer Raum- und Bewegungslehre der klassischen Mechanik herausgearbeitet worden. Die Analyse der Entwicklung der Raumkonzeption von Newton bis Fries soll zudem mit Blick auf eine übergeordnete philosophische Systematik geschehen. Diese muss mit Bezug auf die Thematik, die zu untersuchenden Denker und den Zeitraum gewählt werden. Die vorliegende Arbeit analysiert die Entwicklung der Raumkonzeption innerhalb des Spannungsfeldes von Metaphysik und Naturwissenschaft. In den fast

6

Vgl. 2.2.3.

1.2 Kriterien der klassischen und modernen Wissenschaft

17

zwei Jahrhunderten, die betrachtet werden, unterliegt die Naturwissenschaft starken Veränderungen. Genauer gesagt entwickeln sich hier zentrale Aspekte des modernen Wissenschaftsverständnisses in der Auseinandersetzung mit philosophischen Überlegungen. Zu Fries’ Lebzeiten beginnt der Übergang von der klassischen Wissenschaftskonzeption, der Kant noch zugehörig war, zur modernen Wissenschaftskonzeption. Dieser Übergang von der klassischen zur modernen Wissenschaftskonzeption wird von Diemer in dem Aufsatz Die Begründung des Wissenschaftscharakters der Wissenschaft im 19. Jahrhundert behandelt. Diemer betrachtet darin u. a. die wissenschaftsinterne Entwicklung sowie das sich ändernde Verhältnis der Wissenschaft zur wissenschaftsexternen Autorität. Da Fries einer der ersten Denker ist, der dem Anbrechen der modernen Wissenschaftskonzeption Rechnung trägt, eignen sich Diemers Ausarbeitungen als Systematik für diese Untersuchung. Nach Diemer kommt dem neunzehnten Jahrhundert in der Entwicklung der Wissenschaft eine Schlüsselbedeutung zu. In dieser Zeit entsteht die moderne Wissenschaftskonzeption.7 Der Umbruch von der klassischen, kategorischdeduktiven8 hin zur modernen, hypothetisch-deduktiven9 Wissenschaftskonzeption wird dabei im Zeitraum um 1800 verortet. Es handelt sich nicht um einen abrupten, sondern fließenden Übergang, in dem beide Wissenschaftskonzeptionen eine Zeit lang koexistieren und den es genauer zu untersuchen gilt.10 Diemer beschreibt die klassische und die moderne Wissenschaftskonzeption anhand einer Reihe von Kriterien, die im Folgenden kurz dargestellt werden. Die vier Kriterien der klassischen Wissenschaftskonzeption sind: 1. Die Absolutheitsthese: Klassische Wissenschaft zeichnet sich zunächst durch die als selbstverständlich vorausgesetzte Annahme aus, dass es etwas Unveränderliches gibt, das der Wissenschaft zugrunde liegt. Diese „universale Sicherungsinstanz“11 ist nach Diemer in der historischen Entwicklung zunächst Gott als objektiver und nach dessen Autoritätsverlust die Vernunft als subjektiver, den Zugang zu Wissen sichernder Fixpunkt.

7

Eine Abschwächung dieser These findet sich in Diemer / König 1991, S. 4. Für eine Anwendung der diemerschen Systematik auf das Werk Helmholtz’ vgl. Schiemann 1995 und Schiemann 1997. 8 Diemer / König 1991, S. 4. 9 Diemer / König 1991, S. 4. 10 Vgl. Diemer / König 1991, S. 6. Dieser Abschnitt stützt sich auf Diemers Ausarbeitungen in Diemer 1968b. Sein Schüler König geht in Diemer / König 1991 noch einmal auf diese wissenschaftstheoriegeschichtliche Unterteilung ein. Vgl. dazu Gelsetzer / König 1987, S. 14–15. Dabei werden an einigen Stellen z. T. durch die Entwicklung der Wissenschaftstheorie, z. T. durch tiefergehende historische Studien bedingte Relativierungen an den Darstellungen des älteren Artikels vorgenommen. Diese werden hier, wenn relevant, in Fußnoten angemerkt. Zusätzlich stütze ich mich in Passagen auf Pultes Ausarbeitungen des diemerschen Ansatzes. Vgl. Pulte 2005a, S. 40–75. 11 Diemer 1968b, S. 25.

18

1 Einleitung

2. Die Wahrheitsvoraussetzung: Aus der Absolutheitsthese ergibt sich die Wahrheitsvoraussetzung, d. h. die Annahme, dass Wissenschaft es mit materialen und nicht bloß formalen Wahrheiten zu tun hat.12 Dies bedeutet, dass es sich bei der klassischen Wissenschaft um ein kategorisch deduktives und nicht um ein hypothetisch-deduktives System handelt. Denn „Wissenschaft ist ein wahres System oder ein System von Wahrheiten.“13 3. Das Allgemeinheitspostulat: Klassische Wissenschaft wird mit dem Allgemeinen identifiziert. D. h. sie beschäftigt sich nicht mit dem Individuellen, sondern mit Wesensallgemeinheiten. Das Einzelne ist nur als Teil des Allgemeinen von Interesse.14 4. Der logische Ableitungs-Evidenz-Charakter: Die Evidenz der Wissenschaft ergibt sich durch die Deduktion aus höher liegenden Sätzen. Demnach liegt die Gewissheit des Systems in der gesicherten Ableitung.15 Im Laufe der Zeit verlagert sich der Evidenzschwerpunkt von der ‚externen‘ Instanz in das System hinein. Dies ist bedingt durch den Autoritätsverlust der externen Instanz. Am Ende seiner Darstellung der vier Kriterien gesteht Diemer ein, dass es evtl. noch andere Kriterien geben könnte. Seine Skizzen zu einem solchen Kriterium werden von Pulte unter dem negativen Kriterium der ‚Methoden- und Darstellungsirrelevanz‘ klassischer Wissenschaft zusammengefasst.16 Laut Diemer wird die klassische Wissenschaftskonzeption ausgehend von Aristoteles bis einschließlich Kant vertreten. Danach beginnt der Übergang von der klassischen zur modernen Wissenschaftskonzeption, wobei zahlreiche Denker des neunzehnten Jahrhunderts noch der klassischen Wissenschaftskonzeption anhängen. Die moderne Wissenschaftskonzeption zeichnet sich durch zehn „Kriterien-Tendenzen“17 aus: 1. Der Reflexionscharakter: Im Laufe der Entstehung der Naturwissenschaft kommt es zu einer Differenzierung zwischen Wissenschaft und Philosophie. Dabei wird in der modernen Wissenschaftskonzeption Wissenschaft

12 Vgl. Pulte 2005a, S. 25. 13 Diemer 1968b, S. 28. 14 Vgl. Pulte 2005a. S. 27. Pulte kritisiert und modifiziert dieses dritte Kriterium, da durch das Allgemeinheitspostulat die baconsche Wissenschaft, die induktiv von der Einzelbeobachtung ausgeht, nicht erfasst wird. Seine Modifikation des Allgemeinheitspostulats beschränkt die Allgemeinheit auf die Prinzipien. Siehe Pulte 2005a, S. 32–33. Da ich zeigen werde, dass der newtonsche Raum nicht das Ergebnis induktiver–empiristischer Beobachtungen ist, sondern aus einer nicht baconsch geprägten Tradition entspringt, hat diese Modifikation für diese Untersuchung keine Konsequenzen. 15 Vgl. Diemer 1968b, S. 29. 16 Pulte 2005a, S. 29. 17 Diemer / König 1991, S. 5. In einem späteren Text ist die Rede von zehn bzw. elf ‚Kriterien– Tendenzen‘. Diemer / König 1991, S. 4–5. Als elfte Kriterien–Tendenz tritt zu der hier gegebenen Aufzählung die ‚abstrahierende Theoretisierung‘ hinzu.

1.2 Kriterien der klassischen und modernen Wissenschaft

2.

3.

4.

5.

6.

19

stets von einer Wissenschaftstheorie begleitet, die über die Bedingungen und Methoden der Wissenschaft reflektiert.18 Die Positivierung: Diese Kriterien-Tendenz beschreibt Diemer als „die totale Umorientierung der bisherigen klassischen Wissenschaftskonzeption“19. Vorher rechtfertigte sich Wissenschaft aus übergeordneten, absolut gültigen Grundsätzen. Diese Rechtfertigung aus einem Übergeordneten wird ersetzt durch das faktisch Gegebene und die subjektive Erfahrung. Die moderne Wissenschaftskonzeption zeichnet sich daher dadurch aus, dass sie „[w]eg von allem, was über, hinter oder unter der Wirklichkeit liegt bzw. als liegend angenommen und geglaubt wird“ zu kommen versucht. Die Entmetaphysierung: Die ‚Kehrseite‘ der Positivierung ist die Entmetaphysierung. So werden in der modernen Wissenschaft metaphysische Instanzen und Voraussetzungen der Wissenschaft abgebaut und entsprechend der Positivierung durch das faktisch gegebene ersetzt. „Nur die Tatsache in ihrem Gegebensein zählt und sonst nichts.“20 Dies bedeutet sowohl den Abbau von Instanzen, die nicht verifiziert werden können, wie bspw. Gott, als auch einer innerwissenschaftliche Entontologisierung. Die Autonomisierung: Dabei findet eine Autonomisierung der Wissenschaft innerhalb der Gesamtkultur, der Bereichswissenschaft gegenüber den Bereichen und der Bereichswissenschaften untereinander statt. Die Operationalisierung: Moderne Wissenschaft legt ihren Fokus auf ihre kontrollierbare Anwendung. Dies bedeutet, dass für sie die wissenschaftliche Operation in den Mittelpunkt rückt. Die Problematisierung: Während Wissenschaft im klassischen Sinne noch als Gesamtheit von Wahrheiten verstanden wurde, wird sich die moderne Wissenschaftskonzeption der Vorläufigkeit ihrer Ergebnisse bewusst. Da Wissenschaft weiß, dass sie sich ‚nur auf der Durchreise befindet‘, verschiebt sich ihr Fokus von der Lösung eines Problems auf die „wissenschaftliche Fragestellung“ als „Motor aller wissenschaftlichen Arbeit“21.

18 Diemer versteht unter Reflexionscharakter, „daß in einer bestimmten historischen Situation sich der theoretische Komplex, der durch Begriffe wie Philosophie, Wissenschaft usw. bezeichnet wird, differenziert, und daß dabei im Sinne einer Reflexion gefragt wird, was Wissenschaft sei, was ihre Voraussetzungen usw. seien.“ Diemer 1968b, S. 36. Dabei liegt eine Trennung zwischen Philosophie und Wissenschaft vor, die es in der klassischen Konzeption noch nicht gab. Auch bei Kant finden sich schon Reflexionen hinsichtlich der Bedingungen der Naturwissenschaft. Kant fragt „Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?“ Prol AA 04, S. 294. Wissenschaft hat jedoch noch nicht den autonomen Status erlangt, den ihr, wie später noch gezeigt wird, z. B. Fries zuschreibt. 19 Diemer 1968b, S. 38. 20 Diemer 1968b, S. 44. 21 Beide Zitate Diemer 1968b, S. 53.

20

1 Einleitung

7. Die Konditionalisierung: Im Gegensatz zur klassischen Konzeption behandelt Wissenschaft dabei nicht mehr das Absolute, sondern das Bedingte. 8. Die Hypothesierung: Ein weiterer Unterschied besteht im hypothetischen Charakter der Wissenschaft. Die Hypothesierung zeichnet sich dadurch aus, dass die Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen nicht als bewiesen, bzw. prinzipiell als nicht beweisbar angesehen wird. Damit handelt es sich bei Wissenschaft um ein hypothetisch-deduktives System, denn die Grundsätze der Wissenschaft werden nicht mehr als absolute Wahrheiten betrachtet, sondern als Hypothesen, die dem System zu Grund liegen. Mit der Problematisierung, verstanden als eine Zentrierung auf die wissenschaftliche Fragestellung, geht daher die Tendenz einher, die den Antworten zugrundeliegenden Grundannahmen lediglich als Hypothesen anzusehen. 9. Die Propositionalisierung: Wissenschaft wird zu einem Gesamt von Sätzen und ist nicht mehr ein Gesamt von nicht an Sprache gebundenen Wahrheiten. 10. Die Intersubjektivierung: Wissenschaftssoziologisch konstatiert Diemer eine Entwicklung hin vom einzelnen Gelehrten zur wissenschaftlichen Gemeinschaft. Diese bildet in der modernen Wissenschaftskonzeption den eigentlichen ‚Akteur‘, der wissenschaftliche Erkenntnis hervorbringt.

1.3 DIE LEITFRAGEN DER ARBEIT Ausgehend von dieser Systematik lassen nun die leitenden philosophischen Fragestellungen entwerfen. In Kants Vorstellung von Wissenschaft sieht Diemer den Höhepunkt der klassischen Konzeption.22 In der Tat zeigt ein Blick auf die Vorrede der MAN die diemerschen Charakteristika.23 Kant schreibt: Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Principien geordnetes Ganze der Erkenntniß, seyn soll, heißt Wissenschaft […].24

Und: Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist; Erkenntniß, die bloß empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen.25

Wissenschaft muss nach Kant apodiktisch sein, ist also von notwendiger Natur. Dies wird gewährleistet durch die Vernunft (als Autorität), aus der die Wissen22 Diemer 1968b, S. 3, Diemer / König 1991, S. 4. 23 Vgl. Diemer 1968b, S. 3. 24 MAN, AA 04, 468–469. In dieser Arbeit werden allgemein Änderungen in Zitaten, wenn nicht anders vermerkt, durch eckige Klammern hervorgehoben. 25 MAN, AA 04, 468. Man vgl. hierzu auch die Ausführungen in 4.2.2.1.

1.3 Die Leitfragen der Arbeit

21

schaft entspringt, die ihr aber auch erst Struktur gibt.26 Die Apriorizität der Naturwissenschaft geht dabei Hand in Hand mit der Allgemeinheit ihres Gegenstandes. Kant ist also ein Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption. Demgegenüber weisen Teile der fries’schen Philosophie Tendenzen der modernen Wissenschaftskonzeption auf.27 Kant und Fries sind demnach zwei Protagonisten, von denen der eine am Ende der klassischen Konzeption steht und deren Höhepunkt bildet, während der andere mit seinem naturphilosophischen Hauptwerk von 1822 und dessen Fundierung in seiner anthropologischen Vernunftkritik von 1808 bereits Aspekte der modernen Wissenschaftskonzeption aufzeigt.28 Die Raumfrage soll unter dem Aspekt dieser wissenschaftskonzeptionellen Entwicklung betrachtet werden. In der Darstellung des logischen AbleitungsEvidenz-Charakters der klassischen Wissenschaftskonzeption wurde die Verlagerung des Evidenzschwerpunktes beschrieben. Die Evidenz eines Systems bewegt sich gemäß Diemer von einer externen Autorität in das System hinein. Dies gilt insbesondere für die Raumtheorie. Auch sie stützt sich auf eine Instanz: Das Problem der Wahrheitsbegründung tritt erst auf, wenn eine (vermeintlich) privilegierte Wahrheitsquelle (z. B. die göttliche Offenbarung) versiegt oder wenn der Gehalt der fraglichen Aussage nicht erkennbar von einer solchen Quelle gespeist wird.29

Und weiter: Die sog. ‚Wissenschaftliche Revolution‘ des 16. bis 18. Jahrhunderts kann als Versuch verstanden werden, verlorengegangene Offenbarungswahrheit durch Erfahrungs- und Vernunftwahrheit zu ersetzen.30

Da diese Arbeit die Entwicklung des Spannungsverhältnisses von Naturwissenschaft und Metaphysik untersucht, muss die Entwicklung und Ablösung der Autorität, auf die sich die Raum- und Bewegungskonzeption stützen, analysiert werden. Hinsichtlich des Herabsinkens des Schwerpunktes gilt: Durch die Evidenz der Ableitung, der "De-duktion" - ("Apagoge") - wird dann die Sicherheit und Gewißheit der anderen Sätze, Theoreme usw. garantiert. Die wissenschaftliche Gewißheit und insofern die Wissenschaftlichkeit liegt also nicht so sehr in der ursprünglichen Schau als

26 „Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen […].“ KrV A 832 / B 860. 27 Dies wurde bereits durch Herrmann hinsichtlich Fries’ Behandlung der kantischen Grundkräfte aufgezeigt. Vgl. Herrmann 2012, S. 49–55. Dabei betont Herrmann zu Recht, dass Fries’ Wirkung nicht ausreichend war, um den Ausgangspunkt der modernen Wissenschaftskonzeption zu bilden. Fries steht zudem erst am Anfang einer Entwicklung, weshalb sich bei ihm noch zahlreiche klassische Elemente finden. Herrmann bescheinigt Fries jedoch zu Recht das „Bestreben nach einer ‚Empirisierung des kantischen Apriori‘.“ Herrmann 2012, S. 52. 28 Mit Bezug auf Kant schreibt Diemer: „Höhepunkt ist zugleich Umschlagspunkt; und so erwachsen um ihn herum die neuen Ideen und Vorstellungen, die die neue Fassung ausmachen. Entscheidend dabei sind weniger die Resultate als die dabei leitenden Tendenzen und die sich anbahnenden Entwicklungslinien […].“ Diemer 1968b, S. 3. 29 Pulte 2005a, S. 25–26. 30 Pulte 2005a, S. 26.

22

1 Einleitung der gesicherten, d. h. systematischen Ableitung. […] In zunehmenden Maße verlagert sich dann später der Schwerpunkt; er rutscht gewissermaßen "abwärts", zunächst in die Immanenz des wissenschaftlichen Gesamts selbst. […] Mehr und mehr aber entwickelt sich eine feste innere Struktur […].31

Pulte erklärt hierzu: Wissenschaft per se wurde traditionell nie Evidenz zugebilligt, sondern diese Evidenz mußte immer durch ein ‚höheres‘, der Wissenschaft selber zugängliches Prinzip […] vermittelt sein […]. Die […] ‚ursprüngliche‘ Evidenzableitung, wie man sie nennen könnte, verliert mit zunehmender Entfaltung und Organisation von Wissenschaft, aber auch mit ihrer Säkularisierung, an Bedeutung, verlagert sich auf die Überzeugung von der Wahrheit eines ‚autonomen‘ Wissenschaftsgesamts und ist schließlich nur noch in Gestalt der […] Systemforderung erkennbar – gleichsam eine ‚Abwärtsbewegung des Schwerpunktes‘, wie Diemer diesen Vorgang anschaulich beschreibt.32

Diemers Überlegung eines ‚Umschlagspunktes‘ im Jahr 1800 ist notwendigerweise etwas holzschnittartig.33 Die vorliegende Untersuchung nimmt den ‚historischen Knick‘ unter die Lupe und wird deshalb dabei helfen, den Übergang zwischen beiden Wissenschaftskonzeptionen besser zu verstehen. So finden in dieser Zeit wichtige Schritte in der Ausdifferenzierung der modernen Naturwissenschaft statt. Die dabei vonstattengehende Entmetaphysierung der Naturwissenschaft gilt es näher zu unteruchen und herauszuarbeiten, wie sich diese Entmetaphysierung, am Beispiel der Raumfrage, konkret vollzieht. Daher führe ich vorab keinen Metaphysikbegriff ein. Vielmehr möchte ich konkret untersuchen, welche Annahme die jeweiligen Denker ihren Überlegungen zum Raum zugrunde legten, um so herauszuarbeiten, welche Bedeutung der Metaphysik im Einzelnen jeweils zukommt und wie sich diese Bedeutung entwickelt. Über Diemer hinausgehend wird dabei gezeigt werden, dass der Schritt von der klassischen zur modernen Wissenschaftskonzeption mit einer Entwicklung im Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie einhergeht. Diemers Kriterien können dementsprechend erweitert werden. Nach Schnädelbach, dessen Position durch Diemer beeinflusst ist, wird die moderne Wissenschaftskonzeption in Absetzung vom wissenschaftlichen Monopolanspruch des deutschen Idealismus gebildet.34 Ich werde in dieser Arbeit darlegen, dass es sich bei der Autoritätsverschiebung jedoch um einen Prozess handelt, der bereits in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts beginnt.35 Es wird deutlich werden, dass dies an der ‚Verlagerung der Autorität‘, aber auch an der Veränderung des Verhältnisses von 31 Diemer 1968b, S. 29–30. 32 Pulte 2005a, S. 28. 33 So bemerkt Pulte, dass Kant bereits in der KdU Tendenzen zeigt, von seinem statischen Wissenschaftsideal abzuweichen. Vgl. Pulte 2014. Da diese Arbeit sich aber mit Kants Behandlung mechanischer Probleme in den achtziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts beschäftigt, hat diese systeminterne Entwicklung bei Kant für die vorliegende Arbeit keine Konsequenzen. 34 Vgl. hierzu Schnädelbach 1983, S. 88, und Pulte 2005a, S. 23. 35 Ich stütze mich dabei auf Cassirer 1999, S. 472–485.

1.4 Gott/Vernunft, Raum und Gravitation

23

Metaphysik und Naturwissenschaft festgemacht werden kann. Es kommt zu einem Wechsel in der Deutungshoheit.36 Ausgehend von diesen Überlegungen lassen sich die leitenden Fragestellungen der Untersuchung formulieren. Bereits in Abschnitt 1.1 wurden mit Blick auf die Grundlagen der Mechanik drei Leitfragen herausgearbeitet. Physikalische Fragestellungen: L1:

Wie lässt sich nach den jeweiligen Denkern ein bevorzugter Raum, d. h. ein System, in dem die oben genannten Bewegungsgesetze gelten, ermitteln?

L2:

Welches Verhältnis hat dieser Raum zu anderen, zu ihm geradliniggleichförmig bewegten Räumen?

L3:

Wie werden nach dieser Konzeption verschiedene Bewegungszustände eingeschätzt und die auftretenden Kräfte erklärt?

Aus den philosophischen Vorüberlegungen ergeben sich zwei weitere Leitfragen. Philosophische Fragestellungen: L4:

Auf welche Autorität stützt sich die Raumkonzeption und wie entwickelt sich das Verhältnis zu dieser Sicherungsinstanz?

L5:

Wie ist das Verhältnis von Naturwissenschaft und Metaphysik, das der Raum- und Bewegungskonzeption zugrunde liegt?

1.4 GOTT/VERNUNFT, RAUM UND GRAVITATION Die gerade formulierten Leitfragen gilt es in dieser Arbeit für Newton, Kant und Fries zu beantworten. Dabei müssen Detailanalysen und übergreifende systematische Darstellungen ineinandergreifen. Um die philosophischen und physikalischen Fragestellungen zu verbinden und den Prozess der Entmetaphysierung genauer zu untersuchen, bietet es sich an, eine weitere Systematik einzuführen. Einer der einflussreichsten Newton- und Kantforscher, Michael Friedman, schreibt über die Entwicklung von Newton zu Kant: [I]t is well worth noting, finally, that Kant […] manages to find a reflection – or, perhaps better, an analogue – of such a Newtonian conception of the relationship between space, gravity, and divinity in the completed system of his critical philosophy.37

36 Vgl. hierzu Friedman 2001b, S. 4–5, 8–9.

24

1 Einleitung

In der Tat können weite Teile der Entwicklung von Newton hin zu Kant als Versuch verstanden werden, die Trias aus Gott, Raum und Gravitation in ein stimmiges Verhältnis zu bringen. In dieser Arbeit möchte ich Friedmans38 Überlegungen weiter ausbauen und insbesondere den vorkritischen Kant und Fries in die Betrachtung mit einbeziehen. Anhand der Trias lassen sich zahlreiche von Diemer konstatierte Veränderungen aufzeigen. Wie aus der diemerschen Systematik deutlich wurde, bildet Gott in der klassischen Wissenschaftskonzeption zunächst die Autorität, auf die sich das System stützt. Diese externe Instanz wird im Laufe der Entwicklung durch die Vernunft ersetzt. Aus diesem Grund füge ich zu der friedmanschen Trias noch die Vernunft hinzu. Innerhalb der Arbeit soll daher immer wieder auf das Verhältnis der Konzeptionen Gott/Vernunft, Raum und Gravitation zurückgekommen werden. Der Übergang zwischen den Autoritäten gilt es dabei am Beispiel der Raumfrage genauer zu analysieren. Andere Aspekte dieser Entwicklung lassen sich anhand der Gravitation bzw. des Gravitationsgesetzes verdeutlichen. So handelt es sich beim Gravitationsgesetz um einen zentralen Bestandteil der klassischen Mechanik, das die Naturphilosophen jedoch vor verschiedene, grundlegende Probleme stellt. Anhand der von Newton, Kant und Fries unternommenen Versuche, die Gravitation zu begründen und zu erklären, lässt sich das Verhältnis von Metaphysik und Wissenschaft weiter bestimmen.

1.5 FORSCHUNGSSTAND UND STRUKTUR DER ARBEIT Das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung liegt auf den Denkern Newton, Kant und Fries. Des Weiteren ist es sinnvoll, zusätzlich die frühe Rezeptionsgeschichte des absoluten Raumes zu behandeln, da sich die Protagonisten z. T. kritisch auf sie beziehen. Aus diesem Grund werden außerdem die Positionen Leibniz’, Berkeleys und Eulers analysiert. Daraus ergibt sich eine Einteilung der Arbeit in fünf Kapitel und ein Fazit. Das erste Kapitel bildet diese Einleitung (1). Die darauf folgenden vier Kapitel untersuchen den absoluten Raum Newtons (2), seine Rezeption in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts (3) sowie die Kritik durch Kant (4) und Fries (5). Während die einzelnen Kapitel die jeweiligen Raumkonzeptionen bzw. die Newtonkritik analysieren, wird am Ende der Untersuchung zu einem Denker auf die leitenden Fragestellungen und die oben genannte systematische Trias eingegangen. Im Folgenden soll der Forschungsstand skizziert und davon ausgehend die genaue Struktur der Arbeit entworfen werden. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet eine Analyse der Raumkonzeption Newtons. In der angelsächsischen Forschung der letzten Jahre werden Newtons Principia leider oft als zentraler Wegbereiter eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses verklärt. Dabei wird der Einfluss klassisch metaphysi-

37 Friedmann 1990, S. 200. 38 Vgl. Friedman 1990, S. 199–202.

1.5 Forschungsstand und Struktur der Arbeit

25

scher Überlegungen Newtons zumeist unterschätzt oder als unwesentliches Beiwerk betrachtet. Wiewohl auch die jüngere Forschung einen starken Fokus auf die metaphysischen und theologischen Überlegungen Newtons legt, unterschätzt sie den Einfluss dieser Überlegungen auf Newtons Principia.39 Der absolute Raum hat für Newton jedoch sowohl physikalische als auch metaphysisch-theologische Bedeutung, die sich gegenseitig beeinflussen. Diese Doppelrolle des Raumes gilt es herauszuarbeiten. Deshalb muss im zweiten Kapitel zunächst eine genaue Einordnung des absoluten Raumes im Denken Newtons erfolgen. Es wird dabei deutlich werden, dass dieser Grundkonzeption des newtonschen Denkens eine Scharnierstellung zwischen Mechanik und klassischer Metaphysik zukommt. Beide Bereiche müssen daher genauer betrachtet werden. Die physikalische Bedeutung der newtonschen Raumkonzeption wird anhand einer Untersuchung zentraler Passagen der Principia dargelegt. Dabei wird vor allem das Scholion zu Raum und Zeit herangezogen. Eine der einflussreichsten Analysen dieses Textes stammt von Rynasiewicz. Er weist besonders auf den anticartesianistischen Hintergrund des Scholions hin. Darauf aufbauend wende ich mich gegen eine modernisierende Lesart des Scholions, wie sie in der aktuellen Forschung von DiSalle vertreten wird und die als exemplarich gesehen werden kann. Bei DiSalle besteht die Tendenz, über innere Spannungen der newtonschen Konzeptionen hinwegzusehen. Demgegenüber ist es mein Ziel, gerade die systeminternen Inkonsistenzen aufzuzeigen. Dadurch lässt sich der Einfluss der metaphysischen Überlegungen Newtons auf die Raumfrage herausarbeiten. Anhand einer Widerlegung der Position DiSalles werde ich zeigen, dass Newtons absoluter Raum nur vor dem Hintergrund seiner Metaphysik verstanden werden kann. Dies wird besonders anhand des von Newton unveröffentlichten Manuskripts De Gravitatione deutlich. Dieser 1962 zum ersten Mal erschienene Text offenbart wie kein anderer die tiefgehende Verbindung physikalischer und metaphysischer Überlegungen in der newtonschen Raumkonzeption. Newtonforscher, die die metaphysische Bedeutung des Raumes herunterspielen wollen, unterstreichen die zeitliche und thematische Differenz zwischen De Gravitatione und dem Scholion. Demgegenüber werde ich zeigen, dass zahlreiche argumentative Parallelen dafür sprechen, dass Newtons Haltung zum Raum sich beim Abfassen beider Texte nicht geändert hat. In De Gravitatione, wie auch in den Principia, geht Newton davon aus, dass der Raum durch die Allgegenwart Gottes konstituiert wird. Gottes Unteilbarkeit überträgt sich dabei auf den Raum. Deshalb geht Newton davon aus, dass es nur einen Raum geben kann. Mit Bezug auf die systematische Trias lässt sich daher eine unmittelbare Abhängigkeit des Raumes von Gott aufzeigen. Das dritte Kapitel soll die Analyse der Kritik des absoluten Raumes durch Kant und Fries vorbereiten. Dazu werden die Position Leibniz’, Berkeleys und Eulers betrachtet.40 In der aktuellen Forschung gibt es die Tendenz, die Rezep39 Vgl. z.B. Janiak 2015. 40 Um die Untersuchung nicht zu weit auszudehnen, werden lediglich zentrale Aspekte dieser Denker systematisch analysiert, ohne die Leifragen im Einzelnen zu beantworten.

26

1 Einleitung

tionsgeschichte des newtonschen Werkes als Triumphzug einer positivistisch geprägten Wissenschaftskonzeption zu skizzieren, der gegen die metaphysischen Systeme Leibniz’ und Descartes errungen wird.41 Demgegenüber werde ich zeigen, dass die Debatten um die Raumkonzeption im Wesentlichen ein anderes Bild nahelegen. In den Diskussionen um die Grundlagen der Mechanik wird der Raum von Newton als Prinzip angeführt und metaphysisch gerechtfertigt. Erst nach intensiven Auseinandersetzungen über die Grundlagen der Mechanik wird er bei Euler durch rein wissenschaftsimmanente Überlegungen fundiert. Um dies zu zeigen, wird Leibniz’ Haltung anhand einer Untersuchung seines Briefwechsels mit Clarke dargestellt. Den Ausgangspunkt bilden hier die Differenzen zwischen Leibniz’ Metaphysik und dem absoluten Raum. Ich werde zeigen, dass es Leibniz nicht gelingt, eine adäquate Ersatzkonzeption zum absoluten Raum einzuführen. Dennoch trägt Leibniz’ Kritik zu einer ‚Reinigung‘ des absoluten Raumes von metaphysischem Ballast bei. Ähnliches gilt für die Position Berkeleys. Er kritisiert Newtons Raum, ausgehend von seinem eigenen idealistischen System. In meiner Darstellung der berkeleyschen Kritik des absoluten Raumes und seiner Gegenkonzeption stütze ich mich auf den Treatise und die Schrift De Motu. Auch hier werde ich zeigen, dass es Berkeley ebenfalls nicht gelingt, eine angemessene Gegenkonzeption zu entwerfen, auch wenn er interessante Alternativansätze präsentiert. Die philosophische Kritik Leibniz’ und Berkeleys greift demnach zu kurz. Auf ihren Gegenkonzeptionen lässt sich die Dynamik der klassischen Mechanik nicht errichten. Genau hier setzt der Angriff Eulers gegen diese Denker ein: Wenn sich ihre Systeme als inkompatibel mit dem absoluten Raum erweisen, so liegt das Problem bei den Philosophen und nicht bei den Physikern, die den absoluten Raum benötigen. Cassirer sieht in diesem Gedanken Eulers eine Verschiebung der Deutungshoheit zugunsten der Naturwissenschaft. Ausgehend von dieser These Cassirers werde ich zentrale Passagen aus Eulers Mechanica und seiner Theoria Motus heranziehen sowie seine Reflexionen über Raum und Zeit untersuchen. Mit Bezug auf die Systematik muss dies als Umschlagspunkt im Verhältnis von Naturwissenschaft und Metaphysik gesehen werden. Der Einfluss zentraler Fragen der klassischen Metaphysik wird zudem zurückgedrängt und aus der Naturwissenschaft zunehmend verbannt, wobei die Naturwissenschaft anleitende Funktion für die Metaphysik erhält. Diese Entwicklungen hatten großen Einfluss auf die Philosophie Kants. Das vierte Kapitel untersucht daher den Einfluss der Raumdebatten auf die Entwicklung der kantischen Philosophie und betrachtet den dabei vonstattengehenden Transformationsprozess der Metaphysik. Nach Friedman kann die Entwicklung der kantischen Naturphilosophie als Versuch einer Synthese aus grundlegenden newtonschen Konzeptionen und einer leibnizsch geprägten Metaphysik verstanden werden. Dieser These stimme ich grundsätzlich zu, es gilt sie jedoch genauer auszuarbeiten. Sie lässt sich mit den Überlegungen Cassirers verbinden, nach der

41 Vgl. z.B. Biener / Schliesser 2014 und Janiak 2015, S. 136–137.

1.5 Forschungsstand und Struktur der Arbeit

27

sich die Autorität zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik durch Euler verschoben hat. Es wird sich zeigen, dass zentrale Teile der Entwicklung der kantischen Raumkonzeption daher durch Kants sich festigendes Bewusstsein für diese Autoritätsverschiebung zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik bedingt sind. Um das darzulegen, wird zunächst die vorkritische Phase Kants untersucht, die nur vor dem Hintergrund der in Kapitel drei dargestellten Debatten verstanden werden kann. Diese Phase ist stark inhomogen. Deshalb müssen sich Analysen zentraler Schriften Kants und übergeordnete systematische Betrachtungen ergänzen. Zum einen werde ich deshalb entscheidende Etappen in der vorkritischen Phase untersuchen, zum anderen aber auch immer wieder auf die systematische Trias eingehen. Dabei wird deutlich, dass das Raumproblem erst langsam in Kants Fokus rückt – u. a. durch Eulers Einfluss. Sowohl die Gravitation als auch der Raum hängen hier noch von Gott ab. Die Raumkonzeption der kritischen Phase zeichnet sich durch Kants transzendentalen Idealismus aus. Diesen gilt es zunächst zu untersuchen. Dabei werde ich zentrale Parallelen und Differenzen zwischen Kants transzendentaler Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft42 und der Raumkonzeption Newtons herausarbeiten. Mit Bezug auf die systematische Trias wird sich zeigen, dass Gott seine konstitutive Rolle verliert und durch die Vernunft ersetzt wird. Die sich daraus ergebende Veränderung des Metaphysikverständnisses gilt es näher zu bestimmen. Anhand einer Analyse der MAN soll daraufhin die Aufgabe des absoluten Raumes in Kants Fundierung der Mechanik betrachtet werden. Die MAN galten lange als blinder Fleck der Kantforschung. Sie haben jedoch in den letzten Jahren u. a. aufgrund der Arbeiten Friedmans und Polloks vermehrt Aufmerksamkeit erhalten. Friedman arbeitet vor allem die Kontinuitäten zwischen den newtonschen Principia und den MAN heraus. Wie jüngere Untersuchungen (u. a. von Watkins und Carrier) zeigen, übersieht er dabei jedoch z. T. Differenzen zwischen den Überlegungen der beiden Denker. Die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den Haltungen Newtons und Kants gilt es daher mit Blick auf die Raum- und Bewegungskozeption genauer zu bestimmen. Zentral ist dabei Kants Transformation des absoluten Raumes zu einer Idee. Wie deutlich werden wird, resultiert dies aus seinem kritischen Metaphyikverständnis. Metaphysische Instanzen werden, gemäß Diemer, abgebaut und der Schwerpunkt des Systems verlagert sich in das System hinein. Diese Entwicklung gilt es hier in concreto näher zu betrachten. Dabei wird deutlich werden, dass sich zentrale Spannungen innerhalb der kantischen Raumkonzeption auf Ambivalenzen zurückführen lassen, die bereits bei Newton zu finden sind. Fries greift zahlreiche Aspekte der kantischen Raumkonzeption auf. Der absolute Raum als Idee der Naturphilosophie findet sich bei ihm jedoch nicht mehr. Diese Erweiterung der kantischen Kritik des absoluten Raumes ist in der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben. Das fünfte und letzte Kapitel versucht

42 Die Kritik der reinen Vernunft wird im Folgenden als KrV abgekürzt.

28

1 Einleitung

daher zu klären, warum Fries in seiner Naturphilosophie auf den absoluten Raum als Idee verzichtet und wie er sie ersetzen will. Zunächst wird deshalb Fries in seiner Zeit verortet und sein Verhältnis zu Kant und Newton dargestellt. Anhand einer Analyse zentraler Passagen seines Hauptwerkes, der Anthropologischen Kritik der Vernunft43, wird das Verhältnis der Vernunft als Autorität zur Raumkonzeption analysiert. Dabei wird klar werden, dass Fries Aspekte in seine Untersuchung einbezieht, die von Kant noch nicht behandelt wurden. So deduziert er die Dreidimensionalität des Raumes aus dem Verhältnis des Beobachters zum gegebenen Mannigfaltigen. Seine Untersuchung zeigt dabei Tendenzen der Empirisierung der Raumdebatte, die es mit Blick auf die diemerschen Überlegungen zu deuten gilt. Des Weiteren geht Fries’ Abkopplung der Raum- und Bewegungskonzeption von der Metaphysik über Kant hinaus. So findet sich bei Fries der absolute Raum nicht mehr; auch nicht mehr als bloß regulative Idee. Dabei muss Fries’ Verzicht auf einen absoluten Raum als Konsequenz seiner Kritik der kantischen Ideenkonzeption gelesen werden. Nach Fries ist die Naturphilosophie vom Einfluss der Ideen gänzlich freizuhalten. Um dies genauer zu untersuchen, werde ich zentrale Kapitel der MN mit Blick auf die Raumkonzeption analysieren. Es wird deutlich werden, dass bei Fries die Bewegungskonzeption vollkommen auf den Bewegungsgesetzen basiert und die Aufgabe des absoluten Raumes nun vom dritten newtonschen Bewegungsgesetz übernommen wird. Demnach greift Fries, anders als Newton und Kant, auf ein wissenschaftsinternes Prinzip zurück. Damit geht die Einschränkung der Reichweite metaphysischer Untersuchungen einher, was anhand der systematischen Trias gezeigt werden wird. Die von Newton bis Fries stattfindende Entmetaphysierung der Naturwissenschaft ist an die Frage nach dem Raum gekoppelt. Der absolute Raum hat für Newton noch konstitutive Bedeutung, während er bei Kant nur noch als Regulativ und bei Fries schließlich gar nicht mehr auftaucht. Diese Entwicklung gilt es nun mit Ausgang bei Newtons Raumkonzeption genauer zu untersuchen.

43 Die Anthroplogische Kritik der Vernunft wird im Folgenden als AKdV abgekürzt.

2 NEWTONS RAUMKONZEPTION Dieses Kapitel analysiert Newtons absoluten Raum und bereitet damit die Untersuchung der Positionen Kants und Fries’ vor. Bei Newton finden sich physikalische wie auch metaphysisch-theologische Argumente zu dieser Konzeption. Um beiden Aspekten des absoluten Raumes gerecht zu werden, soll er zunächst im Denken Newtons verortet werden. Es wird sich zeigen, dass Newton von einem Vorverständnis des absoluten Raumes ausgeht. Als Grundkonzeption seines Denkens hat er sowohl fundamentale Bedeutung für seine Physik als auch für seine Metaphysik – er verbindet beide Bereiche miteinander (2.1). Die physikalischen Argumente Newtons sind Gegenstand des darauf folgenden Abschnitts. Ausgangspunkt bildet hier eine Analyse des Scholions1 zu Beginn der Principia. Mein Ziel ist es, gegen die modernisierende Position DiSalles zu zeigen, dass der absolute Raum nur von dem Hintergrund der newtonschen Metaphysik verstanden werden kann. Dazu werde ich zunächst die Differenz zwischen Newtons Methodologie und seiner Raumkonzeption darlegen (2.2). Im Scholion argumentiert Newton gegen die cartesische Bewegungslehre. Die Descarteskritik findet sich ausführlicher bereits in Newtons unvollendetem Manuskript De Gravitatione. Anhand einer Analyse dieses Texts untersucht der nächste Abschnitt Newtons Angriff auf Descartes genauer, um sich dann der metaphysisch-theologischen Seite seiner Raumkonzeption zu widmen (2.3).2 Abschließend erfolgt eine Untersuchung mit Blick auf die Systematik der Arbeit (2.4).

1

2

Die einschlägigen Quellen zu Newtons Raum sind in den Principia das Scholion zu den Definitionen und das Scholion Generale. Hinzu kommen die Queries der Optik, De Gravitatione und der unter Newtons Einfluss geführte Briefwechsel Clarkes mit Leibniz. Die vorliegende Untersuchung legt ihren Fokus auf das Scholion und De Gravitatione. Unter Letzterem versteht man ein unbetiteltes, unvollendetes Manuskript Newtons, das nach seinem Incipit benannt wird. Dieser Text offenbart wie keine andere seiner Schriften, dass metaphysisch– theologische und physikalische Überlegungen in Newtons Raumkonzeption dicht verwoben sind. Wie ich zeigen werde, kommt diese Verbindung in den Principia durch die von Newton vorgegebene, streng empiristische Methodik nicht klar zum Vorschein. Vgl. hierzu Pulte 2005a, S. 93. So klagt bspw. Fierz 1954, welcher De Gravitatione nicht kennen konnte, über die Dunkelheit und Zweideutigkeit der religiösen Überlegungen Newtons zum Raum. Eine Analyse dieser Schrift eignet sich daher, um die Diskussion des newtonschen Raumes zu beenden. Die für die Raumfrage im achzehnten Jahrhundert maßgebliche Debatte zwischen Clarke und Leibniz bildet den Anfang des nächsten Kapitels. Die übrigen Quellen werden als Ergänzung in den jeweiligen Abschnitten herangezogen. Die Datierung von De Gravitatione ist seit der Veröffentlichung des Manuskriptes im Jahre 1962 immer wieder kontrovers diskutiert worden. Die Einschätzungen reichen in der Regel von 1668 bis 1685. Vgl. hierzu Böhme 1988a, S. 10. Als schillernde Ausnahme sei hier auf

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2 Newtons Raumkonzeption

2.1 VERORTUNG DES RAUMES IM DENKEN NEWTONS In diesem Abschnitt wird die systematische Bedeutung des Raumes im newtonschen Denken analysiert. Zum einen werden dadurch Gesamtzusammenhänge verdeutlicht, zum anderen Schwerpunkte für die weiteren Untersuchungen gesetzt. Newton wurde im Laufe seiner breiten Rezeptionsgeschichte auf verschiedenste Art und Weise gedeutet und vereinnahmt.3 Die einen charakterisieren ihn als Aufklärer,4 die anderen sehen in ihm den ‚letzten Magier‘5. In der Tat ist es schwierig, ein kohärentes Bild von Newton zu zeichnen. Auf der einen Seite steht der Naturwissenschaftler mit seinen bahnbrechenden Entdeckungen. Auf der anderen Seite der vermeintliche Obskurantist, der Jahre seines Forscherlebens mit Bibelforschung und Alchemie vergeudete. Eine in sich stimmige Darstellung wird dadurch erschwert, dass Newton früh von den Strömungen seiner Zeit in Beschlag genommen wurde.6 Hinzu kommt, dass er Teile seiner Untersuchungen geheim hielt.7 So ist er in seinen naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen (mit Ausnahme der Anhänge zu seinen Hauptwerken8) stets bemüht, sich als nüchternen Naturwissenschaftler9 darzustellen. Diese Ambivalenz im Newtonbild schlägt sich auch auf die Rezeption seiner Raumtheorie nieder,10 die in der Forschung verschieden eingeschätzt wird. Auf

Richards 2006, S. 173–207 verwiesen, der De Gravitatione nach den Principia datiert. Ich werde in dieser Arbeit keinen weiteren Datierungsversuch unternehmen. Mir scheint jedoch ein Zeitraum zwischen 1668 und 1672 am plausibelsten. Für eine Zusammenfassung der Datierungsgeschichte des Dokuments vgl. Ruffner 2012, S. 241–245. Da die Erstausgabe der Principia 1687 erschien, geht dieses Kapitel, indem es De Gravitatione nach den Principia behandelt, nicht chronologisch vor. Hierfür gibt es zwei Gründe: Zum einen bestimmt das Scholion im Wesentlichen die spätere Rezeption der newtonschen Bewegungslehre, während De Gravitatione keinem der hier zu untersuchenden Denker bekannt war. Zum anderen können Teile der Raumdiskussion in De Gravitatione als frühe Versionen von Passagen des Scholions gelesen werden. Eine nachträgliche Untersuchung von De Gravitatione rundet die vorhergegangene Analyse des Scholions daher ab. 3 Für eine Darstellung der Rezeptionsgeschichte Newtons vgl. Yeo 1988. 4 Man vgl. hierzu bspw. Buchdahl 1961. Ein gutes Beispiel ist Voltaire 1992, S. 40. 5 Vgl. Keynes 1961, S. 277. 6 Voltaire bspw., der wesentlich zur Popularisierung Newtons auf dem europäischen Festland beitrug, versucht ihn zu einer Ikone der Aufklärung zu stilisieren. Vgl. Wahsner 1994, S. 244 und Pulte 2000, S. 93. 7 Vgl. Pulte 2000, S. 78. 8 D. h. dem Scholion Generale der Principia und den Queries der Optik. 9 Diese Haltung zu Newton ist zum einen durch seine Veröffentlichungspolitik und die spätere Wendung hin zur experimental philosophy bedingt. Zum anderen wurde er aber auch früh durch die Aufklärung vereinnahmt. Vgl. dazu Pulte 2000 und Shapiro 2004. 10 So beinhaltet Cohen / Smith 2002a bspw. zahlreiche Artikel namhafter Newtonexperten und stellt damit den aktuellen Forschungsstand gut dar. Hierzu schreibt Pulte in einer Rezension: „More importantly, from this volume, when viewed as a whole, it is difficult to obtain a unique and coherent picture of Newton’s scientific and philosophical thinking. The scientist and empirical philosopher of the first part and the speculative philosopher and theologian of

2.1 Verortung des Raumes im Denken Newtons

31

der einen Seite gibt es Positionen, die behaupten, dass Newton den absoluten Raum lediglich einführe, um seiner Mechanik ein Fundament zu geben. Hier herrscht die Tendenz, die theologisch-metaphysische Seite des Raumes abzuwerten oder sie zumindest als bedeutungslos für den Naturwissenschaftler Newton zu sehen.11 Auf der anderen Seite gibt es Forscher, die den absoluten Raum als metaphysisches Monstrum karikieren, das eben auf den Metaphysiker und nicht den Naturwissenschaftler Newton hinweist.12 Die Frage, ob die Raumkonzeption der Principia auf den Physiker oder den Metaphysiker in Newton zurückgeht, ist jedoch nach meiner Einschätzung irreführend. Der absolute Raum ist eine Grundkonzeption Newtons, die tief in seinem Denken verankert ist. Sie spielt nicht nur jeweils für seine Physik und seine Metaphysik eine fundamentale Rolle, sondern verbindet diese beiden Bereiche. Im Raum laufen die Physik und die Metaphysik Newtons zusammen. Dies soll anhand des Verhältnisses seiner Naturphilosophie zur Religion kurz verdeutlicht werden.13 An zahlreichen Stellen betont Newton, sein Werk in den Dienst der Religion zu stellen. So schreibt er an Richard Bentley mit Bezug auf die Principia:

the second part have not really been integrated into a common framework.“ Pulte 2003, S. 286. Dies gilt auch für den Artikel zum Raum in Cohen / Smith 2002a. DiSalle 2002 erwähnt den theologischen Hintergrund des absoluten Raumes lediglich beiläufig in einem Absatz. Der Rest seines Beitrags bezieht sich darauf, dass metaphysische Fragestellungen für Newtons Raumkonzeption irrelevant sind: „Newton’s conceptions of space, time, and motion were long regarded as metaphysical ideas whose place in empirical science was open to dispute. Now we finally see that they were, instead, exemplary of the way in which science gives empirical meaning to theoretical notions.“ DiSalle 2002, S. 51. Gegen diese Fehleinschätzung wendet sich das vorliegende Kapitel. 11 Vgl. z. B. Belkind 2007: „Newton’s belief in absolute space is not an idle metaphysical speculation, but an attempt to provide a solid conceptual foundation to a scientific theory.“ Belkind 2007, S. 290–291. 12 Gute Beispiele sind Reichenbach 1924 und Mach 1883. Mach bemerkt hinsichtlich Newtons absoluter Zeit: „Es scheint, als ob Newton bei den eben angeführten Bemerkungen noch unter dem Einfluss der mittelalterlichen Philosophie stünde, als ob er seiner Absicht, nur das Thatsächliche zu untersuchen, untreu würde.“ Mach 1883, S. 208. Dieses Urteil wiederholt er auch mit Bezug auf den Raum: „Aenliche Ansichten, wie über die Zeit entwickelt Newton über den Raum und die Bewegung.“ Mach 1883, S. 211. Natürlich siedeln sich die einzelnen Newtoninterpreten nicht entweder auf der einen oder der anderen Seite an, jedoch verzerrt die Janusköpfigkeit Newtons die Debatte, indem der Raum nicht als Grundkonzeption gesehen wird, die in beiden Bereichen des newtonschen Denkens beheimatet ist und die Bereiche sogar miteinander verbindet. 13 Dieses Verhältnis wird in 2.3.1 ausführlich untersucht.

32

2 Newtons Raumkonzeption When I wrote my treatise about our Systeme I had an eye upon such Principles as might work wth considering men for the beleife of a Deity & nothing can rejoice me more then to find it usefull for that purpose.14

Newton deutet die von ihm erarbeiteten Ergebnisse physikotheologisch, während seine Naturphilosophie zusätzlich auf der Vorstellung eines allgegenwärtigen, unmittelbar wirksamen Gottes basiert. Die Religion ist für Newtons naturwissenschaftliches Werk also Ausgangs- und Endpunkt. Innerhalb dieser Abgrenzung operiert die Physik jedoch weitgehend autonom.15 Dabei sind die Grundkonzeptionen der Physik, der Raum, die Zeit sowie Materie und Gravitation stets auch in der Metaphysik verankert. Dem Raum kommt also eine besondere Stellung zu.16 Als Scharnier vermittelt er zwischen metaphysisch-theologischen und mathematisch-physikalischen Überlegungen. Die Raumthematik wird von Newton also nicht separat von mehreren Seiten betrachtet. Vielmehr lassen sich physikalischmathematische und metaphysisch-theologische Überlegungen hinsichtlich dieser Grundkonzeption nie ganz trennen und greifen ineinander.17 Der Raum hat bei Newton also immer beide Aspekte: Er ist sowohl Grundlage der Dynamik als auch ‚Auge Gottes‘18. Dabei werden in den unterschiedlichen Schriften lediglich bestimmte Gesichtspunkte herausgestellt und betont. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass der absolute, wahre Raum in den zu behandelnden Schriften Newtons keiner Entwicklung unterliegt, sondern vielmehr bestimmte Aspekte des Raumes in den Vorder- oder Hintergrund gerückt werden. So ist z. B. die metaphysisch-theologische Seite des Raumes im Scholion zu den Definitionen immer noch vorhanden, auch wenn Newton sie nicht offen thematisiert. Um diese These zu belegen, werde ich an gegebener Stelle die Kontinuität zwischen den verschiedenen Schriften herausarbeiten. Es wird gezeigt werden, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Scholion zu Raum und Zeit und De Gravitatione besteht. Ebenso wird in 3.1 die Kontinuität zwischen Newtons Principia und dem Briefwechsel seines Schülers Clarke mit Leibniz deutlich werden. Dabei greift Newton sowohl in seinen metaphysischen als auch in seinen physikalischen Erörterungen zum Raum immer wieder auf ein bestehendes, intuitives Vorverständnis zurück. Dies ist, wie noch deutlich werden wird, besonders im Hinblick auf Kant und Fries interessant.19 Im Vorgriff auf eine später noch einmal zu erörternde Passage aus De Gravitation soll dieses intuitive Vorverständnis kurz erläutert werden: Nach der cartesischen Bewegungslehre wären die Rotation der

14 Brief von Newton an Bentley vom 10.12.1692, Newton Correspondence III, S. 233. Für eine ausführlichere Diskussion insbesondere des Einflusses Boyles und der Boyle–Lectures vgl. 2.3.2. 15 Vgl. Jammer 1960, S. 105. 16 Vgl. Gosztonyi 1976, S. 329. 17 Vgl. den noch zu analysierenden Briefwechsel Clarkes mit Leibniz (3.1), in dem der Raum unter einer ganzen Reihe verschiedener Gesichtspunkte besprochen wird. 18 Vgl. Optik, S. 244. 19 Vgl. 4.2.1.1 und 5.1.4.

2.2 Der Raum als Grundlage der Bewegungskonzeption

33

Erde und die Rotation des Fixsternhimmels dasselbe. Das wird von Newton als absurde Konsequenz der Lehre Descartes gewertet: Als ob es gleichgültig sei, ob er [Gott] durch eine ungeheure Kraft den Himmel von Ost nach West drehte, oder die Erde mit einer kleinen Kraft in entgegengesetzter Richtung. Aber wer wird glauben, daß die Teile der Erde sich von ihrem Zentrum zu entfernen suchen, wegen einer Kraft, die nur dem Himmel eingeprägt wird?20

Wahre Kreisbewegung ruft Fliehkräfte hervor. Drehen sich die Sterne um die Erde (oder einen Eimer Wasser), so wirken diese Kräfte auf die Sterne, nicht aber auf die Erde. Wenn aber die Erde rotiert, dann lässt sich die Wirkung der Drehbewegung nur an ihr feststellen. Nach Newton zeigt das Gedankenexperiment genau das Gegenteil von dem, was später Mach und Einstein damit zu zeigen versuchen.21 Während Newton glaubt, damit Descartes’ Position ad absurdum zu führen, sehen Mach22 und ihm folgend Einstein23 gerade in der Differenzierung zwischen Erd- und Fixsternrotation eine absurde Konsequenz des newtonschen Systems, dem deshalb ein „erkenntnistheoretischer Mangel“24 zugeschrieben wird. Die Vorstellung eines absoluten Raumes, in dem sich die Körper bewegen, ist also tief in Newtons Intuition verwurzelt. Sie liegt sowohl den physikalischmathematischen als auch den metaphysisch-theologischen Ausführungen zugrunde. Aus ihr wird im Scholion eine konkrete Bewegungslehre ausgearbeitet, die nun untersucht werden soll.

2.2 DER RAUM ALS GRUNDLAGE DER BEWEGUNGSKONZEPTION Dieser Abschnitt widmet sich der newtonschen Bewegungskonzeption und ihrer Grundlage, dem absoluten Raum. Dazu wird das Scholion zu Raum und Zeit der Principia analysiert.25 Dadurch, dass der Raum sowohl im mathematisch-

20 21 22 23 24 25

De Gravitatione, S. 27. Diese Parallele zu Mach wird auch von Kutschmann 1983, S. 56 gesehen. Mach 1883, S. 216–217. Vgl. Einstein 1916, S. 771–773. Einstein 1916, S. 771. Um die Orientierung im Scholion zu erleichtern, werden die 15 Absätze des Textes mit §§ 0– 14 durchnummeriert. Um dabei nicht mit Newtons Kennzeichnung der Absätze durch römische Zahlen aneinanderzugeraten, wird der erste Absatz als § 0 bezeichnet. Vgl. hierzu Rynasiewicz 1995a, S. 139. Nach dieser Nummerierung ist der Aufbau des Scholions der folgende: § 0 Einführung in die Unterscheidung in absolute und relative Größen. §§ 1–4 Darstellung der Größen Zeit (§ 1), Raum (§ 2), Ort (§ 3) und Bewegung (§ 4). §§ 5–7 Besprechung dieser Begriffe. §§ 8–12 Unterscheidungskriterien der absoluten und relativen Bewegung und Ruhe hinsichtlich ihrer Eigenschaften (§§ 8–10), Ursachen (§ 11) und Wirkungen (§ 12, Eimerexperiment). § 13 Abschluss und Klärung der Interpretation von Bewegung in der Bibel. § 14 Empirisches Kriterium zur Bestimmung absoluter Bewegung anhand der rotierenden Kugeln.

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2 Newtons Raumkonzeption

physikalischen als auch im metaphysisch-theologischen Denken Newtons verankert ist, wirken sich die metaphysisch-theologischen Überlegungen auf die Raumkonzeption seiner Mechanik aus. Das führt dazu, dass er dem absoluten Raum Eigenschaften zuschreibt, die mit der Methodologie seiner Principia in Konflikt stehen. Dies soll zunächst gegen eine modernisierende Lesart der newtonschen Raumtheorie herausgearbeitet werden. Damit bereite ich in diesem Abschnitt den Boden für die spätere Diskussion der metaphysisch-theologischen Seite des Raumes, durch die diese Diskrepanz zu erklären ist. Das Scholion steht in den Principia zwischen den Definitionen und den Axiomen. Die Definitionen führen wichtige Größen der newtonschen Naturphilosophie ein, während es sich bei den Axiomen um die Bewegungsgesetze der Mechanik handelt. Sie bilden das Herzstück der Principia, von dem ausgehend Newton sein Werk entwirft.26 Dem Scholion kommt dabei große Bedeutung zu, da Newton darin seine Bewegungslehre formuliert. So ergeben seine anderen Ausführungen z. T. nur im Bezug auf seine Erörterungen im Scholion einen Sinn. In der aktuellen Newtonforschung wird der Status des Raumes jedoch verkannt. So behauptet z. B. DiSalle: […] Newton did not even attempt to show that space, time, and motion are absolute. His primary aim, instead, was to define ‘absolute space,’ ‘absolute time,’ and ‘absolute motion’: to exhibit empirical criteria for applying the concepts, and to reveal the roles that they play in solving the problems of mechanics.27

Die zentralen Thesen DiSalles sind: 1. Der absolute Raum ist als Definition zu verstehen. 2. Newton geht von einer Äquivalenz des absoluten Raumes zu anderen, zu ihm geradlinig-gleichförmig bewegten Räumen aus.28 DiSalle versucht in seiner Interpretation über die metaphysische Bedeutung des absoluten Raumes und die damit einhergehende systeminterne Spannung im Werk Newtons hinwegzusehen. Seine Ausführungen haben in den letzten Jahren innerhalb der Newtonforschung großes Gehör gefunden.29 Würde DiSalles Lesart zutreffen, dann müsste Newton nach der diemerschen Einteilung als Vertreter der modernen Wissenschaftskonzeption gesehen werden. Der absolute Raum hätte lediglich eine funktionale Bedeutung, mit ihm würde ontologisch nichts korrelieren, bzw. die Frage, ob es einen absoluten Raum tatsächlich gibt, wäre für Newton zweitrangig. Wichtiger ist, dass sich auf der Annahme eines absoluten Raumes eine Bewegungslehre errichten lässt, die der Dynamik der Principia genügt.

26 Es handelt sich bei diesen Axiomen der Principia um frühe Versionen der Bewegungsgesetze, die in 1.1 behandelt wurden. 27 DiSalle 2002, S. 17. Ähnlich DiSalle 2006, S. 25–35 und DiSalle 1992, S. 184. Man vgl. für die Stoßrichtung meiner Kritik auch Pulte 2005a, S. 115. 28 Diese Position wird von DiSalle erst in seinen jüngeren Veröffentlichungen vertreten. Vgl. DiSalle 2013. 29 Vgl. dazu Cohen / Smith 2002a, sowie DiSalle 2006. In der jüngsten Forschung wird die erste These auch von Ducheyne übernommen. Vgl. Ducheyne 2012.

2.2 Der Raum als Grundlage der Bewegungskonzeption

35

In Opposition zu DiSalles ist es mein Ziel diese Thesen zu widerlegen und zu demonstrieren, dass es sich bei Newton um einen Vertreter der klassischen Konzeption handelt. Deshalb stelle ich die folgenden ‚Gegenthesen‘ auf: 1. Der absolute Raum ist nach Newton keine bloße Definition, sondern eine ontologische Annahme. 2. Newton geht zwar von der empirischen Äquivalenz des absoluten Raumes und geradlinig-gleichförmig zu ihm bewegten Räumen aus, dennoch unterscheidet er beide sorgfältig. Deshalb kann bei ihm nicht von einer Galileiinvarianz gesprochen werden. Tendenzen der Positivierung, Entmetaphysierung und Hypothetisierung, wie sie für die moderne Wissenschaftskonzeption typisch sind, lassen sich in Newtons Raumkonzeption nicht finden, sondern werden durch modernisierende Interpreten erst in sein Werk hineingelegt. Der absolute Raum ist nach Newton mehr als nur eine ‚sinnvolle Hypothese‘, der ontologisch mit nichts korrelieren muss. Um dies zu zeigen, gilt es die von mir aufgestellten ‚Gegenthesen‘ zu belegen. Ich werde deshalb in diesem Abschnitt zeigen, dass Newtons absoluter Raum mit der Methodologie der Principia, wie sie in den Regulae Philosophandi vorgetragen werden, im Konflikt steht. Dies ist besonders für meine Gegenthese 2 zentral. Newton schreibt im Buch III der Principia, in den Regulae Philosophandi, über seine Methodologie: No more causes of natural things should be admitted than are both true and sufficient to explain their phenomena.30

Des Weiteren richtet er sich am Ende der Principia gegen das willkürliche Ersinnen von Hypothesen und beschreibt sein eigenes Vorgehen wie folgt: In this experimental philosophy, propositions are deduced from the phenomena and are made general by induction.31

Kurz gesagt, vertritt Newton in den Principia also eine induktive und empiristische Methodologie, in der Evidenzen durch Experimente geliefert werden sollen. Ich werde zeigen, dass der absolute Raum mit einer solchen Methodologie jedoch im Konflikt steht. Newtons Haltung zum absoluten Raum wird besser durch seinen methodologischen Kommentar in De Gravitatione verständlich: Die Wissenschaft von der Schwere und dem Gleichgewicht von Flüssigkeiten und von Festkörpern in Flüssigkeiten sollte man auf zweierlei Weise behandeln. Insoweit die Untersuchung zu den mathematischen Wissenschaften gehört, heißt das, daß ich soweit wie möglich von physikalischen Erwägungen abstrahiere. Ich habe deshalb beschlossen, die einzelnen Behauptungen dieser Untersuchung aus abstrakten und dem Leser hinreichend bekannten Prinzipien nach der Art der Geometer strikt zu beweisen. Dann aber werde ich keine Skrupel haben, die Behauptungen mit zahlreichen Experimenten zu erläutern […].32

30 Principia, S. 794. 31 Principia, S. 943. 32 De Gravitatione, S. 15.

36

2 Newtons Raumkonzeption

Dazu bemerkt Pulte: Hier, auf der Ebene mathematischer und begrifflicher Analyse und nicht im Bereich experimenteller Belege, sucht Newton von Anfang an die Auseinandersetzung mit und die Revision von Descartes’ Lehre. Daß dabei ohnehin schon durch Gewißheit („certitudo“) ausgezeichnete Prinzipien noch experimentell bestätigt werden („confirmatur“) sollen, weist der Beobachtung eher eine illustrative denn begründende Funktion zu […].33

Die Principia mit ihrer empiristischen Methodologie ruht auf einem metaphysisch-theologischem Fundament. Dieses Fundament ist älter als die Methodologie der Principia. Newton nähert sich dem Raum dabei nicht auf experimentellem Wege, sondern anhand theoretischer Überlegungen. Dem Experiment kommt nur eine erläuternde Bedeutung zu. Dies gilt es in diesem Abschnitt zu belegen. Dazu gehe ich wie folgt vor: Um den absoluten Raum innerhalb der Principia richtig einordnen zu können, muss zunächst das Verhältnis des Scholions zu den Definitionen und den Axiomen betrachtet werden (2.2.1). Daraufhin erfolgt eine Darstellung der Unterscheidung zwischen relativen und absoluten Größen (2.2.2), um dann die von Newton angegebenen Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen der absoluten Bewegung zu analysieren (2.2.3). Eine Betrachtung der Bewegungsbestimmung anhand der Fliehkräfte auf rotierende Körper bildet den Abschluss der Untersuchung des Scholions (2.2.4). Ausgehend davon werden die für ein Verständnis der newtonschen Bewegungskonzeption zentralen Korollarien besprochen (2.2.5). Im dritten Buch der Principia greift Newton die absolute Bewegung wieder auf und versucht, die bestehenden Schwierigkeiten durch die hypothetisch angenommene Ruhe des Systems der Welt zu lösen.34 Die Bedeutung dieser kosmologischen Bestimmung des absoluten Raumes gilt es zu untersuchen (2.2.6), um abschließend die erarbeiteten Ergebnisse in einem Zwischenfazit zu beurteilen (2.2.7).35

2.2.1 Der Status des Raumes Wie bereits in 2.1 deutlich geworden ist, geht Newton davon aus, dass wir in Besitz eines intuitiven Vorverständnisses des Raumes sind. Dies unterscheidet den Raum sowohl von den Definitionen als auch von den Axiomen. Die Axiome der

33 Pulte 2005a, S. 93. 34 Vgl. Principia, S. 816. 35 Demnach beschäftigt sich Abschnitt 2.2.2 mit § 0, §§ 2–4 und §§ 6–7, Abschnitt 2.2.3 mit §§ 8–12, Abschnitt 2.2.4 mit § 14, 2.2.5 mit den Korollarien, insbesondere Korollar 5, und Abschnitt 2.2.6 mit der Bedeutung von Hypothese I im dritten Buch. Die Analyse des Scholions folgt in zahlreichen Punkten, wie auch in der Einteilung des Textes Rynasiewicz 1995a. Abweichend davon sehe ich in §§ 6–7 nicht eine Rechtfertigung für die Unmöglichkeit der Zurückführung von absoluter Bewegung auf relative, sondern eine Erörterung der in §§ 2–4 gegebenen Unterscheidung, wobei § 7 die Aufgabe einer Überleitung zu §§ 8–12 zukommt. Daher arbeite ich die in §§ 6–7 gegebenen Erklärungen in den Abschnitt zu §§ 0–4 ein.

2.2 Der Raum als Grundlage der Bewegungskonzeption

37

Principia basieren auf den Größen des Scholions. Als Beispiel sei hier das zweite Axiom genannt: A change in motion is proportional to the motive force impressed and takes place along the straight line in which that force is impressed.36

Newton versucht im Scholion zu zeigen, dass relative Bewegung, d. h. Bewegung, die nur als Lageänderung zu anderen Körpern verstanden wird, ein solches Gesetz nicht begründen kann. Aus seiner Sicht machen die Axiome nur Sinn mit Bezug auf die von ihm im Scholion eingeführte absolute Bewegung.37 Damit bilden der absolute Raum und die sich auf ihn beziehenden Größen (wie absoluter Ort und absolute Bewegung) für Newton die Grundlagen der Bewegungsgesetze, aus denen die Principia entwickelt werden. Dennoch ist der absolute Raum mehr als nur eine Annahme, welche um der Bewegungsgesetze willen eingeführt wird.38 Newtons Unterscheidung zwischen zu definierenden Begriffen und den Erläuterungen des Scholions macht dies deutlich. Über die Aufgabe der Definitionen schreibt er: Thus far it has seemed best to explain the senses in which less familiar words are to be taken in this treatise.39

Demgegenüber haben wir nach Newton zu den Größen des Scholions einen anderen Zugang. Er schreibt in den Principia weiter: Nämlich Zeit, Raum, Ort und Bewegung, als allen wohlbekannt, definiere ich nicht.40

Bereits in De Gravitatione findet sich eine Passage, die dieser Bemerkung als Vorbild diente. Dort schreibt er: Die Worte Größe, Dauer und Raum sind zu geläufig, als daß man sie durch andere Ausdrücke definieren könnte.41

In Newtons Überlegungen ist das Verhältnis der Definitionen zu den Größen des Scholions z. T. schwankend. So findet sich der Ort in De Gravitatione anders als in den Principia unter den Definitionen.42 Anhand dieser Schwankungen können später Rückschlüsse auf die Entwicklungen der Raumdebatte bei Newton gezogen werden.43 Hier gilt es zunächst festzuhalten, dass Newton den Raum von den De-

36 37 38 39 40

Principia, S. 416. Siehe hierzu 2.2.3. Dieser Gedanke findet sich erst bei Euler. Vgl. hierzu 3.3. Principia, S. 408. Dt. Principia, S. 27. Ich führe hier die deutsche Übersetzung Schüllers an, da sich der Satz in Cohens Übertragung nicht findet. Cohen hat an dieser Stelle nur die abweichende Formulierung der dritten Auflage übersetzt. Newton hat den Satz aus der dritten Auflage gestrichen. Das ist wohl, wie ich in 3.1.3 zeigen werde, auf seine Debatte mit Leibniz zurückzuführen. 41 De Gravitatione, S. 15. Vgl. 2.3.1. 42 Die Ursache der Differenzen ist der Status der Auseinandersetzung Newtons mit Descartes. Vgl. die ausführlichere Besprechung unter 2.3.2. 43 Vgl. 2.3.2 und 3.1.3.

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2 Newtons Raumkonzeption

finitionen44 bewusst unterscheidet.45 Die Definitionen46 erklären „weniger bekannte Ausdrücke“47. Demgegenüber geht Newton in seiner Raum- und Bewegungskonzeption von einem bereits in 2.1 skizzierten intuitiven Vorverständnis aus. Der Raum ist „wohlbekannt“48 oder „zu geläufig“49, um definiert zu werden. Dies widerlegt DiSalles erste These, es handele sich beim absoluten Raum um eine bloße Definition, die den physikalischen Termini (Bewegung, Kraft etc.) ihre Bedeutung gibt. Anders als bei den Definitionen entwickelt Newton im Scholion seine Bewegungslehre aus einem bereits bestehenden Vorverständnis.50 Um DiSalles zweite These zu widerlegen, gilt es im Folgenden, diese Bewegungslehre genauer zu untersuchen.

2.2.2 Newtons Bewegungskonzeption Newton beginnt das Scholion mit der Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Größen: Although time, space, place, and motion are very familiar to everyone, it must be noted that these quantities are popularly conceived solely with reference to the objects of sense perception. And this is the source of certain preconceptions; to eliminate them it is useful to distinguish these quantities into absolute and relative, true and apparent, mathematical and common.51

Die eigentlichen Größen sind die absoluten, während die relativen Größen lediglich deren „feststellbare Maße“52 darstellen. Der absolute Raum ist nach Newton das grundlegende Medium, in dem sich Körper bewegen. Er ist homogen und unbeweglich.53 Dabei existiert er unbeeinflusst und unabhängig von den Körpern in ihm. 44 Wie auch DiSalle sieht Rynasiewicz in §§ 1–4 fälschlicherweise Definitionen der Größen Zeit, Raum, Ort und Bewegung: „One may well wonder whether the next four paragraphs do not in fact present definitions of these terms.“ Rynasiewicz 1995a, S. 139. Ebenso Gosztonyi 1976, S. 333. Hier ist Nerlich zuzustimmen: „If this is definition, it is old fashioned real definition: about what things are in themselves, not about how to use the expression ‘absolute space’. These are metaphysical assertions […].“ Nerlich 2005, S. 121. 45 Vgl. Pulte 2005a, S. 115. 46 Lediglich in De Motu IV findet sich der Raum unter den Definitionen. Vgl. De Motu IV, S. 309–310, Rynasiewicz 1995a, S. 140–141. Das hängt damit zusammen, dass De Motu IV im Wesentlichen eine mathematische Abhandlung ist. 47 Dt. Principia, S. 27. 48 Dt. Principia, S. 27. 49 De Gravitatione, S. 15. 50 Vgl. Nerlich 2005, S. 121. Dieses Vorverständnis wird in den Principia nicht weiter besprochen. Newton erklärt dessen Bedeutung in De Gravitatione genauer. Vgl. 2.3.4. 51 Principia, S. 408. 52 Dt. Principia, S. 29. 53 Die Bemerkung erscheint hier überflüssig, da Bewegung nach Newton stets ein Hintergrundmedium voraussetzt, zu dem sich etwas bewegt. Denn worin soll sich ein absoluter Raum

2.2 Der Raum als Grundlage der Bewegungskonzeption

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Aufgrund der Homogenität des absoluten Raumes können seine Teile durch unsere Sinne nicht unterschieden werden. Deshalb müssen relative Räume eingeführt werden. Sie sind Abmessungen54 im absoluten Raum. Da sie erst durch bewegliche Körper sichtbar werden, sind die relativen Räume ebenfalls beweglich. Über das Verhältnis des relativen zum absoluten Raum bemerkt Newton: Absolute and relative space are the same in species and magnitude, but they do not always remain the same numerically. For example, if the earth moves, the space of our air, which in a relative sense and with respect to the earth always remains the same, will now be one part of absolute space into which the air passes now another part of it […].55

Die newtonsche Unterscheidung zwischen einem absoluten Raum und relativen Räumen wirkt sich auf seine Konzeption des Ortes aus. Newton sieht im Ort einen Teil des Raumes. Es handelt sich daher, je nach Raum, entweder um einen absoluten56 oder relativen Ort. Dabei betont Newton, dass der Ort eines Körpers weder durch seine Lage57 noch durch seine Oberfläche gegeben ist. Unter Bewegung versteht Newton die Ortsveränderung. Je nach Art des Ortes unterscheidet er zwischen absoluter und relativer Bewegung. Die relative Bewegung hängt von der Bewegung des Bezugskörpers ab und ist nach Newton daher für die Naturphilosophie unzureichend. Die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Bewegung sowie die Addition von sich zusammensetzenden Bewegungen wird von Newton anhand des Schiffsbeispiels erläutert.58 Er betrachtet dazu die Bewegung eines Seemanns in einem Schiff, das den relativen Raum darstellt:

54 55 56

57

58

bewegen? Wie in 2.3.2 deutlich werden wird, handelt es hierbei sich um ein Residuum der in De Gravitatione vorgetragenen Descarteskritik. Vgl. hierzu 2.3.5. Principia, S. 409. Newton bespricht in § 6 die Natur der absoluten Orte und ihre unveränderlichen Anordnungen. In De Gravitatione findet sich eine Vorform des Arguments. Vgl. hierzu De Gravitatione, S.47. Für eine Analyse der Passage siehe Nerlich 2005 und Huggett 2008. Diese Abgrenzung vom Ort als Lage oder Oberfläche richtet sich gegen Descartes, der in seinem Verständnis des äußeren Ortes als Oberfläche Überlegungen von Aristoteles übernimmt. Vgl. Principia philosophiae, S. 38 und Aristoteles, Physik IV 5 212, a, 14–16. So schreibt Newton in De Gravitatione: „Der Platz einer Sache ist der Teil des Raumes, den sie genau ausfüllt.“ De Gravitatione, S. 15. Und direkt gegen Descartes: „Insofern Descartes zweierlei Bewegung annimmt, nämlich eigentliche und abgeleitete, schreibt er ‚einem Körper‘ auch zweierlei Orte zu, aus denen heraus diese Bewegungen ausgeführt werden, nämlich die Oberfläche der unmittelbar umgebenden Körper (T 2 § 15) und die Lage im Verhältnis zu irgendwelchen anderen Körpern (T 2 § 13 und T 3 § 29).“ De Gravitatione, S. 19. Hinsichtlich der Descarteskritik Newtons vgl. 2.3.2. Diese Argumentation taucht in der Debatte mit Leibniz wieder auf. Man siehe hierzu 3.1. Das traditionsreiche Schiffsbeispiel erörtert die Überlagerung und Konstruktion von Bewegung. Es wird hier ausführlicher dargestellt, da es von Kant (vgl. 4.2.2.2) und Fries (vgl. 5.2.3.1) aufgegriffen wird und an seiner Entwicklung Differenzen zwischen Kant und Fries deutlich werden.

40

2 Newtons Raumkonzeption For example, if that part of the earth where the ship happens to be is truly moving eastward with a velocity of 10,010 units, and the ship is being borne westward by sails and wind with a velocity of 10 units, and a sailor is walking on the ship toward the east with a velocity of 1 unit, then the sailor will be moving truly and absolutely in unmoving space toward the east with a velocity of 10,001 units and relatively on the earth toward the west with a velocity of 9 units.59

Um die wahre Bewegung eines Körpers festzustellen, müssen die relativen Bewegungen eines Körpers mit der absoluten Bewegung des Bezugskörpers verrechnet werden. Die Bewegung relativer Orte (z. B. des Schiffes) muss auf andere relative Orte bezogen werden (z. B. die Erde), bis man schließlich zu einem absoluten, ruhenden Ort kommt,60 auf den die Bewegung dann zuletzt bezogen wird.61 Newton räumt die Berechtigung relativer Räume ein, die lediglich durch ihre „Beziehung zu den feststellbaren Dingen“62 erfasst werden. Sie sind nach ihm jedoch nicht ausreichend für die Principia: Thus, instead of absolute places and motions we use relative ones, which is not inappropriate in ordinary human affairs, although in philosophy abstraction from the senses is required. For it is possible that there is no body truly at rest to which places and motions may be referred.63

2.2.3 Die Eigenschaften, Wirkungen und Ursachen wahrer Bewegung Newton wendet sich im Scholion gegen die Bewegungskonzeption Descartes’. Dies wird anhand seiner Charakterisierung der Gegenposition deutlich. Nach Descartes ist wahre Bewegung die Bewegung zu den unmittelbar angrenzenden Körpern. Newton schreibt nun über den Unterschied zwischen absoluter und relativer Bewegung: Moreover, absolute and relative rest and motion are distinguished from each other by their properties, causes, and effects.64

Damit leitet er §§ 8–12 ein. Darin werden die Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen der absoluten Bewegung herausgearbeitet.65 Rynasiewicz66 macht darauf aufmerksam, dass diese Passage als eine theoretische Erörterung verstanden werden muss. Ihr Ziel ist es, zu zeigen, dass die cartesische Bewegungskonzeption

59 Principia, S. 410. 60 Hier beziehe ich mich besonders auf Newtons Bemerkungen in § 10. 61 Dies ist, wie in 2.2.6. deutlich werden wird, für Newton das Gravitationszentrum des Sonnensystems. 62 Dt. Principia, S. 27. 63 Principia, S. 411. 64 Principia, S. 411. 65 Wie Rynasiewicz herausarbeitet, haben die ‚rotierenden Kugeln’ in § 14 eine andere Zielsetzung als das Eimerexperiment. § 14 soll zeigen, wie absolute Bewegung gemessen werden kann. Vgl. 2.2.4. 66 Siehe Rynasiewicz 1995a.

2.2 Der Raum als Grundlage der Bewegungskonzeption

41

und generell relative Konzeptionen zur Begründung absoluter Bewegung nicht ausreichen. Newton will dahingehende Versuche ad absurdum führen und davon auf die Richtigkeit seiner eigenen Bewegungskonzeption schließen. Seine Argumente sollen hier analysiert werden. Die §§ 8-10 beschäftigen sich mit den Eigenschaften, durch die absolute und relative Bewegungszustände unterschieden werden können. Newton versucht zunächst, die Unmöglichkeit aufzuzeigen, absolute Bewegungszustände relational, d. h. lediglich mit Bezug auf Körper zu erklären.67 Nachdem er Descartes widerlegt hat, weist er auf die Richtigkeit seiner eigenen Bewegungskonzeption hin. Newtons Argumentation in § 8 ist knapp und dadurch schwer verständlich.68 Nach Descartes können Körper ihre Lage zueinander verändern, ohne sich zu bewegen, was Newton für absurd hält. Z. B. ruhen die Planeten nach Descartes zum sie umgebenden Äther, verändern jedoch trotzdem ihre Lage untereinander. Demgegenüber handelt es sich bei der Eigenschaft der relativen Ruhe um eine notwendige Bedingung, die Newton zufolge absolute Bewegung erfüllen muss. Descartes’ wahre Bewegung genügt jedoch noch nicht einmal diesem notwendigen Kriterium, was seine Konzeption widerlegt. Interessant ist hier die Argumentationsstruktur. Sie ist charakteristisch für Newtons Vorgehen hinsichtlich der Raumfrage. In De Gravitatione spricht Newton davon, dass ein Widerspruch mit dieser Eigenschaft „vernunftwidrig“69 sei. Dass wirklich ruhende Körper auch zueinander ruhen müssen, wird nicht aus der zuvor in §§ 0–4 dargestellten Bewegungskonzeption hergeleitet. Die Ruhe zueinander scheint er vielmehr für ein unmittelbar einsichtiges Kriterium zu halten, dem wahre Ruhe genügen muss. Es entspringt aus unserem intuitiven Vorverständnis des Raumes. Nachdem er die Insuffizienz der cartesischen Konzeption der Ruhe von Körpern aufgezeigt hat, geht Newton auf die Bewegung ein. Definition II zufolge besteht die Bewegungsgröße eines Körpers aus der Summe der Bewegungsgrößen seiner Teile.70 Newton führt nun an, dass Teile, die die Stellung zum Ganzen beibehalten, an dessen Bewegung partizipieren. Die Summe der Impetusbeiträge der Teile eines Körpers ist also gleich dessen Gesamtimpetus. Dem widerspricht jedoch Descartes, der wahre Bewegung als Bewegung zu den unmittelbar angrenzenden Körpern ansieht. Nach Descartes würden sich die inneren Teile eines Körpers nicht bewegen, ruhen sie doch zu seinen äußeren Teilen. Wenn sich aber nur die Oberfläche bewegt, so widerspricht dies der Kraftkonzeption Newtons.

67 § 8 behandelt absolute Ruhe, § 9 absolute Bewegung. Man achte auf diese im Scholion immer wieder vorgetragene Differenzierung, die aus systematischer Sicht überflüssig ist, wie in 1.1 gezeigt wurde. 68 Eine Vorform der Überlegung findet sich in De Gravitatione. Vgl. Böhme 1988b, S. 97. 69 De Gravitatione, S. 19. Im lateinischen Manuskript schreibt Newton: „rationi absona“ (De Gravitatione, S. 18) was durch ‚mit der Vernunft unvereinbar’ wiedergegeben werden kann. 70 “The motion of a whole is the sum of the motions of the individual parts […].” Principia, S. 404. $%&' = ∑*) #) ∙ )

42

2 Newtons Raumkonzeption

Nachdem Newton die Fehlerhaftigkeit der cartesischen Bewegungskonzeptionen aufgezeigt hat, schließt er im letzten Absatz der „Eigenschaften“ rückwirkend auf die Richtigkeit seiner in §§ 0–4 dargestellten Überlegungen: Thus, whole and absolute motions can be determined only by means of unmoving places, and therefore in what has preceded I have referred such motions to unmoving places and relative motions to movable places.71

Die Widerlegung der relationalen Bewegungslehre zeigt nach Newton die Notwendigkeit einer transrelationalen Konzeption. Nach den Eigenschaften geht Newton auf die Ursachen wahrer Bewegung ein. In § 11 ist es sein Ziel, anhand des zweiten Bewegungsgesetzes zu zeigen, dass eine relative Bewegungskonzeption für die Begründung einer Dynamik nicht ausreicht. Kräfte sind für Newton keine lediglich vom Bezugssystem abhängigen, operationalen Größen72, sondern reale Entitäten und als solche Ursachen für die Bewegungsänderung. Wenn die Kraft bekannt ist, so kann bei bekannter Masse auf die Bewegungsänderung geschlossen werden und vice versa. Daran scheitert jedoch eine bloß relative Bewegungskonzeption. Wenn in den Bezugskörpern selber eine Kraft eingeprägt ist, dann korrelieren die auf den beobachteten Körper wirkende Kraft und seine Bewegungsänderung nicht. Newton folgert daraus, dass die wahre Bewegung nicht durch relative Bewegung begründet werden kann: Therefore, every relative motion can be changed while the true motion is preserved, and can be preserved while the true one is changed, and thus true motion certainly does not consist in relations of this sort.73

Zuletzt geht Newton auf die Wirkung von Bewegung ein. Anders als bei der bloß relativen treten bei der wahren Kreisbewegung Fliehkräfte auf. Anhand dieser Fliehkräfte kann also zwischen wahrer und scheinbarer Kreisbewegung unterschieden werden. Die Wirkung dieser Kräfte hängt von der Rotationsgeschwindigkeit und dem Abstand zur Drehachse ab.74 Bei bloß relativen Bewegungen treten diese Kräfte nicht auf. Der einleitenden Bemerkungen zu § 12 folgt das berühmte, vieldiskutierte Eimerexperiment. Newton beschreibt zunächst den Ablauf des Experiments, um es dann anticartesisch zu deuten: An einem langen, verdrillten Seil ist ein Eimer aufgehängt, der mit Wasser gefüllt ist. Zu Beginn ruhen der Eimer und das Wasser in ihm. Daraufhin wird der Eimer losgelassen, woraufhin er zu rotieren beginnt. Das Wasser ruht zunächst noch im Eimer und die Wasseroberfläche ist flach. Nach einiger Zeit beginnt das Wasser jedoch, die Rotationsgeschwindigkeit des Eimers zu übernehmen: Die Wasseroberfläche wölbt sich zunehmend parabolisch, bis schließlich das Wasser und der Eimer die gleiche Geschwindigkeit angenommen haben und die Krümmung der Oberfläche ihr Maximum erreicht. 71 72 73 74

Principia, S. 412. Vgl. z. B. Kutschmann 1983, S. 6. Principia, S. 412. Vgl. meine Ausführungen zur Zentrifugalkraft in 1.1.

2.2 Der Raum als Grundlage der Bewegungskonzeption

43

Newton unterscheidet drei Zustände:75 1. Zunächst ruhen Eimer und Wasser zueinander. 2. Daraufhin beginnt der Eimer zu rotieren, während das Wasser ruht. Die Relativgeschwindigkeit zwischen Eimerwand und Flüssigkeit ist somit maximal. Dennoch bleibt die Oberfläche des Wassers flach, d. h. es treten keine Zentrifugalkräfte auf. 3. Durch die Reibung zwischen Wasser und Eimerwand beginnt das Wasser zu rotieren und hat schließlich die Rotationsgeschwindigkeit des Eimers inne. Mit größer werdender Rotationsgeschwindigkeit steigt es stetig höher, bis die Rotationsgeschwindigkeit von Eimer und Wasseroberfläche schließlich gleich ist. Hier ist, wie zu Beginn des Experiments, die Relativgeschwindigkeit zwischen Wasser und Eimeroberfläche gleich Null. Aufgrund dieser ‚antithetischen‘ mathematischen Beziehung von Relativgeschwindigkeit und Wirkung (Deformation der Wasseroberfläche) schließt Newton, dass die Bewegung zwischen Eimerwand und Wasser nicht die Ursache der Fliehkräfte sein kann. Dies lässt sich skizzieren als:

vrel = max ⟶ Wirkung = 0 vrel = 0 ⟶ Wirkung = max Demgegenüber behauptet Descartes jedoch: Betrachten wir jedoch nicht nach der gewöhnlichen Auffassung, sondern der Wahrheit nach das, was unter Bewegung zu verstehen ist, um ihr eine bestimmte Natur zuzusprechen, so kann man sagen, sie sei die Überführung eines Teiles der Materie oder eines Körpers aus der Nachbarschaft der Körper, die ihn unmittelbar berühren, und die als ruhend angesehen werden, in die Nachbarschaft anderer.76

Das Eimerexperiment zeigt, dass die cartesische wahre Bewegung mit der auftretenden Wirkung nicht korreliert. Newton bemerkt deshalb: In the beginning, when the relative motion of the water in the vessel was greatest, that motion was not giving rise to any endeavor to recede from the axis; the water did not seek the circumference by rising up the sides of the vessel but remained level, and therefore its true circular motion had not yet begun. But afterward, when the relative motion of the water decreased, its rise up the sides of the vessel revealed its endeavor to recede from the axis, and this endeavor showed the true circular motion of the water to be continually increasing and finally becoming greatest when the water was relatively at rest in the vessel.77

Es geht Newton im Eimerexperiment nicht darum, von den Zentrifugalkräften auf die absolute Bewegung und davon ausgehend auf die Existenz des absoluten

75 Vgl. dazu Carrier 2009, S. 171–173. 76 Principia philosophiae, S. 42. 77 Principia, S. 413.

44

2 Newtons Raumkonzeption

Raumes zu schließen.78 Newtons Ziel ist vielmehr zu zeigen, dass absolute Bewegung nicht auf relative Bewegung reduziert werden kann. Deshalb schließt er in § 13: Relative quantities, therefore, are not the actual quantities whose names they bear but are those sensible measures of them (whether true or erroneous) that are commonly used instead of the quantities being measured.79

Er endet in diesem Abschnitt mit einer Bemerkung zur Bedeutung von Maßen in der Bibel, die nicht als „ausgemessene[n] Größen“80 verstanden werden dürften. Diese Passage trennt die Untersuchung der „Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen“81 von den Kriterien zur Bestimmung der wahren Bewegung eines Körpers. In §§ 8–12 bildet das Eimerexperiment den illustrierenden Schlussakkord einer Reihe von theoretischen Überlegungen. Die zentralen Argumente gegen Descartes und für den absoluten Raum sind also nicht experimenteller, sondern theoretischer, konzeptioneller Natur. Interessant ist, dass Newton in der Methodologie seiner Principia jedoch eine empiristische, induktive Methododologie vertritt. Demnach besteht eine Differenz zwischen dem absoluten Raum und der von Newton in den Principia propagierten Methodologie.82

2.2.4 Empirische Bestimmung wahrer Bewegung Newtons Ausführungen haben gezeigt, dass eine bloß relative Bewegung nicht das Fundament der Mechanik bilden kann. Das zentrale Problem seiner Bewegungskonzeption ist jedoch, dass absolute Bewegung aufgrund der Homogenität des Raumes nicht unmittelbar erkannt werden kann. Um die wahre Bewegung dennoch zu ermitteln, greift er in § 14 auf deren Wirkung zurück. Zum einen kann nach Newton anhand der Kräfte auf die Bewegung eines Körpers geschlossen werden. Zum anderen können wahre Bewegungen aber auch Kräfte hervorbringen. Dieser Gedanke wird von Newton weiter ausgebaut. Fliehkräfte sind die „Wirkung von wahrer Bewegung“83. Bei wahrer Kreisbewegung treten Zentrifugalkräfte auf. Wie im Eimerexperiment bereits angedeutet, lässt sich nach Newton daraus die wahre Kreisbewegung ermitteln: For example, if two balls, at a given distance from each other with a cord connecting them, were revolving about a common center of gravity, the endeavor of the balls to recede from the

78 79 80 81 82

Vgl. Rynasiewicz 1995a, S. 316–319. Principia, S. 413. Dt. Principia, S. 31. Dt. Principia, S. 29. Dies deckt sich mit jüngeren Ergebnissen Janiaks, der die Wichtigkeit der newtonschen Bibelinterpretation für die Unterscheidung zwischen den beiden Bewegungstypen Newtons herausarbeitet. Vgl. Janiak 2012a. 83 Dt. Principia, S. 32.

2.2 Der Raum als Grundlage der Bewegungskonzeption

45

axis of motion could be known from the tension of the cord, and thus the quantity of circular motion could be computed.84

Durch die Spannung des Fadens sind Rückschlüsse auf die wahre Rotationsgeschwindigkeit möglich. Um den Drehsinn zu ermitteln, schlägt Newton vor, den Kugeln einen Stoß zu geben. Anhand des Anstiegs oder der Abnahme der Fadenspannung kann dann die Richtung der Kreisbewegung bzw. das Vorzeichen der absoluten Rotationsbewegung erschlossen werden.85

2.2.5 Der absolute Raum in seinem Verhältnis zu den Korollarien Auf das Scholion folgen in den Principia die Axiome. Daraufhin formuliert Newton sechs Korollarien, die sich als Ergebnis aus dem vorangegangenen Ausführungen ableiten lassen sollen. Diese Korollarien sind die Quelle von unterschiedlichen Fehleinschätzungen der newtonschen Lehre und haben für die im Weiteren zu untersuchende philosophische Rezeption große Bedeutung. Die Korollarien eins und zwei behandeln die Addition von Kräften, die auf einen Körper wirken. Nach dem dritten Korollar ändert sich die Gesamtbewegung von Körpern durch die zwischen ihnen wirkenden Kräfte nicht. Das vierte Korollar besagt, dass sich der Schwerpunkt eines Systems von Körpern durch die Einwirkung der Körper aufeinander nicht ändert.86 Korollar fünf und sechs klären, inwiefern das Verhalten von Körpern in Ruhe und Bewegung nicht unterschieden werden kann. Newton schreibt in Korollar 5:

84 Principia, S. 414. 85 Die Zentrifugalkraft lautet dem Betrag nach stimmt werden, ob

F = m ∙ R ∙ ωKugel2. Daher kann nicht be-

ω negativ oder positiv ist. Das bedeutet, dass zwei Bezugssysteme die

obige Gleichung erfüllen. Das eine rotiert mit ω = 2 ∙ ωKugel zum absoluten Raum (mit ω als Rotationsgeschwindigkeit zwischen Bezugssystem und absolutem Raum). Das andere vollführt keine Rotationsbewegung, d. h. es dreht sich nicht zum absoluten Raum, weshalb gilt ω = 0. Dieses Problem kann durch den von Newton beschriebenen Stoß auf die Kugeln gelöst werden. Vgl. hierzu Reichenbach 1924, S. 418–419. 86 Newton spricht vom „gemeinsame[n] Schweremittelpunkt zweier oder mehrerer Körper“, hier von mir anachronistisch als System und später als Bezugssystem abgekürzt. Dies geschieht jedoch mit Blick auf den hier gezogenen Vergleich mit dem physikalisch– systematischen Hintergrund in 1.1. Newtons volle Formulierung lautet: “The common center of gravity of two or more bodies does not change its state whether of motion or of rest as a result of the actions of the bodies upon one another; and therefore the common center of gravity of all bodies acting upon one another (excluding external actions and impediments) either is at rest or moves uniformly straight forward.” Principia, S. 421.

46

2 Newtons Raumkonzeption When bodies are enclosed in a given space, their motions in relation to one another are the same whether the space is at rest or whether it is moving uniformly straight forward without circular motion.87

Die Relation der Körper zueinander, ob sie nun im absoluten Raum ruhen oder sich in geradliniger-gleichförmiger Bewegung zueinander befinden, bleibt die gleiche. Modern könnte man formulieren: Der absolute Raum ist von einem zu ihm geradlinig-gleichförmig bewegten Bezugssystem empirisch nicht zu unterscheiden. Wie in 1.1 gezeigt wurde, wäre es systematisch gesehen möglich, hier den Schritt vom absoluten Raum zu einer Äquivalenzklasse von Räumen zu machen. Der absolute Raum wäre nur ein ausgezeichnetes Inertialsystem. Hierdurch ließe sich auch das Problem der Bestimmung absoluter Bewegung modifizieren und lösen. Das Experiment der rotierenden Kugeln genügt nicht, um deren absoluten Bewegungszustand eindeutig zu identifizieren. Es lässt sich durch das Expe-

v

v

v

riment die Geschwindigkeit einer Kugel mit v abs    R  t  v 0 bestimmen,

v

wobei v 0 jedoch unbekannt bleibt. Durch die Äquivalenz der Inertialsysteme könnte diese Geschwindigkeit als beliebig bezugssystemabhängig angesehen werden. Tatsächlich unterstellen modernisierende Newtoninterpreten wie DiSalle Newton diesen Schritt.88 So verlockend es aber auch ist, die Geschichte des Raumes und der Bezugssysteme hier abzukürzen und 200 Jahre weiterer Entwicklung für nichtig zu erklären: Es ist zu unterstreichen, dass Newton diesen Schritt vom absoluten Raum zu einer Äquivalenzklasse von relativen Räumen eben nicht geht. Dies wird insbesondere anhand des Briefwechsels seines Schülers Clarke mit Leibniz deutlich, der später (3.1) noch genauer untersucht wird. Hinter der Position Clarkes steht, wie gezeigt werden wird, Newton. Vorgreifend soll der Briefwechsel zur richtigen Einordnung der Korollarien kurz herangezogen werden. Leibniz, der die Äquivalenz einer ruhenden und einer geradlinig-gleichförmig bewegten Welt betont, schließt hiervon auf die Nichtigkeit des absoluten Raumes. Gegen Leibniz bemerkt Clarke nun, dass die Bewegung und die Ruhe des Welt-

87 Principia, S. 423. Korollar 6 kann als Erweiterung von Korollar 5 gelesen werden. Es lautet: “If bodies are moving in any way whatsoever with respect to one another and are urged by equal accelerative forces along parallel lines, they will all continue to move with respect to one another in the same way as they would if they were not acted on by those forces.” Principia, S. 423. Der Gedanke Newtons hinter diesem Korollar ist klar: Es geht ihm darum, die Bewegungsgesetze nicht nur auf im Raum tatsächlich ruhende (welche auch immer das sein mögen) und geradlinig–gleichförmige Körper anwenden zu können, sondern auch auf gleichförmig beschleunigte Körper wie z. B. auf die Satelliten von Planeten, die sich auf ihrer Bahn quasi im freien Fall befinden. 88 Vgl. DiSalle 2013.

2.2 Der Raum als Grundlage der Bewegungskonzeption

47

ganzen nicht dasselbe sind, auch wenn beide empirisch nicht zu unterscheiden wären: Wäre der Raum nichts weiter als die Ordnung nebeneinanderbestehender Dinge, so würde daraus folgen, daß wenn Gott die gesamte materielle Welt als Ganzes entlang einer Geraden mit irgendeiner Geschwindigkeit versetzen würde, sich die nebeneinanderbestehenden Dinge trotzdem immer noch in demselben Ort befinden würden […].89

Modern gesprochen, ist die empirische Ununterscheidbarkeit für Newton eben kein hinreichendes Kriterium für die Äquivalenz zweier Bezugssysteme, wodurch erneut die Spannung zwischen der Raumkonzeption und der empiristischen Methodologie der Principia deutlich wird.90 Obwohl der absolute Raum von anderen, geradlinig-gleichförmig bewegten Räumen empirisch nicht unterschieden werden kann, geht Newton dennoch davon aus, dass es genau einen absoluten Raum gibt, in dem die Körper genau eine absolute Bewegung und einen absoluten Ort haben. Eine modernisierende Auffassung der newtonschen Raumlehre, wie sie DiSalle vertritt, greift zurück auf das leibnizsche Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren. Ein solches Prinzip wird von Newton abgelehnt. Dies widerlegt auch DiSalles Behauptung, dass Newton von der Äquivalenz des absoluten Raumes und zu ihm geradlinig-gleichförmig bewegten Räumen ausgeht. Damit ist auch die von mir als These 2 bezeichnete Annahme DiSalles widerlegt. Um die Bewegung eines Körpers zum absoluten Raum zumindest prinzipiell zu bestimmen, geht Newton, wie im nächsten Teil deutlich werden wird, den Weg über seine Kosmologie. Dennoch bleibt mit Blick auf Kant und besonders Fries festzuhalten, dass es ein newtonsches Relativitätsprinzip gibt, das zwar implizit in den Principia enthalten ist, aber nicht vollständig zur Entfaltung kommt. Vorgreifend auf die spätere Untersuchung kann gesagt werden, dass es das Ziel beider späteren Denker ist, dieses Prinzip durch eine tiefergehende philosophische Untersuchung weiter auszudehnen, als es noch Newton tat.

2.2.6 Newtons kosmologische Lösung Im dritten Buch der Principia arbeitet Newton seine Kosmologie aus. Hier schließt er vom Verhältnis der Radien zu den Umlaufzeiten der Himmelskörper auf die Form der universellen Gravitation.91 Zunächst versucht Newton zu zeigen, dass sich die Himmelskörper im Verhältnis r3~T2 um die Sonne bzw. den Planeten

89 Leibniz–Clarke S. 46, Clarkes dritter Brief, § 4. Man vgl. hierzu auch Leibniz–Clarke S. 66, Clarkes vierter Brief, § 13, sowie die Ausführungen dazu in 3.1.3. 90 Man vgl. die Diskussion unter 2.2.7. 91 Er betrachtet die Jupiter- und Saturnmonde, die zu seiner Zeit bekannten Planeten einschließlich der Erde sowie den Erdenmond. Für eine umfassende Analyse vgl. Harper 2002 und Harper 2011.

48

2 Newtons Raumkonzeption

drehen und dass die Planeten in gleicher Zeit gleiche Flächen überstreichen (ebenso wie der Mond auf seinem Weg um die Erde).92 Davon ausgehend schließt er auf die wirkende Kraft: The gravity that is directed toward every planet is inversely as the square of the distance of places from the center of the planet.93

Und weiter: Hitherto we have called ‘centripetal’ that force by which celestial bodies are kept in their orbits. It is now established that this force is gravity, and therefore we shall call it gravity from now on.94

Diente das erste Buch der Principia noch der Entwicklung geometrischer Sätze, so werden hier in Buch III astronomische Beobachtungen gedeutet, um anschließend auf die real wirkende Kraft zu schließen. Davon ausgehend greift Newton in die Debatte zwischen geozentrischem und heliozentrischem Weltbild ein.95 Er schreibt unter Hypothese I: The center of the system of the world is at rest. No one doubts this, although some argue that the earth, others that the sun, is at rest in the center of the system. Let us see what follows from this hypothesis.96

Der Mittelpunkt des Weltsystems wird mit dem Schwerpunkt aus Sonne, Erde und Planeten gleichgesetzt.97 Der Bezug auf Korollar 4 zeigt, dass andere Himmelskörper, beispielsweise die Fixsterne, von einer Wechselwirkung explizit ausgeschlossen werden.98 Daher kann nach Newton der Schwerpunkt des Sonnensystems entweder ruhen oder sich geradlinig gleichförmig bewegen. Durch die Hypothese separiert Newton den absoluten Raum innerhalb der Klasse der Inertialsysteme. Das ruhende Weltsystem bietet somit die Möglichkeit, zumindest prinzipiell, die absolute Bewegung eines jeden Körpers anzugeben. Am Ende des Scholions schreibt Newton:

92 93 94 95 96 97 98

Heute als zweites und drittes Keplersches Gesetz bezeichnet. Principia, S. 806. Principia, S. 806. Vgl. Jammer 1960, S. 110–111. Principia, S. 816. Vgl. Principia, S. 816. In Query 28 fragt Newton rhetorisch: „[W]as hindert die Fixsterne daran, dass sie nicht aufeinander fallen?“ Optik, S. 244. Nach Newton offenbart sich in der Ruhe der Fixsterne das Wirken Gottes. Man vgl. hinsichtlich der Gravitation zwischen den Fixsternen auch die genauere Erklärung in Principia, S. 819. Newton ist sich also der Problematik zueinander gravitierender Fixsterne durchaus bewusst. Jedoch überträgt er die für die Planetenbewegung entwickelte Lösung nicht auf den weiteren Kosmos. Dies geschieht erst, wie in 4.1.2. gezeigt wird, durch Kant in dessen Werk Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels.

2.2 Der Raum als Grundlage der Bewegungskonzeption

49

But in what follows, a fuller explanation will be given of how to determine true motions from their causes, effects, and apparent differences, and, conversely, of how to determine from motions, whether true or apparent, their causes and effects. For this was the purpose for which I composed the following treatise.99

Mit Stein sehe ich in Hypothese I die Einlösung dieser Ankündigung.100 Newtons Argumentation weist jedoch auf eine systeminterne Spannung hin: Sie widerspricht seinem programmatisch gegen den Cartesianismus und später den Leibnizianismus vorgetragenen Hypothesenverdikt.101 Newton lehnt bloße Hypothesen als Begründungsinstanz ab,102 sie müssen anhand experimenteller Ergebnisse abgesichert werden. So können z. B. die Bewegungsgesetze durch die induktive Generalisierung der Beobachtungen ihren hypothetischen Charakter verlieren und quasi-mathematische Gewissheit erlangen.103 Newtons ‚Hypothesis non fingo‘ richtet sich somit nicht gegen Hypothesen allgemein, sondern vielmehr gegen nackte Hypothesen ohne experimentelle Bestätigung.104 Die Annahme der Ruhe des Weltsystems hat in ihrer empirischen Unüberprüfbarkeit, wie Newton richtig sieht, jedoch hypothetischen Charakter.105 Hiervon ausgehend muss gefragt werden, inwieweit es ihm in den Principia gelingt, seinen eigenen, zum Ende des Scholions formulierten Ansprüchen zu genügen.

99 Principia, S. 415. 100 Vgl. hierzu Stein 1970, S. 265–267. Für eine andere, meiner Interpretation entgegengesetzte Deutung siehe DiSalle 2002, S. 56. 101 Vgl. Principia, S. 943. 102 In der ersten Ausgabe waren Teile der „Regulae Philosophandi“ (die ersten beiden Regeln) sowie Teile der Himmelserscheinungen als Hypothesen betitelt. Von diesen Hypothesen in Buch drei behielt in den folgenden Ausgaben nur Hypothese I (vormals Hypothese IV) ihre Bezeichnung (es wurde zusätzlich noch Lemma III zu Proposition XXXVIII in eine weitere Hypothese überführt). Zu einer genaueren Erörterung vgl. Cohen 1999, S. 198–199. Alle anderen Hypothesen im dritten Buch der ersten Auflage werden wohl aufgrund von Kritik anders benannt oder getilgt. Vgl. hierzu Cohen 1999, S. 198. Daraus wird die große Bedeutung von Hypothese I für Newtons Entscheidung hinsichtlich der Kosmologie deutlich. Ohne sie kann der Aufbau des Weltsystems nicht bestimmt, d. h. keinem bestehenden System der Vorrang gegeben werden. Newton plädiert für das heliozentrische Weltbild, wobei die Sonne ebenfalls eine Kreisbewegung um den dicht bei ihr liegenden Schwerpunkt vollführt. Vgl. Proposition XII und XIII, Principia, S. 816–817. Sonst würden sowohl die Sonne als auch die Planeten neben der Rotation um den Schwerpunkt eine absolute, unbekannte Translation vollführen. 103 Vgl. Brief von Newton an Cotes vom 28.05.1713, Newton Correspondence V, S. 396–397. 104 Siehe Strong 1951, S. 95, man vgl. hierzu auch Cotes‘ Bemerkung im Vorwort zur zweiten Ausgabe der Principia bei Principia, S. 386, sowie Cohen 1962. 105 Es wäre natürlich möglich, Ruhe und geradlinig–gleichförmiger Bewegung des Sonnensystems als äquivalent anzusehen und das Problem dadurch zu lösen. Dies wäre, wie in 2.2.6 gezeigt wurde, jedoch nicht im Sinne Newtons. „One solution to the problem is offered by those Newtonian scholars, who in Rouse–Ball’s wake, treat the Newtonian absolute space, unlike Newton, as a mathematical device and not as a physical reality. Here there is no problem, this would be a case of rational reconstruction which is historically untenable.” Elkana 1974, S. 289. Man vgl. auch meine Diskussion von Timerding 1919, S. 20 unter 3.3.4.

50

2 Newtons Raumkonzeption

Demnach besteht ein Konflikt zwischen Newtons Anspruch in den Principia‚ wahre Bewegung zu erschließen, und seiner Ablehnung von bloßen Hypothesen. Dieser Konflikt ist nur durch den besonderen Status des absoluten Raumes für Newton verständlich.106 Der absolute Raum und die experimental philosophy107 gehen auf unterschiedliche Strömungen im Denken Newtons zurück. Zwar findet sich der Begriff „absoluter Raum“ erst in den Principia, jedoch zeigt sich diese Konzeption bereits in De Gravitatione sowie in Ansätzen bereits in noch früheren Ausarbeitungen.108 Der absolute Raum wurde also vor der empiristischen Methodologie entwickelt und hat auch einen tiefgehenderen Status.

2.2.7 Zusammenfassung und Ausblick Die bisherigen Untersuchungen haben zu den folgenden Ergebnissen geführt: Newton unterscheidet zwischen absoluten und relativen Bewegungen, die als Ortsveränderungen in einem absoluten bzw. relativen Raum verstanden werden. Dabei definiert er den Raum nicht, sondern greift auf ein bereits bestehendes intuitives Vorverständnis zurück. Absolute Bewegung ist für Newton, auch wenn sie nicht wahrgenommen werden kann, für die Begründung der Mechanik unverzichtbar. Deshalb führt er im Scholion Argumente gegen die Reduktion von absoluter Bewegung auf bloß relative Bewegung an. Er richtet sich hier gegen die cartesische Bewegungskonzeption. Seine Argumente basieren im Wesentlichen nicht auf Experimenten, sondern zeigen anhand begrifflicher Analysen, dass die cartesische Position unzureichend ist. Das Experiment dient nur als Illustration.109 Durch die Betrachtung der Fliehkräfte auf einen rotierenden Körper zeigt Newton, wie eine Klasse von Bezugssystemen herausgearbeitet werden kann. Diese Klasse reicht zur Begründung der Mechanik aus. Dennoch versucht Newton, den absoluten Raum anhand des Schwerpunktes des Sonnensystems zu bestimmen. Damit sind die Behauptungen DiSalles widerlegt, denen zufolge Newton von der Äquivalenz aller Inertialsysteme und dem bloß definitiorischen Charakter des Raumes ausgeht. Mit Blick auf die Systematik dieser Arbeit können die physikalischen Leitfragen, d. h. L1-L3, anhand der bisherigen Untersuchungen für Newton beantwortet

106 Vom leibnizschen Standpunkt könnte anhand des Fehlens eines hinreichenden Grundes für die Ruhe des Weltsystems argumentiert werden. Es ist möglich, wenn es auch nur vermutet werden kann, dass hinter der von Newton angenommenen Ruhe des Weltsystems der Gedanke steht, dass Gott, der den Kosmos aus seiner Weisheit heraus konstruiert hat, keinen Grund hätte, die Welt sich geradlinig–gleichförmig durch den Raum bewegen zu lassen. 107 Hinsichtlich Newtons Verhältnis und Neudeutung dieses Begriffs gegen Leibniz; vgl. Shapiro 2004. 108 Man vgl. hierzu die Quaestiones und meine Anmerkung in 2.3. 109 Vgl. Pulte 2005a, S. 93.

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

51

werden. Es muss jedoch weiterführend die Spannung zwischen der Methodologie der Principia und dem absoluten Raum ergründet werden. Man betrachte dafür exemplarisch die zweite Leitfrage nach dem Verhältnis des absoluten Raumes zu den übrigen, physikalisch äquivalenten Inertialsystemen. Warum geht Newton den Weg über die Kosmologie und nicht den einfacheren Weg über die Äquivalenz empirisch nicht zu unterscheidender Systeme? Zudem gilt es, die philosophischen Leitfragen zu beantworten und herauszuarbeiten, auf welche Autorität sich die Raumkonzeption stützt und wie der Raum in ihr verankert wird. Die Bedeutung des Raumes geht für Newton über die Mechanik hinaus. Um den absoluten Raum im Denken Newtons ganz zu verstehen, muss deshalb seine theologischmetaphysische Seite untersucht werden. Dies soll im Folgenden anhand einer Analyse des Fragments De Gravitatione geschehen.

2.3 ZUR METAPHYSISCH-THEOLOGISCHEN SEITE DES RAUMES Die Betrachtung der Raumkonzeption der Principia hat gezeigt, dass eine Spannung zwischen Newtons empiristischer Methodologie und dem absoluten Raum besteht. Diese Spannung ist durch die theologisch-metaphysische Bedeutung des newtonschen Raumes begründet. Sie soll in diesem Abschnitt analysiert werden. Hierzu eignet sich eine Untersuchung zu Newtons unveröffentlichtem Manuskript De Gravitatione. Während Newton in seinen Hauptwerken Betrachtungen zur Mechanik und zur Metaphysik weitgehend trennt, sind in De Gravitatione beide Bereiche dicht miteinander verbunden. Hier thematisiert er die metaphysischen Grundlagen der Mechanik, die in den Principia nicht mehr offen zum Vorschein kommen. Newtons Werk basiert auf einem theoretischen Fundament, in dem theologische, metaphysische, mathematische und physikalische Überlegungen miteinander verwoben sind.110 Es sind genau diese Grundlagen der newtonschen Mechanik, die Kant und Fries später zu revidieren suchen. Deshalb ist eine Analyse der Raumtheorie von De Gravitatione für diese Arbeit sinnvoll. Einer solchen Untersuchung liegt die These zugrunde, dass Newtons Überlegungen aus De Gravitatione für ihn auch noch in den Principia Gültigkeit haben. Dem widerspricht bspw. DiSalle: Yet in De Gravitatione, the connections between the dynamical account of motion and the metaphysics of space are made much clearer, whereas some of the arguments intended to make these connections are omitted from the Scholium. I suggest that the omission is deliberate, and reflects a change in Newton’s view of the connections between the metaphysical perspective of De Gravitatione and his developing dynamical theory—a change that follows from his mature analysis of what, within his metaphysical account of space, are the truly necessary presuppositions that the theory demands.111

110 Vgl. Pulte 2005a, S. 88–134. 111 DiSalle 2013, S. 450.

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2 Newtons Raumkonzeption

Demgegenüber ist, wie ich hier und später in 3.1 zeigen werde, die metaphysische Seite des Raumes in den Principia nach wie vor vorhanden, auch wenn sie nicht offen zu Tage tritt. Rund 30 Jahre nach dem Erscheinen der Erstausgabe der Principia werden im Briefwechsel zwischen Clarke und Leibniz erneut beide Aspekte der newtonschen Raumtheorie eng verwoben diskutiert.112 Newtons Trennung zwischen den physikalischen und metaphysischen Aspekten seiner Raumtheorie in den Principia ist veröffentlichungspolitisch bedingt. Er will das Fundament seines Werkes nicht durch offene theologische und metaphysische Überlegungen angreifbar machen. Dennoch kommt das theoretische Fundament immer wieder zum Vorschein. Dies wird innerhalb des Scholions anhand von Stellungnahmen deutlich, die die Ablehnung bloß relativer Bewegungskonzeptionen vollkommen anders begründen, als dies die empiristische Methodologie seiner Principia verlangt. Aussagen wie „Bei physikalischen Dingen muß man sich aber von den Sinnen frei machen“113 oder „[…] jedoch muss darauf hingewiesen werden, daß die gewöhnlichen Leute gerade diese Größen nur aufgrund ihrer Beziehung zu den feststellbaren Dingen [geistig] erfassen“114 entsprechen mitnichten den in Buch III vorgetragenen Regulae Philosophandi.115 Bevor dieses Fundament der Raumtheorie in De Gravitatione herausarbeitet wird, muss zunächst die Rolle der Theologie im Denken Newtons untersucht werden. Dazu werde ich die bereits in Abschnitt 2.1 skizzierte Bedeutung der Religion für die Naturphilosophie Newtons analysieren (2.3.1). Daraufhin widme ich mich der Untersuchung von De Gravitatione. Der für diese Arbeit interessante Teil des Manuskripts ist eine Anmerkung Newtons zu seiner Bewegungs- und Materiekonzeption, die den Hauptkorpus des Fragments bildet. Hier kritisiert er zum einen die Bewegungslehre Descartes’ und erläutert zum anderen seine eigene Vorstellung von Raum und Materie genauer. Newton folgend, werde ich zunächst seine Kritik an der cartesischen Bewegung untersuchen. Wie deutlich werden wird, gibt es zwischen dieser Textpassage aus De Gravitatione und dem Scholion zu Raum und Zeit der Principia zahlreiche Parallelen. Diese legen nahe, dass Newton bei der Komposition des Scholions auf De Gravitatione zurückgegriffen hat. Die Analyse des Angriffes auf die cartesische Bewegungskonzeption in De Gravitatione rundet daher die vorangegangene Untersuchung des Scholions ab (2.3.2). Nach meiner Analyse der Kritik an Descartes werde ich auf Newtons Darlegungen zu den Grundlagen des Raumes eingehen. Seine Erörterungen zum Raum sind vielschichtig. Deshalb bietet es sich an, die verschiedenen Aspekte seiner Raumtheorie in Unterabschnitten zu behandeln. Zunächst soll auf die ontologische Fundierung des Raumes durch Gott eingegangen werden. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf den Eigenschaften des Raumes liegen (2.3.3). Daraufhin gilt es, den epistemischen Status des Raumes bei Newton zu analysieren sowie

112 113 114 115

Vgl. 3.1. Dt. Principia, S. 29. Dt. Principia, S. 29, eckige Klammern bei Schüller. Vgl. Gosztonyi 1976, S. 331.

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

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seinen Versuch, den Raum im Substanz-Akzidenz-Schema zu verorten. Das Ziel des Abschnittes ist es dabei, Newtons intuitives Vorverständnis vom Raum näher zu bestimmen (2.3.4). Abschließend werden zwei wichtige Aspekte der newtonschen Raumtheorie näher untersucht. Zum einen wird die Rolle des Raumes für die Geometrie herausgearbeitet, wodurch die genaue Bedeutung relativer Räume für Newton verständlich wird (2.3.5). Zum anderen wird analysiert, wie wir nach Newton zur Vorstellung eines unendlichen Raumes kommen (2.3.6).116

2.3.1 Das Verhältnis von Religion und Naturphilosophie bei Newton Bereits in 2.1 wurde deutlich, dass Newton seine Naturphilosophie in den Dienst der Religion stellt. Diese Verbindung zwischen Naturphilosophie und Theologie wird von ihm erst spät in seinen Veröffentlichungen expliziert. Er geht 1706 in den Queries der lateinischen Ausgabe der Optik und 1713 im Scholion Generale der zweiten Auflage der Principia auf die Rolle Gottes in der Naturphilosophie ein. Im Scholion Generale schreibt er: This concludes the discussion of God, and to treat of God from phenomena is certainly a part of natural philosophy.117

Jammer zeigt, dass Newton das Scholion Generale zur zweiten Auflage hinzufügte, um sich gegen religiöse Kritiker zur Wehr zu setzen.118 Deshalb insistiert Cotes, der Herausgeber der zweiten Auflage, in seinem Vorwort auf dem Nutzen der Principia als Bollwerk gegen den Atheismus: Therefore Newton’s excellent treatise will stand as a mighty fortress against the attacks of atheists; nowhere else will you find more effective ammunition against that impious crowd.119

Jammer hat jedoch Unrecht mit der Behauptung, dass das Auftauchen theologischer Überlegungen innerhalb der Naturphilosophie auf ein größer werdendes

116 Meine Darstellung der newtonschen Überlegungen zu den metaphysischen Grundlagen des absoluten Raumes weicht von Newtons Gedankengang in De Gravitatione ab und muss selektiv erfolgen. Newton geht zuerst auf die Unmöglichkeit ein, den Raum im Substanz– Akzidenz-Schema unterzubringen, und streift die Abhängigkeit des Raumes von Gott. Daraufhin bespricht er die Eigenschaften des Raumes: 1. Mathematischer Realismus, 2. Unendlichkeit des Raumes aufgrund geometrischer Überlegungen, 3. Unbeweglichkeit der Raumteile, 4. Der Raum als emanativer Effekt alles Seienden, 5. Das Trägheitsgesetz und der Raum, 6. Ewigkeit und Unwandelbarkeit des Raumes aufgrund der Natur Gottes. Die Konstitution des Raumes durch Gott und die von Newton zugeschriebenen Eigenschaften lassen sich jedoch nicht klar trennen. So geht Newton z. B. in Punkt 6 noch einmal auf den Raum als emanative Wirkung Gottes ein. Deshalb empfiehlt es sich, in der Untersuchung der Eigenschaften des Raumes von Newtons Gedankengang abzuweichen. 117 Principia, S. 943. 118 Vgl. Jammer 1960, S. 120–121. Ich stimme mit Jammer darin überein, dass den Ausgangspunkt der Angriff Berkeleys bildete. 119 Cotes in: Principia, S. 398.

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2 Newtons Raumkonzeption

Interesse Newtons an religiösen Fragen hinweist. Vielmehr ist die Verknüpfung von Theologie und Naturwissenschaft bei Newton so alt wie seine Naturphilosophie selbst. Sie ist schon in seinen ältesten erhaltenen Schriften zu finden.120 Bereits in 2.1 wurde deutlich, dass religiöse Überlegungen für Newton den Anfangs- und den Endpunkt der Naturwissenschaft bilden. Dabei lassen sich zwei Strömungen identifizieren, die ihn maßgeblich beeinflussen. Zum einen der Platonismus Mores und zum anderen der physikotheologische Ansatz Boyles.121 Beide richten sich vor allem gegen Descartes, dem sie vorwerfen, dem Atheismus Vorschub zu leisten, da er die Naturwissenschaft von Gott befreie. Beide sollen kurz separat analysiert werden. Metaphysisch-theologische Überlegungen bilden für Newton zum einen die Spitze seines naturphilosophischen Systems. Ausgehend von der Schöpfung lässt sich auf den Schöpfer schließen. Newton orientiert sich dabei an Boyle, der es als einen Fehler Descartes’ ansah, die Zweckursachen aus der Naturwissenschaft zu verbannen. Von Boyle ausgehend wurde die teleologische Interpretation naturwissenschaftlicher Ergebnisse zu einer Agenda der Royal Society.122 Newton gelang es, zunächst anhand der Boyle-Lectures und dann durch Query 31 der Optik sowie das Scholion Generale der Principia, dieser Strömung Rechnung zu tragen. Dies überzeugte große Teile der britischen Theologen von der religiösen Dienlichkeit seines Werkes.123 In der Optik bspw. deutet er den Aufbau des Sonnensystems physikotheologisch: Eine solche wundervolle Gesetzmässigkeit im Planetensystem muss einer bestimmten Sorgfalt und Auswahl entsprechen.124

Dieses Urteil fällt er auch hinsichtlich lebender Organismen. Indem die Naturphilosophie die Ursachen erforscht und von Ursache zu Ursache zurückgeht, nähert sie sich der ersten, nicht mehr mechanischen Ursache an: Gott.125 Dadurch wird der Schöpfer selber Gegenstand der Naturphilosophie. Der ontologische Gottesbeweis Descartes’, den Newton für unzureichend hält, kann deshalb durch einen physikotheologischen Beweis ersetzt werden: Even arguments for a Deity if not taken from Phaenomena are slippery & serve only for ostentation. An Atheist will allow that there is a Being absolutely perfect, necessarily existing & the author of mankind & call it Nature […]. We see the effects of a Deity in the creation &

120 Man vgl. die in 2.3.2 zitierte Passage aus den Quaestiones. Hinzu kommt, dass Newtons intensive Auseinandersetzung mit theologischen Fragen sich bis mindestens in die siebziger Jahre des siebzehnten Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Vgl. Westfall 1980, S. 309–310. 121 Vgl. hierzu auch Hutton 2007, Power 1970 und Greene 1962. 122 Vgl. Boyle 1966 und Schramm 1985, S. 11–30. 123 Vgl. Leibniz–Clarke, S. 467–468. Vgl. 3.1. 124 Optik, S. 267–268. 125 “Und wenn uns auch jeder richtige, in dieser Philosophie gethane Schritt nicht unmittelbar zur Erkenntnis der ersten Ursache führt, bringt er uns doch dieser Erkenntniss näher und ist deshalb hoch zu schätzen.” Optik, S. 244.

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

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thence gather the Cause & therefore the proof of a Deity & what are his properties belong to experimental Philosophy.126

Der rationalistischen Position Descartes’, wie auch später Leibniz’, hält Newton somit auch in religionsphilosophischen Belangen seine Deutung der experimental philosophy entgegen.127 Metaphysisch-theologische Überlegungen bilden jedoch nicht nur die Spitze, sondern auch die Grundlage der newtonschen Naturphilosophie. Fundamentale Konzeptionen seiner Physik wie Raum, Zeit, Materie und Gravitation basieren auf der Vorstellung eines ewigen omnipresenten, unmittelbar wirkenden Gottes. Hierin ist Newton durch den Cambridge Platonism und dessen prominentesten Vertreter Henry More128 beeinflusst.129 Die newtonsche Raummetaphysik wird in 2.3.3 ausführlich analysiert. Deshalb soll die theologische Fundierung der newtonschen Naturphilosophie hier stattdessen anhand seiner Gravitationstheorie erläutert werden. Bereits in 2.2.6 wurde Newtons Herleitung des Gravitationsgesetzes angesprochen. Ein zentrales Problem Newtons ist, dass er nicht erklären kann, wie die Gravitation durch den leeren Raum wirkt. Würde er sich offen zur Fernwirkung bekennen, so liefe seine Konzeption Gefahr, von der mechanistischen Philosophie abgelehnt zu werden. Diese zu Newtons Zeit sehr dominante Strömung ließ nur die direkte Wechselwirkung zwischen Körpern als wissenschaftliche Erklärung gelten. Deshalb zieht sich Newton, zumindest in den Principia, auf den Standpunkt zurück, lediglich ein mathematisches Gesetz aufgestellt zu haben. Er gibt in einem Brief an Bentley jedoch einen Hinweis, wie die gravitative Wirkung zwischen zwei Körpern zu erklären sei. Er schreibt: That gravity should be innate inherent & essential to matter so yt one body may act upon another at a distance through a vacuum wthout the mediation of any thing else by & through wch their action or force may be conveyed from one to another is to me so great an absurdity that I beleive no man who has in philosophical matters any competent faculty of thinking can ever fall to it. Gravity must be caused by an agent acting constantly according to certain laws, but whether this agent be material or immaterial is a question I have left to ye consideration of my readers.130

126 Hydrostatics, Optics, Sound and Heat, S. 619–619v. Zitiert nach Westfall 1971, S. 419–420. 127 Diese Kritik der cartesischen Philosophie beschränkt sich nicht nur auf dessen Gottesbegriff: „Even that celebrated Proposition Ego cogito ergo sum is known to us by experience.“ Hydrostatics, Optics, Sound and Heat, S. 621v. Zitiert nach Shapiro 2004, S. 198. 128 More kritisierte Descartes, da dieser Gott aus der ausgedehnten Welt verbannte. So bemerkt More: „And if the power of God is somewhere God is somewhere.” More 1925, S. 262, zitiert nach Power 1970, S. 289. Diese Kritik wird von Newton aufgegriffen. Vgl. 2.3.3. 129 Dabei kommt Newtons Lehrer Isaac Barrow eine wichtige Vermittlungsrolle zu. Der Einfluss Mores und Barrows wird in zahlreichen Passagen von De Gravitatione deutlich. Für eine Gegenüberstellung dieser Denker mit Newton vgl. z. B. Slowik 2009, S. 439–442, Power 1970, Strong 1970, Henry 1986. Zum Einfluss des Cambridge Platonism auf Newton siehe z. B. McGuire / Rattansi 1966. Für eine Position, die die Wirkung Mores und Barrows auf Newton als gering einschätzt, vgl. Palter 1987. 130 Brief von Newton an Bentley vom 25.02.1692/93, Newton Correspondence III, S. 254.

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2 Newtons Raumkonzeption

Newton scheint hinsichtlich des Mediums, durch das die Körper aufeinander wirken, unentschlossen. Allerdings müssen seine Überlegungen so gedeutet werden, dass für ihn ein materielles Medium nicht in Betracht kommt, da es selbst wieder unter dem Einfluß der Gravitation stehen würde.131 Daraus ergibt sich, dass Newton ein immaterielles Medium annimmt. Dieses muss, ebenso wie die Wirkung der Gravitation, allgegenwärtig sein. Es ist daher naheliegend, dass Newton in Gott dieses omnipräsente Medium sieht.132 Tatsächlich wurde Newton von seinen Zeitgenossen auch so verstanden. Seine Gravitationstheorie greift auf die Vorstellung eines allgegenwärtigen, unmittelbar wirkenden Gottes zurück. Eine vergleichbare Rolle kommt Gott auch hinsichtlich der Materiekonstitution, der Zeit und, wie noch ausführlich ausgearbeitet werden wird, dem Raum zu. Gott hat demnach konstitutive Bedeutung für die Grundlagen der Mechanik. Dieser Strang der newtonschen Metaphysik wird in der aktuellen Forschung z. T. nicht ausreichend gesehen. So behauptet bspw. Stein: Taking Descartes as the first point of comparison, a radical difference between his view of metaphysics and Newton’s lies in the fact that for Newton metaphysics is not the ‘root’ or foundation of natural philosophy – the ‘beginning of wisdom.’ His position may rather be said to agree with that of Aristotle – a conception symbolized by the fact that the followers of Aristotle placed his treatises on first philosophy ‘after the physical ones.’133

Weiter schreibt er: An indication that Newton thought similarly is to be seen in the fact that his chief published discussions of the metaphysics of nature, and of his views concerning God in relation to nature, occur at the end of his two great treatises: in the General Scholium to the Mathematical Principles of Natural Philosophy, and at the end of the long concluding Query 31 in Book 3 of the Opticks.134

Demgegenüber werde ich zeigen, dass Newtons theologisch-metaphysische Grundannahmen Einfluss auf seine Principia haben. Gegen Stein wird deutlich werden, dass es bei Newton sehr wohl eine Metaphysik vor der Physik gibt. Um nichts anderes handelt es sich bei großen Teilen von De Gravitatione. Dort argumentiert Newton, ohne durch Naturbetrachtungen auf Gott zu schließen. Physikotheologische Überlegungen finden sich in dieser Schrift nicht. Vielmehr behandelt Newton in diesem Manuskript die Grundlegung seiner Naturphilosophie durch Gott. Weite Teile von De Gravitatione müssen deshalb als die metaphysischen Anfangsgründe der newtonschen Naturwissenschaft gelesen werden.

131 132 133 134

Vgl. hierzu auch meine Ausführungen in Görg 2015. Man vgl. u. a. die Interpretationen dieser Passage durch Westfall 1971, S. 396–399. Stein 2002, S. 261. Stein 2002, S. 261. Diese Haltung findet sich auch in der jüngeren Newtonforschung immer wieder. So z.B. bei Janiak 2015. Vgl. dazu Görg 2017.

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

57

2.3.2 Die Kritik der cartesianischen Bewegungslehre in De Gravitatione In 2.2 wurde bereits gezeigt, dass sich Newton im Scholion gegen Descartes’ Bewegungskonzeption richtet. Eine frühe Version dieses Angriffs findet sich in De Gravitatione. Im Folgenden soll die vorgebrachten Argumente parallel geführt werden. Es wird deutlich werden, dass dieses unvollendete Manuskript Newtons Ausführungen zum Raum in den Principia in weiten Teilen als Vorlage diente. Anders als im Scholion wird Descartes in De Gravitatione jedoch explizit als Gegenposition genannt und Newton gibt einen tiefergehenden Einblick in das Fundament seiner Raumkonzeption. Mein Ziel ist es, Newtons Verhältnis zu Descartes zu analysieren, insbesondere seine Kritik der cartesischen Bewegungskonzeption, um dadurch Rückschlüsse auf Newtons eigene Konzeption zu ziehen. Descartes’ Principia philosophiae135 bilden das dominante naturphilosophische Werk in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sie sind für Newton ein wichtiger Abstoßungspunkt bei der Entwicklung der eigenen Lehre.136 Große Teile der Kritik Newtons an Descartes’ sind dabei von der Haltung der Royal Society geprägt, die sich in methodologische Opposition zu Descartes und später auch zu Leibniz stellt.137 Böhme charakterisiert das Verhältnis Newtons zu Descartes wie folgt: Newton entwickelt seine Naturphilosophie innerhalb und in Fortsetzung eines Diskurses, dessen wesentliche Position durch Descartes gesetzt waren.138

Dieser Einschätzung schließe ich mich im Wesentlichen an. Steinle139 betont jedoch zu Recht gegen Böhme, dass der absolute Raum selbst nicht gegen Descartes entwickelt wurde. Dem stimme ich zu.140 Die cartesische Orts- und Bewegungs-

135 Dies wird bereits aus den Parallelen zwischen den Titeln von Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica und Descartes’ Principia Philosophiae deutlich. 136 Vgl. Cohen 1999, S. 43–48. 137 Vgl. Pulte 2005a, S. 82. Siehe auch die kurze Ausführung zu Newtons Verhältnis zu Hypothesen in 2.2.5. So schreibt er z. B. in Query 28 der Optik: „Spätere Philosophen verbannen die Betrachtung einer solchen Ursache aus der Naturphilosophie, ersinnen Hypothesen, um alles mechanisch zu erklären, und weisen die anderen Ursachen der Metaphysik zu, während es doch die Hauptaufgabe der Naturphilosophie ist, aus Erscheinungen ohne Hypothesen Schlüsse zu ziehen […].“ Optik, S. 243. Dies richtet sich gegen Descartes. Man vgl. hierzu z. B. Stein 2002, S. 260. 138 Böhme 1988a, S. 8. 139 Steinle 1991, S. 20–21. 140 Ebenso sieht Böhme fälschlicherweise in Newtons Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Bewegung eine Rekonzeption der cartesischen Unterscheidung hinsichtlich vulgärer und wahrer Bewegung. Vgl. hierzu Böhme 1989, S. 19. Kutschmann schreibt, Böhme 1978 folgend: „Newton gewinnt die Vorstellung des ‚absoluten Raumes‘ meines Erachtens hier im MS. ‚De Gravitatione …‘ erstmalig, und und zwar im Vorgang der Ablösung der Begriffe ‚Ort‘ und ‚Raum‘ aus ihrer cartesischen Verknüpftheit mit dem Körper.“ Kutschmann 1983, S. 57. Wie deutlich werden wird spricht eine Passage aus den Quaestiones aber dafür, dass Newton bereits vor der polemischen Descarteskritik in De Gravitatione in weiten Teilen

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2 Newtons Raumkonzeption

konzeption bildet nicht den Ausgangspunkt für die newtonsche Raumkonzeption.141 Dies lässt sich anhand einer Passage aus den Quaestiones zeigen, die ohne eine Kritik Newtons an der cartesischen Bewegungslehre klar auf den absoluten Raum hinweisen. Dort schreibt er im Alter von etwa 21 Jahren: It is true God is as far as vacuum extends, but he, being a spirit and penetrating all matter, can be no obstacle to the motion of matter; no more than if nothing were in its way.142

Diese Überlegungen finden sich an zahlreichen Stellen des newtonschen Werkes. Sie sind älter als die Kritik an Descartes. Der absolute Raum Newtons wird also nicht, wie Böhme behauptet, im kritischen Dialog mit Descartes entwickelt, er bildet vielmehr den Ausgangspunkt des newtonschen Angriffs.143 Davon ausgehend lässt sich Newtons Kritik der cartesischen Bewegungslehre genauer verstehen. Nachdem er die Zielsetzung von De Gravitatione kurz dargelegt hat, geht Newton auf deren Begründungsstruktur ein: Die Grundlagen, aus denen diese Wissenschaft abgeleitet werden soll, bilden einige Nominaldefinitionen gemeinsam mit Axiomen und Postulaten, die von niemandem bestritten werden.144

Wie auch im Scholion geschieht die Fundierung der Wissenschaft in De Gravitatione auf Basis nicht mehr definierbarer, grundlegender Begriffe. Anders als in den Principia definiert er hier in De Gravitatione jedoch Ort, Ruhe und Bewegung.145 Diese Differenz kann durch den Stand der Auseinandersetzung mit Descartes erklärt werden. Bei einer Veröffentlichung146 von De Gravitatione wäre Newton für Cartesianer angreifbar geworden, wenn er Ort, Ruhe und Bewegung nicht definiert hätte. Steht die Beschäftigung mit Descartes noch im Mittelpunkt von De Gravitatione, so hat er beim Verfassen der Principia hiermit bereits abgeschlossen. Die Bewegungslehre ist nun ausgereift und die Unzulänglichkeit der

141 142 143 144

145

146

grundlegende Positionen der Raumkonzeption der Principia vertrat. Man vgl. hierzu die weiteren Untersuchungen. Dies wird auch von Belkind 2007 falsch gesehen. Quaestiones, S. 409, vgl. hierzu auch McGuire / Tamny, S. 13 und S. 123. Vgl. Steinle 1991, S. 20–21. Das wird auch in meiner Analyse des Briefwechsels Clarkes mit Leibniz deutlich werden. Vgl. 3.1. De Gravitatione, S. 15. Im Orginal schreibt Newton “definitiones vocum” (De Gravitatione, S. 14), was von Gernot Böhme mit “Nominaldefinition“ (De Gravitatione, S. 15) wiedergegeben wird. Janiak überträgt den Ausdruck als „definitions of certain words“ (Eng. De Gravitatione, S. 12). Newton will also die von ihm verwendeten Begriffe klären. Diese sind mitunter neu, wie die in den Principia eingeführte Zentripetalkraft. Nichtsdestoweniger liegen diesen Definitionen reale Größen zugrunde. „Def: 1. Der Platz einer Sache ist der Teil des Raumes, den sie genau ausfüllt. Def: 2. Ein Körper ist dasjenige, das einen Platz ausfüllt. Def: 3. Ruhe ist das Verweilen an ein und demselben Platz. Def: 4. Bewegung ist der Wechsel des Platzes.“ De Gravitatione, S. 15. Newton hatte anscheinend eine Veröffentlichung von De Gravitatione im Sinn. Dafür sprechen Passagen wie: „In der Tat soll der Leser ein Beweisstück des Unendlichen bekommen […].“ De Gravitatione, S. 41.

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

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cartesischen Position für Newton dermaßen offenkundig, dass weder der Ort als Teil des Raumes noch die Bewegung definiert werden müssen. Die darauf folgende Passage ist eine ausführliche Anmerkung zu ebendiesen Definitionen. Darin finden sich Newtons Auseinandersetzung mit Descartes und anschließend sein Gegenentwurf.147 Um die cartesianische Position zu kritisieren, fasst Newton sie in drei Punkten zusammen: 1. Ein Körper hat nach Descartes nur einen wahren Bewegungszustand. Dieser hängt von der Bewegung zu den unmittelbar berührenden, als ruhend angenommenen angrenzenden Körpern ab.148 2. Ein Körper ist nicht das, was zueinander ruht, sondern dasjenige, was zusammen überführt wird.149 3. Es gibt einen weiteren, uneigentlichen Bewegungstypus. Diese Bewegung im landläufigen Sinne hängt vom Ort des Körpers im Bezug zu anderen Körpern ab.150 Newton argumentiert auf zweierlei Weise gegen Descartes. Einerseits versucht er, inhärente Widersprüche aufzuzeigen.151 Andererseits verdeutlicht er, dass die cartesische Bewegungskonzeption anhand ihrer „absurden Konsequenzen“152 unhaltbar ist.153 Sie läuft unserem intuitiven Vorverständnis von Raum und Bewegung zuwider. Ich werde mich in meiner Analyse auf die von Newton aufgezeigten ‚absurden Konsequenzen‘ beschränken.154 Wie ich zeigen werde, handelt sich bei ihnen um Vorläufer der im Scholion besprochenen Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen absoluter Bewegung.155 Aus der cartesianischen Lehre ergibt sich nach Newton:

147 148 149 150

151 152 153 154 155

Vgl. De Gravitatione, S. 17. Vgl. De Gravitatione, S. 17. Vgl. De Gravitatione, S. 17–19. Vgl. De Gravitatione, S. 19. Newton versteht darunter die Bewegung als Teilhabe, wobei sowohl Teilhabe an einem größeren Körper als auch Teilhabe an einer weiteren Bewegung gemeint ist. Vgl. De Gravitatione, S. 19–23. De Gravitatione, S. 19. De Gravitatione, S. 23–35. Von mir als AK abgekürzt. Diese Parallele wird auch von Böhme in seinen Anmerkungen zu De Gravitatione gesehen. Vgl. Böhme 1988b, S. 96–97. Allerdings teilt er das Verhältnis der Textstellen von Scholion und De Gravitatione anders ein, als ich es tue: Ich sehe in AK 1 einen Vorläufer von § 9. Die aus AK 1 und AK 2 von Newton gezogene Konsequenz weist in ihrer Argumentation starke Parallelen zu § 10 auf. AK 3 und AK 4 hingegen sind Vorläufer von § 11. AK 5–6 bilden Vorüberlegungen zu § 8 (vgl. 2.2.3). Anders als Böhme sehe ich in AK 4 eine Vorform des Eimerexperiments. Dies wird aus Parallelen in der Gliederung vom Scholion und der Widerlegung von Descartes in De Gravitatione deutlich. Außerdem interpretiert Böhme AK 5 als Vorform von §§ 8–10, was jedoch nach meiner Meinung nur für § 8 gilt. Es findet sich z. B. in AK 5 nicht die in § 9 angesprochene Problematik, dass die äußeren Teile eines Körpers an der Bewegung des Körpers als ganzem aufgrund des Impetus teilhaben müssen. Die Verbindung von §§ 9–10 zu AK 1 und AK 2 und

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2 Newtons Raumkonzeption

AK 1: Die philosophische Konzeption der Bewegung ist die Lageänderung zu den unmittelbar angrenzenden Körpern. Demnach bewegt sich bei den Körpern nur die Oberfläche. Das Innere eines Körpers hat nur Teil an der Bewegung durch die Bewegung der Oberfläche. Es handelt sich bei diesem Argument um eine frühe Version von § 9 des Scholions. AK 2: Einem Körper kommt nicht bloß ein Bewegungszustand zu, sondern unendlich viele. Ein Körper ist (nach Descartes) dasjenige, was gemeinsam überführt wird, trotz Bewegung der Körperteile zueinander. Daher hat nach Descartes ein Körper die Bewegungszustände aller seiner Teile inne. Wie auch in § 10 des Scholions, schließt Newton hieraus auf die Unzulänglichkeit der cartesianischen Bewegungskonzeption und plädiert für seine eigene Vorstellung von Bewegung. Er argumentiert, dass dies auf einen Bewegungspluralismus hinauslaufe: Aus jeder dieser beiden Konsequenzen wird außerdem deutlich, daß man unter ‚mehreren‘ Bewegungen keine vor anderen als wahr, absolut und als eigentliche Bewegung auszeichnen kann, daß vielmehr alle, sei es in Bezug auf die berührenden Körper, sei es in Bezug auf die entfernteren Körper, in gleichem Maße philosophische sind. Nichts Absurderes kann man sich vorstellen.156

Newtons Überlegung ist, dass anhand eines solchen Bewegungspluralismus jedem Körper unzählige Bewegungen zugeschrieben werden können und daher ein Körper, z. B. die Erde, verschiedenste Tendenzen (Conatus) hat: Da ja alle diese Tendenzen und Nicht-Tendenzen der Erde nicht absolut zukommen können, sollte man lieber sagen, daß ihr nur eine natürliche und absolute Bewegung zukommt, der zufolge sie versucht, sich von der Sonne zu entfernen, und daß ihre Translationen relativ zu äußeren Körpern nur äußerliche Zuschreibungen sind.157

Diese Argumentation Newtons zeigt starke Parallelen zu Passagen der ‚Eigenschaften‘ des Scholions (§§ 9–10). Wie auch in den Principia argumentiert Newton nach der Widerlegung Descartes’ für seine eigene Bewegungskonzeption: Es gibt nur eine wahre Bewegung, die jedem Körper eindeutig zukommt und die deshalb die Schwierigkeiten Descartes’ nicht hat. Hier taucht auch zum ersten Mal in Newtons Werk der Begriff der absoluten Bewegung auf. Newton hat, wie aus dem Manuskript deutlich wird, das Wort „absolutus“158 nachträglich in den Text eingesetzt, wohl um die Differenz zu Descartes’ wahrer Bewegung deutlich zu machen, der den Begriff der absoluten Bewegung nicht kennt.

der daraus gezogenen Konsequenz ist naheliegender. Newton widerlegt Descartes in AK 1–2 und schließt davon ausgehend als Konsequenz auf die Richtigkeit seiner eigenen Bewegungskonzeption, das gleiche Argumentationsmuster findet sich in den Principia wieder. Böhme sieht weiter in AK 4 eine Vorform von § 11. Ich zähle hierzu auch AK 3, da Newton in § 11 verlangt, dass sowohl Kräfte wahre Bewegungen hervorbringen (AK 3) als auch wahre Bewegungen auf Kräften basieren müssen (AK 4). 156 De Gravitatione, S. 25. 157 De Gravitatione, S. 25–27. 158 De Gravitatione, S. 24.

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

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Die beiden darauf folgenden Argumente zeigen starke Parallelen zu den ‚Ursachen‘ (§ 11) des Scholions, auch wenn Newton hier wie für De Gravitatione typisch mit Gott und dessen Möglichkeiten der Bewegungserzeugung argumentiert. Wie in § 11 läuft Newtons Überlegung darauf hinaus, dass eine Kraft nach Descartes nicht wahre Bewegung erzeugen muss und umgekehrt wahre Bewegung auch entstehen kann, ohne dass eine Kraft wirkt. AK 3: Nach Descartes’ Konzeption können Bewegungen entstehen, ohne dass eine eingeprägte Kraft wirkt. Würde Gott den Wirbel, zu dem unsere Erde im philosophischen Sinne ruht, anhalten, so würde sich die Erde nach Descartes beginnen zu bewegen, obwohl die Kraft auf den Wirbel und nicht auf die Erde wirkt. AK 4: Kräfte müssen nach den cartesianischen Überlegungen nicht zu Bewegungen führen, da die beiden Fälle, nach denen sich die Erde entweder um die eigene Achse oder der Sternenhimmel entgegengesetzt um die Erde dreht, nicht zu unterscheiden sind. Newton wirft Descartes vor, dass nach dessen Bewegungskonzeption die Erde in beiden Fällen als rotierend aufgefasst werden muss, da die Bewegung der gesamten Oberfläche der Erde, nicht jedoch der Gesamtoberfläche des Sternenhimmels zukommt. Demnach gibt es für Descartes prinzipiell unbewegbare Körper, d. h. Körper, die selbst Gott nicht bewegen könnte. AK 5 & 6: Nach Descartes können zwei Körper jeweils ruhen, aber dennoch ihre Position zueinander ändern. So ruhen zwar die Planeten in ihren Wirbeln, aber nicht zueinander. Ebenso kann ein Körper sich bewegen und dennoch gegenüber einem anderen Körper ruhen. Wie auch in § 8 des Scholions setzt Newton hier die gegenseitige Ruhe zweier ruhender Körper und die Gleichheit des Bewegungszustandes zweier zueinander ruhender Körper als notwendige Bedingung einer sinnvollen Bewegungskonzeption voraus.159 AK 7: Newton schließt, dass Bewegungen sich auch nach Descartes eigentlich auf den Raum beziehen. Die Teile der Wirbel, die an andere Wirbel angrenzen, können nicht als ruhend angesehen werden. Die Ruhe von Körpern ist jedoch die Bedingung für die Festsetzung der wahren Bewegung angrenzender Körper. Newton beendet seine Argumentation, indem er zu zeigen versucht, dass es nach Descartes eigentlich keinen Ort, keine Bewegung und keine Bewegungsrichtung gibt, da sich diese nach Descartes immer auf Fixkörper beziehen müssen, obwohl kein Körper unbewegt bleibt. Daraus ergibt sich die Absurdität, dass es eigentlich keinen Raum gibt, der durchquert wird, weshalb Newton in einem vernichtenden Fazit endet:

159 Vgl. hier die Besprechung von § 8 unter 2.2.3. Newton schreibt im Scholion zu den Definitionen: „Eine Eigenschaft der Ruhe ist es, daß sich in wahrer Ruhe befindende Körper [auch] gegenseitig zueinander in Ruhe befinden.“ Dt. Principia, S. 29, Klammern im Zitat durch Schüller.

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2 Newtons Raumkonzeption So folgt führwahr, daß die Cartesische Bewegung keine Bewegung ist, denn es gibt keine Geschwindigkeit, keine Richtung und, insofern es keinen Raum gibt, wird auch keine Distanz durchquert.160

In der Widerlegung Descartes’ fällt etwas besonders ins Auge. Anders als im Scholion, wo Newton seine theoretischen Überlegungen durch das Eimerexperiment veranschaulicht, findet sich in De Gravitatione kein einziges Experiment. Da das Scholion und De Gravitatione ansonsten starke Parallelen aufweisen, muss daraus geschlossen werden, dass das Eimerexperiment von Newton erst später als die theoretischen Argumente ausgearbeitet wurde. 161 Es lässt sich demnach eine Entwicklung Newtons erkennen: Bereits unter 2.2 wurde die illustrierende Rolle des Experiments für die newtonschen Grundlagen der Physik aufgezeigt. Newton schreibt, dass das Experiment „die Gewißheit der Prinzipien vielleicht bestätigen wird.“162 Eben jene erläuternde Aufgabe hat auch das Eimerexperiment im Scholion. In De Gravitatione finden sich lediglich theoretische Überlegungen zu Bewegung und Ruhe.163 Dies stimmt mit einer durch Shapiro herausgearbeiteten Veränderung in der Methodologie Newtons überein. Shapiro schreibt: At the beginning of his career Newton’s statments on method stressed the mathematical nature of his science and assigned experiment a subsidiary role.164

Und kurz darauf: He clearly believed that a mathematical deductive approach would lead to great certainty and that experiment could provide the requisite certain foundations for such a science, but until the eighteenth century he did not assign experiment a primary place in his methodology.165

Geht man von einer quasi-kontinuierlichen Entwicklung Newtons aus, so kann das Fehlen des Eimerexperimentes in De Gravitatione und das Auftauchen dieses Experimentes im Scholion sowie die Betonung der Rolle des Experimentes ab der zweiten Auflage der Principia gegen Leibniz als Teil dieser Entwicklung Newtons verstanden werden. Während dem Experiment zu Beginn seines Denkens eine sekundäre Rolle zukommt, wird es später für Newton zunehmend wich-

160 De Gravitatione, S. 33. 161 Newton spricht in De Gravitatione vom Raum und nicht vom absoluten Raum. Wie anhand der zahlreichen aufgezeigten Parallelen zwischen beiden Texten jedoch deutlich wird, ist der newtonsche Raum in De Gravitatione mit dem absoluten Raum des Scholions gleichzusetzen. Deshalb spreche ich auch im Hinblick auf den Raum aus De Gravitatione vom absoluten Raum. Vgl. hierzu Steinle 1991, S. 139. 162 De Gravitatione, S. 15. 163 Zwar erklärt Newton zu Anfang von De Gravitatione, anhand von Experimenten seine theoretischen Ausführungen erläutern zu wollen. Diese experimentellen Erläuterungen finden sich im Text jedoch nicht. Der Grund könnte sein, dass De Gravitatione ein Fragment geblieben ist. Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass Newton später noch anhand von Experimenten auf seine Bewegungslehre eingegangen wäre, da die Anmerkung zum Raum in De Gravitatione abgeschlossen ist. 164 Shapiro 2004, S. 216. Dies gilt nach Shapiro auch für die frühen Schriften zur Optik. 165 Shapiro 2004, S. 217.

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

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tiger. Der absolute Raum findet sich in Skizzen aber bereits, wie oben gezeigt, beim jungen Newton, bevor er seine spätere empiristische Methodologie entwickelte. Alle Versuche der Newtonforschung, den absoluten Raum in Übereinstimmung mit dieser Methodologie zu bringen, scheitern daher.

2.3.3 Metaphysische Fundierung und Eigenschaften des Raumes Newton zieht aus seiner Descarteskritik die Konsequenzen: Es ist also notwendig, daß die Bestimmung der Orte wie der Ortsbewegung auf ein unbewegliches Seiendes bezogen wird, welcherart allein die Ausdehnung bzw. der Raum ist, insofern er als etwas wirklich von den Körpern Unterschiedenes betrachtet wird.166

Er widmet sich daraufhin seiner eigenen Konzeption. Der restliche Teil der Anmerkung untersucht zunächst die Eigenschaften des Raumes167 und dann die Natur der Körper.168 Ich analysiere hier zuerst kurz seine Materiekonzeption, um dann den besonderen ontologischen und epistemologischen Status des Raumes besser hervorheben zu können. Raum und Materie werden von Newton sorgfältig unterschieden. Damit grenzt er sich bewusst von der Position Descartes’ ab, der den Raum für die Gesamtheit der Körper hielt. Demgegenüber ist nach Newton die Materie aus Atomen aufgebaut, die sich im leeren Raum bewegen. Dabei greift er in seiner Betrachtung des Wesens der Körper auf ein Gedankenexperiment zurück. Er analysiert, welche Eigenschaften Gott bestimmten Raumteilen geben müsste, damit sie nicht von Materie zu unterscheiden wären. Die so bestimmte ‚Quasimaterie‘ kann dann als Materie angesehen werden. Newton schreibt: Wenn sie Körper wären, könnten wir Körper definieren als Bestimmte Quantitäten der Ausdehnung, die der allgegenwärtige Gott mit bestimmten Eigenschaften versehen hat.169

Die Ausdehnung wird demnach nicht unter die Eigenschaften der Materie gezählt, sondern bildet deren Grundlage. Doch warum sieht Newton es als problematisch an, dass Descartes Körper und Ausdehnung gleich setzt? Zum einen, wie in 2.3.2 dargestellt, kritisiert Newton die Grundlagen der cartesischen Naturphilosophie, da sich auf ihnen keine Dynamik, wie er sie in den Principia im Sinne hat, errichten lässt. Zum anderen liegen der newtonschen Kritik religiöse Überlegungen zugrunde.170 Indem Descartes die physische Welt von Gott befreit, bietet er nach Newton dem Atheismus Nährboden.171

166 167 168 169 170

De Gravitatione, S. 33. De Gravitatione, S. 37–51. De Gravitatione, S. 53–77. De Gravitatione, S. 57. “Even in the privacy of his study, he worked himself into a passionate fury against the philosopher who, scarcely five years earlier, had introduced him to a new world of thought. The gravamen of the charge was atheism. By his separation of body and spirit, Descartes denied

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2 Newtons Raumkonzeption Wenn wir mit Descartes sagen, die Ausdehnung sei Körper, würden wir dann nicht sichtlich den Weg zum Atheismus bahnen, einerseits weil Ausdehnung nicht geschaffen ist, sondern von Ewigkeit her ist, andererseits, weil wir ihren Begriff absolut, ohne jede Beziehung auf Gott haben, so daß wir sie uns als existierend denken können, während wir fingieren, daß Gott nicht sei.172

Für Newton ist Gott demgegenüber die notwendige Bedingung für die Existenz von Raum und Körpern. Der Raum konstituiert sich durch die Allgegenwart Gottes: Der Raum ist etwas, das dem Seienden als solchem zukommt. Esgibt [sic!] kein Seiendes noch kann es ein Seiendes geben, das nicht auf irgendeine Weise auf den Raum bezogen ist. Gott ist überall, geschaffene Seelen sind irgendwo, und ein Körper ist in dem Raum, den er ausfüllt, und was nicht überall oder was nirgends ist, ist nicht. Von daher folgt, daß der Raum die emanative Wirkung des zuerst Seienden ist, da mit der Setzung eines Seienden zugleich der Raum gesetzt ist.173

the dependence of the material world on God.” Westfall 1980, S. 302 vgl. hierzu auch Westfall 1971, S. 337. 171 Vgl. hierzu z. B. Gabbey 2002, S. 347. 172 De Gravitatione, S. 63. Daraus ergibt sich für Newton: „Wir können nämlich keine derartigen Körper setzen, ohne zugleich zu setzen, daß Gott existiert […].“ De Gravitatione, S. 63. Indem Newton die Körper als von Gott ausgezeichnete Raumteile im von Gott selber konstituierten Raum einführt, versucht er den von ihm vertretenen Atomismus vom atheistischen Beigeschmack zu befreien. Er richtet sich aber auch gegen die Vorstellung einer ersten Materie. Vgl. dazu De Gravitatione, S. 57–59 und Thackray 1970, S. 13. Seiendes existiert nicht aus sich selbst heraus, d. h. ist substanziell, sondern ist dem Willen Gottes unterworfen, bzw. in irgendeiner Weise von Gott abhängig. „Die Ausdehnung spielt die Rolle einer zugrundeliegenden Substanz, in der das Wesen des Körpers durch göttlichen Willen bewahrt wird.“ De Gravitatione, S. 57. Man beachte auch hier die Sonderrolle der Ausdehnung. Hinsichtlich des Verhältnisses von Newtons Atomismus und der mathematisch unendlichen Teilbarkeit des Raumes vgl. Janiak 2000. 173 De Gravitatione, S. 47–49. Die Opposition Newtons gegen die cartesische Unterteilung in res extensa und res cogitans wird besonders deutlich anhand Newtons Auffassung, dass auch Seelen räumlich seien. Hinsichtlich Newtons Auseinandersetzung mit dem cartesischen Leib– Seele–Problem vgl. Dempsey 2005. Stein argumentiert, dass es sich bei diesem ‚zuerst Seienden’ nicht zwingend um Gott handeln muss. So würde seiner Lesart zufolge z. B. auch ein Körper, wenn er das zuerst Seiende wäre, den unendlichen Raum hervorbringen. Dass für Newton das zuerst Seiende Gott ist, liegt nach Stein nur an seiner Schöpfungstheologie. Siehe Stein 2002, S. 268. Man vgl. hierzu auch Janiak 2000, 221–222 und Janiak 2006. Diese Behauptung Steins ist jedoch falsch. Im Scholion Generale schreibt Newton: „Er währt immer und ist überall zugegen, und konstituiert dadurch, daß er immer und überall existiert, die Dauer und den Raum.“ Dt. Principia, S. 514. Das wird auch von Slowik 2009, S. 444–446 gesehen. Die aktuale Unendlichkeit des Raumes resultiert aus der Unendlichkeit Gottes. Hätte Gott diese Eigenschaft nicht, hätte auch der Raum andere Eigenschaften (was natürlich hypothetisch bleiben muss). Das dahinter stehende Problem ist u. a. die Frage nach der Möglichkeit eines Vakuums. Man vgl. hierzu z. B. übersichtshalber Gosztonyi 1976, S. 246 und S. 268. Im Lichte dieser Problematik ist Newton zu verstehen, wenn er in einem Entwurf zu Query 27 schreibt: „Can any space be without something in it & what ist that something in space void of matter […].“ Hydrostatics, Optics, Sound and Heat, S. 291r, zitiert nach

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

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Seiendes allgemein ist räumlich. Der vermeintlich ‚leere Raum‘ in seiner Unendlichkeit besteht durch die Allgegenwart Gottes. Die Eigenschaften Gottes übertragen sich dabei auf die des Raumes. Newton schreibt: 6. und letztens ist der Raum von ewiger Dauer und von unwandelbarer Natur, und zwar, weil er die emanative Wirkung eines ewigen und unwandelbaren Seienden ist. Wenn es jemals keinen Raum gegeben hat, so war Gott damals nirgendwo anwesend, also schuf er den Raum danach, wo er selber noch nicht anwesend war, oder, was nicht weniger vernunftwidrig ist, er schuf seine eigene Allgegenwart.174

Dies wirft auch ein interessantes Licht auf die Einheit und die ‚Einfachheit‘ des Raumes. Newton war Unitarier, d. h. er lehnte die Trinitätslehre ab. Diese Haltung musste er sein Leben lang geheim halten. Es finden sich bei ihm jedoch immer wieder Andeutungen zu diesem Thema. So schreibt er bspw. im Scholion Generale, in der dritten Auflage der Principia: There are parts that are successive in duration and coexistent in space, but neither of these exist in the person of man or in his thinking principle, and much less in the thinking substance of God. Every man, insofar as he is a thing that has senses, is one and the same man throughout his lifetime in each and every organ of his senses. God is one and the same God always and everywhere.175

Die Unteilbarkeit Gottes überträgt sich auf den Raum. Hieraus lässt sich auch der Sonderstatus des Raumes in den Principia erklären. Eine Klasse gleichberechtigter Räume kann es für Newton nicht geben. Der eine wahre, unteilbare Raum176 wird durch den einen unteilbaren Gott konstituiert. Indem der Raum bei Newton sowohl Teil der Metaphysik, als auch der Physik ist, wirkt sich der newtonsche Unitarismus auf die Raumkonzeption der Principia aus. Gemäß der diemerschen Systematik lässt sich Gott somit als externe Instanz bestimmen, auf die sich die newtonsche Raumkonzeption stützt. Da in 2.3.1 bereits die metaphysisch-theologische Fundierung der Gravitation durch Gott gezeigt wurde, kann daher nun die systematische Trias aus Gott, Raum und Gravitation für Newton aufgestellt werden. Sowohl der Raum als auch die Gravitation gründen sich auf der göttlichen Allgegenwart:

McGuire / Rattansi 1966, S. 108. Das Argument hinter dieser rhetorischen Frage ist, dass der leere Raum nicht leer ist, insofern als er von Gott erfüllt wird. Um den Schwierigkeiten eines tatsächlich gänzlich leeren Raumes zu entgehen, muss es ein unendlich ausgedehntes Wesen geben, eine bloß endlich ausgedehnte Entität reicht zur Konstituierung des Raumes nicht aus. Stein hat also unrecht, wenn er behauptet, dass nach Newton auch ein bloß endliches „zuerst Seiendes“ den unendlichen Raum hervorbringen könnte. Für eine ausführliche Kritik des steinschen Arguments vgl. Slowik 2009, S. 439–442. 174 De Gravitatione, S. 51. 175 Principia, S. 941. 176 Hinsichtlich der unterschiedlichen Teilbarkeitskonzeptionen des Raumes bei Newton vgl. Janiak 2000, S. 224. Verschiedene Aussagen zur Teilbarkeit und Unteilbarkeit des newtonschen Raumes lassen sich so verstehen, dass der Raum als mathematisch teilbar, jedoch physikalisch unteilbar vorgestellt wird.

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2 Newtons Raumkonzeption

Dabei kommt dem Raum eine ontologische Sonderrolle zu. Der Raum als „Wirkung eines ewigen und unwandelbaren Seienden“177 ist nicht durch Gott geschaffen, sondern durch dessen Existenz selbst bedingt, d. h. an dessen notwendige Existenz gekoppelt. So wie Gott unendlich ist, so ist auch der Raum unendlich ausgedehnt und in seiner Seinsweise von den Körpern in ihm unabhängig. Demgegenüber unterliegen die Körper im Raum der göttlichen Willkür, d. h. Gott kann sie erschaffen und zerstören. Der Raum kann jedoch als notwendige Folge der Existenz Gottes nicht vernichtet werden.

2.3.4. Der epistemologische Status des Raumes und das Substanz-Akzidenz-Schema Aus diesem ontologischen Sonderstatus ergibt sich ein epistemologischer Sonderstatus des Raumes. Der Raum selbst hat für Newton einen anderen epistemischen Status als die in ihm befindliche Schöpfung. Ihm zufolge besitzt die Untersuchung des Raumes Notwendigkeit, während Gott Materie auch anders hätte erschaffen können. Newton schreibt seinen Überlegungen zum Raum deshalb im Unterschied zu seinen Überlegungen zur Materie Apriorizität zu.178 Um dem Leser eine Orientierung zu bieten, bemüht sich Newton gleich zu Beginn seiner Anmerkung zum Raum, diesen ontologisch einzuordnen. Räumlichkeit ist eine Eigenschaft, die jedem Seienden zukommt. Dabei entzieht sich der Raum dem Substanz–Akzidenz–Schema, was seinen Sonderstatus erneut verdeutlicht. Er ist die emanative Wirkung Gottes; d. h. er wird durch Gottes immerwährende unmittelbare Allgegenwart konstituiert.179 Laut Newton irrt Descartes deshalb, wenn er die Ausdehnung als Substanz ansieht.180 So hat eine Substanz nach Newton die Eigenschaft aus sich selbst heraus zu existieren. Der Raum kann daher keine Substanz sein, denn er existiert nicht aus sich heraus, sondern in Ab-

177 De Gravitatione, S. 51. 178 So bemerkt er in seiner Erörterung der Materie: „Nachdem wir die Ausdehnung beschrieben haben, bleibt uns noch auf der anderen Seite, die körperliche Natur zu erklären. Ihre Darlegung wird allerdings mit weniger Gewissheit erfolgen, da sie nicht auf Grund von Notwendigkeit, sondern durch göttlichen Willen existiert […].“ De Gravitatione, S. 53. 179 Vgl. De Gravitatione, S. 37 und auch das Scholion Generale. 180 Vgl. Principia philosophiae, S. 38.

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

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hängigkeit von Gott.181 Der Raum kann aber auch keine Akzidenz182 sein, da die Ausdehnung nicht als einem „Zugrundeliegenden anhängend“183 existiert. Ein körperfreier Raum kann vorgestellt werden. Würde Gott die Körper im Raum vernichten, so würde der von Körpern befreite Raum weiter existieren, ohne mit den Körpern zu verschwinden. Da es eine Vorstellung vom Raum gibt, kann er jedoch auch nicht Nichts sein: Noch weniger kann er ein Nichts genannt werden, da er mehr ist als ‘bloß’ ein Akzidenz und sich eher der Natur der Substanz nähert. Für das Nichts gibt es keine Vorstellung, noch hat es irgendwelche Eigenschaften, aber von der Ausdehnung haben wir eine Vorstellung, ‘und zwar’ die klarste von allen, wenn wir nämlich von allen Zuständen und Eigenschaften abstrahieren, so daß die gleichförmige und unbegrenzte Erstreckung des Raumes nach Länge, Breite und Tiefe allein übrig bleibt.184

Newton siedelt den Raum in der Nähe der Substanz an, um dem Leser eine Orientierung mit Blick auf die Substanz-Akzidenz-Ontologie185 zu ermöglichen.186 Diese Ausführungen über die Raumvorstellung werfen ein interessantes Licht auf Newtons Bewegungslehre: Der Raum wird im Scholion und in De Gravitatione nicht definiert, da er aufgrund eines Vorverständnisses jedem zugänglich ist (anders als z. B. der schillernde Begriff der Kraft). Alle, auch Descartes und später Leibniz, haben jene klare Vorstellung vom Raum, auch wenn sie sich ihren „Hirngespinste[n]“187 hingeben und leugnen, dass auch sie wahre Bewegung auf einen absoluten Raum beziehen. Der absolute Raum wird aus dem bestehenden

181 Hinzu kommt, dass nach Newton eine Substanz sich durch ihre Tätigkeit auszeichnet, was für den Raum nicht gilt. Vgl. hierzu De Gravitatione, S. 37. 182 Wie von Aristoteles vertreten. Vgl. Aristoteles, Kategorien, 11 1, b, 27 und 2, a, 2. 183 De Gravitatione, S. 37. 184 De Gravitatione, S. 37. 185 In dieser Passage zeigt sich der Einfluss Gassendis auf Newton besonders deutlich. Er geht wie Newton davon aus, dass der Raum aus dem Substanz–Akzidenz–Schema herausfällt, und beschreibt den Raum als der Schöpfung vorausgehend. Man vgl. hierzu z. B. Fisher 2013, Lasswitz 1963, S. 142, Gosztonyi 1976, S. 216–219. Gassendis Werk stellt einen wichtigen Ausgangspunkt des neuzeitlichen Atomismus dar. Es zielt u. a. auf eine Rehabilitierung des Atomismus Epikurs. Für eine Analyse vgl. Detel 1976, S, 175–189. Gassendi geht, Epikur folgend und gegen Descartes, von der Existenz eines absoluten Raumes aus, in dem sich absolut undurchdringliche Atome bewegen. Vgl. hierzu Lasswitz 1963, S. 163–167 und Casey 1998, S. 137–150. 186 Der Hintergedanke ist, dass Newton das Verhältnis Gott – Geschöpf mit dem Verhältnis von Substanz und Akzidenz vergleicht: „Gott liegt den Geschöpfen nicht weniger zugrunde als diese ihren Akzidenzen […].“ De Gravitatione, S. 67. Dadurch muss der Raum als nicht unmittelbar ‚geschöpft‘ eine Mittelstellung im Substanz–Akzidenz–Schema einnehmen: „Und das wird uns kaum schwerfallen, wenn wir uns über den oben erläuterten Begriff eines Körpers hinaus vergegenwärtigen, daß wir uns Raum ohne jedes Subjekt als seiend vorstellen können, wenn wir an das Vakuum denken. Folglich kommt ihm eine gewisse substantielle Realität zu.“ De Gravitatione, S. 69. Vgl. hierzu Dempsey 2005, S. 424. 187 De Gravitatione, S. 17.

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2 Newtons Raumkonzeption

Vorverständnis herausgeschält, um „falsche[n] Vorstellungen“188, wie sie Descartes vertritt, vorzubeugen. Palter bringt Newtons Herangehensweise daher treffend auf den Punkt, wenn er schreibt: Newton says we already possess a clear idea of the concept of extension as ‘the uniform and unlimited stretching out of space in length, breadth and depth.’ His exposition, therefore, is presumably designed to recall this idea to his readers by pointing out clearly what it involves.189

2.3.5 Der Raum und Newtons mathematischer Realismus In den letzten beiden Abschnitten wurde der ontologische und der epistemologische Status des newtonschen Raumes analysiert. Dadurch ist deutlich geworden, wie tief der absolute Raum in Newtons Metaphysik verankert ist. In De Gravitatione finden sich jedoch physikalische, theologische, mathematische und metaphysische Aspekte verknüpft. Dieser Unterabschnitt soll zeigen, dass auch Newtons Vorstellung von Mathematik und relativen Räumen nur mit Bezug auf den absoluten Raum verstanden werden kann. Wie in den Principia deutlich wird, ist die Geometrie für Newton ein Teil der Mechanik.190 Er schreibt im ersten Vorwort: For the description of straight lines and circles, which is the foundation of geometry, appertains to mechanics.191

Newton unterscheidet zwischen ‚rationaler‘ und ‚praktischer‘ Mechanik. Die rationale Mechanik schließt von den wirkenden Kräften auf die resultierende Bewegung oder von den Bewegungen auf die wirkenden Kräfte. Die Technik gehört zur praktischen Mechanik, wozu auch das Zeichnen gerader und krummer Linien gehört. Die praktische Mechanik bildet daher laut Newton die Grundlage der Geometrie. Sie kann nur betrieben werden, wenn das Ziehen von Linien beherrscht wird. Die Natur dieser Gegenstände der ‚Geometrie‘ wird von Newton in De Gravitatione näher bestimmt: Der Raum beinhaltet bereits geometrische Objekte (Oberflächen, Figuren, Punkte etc.), die mechanisch hervorgehoben werden, d. h. sie werden vom restlichen, homogenen Raum unterschieden (also durch Tinte oder Kreide markiert). Die Geometrie basiert also auf diesen im Raum vorhandenen Objekten. Eine geometrische Figur wird somit nicht etwa durch den Geometer konstruiert, vielmehr wird die bereits im homogenen, ununterscheidbaren Raum existente Figur durch ihn mechanisch sichtbar gemacht:

188 Dt. Principia, S. 27. 189 Palter 1987, S. 409. 190 Die Vorstellung, dass der Raum bereits geometrische Figuren enthält, geht auf Newtons Lehrer Isaac Barrow zurück. Vgl. hierzu Jammer 1960, S. 103. 191 Principia, S. 381.

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

69

Und folglich gibt es überall alle Arten von Figuren, überall Geraden, überall Kreise, Ellipsen, Parabeln und alle übrigen Figuren, d. h. jeder Gestalt und Größe, auch solche, die bisher noch nicht durch Zeichnung sichtbar gemacht wurden.192

Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Vorstellung von Bewegung im Raum. Der Raum, der von einem Körper eingenommen wird, hat bei dessen Bewegung bereits Körperform. D. h., die Körperform ist im Raum an den verschiedenen Raumstellen, die der Körper einnimmt, bereits vorhanden. Newton sieht darin die Bedingung, durch die der Raum Körper, die sich in ihm bewegen, aufnehmen kann, und wodurch eine mathematische Beschreibung der Körperbewegung erst möglich wird.193 Der Raum kann eine Kugel nur deshalb ‚aufnehmen‘, weil der Raum von sphärischen Raumteilen erfüllt ist. 194 Diese Raumteile können mechanisch hervorgehoben werden und dadurch zum Gegenstand mathematischer Betrachtungen werden.195 Wie deutlich wurde, nennt Newton den relativen Raum im Scholion eine „Ausmessung“196 des absoluten Raumes.197 Dies ist nur durch Newtons mathematischen Realismus zu verstehen.198 Der relative Raum ist eine im absoluten Raum kenntlich gemachte Abmessung und als diese, ebenso wie geometrische Figuren und Körper, immer im absoluten Raum vorhanden. Er ist demnach kein bloß gedachtes Bezugssystem, sondern ein realer, im absoluten Raum existenter Teil des

192 De Gravitatione, S. 39. 193 Wie bereits bemerkt, besteht ein Konflikt zwischen Newtons empiristischer Methodologie und dem absoluten Raum. Zusätzlich besteht eine Spannung bezüglich der von Newton vorgetragenen empiristischen Methode und dem mathematischen Realismus. „On the one hand, Newton appears to be a mathematical realist when he asserts that space, time, and motion are to be conceived as ‘absolute, true, and mathematical.’ On the other hand, Newton was positivistically–minded in his experimental work and in his statements about method in science. If Newton, then, resists classification under one or the other type of thought but is in both camps at once, what is more natural than to argue that there is a fundamental conflict of two theories within his thinking?” Strong 1951, S. 92. 194 Dies steht im engen Zusammenhang zu Newtons ‘Fluxionsrechnung’. Man vgl. dazu Jammer 1960, S. 103. Bewegung wird aus heutiger Sicht mathematisch durch den Differenzialquotienten aus Strecke und Zeit bestimmt. Demgegenüber ist die Bewegung selber für Newton eine Bedingung der Differenzialrechnung. Vgl. hierzu Breger 1991, S. 40. 195 Die Kopplung der Mathematik an die Mechanik ist für das achtzehnte Jahrhundert typisch. Es handelt sich bei der Mathematik um keine Formalwissenschaft, die auf die Natur angewendet wird, sondern die Natur ist intrinsisch mathematisch aufgebaut. Vgl. Breger 1991, Pulte 2012. 196 Newton spricht vom relativen Raum als „mensura“. Org. Principia, S. 5. Cohen übersetzt „measure“ (Principia, S. 409) und Schüller „Maß“ (Dt. Principia, S. 28). Zudem nennt er den relativen Raum eine „dimensio“ (Org. Principia, S. 5) was von Cohen mit „dimension“ (Principia, S. 409) und von Schüller mit „Dimension“ (Dt. Principia, S. 28, vgl. auch Schüllers Anmerkung hierzu) übersetzt wird. „Ausmessung“ scheint mir hier die adäquateste Übertragung. 197 Vgl. 2.2.2. 198 Vgl. Jammer 1960, S. 107.

70

2 Newtons Raumkonzeption

Raumes.199 Demnach macht auch Newtons Vorstellung von Mathematik deutlich, dass der absolute Raum mehr ist als bloß ein Element aus einer Klasse gleichwertiger, relativer Räume. Vielmehr setzen die relativen Räume die Existenz des absoluten Raumes vorraus.

2.3.6 Der Raum als Grenzbegriff Nachdem die fundamentale Rolle des absoluten Raumes für die Geometrie und die relativen Räume deutlich geworden ist, soll zuletzt seine Eigenschaft der Unendlichkeit genauer besprochen werden. Newton betont gegen Descartes, dass der absolute Raum nicht bloß indefinit, sondern aktual unendlich ist. Diese aktuale Unendlichkeit des Raumes wird nicht bloß anhand der Negation seiner Endlichkeit erkannt.200 Descartes musste, so Newton, um dem Vorwurf der Raumvergottung zu entkommen, den Raum als bloß indefinit ansehen: Aber ich sehe ‘schon’, daß Descartes fürchtet, daß er den Raum vielleicht als Gott konzipiert hätte, wenn er ihn als unendlich setzen würde, weil doch Unendlichkeit eine Vollkommenheit ist.201

Dieses Problem ergibt sich für Newton nicht, da der Raum unmittelbar aus der Existenz Gottes resultiert.202 Neben der ontologischen Fundierung des Raumes im unendlichen Gott finden sich bei Newton zwei Argumente für die Unendlichkeit des Raumes. Beide sind insbesondere mit Blick auf die Raumvorstellung Kants und Fries von großem Interesse.203 Auf der einen Seite muss der Raum als unendlich angesehen werden, da hinter jeder vorgestellten Grenze immer noch der Raum gedacht werden muss:

199 Für eine davon abweichende Haltung, die die newtonsche Raumkonzeption jedoch in zahlreichen Punkten verkennt vgl. Unruh 2007, S. 30. 200 Vgl. hierzu auch Slowik 2009, S. 443–444. 201 De Gravitatione, S. 47. So schreibt Descartes in einer Stelle, auf die Newton explizit verweist: „Wir nennen diese Dinge endlos statt unendlich, um das Wort ‚unendlich‘ nur für Gott aufzubewahren, weil wir in ihm allein in jeder Hinsicht nicht bloß keine Grenzen finden, sondern auch positiv erkennen, daß er keine hat, bei anderen Dingen aber nicht so positiv ihre Grenzenlosigkeit erkennen, sondern nur zugestehen, daß wir die hier etwa vorhandenen Grenzen nicht finden können.“ Principia philosophiae, S. 10, siehe hierzu auch De Gravitatione, S. 45. 202 Vgl. Janiak 2000, S. 221. Leibniz wendet sich mit einem ähnlichen Vorwurf gegen Newton. Siehe Leibniz–Clarke, S. 37 Leibniz’ dritter Brief an Clarke, § 3. 203 Vgl. 4.2.2.7. und 5.1.4.

2.3 Zur metaphysisch-theologischen Seite des Raumes

71

Wir können uns nämlich nirgends eine Grenze vorstellen, ohne zugleich zu denken, daß esjenseits [sic!] davon noch Raum gibt. 204

Auf der anderen Seite liefert Newton neben diesem Argument für die Indefinitheit des Raumes auch ein mathematisches „Beweisstück“205 für seine aktuale Unendlichkeit: Zwei Seiten eines Dreiecks werden so geöffnet, dass sie schließlich parallel stehen und sich im Unendlichen schneiden. Ich frage: wie groß ist die Entfernung des äußersten Punktes, in dem sich die Seiten getroffen haben? Mit Sicherheit war sie größer als jede, die man angeben kann, oder besser: keiner der Punkte war der äußerste, und folglich ist die Gerade, auf der alle jene Schnittpunkte liegen, aktual größer als endlich.206

Interessant ist Newtons Bemerkung, dass die unendliche Ausdehnung des Raumes zwar nicht vorgestellt, jedoch sehr wohl gedacht werden kann: Wenn jemand entgegnete, daß wir uns eine unendliche Ausdehnung nicht vorstellen können, so gebe ich das zu. Ich behaupte jedoch, daß wir sie denken können. Wir können uns zu jeder Ausdehnung jeweils eine größere vorstellen, aber wir können denken, daß es eine größere Ausdehnung gibt, als wir uns jemals vorstellen können. So ist, nebenbei gesagt, die Fähigkeit des Denkens von der Fähigkeit der Imagination deutlich unterschieden.207

Newton übernimmt hier die Unterscheidung zwischen Intellectus und Imaginatio von Descartes, deutet sie jedoch um.208 McGuire schreibt hinsichtlich der newtonschen Behauptung, dass der Raum durch das Denken als unendlich erkannt wird: Newton’s conception is Platonic in spirit. He is claiming that the mind has a non-sensuous prepresentation of an eternal nature, in this case, infinite extension, a nature which in itself is apprehended by the mind prior to any of its specific determinations.209

Newton geht davon aus, dass uns die Unendlichkeit des absoluten Raumes durch das Denken selber gegeben werden kann. Wir können uns einen jeweils größeren Raum vorstellen und ein unendlicher Raum kann gedacht werden. Sowohl durch

204 De Gravitatione, S. 41. Dieses Argument lässt sich bis zu dem Pythagoräer Archytas von Tarent zurückverfolgen. Siehe hierzu Gosztonyi 1976, S. 63–64. Man vgl. auch die weitere Diskussion in 4.2.2.1. und 5.1.4. Ein bloß indefiniter Raum würde zudem mit Newtons mathematischem Realismus konfligieren. Wenn geometrische Figuren als im Raum aktual bereits vorliegend aufgefasst werden, so bedürfen unendliche Figuren eines aktual unendlichen Raumes. So schreibt Newton weiter: „Und so gehen alle Geraden, Paraboloide, Hyperboloide, alle konischen und zylindrischen und alle übrigen derartigen Figuren ins Unendliche.“ De Gravitatione, S. 41. 205 De Gravitatione, S. 41. Für eine genaue Besprechung siehe McGuire 1983, S. 100–110 und Domski 2013, S. 443–446. 206 De Gravitatione, S. 43. Wobei Newtons Argument natürlich vorraussetzt, dass es einen solchen Punkt gibt. 207 De Gravitatione, S. 43. Newton übernimmt diese Unterscheidung aus den cartesischen Meditationen. Vgl. hierzu die sechste Meditation, sowie McGuire 1983, S. 76–77. 208 Vgl. hierzu sowie für eine ausführliche Untersuchung McGuire 1983, S. 76–87. 209 McGuire 1983, S. 80.

72

2 Newtons Raumkonzeption

die Vorstellungskraft als auch durch den Intellekt haben wir also Zugang zum Raum. Diese ambivalente Rolle des Raumes wird von Newton nicht weiter ausgearbeitet. Sie ist jedoch für die Rezeption seiner Raumkonzeption, insbesondere für Kant, von großer Wichtigkeit.210

2.4 SYSTEMATISCHE ZUSAMMENFASSUNG DER NEWTONSCHEN RAUMKONZEPTION Die bisherigen Ergebnisse sollen nun zusammengefasst und mit Blick auf die Leitfragen der Arbeit dargestellt werden. Der absolute Raum ist tief in Newtons Intuition verankert. Als Grundkonzeption seines Denkens besitzt er sowohl physikalisch-mathematische als auch metaphysisch-theologische Aspekte. Die physikalische Seite des Raumes wurde anhand einer Analyse der Principia untersucht. Dies führte zu den folgenden Ergebnissen: Gegen die modernisierende Interpretation DiSalles wurde gezeigt, dass es sich beim absoluten Raum um keine Definition handelt und Newton auch nicht alle Inertialsysteme als äquivalent ansieht. Vielmehr entwickelt Newton im Scholion seine Bewegungslehre ausgehend von einem bestehenden Vorverständnis. Er unterscheidet den absoluten Raum von bloß relativen Räumen. Da der absolute Raum homogen ist, können seine Teile durch die Sinne nicht unterschieden werden. Demgegenüber erkennen wir die relativen Räume anhand der im Raum befindlichen Körper. Newton versteht unter dem Ort einen Teil des Raumes. Je nach Raum handelt es sich entweder um absolute oder relative Orte. Diese Unterscheidung wirkt sich auch auf seine Bewegungskonzeption aus. Bewegung wird von Newton als Ortsänderung aufgefasst. Deshalb differenziert Newton zwischen absoluter oder relativer Bewegung. Anhand einer Reihe theoretischer Argumente zeigt er gegen Descartes, dass eine bloß relative Bewegungskonzeption nicht den Ansprüchen der Mechanik genügt. Den Abschluss dieser theoretischen Überlegungen bildet das Eimerexperiment, in dem Newton illustriert, dass Wirkung und relative Bewegung nicht miteinander korrelieren müssen. Er schließt deshalb auf die Richtigkeit seiner eigenen Konzeption. Die wahre Bewegung eines Körpers ist demnach immer die Bewegung des Körpers zum absoluten Raum. Dabei sind Abweichungen von der geradlinigengleichförmigen Bewegung auf Kräfte zurückzuführen. Dies wird im Scholion anhand des Eimerexperiments und des Experiments der rotierenden Kugeln deutlich. Wahre Kreisbewegung führt zu Fliehkräften, was für bloß relative Kreisbewegung nicht gilt. Diese Kräfte treten nicht aufgrund der relativen Lageänderung zu Körpern, sondern aufgrund der Lageänderung zum absoluten Raum auf (L3).

210 Auch bei Kant finden sich beide Aspekte des Raumes, auch wenn imaginatio und intellectus mitunter vertauscht sind. Vgl. 4.2.2.7.

2.4 Systematische Zusammenfassung der newtonschen Raumkonzeption

73

Die von Newton vorgebrachten Überlegungen genügen, um eine Klasse von Bezugssystemen zu separieren, in denen die Bewegungsgesetze gelten. Obwohl all diese Räume empirisch äquivalent sind, unterscheidet er den absoluten Raum von den anderen Inertialsystemen. Aus Newtons wird die Spannung zwischen der newtonschen Raumkonzeption und der empiristischen Methodologie der Principia deutlich (L2). So bedient sich Newton einer unüberprüfbaren Hypothese, um den absoluten Raum von den zu ihm geradlinig-gleichförmig bewegten Räumen zu unterscheiden. Er geht davon aus, dass der Schwerpunkt des Sonnensystems ruht. Dadurch ist es möglich, jedem Körper, zumindest prinzipiell, seine wahre Bewegung zuzuschreiben (L1). Die aufgezeigte Spannung zwischen dem absoluten Raum und der proklamierten Methodologie lässt sich durch die Bedeutung des absoluten Raumes für Newtons Metaphysik erklären. Dieser metaphysisch-theologische Aspekt des Raumes wurde anhand einer Untersuchung des Manuskripts De Gravitatione analysiert. Es wurde deutlich, dass die Principia ein theoretisches Fundament besitzen, in dem physikalische, mathematische, theologische und metaphysische Überlegungen ineinandergreifen. Daraus offenbart sich, dass für Newton naturwissenschaftliche und metaphysische Überlegungen in den Grundlagenfragen der Mechanik nicht klar zu trennen sind und sich verflechten (L5). Am Beispiel der Gravitation wurde dabei die konstitutive Rolle Gottes für die newtonsche Mechanik herausgearbeitet. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für den Raum. Er wird durch die Allgegenwart Gottes hervorgebracht. Dabei übertragen sich die Eigenschaften Gottes auf den Raum. Greift man auf die in 1.3 eingeführte systematische Trias aus Gott, Gravitation und Raum zurück, so lässt sich das Verhältnis dieser Konzeptionen daher wie folgt darstellen:

Da Newton von der Einheit Gottes ausgeht, kann es für ihn auch nur einen absoluten, wahren Raum geben. Deshalb unterscheidet Newton in den Principia auch den absoluten Raum von anderen Inertialsystemen. Diese Sonderrolle des Raumes in der Schöpfung wirkt sich auf seinen ontologischen und epistemologischen Status aus. Anders als die Dinge im Raum (Materie, Seelen) ist der Raum nicht geschaffen und auch nicht Gegenstand des göttlichen Willens. Deshalb hat Newtons Untersuchung des Raumes apriorischen Charakter. Dabei besitzen wir nach ihm zwei Zugänge zum Raum. Zum einen gelangen wir durch die Erweiterung der endlichen Ausdehnung bzw. durch die Abstraktion von

74

2 Newtons Raumkonzeption

den Körpern zur Vorstellung des Raumes. Andererseits ist uns aber auch der Raum als aktual unendlich gegeben. Mit Blick auf die diemersche Systematisierung lässt sich sagen, dass Newtons absoluter Raum in der klassischen Wissenschaftskonzeption anzusiedeln ist. Seiner Raumkonzeption liegt sowohl das erste Kriterium der klassischen Wissenschaftskonzeption, die Absolutheitsthese, als auch die Wahrheitsvoraussetzung zugrunde. Dabei handelt es sich bei Gott um die externe Autorität, auf die sich die newtonsche Raumlehre stützt (L4). Im folgenden Kapitel wird deutlich werden, dass der Prozess der Entmetaphysierung des Raumes erst durch Newtons Nachfolger vorangetrieben wird. Daher sollen zentrale Kritiker des absoluten Raumes in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts behandelt werden.

3 ZENTRALE KRITIKER IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 18. JAHRHUNDERTS Das 18. Jahrhundert ist geprägt von philosophischen und wissenschaftlichen Kontroversen um die Grundlagen der Mechanik. Ein zentrales Thema dieser Kontroversen ist die newtonsche Raumkonzeption. Dieses Kapitel analysiert die Debatten um den absoluten Raum in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es wird deutlich werden, dass die Konzeption des absoluten Raumes darin eine Umdeutung erfährt, die insbesondere für das Werk Kants eine große Bedeutung hat. Mit Blick auf die Zielsetzung der Arbeit muss bei den zu behandelnden Autoren eine Auswahl getroffen werden. Leibniz’ Angriff auf den absoluten Raum ist von großer Wichtigkeit für die Genese der kantischen Raumvorstellung. Die Debatte zwischen Leibniz und dem Theologen und Newtonschüler Samuel Clarke gibt dabei einen tiefen Einblick in den Konflikt zwischen dem leibnizschen und dem newtonschen System, ein Konflikt, der weit in das achtzehnte Jahrhundert hineinwirkt. Aus diesem Grund soll sie hier zuerst erörtert werden (3.1). Berkeleys Kritik der newtonschen Raumvorstellung hatte, soweit dies ersichtlich ist, keinen direkten Einfluss auf die kantische Raumkonzeption. Kant ist jedoch nach Erscheinen der ersten Auflage der KrV stark bemüht, die Differenzen zwischen seinem transzendentalen und Berkeleys (von Kant so genannten) ‚dogmatischen Idealismus‘ aufzuzeigen.1 Deshalb wird Berkeleys Kritik des newtonschen Raumes im darauf folgenden Abschnitt untersucht (3.2). Wie ich zeigen werde, kritisieren sowohl Leibniz als auch Berkeley den newtonschen Raum ausgehend von den Grundlagen ihrer eigenen philosophischen Systeme. Euler verteidigt auf der Gegenseite den absoluten Raum gegen diese Angriffe. Nach ihm dürfen die Grundlagen der Mechanik nicht verworfen werden, weil sie nicht im Einklang mit philosophischen Konzeptionen stehen. Vielmehr müssen die philosophischen Systeme dahingehend beurteilt werden, inwieweit sie den Grundlagen der Mechanik gerecht werden. Durch Euler kommt es daher zu einer Verschiebung im Verhältnis von Mechanik und Metaphysik. Diese Entwicklung ist besonders für die Haltung Kants und später Fries’ wichtig. Deshalb schließt das Kapitel mit einer Untersuchung zu Eulers Raumtheorie (3.3).2

1 2

Hinsichtlich des Einflusses der berkeleyschen Newtonkritik auf Kant vgl. 4.2.1.2. Newtons Haltung werden typischerweise die Positionen von Descartes, Leibniz, Huygens und Berkeley gegenübergestellt. Vgl. z. B. Rynasiewicz 1995b, S. 295–296. Die Auseinandersetzung Newtons mit Descartes wurde bereits unter 2.3.1 analysiert. Huygens Kritik des newtonschen Raumes hat keine Auswirkungen auf Kant und ebensowenig auf Fries. Deshalb gilt es in diesem Kapitel Leibniz und Berkeley zu untersuchen. Die Haltung Eulers hatte großen Einfluss auf die kantische Raumtheorie und wird deshalb ebenfalls herangezogen.

76

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

3.1 LEIBNIZ IN DER DEBATTE MIT CLARKE (1715–1716) Leibniz’ Kritik des absoluten Raumes ist der wohl bedeutendste Angriff auf Newtons Raumkonzeption zu dessen Lebzeiten. Der Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke, einem engen Schüler und Vertrauten Newtons, dauerte bis zum Tod Leibniz’ an und war tonangebend für die Raumdebatte in den folgenden Jahrzehnten. Dies gilt insbesondere, wie deutlich werden wird, für Euler und Kant. In dieser Debatte erfolgt die Schwerpunktsetzung des philosophischen Konflikts zwischen dem sich v. a. über die Niederlande und Frankreich in Deutschland ausbreitenden newtonschen Paradigma1 und der rationalistischen Schulphilosophie. Dabei muss die sich über zehn Briefe erstreckende Auseinandersetzung vor dem Hintergrund des Prioritätenstreits um die Entwicklung des Infinitesimalkalküls gelesen werden, durch den das Verhältnis beider Denker stark belastet war. Der von Leibniz vorgenommene philosophische Angriff ist ein Versuch, den ‚Kampfplatz‘ zwischen ihm und Newton zu wechseln und seinen Widersacher von einer anderen Seite zu attackieren.2 Obwohl der Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke stattfand, ist anzunehmen, dass Newton in die Debatte involviert war. Die enge Verbindung zwischen Newton und Clarke wird u. a. dadurch deutlich, dass Clarke für ihn die Übersetzung der Optik ins Lateinische übernahm. Auch in religiöser Hinsicht standen sich beide sehr nahe. So war Clarke, wie auch Newton, Unitarier, was seiner geistlichen Karriere im Wege stand.3 In der Forschung wird Clarke zumeist als ‚ausführendes Organ‘ Newtons gesehen, der dessen Position unter Rücksprache mit seinem Lehrer vertrat.4 Da es sich bei der Behauptung, die newtonsche Naturphilosophie schade der Natürlichen Religion, um einen schweren Vorwurf handelte, ist davon auszugehen, dass Newton den Briefwechsel selbst überwachte. Bestätigt wird diese Annahme durch einen Brief von Caroline, der Prinzessin von Wales, der Leibniz als Kurfürstin von Hannover gedient hatte und durch die der Briefwechsel zustande kam. Sie schreibt an Leibniz: Hinsichtlich des Verfassers der Erwiderung haben Sie recht, sie wurden nicht ohne den Rat von Chevalier Newton geschrieben, den ich gerne mit Ihnen aussöhnen möchte. 5

Dieses Vorgehen ist für Newton nicht neu. Schon zuvor hatte er Leibniz durch enge Vertraute angreifen lassen. Dabei blieb er als vermeintlich Unbeteiligter au1 2 3 4 5

Vgl. Guerlac 1965, S. 317–319, Mandelbrote 2004, Ahnert 2004, van der Wall 2004. Vgl. Westfall 1980. Für eine Darstellung des Konflikts zwischen Leibniz und Newton siehe Hall 1980, Hall 2002, Meli 1993. Für eine biografische Skizze vgl. Schüller 1991b, S. 460–467. Vgl. dazu die Diskussion in Janiak 2000, S. 220. Brief der Prinzessin von Wales an Leibniz vom 30.12.1715 in: Schüller 1991a, S. 223–224. Hinsichtlich der unmittelbaren Beteiligung Newtons am Briefwechsel vgl. auch Janiak 2000, S. 220.

3.1 Leibniz in der Debatte mit Clarke (1715–1716)

77

ßen vor, zog jedoch im Hintergrund die Fäden. Clarke verteidigte im Briefwechsel also nicht nur die newtonsche Lehre, sondern wurde unmittelbar von Newton unterstützt und angeleitet. Aus diesem Grund ist es auch zulässig, Newton Clarkes Ausführungen zum Raum zuzuschreiben. Eine Analyse des Briefwechsels eignet sich daher hervorragend, um die Position Leibniz’ und Newtons gegenüberzustellen und die Untersuchung zu Newton abzurunden. Da sich die Debatte mit verschiedensten metaphysischen, naturphilosophischen, theologischen und mathematischen Problemen beschäftigt, muss eine thematische Auswahl getroffen werden. Es können lediglich einige, für diese Arbeit zentrale Diskussionspunkte aufgegriffen werden. Zunächst erfolgt deshalb eine Darstellung der leibnizschen Kritik am newtonschen Raum (3.1.1). Daraufhin wird Leibniz’ Gegenkonzeption analysiert (3.1.2), um dann Clarkes Angriff zu untersuchen (3.1.3). Abschließend wird der Briefwechsel zusammengefasst und unter systematischen Gesichtspunkten betrachtet (3.1.4).

3.1.1 Leibniz’ Kritik der newtonschen Raumkonzeption In einem Brief an die Prinzessin von Wales beklagt Leibniz den Verfall der Natürlichen Religion. Dies macht er unter anderem an der Lehre Newtons fest. Leibniz schreibt: Monsieur Newton sagt, der Raum sei das Organ, das Gott benutzt, um die Dinge wahrzunehmen. Wenn Gott aber zur Wahrnehmung der Dinge ein Hilfsmittel benötigt, dann sind die Dinge von ihm nicht vollkommen abhängig und auch nicht sein Erzeugnis.6

Die Passage, auf die Leibniz anspielt, findet sich in der Optik. Dort äußert sich Newton emphatisch über die Schöpfung und argumentiert für eine physikotheologische Deutung seiner Ergebnisse. Er schreibt: Und da dies Alles so wohl eingerichtet ist, wird es nicht aus den Naturerscheinungen offenbar, dass es ein unkörperliches, lebendiges, intelligentes und allgegenwärtiges Wesen geben muss, welches im unendlichen Raume, gleichsam seinem Empfindungsorgane, alle Dinge in ihrem Innersten durchschaut und sie in unmittelbarer Gegenwart völlig begreift, Dinge, von denen in unser kleines Empfindungsorgan durch die Sinne nur Bilder geleitet und von dem, was in uns empfindet und denkt, geschaut und betrachtet werden?7

Nach Leibniz ergibt sich aus der Haltung Newtons, dass Gott nicht in der Lage ist, die Dinge unvermittelt wahrzunehmen, da er den Raum als Sinnesorgan benötigt.8

6 7 8

Leibniz–Clarke S. 19, Leibniz’ erster Brief, § 1. Optik, S. 244, Hervorhebungen durch mich. Ebenso kritisiert Leibniz im ersten Brief, dass Gott, nach Newton, von Zeit zu Zeit in sein Weltsystem eingreifen muss. Diese hochinteressante Kontroverse, die insbesondere das Verhältnis beider Denker zu Erhaltungssätzen beleuchtet (vgl. bspw. Leibniz–Clarke, S. 41–42, Leibniz’ dritter Brief, § 14), muss hier, wie viele andere Diskussionspunkte, leider außen vor bleiben.

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Die Prinzessin leitete Leibniz’ Vorwurf mit der Bitte auf eine Antwort an Clarke weiter. Dieser ist in seiner Erwiderung bemüht, Newtons Ausführungen zum sensorium als bloße Illustration darzustellen.9 Der menschliche Geist nimmt die Dinge durch seine unmittelbare Gegenwart zu den durch Sinnesorgane und Gehirn erzeugten Abbildungen wahr. Dadurch, dass Gott allgegenwärtig ist, benötigt er solche Hilfsmittel nicht: Diese Ähnlichkeit ist alles, was Sir Isaac Newton meint, wenn er annimmt, der unendliche Raum sei gewissermaßen das sensorium des Allgegenwärtigen.10

Ausgehend von diesem Diskussionspunkt entwickelt sich eine breite philosophische Debatte,11 in der Leibniz vor allem den absoluten Raum immer wieder scharf

9

In den Streit um den Raum als sensorium spielt u. a. hinein, dass Newton diese Passage der lateinischen Ausgabe der Optik erst in einer Überarbeitung als Vergleich darzustellen suchte und sie somit entschärfte. Vgl. Breger 2014, S. 14–15 und Westfall 1980, S. 647–648. Dabei bezieht sich Leibniz, anders als Clarke, jedoch auf die nicht überarbeitete Version, was innerhalb der Debatte nicht geklärt wird. Leibniz versucht in den folgenden Briefen immer wieder, Newtons Bezeichnung des Raumes als sensorium Gottes zu kritisieren, während Clarke dies abblockend als bloßen Vergleich abtut, wodurch die Debatte in diesem Punkt stagniert. 10 Leibniz–Clarke S. 22, Clarke erster Brief, § 3. 11 Mit Blick auf 2.3.1 sollen hier die Haltungen beider Denker zur Natürlichen Religion kurz gegenübergestellt werden. Clarke versucht aufzuzeigen, dass die newtonsche Naturphilosophie im Widerspruch zum Materialismus steht. Wie auch Leibniz sieht er in dieser philosophischen Strömung den Grund für den Verfall der Natürlichen Religion. Beide Denker unterscheiden sich aber hinsichtlich der Frage, wie dem Materialismus entgegenzutreten sei. So urteilt Clarke über das Werk Newtons: „Diese Prinzipien, und zwar nur sie, beweisen, daß Materie oder Körper der geringste und unbedeutendste Teil des Universums ist.“ Leibniz–Clarke S. 21, Clarkes erster Brief, §1. Diesem Urteil kann sich Leibniz nicht anschließen. Gleich zu Beginn seines folgenden Schreibens erklärt er: „Zu Recht wird in dem an die Prinzessin von Wales gerichteten Schreiben, welches Ihre Königliche Hoheit mir bekannt zu machen die Güte hatte, festgestellt, daß außer den heruntergekommenen Leidenschaften doch sehr die Prinzipien der Materialisten zum Fortbestehen der Gottlosigkeit beitragen. Aber ich glaube, man hat keinen Grund hinzuzufügen, daß die ‚Mathematischen Prinzipien der Physik‘ im Widerspruch zu den Prinzipien der Materialisten ständen. Im Gegenteil, es sind dieselben, nur mit dem Unterschied, daß sich die Materialisten nach dem Vorbild von Demokrit, Epikur und Hobbes durchaus auf mathematische Prinzipien beschränken und nur Körper anerkennen, wohingegen die christlichen Mathematiker außerdem noch immaterielle Substanzen anerkennen. Man muß darum nicht mathematische Prinzipien [...], sondern metaphysische Prinzipien den Prinzipien der Materialisten entgegenstellen.“ Leibniz–Clarke S. 25, Leibniz’ zweiter Brief, § 1. Clarke argumentiert ganz im Stil seines Lehrers und erklärt, dass die mathematischen Prinzipien, indem sie zu den zugrunde liegenden Ursachen und schließlich zur ersten Ursache vordringen, schließlich auch metaphysische Prinzipien werden: „Zur Angemessenheit der Bezeichnung wäre zu sagen: Insoweit wie sich metaphysische Folgerungen aus mathematischen Prinzipien zwingend ergeben, kann man die mathematischen Prinzipien auch metaphysische Prinzipien nennen […].“ Leibniz–Clarke S. 31, Clarkes zweiter Brief, § 1. Demgegenüber sieht Leibniz die Lösung vielmehr in der Metaphysik, genauer im Betreiben der richtigen Metaphysik: „Die grundlegenden Sätze vom hinreichenden Grund und von der Identität ununterscheidbarer Dinge verändern den Zustand der Metaphysik, die erst dank ihrer Hilfe zu einer wahren und beweiskräftigen Metaphysik wird, wohingehend sie vorher fast nur

3.1 Leibniz in der Debatte mit Clarke (1715–1716)

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kritisiert. Zum einen sieht er einen Schwachpunkt der newtonschen Konzeption im Verhältnis zwischen Raum und Gott. Zum anderen versucht er zu zeigen, dass der absolute Raum mit grundlegenden Prinzipien der Metaphysik unvereinbar ist. Beide Aspekte seines Angriffs sollen hier analysiert werden. Die Konstitution des Raumes durch den allgegenwärtigen Gott In 2.3 wurde gezeigt, dass Newton Descartes vorwirft, Gott aus der körperlichen Welt auszuschließen. Demgegenüber integriert Newton Gott in sein System, da der Raum durch Gottes Allgegenwart konstituiert wird. Während Newton dies als einen Vorteil gegenüber dem cartesischen System wertet, wirft ihm Leibniz vor, Gott in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Raum gesetzt zu haben. Gerade in der Sonderstellung des Raumes liegt nach Leibniz ein zentrales Problem der newtonschen Konzeption. Da der Raum durch Gottes Allgegenwart besteht, könnte Gott selbst ihn nicht zerstören. Dies würde aber bedeuten, dass neben Gott etwas Ewiges, Unermessliches und Unveränderliches existieren würde.12 In seiner Verteidigung der newtonschen Raummetaphysik gilt es für Clarke, zwischen zwei Positionen hindurchschiffen: Einerseits untermauert er die Notwendigkeit, Unendlichkeit und Absolutheit des Raumes. Andererseits muss er eine Annäherung an eine pantheistische Haltung vermeiden. Diese wird ihm von Leibniz unterstellt, wenn er schreibt: „andere [d. h. Newton], lassen Gott selbst körperlich sein.“13 Clarke muss es also gelingen, die Ewigkeit und Unendlichkeit eines Raumes anzunehmen, der von Gott abhängig existiert. Leibniz schreibt gegen Clarke: Diese Herren behaupten also, der Raum sei ein absolutes wirkliches Seiendes. Dies bringt sie aber in große Schwierigkeiten. Denn wie es scheint, müßte ein solches Seiendes ewig und unendlich sein.14

Wie in 2.3.4 deutlich geworden ist, lehnt Newton ein solches Verständnis von ‚absolut‘ jedoch ab. Der Raum ist keine Substanz, da er „nicht absolut durch sich, sondern vielmehr als eine emanative Wirkung Gottes und als eine gewisse Eigenschaft jedes Seienden existiert.“15 Indem Clarke für den Raum als Eigenschaft

12 13 14 15

aus leeren Worten bestand.“ Leibniz–Clarke S. 52, Leibniz’ vierter Brief, §5. Leibniz nimmt für sich in Anspruch, eine solche Verteidigung der wahren Metaphysik gegen den Materialismus in der Theodizee geliefert zu haben. Er trennt zwischen mathematischen und metaphysischen Prinzipien. Erstere stützen sich auf den Satz vom Widerspruch und letztere zusätzlich auf den Satz vom hinreichenden Grunde. Siehe Leibniz–Clarke S. 52–53, Leibniz‘ vierter Brief, §§ 9–10. Auch Berkeley äußert diesen Vorwurf. Vgl. 3.2. Leibniz–Clarke S. 19, Leibniz’ erster Brief, § 1. Leibniz–Clarke S. 37, Leibniz’ dritter Brief, § 3. De Gravitatione, S. 37. Cassini ist darin zuzustimmen, dass die Differenz zwischen Leibniz und Clarke nicht in der Frage liegt, ob der Raum Substanz ist oder nicht, da beide dem Raum den Substanzcharakter absprechen. Vgl. hierzu Cassini 2005 und 2.3.4.

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Gottes argumentiert, versucht er, ihn als notwendige und unendliche Entität einzuführen, ohne der Raumvergottung anheimzufallen. Gegen diese Überlegung wendet Leibniz ein, dass Gott sich dann in seiner Eigenschaft befinden würde. Dies zwingt Clarke zu einer Spezifizierung: Gott existiert nicht im Raum und in der Zeit, sondern seine Existenz verursacht den Raum und die Zeit. Wenn wir gemäß der üblichen Redeweise sagen, daß er in jedem Raum und zu jeder Zeit existiere, so meinen diese Worte nur, daß er allgegenwärtig und ewig ist, das heißt, daß der unbegrenzte Raum und die unbegrenzte Zeit notwendige Folgen aus seiner Existenz sind. Diese Worte meinen aber nicht, daß der Raum und die Zeit von ihm getrennte Dinge seien, IN denen er existiere.16

Leibniz sieht aber noch ein weiteres Problem: Wäre Gott ausgedehnt, so würde dies dessen Teilbarkeit implizieren. Da der Raum Teile hat, müsste aber auch Newtons omnipräsenter Gott Teile haben. Das widerspricht aber grundlegenden christlichen Dogmen. In der Frage, inwieweit Ausgedehntheit stets mit Teilbarkeit einhergeht, weichen Leibniz und Clarke jedoch vollkommen voneinander ab. Nach Clarke folgt aus der Ausdehnung einer Sache noch nicht ihre Teilbarkeit. So ist der Raum zwar ausgedehnt, jedoch „selbst in Gedanken vollkommen unteilbar“.17 Der absolute Raum und der Satz vom hinreichenden Grund An der Konstitution des Raumes durch den allgegenwärtigen Gottes wird das grundlegende Problem der Debatte klar: Leibniz und Clarke gehen von vollkommen unterschiedlichen Prämissen aus. Leibniz kritisiert den newtonschen Raum ausgehend von seinen eigenen Prinzipien, während Clarke im Gegenzug Leibniz dafür angreift, dass seine Argumentation mit dem newtonschen System konfligiert. Dies wird auch an einem anderen Argumentationsstrang Leibniz’ deutlich. Neben dem Verhältnis von Gott und newtonschen Raum sieht Leibniz einen Widerspruch zwischen absolutem Raum und den Prinzipien der Metaphysik. Dabei meint er mit den Prinzipien der Metaphysik natürlich die Prinzipien seiner Metaphysik. Diese lässt sich ihm zufolge aus dem Satz vom hinreichenden Grund herleiten: Nun, allein mit Hilfe dieses Satzes, nämlich daß es einen hinreichenden Grund geben muß, warum die Dinge so und nicht anders sind, läßt sich die Existenz Gottes beweisen und auch der gesamte Teil der Metaphysik bzw. der natürlichen Theologie und bis zu einem gewissen Grade sogar auch die von der Mathematik unabhängigen Prinzipien der Physik, das heißt, die dynamischen Prinzipien bzw. die von den Kräften.18

16 Leibniz–Clarke, S. 135, Clarkes fünfter Brief, § 36–48. 17 Leibniz–Clarke, S. 33, Clarkes zweiter Brief, § 4, vgl. hierzu auch Janiak 2000, S. 222. 18 Leibniz–Clarke, S. 26, Leibniz’ zweiter Brief, § 1.

3.1 Leibniz in der Debatte mit Clarke (1715–1716)

81

Clarke erkennt diesen Satz in seinem zweiten Schreiben zunächst an. Hinsichtlich des absoluten Raumes sieht er den bloßen Willen Gottes jedoch als hinreichenden Grund dafür an, dass Materie so und nicht anders im Raum angeordnet wurde: Es ist vollkommen richtig, daß nichts ohne einen hinreichenden Grund ist, warum es ist und warum es so und nicht anders ist. Darum kann dort, wo keine Ursache vorliegt, auch keine Wirkung sein. Jedoch ist dieser hinreichende Grund oftmals nichts anderes als der bloße Wille Gottes. Zum Beispiel: Warum wurde das eine spezielle Materiesystem an dem einen speziellen Ort erschaffen und das andere an einem anderen speziellen Ort, obwohl es (da alle Orte gegenüber jeglicher Materie vollkommen ohne Unterschied sind) vice versa genau das gleiche wäre, wobei freilich vorausgesetzt wird, daß die beiden Materiesysteme bzw. Materiepartikel gleich sind. Es kann hierfür keinen anderen Grund als den bloßen Willen Gottes geben.19

Clarkes vordergründiges Zugeständnis des Satzes vom hinreichenden Grund, gepaart mit der von ihm genannten Ausnahme, zeigt nach Leibniz jedoch, „daß man die gesamte Tragweite dieses Satzes nicht völlig verstanden hat.“20 Auch Gott handelt, so Leibniz, gemäß dem Satz vom hinreichenden Grund. Einen Willen, der ohne Grund handelt, kann es nach ihm nicht geben. Daraus ergibt sich, dass die Annahme eines absoluten Raumes absurd ist: Wäre der Raum ein absolutes Seiendes, so könnte sich auch etwas ereignen, wofür es keinen hinreichenden Grund geben kann, was aber meinem Axiom widerspricht. Ich beweise es hier folgendermaßen: Der Raum ist etwas vollkommen Homogenes und wenn sich in dem Raum keine Dinge befinden, so unterscheidet sich ein Raumpunkt von einem anderen Raumpunkt durchaus in nichts. Hieraus folgt nun aber (wobei angenommen wird, daß der Raum außer der gegenseitigen Ordnung der Körper noch irgend etwas an sich ist), daß es keinen Grund geben kann, warum Gott, die gleiche gegenseitige Lage der Körper beibehaltend, die Körper so und nicht anders in den Raum gesetzt hat.21

Der von Newton angeführte absolute Raum ist homogen. Daher gibt es keinen hinreichenden Grund für Gott, die Körper im Raum anzuordnen. Leibniz nennt das Beispiel einer gespiegelten Welt im absoluten Raum. Es gibt für Gott keinen hinreichenden Grund, bei der Anordnung der Körper im homogenen Raum eine nicht gespiegelte Anordnung der Körper einer gespiegelten Anordnung vorzuziehen. Leibniz schließt daraus, dass es sich bei beiden Anordnungen um ein und denselben Zustand handelt. Eine Unterscheidung beider Anordnungen wird lediglich aufgrund der „trügerischen Annahme von der Wirklichkeit eines Raumes an sich“22 angenommen. Gleiches gilt für eine im Raum versetzte Welt.23 Im homogenen absoluten Raum hat jeder Körper einen absoluten Ort. Nun würde sich diese Welt (A) von einer bspw. um 5 Meter im Raum verschobenen Welt (B) nicht unterscheiden. Gott hat also keinen hinreichenden Grund, zwischen A und B zu wählen. Dieses Problem lässt sich nach Leibniz nur lösen, wenn man A und B als

19 20 21 22 23

Leibniz–Clarke S. 31–32, Clarkes zweiter Brief, § 1. Leibniz–Clarke S. 37, Leibniz’ dritter Brief, § 2. Leibniz–Clarke S. 38, Leibniz’ dritter Brief, § 5. Leibniz–Clarke S. 39, Leibniz’ dritter Brief, § 5. Vgl. Leibniz–Clarke S. 52, Leibniz’ vierter Brief, § 6.

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

identisch ansieht. Daraus folgt jedoch, dass es einen absoluten Raum nicht geben kann.

3.1.2 Leibniz’ Gegenkonzeption Ehe Clarkes Antwort auf diese Kritik Leibniz’ untersucht wird, soll zunächst auf Leibniz’ Gegenkonzeption eingegangen werden. Zu Beginn seines dritten Schreibens erklärt er: Was meine eigene Meinung anbetrifft, so habe ich mehr als einmal gesagt, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte, nämlich für eine Ordnung des Nebeneinanderbestehens, sowie die Zeit eine Ordnung der Aufeinanderfolge ist. Nämlich als Raum bezeichnet man eine mögliche Ordnung der Dinge, die gleichzeitig existieren, wobei man sie als gemeinsam existierend betrachtet, ohne dabei nach ihrer besonderen Art und Weise des Existierens zu fragen.24

Im fünften Schreiben legt Leibniz seine Gegenkonzeption genauer dar: Der Raum wird vom Menschen ideell gebildet, d. h. er ist ontologisch den Körpern nachgeordnet.25 Da der Raum homogen ist, kann er, wie in 3.1.1 besprochen, für Leibniz kein absolutes Seiendes sein. Vielmehr sieht er in der Kontinuität des Raumes ein Argument für dessen Idealität. Er schreibt an anderer Stelle: In den wirklichen Dingen ist alle Größe diskret, d. h. eine Vielheit, die aus wahren Einheiten resultiert; die kontinuierliche Größe aber gehört, sofern sie nicht bloß scheinbar, sondern exakt sein soll, ins Bereich des Idealen und der Möglichkeit, da sie etwas Unbestimmtes oder Unbegrenztes in sich schließt, was die wirkliche Natur der Dinge nicht duldet.26

Der Raum wird nach Leibniz aus der möglichen Lage der Körper zueinander abstrahiert. Dieser Gedanke findet sich auch im Briefwechsel mit Clarke: Ich sage nicht, daß die Materie und der Raum ein und dasselbe seien. Ich sage nur, daß es dort keinen Raum gibt, wo es keine Materie gibt, und daß der Raum an sich keine absolute Reali-

24 Leibniz–Clarke, S. 37–38, Leibniz’ dritter Brief, § 4. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Mathematik sieht Leibniz im Raum die Ordnung des Koexistierenden. Zunächst definiert er die Zeitreihe anhand der Kausalrelation: „Wenn von zwei Elementen, die nicht zugleich sind, das eine den Grund des anderen einschließt, so wird jenes als vorangehend, dieses als folgend angesehen.“ Metaphysische Anfangsgründe der Mathematik, S. 35. Die Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich Existierenden, während der Raum die Ordnung des zugleich Existiernden ist. Für eine Darstellung vgl. Reichenbach 1924, S. 419–429 sowie Carrier 2009, S. 8–10 und S. 174–178. Eine solche Auffassung steht natürlich im Widerspruch zur Newtonschen Raum– und Zeittheorie, nach der sich kausale Zusammenhänge in Raum und Zeit ereignen und nicht erst diese bedingen. 25 Vgl. Gent 1962, S. 179. 26 Erster Entwurf eines Briefes von Leibniz an Volder vom 19.01.1706, Leibniz 1996c, S. 532. Vgl. hierzu auch Hattler 2004.

3.1 Leibniz in der Debatte mit Clarke (1715–1716)

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tät ist. Raum und Materie unterscheiden sich wie Zeit und Bewegung. Jedoch erweisen sich diese Dinge, obwohl sie voneinander verschieden sind, als voneinander nicht trennbar.27

Von einem Raum, unabhängig von der möglichen Lage von Materie, auszugehen, ist somit sinnlos. Gleichzeitig existierende Körper stehen in einer Beziehung zueinander. Diese Beziehung ist ihre Lage bzw. ihr Abstand zueinander. Aus dieser Lagebeziehung kann nun der Ort abstrahiert werden: ORT ist das, von dem man sagt, es sei für A und B dann dasselbe, wenn die Beziehung des Nebeneinanderbestehens von B mit C, E, F, G etc. vollständig mit der Beziehung des Nebeneinanderbestehens übereinstimmt, die A mit denselben [C, E, F, G etc] gehabt hat, vorausgesetzt, es hat keine Ursache für eine Veränderung bei den C, E, F, G etc. gegeben.28

Allerdings geschieht diese Reduktion des Ortes auf die Lagebeziehung nur unter Vorbehalt. Die Lage ist nach Leibniz streng genommen nicht der Ort, da die Affektion zweier Gegenstände A und B nicht dieselbe sein kann. Es würde dem Prinzip der Individualität zweier Monaden widersprechen, wenn sie die gleiche Affektion hätten. Trotz dieser Nichtübereinstimmung der Beziehung von A und B kommt es zu der Vorstellung eines Ortes und eines Raumes: Der Geist aber, der sich mit der Übereinstimmung nicht zufrieden gibt, sucht nach einer Identität, nach etwas, was tatsächlich dasselbe ist, und stellt es sich gleichsam als etwas außerhalb dieser Subjekte vor, genau das nennt man in unserem Falle ORT und RAUM. Jedoch kann dies nur ein Gedankending sein […].29

Dem Raum kommt kein absolutes Sein zu, da seine Teile ununterscheidbar sind und er daher als absolut Seiendes mit dem Satz von der Identität vom Ununterscheidbaren unvereinbar wäre.30 Der Raum ist dabei „kurzum das, was sich aus den Orten ergibt, wenn man sie zusammennimmt.“31 Wir kommen zu dieser Vorstellung, da sich unser Geist mit dem Raum eine Ordnung vorstellt, die es eigentlich in dieser Form nicht gibt und nicht geben kann. Der Raum ist somit eigentlich nur eine abstrahierte Ordnung. Leibniz liefert daher eine idealistische Interpretation des Raumes.

27 28 29 30

Leibniz–Clarke, S. 102, Leibniz’ fünfter Brief, § 62, vgl. Cassini 2005, S. 38. Leibniz–Clarke, S. 93, Leibniz’ fünfter Brief, § 47, eckige Klammern bei Schüller. Leibniz–Clarke, S. 94, Leibniz’ fünfter Brief, § 47. „Die Teile der Zeit bzw. des Ortes sind, an sich betrachtet, Gedankendinge und ähneln sich darum einander vollkommen wie zwei abstrakte Einheiten. Aber bei zwei konkreten Einheiten verhält es sich nicht so, auch nicht bei zwei wirklichen Zeitabschnitten oder bei zwei vollen Raumstücken, das heißt, bei zwei wirklichen Dingen.“ Leibniz–Clarke, S. 85, Leibniz‘ fünfter Brief, § 27. 31 Leibniz–Clarke, S. 93, Leibniz’ fünfter Brief, § 47.

84

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

3.1.3 Clarkes Erwiderung In Abschnitt 3.1.1 wurde gezeigt, dass Leibniz sich u. a. gegen den absoluten Raum wendet, da es keinen Unterschied machen würde, an welchem Ort Gott die Welt erschaffen hat. Es besteht demnach ein Konflikt zwischen absolutem Raum und dem Satz vom hinreichenden Grund. In der Antwort Clarkes auf diese Attacke offenbart sich die ganze Misere der Diskussion. Nach ihm beweist gerade die Homogenität des absoluten Raumes, dass Gottes Wille alleine, ohne einen äußeren hinreichenden Grund, für die Wahl des Ortes eines Materiesystems hinreichend ist.32 Er hält die Tatsache, dass nach Leibniz die Welt im Raum verschoben werden könnte und sich daraufhin wieder am gleichen Ort befinden würde, für ein schlagendes Argument gegen den Relationalismus: In der Annahme, daß der Raum nicht wirklich sei, sondern bloß die Ordnung der Körper, liegt die folgende offensichtliche Absurdität. Wenn nämlich die Erde, die Sonne und der Mond dort angeordnet worden wären, so sich jetzt die entlegensten Fixsterne befinden (vorausgesetzt, sie wurden in der gleichen Ordnung und im gleichen Abstand angeordnet, die sie jetzt zueinander haben), so wäre das gemäß dieser Vorstellung vom Raum im Ergebnis nicht nur dasselbe, la même chose, wie der hochgelehrte Verfasser ganz zu Recht sagt und was vollkommen richtig ist, sondern daraus würde auch folgen, daß sie sich dann auch wieder an den gleichen Orten befänden, wo sie jetzt sind. Dies ist ein offensichtlicher Widerspruch.33

Beide Kontrahenten kritisieren demnach aus ihrem eigenen System heraus die Gegenseite, wobei zwischen ihren Positionen derart tiefe Verwerfungen bestehen, dass es zu keinem fruchtbaren Dialog kommen kann.34 Die Argumente des Kontrahenten werden als Widerlegungen der Prämissen der Gegenseite umgedeutet. Was Leibniz für ein schlagendes Argument gegen den absoluten Raum hält, widerlegt aus Clarkes Sicht gerade die leibnizsche Metaphysik. Clarke bedient sich eben jener Bewegungslehre als Prämisse, deren Grundlage (dem absoluten Raum) Leibniz zuvor auszuhebeln suchte. Demnach kehrt Clarke das Ergebnis der Argumentation einfach um. Der leibnizsche Widerspruchsbeweis zeige lediglich, so Clarke, dass das von Leibniz angeführte Prinzip nicht die Gültigkeit hat, die Leibniz ihm verleihen will, weil es den Grundsätzen des newtonschen Systems widerspricht:

32 Clarke argumentiert, dass, egal, ob der Raum bloß als Ordnung aufgefasst werden würde oder nicht, Gott nur dann drei indifferente Dinge in einer Reihe anordnen könnte, wenn er in diesem Falle auf seinen bloßen Willen als hinreichenden Grund gestützt handeln könnte. Vgl. Leibniz–Clarke S. 44, Clarkes dritter Brief, § 2. Demgegenüber kann es nach Leibniz keine gleichen Körper geben. Siehe Leibniz–Clarke S. 51–52, Leibniz’ vierter Brief, § 4. Clarke hingegen geht von der Gleichheit der Atome aus, die Leibniz jedoch, u. a. aufgrund ihrer Ununterscheidbarkeit, ablehnt. Man vgl. auch Kants Ausführungen in Nova dilucidatio. Siehe 4.1.3. 33 Leibniz–Clarke, S. 44–45, Clarkes dritter Brief, § 2. 34 Vgl. Pulte 2005a, S. 145, 157.

3.1 Leibniz in der Debatte mit Clarke (1715–1716)

85

Die Homogenität des Raumes beweist doch gerade, daß es keinen (äußeren) Grund dafür geben konnte, warum Gott die Dinge an dem einen und nicht an dem anderen Ort erschaffen soll.35

Dies veranschaulicht, welchen Status der Raum für Newton hat. Der absolute Raum und die auf ihm aufbauende Bewegungskonzeption stehen hier, wie auch sonst, nicht zur Disposition, d. h. er hat für ihn Prinzipiencharakter. Es handelt sich beim absoluten Raum um eine Grundannahme des newtonschen Denkens. Für Newton, der hinter den Antworten Clarkes steht, ist daher eine wirkliche Kritik oder Revision des absoluten Raumes nicht denkbar. Dies bringt zusätzliche Klarheit hinsichtlich des in Kapitel 2 besprochenen ‚Vorverständnisses‘ des absoluten Raumes. Bei den Positionen Newtons und Leibniz’ handelt es sich um zwei inkommensurable Paradigmen, zwischen denen keine Diskussion mehr möglich ist.36 Beiden Autoren gelingt es nicht, oder es will ihnen nicht gelingen, eine von beiden Seiten akzeptierte Diskussionsgrundlage zu betreten. Darum bleibt die Diskussion in zahlreichen Punkten schon im Ansatz stecken. Leibniz und Clarke bringen in ihren Antwortschreiben gegen ihren Widersacher gebetsmühlenartig die eigenen Ausgangspunkte vor. Dies führt so weit, dass Clarke in seinen letzten beiden Schreiben dazu übergeht, z. T. nur noch Passagen aus älteren Briefen zu referieren. Anstatt diese wenig fruchtbaren Diskussionen weiter zu untersuchen, soll ein anderer Einwand Clarkes genauer analysiert werden. Er richtet sich gegen einen Schwachpunkt des leibnizschen Relationalismus. Leibniz hat Schwierigkeiten damit, das Auftreten von Trägheitskräften zu erklären. Clarke schreibt deshalb in seinem dritten Brief: Wäre der Raum nichts weiter als die Ordnung der Dinge, so würde daraus folgen, daß wenn Gott die gesamte materielle Welt als Ganzes entlang einer Geraden mit irgendeiner Geschwindigkeit versetzen würde, sich die nebeneinanderbestehenden Dinge trotzdem immer noch in demselben Ort befinden würden und daß beim ganz plötzlichen Anhalten dieser Bewegung nichts einen Stoß erleiden würde.37

In seiner Antwort auf den clarkeschen Angriff beschränkt sich Leibniz darauf, ausgehend vom Satz vom hinreichenden Grund die Differenzierung zwischen einem bewegtem und einem unbewegtem Universum als obsolet abzutun. Über den springenden Punkt der clarkeschen Argumentation setzt er sich hinweg. Wahrscheinlich sieht er selbst die Schwäche seiner Konzeption. Clarke geht deshalb in seinem nächsten Brief noch einmal auf diese wunde Stelle seines Kontrahenten ein. Er schreibt:

35 Leibniz–Clarke, S. 46, Clarkes dritter Brief, § 5. 36 Vgl. Pulte 2005a, S. 145. Eine Anwendung des Paradigmenbegriffs auf die Positionen Newtons und Leibniz‘ ist durchaus gerechtfertigt. So zeigt Masterman in ihrer Analyse des kuhnschen Paradigmenbegriffs, dass das Paradigma die fundamentalen Entitäten festlegt, von denen bei der Welterklärung ausgegangen werden muss. Vgl. Masterman 1974, S. 62. 37 Leibniz–Clarke, S. 46, Clarkes dritter Brief, § 4, Hervorhebung durch mich.

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Zwei Orte, obwohl genau gleich, sind nicht ein und derselbe Ort. Auch sind die Bewegungen und die Ruhe des Universums nicht ein und derselbe Zustand, ebensowenig wie die Bewegung und die Ruhe eines Schiffes ein und derselbe Zustand sind. Denn ein in der Kabine eingeschlossener Mensch kann solange nicht feststellen, ob sich das Schiff bewegt oder nicht, wie es sich gleichförmig bewegt. Die Bewegung des Schiffes ist, obwohl sie der Mann nicht bemerkt, ein anderer realer Zustand [als die Ruhe], besitzt andere reale Wirkungen [als die Ruhe] und hätte beim plötzlichen Anhalten wieder andere reale Wirkungen, ebenso wäre es bei einer nicht wahrnehmbaren Bewegung des Universums. Bislang ist auf dieses Argument keine Antwort gegeben worden. Sir Isaac Newton hat in seinen ‚Mathematischen Prinzipien‘ dieses Beispiel ausführlich erläutert, und zwar dort (Definition 8), wo er durch die Betrachtung der Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen der Bewegung den Unterschied zwischen der wahren Bewegung bzw. der Bewegung, die den Körper von einem Teil des Raumes zu einem anderen bringt, und der relativen Bewegung, die bloß eine Änderung der gegenseitigen Ordnung bzw. der gegenseitigen Lage der Körper ist, zeigt. Dieses Argument ist ein mathematisches Argument, daß aufgrund realer Wirkungen zeigt, daß es eine reale Wirkung dort geben kann, wo es keine relative Bewegung gibt, und daß es eine relative Bewegung dort geben kann, wo es keine wahre Bewegung gibt. Hierauf kann man nicht nur damit antworten, daß man einfach das Gegenteil behauptet. 38

Wie kann Leibniz die Kräfte erklären, die bei einer Abweichung von der geradlinigen-gleichförmigen Bewegung auftreten? Leibniz antwortet darauf kryptisch in seinem letzten Brief: Ich entdecke in der achten Definition der „Mathematischen Prinzipien der Physik“ und in dem zugehörigen Scholium nichts, was die Wirklichkeit des Raumes an sich beweist oder beweisen kann. Ich bin allerdings auch der Meinung, daß es einen Unterschied zwischen einer absoluten wahren Bewegung eines Körpers und einer einfachen relativen Änderung der seiner Lage bezüglich anderer Körper gibt.39

Hier weicht Leibniz von seiner ursprünglichen Haltung ab. Er bricht mit dem strikten Relationalismus, den er zuvor vertreten hat. So schrieb er 1694 in einem Brief an Huygens: Wenn a und b sich einander nähern, so werden allerdings alle Phänomene die gleichen sein, gleichviel, ob man dem einen oder anderen der beiden Körper Bewegung oder Ruhe zu-

38 Leibniz–Clarke S. 66–67, Clarkes dritter Brief, § 13, eckige Klammern bei Schüller. Unter 2.2.1 argumentiere ich, dass sich anhand der Schwankungen im Verhältnis der Raumkonzeption zu den Definitionen Rückschlusse auf den Entwicklungsstatus der Raumlehre ziehen lassen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es interessant, dass Newton in der dritten Ausgabe der Principia im Scholion eine Änderung vorgenommen hat. So schrieb er in den ersten beiden Ausgaben von 1687 und 1713: „Nämlich Zeit, Raum, Ort und Bewegung, als allen wohlbekannt, definiere ich nicht.“ Dt. Principia, S. 27. Nach dem Briefwechsel mit Clarke, in der letzten zu Newtons Lebzeiten erschienen Ausgabe, schreibt er an dieser Stelle hingegen: „Zeit, Raum, Ort und Bewegung sind allen wohlbekannt.“ Dt. Principia, S. 27. Wahrscheinlich hat Newton in Reaktion auf den Briefwechsel mit Leibniz die Differenzen zwischen den Definitionen und dem Raum aufgeweicht. Er unterscheidet in der dritten Ausgabe nicht mehr so deutlich zwischen den Größen des Scholions und den Definitionen. Der Grund ist wohl, dass er sich nicht dem Vorwurf von Leibnizianern aussetzen wollte, den Raum nicht richtig begründet zu haben. 39 Leibniz–Clarke S. 98, Leibniz’ fünfter Brief, § 53.

3.1 Leibniz in der Debatte mit Clarke (1715–1716)

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schreibt. Und selbst bei 1000 Körpern gebe ich zu, daß die Phänomene weder uns (noch selbst den Engeln) einen unfehlbaren Anhaltspunkt zur Bestimmung des Subjekts und des Grades der Bewegung liefern, und daß jeder einzelne ebensogut als ruhend angesehen werden könnte.40

Nun führt Leibniz in seinem Briefwechsel mit Clarke die Unterscheidung zwischen wahrer und scheinbarer Bewegung dennoch ein. Wie lässt sich aber eine solche Unterscheidung rechtfertigen, ohne auf einen absoluten Raum zurückzugreifen? Die Begründungsmöglichkeit unter Rückgriff auf Referenzkörper, z. B. die Fixsterne, das Verhalten der Körper zu erklären, hat sich Leibniz verbaut. So wendet er sich u. a. aufgrund seiner Ablehnung der Fernwirkung gegen die newtonsche Gravitation.41 Eine Wirkung der Fixsterne müsste jedoch auf Fernwirkung zurückgreifen. Leibniz skizziert einen anderen Weg. Er schreibt: Immer wenn der Fall eintritt, daß eines von diesen nebeneinanderbestehenden Dingen seine Beziehung zu einer Menge von anderen Dingen ändert, ohne daß sich die Dinge dieser Menge untereinander ändern, und ein neu hinzukommendes Ding zu diesen anderen Dingen eine solche Beziehung erwirbt, wie sie das erstere Ding zu den anderen Dingen gehabt hat, so sagt man, daß es in DESSEN Ort gelangt sei und nennt diese Veränderung eine Bewegung jenes Dinges, bei dem die unmittelbare Ursache für die Veränderung liegt.42

Nach Leibniz muss die wahre Bewegung dem Körper zugeschrieben werden, bei dem die Ursache der Lageänderung liegt. Demgegenüber wäre ein bloß relativ bewegter Körper derjenige, bei dem nicht die Ursache der Lageänderung liegt. Was versteht er aber unter der Ursache? Dies wird in der Leibnizforschung kontrovers diskutiert. Wenn man, wie ich, Earmans Interpretation folgt, dann sieht Leibniz darin die vis viva, d. h. das Produkt aus Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit.43 Was ist aber dann mit der Geschwindigkeit gemeint? Müsste Leibniz nicht einen absoluten Raum einführen, um die Geschwindigkeit eines Körpers angeben zu können? Wenn damit jedoch bloß die Geschwindigkeit relativ zu einem Bezugssystem gemeint ist, dann ist die leibnizsche Konzeption zirkulär.44 Hinzu kommt, dass aus seinen Ausführungen nicht klar wird, wie er seine Gegenkonzeption auf die Probleme des Scholions anwenden will. Wie lassen sich bspw. die beim Eimerexperiment auftretenden Wirkungen anhand der leibniz-

40 Brief von Leibniz an Huygens vom 12.06.1694, zitiert nach Reichenbach 1924, S. 432. Das französischsprachige Original lautet: “Car a et b allant l’un contre l’autre, j’avoue que tous les phenomenes arriveront tout de meme, quel que soit celuy dans le quel on posera le mouvement ou le repos; et quand il y auroit 1000 corps, je demeure d’accord que les phenomenes ne nous scauroient fournir (ny meme aux anges) une raison infallible pour determiner le sujet du mouvement ou de son degre; […].” Leibniz III, 6, S. 131. Man vgl. hierzu auch Carriers Anmerkung in Carrier 2009, S. 226. Hinsichtlich der diesbezüglichen Entwicklung des leibnizschen Denkens vgl. z. B. Hartz / Cover 1988 oder Gent 1962, S. 179–195. 41 Vgl. Leibniz–Clarke S. 59, Leibniz’ vierter Brief, § 45. 42 Leibniz–Clarke S. 92, Leibniz’ fünfter Brief, § 47, Hervorhebung durch mich. 43 Vgl. Earman 1989, S. 131. 44 Für eine ausführliche Diskussion, auf die ich mich in Teilen hier stütze, vgl. Earman 1989, S. 131–134.

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

schen Gegenkonzeption erklären?45 Leibniz’ Ansatz bleibt demnach bei einer Skizze stehen. Es wird nicht klar, wie darauf eine Dynamik errichtet werden soll. Clarke antwortet daher in seinem letzten Schreiben: Auch wenn der hochgelehrte Verfasser an dieser Stelle gezwungen ist, einen Unterschied zwischen der absoluten wahren Bewegung und der relativen Bewegung anzuerkennen, so bedeutet dies aber noch nicht mit Notwendigkeit, daß der Raum wirklich etwas ganz anderes ist als die Lage bzw. Ordnung der Körper. Ich überlasse es dem Urteil all jener, die bereit sind das, was der hochgelehrte Verfasser hier anführt, mit dem zu vergleichen, was Sir Isaac Newton in seinen ‚Prinzipien‘ Buch I Definition 8 gesagt hat.46

Es ist zu bedauern, dass Leibniz auf den 5. Brief Clarkes nicht mehr antworten konnte. Dadurch bleibt sein Versuch, zentrale Funktionen des absoluten Raumes durch eine relationalistische Raumtheorie zu ersetzen, eine unvollendete Skizze.

3.1.4 Systematische Zusammenfassung der Debatte Die Debatte zwischen Leibniz und Clarke behandelt verschiedene Probleme des leibnizschen und des newtonschen Systems. An dieser Stelle werde ich nacheinander wichtige physikalische und philosophische Aspekte der Debatte diskutieren. Physikalische Aspekte der Debatte Leibniz’ Gegenkonzeption zum absoluten Raum bleibt eine unvollendete Skizze. Dies wird alleine dadurch klar, dass in der Forschung bis zum heutigen Tag nicht mal tendenziell Einigkeit darüber besteht, wie seine Bewegungskonzeption zu verstehen ist. In dieser Hinsicht muss sein Versuch einer Widerlegung des absoluten Raumes als gescheitert angesehen werden. Nichtsdestotrotz finden sich bei ihm stichhaltige Argumente gegen die newtonsche Bewegungskonzeption. Seine Ausführungen zum Satz vom hinreichenden Grund können so gedeutet werden, dass er Newton vorwirft, zwischen dem absoluten Raum und anderen, zu ihm geradlinig-gleichförmig bewegten Räumen zu differenzieren, obwohl sie empirisch äquivalent sind. Damit ist er aber, zumindest in diesem Punkt, dichter an der in Abschnitt 1.1 dargestellten Galileiinvarianz. Die Körper der Welt können nach Leibniz nicht genau einen absoluten Ort haben, da eine im Raum verschobene Welt die gleichen empirischen Eigenschaften hat.47 Clarke hingegen argumentiert, dass empirische Äquivalenz noch kein hinreichendes Kriterium für die Identität

45 Carrier urteilt in seiner Analyse dieser Passage deshalb treffend: „In der Sache gesteht Leibniz damit Clarke und Newton die strittigen Punkte zu, nämlich erstens den Unterschied zwischen relativer und wahrer Bewegung und zweitens die empirische Aufweisbarkeit des Unterschieds anhand der wirkenden Ursachen.“ Carrier 2009, S. 180. 46 Leibniz–Clarke S. 137, Clarkes fünfter Brief, § 53. 47 Vgl. Carrier 2009, S. 177.

3.1 Leibniz in der Debatte mit Clarke (1715–1716)

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zweier Dinge ist. Leibniz wird meistens stereotyp den Rationalisten und Newton den Empiristen zugeordnet. Wie hier jedoch deutlich wird, sind hinsichtlich der Raumfrage ihre Plätze vertauscht,48 was zeigt, wie irreführend solche philosophiegeschichtlichen Einteilungen mitunter sein können und wie falsch es ist, Newton einseitig für den Empirismus in Beschlag zu nehmen.49 Obwohl Leibniz’ Gegenkonzeption scheitert, finden sich bei ihm Überlegungen, die für die weitere Raumdiskussion wegweisend sind. Seine Argumente weisen auf Schwachpunkte der newtonschen Konzeption hin und werden von späteren Kritikern des absoluten Raumes z. T. aufgegriffen und weiter ausgearbeitet. Philosophische Aspekte der Debatte Bei den Systemen Leibniz’ und Newtons handelt es sich um inkommensurable Paradigmen: Die Prämissen beider Widersacher sind dermaßen unterschiedlich, dass zwischen ihnen keine fruchtbare Debatte möglich ist.50 Dabei hätten beide Positionen von der Kritik der Gegenpartei profitieren und sich so aufeinander bewegen können, was der Raumdebatte in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine ganz andere Ausgangsbasis gegeben hätte. So wird bspw. die von Leibniz begonnene Diskussion zur Parität und ihrer Bedeutung für die Raumlehre im Briefwechsel nicht weitergeführt. Daraus hätten fruchtbare Impulse für die Raumlehre entspringen können. Dies beweist die noch zu behandelnde Schrift Kants Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum, die einen wichtigen Wendepunkt in der kantischen Raumlehre darstellt.51 Dahinter steht jedoch, wie ich zeigen werde, der jahrelange Versuch Kants, zwischen den beiden inkommensurablen Paradigmen auf verschiedenen Ebenen zu vermitteln. Leibniz’ Angriff auf den absoluten Raum ist im Wesentlichen ein Angriff auf metaphysisch-theologischer Ebene. Er hält der newtonschen Konzeption entgegen, dass sie im Konflikt mit der Natürlichen Religion und den Grundsätzen der Metaphysik stünde. Auch Clarkes Gegenangriff findet in weiten Teilen auf der metaphysisch-theologischen Ebene statt, wobei er aber auch physikalische Argumente wie das Scholion zu Raum und Zeit heranzieht. Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten, dass in der Debatte im Wesentlichen metaphysische Prinzipien gegeneinander angeführt werden. Dies deckt eine gängige Fehlinterpretation der Debatte zwischen Leibniz und Clarke auf. So schreibt Janiak bspw. über den Disput: At the deepest level, Leibniz and Newton thought about natural philosophy differently. As for the first point, although each was a great critic of Descartes, Leibniz worked within the Cartesian tradition in one important sense in which Newton did not: he accepted the fundamental

48 49 50 51

Vgl. hierzu auch die Untersuchung zu Kants transzendentaler Ästhetik in 4.2.1.1. Diesen Fehler sehe ich z. B. in der jüngeren Forschung bei Biener / Schliesser 2014. Vgl. Pulte 2005a, S. 145. Auch wenn Kant hier für die Messkünstler, d. h. gegen Leibniz für einen absoluten Raum appelliert.

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts idea that the study of nature requires a metaphysical foundation. […] Newton never accepted this approach. He seemed comfortable with the idea that there can be brute facts about nature, or at least, facts with no deeper explanation than the inscrutable divine will.52

Dieses Bild der Debatte ist jedoch positivistisch verzerrt. Janiak vermischt hier das von Newton selbst propagierte Bild mit dessen tatsächlichen Vorgehen. So liegen der newtonschen Naturphilosophie durchaus eine Deutung des göttlichen Willens und der Natur Gottes zu Grunde, die einen Einfluss auf seine Wissenschaftskonzeption hat. Daher gehen sowohl Leibniz als auch Clarke in ihrer Debatte von metaphysischen Vorraussetzungen aus, die es beiden Denkern verunmöglichen, sich anzunähern. Der absolute Raum besitzt bei Newton, nicht nur aufgrund physikalischer Argumente, ebenso Prinzipiencharakter wie Leibniz’ Satz vom hinreichenden Grund und ist grundsätzlich unhinterfragbar. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass Clarke gegen die Äquivalenz des absoluten Raumes zu anderen Bezugssystemen ausspricht. Dass es dabei zwischen Leibniz und Clarke zu keiner Annäherung kommen kann, ist mit Bezug auf die von ihnen vertretene Wissenschaftskonzeption interessant. Für beide sind die Grundlagen ihres Systems unbezweifelbar. Ihr Festhalten an ihren Prinzipien trotz aller z. T. berechtigten Kritik durch die Gegenseite zeigt, dass bei ihnen eine Hypothesierung, wie sie für die moderne Wissenschaftskonzeption typisch ist, noch nicht stattgefunden hat. Vielmehr setzen sie die Unbezweifelbarkeit ihrer Prämissen voraus, was sie als Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption ausweist. Der absolute Raum und der Satz vom hinreichenden Grund sind nicht bloß ‚sinnvolle Hypothesen‘, die uns dabei helfen können, bestimmte Probleme der Naturwissenschaft zu lösen. Wären Leibniz und Clarke Vertreter der modernen Wissenschaftskonzeption, hätten beide durchaus darin übereinkommen können, dass beide Konzeptionen uns dabei unterstützen, manche Probleme zu lösen, für andere Probleme aber unbrauchbar sind. Diese Haltung ist beiden jedoch vollkommen fremd. Dass sie trotz aller Schwierigkeiten an den Prinzipien ihres Systems festhalten, zeigt, dass der Schwerpunkt ihres jeweiligen Systems auf diesen Prinzipien liegt, eben weil sowohl Leibniz als auch Clarke der klassischen Wissenschaftskonzeption zuzuordnen sind. Diese Schwerpunktsetzung in der Debatte gilt es mit Bezug auf die weiteren Entwicklungen, insbesondere die Konzeption Eulers, im Auge zu behalten.

3.2 BERKELEYS KRITIK DES NEWTONSCHEN RAUMES Nachdem der Konflikt zwischen der leibnizschen Metaphysik und dem absoluten Raum untersucht wurde, soll nun ein weiterer wichtiger Angriff auf Newtons Raumkonzeption betrachtet werden. Eine der frühesten Attacken auf den absoluten Raum erfolgte durch Berkeley. Noch vor dem Erscheinen der zweiten Auflage

52 Janiak 2015, S. 136-137.

3.2 Berkeleys Kritik des newtonschen Raumes

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der Principia unterzieht er 1710 in seinem A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge die newtonsche Raumkonzeption einer Kritik. Diese wird in ausführlicherer und modifizierter Form 1721 in De Motu or The Principle and Nature of Motion and the Cause of the Communication of Motions erneut vorgetragen. Die Argumentationen in beiden Texten zeigen z. T. Parallelen, stimmen jedoch nicht in allen Punkten überein. Deshalb werde ich im Folgenden die Werke getrennt analysieren.53 Es wird chronologisch zunächst die Kritik im Treatise (3.2.1) und dann die aus De Motu (3.2.2) untersucht. Zuletzt erfolgt unter systematischen Gesichtspunkten eine Beurteilung der berkeleyschen Gegenkonzeptionen (3.2.3).

3.2.1 Treatise (1710) Im Treatise unterzieht Berkeley führende philosophische Systeme seiner Zeit einer idealistischen Kritik. Ziel seines Angriffes ist vor allem Lockes Konzeption abstrakter Ideen. Darüber hinaus findet sich auch eine Attacke auf Newtons absoluten Raum. Damit diese nachvollzogen werden kann, soll zunächst Berkeleys Idealismus kurz dargestellt werden, um dann seine Auseinandersetzung mit dem absoluten Raum im Treatise zu analysieren. Berkeley glaubt, dass die Annahme einer von Gott unabhängigen Substanz zum Atheismus führt.54 Wie Newton richtet er sich daher gegen die Existenz einer von Gott unabhängigen res extensa.55 Dabei gelangen beide jedoch zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen. Nach Berkeley existieren die Ideen, d. h. die Sinneseindrücke, nur insofern sie wahrgenommen werden. Den Ideen liegen also keine von der Wahrnehmung unabhängigen Entitäten zugrunde. Die Annahme solcher Entitäten würde laut Berkeley auf einen Widerspruch hinauslaufen: It is indeed an opinion strangely prevailing amongst men, that houses, mountains, rivers, and in a word all sensible objects have an existence, natural or real, distinct from their being perceived by the understanding. But, with how great an assurance and acquiescence soever this principle may be entertained in the world, yet whoever shall find in his heart to call it in question may, if I mistake not, perceive it to involve a manifest contradiction. For what are the forementioned objects but the things we perceive by sense, and what do we perceive besides our own ideas or sensations; and is it not plainly repugnant that any one of these or any combination of them should exist unperceived?56

In cartesianischer Terminologie lässt sich sagen, dass für Berkeley die res extensa gänzlich wegfällt und er lediglich von der res cogitans als Substanz ausgeht. Die

53 Eine Besprechung der berkeleyschen Theorie der Raumwahrnehmung liegt außerhalb des Fokus dieser Untersuchung. 54 Vgl. z. B. Treatise S. 74. 55 Vgl. 2.3.1 und 2.3.3. 56 Treatise, S. 104. Vgl. zu einer Einordnung z. B. Kulenkampf 2004, S. XXI–XXII.

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Ideen sind bloß als Ideen in der res cogitans existent. Davon auszugehen, dass es Entitäten gibt, die unseren Wahrnehmungen subsistieren, läuft nach Berkeley auf die Annahme abstrakter Ideen hinaus. Diese lehnt er jedoch gegen Locke ab.57 Deshalb geht Berkeley davon aus, dass die Ideen von Gott in unserem Geist hervorgerufen werden. Dabei wird die Existenz Gottes durch den Wechsel der an sich trägen Ideen offenbar. Im Rahmen dieser Kritik wendet Berkeley sich auch gegen Newtons absoluten Raum. Diesem kann nach Berkeley keine Existenz unabhängig von unserem Geist zukommen. Des Weiteren glaubt er, dass mit der newtonschen Konzeption die Gefahr der Raumvergottung einhergeht. Newton nimmt etwas als existierend an, dem Attribute zukommen, die eigentlich Gott vorbehalten sind.58 Für Berkeley ist der absolute Raum deshalb eine Annahme, die „als gefährlich und widersinnig bezeichnet werden“59 muss. Nichtsdestotrotz erkennt er den großen Wert der newtonschen Principia an. Er schreibt: The best key for the aforesaid analogy, or natural science, will be easily acknowledged to be a certain celebrated treatise of mechanics : In the entrance of which justly admired treatise, time, space, and motion, are distinguished into absolute and relative, true and apparent, mathematical and vulgar : which distinction, as it is at large explained by the author, doth suppose these quantities to have an existence without the mind : and that they are ordinarily conceived with relation to sensible things, to which nevertheless in their own nature, they bear no relation at all.60

Hieraus wird sein ambivalentes Verhältnis zur Mechanik Newtons deutlich. Berkeley bewundert die Principia. Er wendet sich jedoch gegen die Hypostasierung ihrer Grundkonzeptionen. Das Ziel seiner Kritik ist es daher, die Principia phänomenologisch zu läutern, ohne deren wissenschaftliche Ergebnisse zu gefährden.61

57 Berkeley gesteht nur die Existenz individueller Ideen zu. Abstrakte Ideen kann es nicht geben, da sie einen immanenten Widerspruch enthalten. So müsste die abstrakte Idee von Dreiecken sowohl spitzwinklig als auch stumpfwinklig sein. Dies ist aber in einer Idee nicht vereinbar. Nach Berkeley lässt sich daraus jedoch keineswegs folgern, dass wir nicht die Fähigkeit der Abstraktion besitzen. Hierbei wird ein Repräsentant gewählt, der trotz seiner spezifischen Eigenschaften die allgemeine Idee vertritt. Hinsichtlich eines Beweises, z. B. der Winkelsumme von 180° für Dreiecke insgesamt, muss innerhalb des Beweises von den spezifischen Eigenschaften des Dreiecks abgesehen werden. 58 Eine ähnliche Kritik findet sich auch bei Leibniz. Vgl. 3.1.1. 59 Dt. Treatise, S. 87. 60 Treatise, S. 143. 61 Dancy kommentiert diese Passage so: „Berkeley admits here that Newton explicitly asserts that absolute space, time, and motion have an existence outside the mind. He therefore has to undermine that claim without doing any general damage to Newton’s physics.” Dancy 1998, S. 214. Vgl. weiter Dancy 1998, S. 66–67. In der ersten Ausgabe des Treatise schreibt Berkeley über das Werk Newtons: „I shall not take upon me to make remarks on the performance of that extraordinary person : only some things he has advanced, so directly opposite to the

3.2 Berkeleys Kritik des newtonschen Raumes

93

Für Berkeley ist absolute Bewegung undenkbar, „da die Idee, die ich von Bewegung habe, notwendig Beziehung einschließt“62. Deshalb muss Bewegung immer relativ sein. Dies steht im krassen Kontrast zu Newtons Behauptung, dass es in der Naturphilosophie notwendig sei, von den Sinnen zu abstrahieren. An dieser Stelle stehen Berkeleys Idealismus und Newtons Haltung, nach der wir vom Raum eine klare, unmittelbare Vorstellung haben, im Konflikt.63 Berkeley muss es also gelingen, eine Gegenkonzeption zum absoluten Raum zu liefern, die seinem Idealismus genügt. D. h. er muss die „Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen“64 wahrer Bewegung erklären können, ohne auf eine Entität zurückzugreifen, die wie der absolute Raum unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert. Dazu skizziert er zwei Gegenkonzeptionen, die separat untersucht werden sollen: I) Die dynamische Gegenkonzeption Um einen Körper als bewegt anzusehen, müssen nach Berkeley zwei Kriterien erfüllt sein: 1. Der Körper muss seine Beziehung zu einem anderen Körper ändern. 2. Auf den Körper muss eine Kraft wirken.65 Man gehe z. B. von zwei Körpern A und B aus. Diese ändern ihre Beziehung, d. h. ihre Lage zueinander. Wirkt die Kraft, die dieser Lageänderung zugrunde liegt, auf A, so ist dieser Körper in absoluter Bewegung. Von bloß scheinbarer Bewegung sprechen wir, wenn fälschlicherweise der Körper B für bewegt gehalten wird, obwohl die Kraft eigentlich an Körper A angreift.66 Beide, sowohl die absolute als auch die scheinbare Bewegung, sind damit stets relativ, da sie bloß zwischen den Körpern stattfinden. II) Die kosmologische Gegenkonzeption Neben der ‚dynamischen Gegenkonzeption‘ findet sich im Treatise auch der Versuch, die Bewegung anhand der Fixsterne zu erklären. Nachdem er die dynamische Gegenkonzeption skizziert hat, geht Berkeley unvermittelt zu seiner Vorstellung des Ortes über. Welche Bewegung einem Körper zugeschrieben wird, hängt immer davon ab, in Beziehung zu was ich diesen Körper betrachte, d. h. aufgrund

62 63 64 65

66

doctrine we have hitherto laid down, that we should be wanting, in the regard due to the authority of so great a man did we not take some notice of them.“ Treatise, S. 143. Dt. Treatise, S. 84. Vgl. De Gravitatione, S. 37. Dt. Principia, S. 29. “For to denominate a body moved, it is requisite, first, that it change its distance or situation with regard to some other body : and secondly, that the force or action occasioning that change be applied to it.” Treatise, S. 145. Diese Alternativkonzeption zum absoluten Raum ist, wie in 3.2.3 deutlich werden wird, zirkulär. Vgl. Treatise, S. 144–145.

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

der Referenzwahl kann sich die Bewegung eines Körpers ändern. Daraus ergibt sich nach Berkeley auch die eigentliche Natur von absoluter Bewegung: In order therefore to fix their notions, they seem to conceive the corporeal world as finite, and the utmost unmoved walls or shell thereof to be the place, whereby they estimate true motions. If we sound our own conceptions, I believe we may find all the absolute motion we can frame an idea of, to be at bottom no other than relative motion thus defined.67

Absolute Bewegung wird in Wirklichkeit immer auf einen bestimmten Teil der Welt bezogen. So kann man bspw. die Erde als Referenzkörper heranziehen und betrachtet sie als eine „unbewegte[n] Umfriedung“68. Jede absolute Bewegung wird also letzten Endes auf bloß relative Bewegung zu der ruhenden „Hülle“69 reduziert. Berkeley verbindet hier eine dynamische (I) mit einer kosmologischen (II) Bewegungskonzeption. Zum einen unterscheiden sich relative und scheinbare Bewegungen darin, auf welchen Körper die Kraft wirkt. Zum anderen integriert Berkeley Ansätze zu dem Gedanken einer Erweiterung der in Betracht gezogenen Körper. Aufgrund des skizzenhaften Charakters der berkeleyschen Ausführung wird jedoch nicht ganz klar, in welchem Verhältnis die dynamische und die kosmologische Konzeption stehen. Eine Möglichkeit sähe wie folgt aus: Ob ein Körper absolut bewegt ist, hängt davon ab, auf welchen Körper bei Lageänderung eine Kraft wirkt. Nachdem klar ist, welcher Körper bewegt ist, kann anhand der gewählten ‚unbewegten Umfriedung‘ die Größe dieser absoluten Bewegung ermittelt werden.70 Durch das Eimerexperiment versuchte Newton zu illustrieren, dass eine bloß relative Bewegungskonzeption zu kurz greift. Berkeley versucht nun, die bei diesem Experiment auftretenden Wirkungen durch seine Gegenkonzeption zu erklären. Newton schreibt zum Zustand, in dem der Eimer rotiert, die Wasseroberfläche aber noch ruht: In the beginning, when the relative motion of the water in the vessel was greatest, that motion was not giving rise to any endeavor to recede from the axis; the water did not seek the circumference by rising up the sides of the vessel but remained level, and therefore its true circular motion had not yet begun.71

Die relative Bewegung, die Newton hier vor Augen hat, ist die Bewegung zwischen Eimerwand und Wasser. Darin sieht Descartes die wahre Bewegung. Die cartesische, wahre Bewegung muss aber, wie Newton zeigt, nicht mit der Wirkung korrelieren. Demgegenüber findet hier nach Berkeleys Konzeption gar keine relative Bewegung statt. Berkeley schreibt mit Bezug auf diese Passage:

67 68 69 70 71

Treatise, S. 145. Dt. Treatise, S. 85. Dt. Treatise, S. 85. Für einen Rekonstruktionsversuch vgl. Downing 2005. Principia, S. 413.

3.2 Berkeleys Kritik des newtonschen Raumes

95

For the water in the vessel, at that time wherein it is said to have the greatest relative circular motion, hath, I think, no motion at all […].72

Anders als Descartes bezieht Berkeley die Bewegung nämlich nicht auf die unmittelbar angrenzenden Körper, d. h. die Eimerwand, sondern auf jene ‚unbewegte[n] Umfriedung‘. Zu dieser, sei es der Raum, in dem der Eimer aufgehängt ist, sei es der Fixsternhimmel, findet in dieser Phase keine relative Bewegung statt. Newtons Angriff auf die cartesische Konzeption kann somit nicht die berkeleysche Relativbewegung widerlegen: From what hath been said, it follows that the philosophic consideration of motion doth not imply the being of absolute space, distinct from that which is perceived by sense, and related to bodies […].73

3.2.2 De Motu (1721) Ausgehend von den erkenntnistheoretischen Überlegungen des Treatise setzt sich Berkeley in De Motu näher mit den Grundlagen der Mechanik auseinander. Er wendet sich dabei vor allem gegen die Annahme aktiver Prinzipien in der Körperwelt und gegen die Bewegungslehre Newtons, einschließlich des newtonschen absoluten Raumes. Bereits im Treatise formuliert er sein immaterialistisches Diktum: Hence it is plain, that the very notion of what is called matter or corporeal substance, involves a contradiction in it.74

Daraus entspringt in De Motu eine radikal idealistisch-phänomenologische Kritik der grundlegenden Begriffe und Konzeptionen der Mechanik: Wo bei moderneren und vernünftigeren Philosophen unserer Zeit über die Bewegung gesprochen wird, kommen viele Wörter mit sehr abstrakter und dunkler Bedeutung vor, z. B. ‚Tendenz der Schwere‘ (solicitatio gravitatis), ‚Streben‘ (conatus), ‚tote Kräfte‘ (vires mortuae) usw., die über sonst hochgelehrte Schriften Schatten werfen und Meinungen verursachen, die ebenso von der Wahrheit wie vom gesunden Menschenverstand abweichen.75

Körper erkennen wir durch die Sinne, während der Verstand die Seele und ihre Zustände betrachtet. Aktivität kommt dabei nur der Seele zu. Dies bedeutet, dass den Körpern keine bewegungserzeugenden Prinzipien innewohnen können.76 Da-

72 73 74 75 76

Treatise, S. 145. Treatise, S. 146. Treatise, S. 106. De Motu, S. 209. „[E]s steht aber fest, daß das, was wir im Körper kennen, nicht das Prinzip der Bewegung ist. Diejenigen, die sich außerdem etwas Unbekanntes im Körper vorstellen, wovon sie keine Idee haben und das sie Prinzip der Bewegung nennen, sagen in Wirklichkeit nichts anderes, als daß das Prinzip der Bewegung unbekannt sei.“ De Motu, S. 219. Berkeley rechnet Newton

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

bei zweifelt Berkeley nicht an dem Nutzen des Kraftbegriffs in der Physik. Seine Attacke gilt vielmehr einer essentialistischen Kraftkonzeption. Kräfte sind nach seiner Auffassung lediglich als mathematische Hypothesen zu begreifen.77 Dies lässt sich an seiner Kritik der newtonschen Gravitationskraft verdeutlichen.78 Wir fühlen Anstrengung, Ermüdung etc. beim Anheben eines Körpers. Zusätzlich nehmen wir den beschleunigten Fall von Körpern zum Erdmittelpunkt wahr. Dies, so Berkeley, wird uns allein durch die Sinne klar. Der Verstand schließt jedoch davon ausgehend auf die zugrunde liegende Ursache und gibt sie als ‚Schwere‘ der Körper an. Dabei handelt es sich jedoch um eine qualitas occulta. D. h., indem wir die Schwere als Erklärung einführen, erklären wir nichts, ebensowenig wie durch den Begriff der Kraft: Es ist also klar, daß man die Schwere oder die Kraft irrtümlicherweise als Prinzip der Bewegung annimmt. Denn wie könnte jenes Prinzip dadurch erkannt werden, daß man eine verborgene Qualität angibt? Was selbst verborgen ist, erklärt nichts.79

Berkeley erkennt jedoch durchaus den Nutzen solcher Konzeptionen an. So schreibt er kurz darauf hinsichtlich der Verwendung dieser Begriffe: Es verführt aber viele zum Irrtum, daß sie zwar den Nutzen der allgemeinen und abstrakten Wörter für das Gespräch sehen, aber trotzdem nicht recht deren Bedeutung begreifen. Teils wurden sie von der alltäglichen Gewöhnung zur Abkürzung der Rede erfunden, teils von den Philosophen für die Lehre ersonnen, nicht, weil sie zur Natur der Dinge passen – diese existieren ja als einzelne und konkrete –, sondern weil sie sich für die Mitteilung des Wissens eignen, sie liefern nämlich Allgemeinbegriffe oder wenigstens allgemeine Aussagen.80

Es ist sinnvoll, sich dies für Berkeleys Kritik am newtonschen Raum vor Augen zu halten: Die Einführung eines absoluten Raumes aus pragmatischen Gründen könnte vom berkeleyschen Standpunkt aus gerechtfertigt werden. Man darf bei der Verwendung dieser Konzeption aber nicht vergessen werden, dass mit ihm ontologisch nichts korreliert. Neben der Kraftkonzeption wendet sich Berkeley auch gegen die Vorstellung eines unendlichen Raumes. Bereits im Treatise hatte Berkeley in der teilweisen Übereinstimmung von Eigenschaften des Raumes mit den Eigenschaften Gottes eine Gefahr gesehen. Darauf geht er auch in De Motu ein: Man muss überhaupt zugeben, daß wir in dieser Sache von sehr schwerwiegenden Vorurteilen beherrscht werden; um von ihnen freizukommen, müssen wir jede geistige Anstrengung auf uns nehmen. Denn viele – weit entfernt davon, den absoluten Raum für nichts zu halten –

77 78 79 80

hoch an, zumindest hinsichtlich der Gravitationskraft nur von einer mathematischen Hypothese ausgegangen zu sein. Man vgl. hierzu De Motu, S. 215. De Motu, S. 240. Vgl. De Motu, S. 209–210. De Motu, S. 210. De Motu, S. 211.

3.2 Berkeleys Kritik des newtonschen Raumes

97

glauben, daß er von allem (außer Gott) das einzige sei, was nicht zu nichts gemacht werden könne […].81

Der im Treatise vorgetragene Gedanke, dass der reine Raum eine abstrakte Idee sei, wird in De Motu ebenfalls wieder aufgegriffen. Die Eigenschaften des absoluten Raumes sind, mit Ausnahme seiner Ausgedehntheit, allesamt negativ:82 Er ist „unendlich, unbeweglich, unteilbar, nicht wahrnehmbar, ohne Beziehung und ohne Unterschied“. Der Raum kann daher keine Idee sein, die uns durch die Sinne gegeben wird. Er kann aber auch nicht durch die Einbildungskraft erkannt werden und ebenso wenig vermag ihn der Intellekt zu begreifen, der sich nur mit Geistern und seinen Zuständen beschäftigt.83 Der absolute Raum passt somit nicht in die epistemologischen Schemata des berkeleyschen Systems. Dabei erkennt Berkeley durchaus die mechanischen Gesetze der newtonschen Lehre an. Er wendet sich jedoch gegen deren Hypostasierung: Die metaphysischen Prinzipien aber und die reale Wirkursache der Bewegung und Existenz der Körper oder körperlichen Eigenschaften betreffen auf keine Weise die Mechanik oder die Experimente […].84

Demnach muss Berkeley auch hier eine Ersatzkonzeption zum absoluten Raum einführen, um dessen Aufgabe in der Mechanik zu kompensieren. Dafür greift er auf die kosmologische Konzeption des Treatise zurück.85 Seine dynamische Konzeption, nach der die ‚Kraft oder Tätigkeit‘ entscheidet, welcher Körper absolut bewegt ist, taucht nicht auf.86 Der absolute Raum soll durch den Fixsternhimmel ersetzt werden.87 Nach Berkeley können wir die Rotationsbewegung zweier Kugeln um einen gemeinsamen Schwerpunkt nicht durch die Einbildungskraft erfassen, solange nur die beiden Kugeln existierten. Dies würde sich ändern, wenn ein Bezugspunkt, z. B. die Fixsterne, geschaffen würde:

81 82 83 84 85

De Motu, S. 233. Man vgl. hierzu die Parallelstelle in Treatise, S. 146. De Motu, S. 232–233. Hervorhebungen durch mich. Vgl. De Motu, S. 233. De Motu, S. 226–227. In Treatise bemerkte Berkeley, dass die Idee der Bewegung das Verhältnis zu einem anderen Körper verlangt. Hier in De Motu lautet sein Argument, dass die Bewegung eines Körpers eine Richtung haben muss, weshalb ein weiterer Körper benötigt wird. Er schreibt: „Keine Bewegung kann erkannt oder gemessen werden außer durch wahrnehmbare Dinge. Weil der absolute Raum auf keine Weise in die Sinne kommt, muß er also völlig unnütz zur Verdeutlichung der Bewegung sein. Außerdem ist das Ziel oder die Richtung wesentlich für die Bewegung, diese besteht aber in einer Beziehung. Also ist es unmöglich, sich eine absolute Bewegung vorzustellen.“ De Motu, S. 238. 86 In der zweiten Auflage hat Berkeley im Treatise, wohl aufgrund seiner tiefergehenden Beschäftigung mit der Thematik, einige Änderungen vorgenommen. Dennoch behält er große Teile seiner dynamischen Konzeption bei. Auch wenn die dynamische Argumentation in De Motu fehlt, ist also davon auszugehen, dass Berkeley sie nicht verworfen hat. 87 Vgl. De Motu, S. 238–239. Auch hier handelt es sich um einen beschränkten relativen Raum innerhalb einer „unbewegte[n] Umfriedung […].“ Treatise, S. 85.

98

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Man stelle sich ferner vor, dass zwei Kugeln existieren und sonst nichts Körperliches; weiter, daß auf irgendeine Weise Kräfte hinzugefügt werden – was wir auch immer unter Hinzufügung von Kräften verstehen mögen –, eine Kreisbewegung beider Kugeln um den gemeinsamen Mittelpunkt kann man dann nicht durch die Einbildungskraft erfassen. Nehmen wir an, daß dann der Fixsternhimmel geschaffen werde: sogleich wird man sich wegen der vorgestellten Annäherung der Kugeln an die verschiedenen Teile dieses Himmels eine Bewegung vorstellen. Weil nämlich die Bewegung ihrer Natur nach relativ ist, konnte sie nicht vorgestellt werden, ehe es aufeinander bezogene Körper gab. Ebensowenig kann irgendeine andere Beziehung ohne aufeinander Bezogenes vorgestellt werden.88

Berkeley beruft sich daher auf etwas, was Jahre später von Einstein als ‚Machsches Prinzip‘ bezeichnet wird.89 Er führt eine Alternativkonzeption zum absoluten Raum ein, auf die sich Leibniz,90 als Kritiker der newtonschen Fernwirkung, nicht berufen konnte. Dabei bespricht Berkeley jedoch nicht weiter, wie die Fixsterne auf den Körper wirken können. Denn wie auch immer Kräfte eingeprägt werden, was auch das Streben sein mag: wir wollen zugeben, daß die Bewegung unterschieden wird durch Handlungen, die auf den Körper ausgeübt werden.91

Wie schon im Treatise geht Berkeley hier aufgrund der Notwendigkeit von Referenzkörpern zu einer kosmologischen Lösung über.92 In seiner Kritik der absoluten Bewegung konzentriert er sich auf das Eimerexperiment. Nach seiner Ansicht haben wir es in diesem Experiment nicht mit absoluter Kreisbewegung im newtonschen Sinne zu tun. Die Bewegung erfolgt weder gegen einen absoluten Raum, noch ist sie tatsächlich kreisförmig. Genaugenommen setzt sich die Bewegung des Eimers aus mehreren Bewegungen zusammen: aus der Bewegung des Eimers zur Erde, der Erde um die eigene Achse, der Erde um den gemeinsamen Schwerpunkt mit dem Mond und der Bewegung der Erde um die Sonne. Demnach handelt es sich bei der Bewegung des Wassers im Eimer nicht um eine Kreisbewegung, sondern um eine Bewegung um mehrere Achsen. Nach der newtonschen Konzeption ist es zudem unmöglich herauszufinden, ob der Kosmos ruht oder sich geradlinig-gleichförmig bewegt.93 Die absolute Bewegung eines Körpers ist deshalb nie bekannt, was gegen die newtonsche Vorstellung von absoluter Bewegung spricht.

88 De Motu, S. 236. 89 Hinsichtlich des unklaren Einflusses der Berkeleyschen Gegenkonzeption auf Mach vgl. Blackmore 1972, S. 95–96 und Whitrow 1953a, 43–44. Für einen Vergleich der Positionen Berkeleys und Machs siehe Popper 1953 und Myhill 1957. 90 Vgl. 3.1.3 und Carrier 2009, S. 182–189. 91 De Motu, S. 239. Man vgl. hierzu die weiteren Ausführungen in 3.3.4 sowie Pulte 2005b. 92 Vgl. Whitrow 1953b, S. 108. Es wäre für Berkeley auch möglich gewesen, weitere Referenzkörper zu postulieren, um schließlich zu einer Lösung des Problemes ohne Zuhilfenahme der Fixsterne zu gelangen. Der Übergang zu einer ‚kosmologiefreien’ Lösung wird jedoch durch den instrumentalistischen Kraftbegriff in De Motu gestört. 93 Vgl. 2.2.6.

3.2 Berkeleys Kritik des newtonschen Raumes

99

3.2.3 Systematische Diskussion der berkeleyschen Kritik Nachdem die verschiedenen Ansätze im Treatise und De Motu analysiert wurden, gilt es nun, deren Stichhaltigkeit zu prüfen. Die philosophischen und die physikalischen Aspekte seiner Kritik werden dabei getrennt behandelt. Philosophischer Aspekt der berkeleyschen Kritik Berkeley ist ein Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption. Dies wird bereits dadurch deutlich, dass er sich sich in seiner Kritik der Mechanik auf Gott als externe Autorität stützt. Indem wir unsere Ideen von Gott empfangen, hängt all unser Wissen von dieser Autorität ab. Auch Berkeleys Kritik der newtonschen Raumkonzeption selbst ist klassisch. Der absolute Raum wird kritisiert, da er in Konflikt mit Berkeleys philosophischem System steht. Dieses stützt sich in weiten Teilen auf seine Gottesvorstellung: Eine von Gott unabhängige res extensa kann es nicht geben. Zudem kritisiert Berkeley den absoluten Raum, weil er Eigenschaften hat, die eigentlich Gott vorbehalten sind. Beide Male geht Berkeley von einer externen Autorität aus und schließt von ihr auf die Berechtigung wissenschaftlicher Konzeptionen. Gegen eine Verortung der berkeleyschen Position in der klassischen Wissenschaftskonzeption könnte man argumentieren, dass sich bei ihm durchaus moderne Tendenzen finden, so bspw. seine Kritik des Essentialismus. Da sich Berkeley gegen die Hypostasierung naturwissenschaftlicher Konzeptionen wendet, könnte man ihm die Tendenz der Positivierung zuschreiben, die Diemer u. a. als die Reduktion der Wissenschaft auf subjektive Erfahrung beschreibt.94 Dass Berkeley dennoch ein Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption ist, kann an zwei Punkten festgemacht werden: Erstens ist die Motivation hinter seiner Kritik der Hypostasierung naturwissenschaftlicher Konzeptionen, wie deutlich wurde, durchweg klassisch. Sein philosophisches System stützt sich auf eine bestimmte Vorstellung von Gott. Zweitens fehlt bei Berkeley die moderne Tendenz der Hypothesierung. Wissenschaft hat für ihn nicht den Charakter eines Systems von Hypothesen, der mit der Positivierung in der modernen Wissenschaft einhergeht. Dies kann an einem kurzen Vergleich der Position Berkeleys mit derjenigen Machs verdeutlicht werden. Beide wollen das Verhalten der Körper nicht durch einen absoluten Raum erklären, sondern durch den Fixsternhimmel. Mach äußert dabei die Vermutung, dass das Eimerexperiment zu ganz anderen Ergebnissen führen könnte, wenn man es modifizieren würde. Er schreibt: Der Versuch Newton’s mit dem rotirenden Wassergefäss lehrt nur, dass die Relativdrehung des Wassers gegen die Gefässwände keine merklichen Centrifugalkräfte weckt, dass dieselben aber durch die Relativdrehung gegen die Masse der Erde und die übrigen Himmelskörper

94 Vgl. Diemer 1986b, S. 37–38.

100

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geweckt werden. Niemand kann sagen, wie der Versuch verlaufen würde, wenn die Gefässwände immer dicker und massiger, zuletzt mehrere Meilen dick würden.95

Nach Mach kann es also sein, dass man bei einer Veränderung des Eimerexperiments – z. B. der Rotation der Sterne um den Eimer – zu Ergebnissen kommen würde, die der Mechanik Newtons widersprechen. Demnach hat die Naturwissenschaft bei Mach, der bereits eine moderne Wissenschaftskonzeption vertritt, hypothetischen Charakter. Obwohl sich bei Berkeley nun eine ganz ähnliche Verwendung des Fixsternhimmels wie bei Mach findet, zweifelt Berkeley niemals an der Gültigkeit der Mechanik. Er wendet sich lediglich gegen die metaphysische Beladenheit ihrer Grundkonzeptionen. In seiner Diskussion des Eimerexperiments geht er an keiner Stelle darauf ein, dass eine Veränderung dieses Experiments dazu führen könnte, dass die Mechanik revidiert werden muss. Auch aus seiner Gegenkonzeption zum absoluten Raum wird also deutlich, dass er ein Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption ist. Physikalischer Aspekt der berkeleyschen Kritik Berkeleys Ersatzkonzeptionen zum absoluten Raum werden von ihm nur skizziert. An dieser Stelle ist es mein Ziel, seine Überlegungen kritisch zu rekonstruieren und zu diskutieren. Zunächst soll dazu die dynamische Konzeption betrachtet werden. Nach Berkeleys sind Lageänderung und das Wirken einer Kraft die Bedingungen für absolute Bewegung. Geht man von einer Lageänderung zwischen zwei Körpern aus, dann ist der Körper als bewegt anzusehen, auf den eine Kraft wirkt. Hier taucht bereits ein erstes Problem auf. Inwieweit wird die Kreisbewegung eines Körpers durch diese Konzeption gefasst? Als ein einfaches Beispiel sei hier die wahre Kreisbewegung eines Körpers genannt, der kräftefrei um seine Achse rotiert, d. h. eine Rotationsbewegung durchführt, ohne dass eine Kraft wirkt.96 In der Forschungsdiskussion wird ein solcher Fall unterschiedlich eingeschätzt. Winkler argumentiert gegen Sklar und Silver,97 dass es Berkeley bei der Zuschreibung einer Bewegung nicht um das permanente Wirken einer Kraft gehen muss. So reicht es aus, wenn einmal eine Kraft ausgeübt wurde: Berkeley never says explicitly that force has to be applied continuously […].98

D. h. ein Körper wird als bewegt angesehen, wenn bereits einmal eine Kraft gewirkt hat.99 Dies zugestanden, müsste dann bei jeder Lageveränderung ermittelt

95 Mach 1883, S. 216–217. 96 Vgl. Sklar 1976, S. 193. 97 Ich orientiere mich hier an Winkler 1986, S. 25. Vgl. dazu auch Sklar 1976, S. 193 und Silver 1973, S. 606. 98 Winkler 1986, S. 25. 99 Davon abgesehen ist es durchaus denkbar, dass sich zwei Körper jeweils mit unterschiedlicher Geschwindigkeit geradlinig gleichförmig bewegen, ohne dass auf einen von beiden eine Kraft wirkt (Wechselwirkungen zwischen den Körpern seien ausgeschlossen). Diese beiden

3.2 Berkeleys Kritik des newtonschen Raumes

101

werden, auf welchen Körper in der Vergangenheit eine Kraft gewirkt hat. Dies ist natürlich mitunter sehr schwer nachzuvollziehen. Gesteht man Berkeley dies zu, so ist immer noch nicht klar, wie sich seine dynamische Bewegungskonzeption, die ja in der Kraft eine notwendige Bedingung der absoluten Bewegung sieht, mit seiner Auffassung von der Passivität der Ideen in Einklang bringen lässt. „Kraft oder Tätigkeit“100 kommen nach ihm ja nur Seelen und nicht den Ideen zu. Was ist dann jedoch unter der ‚Kraft oder Tätigkeit‘ zu verstehen, die die Bewegung hervorbringen soll? In De Motu unterstreicht Berkeley, lediglich von mathematischen Kräften auszugehen.101 Wenn das Wirken einer Kraft als notwendige Bedingung neben der Lageänderung aufgefasst wird, Kraft selber jedoch lediglich auf die Lageänderung reduziert werden muss, dann ist der Ansatz zirkulär.102 Berkeleys Idealismus steht hier mit seinem Zugeständnis an die Mechanik seiner Zeit in einem Konflikt, den er nicht zu lösen vermag. Dies spiegelt auch die aktuelle Forschungsdiskussion zu Berkeleys Bewegungskonzeption wider, in der große Uneinigkeit herrscht, wie Berkeley zu verstehen sei. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich aus seiner kosmologischen Konzeption. Hier ersetzt Berkeley den absoluten Raum durch den Fixsternhimmel. Dies ist ein wegweisender Gedanke, der später auf fruchtbaren Boden fallen wird. Allerdings hat Berkeley auch diese Konzeption nur skizziert. Indem er ein solches ‚Machsches Prinzip‘ einführt, steht er nun vor dem Problem der Fernwirkung. Er diskutiert dieses Folgeproblem aber gar nicht, obwohl die Annahme von Fernwirkung in dieser Zeit höchst umstritten war.103 Des Weiteren bleibt unklar, warum sich in De Motu nur die kosmologische und nicht mehr die dynamische Konzeption findet. Meint Berkeley nun, dass die Lageänderung zum Fixsternhimmel alleine die hinreichende Bedingung der absoluten Bewegung ist? Wenn dem so ist, warum findet sich in der zweiten Auflage des Treatise die dynamische Konzeption trotz kleiner Änderungen wieder? Auch bei wohlwollender Interpretation, die über manche Ungereimtheit hinweg sieht, muss deshalb konstatiert werden, dass es Berkeley nicht gelingt, einen

100 101

102 103

Körper wären nach Berkeley dann trotz ihrer Lageänderung zueinander als nicht bewegt anzusehen. Es sei denn, man würde nachvollziehen können, wann in der Vergangenheit auf welchen der beiden Körper eine Kraft gewirkt hat. Dt. Treatise, S. 84. Hinsichtlich des Konflikts zwischen der Passivität der Ideen und dem Trägheitsgesetz vgl. Silver 1973. Er schreibt: “Berkeley is closer to Saint Thomas than he is to Newton where inertial physics and its adoption are at issue […].” Silver 1973, S. 606. Dies wird u. a. von Mirarchi kritisiert, der zwischen verschiedenen Kraftbegriffen bei Berkeley zu differenzieren sucht. Vgl. hierzu Mirarchi 1977, S. 706–707. Unabhängig von der hier nicht weiter zu untersuchenden Stimmigkeit dieser Rekonstruktionsversuche wird deutlich, dass Berkeley nicht genug geklärt hat, wie man seinen Idealismus mit der Mechanik in Einklang bringen kann. Für den Versuch einer wohlwollenden Rekonstruktion der berkeleyschen Argumentation, die diese Zirkularität zu umgehen sucht, vgl. Winkler 1986. Vgl. die Diskussion zu Eulers Kritik an Berkeleys Konzeption in 3.3.2.

102

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

für die Physik adäquaten Ersatz zum absoluten Raum zu entwerfen. Er entwickelt zwar eine interessante kosmologische Alternativkonzeption zum absoluten Raum, indem er die Fixsterne als ‚Referenzsphäre‘ einführt. Wie auch Leibniz kommt er aber über den bloßen Ansatz nicht hinaus. Das Urteil zu Berkeleys Kritik fällt deshalb ambivalent aus. Seine Kritik der essentialistischen Naturphilosophie seiner Zeit ist in Teilen stichhaltig. Dies gilt auch für seine skizzenhafte Kritik des metaphysisch beladenen absoluten Raumes. Im skizzenhaften Charakter der berkeleyschen Gegenkonzeption liegt jedoch ihre Schwäche. Das berührt seine Bewegungskonzeption, aber auch viele andere Bereiche seiner Lehre. So akzeptiert Berkeley zwar auf der einen Seite zahlreiche Ergebnisse der Mechanik, muss sie jedoch mit Blick auf seinen Immaterialismus uminterpretieren. Dadurch kommt es jedoch an mehreren Stellen zu Unstimmigkeiten bzw. Unklarheiten, die nicht hinreichend von ihm geklärt werden. Die Insuffizienz der Gegenkonzeption Berkeleys und Leibniz’ wird von Euler gesehen, dessen Gegenangriff nun untersucht werden soll.

3.3 EULERS PLÄDOYER FÜR EINEN ABSOLUTEN RAUM Nachdem mit Leibniz und Berkeley zwei Kritiker des newtonschen Raumes behandelt wurden, soll nun die Position Eulers untersucht werden. Sein Plädoyer für den absoluten Raum ist ein wichtiges Bindeglied zwischen den Konzeptionen Newtons und Kants. Auf der einen Seite hat Newtons Werk einen großen Einfluss auf Euler.104 Auf der anderen Seite spielen Eulers Überlegungen zur Naturphilosophie in der Genese der kritischen Philosophie Kants eine wichtige Rolle. Dies gilt insbesondere für Kants Raum und Trägheitskonzeption. Euler sieht im Raum eine Bedingung der Möglichkeit der Mechanik, der ein ontologischer wie auch epistemologischer Sonderstatus zukommt. Diese Haltung hat für Kant Schlüsselbedeutung. Aus systematischer Perspektive ist zunächst die damit einhergehende Wende im Verhältnis des Begründungsanspruchs von Metaphysik und mathematischer Naturphilosophie zentral. Diese Wende entspringt aus einem stärker werdenden Selbstbewusstsein der mathematischen Naturphilosophie gegenüber der Metaphysik. Des Weiteren kommt es aber auch zu einer Entmetaphysierung grundlegender Konzeptionen der Raum- und Bewegungskonzeption. Um diesen wichtigen Schritt in der Entwicklung der Mechanik nachzuvollziehen, empfiehlt es sich, die eulersche Position anhand dreier einschlägiger Werke in chronologischer Reihenfolge zu beurteilen. Diese sind: 1. Die ‚erste Mechanik‘ Mechanica sive motus scientia analytice exposita von 1736 (3.3.1).

104 So finden sich in Eulers umfangreichem Gesamtwerk auf Newton aufbauend u. a. Arbeiten zur Astronomie, Differentialrechnung, Gravitation und zur analytischen Mechanik.

3.3 Eulers Plädoyer für einen absoluten Raum

103

2. Die Réflexions sur l’espace et le temps105 von 1748 (3.3.2). 3. Die ‚zweite Mechanik‘ Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum von 1765 (3.3.3).106 Darauf folgt eine Untersuchung des Trägheitsgesetzes107 und seiner Beziehung zur eulerschen Raumkonzeption (3.3.4). Zuletzt werden die erarbeiteten Ergebnisse unter systematischen Gesichtspunkten zusammengefasst und analysiert (3.3.5).

3.3.1 Mechanica (1736) In der ‚ersten Mechanik‘ lehnt sich Euler in den Ausführungen zum Raum stark an Newtons Scholion an. Er erklärt gleich zu Beginn Bewegung als Ortsveränderung und Ruhe als das Verharren an einem Ort.108 Dieser ist wiederum Teil des unendlichen, absoluten Raumes. Als Differenz zu Newton fällt auf: Relative Bewegung ist nach Newton relative Ortsveränderung. Der relative Ort ist dabei Teil des relativen Raumes, der seinerseits ein „Maß“109 des absoluten Raumes ist. Der relative Raum basiert also auf dem absoluten Raum.110 Demgegenüber ist für Euler der relative Ort direkt gegeben durch die Lage zum relativen Raum, also zu dessen Grenzen bzw. Bezugskörpern, ohne selbst wieder Teil des absoluten Raumes zu sein.111 Diese Abweichung von der newtonschen Raumlehre ist ein Zugeständnis an den Relationalismus und wird im ersten Kapitel der Theoria Motus noch weiter ausgebaut. Euler ist sich der Problematik der von ihm vertretenen Raumkonzeption und der daraus resultierenden begründungstheoretischen und epistemologischen Spannung von vornherein bewusst. Er sieht im absoluten Raum eine notwendige Bedingung zur Begründung der Mechanik, insbesondere des Trägheitsgesetzes.112

105 Diese Schrift Eulers wird zitiert nach der deutschen Übersetzung von Gottfried Heinrich Schwan. Er gibt den Titel mit „Vernünftige Gedanken von dem Raume, dem Orth, der Dauer und der Zeit“ wieder. Da in der Forschung z. T. von den Reflexionen Eulers gesprochen wird, verwende ich in Anlehnung an das französische Original den Titel „Reflexionen über Raum und Zeit“. 106 In dieser Dreiteilung orientiere ich mich an Gent 1962, S. 201; sie wird ebenso von Cassirer 1999, S. 472–485 vollzogen. Als zusätzliche Quelle werden ergänzend die Briefe an eine deutsche Prinzessin herangezogen. 107 Wie in 3.3.5 deutlich werden wird, finden sich bei Euler zwei Trägheitsgesetze: eines für ruhende und eines für geradlinig-gleichförmig bewegte Körper. Um der Einheitlichkeit willen spreche ich im Folgenden dennoch vom Trägheitsgesetz und nicht von den Trägheitsgesetzen. 108 Anders als Newton beginnt Euler jedoch nicht mit einer ‚Erklärung‘ zum Raum, sondern mit dem Ort, um dann auf den Raum Bezug zu nehmen. Wie weiter unten aufgezeigt wird, ist die Deutung des Ortes für Euler von zentraler Bedeutung und für ihn der Scheideweg zwischen einer relationalen und einer absoluten Bewegungskonzeption. 109 Dt. Principia, S. 28. 110 Vgl. 2.2.2 und die Ausführungen zum mathematischen Realismus Newtons unter 2.3.5. 111 Vgl. Mechanica, S. 9–10. 112 Vgl. Mechanica, S. 21 und 23.

104

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Dabei merkt er jedoch an, dass „wir uns von jenem unermesslichen Raume und seinen eben erwähnten Grenzen keine bestimmte Vorstellung machen können […].“113 Bewegung und Ruhe eines Körpers können nur hinsichtlich der Lage zu körperlichen Grenzen beurteilt werden.114 Den daraus resultierenden Problemen entgeht Euler in der Mechanica, indem er Diskussionen der Ontologie des Raumes außer Acht lässt. Er schreibt: Das, was wir über den unendlichen Raum und seine Grenzen gesagt haben, muss rein mathematisch gedacht werden. Stehen diese Vorstellungen auch mit den metaphysischen Speculationen scheinbar im Widerspruch, so können wir sie doch mit Recht zu unserm Zweck anwenden. Wir behaupten nämlich nicht, dass es einen derartigen unendlichen Raum mit festen unendlichen Grenzen gebe, kümmern uns auch nicht um ihr Dasein, sondern wir verlangen nur, dass derjenige, welcher die absolute Ruhe oder Bewegung betrachten will, sich einen solchen Raum vorstelle und von diesem aus den Zustand der Ruhe oder Bewegung eines Körpers beur-theile.115

Die in der Wissenschaftslandschaft dieser Zeit durch Newtonianer und die Anhänger Leibniz’ bzw. Wolffs intensiv diskutierte Frage nach der Realität des Raumes wird in dieser Schrift von Euler noch ausgeklammert. Der Raum besitzt damit zunächst nur rein funktionalen Charakter.

3.3.2 Reflexionen über Raum und Zeit (1748) Dies ändert sich mit den Reflexionen über Raum und Zeit. Hier positioniert sich Euler auch mit Bezug auf die ontologische Frage nach dem absoluten Raum. Dabei stellt er die Haltung von ‚Metaphysikern‘ und ‚Messkünstlern‘ gegenüber und greift in die zuvor umgangene Debatte direkt ein. Unter den ‚Metaphysikern‘ versteht Euler dabei Leibniz, Wolff und Berkeley,116 während es sich bei den ‚Mess-

113 Mechanica, S. 9. 114 Vgl. Mechanica, S. 9. 115 Mechanica, S. 9. Nach Wolfers’ Übersetzung entsteht hier der Widerspruch, dass ein Raum, von dem man keine Vorstellung besitzt, vorgestellt werden muss. In Anmerkung 1 zu Zusatz 1 schreibt Euler, dass wir uns vom Raum „keine bestimmte Vorstellung machen können […].“ Mechanica, S. 9, Hervorhebung durch mich. In Anmerkung 2 übersetzt Wolfers jedoch wie folgt: „Stehen diese Vorstellungen auch mit den metaphysischen Speculationen scheinbar im Widerspruch, so können wir sie doch mit Recht zu unserm Zweck anwenden.“ Mechanica, S. 9, Hervorhebung durch mich. Der von Wolfers in Anmerkung 1 mit ‚Vorstellung‘ wiedergegebene Begriff lautet im lateinischen Original „ideam“ (Opera Omnia 2.1, S. 14). Cassirer übersetzt daher besser: “Da wir uns indessen von diesem unermeßlichen Raum und den Begrenzungen in ihm keine bestimmte Idee zu bilden vermögen […].” Euler, in: Cassirer 1999, S. 473, Hervorhebung durch mich. Die Wiedergabe von ‚idea’ mit ‚Idee’ macht klar: Nach Euler haben wir keine Idee vom absoluten Raum und den Raumteilen, können uns aber rein mathematisch eine Vorstellung von ihm machen. Diese epistemologische Sonderstellung des Raumes wird in den Reflexionen über Raum und Zeit weiter ausgearbeitet. 116 Diese drei Denker werden in der Eulerforschung traditionell mit den ‚Metaphysikern‘ in Verbindung gebracht. Vgl. hierzu Suchting 1967, S. 188 und Suchting 1969, S. 271. Suchting

3.3 Eulers Plädoyer für einen absoluten Raum

105

künstlern‘ um Anhänger der mathematischen Naturphilosophie handelt. Die auf leibnizschen Überlegungen aufbauende wolffsche Philosophie bildete spätestens ab den vierziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts die dominante Strömung an den deutschen Universitäten.117 Euler kam mit ihr durch seine Mitgliedschaft an der Berliner Akademie 1741 in näheren Kontakt.118 Die Spannung zwischen der sich auf dem europäischen Festland über Frankreich und die Niederlande verbreitenden newtonschen Naturphilosophie und der von Leibniz und Wolff vertretenen Monadenlehre gipfelt in der Preisfrage der Akademie für das Jahr 1747, an deren Formulierung Euler mitwirkte. Sie lautete: Ob entweder die Monaden gründlich widerlegt, und durch Sätze, die keine Beantwortung bedürfen, völlig vernichtet werden können: Oder ob die Monaden bewiesen und man in den Stand gesetzt werden könne, daraus eine rechte verständliche Erklärung der vornehmsten natürlichen Begebenheiten und Erscheinungen, insonderheit aber des Ursprungs und der Bewegung des Körpers herzuleiten.119

Euler reichte unter dem Pseudonym Joh. C. Spener die Schrift Gedancken von den Elementen der Körper als Antwort ein.120 Die Argumentation ähnelt derjenigen, die zwei Jahre später in den Reflexionen über Raum und Zeit vorgetragen wird: Hier wie dort bildet das Trägheitsgesetz den Ausgangspunkt, von dem aus die leibnizsch-wolffsche Lehre kritisiert wird.121 Durch die Preisfrage und die damit einhergehende Debatte kam es zu einer empfindlichen Schwächung der

117 118

119 120 121

übernimmt dies von Hoppes Anmerkung zu Opera Omnia 3.2, S. 377. Der Bezug zu Leibniz und Wolff ist offensichtlich. Für Berkeley spricht die Diskussion der Bewegung von Körpern zu den Fixsternen, die sich so nicht bei Leibniz findet. Vgl. 3.1.3. Breidert vermutet, dass Euler die Schriften Berkeleys nicht aus erster Hand kannte. Vgl. hierzu Breidert 1983, S. 450. Dem schließe ich mich an. Vgl. Speiser 1934, S. 6. In den vierziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts veröffentlichte Euler eine Reihe philosophischer Abhandlungen. Sein Ziel war nicht, sich als Philosoph zu profilieren, sondern eine Attacke gegen die Leibniz–Wolffsche Philosophie. Siehe hierzu Pulte 1989. Neben akademiepolitischen Gründen ist Eulers Aversion gegen die Philosophie Wolffs auch religiös bedingt. Man vgl. seine Bemerkung in den Briefen an eine dt. Prinzessin, in der es förmlich aus ihm herauszuplatzen scheint: „Welche gefährliche Leute sind doch die Monadisten!“ Briefe an eine dt. Prinzessin, S. 152 und weiter: „So eben beschuldigten sie uns erst der Atheistey, und gleich darauf werfen sie uns die Vielgötterey vor und bürden uns auf, daß wir jedem Körper unendliche Eigenschaften beylegen. Sie sehen uns für noch ärger, als die Heyden an, die doch nur einige Götzenbilder anbeten, da wir hingegen alle Körper als Gottheiten verehren sollen. Ohne Zweifel wäre dieses der schrecklichste Vorwurf für uns, wenn er auch nur einigermaßen gegründet wäre […].“ Briefe an eine dt. Prinzessin, S. 152. Ein großes Problem Eulers mit der Monadenlehre ist dabei die prästabilierte Harmonie, die seiner Ansicht nach mit der Willensfreiheit im Konflikt steht. Vgl. Briefe an eine dt. Prinzessin, S. 93. von Windheim 1750, S. 5. Vgl. Pulte 1989, S. 150–181, Harnack 1990b, S. 402–403, von Windheim 1750, S. 4–7, Speiser 1934, S. 8. Vgl. Ged. v. d. Elementen der Körper, S. 349. Siehe auch Briefe an eine dt. Prinzessin, S. 79.

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Monadenlehre.122 Eulers Reflexionen über Raum und Zeit müssen vor dem Hintergrund dieser Diskussion gelesen werden: Das Trägheitsgesetz ist die Autorität, von der aus die metaphysischen Überlegungen beurteilt werden können. Die „Grundsätze der Mechanik“123 sind „so gründlich befestigt, daß man unrecht handeln würde, wenn man an ihrer Wahrheit zweifeln wollte.“124 Sie bilden das unumstößliche Kriterium, anhand dessen die Frage nach der Realität des Raumes beantwortet werden kann. In der Mechanica leitete Euler das Trägheitsgesetz noch aus Eigenschaften des absoluten Raumes her. Demgegenüber schließt er in den Reflexionen über Raum und Zeit aufgrund der Gültigkeit des Trägheitsgesetzes auf die Existenz eines absoluten Raumes.125 Würde man eine Kontinuität beider Schriften voraussetzen, so wäre diese Argumentation zirkulär. Der Grund für diese Differenz im Begründungsverhältnis liegt jedoch in einer Veränderung des eulerschen Denkens. Die sich mehr und mehr emanzipierende Naturwissenschaft übernimmt hinsichtlich der Grundlagenfragen gegenüber der Philosophie zunehmend die Vormachtstellung. Die Mechanik muss sich demnach nicht nach der Metaphysik richten. Vielmehr ermöglichen es die Grundsätze der Mechanik, der Metaphysik ein Ziel zu geben.126 Die Metaphysik muss in ihren Überlegungen die Grundsätze der Mechanik nicht nur beachten, sondern aus der Metaphysik müssen sich die Grundsätze der Mechanik ableiten lassen. Für den Raum bedeutet dies konkret: Sollte sich zeigen, dass die Grundsätze der Mechanik den Raum benötigen, so kann, allen Einwänden der Metaphysiker zum Trotz, auf dessen Realität geschlossen werden:127 Es ist dannenhero gewis, daß, wenn man die beyden angeführten Grundsätze der Mechanik nicht begreifen könte, ohne daß man die Begriffe von Raum und der Zeit damit verbände, es ein gewisses Kennzeichen seyn würde, daß diese Begriffe nicht ganz eingebildet wären, wie es die Metaphysikverständigen behaupten.128

Euler versucht deshalb zu zeigen, dass die Grundlagen der Mechanik die Konzeption des Ortes als Teil des Raumes benötigen. D. h. der Ort kann nicht durch die Lage der Körper zueinander ersetzt werden.129 Um dies deutlich zu machen, geht Euler von der unumstößlichen Gültigkeit des Trägheitsgesetzes aus.130 Nach diesem verharrt ein ruhender Körper an seinem Ort, solange keine Kraft auf ihn

122 Siehe Schmalenbach 1921 S. 540–542. Man vgl. auch die Einschätzung Speisers hinsichtlich der Auswirkungen auf die Raumdebatte. Speiser 1927, S. 109. 123 Reflexionen über Raum und Zeit, S. 1. 124 Reflexionen über Raum und Zeit, S. 1. 125 Vgl. hierzu auch 3.3.4. 126 Man vgl. hierzu auch Kants Rezeption dieser Überlegungen. Siehe. 4.1.5. 127 Ich folge hier Cassirer 1999, S. 471–485. 128 Reflexionen über Raum und Zeit, S. 4. 129 Vgl. Cohen / Smith 2002b, S. 5. 130 Genauer gesagt vom ersten Teil des Gesetzes in der eulerschen Formulierung. Vgl. hierzu 3.3.4.

3.3 Eulers Plädoyer für einen absoluten Raum

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wirkt.131 Man kann nun mit den Metaphysikern versuchen, den Ort durch das Verhältnis zu den umgebenden Körpern zu ersetzen. Die daraus folgende Formulierung des Gesetzes lautete dann, dass ein von den Körpern umgebener Körper „sich bemühen werde, beständig in dieser Nachbarschaft zu verbleiben.“132 Um zu zeigen, dass diese Alternativformulierung zu kurz greift, vollzieht Euler nun ein Gedankenexperiment: Ein ruhender Körper befindet sich in ebenfalls ruhendem Wasser. Der Körper wird in diesem Verhältnis zu den umgebenden Wasserteilchen bleiben. Dies können sowohl der ‚Messkünstler‘ als auch der ‚Metaphysiker‘ erklären. Im zweiten Teil des Gedankenexperimentes geht Euler nun davon aus, dass das Wasser zu fließen beginnt. Der Körper bleibt entweder an seinem Ort oder wird durch das Wasser mitgerissen. Beide Positionen interpretieren dies unterschiedlich. Nach den ‚Messkünstlern‘ würde der Körper an seinem Ort bleiben. Ist die Kraft des auf ihn treffenden Wassers jedoch groß genug, bewegt er sich mit dem Wasser mit. Der ‚Metaphysiker‘ hingegen kann das Verharren des Körpers nicht begründen und sieht im Mitführen des Körpers lediglich sein Bestreben, sich in der Nachbarschaft der umgebenden Körper zu halten.133 Nach Euler widerspricht dies jedoch den Grundsätzen der Mechanik: Die Mechanik aber, zeiget uns klar und offenbahr, daß der Körper dem Strom des Wassers nur in so fern folget, als er durch die Theilchen des Wassers getroffen wird, und daß es folglich eine fremde Kraft ist, welche den Körper in Bewegung setzet.134

Die Position der ‚Metaphysiker‘ läuft also der Mechanik zuwider. Sie müssen argumentieren, dass der Körper in der Nähe der umgebenden Körper zu verharren neigt. Demgegenüber zeigt die Mechanik, dass nach dem Trägheitsgesetz der Körper entweder an seinem Ort verharrt oder sich durch die Kraftwirkung der Wasserteilchen mit dem Wasser bewegt. Damit wird für Euler deutlich, dass die Trägheit sich nicht aus dem Verhältnis eines Körpers zu den umgebenden Körpern richtet.135 Die Position Leibniz’ und Wolffs ist damit für ihn widerlegt. Es bleiben lediglich weiter entfernte, d. h. nicht unmittelbar umgebende Körper, um das Trägheitsgesetz durch die Lage zu erklären. Hinter dieser Position steht Berkeleys Fixsternkonzeption.136 Eulers Angriff auf diesen Erklärungsansatz fällt zaghafter aus, auch wenn er meint, dass diese Position einfach zu widerlegen sei:

131 Euler diskutiert die Nichtreduzierbarkeit des Ortes durch die Lage anhand eines weiteren Beispiels, in dem er aufzuzeigen sucht, dass die Richtung einer geradlinigen, gleichförmigen Bewegung nur anhand des Ortes als Teil des Raumes, nicht aber anhand der Lage gegeben sein kann. Ich beziehe mich in meinen Ausführungen nur auf Eulers erste Erörterung. 132 Reflexionen über Raum und Zeit, S. 6. 133 Für eine andere Interpretation des Gedankenexperimentes vgl. Suchting 1969. 134 Reflexionen über Raum und Zeit, S. 7–8. 135 Vgl. Reflexionen über Raum und Zeit, S. 8. 136 Vgl. 3.2.2.

108

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Denn es wäre leicht, die Falschheit solcher Erklärungen durch eben solche Betrachtungen zu zeigen, wie ich über die nächsten Körper angestellet habe.137

Euler schreibt, dass eine Erklärung der Trägheit durch das Verhältnis zu den Fixsternen „vielen anderen metaphysischen Lehren widersprechen“138 würde. Dahinter steht wahrscheinlich seine Ablehnung einer Fernwirkung, worin er durch Descartes geprägt ist. Berkeleys Erklärungsversuch scheitert nach Euler zudem daran, dass er nicht auf Körper anwendbar ist, die sich in der Nähe der Fixsterne befinden. Deshalb erklärt Euler alle Versuche, die Trägheit durch die Lage zu anderen Körpern begründen, für gescheitert. Er folgert: Die Metaphysiker handeln demnach unrecht, wenn sie den Raum und Ort gänzlich aus der Welt verbannen wollen, und behaupten, daß es nur abgesonderte und eingebildete Begriffe sind. Folglich müssen die Beweise, welche sie anführen, ihre Meynung zu behaupten, sie mögen beschaffen seyn wie sie wollen, in der That schlecht gegründet seyn, und es mus hier ein falscher Schluß verborgen liegen.139

Hinsichtlich metaphysischer Einwände gegen die mathematische Naturphilosophie bemerkt er: Ich will mich in die Beantwortung der Einwürfe, welche man wider die Würklichkeit des Raums und Orts macht, nicht einlassen: Denn da erwiesen ist, daß solche Würklichkeit nicht mehr in Zweifel gezogen werden kan; so folget nothwendig, daß alle solche Einwürfe wenig Grund haben müssen, ob wir gleich nicht im Stande wären, darauf zu antworten.140

Nach Cassirer verschiebt sich hier die wissenschaftliche Deutungshoheit von den ‚Metaphysikern‘ hin zu den ‚Messkünstlern‘, d. h. zur mathematischen Physik. Er schreibt zu Recht: Eulers Lehre ist die philosophische Mündigkeitserklärung der neuen mathematischen Wissenschaft, die es fortan unternimmt, aus sich selbst heraus den echten Maßstab der ‚Objektivität’ aufzustellen, statt ihn sich durch irgendein fremdes Interesse aufdrängen zu lassen.141

Wenn die Raumkonzeption der Mechanik dem Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren142 Leibniz’ und Wolffs widerspricht, so liegt nach Euler das Problem nicht bei den Anhängern der mathematischen Naturphilosophie, sondern bei den ‚Metaphysikern‘. Da das leibnizsche Prinzip an der Raum- und Ortskonzeption scheitert, wird seine begrenzte Anwendbarkeit aufgezeigt. Es wird aber auch eine Differenz zwischen dem Raum und anderen Entitäten deutlich: So weis ich nicht, ob dieser Grundsatz so allgemein ist, wie man gedenket. Vielleicht lässt er sich nur auf Körper und Geister anwenden. Eine Allgemeinheit, womit man wohl zufrieden

137 Reflexionen über Raum und Zeit, S. 9. 138 Reflexionen über Raum und Zeit, S. 9. Ich folge hier der Argumentation Pultes. Vgl. Pulte 2005b. 139 Reflexionen über Raum und Zeit, S. 11. 140 Reflexionen über Raum und Zeit, S. 12–13. 141 Cassirer 1999, S. 477. 142 Das ergibt sich nach Leibniz aus dem Satz vom hinreichenden Grund.

3.3 Eulers Plädoyer für einen absoluten Raum

109

seyn könte. Allein da der Raume und der Ort Dinge sind, die von den Geistern und Körpern wesentlich unterschieden: So kan man sie nicht nach eben den Grundsätzen beurtheilen.143

Nach Euler wird der Raum nicht durch die Sinne gegeben. Vielmehr müssen wir von den Sinnen abstrahieren, um zur Vorstellung des Raumes zu gelangen.144 Die ‚Metaphysiker‘ begehen jedoch den Fehler, deshalb anzunehmen, dass der Raum lediglich ein ‚eingebildeter‘145 Begriff sei, zu dem wir gelangen wie „wir uns die Ideen der Gattung und der Arten bilden“146. Wenn wir von allen anderen Körpereigenschaften absehen, gelangen wir zur Ausdehnung. Jedoch sind der Ort als Teil des Raumes und die Ausdehnung nach Euler zu unterscheiden. Die Ausdehnung als Körpereigenschaft verschwindet mit dem Körper und bewegt sich bei Ortsveränderungen mit ihm mit. Demgegenüber bleibt der Ort als Teil des Raumes bestehen, wenn der Körper aufgehoben wird.147

143 144 145 146 147

Reflexionen über Raum und Zeit, S. 13. Vgl. Reflexionen über Raum und Zeit, S. 11, vgl. hierzu auch Theoria Motus, S. 56 und 3.3.3. Reflexionen über Raum und Zeit, S. 11. Reflexionen über Raum und Zeit, S. 11. Hier unterscheidet sich Eulers Haltung von Newtons in De Gravitatione. Vgl. De Gravitatione, S. 57 und 2.3.3. Euler schreibt: „Denn man mus wohl merken, daß der Ort welchen ein Körper einnimt, von seiner Ausdehnung gänzlich unterschieden ist […].“ Reflexionen über Raum und Zeit, S. 12. Hierin ist die eulersche Position der leibnizschen näher als der newtonschen. So schreibt Leibniz gegen Clarke: „Folglich wäre der von einem Körper eingenommene Raum die Ausdehnung dieses Körpers. Dies ist absurd, weil ein Körper zwar den Raum wechseln kann, nicht aber seine eigene Ausdehnung aufgeben kann.“ Leibniz–Clarke, S. 89, Leibniz‘ fünfter Brief, § 37, man vgl. hierzu auch Leibniz–Clarke, S. 91, Leibniz’ fünfter Brief, § 46. Clarke schreibt hierzu: „Der von einem Körper eingenommene Raum ist nicht die Ausdehnung des Körpers, sondern der ausgedehnte Körper existiert in diesem Raum.“ Leibniz–Clarke, S. 133, Clarkes fünfter Brief, §§ 36–48. Hier lässt sich eine Entwicklung erkennen: Newton trennte in De Gravitatione zunächst nicht zwischen Ausdehnung und Ort. Erst indem Gott der Materie die Eigenschaft der Beweglichkeit gibt, kann diese von Raumgebiet zu Raumgebiet übergehen. Zunächst werden bestimmte Raumgebiete als undurchdringlich vorgestellt. Dann kann man sich „ferner vorstellen, daß jene Undurchdringlichkeit nicht immer in demselben Raumgebiete bliebe […].“ De Gravitatione, S. 55. Man sieht hier, wie wichtig für Newton, anders als für Euler, die Vorstellung von bestimmten real existenten Raumpunkten ist. Erst daraufhin schreibt Newton: „Daß sie [die Körper] beweglich sind, und deshalb habe ich nicht gesagt, numerische Teile des Raumes, die ganz und gar unbeweglich sind, sondern nur abgegrenzte Quantitäten des Raumes, die von Raum zu Raum überführt werden können.“ De Gravitatione, S. 57, man vgl. hierzu auch S. 59. Argumentativ geht Newton also zunächst von der Gleichheit beider Konzeptionen aus, um sie dann durch die Eigenschaft der Beweglichkeit voneinander zu trennen. Man kann hier der Abkopplung des Ausdehnungsbegriffes vom Ortsbegriff förmlich zusehen. Zu Beginn des dritten Buches der Principia (vgl. Principia, S. 795–796) bezeichnet Newton die Ausdehnung nur noch als empirisch erschlossene Körpereigenschaft. Dies hat zum einen mit der dort vertretenen Methodologie zu tun und zum anderen mit der Entkopplung von Ort als Raumteil und Ausdehnung, wie sie dann auch im von ihm überwachten Briefwechsel mit Leibniz vertreten wird.

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3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

3.3.3 Theoria Motus (1765) Obwohl Euler davon ausgeht, dass es einen absoluten Raum gibt, ist er sich der Spannung bewusst, die mit dieser Konzeption einhergeht. Diese Spannung wird in seiner ‚zweiten Mechanik‘ besonders deutlich. In ihr entwirft Euler im ersten Kapitel eine sensualistisch begründete, relationale Konzeption von Ruhe und Bewegung und lehnt einen Bezugsraum ausdrücklich ab, um dann im zweiten Kapitel den rein relationalen Ansatz fallen zu lassen und auf ein absolutes Bezugssystem zurückzugreifen. Diese ambivalente Haltung wird im Folgenden diskutiert. Wie in der Mechanica beginnt Euler mit einer Erklärung zu Bewegung und Ruhe. Euler greift wie zuvor Ruhe als das Verharren eines Körpers an einem Ort und Bewegung als Ortsveränderung auf.148 Im Unterschied zur Mechanica betrachtet er im ersten Kapitel der Theorie Motus lediglich Körper und ihre Lage zueinander.149 Da der Raum für unsere Sinne unzugänglich ist, wird er im ersten Kapitel außen vor gelassen. Euler entwickelt den für die Bewegung und Ruhe notwendigen Ort anhand der Lage der Körper zueinander.150 Dabei erklärt er seinen Verzicht auf den Raum wie folgt: Wir können aber die Bedeutung dieses Raumes nur durch Abstraction auffassen, indem wir im Geiste alle Körper aufheben und dasjenige, was alsdann nach unserer Vorstellung übrig bleibt, den Raum nennen. Wir nehmen demnach an, dass, nachdem alle Körper fortgenommen sind, ihre Ausdehnung noch übrig bleibe; eine Auffassung, welche die Philosophen mit vielen Gründen zu bekämpfen pflegen. Es scheint ferner diese Frage nicht eher abgeschlossen werden zu können, bevor nicht eine entsprechende Idee der Bewegung aufgestellt worden ist. Da wir nun aber derartige bedenkliche Abstractionen verschmähen, müssen wir die Sache so erwägen, wie sie uns unmittelbar in die Sinne tritt und werden demnach über die Bewegung eines Körpers auf keine andere Weise urtheilen können, als indem wir ihn auf andere ihn umgebende Körper beziehen.151

In diesem ersten Kapitel der Theoria Motus skizziert Euler das Programm einer relationalen Kinematik. Die Betrachtung dieser relationalen, oder wie Euler sagt „respective[n]“152, Bewegung erfolgt, um später absolute Bewegungszustände ein-

148 Die beiden in Kapitel 1 und 2 der Theoria Motus präsentierten Bewegungskonzeptionen hängen somit, wie Euler selbst bemerkt, von der Interpretation des Ortbegriffes ab: „Zuerst tritt uns die Idee des Ortes entgegen, was aber der Ort sei, lässt sich nicht leicht erklären.“ Theoria Motus, S. 3. In den beiden Kapiteln interpretiert Euler Ort jeweils unterschiedlich. Dies hat Auswirkungen auf die jeweiligen Bewegungskonzeptionen. 149 Vgl. Theoria Motus, S. 3. 150 Euler will den Ort durch die Lage zu umliegenden Körpern bestimmen. Die Lage wird dabei zurückgeführt auf den Abstand zu vier nicht in einer Ebene liegenden Bezugspunkten. 151 Theoria Motus, S. 3–4. Nach Euler gehen wir zum Raum über, indem wir von den Körpern abstrahieren. Somit kommt dem Raum nicht nur eine ontologische, sondern auch eine epistemologische Sonderstellung im Denken Eulers zu. Dieser Ansatz wird von Kant ausgebaut. Vgl. hierzu 4.2.1. 152 Theoria Motus, S. 7.

3.3 Eulers Plädoyer für einen absoluten Raum

111

zuführen.153 In dieser Konzeption sind Ruhe und Bewegung lediglich von willkürlich zu wählenden Bezugskörpern abhängige Zuschreibungen: Man kann von einem Körper mit der gleichen Berechtigung sagen, dass er sich bewegt, wie auch, dass er ruht. Es handelt sich hier bei Bewegung und Ruhe nicht um Eigenschaften oder Zustände der Körper, sondern lediglich um Relationen. Im zweiten Kapitel baut Euler diese ‚respective‘ Bewegung aus. Wie der Titel des Kapitels „Von den inneren Principien der Bewegung“154 bereits sagt, geht es ihm um die Bewegung der Körper unabhängig von äußeren Ursachen, d. h. von Kräften.155 Die inneren Prinzipien sind die Ursachen für die Ruhe und Bewegung eines Körpers. Da innere und äußere Prinzipien aufgrund der stetigen Wechselwirkungen der Körper schwer zu unterscheiden sind, betrachtet Euler zunächst nur einen Körper im leeren Raum. Davon ausgehend formuliert er seinen ersten Grundsatz: Jeder Körper befindet sich, auch ohne Beziehung auf andere Körper, entweder in Ruhe oder in Bewegung, d. h. er ruhet oder bewegt sich absolut.156

Euler geht sogleich auf den krassen Gegensatz zum zuvor von ihm formulierten Bewegungsrelativismus ein: Bis jetzt haben wir in Folge der sinnlichen Wahrnehmung keine andere Bewegung oder Ruhe anerkannt, als in Bezug auf andere Körper, wesshalb wir beide, die Ruhe und Bewegung respective genannt haben. Wenn wir aber jetzt alle Körper ausser dem einen in Gedanken aufheben, so fällt auch die Beziehung auf jene fort, durch welche wir bis jetzt die Ruhe oder Bewegung beurtheilt haben. Man muss daher jetzt zuerst fragen, ob unser Urtheil über Bewegung und Ruhe des Körpers noch stattfinden könne, oder nicht?157

Nur weil wir den Bewegungszustand eines Körpers lediglich in Bezug auf andere Körper erkennen können, bedeutet dies nach Euler nicht, dass Bewegung und Ruhe an sich bloß relational sind. Wir müssen, so Euler, trotz aller im Kapitel zuvor von ihm selbst formulierten Einwände, von einem absoluten Raum ausgehen, denn von ihm hängen die Bewegungsgesetze ab: Derjenige, welcher den absoluten Raum ableugnen wollte, würde in die grösste Verlegenheit gerathen. Da er nämlich die absolute Ruhe und Bewegung als leere Worte ohne Sinn verwerfen muss, so wird er nicht nur die Gesetze der Bewegung, welche sich auf dieses Princip stüt-

153 So erklärt Euler im Anschluss an seine relationale Konzeption von Ruhe und Bewegung: „Hier haben wir eine wirkliche Erklärung der Ruhe, welche in keine vage und imaginäre Ideen verwickelt, aber mit der Idee eines beliebigen Körpers verbunden ist, in Bezug auf welchen der Punkt O sich in Ruhe befindet. Es ist nicht klar, was die so genannte absolute Ruhe sei, welche von dem Begriff eines solchen Körpers getrennt ist.“ Theoria Motus, S. 6. Und weiter: „Hier an der Schwelle der Mechanik brauchen wir uns aber um die absolute Ruhe nicht zu bekümmern, wir wissen auch durchaus nicht, ob und wie sie existiere, indem wir nur dasjenige untersuchen, was die Sinne uns zeigen.“ Theoria Motus, S. 6. 154 Theoria Motus, S. 34. 155 Vgl. Theoria Motus, S. 34 und S. 52. 156 Theoria Motus, S. 36. 157 Theoria Motus, S. 36.

112

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zen, verwerfen, sondern auch zugeben müssen, dass es gar keine Gesetze der Bewegung geben kann.158

Die Ausführungen beider Kapitel machen die Schwierigkeit der eulerschen Raumkonzeption deutlich: Das erste Kapitel weist den absoluten Raum als problematische Abstraktion aus. Eine Abstraktion, auf die das zweite Kapitel jedoch mit Blick auf das Trägheitsgesetz zurückgreift. Euler urteilt nicht, was der Raum seiner Natur nach genau sei. Er schließt: Der Ort ist daher etwas, was von den Körpern abhängt und eben so wenig ein reiner Begriff des Verstandes, was er aber ausserhalb des letztern für eine Reellität besitze, möchte ich nicht zu bestimmen wagen, wenn wir nicht auch in ihm einige Reellität anerkennen müssen. Wenn aber die Philosophen alle Reelität in bestimmte Klassen theilen und wähnen, dass der Ort auf keine von ihnen bezogen werden könne; so möchte ich lieber glauben, dass diese Klassen fälschlich von ihnen aufgestellt worden sind, indem sie die darauf zu beziehenden Dinge nicht hinreichend erkannt hatten.159

Eulers Bruch mit einer relationalen Bewegungslehre im zweiten Kapitel von Theoria Motus verdeutlicht den Kontrast zwischen dem im ersten Kapitel dieser Schrift vertretenen Relationalismus und einem absoluten Bezugssystem. Wie in Abschnitt 2.2. deutlich wurde, findet sich dieser ‚Sprung‘ hin zu einem den Sinnen nicht zugänglichen Bezugssystem bereits im Scholion der Principia. Dort spricht Newton davon, dass man hinsichtlich des Raumes von den Sinnen abstrahieren müsse.160 Ebenso abstrahiert auch Euler, wenn er im zweiten Kapitel von Theoria Motus die bloß respektive Bewegung aufgibt und Bewegung zu einem absoluten Raum einführt. Im Gegensatz zu Newton arbeitet Euler diesen ‚Sprung‘ jedoch deutlich heraus. Es ist dieses Bewusstsein für die Ambivalenz des Raumes, das Kant in seinem Übergang zur kritischen Philosophie dazu führt, dem Raum eine Sonderstellung einzuräumen.161 158 Theoria Motus, S. 38. 159 Theoria Motus, S. 56. Vgl. hierzu auch Speiser 1986, S. XXIX – XXX. 160 Siehe Principia, S. 410–411. Vgl. 2.2. In den Briefen an eine dt. Prinzessin versucht er, den Raum ontologisch genauer zu bestimmen. Wie deutlich wurde, fasst Newton gegen Descartes sämtliche Entitäten als räumlich auf. Vgl. 2.3.3. Demgegenüber unterscheidet Euler, ganz cartesisch, grundlegend zwischen dem Bereich der Seelen und der Körper. Dabei sind die Seelen nicht räumlich. Die grundlegende Unterscheidung in aktive und passive Substanz ist damit cartesisch. Allerdings sieht Euler die Ausdehnung für Körper nicht als hinreichend an. Er geht also über Descartes hinaus. Vgl. Briefe an eine dt. Prinzessin, S. 74. Die Körper haben die Eigenschaft der Ausgedehntheit, Beweglichkeit, Solidität, und Trägheit (so nach den Briefen an eine dt. Prinzessin, S. 74–80, Euler zählt an anderen Stellen mitunter nur einen Teil dieser Eigenschaften auf). Interessant ist, dass der Raum aus der cartesischen Grundunterscheidung herausfällt. Ihm kommt eine Sonderstellung zu. Die Körper befinden sich zwar in ihm, er bildet jedoch gerade die Kontrastfolie bei der Ermittlung der Eigenschaften der Körper: Ausdehnung und Beweglichkeit sind als Eigenschaften der Körper nicht hinreichend, weil sie auch dem Raum zugeschrieben werden können, der eben kein Körper ist. Vgl. Briefe an eine dt. Prinzessin, S. 74–75. Demnach durchbricht der newtonsch geprägte Raum Eulers den cartesischen Dualismus, da Descartes im Raum noch die Gesamtheit der Körper sah. 161 Vgl. Gosztonyi 1976, S. 382–383 und S. 414–415.

3.3 Eulers Plädoyer für einen absoluten Raum

113

Anders als bei Newton wird die Raumkonzeption bei Euler auch nicht durch metaphysisch-religiöse Überlegungen abgesichert. Alleine die Autorität der Mechanik trägt den absoluten Raum. Hinsichtlich der ‚mechanikinternen‘ Rechtfertigung, die auf eine externe Autorität verzichtet, sind einige Ausführungen aus den Briefe[n] an eine dt. Prinzessin interessant. Der sehr gläubige Euler bemerkt zu Bewegungen, die in der Bibel beschrieben werden: Und es ist also sehr lächerlich, biblische Stellen, wie einige thun, anzuführen, um zu beweisen, daß die Erde stille steht, und die Sonne sich bewegt.162

Diese Passage ähnelt dem Inhalt nach der newtonschen Bemerkung zur Interpretation von Bewegungszuständen in der Heiligen Schrift.163 Darüber hinaus erhält die eulersche Raumlehre auch keine ‚metaphysische Unterstützung‘ mehr in dem Sinne, dass sie in einen metaphysisch-theologischen Kontext eingebettet und durch diesen fundiert würde. Unter dem Einfluss Descartes sieht Euler, anders als Newton, weder Seelen noch Gott als räumlich an: Dieses giebt uns zugleich eine gute Erläuterung über die Art, wie Gott allenthalben ist; er ist es nämlich dadurch, daß sich seine Gewalt über die ganze Welt und über alle darinn befindliche Körper erstrecket. Es scheint mir aus diesem Grunde kein richtiger Ausdruck zu seyn, wenn man sagt, daß Gott sich allenthalben befinde, denn das Daseyn der Geister hat nichts mit einem Orte zu thun; vielmehr sollte man sagen, daß Gott allenthalben gegenwärtig sey, und so spricht auch die Offenbarung von ihm.164

3.3.4 Zum Trägheitsgesetz bei Euler Es ist deutlich geworden, dass Euler den absoluten Raum nicht bloß aufgreift, sondern ihn auch von ‚metaphysischem Ballast‘ befreit. Das gilt auch für andere basale Konzeptionen der Mechanik wie das Trägheitsgesetz. Dies soll im Folgen-

162 Briefe an eine dt. Prinzessin, S. 76. Obwohl Brief 71 Parallelen zum newtonschen Scholion zeigt, fehlt eine Argumentation vergleichbar mit dem Eimerexperiment. Ebenso argumentiert Euler generell nicht mit der Erklärungsnotwendigkeit von Fliehkräften. Vgl. Pulte 2005b, sowie 3.3.4. 163 Vgl. Principia, S. 414. Descartes war hinsichtlich Aussagen zur Bewegung der Himmelskörper nach der Verurteilung Galileis durch die Inquisition sehr vorsichtig. Siehe hierzu z. B. Stein 2002, S. 258–259, man vgl. auch Luthers Urteil zu Kopernikus (für eine richtige Einordnung der Aussagen Luthers vgl. Kleinert 2003). Er half sich durch eine Bewegungskonzeption, in der er die Erde als wahrhaft zum sie umgebenden Äther ruhen ließ. Vgl. Principia philosophiae, S. 73. Newton umgeht dieses Problem, indem er Bewegungen der Himmelskörper, die in der Bibel genannt werden, als bloß relativ auffasst. Vgl. hierzu Janiak 2012a. Die Passage, die Newton vor Augen hat, ist wahrscheinlich Josua 10, 12–13. Sowohl Newton als auch Euler wollen Bewegungen in der Heiligen Schrift als relative Bewegungen auffassen. Demnach wird in der Bewegungskonzeption von Descartes über Newton hin zu Euler auch eine Entwicklung im Verhältnis der Naturwissenschaft zur Autorität der Bibel deutlich, die hier nur skizziert werden kann. 164 Briefe an eine dt. Prinzessin, S. 104.

114

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

den untersucht werden. Euler unterscheidet, beeinflusst durch Descartes,165 stets zwischen Bewegung und Ruhe. Deshalb findet sich das Trägheitsgesetz bei ihm auch in zweifacher Ausführung:166 einmal für absolut ruhende und einmal für absolut bewegte Körper. Er schreibt: Ein absolut ruhender Körper wird beständig in Ruhe verharren, wenn er nicht durch eine äussere Ursache zur Bewegung angetrieben wird.167

und: Ein mit absoluter Bewegung begabter Körper wird einen geradlinigen Weg beschreiben.168

Die Unterscheidung zwischen Ruhe und Bewegung bei Euler ist als ein Verlust von Schärfe gegenüber der newtonschen Mechanik interpretiert worden; so etwa von Timerding.169 Ihm zufolge führt Newton den absoluten Raum ein, um den darauf folgenden Bewegungsgesetzen einen Sinn zu verleihen.170 Da diese Aufgabe jedoch auch von geradlinig-gleichförmig bewegten Bezugssystemen erfüllt werden kann, handelt es sich nach Timerding beim absoluten Raum um eine Definition, die erst festlegt, ob ein Körper ruhe oder sich bewege. Deshalb formuliert Newton laut Timerding auch nur ein Trägheitsgesetz. Demgegenüber schreibt er zu Eulers zweigeteiltem Trägheitsgesetz: Wenn Euler von dieser Auffassung abgeht, so liegt darin ein gewisses Nachlassen an logischer Genauigkeit.171

Wie ich im Folgenden gegen Timerding zeigen werde, ist diese Auffasung falsch. So bilden Eulers Überlegungen zum Trägheitsgesetz einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der Mechanik, wobei Euler in entscheidenden Punkten über Newton hinausgeht. Seine Argumente sind von großer Bedeutung für die Entmetaphysierung der Mechanik. Oben wurde gezeigt, dass sich bei Euler zwei Trägheitsgesetze finden. Er fasst die beiden Gesetze jedoch zu einem zusammen. Er sieht in der Trägheit eine Körpereigenschaft und formuliert dafür das Gesetz erneut. Die Materieeigenschaft der Trägheit führt dazu, dass ein Körper im Zustand der wahren Bewegung oder

165 Vgl. Principia philosophiae, S. 49–50. Euler kann hinsichtlich zahlreicher grundlegender naturphilosophischer Fragen als Cartesianer bezeichnet werden. So will er Kräfte auf die direkte Wechselwirkung von Körpern (durch Stöße bzw. Druck) zurückführen. Daraus erklärt sich auch, warum Euler in den zitierten Formulierungen des Trägheitsgesetzes, anders als Newton, von Ursachen anstatt von Kräften spricht. Vgl. hierzu Pulte 1989, S. 171–172. 166 Euler selbst bemerkt diese Differenz: „Diese Gesetze über die absolute Ruhe und Bewegung haben die frühern Schriftsteller in Eines zusammengefasst. Newton stellt dasselbe in seinen Principien mit folgenden Worten auf: […].“ Mechanica, S. 23–24. 167 Mechanica, S. 21. 168 Mechanica, S. 23. 169 Vgl. Timerding 1919, S. 20. 170 Eine, wie in Kapitel 2 gegen DiSalle gezeigt wurde, nicht zulässige Verkürzung der newtonschen Raumkonzeption. 171 Timerding 1919, S. 20.

3.3 Eulers Plädoyer für einen absoluten Raum

115

Ruhe verharrt. Wahre Bewegung und Ruhe werden damit unter einen Oberbegriff zusammengefasst. Das Trägheitsgesetz findet sich daher bei Euler durchaus als nur ein Gesetz: Während ein Körper absolut entweder ruhet oder sich gleichförmig auf einer geraden Linie bewegt, sagt man, er beharre in seinem Zustand.172

Und weiter: Man kann daher die beiden angeführten Grundsätze so aussprechen, dass Körper, so weit sie durch andere nicht verhindert werden, in demselben Zustande verharren.173

Euler sieht, anders als Newton, in der Trägheit keine dem Körper inhärente Kraft, sondern eine Körpereigenschaft neben Ausdehnung und Undurchdringlichkeit.174 Man sagt bisweilen Kraft der Trägheit, weil Kraft etwas ist, was der Aenderung des Zustandes entgegenwirkt. Wenn aber die Kraft durch eine beliebige Ursache, welche den Zustand der Körper verändert, erklärt wird, so kann man sie hier keineswegs in dieser Bedeutung annehmen. Ihre Weise weicht sicher im höchsten Grade von derjenigen ab, nach welcher, wie wir künftig zeigen werden, Kräfte wirken. Damit nun hieraus keine Verwirrung hervorgehe, werden wir das Wort Kraft fortlassen und diese Eigenschaft der Körper einfach Trägheit nennen.175

Kräfte sind nach Euler die Ursache für Zustandsänderungen von Körpern. Da ein Körper aber die Eigenschaft hat, in seinem Zustand zu verharren, wenn nicht von außen auf ihn eingewirkt wird, müssen Kräfte äußere Ursachen sein. Unter dem Einfluß Descartes’ geht Euler von einer aktiven, nicht räumlichen Seele aus und von inaktiver Materie. Anders als für Newton kann es deshalb für ihn keine den Körpern inhärente Kräfte geben. Aus diesem Grund wird aus der Trägheitskraft die Eigenschaft der Trägheit, d. h. es kommt zu einer Entontologisierung dieses Prinzips. Die Trägheitskraft ist beim jungen Newton noch an die Bewegung gekoppelt.176 Demgegenüber wird die Trägheit bei Euler in die Eigenschaften des Körpers verlegt.177 Vor einem größeren historischen Hintergrund der Entwicklung der Mechanik kommt es hier also zu einem wichtigen Entwicklungsschritt:178 Bei Newton finden sich noch Überreste der Impetustheorie, die sich ihrerseits bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt. Demgegenüber wird bei Euler durch den Verzicht auf eine wirkende Kraft die geradlinige-gleichförmige Bewegung als Normalzustand etabliert. Dabei gewinnt das Trägheitsgesetz zunehmend

172 173 174 175

Theoria Motus, S. 41. Theoria Motus, S. 41. Vgl. Briefe an eine dt. Prinzessin, S. 74–77. Theoria Motus, S. 43. In den Gedanken von den Elementen der Körper spricht Euler hingegen von einer Trägheitskraft (vgl. Ged. v. d. Elementen der Körper, S. 355–358), was darin begründet sein kann, dass diese Schrift von Euler unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde. 176 Vgl. z. B. Kutschmann 1983, S. 16–37. 177 Vgl. Pulte 2005b. 178 Vgl. Wolff 1978, insbesondere S. 313–345.

116

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

axiomatischen Charakter: Während es in der Mechanica noch vom absoluten Raum ausgehend bewiesen179 wurde, wird es in den Reflexionen über Raum und Zeit zum schlagenden Argument für den Raum und in der Theoria Motus nur noch erläutert. Dort schreibt Euler: Man pflegt diesen Grundsatz in Betreff jedes beliebigen Körpers auszusprechen und er scheint von selbst so einleuchtend zu sein, dass er keines Beweises bedarf.180

Die darauf folgenden Erläuterungen dieses Gesetzes werden nach Euler nur angeführt, damit man „seine Kraft noch deutlicher einsehe […].“181 Timerding hat also Unrecht, wenn er Euler einen ‚Verlust an Genauigkeit‘ attestiert. Das Gegenteil ist der Fall: Eulers Ausarbeitungen zum Trägheitsgesetz und seine Kritik der Trägheitskraft sind ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Mechanik. Seine Raum- und Trägheitskonzeptionen sind für die Entwicklung der Physik von großer Bedeutung. Es kommt zu einer Entmetaphysierung und Entontologisierung der grundlegenden mechanischen Prinzipien. Ebenso findet eine Veränderung im Verhältnis von Raum und Trägheitsgesetz statt. Während dem Raum bei Newton die grundlegendere Bedeutung zukommt, erhält das Trägheitsgesetz bei Euler methodologisches Primat und rechtfertigt die zu wählende Raumtheorie. Dieses Verhältnis von absolutem Raum und Bewegungsgesetz wird von Kant aufgegriffen und weiter entwickelt.

3.3.5 Systematische Beurteilung der eulerschen Diskussion des absoluten Raumes Ein Hauptproblem der behandelten Kritiker des absoluten Raumes ist, dass ihre Gegenkonzeptionen bloße Skizzen bleiben. Selbst bei wohlwollenden Rekonstruktionsversuchen genügen sie nicht der Dynamik der klassischen Mechanik. Für den newtonschen Raum, bei aller metaphysischen Aufgeladenheit und bei aller berechtigten epistemologischen Kritik, spricht also, dass er innerhalb der Mechanik eine Aufgabe übernimmt, die die Gegenkonzeptionen Leibniz’ und Berkeleys nicht zu lösen vermögen. Es mag sein, dass die von Mach aufgegriffene berkeleysche Fixsternkonzeption als Heuristik Einstein viel später unschätzbare Dienste leistete und dass der Satz vom hinreichenden Grund in den aktuellen Debatten der Philosophie der Physik von großer Bedeutung ist. Nichtsdestotrotz bleiben beide Denker hinter ihrem eigenen Anspruch zurück, eine klare und hinreichende Ersatzkonzeption zum newtonschen Raum zu liefern. Dies ist auch Eulers Punkt: Wenn die Mechanik eines absoluten Raumes bedarf und die ‚Metaphysiker‘ sich außer Stande zeigen, eine adäquate Gegenkonzeption zu liefern,

179 Es herrscht nach Euler im unendlichen leeren Raum kein (hinreichender) Grund, warum sich ein Körper mehr nach der einen als nach der anderen Seite hin bewegen soll. Siehe hierzu Mechanica, S. 21 und 23. 180 Theoria Motus, S. 38. 181 Theoria Motus, S. 38.

3.3 Eulers Plädoyer für einen absoluten Raum

117

dann muss ein solcher Raum angenommen werden. Euler versucht die Kritiker des absoluten Raumes dabei nicht auf dem Feld der philosophischen Spekulationen, sondern anhand der faktisch etablierten Mechanik zu schlagen. Cassirer nennt die eulersche Lehre daher zu Recht „die philosophische Mündigkeitserklärung der neuen mathematischen Wissenschaft […].“182 Deshalb lässt sich mit Bezug auf die systematische Fragestellung dieser Arbeit sagen, dass Euler die Autorität, auf der die Evidenz der Wissenschaft basiert, in die Wissenschaft selbst verlegt, ohne auf eine externe metaphysische Autorität zu bauen, wie es noch Newton tat.183 Diese Entwicklung ist wegweisend mit Blick auf die moderne Wissenschaftskonzeption, wobei betont werden muss, dass seine Lehre in anderen Punkten immernoch in der klassischen Wissenschaftskonzeption angesiedelt werden muss. So ist Euler noch immer Vertreter eines Prinzipiencertismus, da er bspw. dem Trägheitsgesetz nicht den Status einer Hypothese, sondern eines unumstößlichen Gesetzes zugedenkt.184 Ausgehend von den aufgezeigten Tendenzen müssen Eulers Überlegungen jedoch in mehreren Punkten als wegweisende Prioritäts- bzw. Autoritätsverschiebung gewertet werden. Das gilt sowohl für die wissenschaftsinterne Entwicklung als auch für das Verhältnis der Mechanik zur externen Autorität. Wie deutlich wurde, handelt es sich bei Berkeley und Leibniz um zwei Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption, die den absoluten Raum von ihren metaphysisch-theologischen Überlegungen ausgehend angreifen. Den Ausgangspunkt ihrer Attacke bildet ein Konflikt zwischen ihren metaphysischen Systemen und dem absoluten Raum. Demgegenüber geht die Deutungshoheit hinsichtlich den Grundlagenfragen der Mechanik bei Euler von den ‚Metaphysikern‘ zu den ‚Messkünstlern‘ über. Wenn sich die metaphysischen Prinzipen Leibniz’ und Berkeleys nicht in Einklang mit dem absoluten Raum bringen lassen, liegt das Problem in ihrer Philosophie und nicht bei den Vertretern der mathematischen Naturphilosophie. Euler schreibt zu Beginn seiner Reflexionen über Raum und Zeit mit Bezug auf das Verhältnis von Naturwissenschaft und Metaphysik: Die ersten Begriffe, so wir uns von Dingen ausser uns machen, sind gemeiniglich so dunkel und so unbestimmt, daß es sehr gefährlich ist, Schlüsse daraus zu ziehen, darauf man sich gewiß verlassen könnte. Es ist dannenhero allezeit ein grosser Vortheil, wenn man schon anders woher einige Schlüsse weis, und zwar solche, wohin die ersten Gründe der Metaphysik abzielen müssen, und das werden eben die Schlüsse seyn, darnach man die ersten Begriffe der Metaphysik richten und bestimmen mus.185

Die Naturwissenschaft erhält hier gegenüber der Metaphysik eine anleitende Funktion186 und gibt ihr die Ziele ihrer Forschung vor. Euler wurde philosophisch unterschätzt. Vorgreifend lassen sich jedoch in seinen Überlegungen Parallelen

182 183 184 185 186

Cassirer 1999, S. 477. Vgl. Pulte 2005b. Vgl. Pulte 1989, S. 176. Reflexionen über Raum und Zeit, S. 2–3. Euler spricht von einem „Wegweiser […].“ Reflexionen über Raum und Zeit, S. 2.

118

3 Zentrale Kritiker in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

zum Denken Kants aufzeigen. Wissenschaft ist ein Faktum. Unter Anleitung dieses Faktums kann aber eine Philosophie entwickelt werden. Den Erfolg der reinen Naturwissenschaft und der Mathematik zu erklären, bildet dabei den ‚Probierstein‘ des kantischen Systems. Der Raum, wie ihn die Mechanik voraussetzt, mag nach den bisherigen metaphysischen Systemen nicht einsichtig sein, deshalb bedarf es einer neuen Metaphysik, die mit Blick auf die Grundlagen der Mechanik entwickelt wird und deren Gültigkeit sich eben daran erweist, dass sie die Frage ‚Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?‘187 beantworten kann. Die Metaphysik muss daher die Implikationen der Grundkonzepte der Mechanik untersuchen, ohne ihre systematische Notwendigkeit anzuzweifeln. Dabei kann die Naturwissenschaft jedoch der Philosophie die anzustrebenden Ergebnisse aufzeigen. Naturwissenschaft entwickelt sich damit zum ‚Probierstein‘ der Metaphysik. Es handelt sich hier um eine weitreichende Prioritäten- und Autoritätenverschiebung. Diese geht einher mit einer Ablösung einer religiösen Rechtfertigungsinstanz: Die Absicherung des Raumes anhand einer externen Instanz, im Sinne eines raumkonstituierenden Gottes, fällt bei Euler weg.188 Während Newton physikalische und metaphysisch-theologische Argumente für den absoluten Raum vorbrachte, stützt sich Euler in seinen Überlegungen gänzlich auf das Trägheitsgesetz. D. h. die metaphysisch-theologische Seite des Raumes fällt bei Euler vollkommen weg. Dies muss als Resultat der Angriffe durch die ‚Metaphysiker‘ gesehen werden. Euler lässt die metaphysische Seite des Raumes nicht deshalb fallen, weil ihn die Argumente Leibniz’ und Berkeleys überzeugt hätten. Der Grund ist vielmehr das wachsende Selbstbewusstsein der mathematischen Naturphilosophie. Euler rechtfertigt den absoluten Raum über das Trägheitsgesetz. Beide Konzeptionen durchlaufen dabei von Newton zu Euler einen Prozess der Reinigung von ontologischem und metaphysischem ‚Ballast‘. Grundlegende ontologische Zuschreibungen, wie sie sich bei Newton noch fanden, fallen weg, obwohl dem Raum nach wie vor ein Sonderstatus zugeschrieben wird. Dabei arbeitet er die Probleme, die die Raumkonzeption umgeben, klar heraus.

187 Vgl. Prol, AA 04, S. 280 oder KrV B 20. So bemerkt Kant zu Naturwissenschaft und Mathematik: „Von diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl geziemend fragen: wie sie möglich sind; denn daß sie möglich sein müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen. Was aber die Metaphysik betrifft, so muß ihr bisheriger schlechter Fortgang, und weil man von keiner einzigen bisher vorgetragenen, was ihren wesentlichen Zweck angeht, sagen kann, sie sei wirklich vorhanden, einen jeden mit Grunde an ihrer Möglichkeit zweifeln lassen.“ KrV B 20–21. Man vgl. zur Naturwissenschaft auch die Fußzeile in KrV B 21 mit Blick auf die MAN. 188 Die systematische Trias (Gott/Vernunft, Raum, Gravitation) kann auf Euler nicht angewendet werden, da er unter dem Einfluss Descartes die Gravitation nicht als eine Grundkraft ansieht. Obwohl er von der Gültigkeit des Gravitationsgesetzes ausgeht, wendet er sich gegen die Vorstellung, dass diese Kraft durch den leeren Raum wirkt und geht davon aus, dass diese Kraft letztlich auf die Wirkung eines Äthers zurückgeführt werden muss. Vgl. Briefe an eine dt. Prinzessin, S. 84-85.

3.3 Eulers Plädoyer für einen absoluten Raum

119

Speiser hat Recht, wenn er Eulers Anforderungen an die Philosophie als eine Art Arbeitsauftrag liest. Er schreibt mit Bezug auf Eulers ambivalente Behandlung des absoluten Raumes in der zweiten Mechanik: Das klingt wie ein Programm für die zukünftige Philosophie, und wir werden später noch ähnliches finden. Wo für die Zeitgenössischen Gelehrten die höheren Fragen schon gelöst schienen, sieht Euler lauter Probleme. Darum wirkten seine Arbeiten und namentlich diese Briefe [an eine deutsche Prinzessin] so enorm anregend auf die kommenden Philosophen, zunächst vor allem auf Kant. 189

Friedman urteilt hinsichtlich des kantischen Newtonianismus treffend: Much of Kant’s philosophical development can be understood, I think, as a continuous attempt—an attempt faced with a succession of more and more fundamental problems—to construct just such an apparently paradoxical reconciliation of Newtonian and LeibnizeanWolffian ideas, and to construct thereby a genuine metaphysical foundation for Newtonian natural philosophy.190

Beide Thesen lassen sich verbinden, indem wichtige Teile der theoretischen Philosophie Kants aus der Absicht heraus verstanden werden können, den ‚eulerschen Arbeitsauftrag‘ durch eine tiefgehende und weitreichende ‚kopernikanische Wende‘ der Philosophie zu erfüllen.

189 Speiser 1986, S. XXX. Vgl. hierzu auch Cassirers sehr kantische Lesart der Passage in Cassirer 1999, S. 484–486. 190 Friedman 1992, S. 4.

4 KANTS RAUMKONZEPTION Im vorangegangenen Kapitel wurde die Rezeption des absoluten Raumes in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts untersucht. Es ist deutlich geworden, dass Newtons Raumkonzeption, zumindest zum Teil, für die Physik notwendig ist. So benötigt die Mechanik eine Klasse von augezeichneten Bezugssystemen. Dabei steht der absolute Raum jedoch im Konflikt mit den bestehenden philosophischen Systemen. Wie Euler aufzeigt, gelingt es Leibniz und Berkeley nicht, die Grundlagen der Mechanik, wie das Trägheitsgesetz, relationalistisch zu erklären. Von diesen Ergebnissen ausgehend sollen nun Kants Überlegungen zur Raumproblematik analysiert werden. Kant beschäftigte sich sein Leben lang intensiv mit Fragen der Naturphilosophie.1 Dabei kommt dem Werk Newtons eine besondere Bedeutung zu. Die Principia haben für Kants Wissenschaftsverständnis eine paradigmatische Bedeutung. Sie sind darin nur mit der Rolle der Elemente Euklids für die Geometrie vergleichbar.2 Kant kann hinsichtlich seiner Bewunderung für das Werk Newtons als Newtonianer gelten. Dabei müssen jedoch zwei Ebenen unterschieden werden: Zum einen die Ebene der physikalisch-mathematischen Gesetze, die Kant weitestgehend anerkennt, und zum anderen die Ebene des metaphysischen Unterbaus, den er zu revidieren sucht.3 Dies kann am Beispiel der vorkritischen Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels verdeutlicht werden. In diesem Werk entwickelt er ausgehend von den Gesetzen der newtonschen Mechanik eine Kosmogonie. Nach seinem eigenen Verständnis bricht Kant dabei nicht mit der Physik Newtons, sondern führt sie zu Ende. Dies wird schon durch den vollen Titel Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt4 deutlich. Kant geht also von den physikalischen Gesetzen der newtonschen Principia aus. Indem er jedoch den mechanischen Ursprung der Welt anhand der newtonschen Grundsätze aufzufinden sucht, geht er über Newtons Projekt deutlich hinaus. Er schreibt:

1 2 3 4

Vgl. Friedman 1992, S. XI, sowie Friedman 2004, S. VII. Vgl. Friedman 1992, S. XI. Dies wird auch von Watkins gesehen, der Kants vorkritische Position sowohl als Newtonianismus als auch als Antinewtonianismus identifiziert. Vgl. hierzu Watkins 2013, S. 437. Siehe NTH, AA 01, 215.

4.1 Der Weg zur kritischen Raumlehre

121

Wenn es gleich wahr ist, wird man sagen, daß Gott in die Kräfte der Natur eine geheime Kunst gelegt hat, sich aus dem Chaos von selber zu einer vollkommenen Weltverfassung auszubilden […].5

Diese Haltung ist nicht newtonsch im Sinne der metaphysisch-theologischen Grundlegung der Mechanik. So glaubt Newton, dass Gott immer wieder in den Lauf der Welt eingreift. Die Natur ordnet sich ihm zufolge nicht nach ihren eigenen Gesetzen selbst, sondern es bedarf der Intervention eines allmächtigen Wesens. Das wurde ausführlich von Leibniz kritisiert, nach dem Newtons Haltung mit der Vollkommenheit Gottes im Konflikt steht.6 Nach Leibniz muss Gott nicht immer wieder in seine eigene Schöpfung eingreifen. Kant vertritt demnach hier einen durch Leibniz und nicht durch Newton beeinflussten Standpunkt. Er ist dabei dennoch insofern Newtonianer, als er die Gültigkeit der mathematischphysikalischen Gesetze der Principia weitgehend anerkennt,7 ihr metaphysischtheologisches Fundament jedoch einer philosophischen Kritik unterzieht. Er übernimmt die newtonschen Naturgesetze und Konzeptionen, aber interpretiert sie philosophisch um. Von zunehmend wichtiger und schließlich entscheidender Bedeutung für Kants Auseinandersetzung mit dem Werk Newtons ist dabei der absolute Raum. Beeinflusst durch seine Vorgänger, sieht Kant in ihm auf der einen Seite ein metaphysisches Unding, auf der anderen Seite aber, ab einem bestimmten Zeitpunkt, eine Konzeption, auf die nicht verzichtet werden kann. Wie ich zeigen werde, können dabei weite Teile der Entwicklung Kants aus dem Versuch heraus verstanden werden, den absoluten Raum aus einer leibnizsch-wolffsch geprägten, später kritischen Metaphysik heraus zu läutern und neu zu deuten.8 Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, werde ich in diesem Kapitel chronologisch vorgehen. Mit Blick auf die Leitfragen der Arbeit werde ich dabei immer wieder auf die Trias aus Gott/Vernunft, Raum und Gravitation zurückgreifen. Ziel ist es dabei, Kants Rezeption zentraler Gedanken seiner Vorgänger herauszuarbeiten. Die große Wichtigkeit Newtons für das kantische Werk ist in den letzten Jahren von Friedman herausgearbeitet worden. Friedman neigt durch seine affirmative Lesart jedoch z. T. dazu, Kant stark newtonisch zu deuten. Die jüngere Forschung versucht daher, ein differenzierteres Bild der kantischen Naturphilosophie zu zeichnen. Es gibt in der Kantforschung jedoch Tendenzen, systematische und historische Herangehensweisen zu verknüpfen und fundamentale Probleme der kantischen Lehre zu beschönigen. Demgegenüber ist es mein Ziel, Kants Raumund Bewegungslehre als Teil einer Problementwicklung zu sehen. Es soll heraus-

5 6

7 8

NTH, AA 01, 229. Man vgl. bspw. nur Clarkes Bemerkung zu einem immerwährenden Eingreifen Gottes in das Naturgeschehen im Briefwechsel mit Leibniz. Z. B. Leibniz–Clarke, S. 154, Clarke V, §§ 107–109. Hinsichtlich Kants marginaler Kritik der physikalischen Prinzipien Newtons vgl. Watkins 2013. Vgl. hierzu die Anmerkung Friedmans zur Entwicklung der kantischen Naturphilosophie in Friedman 1992, S. 4.

122

4 Kants Raumkonzeption

gearbeitet werden, wie zum einen Überlegungen Newtons das kantische Denken beeinflussen und wie zum anderen Kant Probleme Newtons durch seine eigene Philosophie zu lösen versucht. 9 Diese Arbeit geht dabei davon aus, dass es keine eindeutige Lösung zur Raumfrage bei Kant gibt. Vielmehr gilt es, die unterschiedlichen Tendenzen seiner Raumkonzeption aufzudecken und als historisch bedingte Lösungsansätze ihrer Zeit zu lesen. Insbesondere das Verhältnis vom Raum als Anschauungsform und vom Raum als Idee eines absoluten Bezugssystems weist auf unüberwindbare Inhomogenitäten im kantischen System hin.10 Diese Inhomogenitäten dürfen nicht einfach beschönigt werden, sondern müssen als Teil der Problementwicklung wahrgenommen werden. Gerade eine solche Herangehensweise ermöglicht die Wertschätzung der friesschen Überarbeitung der kantischen Philosophie.11 Zunächst wird die Genese der Raumkonzeption der vorkritischen Phase untersucht. Dabei wird Kant zum einen ins Verhältnis zu seinen Vorgängern12 gesetzt und zum anderen werden zahlreiche Überlegungen der später behandelten kritischen Phase in ihrer Entwicklung aufgezeigt (4.1). Im Abschnitt zur kritischen Philosophie, der auch quantitativ den Schwerpunkt des Kapitels bildet, werden die Raumkonzeptionen der KrV und der MAN analysiert (4.2). Zuletzt sollen die erarbeiteten Ergebnisse unter systematischen Gesichtspunkten zusammengefasst und interpretiert werden (4.3).

9

Dies gehört zum Standard jeder historischen Untersuchung, wird aber besonders in der Kantforschung immer wieder übersehen. Exemplarisch sei hier nur auf Schöneckers kommentarische Kantinterpretation verwiesen. So sehr sich der Kantforscher auch wünschen mag, es beim Werk Kants mit einem Stück ‚aus einem Guss‘ zu tun zu haben, ist es für das Kantverständnis doch zentral zu akzeptieren, dass sein Werk von Zweideutigkeiten und unterschiedlichen Tendenzen durchzogen ist, er sich nicht immer eindeutig ausdrückt und es auf die unterschiedlichsten Fragen an seine Philosophie eben keine eindeutige Antwort gibt. Dies muss angemerkt werden, da es insbesondere unter Kantexegeten immer wieder Tendenzen zur ‚Rettung‘ Kants gibt. 10 Vgl. hierzu Abschnitt 4.2.2.7. 11 Vgl. hierzu Pulte 1999a. 12 Dafür soll kurz geklärt werden, welche Werke seiner Vorgänger Kant rezipiert hat: Kant war in Besitz einer Ausgabe der lateinischen Optik und eines illegalen Nachdrucks der zweiten Auflage der Principia. Vgl. Warda 1922, S. 35 und Pollok 1997, S. 128. Mit den Schriften Leibniz’ war er vor allem durch die Philosophie Wolffs vertraut. Demgegenüber kannte er die Werke Berkeleys nicht aus erster Hand. Vgl. hierzu meine Diskussion in 4.2.1.2. Von den relevanten Veröffentlichungen Eulers war er in Besitz der Mechanica. Vgl. Warda 1922, S. 34. Ebenso verweist Kant in seinen Schriften auf die Reflexionen über Raum und Zeit (GUGR, AA 02, 378) und die Briefe an eine dt. Prinzessin (z. B. MSI AA 02, 414). Hinsichtlich der Theoria Motus ist unklar, inwieweit Kant sie gelesen hat. Zudem lässt sich der Zeitraum abschätzen, in dem er beide erstgenannten Schriften Eulers studierte: Mit der Mechanica beschäftigte er sich spätestens 1758, jedoch nicht vor 1749. Mit den Reflexionen über Raum und Zeit 1768 oder kurz vorher. Vgl. hierzu auch Pollok 2000, S. 385 sowie 4.1.4.

4.1 Der Weg zur kritischen Raumlehre

123

4.1 DER WEG ZUR KRITISCHEN RAUMLEHRE Die wirkungsmächtigsten Gedanken Kants zur Natur des Raumes befinden sich in der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft und in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft. Darin greift er jedoch auf Argumente zurück, die von ihm mitunter 40 Jahre zuvor in der vorkritischen Phase entwickelt wurden. Diese vorkritische Phase ist von einer intensiven Auseinandersetzung mit naturphilosophischen Fragen dominiert. Um die kritische Raumlehre Kants zu analysieren, ist es deshalb unumgänglich, einen Blick in seine vorkritischen Werke zu werfen. Da die naturphilosophische und erkenntnistheoretische Bedeutung des Raumes im Fokus dieser Arbeit steht, sollen hier die vorkritischen Schriften Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (4.1.1), Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (4.1.2), Nova dilucidatio (4.1.3), Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (4.1.4) und Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum (4.1.5) mit Blick auf die jeweilige Raumlehre untersucht werden.1 Daraufhin erfolgt eine kurze Skizze zur Rolle des Raumes beim Übergang in die kritische Phase (4.1.6), um schließlich die erarbeiteten Ergebnisse kurz zusammenzufassen (4.1.7).

4.1.1 Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746) Das achtzehnte Jahrhundert wurde bereits zu Beginn des dritten Kapitels als eine Zeit der philosophischen und wissenschaftlichen Kontroversen um die Grundlagen der Mechanik beschrieben. Eine dieser Kontroversen ist die Debatte um das richtige Kraftmaß. Sie begann 1686 mit einer gegen Descartes gerichteten Schrift Leibniz’ und reicht bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein. Leibniz sah in der vis viva, d. h. im Produkt aus der Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit eine Erhaltungsgröße. Demgegenüber plädierten die Cartesianer für das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit als Kraftmaß.2 Mit den Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte mischt sich Kant in diese Diskussion ein. Sein Lösungsvorschlag wird von den Forschern seiner Zeit kaum beachtet und später verwirft er zahlreiche Überlegungen. Die Schrift ist jedoch für diese Untersuchung interessant, da Kant hier die Form der Attraktion mit der Dimensionalität

1

2

Dabei muss betont werden, dass diese Auswahl vorkritischer Schriften kein Gesamtbild liefern kann und soll. So sind z. B. auch das Werk „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ und die „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral“ für Kants spätere Raumkonzeption von Bedeutung. Sie können jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt werden. Daraus entwickelt sich schlussendlich die Unterscheidung zwischen Energie– und Impulserhaltung.

124

4 Kants Raumkonzeption

des Raumes in einen Zusammenhang zu bringen versucht. Diese Verbindung von Raum und Attraktion wird von ihm in abweichender Form in zahlreichen späteren Schriften aufgegriffen, weshalb sie hier untersucht werden soll. Hinsichtlich der Raumkonzeption nimmt Kant bereits in seiner ersten Schrift eine kritische Distanz zur Lehre Leibniz’ ein.3 Auch wenn er klar durch die rationalistische Schulphilosophie beeinflusst ist, geht er doch über sie hinaus. Er schreibt: Es ist leicht zu erweisen, daß kein Raum und keine Ausdehnung sein würden, wenn die Substanzen keine Kraft hätten, außer sich zu wirken. Denn ohne diese Kraft ist keine Verbindung, ohne diese keine Ordnung, und ohne diese endlich kein Raum.4

Wie bereits im zweiten Kapitel klar wurde, hatte Newton Schwierigkeiten, die Wirkung der Gravitation durch den leeren Raum zu erklären. Diese Probleme wurden auch von seinen Nachfolgern gesehen. So erkennt bspw. Euler das Gravitationsgesetz an, versucht die Wirkung der Gravitation jedoch, geprägt durch Descartes, auf einen Äther zurückzuführen. Kant versucht diese Schwierigkeiten zu lösen, indem er der Gravitation eine tieferliegende Bedeutung zu geben sucht. Wie deutlich wurde, sah Leibniz im Raum die Gesamtheit der Substanzen.5 Demgegenüber ist nach Kant zusätzlich noch die Wechselwirkung der Substanzen notwendig. Erst dadurch werden die Substanzen miteinander verbunden und es entsteht der Raum.6 Die Kraft, durch die Substanzen aufeinander wirken, ist die Gravitation. Kant versucht demnach, die leibnizsche Raumkonzeption mit der newtonschen Gravitationstheorie zu verbinden. Die Gravitation wirkt in Abhängigkeit vom Abstand zwischen den Substanzen. Da der Raum selber nun die „Sammlung“7 der aufeinander wirkenden Substanzen ist, führen unterschiedliche Formen des Gravitationsgesetzes zu verschieden dimensionierten Räumen.8 Wirkt die Kraft proportional zu r  2 , dann entsteht ein dreidimensionaler Raum. Dabei unterliegt der Exponent im Abstand des

3 4 5 6 7 8

Vgl. Kühn 2007, S. 197. GSK, AA 01, S. 23. Vgl. 3.1.2. Ich folge hier Riehl 1876, S. 237. GSK, AA 01, S. 24. Kants Gedanke ist, dass sich die Kraft, von der Substanz ausgehend, im Raum ausbreitet. Je weiter sich die Kraft von der Substanz entfernt, um so schwächer wird sie, da die Kraft einen immer größeren Raum erfüllen muss. Die Kraft wird deshalb antiproportional zur Oberfläche einer Kugel mit der Substanz als Mittelpunkt kleiner. Diese Argumentation übernimmt Kant von dem Newtonianer John Keill. Vgl. dazu Friedman 1992, S. 195. Kant erweitert sie jedoch auf andere Dimensionen bzw. andere Formen der Gravitation. Die Struktur des Kraftgesetzes überträgt sich also auf die Dimensionalität des Raumes. Für eine Attraktionskraft proportional zu r-n würde ein Raum mit n+1 Dimensionen entstehen. Im Fall n=1 würde bspw. ein zweidimensionaler Raum entstehen:

4.1 Der Weg zur kritischen Raumlehre

125

Kraftgesetzes einer göttlichen Setzung.9 Je nach dem, wie Gott das Gravitationsgesetz wählt, entsteht eine anders dimensionierte Welt.10 Mehrere getrennte Welten mit gleicher Dimension würden dabei der Vollkommenheit der Schöpfung widersprechen. Da Welten unterschiedlicher Dimension jedoch nicht in Verbindung zueinander stehen können, steht ihre Koexistenz nicht mit der Vollkommenheit im Konflikt, sondern fördert sie. Abschließend schreibt Kant: Diese Gedanken können der Entwurf zu einer Betrachtung sein, die ich mir vorbehalte. Ich kann aber nicht leugnen, daß ich sie so mittheile, wie sie mir beifallen, ohne ihnen durch eine längere Untersuchung ihre Gewißheit zu verschaffen. Ich bin daher bereit, sie wieder zu verwerfen, so bald ein reiferes Urtheil mir die Schwäche derselben aufdecken wird.11

Die Überlegungen zu unterschiedlich dimensionierten Räumen bzw. Welten werden in Kants Werk nicht mehr aufgegriffen. Der Grund ist sicherlich, dass sie im Konflikt mit zahlreichen seiner späteren Überlegungen stehen. Für diese Arbeit ist jedoch besonders die von Kant vorgenommene Verknüpfung zwischen Gott, Raum und Gravitation interessant. Seine Synthese aus einer leibnizsch-wolffsch geprägten Raumkonzeption und der newtonschen Gravitation führt zu dem folgenden Abhängigkeitsverhältnis:

Gott setzt die Form des Gravitationsgesetzes. Durch die Gravitation stehen die Substanzen in Verbindung, wobei der Raum als die Gesamtheit der aufeinander wirkenden Substanzen gesehen wird.12

9 Kant nennt diese Setzung „willkürlich“ (GSK, AA 01, S. 24). 10 Kant hält die Existenz von Welten mit anderen Dimensionen für „sehr wahrscheinlich“ (GSK, AA 01, S. 25). Er schreibt über die Möglichkeit, solche Welten zu erschließen: „Eine Wissenschaft von allen diesen möglichen Raumesarten wäre unfehlbar die höchste Geometrie, die ein endlicher Verstand unternehmen könnte.“ GSK, AA 01, S. 24. Hier werden Differenzen zu Kants Mathematikverständnis der kritischen Philosophie deutlich. 11 GSK, AA 01, S. 25. 12 An dieser Stelle muss etwas zum Verhältnis von Gravitation und Attraktion bei Kant gesagt werden. Wie Kant in der Dynamik der MAN klar macht, darf die Grundkraft der Attraktion nicht mit der Gravitation gleichgesetzt werden. So versucht Kant, durch die Attraktion auch andere Kräfte wie z.B. die Kohäsion zu erklären. Vgl. MAN, AA 04, 526. Da die Gravitationstheorie in dieser Arbeit lediglich hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den Konzeptionen

126

4 Kants Raumkonzeption

4.1.2 Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) Die Vorstellung, dass der Raum durch die Verbindung der Substanzen konstituiert wird, behält Kant in Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels bei: Die Anziehung ist ohne Zweifel eine eben so weit ausgedehnte Eigenschaft der Materie, als die Coexistenz, welche den Raum macht, indem sie die Substanzen durch gegenseitige Abhängigkeiten verbindet, oder, eigentlicher zu reden, die Anziehung ist eben diese allgemeine Beziehung, welche die Theile der Natur in einem Raume vereinigt: sie erstreckt sich also auf die ganze Ausdehnung desselben bis in alle Weiten ihrer Unendlichkeit.13

Diese Schrift ist jedoch nicht nur aufgrund der Verknüpfung einer relationalistischen Raumtheorie mit der newtonschen Gravitation für die vorliegende Arbeit interessant. In der NTH beschäftigt sich Kant mit kosmogonischen14 Fragen auf Basis der newtonschen Gravitationstheorie. Die hier erzielten astrophysikalischen Ergebnisse spielen für das Verständnis der ersten kosmologischen Idee und damit für den absoluten Raum der MAN15 eine zentrale Rolle.16 Wie im zweiten Kapitel gezeigt, beschränkt sich die newtonsche Kosmologie auf das Sonnensystem inklusive der Kometen. Die Fixsterne werden von ihm als tatsächlich ruhend angesehen.17 Gegen Ende von Newtons Leben wurde jedoch beobachtet, dass auch die Fixsterne sich bewegen.18 Diese Entdeckung fand allerdings keinen Eingang mehr in die letzte, wenig abgeänderte Auflage der Principia.19 Dabei hätten die Beobachtungen weitreichende Konsequenzen für die newtonsche Kosmologie und die Konzeption des absoluten Raumes haben können. Ein auf das Sonnensystem beschränktes, zum absoluten Raum ruhendes ‚System der Welt‘ hätte davon ausgehend verworfen werden müssen. Nach Newton bewegen sich die Planeten aufgrund der Wirkung der Gravitationskraft um die Sonne. Dieser Gedanke wird von Kant auf die Bewegung der Fixsterne übertragen:20

13 14 15 16

17

18 19 20

Raum und Gott untersucht wird, beschränke ich mich in meiner Darstellung auf die Gravitation, auch wenn Kant z. T. allgemeiner von der Attraktion spricht. NTH, AA 01, 308. Vgl. hierzu auch Friedman 1992, S. 7. Die NTH ist ein Werk zur Kosmogonie. Mit Blick auf die Raumfrage beschränke ich mich hier jedoch auf die Kosmologie. Vgl. 4.2.2.6. Auch wenn Kant in der kritischen Phase nicht von einem astronomischen, sondern vom transzendentalphilosophischen Standpunkt der rationalen Kosmologie aus argumentiert. Vgl. hierzu Falkenburg 2000. Vgl. 2.2.6. Kant bemerkt dazu: „[D]ie Fixsterne bekamen kein Gesetz, durch welches ihre Lagen gegen einander eingeschränkt wurden, und man sah sie alle Himmel und aller Himmel Himmel ohne Ordnung und ohne Absicht erfüllen.“ NTH, AA 01, 247–248. Vgl. Bradley 1727, Bradley 1748. Auch Berkeley geht in seinem Treatise von der Ruhe der Fixsterne aus. Vgl. Treatise, S. 141. Dabei ist Kant von einer Rezension des wrightschen Werkes An original theory or new hypothesis of the Universe beeinflusst. Vgl. Wright 1750, Anonym 1751 und Paneth 1956, S. 338 sowie NTH, AA 01, 231. Kant schreibt: „Ich kann die Grenzen nicht genau bestimmen, die

4.1 Der Weg zur kritischen Raumlehre

127

Nach dieser Vorstellung kann man das System der Fixsterne einigermaßen durch das planetische abschildern, wenn man dieses unendlich vergrößert.21

Kant erklärt die Bewegung der Fixsterne dadurch, dass sie wie die Planeten um ein Gravitationszentrum rotieren. Er dehnt also die Bedeutung und Reichweite der newtonschen Gravitation aus.22 Beobachtete „neblichte[n] Sterne“23 (heute würde man von Galaxien sprechen) werden von ihm als solche Systeme von rotierenden Fixsternen identifiziert. Systeme von Milchstraßen, so vermutet Kant, stehen wiederum in einer höheren Ordnung zueinander: Man könnte noch muthmaßen, daß eben diese höhere Weltordnungen nicht ohne Beziehung gegen einander seien und durch dieses gegenseitige Verhältniß wiederum ein noch unermeßlicheres System ausmachen.24

Weiter schreibt er: Wir sehen die ersten Glieder eines fortschreitenden Verhältnisses von Welten und Systemen, und der erste Theil dieser unendlichen Progression giebt schon zu erkennen, was man von dem Ganzen vermuthen soll. Es ist hier kein Ende, sondern ein Abgrund einer wahren Unermeßlichkeit, worin alle Fähigkeit der menschlichen Begriffe sinkt […].25

Nach Kant ist jedes Gravitationszentrum, um das Körper (Monde, Planeten, Fixsterne) kreisen, wieder Teil eines umfassenderen Gravitationszentrums – ein Gedanke, der von großer Wichtigkeit für seine spätere Transformation des absoluten Raumes zur Idee eines allumfassenden Schwerpunktsystems ist.26

4.1.3 Nova dilucidatio (1755) Die erste Veröffentlichung Kants, die sich nicht mit naturphilosophischen Fragen, sondern metaphysischen Problemen der deutschen Schulphilosophie beschäftigt, ist seine Habilitationsschrift Nova dilucidatio.27 Er greift darin in die Debatte zwischen Wolff und Crucius nach Status und Natur der grundlegenden Sätze vom Widerspruch und vom bestimmten Grund ein. Interessant ist, dass Kant dabei sei-

21 22

23 24 25 26 27

zwischen dem System des Herrn Wright und dem meinigen anzutreffen sind, und in welchen Stücken ich seinen Entwurf bloß nachgeahmet, oder weiter ausgeführt habe.“ NTH, AA 01, 232. Dass Kant sich nicht auf das Original, sondern nur auf die Rezension bezieht, hängt mit seinen fehlenden Englischkenntnissen zusammen. Hinsichtlich der Sprachkenntnisse Kants vgl. Waschkies 1987, S. 514–515. NTH, AA 01, 250. Vgl. NTH, AA 01, 250. Dabei bezieht er sich u. a. auf Bradley. Diese Erweiterung der Gravitation (d. h. der Versuch, sie sowohl als universelle als auch essentielle Eigenschaft aufzufassen) ist ein in Kants Werken stetig anzutreffendes Motiv. NTH, AA 01, 254. NTH, AA 01, 255. NTH, AA 01, 256. Vgl. Friedman 1992, S. 143. Die Schrift wird zitiert nach der Übersetzung von Bock in Kant 1968b, S. 401–509.

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4 Kants Raumkonzeption

ne Raumkonzeption der GSK weiterentwickelt.28 Diese Schrift wird in der Forschung jedoch z. T. falsch interpretiert. So urteilt bspw. Gosztonyi über Nova dilucidatio: In der Absicht, LEIBNIZsche Prinzipien mit NEWTONs Lehre zu versöhnen, versucht KANT in dieser Habilitationsschrift die Relationstheorie mit dem Gedanken des absoluten Raumes zu vereinigen.29

Wie ich zeigen werde, ist der zweite Teil dieser Charakterisierung unrichtig oder zumindest irreführend. Die von Kant vorgebrachte Raumkonzeption wird von ihm als eine ‚Anwendung‘ der zuvor formulierten Sätze gesehen. Der ‚Satz der Aufeinanderfolge‘ lautet wie folgt: Substanzen können eine Veränderung nur erfahren, sofern sie mit anderen verknüpft sind; ihre wechselseitige Abhängigkeit bestimmt die beiderseitige Veränderung des Zustandes.30

Die Veränderung der Verknüpfung kommt nur durch eine Veränderung der Relation, d. h. Bewegung zu den anderen Substanzen zustande. Ohne diese Bewegung, so Kant, könnte sich der Zustand der Substanz nicht ändern. Völlig autarke Substanzen verhalten sich also statisch.31 Darauf aufbauend, formuliert Kant den Satz des Zugleichseins: Die endlichen Substanzen stehen durch ihr bloßes Dasein in keinem Verhältnis zueinander und haben gar keine Gemeinschaft, als nur sofern sie von dem gemeinsamen Grund ihres Daseins, nämlich dem göttlichen Verstand, in wechselseitigen Beziehungen gestaltet erhalten werden.32

Davon ausgehend baut Kant seine Raumkonzeption der GSK aus:33 Weil nun Ort, Lage und Raum Verhältnisse der Substanzen sind, durch die sie sich mit wechselseitigen Bestimmungen auf andere, real von ihnen verschiedene beziehen, und auf diese Art in einer äußeren Verknüpfung befaßt sind; weil ferner aus dem Bewiesenen bekannt ist,

28 Nova dilucidatio teilt sich in drei Abschnitte. Der erste Abschnitt hat das Ziel, dem Satz vom Widerspruch die, nach Kant, fundamentaleren Sätze der Identität voranzustellen. Der zweite Abschnitt versucht, daraus den Satz vom bestimmten Grund herzuleiten. Der dritte Abschnitt führt die Sätze der Aufeinanderfolge und des Zugleichseins ein. Diese beiden ‚sehr fruchtbaren Sätze‘ (vgl. Kant 1968b, S. 489, PND AA 01, 410) und die daraus entspringende Raumkonzeption sollen hier im Mittelpunkt stehen. 29 Gosztonyi 1976, S. 403. 30 Kant 1968b, S. 489, PND, AA 01, 410. 31 „Daher ist eine einfache Substanz, die von jeder äußeren Verknüpfung frei und so sich allein überlassen ist, an sich völlig unveränderlich.“ Kant 1968b, S. 489, PND, AA 01, 410. 32 Kant 1968b, S. 497, PND, AA 01, 412–413. 33 Die Vorstellung von der Existenzmöglichkeit vieler Welten, die Kant in den GSK vertritt, wird hier aufgegriffen. Wie dort bildet die Wechselwirkung zwischen den Substanzen den Ausgangspunkt der Möglichkeit ihrer parallelen Existenz. Anders als in seiner Erstlingsschrift ist es jedoch nicht die von Gott andersartig gesetzte Form der Gravitation, die die Existenz vieler Welten ermöglicht, sondern eine durch Gottes Verstand vorgenommene Separierung der Substanzen.

4.1 Der Weg zur kritischen Raumlehre

129

daß das bloße Dasein der Substanzen für sich genommen eine Verknüpfung mit anderen nicht einschließt: so erhellt, daß aus der Setzung des Daseins mehrerer Substanzen nicht zugleich Ort, Lage und der aus diesen durchgängigen Verhältnissen gebildete Raum bestimmt sind.34

Der Raum als Gemeinschaft der Substanzen wird erst durch die Verbindung mittels des göttlichen Verstandes ermöglicht. Bloß koexistente Substanzen konstituieren noch nicht den Raum, sie müssen erst verknüpft werden. Diese Verknüpfung besteht in der Gravitation, die durch „Gott unmittelbar erhalten“35 wird. Die kontingenten Substanzen hängen also in ihrer Existenz, aber auch in ihrer Wechselwirkung von Gott als notwendigem Seiendem ab. Kants Raumkonzeption in PND beinhaltet daher ein newtonsches Element. Gegen Gosztonyi muss jedoch betont werden, dass starke Differenzen zwischen dem absoluten Raum Newtons und der kantischen Konzeption bestehen.36 Newton sieht den Raum als durch Gottes Allgegenwart konstituiert, eine Haltung, die Kant nicht teilt. Seine Raumkonzeption ist in anderer Art newtonsch und zwar insofern, als sie die Gravitation in die Raumkonstitution integriert.37 Es handelt sich somit nicht um eine Verbindung von absolutem Raum und relationalen Prinzipien, sondern um den Versuch, die newtonsche Gravitation in eine relationale Raumtheorie zu integrieren. Kant hält also, wenn auch in anderer Form am Abhängigkeitsverhältnis von Gott, Gravitation und Raum der GSK fest. Nach wie vor konstituiert sich der Raum anhand der Gravitation, durch die die Substanzen in Verbindung stehen, wobei die Gravitation durch Gott hervorgebracht wird.38 34 Kant 1968b, S. 501, PND, AA 01, 414. 35 Kant 1968b, S. 505, PND, AA 01, 415. Kant lehnt sich somit an Newtons Haltung zur Wirkung der Gravitation an. Siehe 2.3.2. 36 Auch Jammer verkennt dies, wenn er behauptet, dass der Raum in den PND nach Kant „ein unabhängig Existierendes mit absoluter Realität im Newtonschen Sinne“ sei. Jammer 1960, S. 142. Dies wird richtig von Unruh gesehen. Vgl. hierzu Unruh 2007, S. 49. 37 Friedman formuliert ebenfalls nicht ganz treffend, wenn er schreibt: “In this way the Leibnizean–Wolffian doctrine of space as a phenomenon derived from the order of non–spatial and is transmuted into the Newtonian doctrine of divine omnipresence.“ Friedman 1992, S. 7. Dies ist missverständlich. So weicht Kant in zwei entscheidenden Punkten von der Position Newtons ab. Erstens erwähnt er in einigen vorkritischen Passagen die Omnipräsenz Gottes (in den PND tut er das nicht). Es ist jedoch, anders als bei Newton, nicht die Allgegenwart Gottes, die den Raum konstituiert. Der Raum wird bei Kant durch die in Verbindung stehenden Substanzen gebildet, wobei die Verbindung selber erst durch Gott ermöglich wird. Die kontingenten Substanzen hängen dabei als bloß möglich vom notwendigen Gott ab, werden jedoch nicht, wie bei Newton, durch die Auszeichnung bestimmter Raumteile mit Eigenschaften gebildet. Zweitens ist die Wirkung der Gravitation und ihre Kopplung an Gott in Kants Konzeption eine andere, als bei Newton, auch wenn seine Position in den PND klar durch ihn beeinflusst ist. So werden nach Kant zwei Substanzen durch göttlichen Verstand verknüpft. Die Wirkung selber erfolgt daher nicht durch Gott als Medium wie bei Newton. Vielmehr ist es „[d]as Schema des göttlichen Verstandes“ (Kant 1968b, S. 501, PND AA 01, 414), das die Substanzen in Beziehung setzt und durch das sie einander anziehen. 38 Eine andere wichtige Bemerkung Kants findet sich in seiner Besprechung des Satzes vom bestimmten Grund, am Ende von Abschnitt zwei. Kant kommt in dieser Passage (PND, AA 01, 408–410) auf die von Leibniz angenommene Identität des Ununterscheidbaren zu spre-

130

4 Kants Raumkonzeption

4.1.4 Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (1758) In den bisher analysierten Schriften sah Kant im Raum die Verbindung der Substanzen. Dabei versuchte er, zwischen einer leibnizsch-wolffsch geprägten Raumkonzeption und der newtonschen Gravitation zu vermitteln. Inwieweit sich auf einer solchen Raumkonzeption eine adäquate Bewegungslehre errichten lässt, wurde von ihm nicht behandelt. Die volle Problematik der Raumkonzeption ist ihm noch nicht bewusst geworden. Den ersten dahingehenden Schritt stellt die kurze Schrift39 Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe da. In ihr versucht Kant Probleme zu lösen, die sich aus der Kosmologie der NTH ergeben. Er scheint hier zum ersten Mal zu merken, dass den Raumkonzeptionen seiner Zeit hinsichtlich der Bewegungslehre etwas fehlt. Dies ist zum einen auf seine Überlegungen in NTH zurückzuführen, ist aber zum anderen auch durch eine erste tiefgehende Auseinandersetzung mit Euler bedingt.40 Da die Bewegungskonzeption von NLBR in den MAN wieder aufgegriffen wird, soll sie hier untersucht werden.

chen. Nach Leibniz kann es zwei ununterscheidbare Körper A und B nicht geben. Demgegenüber führt Kant an, dass die Körper A und B sich eben durch ihre Orte unterscheiden. Zwei ansonsten identische Körper A und B haben zumindest zwei unterschiedliche Orte inne, weshalb aus A B würde und umgekehrt, wenn sie ihre Plätze tauschten. Kant schreibt in seiner Aufwertung des Ortes als Unterscheidungskriterium u. a. polemisch gegen Leibniz: „Man sagt, es liege kein Grund vor, warum Gott zwei Substanzen verschiedene Örter angewiesen haben sollte, wenn sie in allem anderen vollkommen übereinstimmten. Welcher Unsinn! Ich wundere mich, daß ernsthafte Männer sich mit solchem Spielwerk von Gründen vergnügen können.“ Kant 1968b, S. 485, PND, AA 01, 409. Trotz dieser Polemik scheint sich Kant mit der Frage auch im stillen Jahrzehnt beschäftigt zu haben, wie die von Adickes im Zeitraum von 1773–1776 verorteten Reflexionen beweisen. Vgl. Refl 4710–4712, AA 17, 683. Die Differenz zwischen den Positionen Kants und derjenigen Leibniz' liegt in den unterschiedlichen Substanzkonzeptionen. Die Unterscheidbarkeit beruht bei Leibniz nicht auf dem Verhältnis zu anderen Körpern. „Die Homogenität des Raumes hat zur Folge, daß es weder einen äußeren noch einen inneren Grund für die Unterscheidung seiner Teile und für eine Wahl zwischen ihnen gibt. Ein solcher äußerer Grund für die Unterscheidung muß sich nämlich auf einen inneren Grund stützen, anderen falls würde man Ununterscheidbares unterscheiden bzw. zwischen Ununterscheidbarem auswählen.“ Leibniz–Clarke, S. 54, Leibniz’ vierter Brief, § 18. Es handelt sich somit um eine intrinsische Ununterscheidbarkeit. Demgegenüber wird der intrinsische Zustand einer Substanz nach Kant durch die Wechselwirkung mit den anderen Substanzen bestimmt. Vgl. Kant 1968b, S. 489, PND, AA 01, 410. Diese Veränderung besteht aber gerade in der Ortsveränderung. Indem Kant im Ort einen Zustand der Körper sieht, bewegt er sich bereits weg von der leibniz–wolffschen Metaphysik hin zur kritischen Philosophie. Dies wird auch gesehen durch Riehl 1876, S. 254. 39 In der Akademie-Ausgabe hat der Text lediglich einen Umfang von 13 Seiten. 40 So geht Pollok davon aus, dass Kant sich zwischen 1756 und 1758 mit Euler beschäftigte. Vgl. Pollok 2000, S. 385. Dies halte ich aufgrund der plötzlichen Umorientierung Kants hinsichtlich der Trägheitskraft für plausibel. So geht Kant in MoPh, AA 01, 485 noch von der Existenz einer Trägheitskraft aus, während er sie in NLBR, AA 02, 21–23 ablehnt. Meines Erachtens kann zumindest vor 1749 eine tiefergehende Beschäftigung mit Euler ausgeschlossen werden. So schrieb Kant einen Brief an Euler mit der Bitte um eine Beurteilung der GSK. Darin nennt er Euler „diejenige Persohn, die vor andern im Besitze sind, in dem

4.1 Der Weg zur kritischen Raumlehre

131

Bewegung wird zunächst von Kant als Ortsveränderung aufgefasst. Wenn der Ort die Lage zu einer ‚Sphäre‘, d. h. zu den umgebenden Körpern, ist, dann ändert sich die Bewegung je nach Sphäre, auf die die Bewegung bezogen wird. So mag ein Schiff zur Sphäre des Flusses ruhen, aber sich zur Sphäre des Sonnensystems bewegen. Aufgrund der Möglichkeit, die Sphären stets zu erweitern, gelangen wir nie zu einem letzten ‚wahren‘ Bewegungszustand der Körper.41 Im Hintergrund steht hier die in der NTH erarbeitete Kosmologie. Daraus zieht Kant die Konsequenz, dass sowohl die leibnizsch-wolffsche, als auch die newtonsche Bewegungskonzeption unzureichend sind: Ich soll niemals sagen: Ein Körper ruht, ohne dazu zu setzen, in Ansehung welcher Dinge er ruhe, und niemals sprechen, er bewege sich, ohne zugleich die Gegenstände zu nennen, in Ansehung deren er seine Beziehung ändert. Wenn ich mir auch gleich einen mathematischen Raum leer von allen Geschöpfen als ein Behältniß der Körper einbilden wollte, so würde mir dieses doch nicht helfen. Denn wodurch soll ich die Teile desselben und die verschiednen Plätze unterscheiden, die von nichts Körperlichem eingenommen sind.42

Da sich die Lage eines Körpers immer auf andere Sphären bezieht, ist es nicht möglich, dem Körper durch seine Lage eine eindeutige Bewegung zuzuschreiben. Aber auch der Raum selbst kann wegen seiner Homogenität kein Bezugspunkt sein. Aufgrund der andersartigen Kosmologie besteht für Kant auch nicht mehr die Möglichkeit, das Sonnensystem als ruhend zu setzen, wie Newton es noch tat. Das Sonnensystem ist für ihn nur eine Sphäre, die wieder in einer weiteren Sphäre enthalten ist. Demnach ist sowohl die leibnizsch-wolffsche als auch die newtonsche Position unzureichend. Um das Problem dennoch zu lösen, betrachtet er in NLBR zwei kollidierende Kugeln. Die Bewegung, die wir ihnen zuschreiben, hängt nicht von unmittelbar umgebenden Körpern ab. Stattdessen soll beiden Körpern dieselbe Bewegung zugeschrieben werden, so dass Wirkung und Gegenwirkung einander gleich

verwikeltsten Punkte(n) der Mechanik den menschlichen Verstand aus einem langwierigen Irrthume und Zweifel hinauszureißen […].“ Brief von Kant an Euler vom 23.8.1749, S. 217. Dass Kant auf eine positive Beurteilung seines Werkes, das von inneren Kräften ausging, durch Euler hoffte, kann nur so gewertet werden, dass er dessen Schriften nicht hinreichend kannte. Zu Eulers Ablehnung einer Trägheitskraft vgl. 3.3.4. 41 „So bald ich ihn aber in Verhältniß auf eine Sphäre von weiterem Umfange ansehe, so ist es möglich, daß eben der Körper zusammt seinen nahen Gegenständen seine Stellung in Ansehung jener ändert, und ich werde ihm aus diesem Gesichtspunkte eine Bewegung mittheilen. Nun stehts mir frei, meinen Gesichtskreis so sehr zu erweitern, als ich will, und meinen Körper in Beziehung auf immer entferntere Umkreise zu betrachten, und ich begreife, daß mein Urtheil von der Bewegung und Ruhe dieses Körpers niemals beständig sei, sondern sich bei neuen Aussichten immer verändern könne.“ NLBR, AA 02, 16. Hier finden sich schon Ansätze zur Schachtelung von Bezugsräumen ineinander. Dieser Gedanke wird von Kant in den MAN weiter ausgebaut. Vgl. 4.2.2.6. 42 NLBR AA 02, 17.

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4 Kants Raumkonzeption

sind.43 Sowohl das von Kant gewählte Beispiel von Kugeln als auch der von ihm thematisierte Stoß zeigen, dass es ihm hier um die Gleichheit beider Impulse geht.44 Also gibt nach Kant nicht die Beziehung zu den umliegenden Gegenständen den Bewegungszustand eines Körpers an, sondern die Bewegung der Körper, mit denen er wechselwirkt. Beiden Körpern muss die gleiche Bewegung, d. h. der gleiche Impuls zugeschrieben werden, unabhängig von den Körpern, die sie unmittelbar umgeben.

4.1.5 Vom ersten Unterschiede der Gegenden im Raum (1768) Der frühe Kant übernimmt eine leibnizsch-wolffsch geprägte Raumkonzeption, die nicht grundsätzlich hinterfragt wird.45 Wie gezeigt wurde, beginnen sich Ansätze zur Problematisierung dieser Konzeption in der Mitte der fünfziger Jahre herauszukristallisieren. Zum tiefgreifenden Bruch mit dem Relationalismus kommt es schließlich in der Raumschrift von 1768.46 Den Ausgangspunkt bilden Eulers Reflexionen über Raum und Zeit. Während Kant zuvor im Raum die Verbindung der Substanzen sieht, versucht er nun, die Existenz eines von den Körpern unabhängigen absoluten Raumes zu beweisen.47 Die Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume nimmt daher eine Schlüsselstelle in der Entwicklung der kantischen Raumkonzeption ein. In seinem Plädoyer für die Existenz eines von Materie unabhängigen absoluten Raumes bezieht er sich dabei explizit auf Eulers Leibnizkritik in den Reflexionen über Raum und Zeit und versucht sie auszubauen:48 [M]ein Zweck in dieser Abhandlung sei, zu versuchen, ob nicht in den anschauenden Urtheilen der Ausdehnung, dergleichen die Meßkunst enthält, ein evidenter Beweis zu finden sei:

43 Die hier entwickelte Haltung ist für die Bewegungs- und Raumkonzeption der Mechanik der MAN von zentraler Wichtigkeit. Später wird Kant jedoch nicht von Sphären, sondern von relativen Räumen sprechen. Ebenso findet sich in NLBR noch kein Hinweis auf den absoluten Raum. 44 Man vgl. hierzu die von mir in Anschluss an Carriers Friedmankritik gegebene Darstellung des dritten Gesetzes der Mechanik in 4.2.2.4. 45 Vgl. Watkins 2013. 46 Vgl. Riehl 1876, S. 249. 47 Hier findet sich noch keine Auflösung der Schwierigkeit, wie sie in der KrV vertreten wird. Es wird jedoch deutlich, dass Kant mit der relationalen Raumtheorie bricht. Dadurch kündigt sich eine Wende in seinem Denken an, bis sie schließlich 1769 hervortritt. In einer von Adickes in diese Zeit datierten Reflexion schreibt Kant: „Die Zeit und der Raum gehen vor den Dingen vorher: das ist ganz natürlich. Beyde nemlich sind subiective Bedingungen, […] unter welchen nur den Sinnen gegenstande können gegeben werden. obiectiv gegenommen würde dieses ungereimt seyn.“ Refl 4077 AA 17, 405–406, vgl. auch Refl 4078 AA 17, 406. 48 Vgl. hierzu auch Riehl 1876, S. 258–260.

4.1 Der Weg zur kritischen Raumlehre

133

daß der absolute Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe.49

Kant greift die eulersche Unterscheidung zwischen Metaphysikern und Messkünstlern auf: Die Metaphysik hat nicht vermocht, eine zufriedenstellenden Raumkonzeption zu erarbeiten. Eulers Angriff auf den Relationalismus ist daher grundsätzlich richtig. Jedoch findet dieser Angriff nur a posteriori statt, da er aufzeigt, dass den Bewegungsgesetzen nur durch den absoluten Raum Bedeutung zukommt. Kants Versuch stützt sich demgegenüber nicht auf mechanische Gesetze, wie wohl auch diese „in concreto einen Probirstein“50 abgeben können. Vielmehr soll die Realität des absoluten Raumes, abseits von Empirie und Metaphysik, anhand von „anschauenden Urtheilen der Ausdehnung“51 verdeutlicht werden.52 Dafür möchte er aufzeigen, dass die Lage der Teile eines Körpers nicht als „vollständige[r] Bestimmungsgrund einer körperlichen Gestalt“53 ausreicht. Zwei inkongruente Gegenstücke, z. B. die linke und die rechte Hand, sind zwar ihrer Relation nach gleich, unterscheiden sich jedoch trotzdem. Die beiden Gegenstücke können nicht vertauscht bzw. ineinander überführt werden. Die ‚Gegend‘ eines Körpers, d. h. seine ‚Händigkeit‘, geht also über die Lage der Teile hinaus. So basiert die Lage der Teile auf der Gegend. Die Gegend bedarf aber ihrerseits eines Raumes, auf den sie sich bezieht: Denn die Lagen der Theile des Raums in Beziehung auf einander setzen die Gegend voraus, nach welcher sie in solchem Verhältniß geordnet sind, und im abgezogensten Verstande besteht die Gegend nicht in der Beziehung eines Dinges im Raume auf das andere, welches eigentlich der Begriff der Lage ist, sondern in dem Verhältnisse des Systems dieser Lagen zu dem absoluten Weltraume.54

49 50 51 52

GUGR, AA 02, 378. GUGR, AA 02, 378. GUGR, AA 02, 378. Obwohl Kant an Euler anknüpft, wird deutlich, dass er dessen Zugeständnis an den absoluten Raum nicht ganz beipflichten kann. Die Reflexionen über Raum und Zeit lassen „die nicht mindere[n] Schwierigkeiten unberührt […] welche bei der Anwendung gedachter Gesetzte übrig bleiben, wenn man sie nach dem Begriffe des absoluten Raumes in concreto vorstellen will.“ GUGR, AA 02, 378. Das kann als Vorgriff auf die Kritik des absoluten Raumes in den MAN gelesen werden. Obwohl Kant hier in der Raumschrift die Notwendigkeit des absoluten Raumes anerkennt, bedarf es dennoch einer neuen Deutung seiner Rolle für die Bewegungskonzeption, die 1768 jedoch noch nicht ausgearbeitet vorliegt und daher auch noch nicht thematisiert wird. 53 GUGR, AA 02, 381. 54 GUGR, AA 02, 377. Interessant ist, dass Kant den Begriff der ‚Gegend‘ zwar illustriert, ihn jedoch nicht durch eine Definition oder Vergleichbares einführt. Er wird vielmehr negativ erklärt: Die ‚Gegend‘ ist das, was über die Lage hinausgeht und deren Bedingung darstellt, d. h. sie setzt ihrerseits den Raum voraus. An Kants Schwierigkeit, ‚Gegend‘ explizit zu definieren, wird bereits der nicht begriffliche Charakter der räumlichen Anschauung deutlich. Obwohl Kant auf das Argument der inkongruenten Gegenstücke an verschiedenen Stellen seines Werkes zurückgreift, taucht der Terminus in diesen Passagen nicht mehr in diesem Sinne auf

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4 Kants Raumkonzeption

Um den Unterschied der inkongruenten Gegenstücke verständlich zu machen, muss nach Kant das Verhältnis der Körper zum Raum einbezogen werden.55 Dabei geht Kant von einem inneren Unterschied der inkongruenten Gegenstücke aus. Hätte die göttliche Schöpfung lediglich eine Hand hervorgebracht, so gäbe es nach Kants Rekonstruktion der leibnizschen Konzeption nichts außer dieser Hand, d. h. auch keinen Außenraum: Nimmt man nun den Begriff vieler neueren Philosophen, vornehmlich der Deutschen an, daß der Raum nur in dem äußeren Verhältnisse der neben einander befindlichen Theile der Materie bestehe, so würde aller wirkliche Raum in dem angeführten Falle nur derjenige sein, den diese Hand einnimmt. Weil aber gar kein Unterschied in dem Verhältnisse der Theile derselben unter sich statt findet, sie mag eine Rechte oder Linke sein, so würde diese Hand in Ansehung einer solchen Eigenschaft gänzlich unbestimmt sein, d. i. sie würde auf jede Seite des menschlichen Körpers passen, welches unmöglich ist.56

Demnach müsste diese isolierte Hand beides sein, sowohl eine linke als auch eine rechte Hand. Dies widerspricht jedoch der Annahme, dass es einen inneren Unterschied zwischen Links und Rechts gibt und dass die der Schöpfung der Hand zugrundeliegende Handlung eine andere ist, je nach Händigkeit des Gegenstandes. Gleichwohl, wenn man sich vorstellt: das erste Schöpfungsstück solle eine Menschenhand sein, so ist es nothwendig entweder eine Rechte oder eine Linke, und um die eine hervorzubringen, war eine andere Handlung der schaffenden Ursache nöthig, als die, wodurch ihr Gegenstück gemacht werden konnte.57

Deshalb bedarf die Unterscheidung zwischen den Gegenstücken eines absoluten Raumes.58 Nach Kant handelt es sich deshalb beim absoluten Raum um einen

55 56 57

58

(einzige Ausnahme bildet die Inaugural–Dissertation von 1770, wo er lediglich einmal verwendet und nicht näher bestimmt wird). In der NTH spricht Kant jedoch mehrfach von den in eine Drehrichtung stattfindenden Planetenbewegung als von der „[e]införmigen Richtung aller dieser Bewegungen, nach ebenderselben Gegend.“ NTH, AA 01, 237, man vgl. hierzu auch Kants Diskussion des Problems vor dem Hintergrund der Kreisbewegung in MAN, AA 04, 483–485. Es scheint daher angemessen, den Begriff ‚Gegend‘ bei Kant mit Attributen wie ‚Richtung‘, ‚Gerichtetheit‘ aber auch ‚Drehsinn‘ und ‚Händigkeit‘ zu versehen. Für eine ausführliche Diskussion des Terminus ‚Gegend‘ vgl. Walford 2001. Vgl. GUGR, AA 02, 381. GUGR, AA 02, 383. GUGR, AA 02, 382–383. In gewisser Weise besteht hier eine Kontinuität zur PND, in der Kant im Ort ein Unterscheidungsmerkmal für ansonsten gleiche Körper sieht. Hier wie dort bestimmt der Raum bzw. der Ort, gegen Leibniz, den inneren Unterschied der Körper. Die Validität des Arguments kann natürlich bezweifelt werden. So hat Kants Raumschrift ein ganzes Feld von Diskussionen losgetreten, die bis in die moderne Philosophie der Physik hineinreichen und längst nicht beendet sind. Einen groben Überblick bietet Cleve / Frederick 1991. Hier kann eine Kritik nur skizziert werden: Kant geht von einem inneren Unterschied der linken und der rechten Hand aus (A). Angenommen, ein solcher Unterschied ließe sich erklären durch eine externe Beziehung (Möglichkeit B) (d. h. durch eine Relation zu anderen Körpern) oder durch einen „absoluten Weltraume“ (GUGR, AA 02, 377) (Möglichkeit C). Stünden lediglich diese beiden Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung, würde durch die isolierte Schöpfung der Hand die Möglichkeit B weg-

4.1 Der Weg zur kritischen Raumlehre

135

nicht empirischen Grundbegriff, der transzendentale Bedeutung für die Konstitution der Körper hat.59 Er schließt seine Schrift mit dem Zugeständnis, dass er die Realität des Raumes zwar erwiesen habe, er sich der Schwierigkeiten dieser Konzeption jedoch durchaus bewusst ist.60 Es sind u. a. diese Schwierigkeiten61, die

fallen. Da die Hand nach A notwendig eine ‚Gegend‘ aufweisen muss, käme nur noch die Möglichkeit C in Frage. Allerdings lässt sich gegen Kant einwenden, dass A nicht zugestanden werden muss, d. h., die Gerichtetheit muss nicht als innerer Unterschied aufgefasst werden. In der Tat befasst sich ein großer Teil des kurzen Essays mit Beispielen für Inkongruenzen in der Natur (Hopfen, Bohnen, Schneckenhäuser etc.). Der Grund liegt zum einen darin, dem Leser das von Kant gesehene Problem zu erläutern, denn „[e]s ist kein Wunder, wenn der Leser diese Begriffe noch sehr unverständlich findet, die sich auch allererst im Fortgange aufklären sollen […].“ GUGR, AA 02, 378. Zum anderen geht es ihm aber auch darum, zu zeigen, dass es in der Natur sehr wohl einen den Dingen innewohnenden Unterschied zwischen den verschiedenen Gerichtetheiten gibt. Gegen Kant ließe sich einwenden, dass eine isoliert erschaffene Hand solange indifferent wäre, bis ein Mensch erschaffen werden würde, zu dem die Hand in Beziehung gesetzt werden kann. Ob es sich bei der Hand dann um eine linke oder eine rechte Hand handeln würde, hinge davon ab, auf welchen Arm des Menschen diese Hand passt, d. h. von der Relation zu diesem Menschen. Demnach wäre die Händigkeit eine der Welt innewohnende Eigenschaft, d. h. dass die Händigkeit eines Gegenstandes vom Verhältnis zu den anderen Gegenständen der Welt abhängen würde. Was dann als links oder rechts aufgefasst werden müsste, hinge von einer Setzung ab, z. B. indem ‚Links‘ als die Seite bezeichnet wird, auf der das Herz des Menschen schlägt. Weiter lässt sich einwenden, dass eine Hand, wird sie isoliert vorgestellt, doch immer in Relation zu mir als Beobachtendem vorgestellt wird, wodurch eine Gerichtetheit bereits notwendig vorhanden ist. 59 Das Argument taucht an mehreren Stellen des kantischen Gesamtwerks auf. Eine erste Notiz dazu findet sich in einer Bemerkung aus dem Zeitraum 1762/63. Vgl. Rusnock / George 1995, S. 263. 60 GUGR, AA 02, 383. Es finden sich in der Raumschrift an zwei Stellen kritische Anmerkungen zum absoluten Raum, die Kant hier nicht auflöst. Diese können als wegweisend für seinen späteren Angriff auf diese Konzeption in der kritischen Phase gesehen werden: Zum einen die Schwierigkeiten in der Anwendung auf die Bewegungsgesetze (GUGR, AA 02, 378, in den MAN ausgearbeitet), zum anderen die epistemologischen Probleme des Raumes (bei GUGR, AA 02, 383 angedeutet, in der KrV ausgearbeitet). 61 Der Schlusssatz der GUGR zeigt den Einfluss der eulerschen Reflexionen über Raum und Zeit auf Kants Verständnis vom Verhältnis der Naturwissenschaft zur Metaphysik als Grundlage unserer Erkenntnis. Hinsichtlich der Schwierigkeit, die der Raumbegriff mit sich bringt, schreibt Kant: „Aber diese Beschwerlichkeit zeigt sich allerwärts, wenn man über die ersten data unserer Erkenntniß noch philosophiren will, aber sie ist niemals so entscheidend als diejenige, welche sich hervorthut, wenn die Folgen eines angenommenen Begriffs der augenscheinlichsten Erfahrung widersprechen.“ GUGR, AA 02, 383. Hier findet eine Veränderung der ‚Deutungshoheit‘ statt: Die Metaphysik darf den Ergebnissen der Naturwissenschaft nicht widersprechen, oder besser noch, muss sie unterstützen. Dabei können Ergebnisse naturwissenschaftlicher Untersuchungen die Metaphysik unter Druck setzen und ihr Zielpunkte hinsichtlich ihrer Argumentation setzen. Das gilt, nach Kant, jedoch lediglich hinsichtlich der Genese der Ergebnisse der Erkenntnistheorie. Wie er (u. a. in der Raumschrift) bemerkt, reicht eine bloß empirische Begründung dieser Ergebnisse nicht aus; diese muss vielmehr apriorisch gegeben werden. Vgl. dazu die Ausführungen in 4.2.2.1.

136

4 Kants Raumkonzeption

Kant in der folgenden Zeit beschäftigten. So ist mit seinem Plädoyer für die Realität des Raumes der Weg zur Position der KrV noch nicht abgeschlossen, sein Abschluss bahnt sich jedoch an. Kant bemerkt am Ende seiner Raumschrift die Schwierigkeiten, die mit dem Begriff des Raumes einhergehen. In seinen Aufzeichnungen aus dieser Zeit wird das „Ringen um einen neuen Raumbegriff“62 deutlich. Dies soll im Folgenden skizziert werden.

4.1.6 Eine Notiz zu Kants Raumdiskussion im stillen Jahrzehnt Wie deutlich wurde, versucht Kant in der Schrift GUGR die Existenz eines von den Körpern unabhängigen Raumes zu beweisen. Er nimmt jedoch noch nicht die Position des transzendentalen Idealismus ein. Diese Haltung vertritt er aber bereits zwei Jahre später in seiner Inaugural-Dissertation63 von 1770.64 Der dritte Abschnitt dieser Schrift ‚Von den Prinzipien der Form der Sinnenwelt‘ weist tiefe, bis in die Argumentationsstruktur hineingehende Parallelen zur transzendentalen Ästhetik der KrV auf. Demnach ist es zwischen Raumschrift und InauguralDissertation zu einer Wende im kantischen Denken gekommen. Diesbezüglich schreibt er in einem Brief an Lambert aus dem Jahre 1770: Seit etwa einem Iahre bin ich, wie ich mir schmeichle, zu demienigen Begriffe gekommen welchen ich nicht besorge iemals ändern, wohl aber erweitern zu dürfen und wodurch alle Art metaphysischer quaestionen nach ganz sichern und leichten criterien geprüft und, in wie fern sie auflöslich sind oder nicht, mit Gewisheit kan entschieden werden.65

Es spricht vieles dafür, dass Kant den transzendentalen Idealismus im Jahr 1769 entwickelte. Dies wird durch eine Reflexion bestätigt, in der er schreibt: Ich sahe anfenglich diesen Lehrbegrif wie in einer Dämmerung. Ich versuchte es gantz ernstlich, Satze zu beweisen und ihr Gegentheil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern weil ich eine illusion des Verstandes vermuthete, zu entdecken, worin sie stäke. Das Jahr 69 gab mir großes Licht.66

Erdmann67 und An der Brügge68 gehen von zwei „Erweckungserlebnissen“ aus.69 Das eine ist der Raumfrage zuzuordnen, das andere Kants Lektüre von Humes

62 Gosztonyi 1976, S. 414. 63 Diese Schrift wird zitiert nach der Übersetzung von Reich in Kant 1958. 64 Fries sieht in seiner Darstellung der kantischen Philosophie die Inaugural–Dissertation als Wendepunkt des kantischen Denkens: „Anfangs bewegte er [d. h. Kant] sich bloß in der Leibnitzischen Weltansicht, bis darin die Dissertation vom Jahr 1770 einen glänzenden Abschnitt macht; eilf Jahre später tritt er aber mit der Kritik der reinen Vernunft hervor und hier sehen wir ihn auf einmal in dem Besitz aller seiner Entdeckungen.“ GdP II, S. 503–504, WW 19, 503–504. 65 Brief von Kant an Lambert vom 2.9.1770, Briefe, AA 10, 97. 66 Refl 5037, AA 18, 69. 67 Vgl. Erdmann 1878. 68 Vgl. An der Brügge 2010.

4.1 Der Weg zur kritischen Raumlehre

137

Enquiry Concerning Human Understanding.70 1769 geht Kant zum transzendentalen Idealismus über, d. h. er sieht im Raum lediglich eine subjektive Bedingung unserer Anschauung. Der Ursprung liegt dabei in seiner Entdeckung der Antinomik. So schreibt Kant spezifischer an Garve: Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r.V.: „Die Welt hat einen Anfang —: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freyheit im Menschen, — gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit“; diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben. 71

Die Antinomie hat nach Kant ihren Ursprung in der Verwechslung von Erscheinungen mit dem Ding an sich. Der Weg aus der Antinomik ist die Erkenntnis, dass Raum und Zeit lediglich unsere subjektiven Formen der Sinnlichkeit sind, d. h. die Antinomik führte Kant zur Position des transzendentalen Idealismus. Erdmann und Gosztonyi72 sehen dabei den Ursprung des kantischen Bewusstseins für die Antinomik in der Unendlichkeit von Raum und Zeit. So bemerkt Kant in einer Reflexion, die gegen Ende von 1769 niedergeschrieben worden sein könnte: Im Unendlichen ist die Schwierigkeit, die totalitaet mit der unmöglichkeit einer synthesis completae zu vereinbaren. Folglich ist die Schwierigkeit subiectiv. Dagegen ist das potentialiter infinitum (infinitum coordinationis potentialis) sehr wohl begreiflich, aber ohne totalitaet.73

Somit kommt dem Raum eine Schlüsselfunktion im Übergang von der vorkritischen zur kritischen Phase zu.

69 Die Frage, wie genau die Wende Kants zur kritischen Philosophie vonstattenging, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Ich folge hier der Rekonstruktion Erdmanns. Vgl. Erdmann 1878, S. LXXXIII–LXXXVI. Alternativ werden in der Kantforschung u. a. auch der Einfluss David Humes (Kreimendahl 1990) und die Raumschrift von 1768 (Schmucker 1976) als Erweckungserlebnis diskutiert. Für eine ausführliche Kritik und Darstellung der Gegenkonzeptionen vgl. An der Brügge 2010, S. 60–76. 70 Daraus ergibt sich, warum er zum ersten Mal im Jahre 1772, also drei Jahre nach dem Licht von 1769, von den Kategorien spricht. Vgl. Brief von Kant an Herz vom 21.02.1772, Briefe, AA 10, 129–135 hinsichtlich der Entwicklung der Kategorien und der Bedeutung des Jahres 1772 vgl. Adickes 1887, für einen kurzen Überblick über die Entwicklung Kants im Übergang und die Bedeutung der Jahre 1769 und 1772 vgl. Adickes 1889, S. XIII–XVI. 71 Brief von Kant an Garve vom 21.09.1798, Briefe, AA 12, 257–258. Mit der Position von 1769 bzw. 1770 ist noch lange nicht der Standpunkt der KrV erreicht. So meint Kant zu dieser Zeit noch, dass der Verstand die Dinge erkennt, wie sie an sich sind, eine Haltung, die er in der kritischen Phase abgelegt hat. Vgl. Erdmann 1878, S. LXXXIII–LXXXIV. Der Verweis auf die Antinomie als Erweckungserlebnis von 1769 hat, wie An der Brügge bemerkt, das Problem, dass die rationale Kosmologie erst Mitte der siebziger Jahre entwickelt wurde. Deshalb geht An der Brügge von einer Vorform der Antinomie (von ihr ‚Antinomische Struktur’ genannt) aus. Vgl. hierzu An der Brügge 2010, S. 77–79. 72 Vgl. Gosztonyi 1976, S. 414. 73 Refl 4195, AA 17, 452.

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4 Kants Raumkonzeption

4.1.7 Zusammenfassung der Untersuchung zur vorkritischen Phase Ehe die Raumkonzeption der kritischen Phase untersucht wird, sollen die Ergebnisse dieses Abschnittes kurz zusammengefasst werden. Zu Beginn seiner Karriere synthetisiert Kant eine leibnizsch-wolffsch geprägte Raumkonzeption mit der newtonschen Gravitation. Der Raum ist mehr als nur die Gesamtheit der Substanzen. Zusätzlich müssen die Substanzen auch in Verbindung stehen. Diese Verbindung ist nach Kant die Gravitation. Dabei basiert die Gravitation ihrerseits wiederum auf Gott, dem beim vorkritischen Kant somit eine konstitutive Rolle zukommt. Demnach lässt sich das Abhängigkeitsverhältnis gemäß der systematischen Trias wie folgt skizzieren:

Gegen Ende der fünfziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts kommen Kant jedoch erste Zweifel an seiner leibnizsch geprägten Position. So bemerkt er, dass sowohl die Position Newtons als auch Leibniz’ nicht in der Lage sind, eine Bewegungskonzeption zu liefern, die seinen Ansprüchen genügt. Den Hintergrund dieser Kritik der Bewegungslehren seiner Zeit bildet die in NTH erarbeitete Unendlichkeit der Welt. Deshalb entwickelt er eine Bewegungskonzeption, nach der wechselwirkenden Körpern der gleiche Impuls zugeschrieben werden muss. Zum endgültigen Bruch mit dem Relationalismus kommt es in seiner Raumschrift von 1768. Beeinflusst von Euler, plädiert er dort für die von den Körpern unabhängige Existenz des absoluten Raumes. Dabei argumentiert er, dass die ‚Gegend‘ eines Körpers nicht relational, sondern nur durch den absoluten Raum erklärt werden kann. Mit diesem Eingeständnis der Existenz des Raumes ist Kant jedoch noch nicht bei seiner späteren kritischen Haltung angekommen. Im darauf folgenden Jahr führt ihn schließlich die aus der Unendlichkeit des Raumes entspringende Antinomik dazu, den Raum als bloß subjektive Bedingung unseres Erkennens anzusehen. Er entwickelt die kritische Raumlehre, die es im Folgenden genauer zu untersuchen gilt.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

139

4.2 DER RAUM IN KANTS KRITISCHER PHILOSOPHIE (AB 1781) Auf den vorangegangenen Seiten wurde die Entwicklung der Raumkonzeption bis ins stille Jahrzehnt betrachtet. Darauf aufbauend soll nun die Raumvorstellung der kritischen Phase untersucht werden. Die wichtigsten Ausarbeitungen zum Raum finden sich dabei in der KrV und den MAN. Da die Raum- und Bewegungslehre der MAN die Überlegungen der KrV voraussetzen, werde ich zunächst auf die Raumkonzeption des kritischen Hauptwerkes eingehen (4.2.1), um daraufhin die Raum- und Bewegungskonzeption der MAN zu behandeln (4.2.2).

4.2.1 Der Raum in Kants theoretischem Hauptwerk Die zentralen Passagen74 zur Raumkonzeption in der KrV sind die transzendentale Ästhetik (4.2.1.1) und die Widerlegung des Idealismus (4.2.1.2). Beide sollen insbesondere hinsichtlich ihres Verhältnisses zum newtonschen Raum untersucht werden.

4.2.1.1 Der Raum der transzendentalen Ästhetik Nachdem er in der Vorrede zur KrV deren Zielsetzung herausgearbeitet hat, geht Kant in der Einleitung auf zentrale Überlegungen seines theoretischen Hauptwerkes ein. Mit Blick auf den Aufbau der KrV schreibt er: Nur so viel scheint zur Einleitung oder Vorerinnerung nöthig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntniß gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden. Sofern nun die Sinnlichkeit Vorstellungen a priori enthalten sollte, welche die Bedingung ausmachen, unter der uns Gegenstände gegeben werden, so würde sie zur Transcendental-Philosophie gehören. Die transcendentale Sinnenlehre würde zum ersten Theile der Elementar-Wissenschaft gehören müssen, weil die Bedingungen, worunter allein die Gegenstände der menschlichen Erkenntniß gegeben werden, denjenigen vorgehen, unter welchen selbige gedacht werden.75

Demgemäß unterteilt sich die transzendentale Elementarlehre in transzendentale Ästhetik und transzendentale Logik. Sie behandeln die apriorischen Prinzipien der Sinnlichkeit bzw. unseres Denkens.76 Durch die Sinnlichkeit beziehen wir uns auf

74 Die Diskussion um den Raum als Gegenstand (KrV B 160–161), wie er in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe auftaucht, klammere ich hier absichtlich vollkommen aus. Hinsichtlich des Verhältnisses der drei Raumkonzeptionen (Raum als Anschauung, Begriff und absoluter Raum) vgl. Palter 1971, S. 47–49. 75 KrV A 15–16 / B 29–30. 76 KrV A 19–22 / B 33–36. Kant erklärt zu Beginn der transzendentalen Ästhetik: „Eine Wissenschaft von allen Principien der Sinnlichkeit a priori nenne ich die transcendentale Ästhe-

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4 Kants Raumkonzeption

die Gegenstände.77 Das Denken hingegen kann dies nur mittelbar, unter Bezug auf Anschauung. Gegenstände affizieren das Gemüt und rufen Empfindungen hervor. Sie bilden die a posteriori gegebene Materie der empirischen Anschauung. Damit aus der Empfindung eine Erscheinung werden kann, ist neben der gegebenen Materie jedoch noch eine Form notwendig, die die Materie strukturiert. Die in der Erscheinung bestehende Ordnung kann nicht auf die Empfindung selbst zurückgehen, d. h. es muss Ordnungsstrukturen geben, die nicht aus den Empfindungen entspringen. Es handelt sich bei diesen Ordnungsstrukturen um Raum und Zeit als apriorische Formen unserer Anschauung.78 Die transzendentale Ästhetik behandelt daher sowohl den Raum als auch die Zeit als notwendige Bedingung der Möglichkeit unserer Anschauung. Der Raum ist die apriorische Form des äußeren Sinnes, während es sich bei der Zeit um die Form des inneren und äußeren Sinnes handelt.79 Kant fasst die Raumkonzeption der KrV mit den Schlagworten zusammen, dass der Raum empirische Realität und transzendentale Idealität habe. Darunter versteht er, dass jedes Ding, das den äußeren Sinnen gegeben werden kann, räumlich erscheint, der Raum jedoch, wenn man von den Bedingungen der Sinnlichkeit absieht, nichts sei. Der Raum ist daher nach ihm die subjektive Bedingung, in dem uns die Gegenstände durch die Sinnlichkeit gegeben werden, abseits dieser subjektiven Bedingung, d. h. als Ding an sich, hat der Raum jedoch keine Realität. Die zugrunde liegende Argumentation gilt es im Folgenden genauer zu analysieren. Dabei werde ich zeigen, dass Kant einen in grundlegenden Aspekten newtonschen Raum einführt, der aber durch den transzendentalen Idealismus eine neue Bedeutung erhält. Kant unterteilt seine Analyse des Raumes in eine metaphysische und eine transzendentale Erörterung, um anschließend von diesen Überlegungen ausgehend seine Raumkonzeption genauer darzustellen. Die metaphysische Erörterung hat die Aufgabe zu zeigen, was der Raum ist. Die darauf folgende transzendentale Erörterung rechtfertigt die Gültigkeit dieser Raumvorstellung, indem sie deren Rolle für die Wissenschaft, hier die Geometrie, herausstellt. Dieser Aufteilung folge ich in meiner Untersuchung.

tik.“ KrV A 21 / B 35. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen transzendentaler Ästhetik und transzendentaler Logik vgl. KrV A 52 / B 76. 77 Kant skizziert in der transzendentalen Dialektik anhand der ‚Stufenleiter‘ die von ihm verwendeten Termini: „Die Gattung ist Vorstellung überhaupt (repraesentatio). Unter ihr steht die Vorstellung mit Bewusstsein (perceptio). Eine Perception, die sich lediglich auf das Subject als die Modifikation seines Zustandes bezieht, ist Empfindung (sensatio), eine objective Perception ist Erkenntniß (cognitio). Diese ist entweder Anschauung oder Begriff (intuitus vel conceptus). Jene bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln; dieser mittelbar, vermittelst eines Merkmals, was mehreren Dingen gemein sein kann.“ KrV A 320 / B 376–377. 78 KrV A 19–22 / B 33–36. 79 Vgl. KrV A 23 / B 37 und A 34 / B 50.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

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Die metaphysische Erörterung des Raumes Zu Beginn dieser Passage geht Kant anhand einer Reihe rhetorischer Fragen auf mögliche Haltungen zur Natur von Raum und Zeit ein: Was sind nun Raum und Zeit? Sind es wirkliche Wesen [1]? Sind es zwar nur Bestimmungen oder auch Verhältnisse der Dinge, aber doch solche, welche ihnen an sich zukommen würden, wenn sie auch nicht angeschaut würden [2], oder sind sie solche, die nur an der Form der Anschauung allein haften und mithin an der subjectiven Beschaffenheit unseres Gemüths, ohne welche diese Prädicate gar keinem Dinge beigelegt werden können [3]?80

Diese Aufzählung möglicher Antworten auf die Raumfrage kann als schematische Darstellung zeitgenössischer Positionen aufgefasst werden, gegen die Kant seine eigene Haltung entwickelt.81 Beide von ihm skizzierten Gegenpositionen [1 & 2] gehen, zumindest nach der kantischen Darstellung, von einem transzendentalen Realismus aus. Demgegenüber nimmt sein transzendentaler Idealismus [3] in Anspruch, die Probleme der anderen Positionen zu lösen.82 Kants Charakterisierung der Gegenpositionen ist jedoch eigenartig: Die erste Haltung [1] kann mit Newton und Clarke identifiziert werden.83 Die zweite Position [2] gibt, zumindest in Teilen, die leibnizsche Haltung wieder. Wenn Kant jedoch über diese Haltung schreibt, dass nach ihr Raum und Zeit den Dingen an

80 KrV A 23 / B 37–38. 81 Vgl. Parsons 1992, S. 67. 82 Kant beschreibt den transzendentalen Idealismus und den transzendentalen Realismus wie folgt: „Ich verstehe aber unter dem transcendentalen Idealism aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem wir sie insgesammt als bloße Vorstellung und nicht als Dinge an sich selbst ansehen, und dem gemäß Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung, nicht aber für sich gegebene Bestimmungen oder Bedingungen der Objecte als Dinge an sich selbst sind. Diesem Idealism ist ein transcendentaler Realism entgegengesetzt, der Zeit und Raum als etwas an sich (unabhängig von unserer Sinnlichkeit) Gegebenes ansieht.“ KrV A 369. 83 Seine Darstellung der Haltung Newtons weicht in Teilen von dessen tatsächlicher Position ab. Vgl. Kants Erörterung in KrV A 36–38 / B 53–55, in der er immer wieder auf den Begriff ‚absolut‘ eingeht. Er schreibt über diese Position: „Wider diese Theorie, welche der Zeit empirische Realität zugesteht, aber die absolute und transcendentale bestreitet, habe ich von einsehenden Männern einen Einwurf so einstimmig vernommen, daß ich daraus abnehme, er müsse sich natürlicher Weise bei jedem Leser, dem diese Betrachtungen ungewohnt sind, vorfinden.“ KrV A 36 / B 53. Und weiter: „Die Ursache aber, weswegen dieser Einwurf so einstimmig gemacht wird, und zwar von denen, die gleichwohl gegen die Lehre von der Idealität des Raumes nichts Einleuchtendes einzuwenden wissen, ist diese. Die absolute Realität des Raumes hofften sie nicht apodiktisch darthun zu können, weil ihnen der Idealismus entgegensteht, nach welchem die Wirklichkeit äußerer Gegenstände keines strengen Beweises fähig ist: Dagegen die des Gegenstandes unserer innern Sinnen […] unmittelbar durchs Bewußtsein klar ist.“ KrV A 38 / B 54–55. Diese Position ist nicht newtonsch, sondern scheint, wenn man sie mit der Charakterisierung des skeptischen Idealismus durch Kant vergleicht, eher Descartes zum Ziel zu haben. Daher mischt Kant hier mitunter die Position Descartes und Newtons.

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4 Kants Raumkonzeption

sich „zukommen würden, wenn sie auch nicht angeschaut würden“84, so weicht dies von Leibniz’ eigentlicher Position ab. Man vgl. z. B. Leibniz’ Bemerkung in seinem fünften Brief an Clarke, in dem er schreibt: „Hier nun, wie die Menschen dazu kommen, sich den Raumbegriff zu bilden.“85 Dass die realistische Position [2] tatsächlich gegen Leibniz gerichtet ist, wird u. a. durch eine Parallelstelle aus Kants Inaugural-Dissertation deutlich: Diejenigen, die die Realität des Raumes verteidigen, stellen ihn sich entweder als den absoluten und unendlichen Behälter aller möglichen Dinge vor, eine Ansicht, die nach den Engländern von den meisten Geometern geteilt wird, oder sie behaupten, er sei das Verhältnis der existierenden Dinge selber, das nach Aufhebung der Dinge vollkommen wegfiele und nur in wirklichen Dingen denkbar sei, wie es die meisten unserer Landsleute nach Leibniz statuieren.86

Für Kants eigenwillige Charakterisierung der leibnizschen Haltung gibt es mehrere Gründe. So geht es Kant weniger um eine historisch exakte Beschreibung der Gegenpositionen. Sein Ziel ist es vielmehr, ausgehend von der Widerlegung dieser stereotypen Position die eigenen Thesen zur Natur des Raumes stark zu machen. Hierdurch neigt er zu einer Vermischung der leibnizschen Haltung mit einem empiristischen Standpunkt.87 Hinzu kommt, dass lediglich Teile des leibnizschen Werkes zu Kants Zeit bekannt waren und sich Kants Leibnizkenntnisse erheblich auf Wolff stützten, der in einigen zentralen Punkten jedoch von seinem Lehrer abweicht.88 Die metaphysische Erörterung kann nun in ihrer Gänze als Attacke auf die von Kant skizzierte ‚pseudoempiristische‘ Position Leibniz’, d. h. auf Position [2] verstanden werden. Eine klare Kritik der newtonschen Haltung [1] findet sich erst später in der transzendentalen Erörterung des Raumes. Wie ich zeigen werde, sind zahlreiche Argumente der metaphysischen Erörterung gegen [2] im Kern newtonscher Natur. Die Differenzen zwischen seiner Haltung und derjenigen Newtons werden von ihm erst in der transzendentalen Erörterung herausgearbeitet.

84 KrV A 23 / B 37. 85 Leibniz–Clarke, S. 92, Leibniz’ fünfter Brief, § 47, Hervorhebungen durch mich. 86 Kant 1958, S. 53, MSI, AA 02, 403–404. Dass Kant Leibniz hier zu den transzendentalen Realisten zählt, macht auch deutlich, dass er seine transzendental idealistische Position nicht ausgehend von einer leibnizschen Position entwickelt hat. 87 Vgl. Wojtowicz 1997, S, 73–74. Diese Vermutung wird untermauert durch eine spätere Passage, in der Kant mit Bezug auf [2] schreibt: „Nehmen sie die zweite Partei (von der einige metaphysische Naturlehrer sind) […].“ KrV A 39–40 / B 56, Hervorhebung durch mich. ‚Einige’ könnte hier auch gelesen werden als ‚einige, aber nicht alle’, d. h., dass einige, aber eben nicht alle Vertreter dieser Position metaphysische Naturlehrer sind. In einer um 1776– 1789 datierten Reflexion schreibt Kant Leibniz außerdem eine Position zu, nach der die Sätze über den Raum lediglich empirischen Charakter haben müssten: „Wäre der Begrif des Raums, wie Leibnitz meynt, von der Sache hergenommen, so würden die Sätze über denselben als Erfahrungssatze keine apodictische Gewisheit haben.“ Refl 5327, AA 18, 153. 88 Vgl. hierzu Hatfield 2006, S. 64–67 und Janiak 2012b.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

143

Die metaphysische Erörterung hat das Ziel aufzuzeigen, dass der Raum Anschauung a priori ist. Dazu führt Kant vier Argumente an.89 Diese unterteilen sich wiederum in zwei Zweiergruppen. Während Kant zuerst zu zeigen versucht, dass der Raum notwendig und nicht empirisch ist, ist es die Aufgabe der darauf folgenden Überlegungen die Nichtdiskursivität zu verdeutlichen. Die Argumente gilt es hier zu analysieren: 1)

Der Raum ist nicht durch die Erfahrung gegeben, sondern die Erfahrung ist erst durch den Raum möglich und setzt ihn voraus.

Erfahrung kann nur entstehen, indem Empfindungen bestimmten Stellen im Raum zugeschrieben werden. Demnach setzt die Erfahrung den Raum voraus.90 Ich stimme Janiak91 zu, dass das Ziel der kantischen Attacke eine empiristische Position ist. Das Argument kann jedoch auch gegen Leibniz gerichtet sein,92 der in seinem letzten Brief an Clarke schreibt: Sie stellen fest, daß mehrere Dinge auf einmal existieren, und beobachten unter ihnen eine gewisse Ordnung des Nebeneinanderbestehens, entsprechend welcher die gegenseitige Beziehung der Dinge mehr oder weniger einfach ist.93

Sowohl Leibniz als auch der Empirismus übersehen nach Kant, dass es sich beim Raum um die Voraussetzung der Gegenstände handelt und der Raum nicht von unserer „äußeren Erfahrungen abgezogen worden“94 ist. 2)

„Der Raum ist eine nothwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt.“95

89 Dabei untersuche ich die vier Argumente der B–Ausgabe. Die A–Ausgabe differenziert nicht zwischen der metaphysischen und der transzendentalen Erörterung. 90 Kant geht demnach davon aus, dass die Empfindungen selber noch nicht räumlich geordnet sind. Diese Haltung muss jedoch nicht geteilt werden. Kant scheint schon hier eine Prästabiliertheit des Raumes auszuschließen. Shabel spricht daher zu Recht von einer “hylomorphic conception of appearances […].” Shabel 2010, S. 95. Vgl. KrV A 20 / B 34 und A 23 / B 38. 91 Vgl. Janiak 2012b. So schreibt Locke: „Die Ideen, die wir durch mehr als einen Sinn erhalten, sind die des Raumes oder der Ausdehnung, der Gestalt, der Ruhe und der Bewegung; denn diese machen sowohl auf den Gesichts– als auf den Tastsinn wahrnehmbare Eindrücke; wir können sowohl durch Sehen wie durch Fühlen die Idee der Ausdehnung, Gestalt, Bewegung und Ruhe von Körpern gewinnen und unserem Geist zuführen.“ Versuch über den menschlichen Verstand, S. 137, vgl. Janiak 2012b. 92 Vgl. Allison: “Although the focus of this argument is anti–empiricistic, it also applies to the relational theory of Leibniz, particularly as it is articulated in the correspondence with Clarke.” Allison 2004, S. 102. 93 Leibniz–Clarke, S. 92, Leibniz’ fünfter Brief, § 47. Dies wird gesehen von Domski 2013, S. 440. 94 KrV A 23 / B 38. 95 KrV A 24 / B 39.

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4 Kants Raumkonzeption

Man kann sich nicht vorstellen, dass der Raum nicht ist. Dadurch unterscheidet er sich von allem, das in ihm angeschaut wird. D. h. der Raum kann zwar als leer von Gegenständen vorgestellt werden, jedoch ist es nicht vorstellbar, dass es keinen Raum gibt. Vorüberlegungen zu diesem Argument finden sich schon bei Newton. Dieser schreibt in De Gravitatione: [W]enn wir uns vielleicht vorstellen können, daß nichts im Raum ist, so können wir uns doch nicht denken, daß es den Raum nicht gibt.96

Das Argument könnte Kant von Euler bezogen haben.97 Dieser, wie auch Kant, konnte die entsprechende Stelle Newtons aus De Gravitatione natürlich nicht kennen. Es wird an dieser Passage jedoch eine Kontinuität zwischen den Gedanken Newtons, Eulers und Kants deutlich. Kant zieht aus den Argumenten 1) und 2) die Konsequenz, dass der Raum a priori und transzendental ist.98 Er ist nicht Erscheinung, sondern liegt allen Erscheinungen notwendig zugrunde. 3)

Der Raum ist reine Anschauung, nicht Begriff.

Der Raum ist kein Begriff, denn Raumteile können nur als Teile des einen Raumes vorgestellt werden. So handet es sich bei Raumteilen immer nur um Einschränkungen des Raumes. Dies unterscheidet den Raum von Begriffen. Wäre der Raum ein Begriff, würden wir ihn von seinen einzelnen Teilen abstrahieren. Das Primat käme also den Raumteilen zu. Da Raumteile jedoch nur als Teile des einen Raumes vorgestellt werden können, kann es sich beim Raum nicht um eine von den Raumteilen ausgehende begriffliche Abstraktion handeln. In ihrem Raum-Ort- bzw. Raum-Raumteil-Verhältnis ist Kants Konzeption durch Newton geprägt.99 Orte bzw. Räume sind immer nur Teile des einen Raumes.100 Während Leibniz im Raum die Gesamtheit der Orte sieht, geht Newton, 96 De Gravitatione, S. 51. Diese Parallele wird auch durch Domski 2013, S. 441 gesehen. 97 Reflexionen über Raum und Zeit, S. 12. 98 Für eine Diskussion der verschiedenen Interpretationen der Argumente 1) und 2) vgl. bspw. Koriako 2005, S. 25–38. 99 Man vgl. hierzu auch KrV A 438, 440 / B 466, 468. 100 Vgl. hierzu Poser 1989, S. 123–124. Man siehe hierzu auch eine Reflexion Kants, die auf das Jahr 1771 datiert wird: „Spatium est quantum, sed non compositum. Weil der Raum nicht entspringt, indem die Theile gesetzt werden, sondern die Theile nur möglich sind durch den Raum; ebenso die Zeit.“ Refl 4425, AA 17, 541. Man vgl. hierzu u. a. auch Refl 4071, AA 15, 404. Gosztonyi führt, Vaihinger folgend, u. a. diese Reflexion als Indiez dafür an, dass Kant in der Übergangsphase den Leibniz–Clarke Briefwechsel noch einmal gelesen hat. Vgl. Gosztonyi 1976, S. 413, Vaihinger 1892, S. 436. Ähnliche Überlegungen zum Teil–Ganzes– Verhältnis finden sich auch an späterer Stelle in der KrV: „Den Raum sollte man eigentlich nicht Compositum, sondern Totum nennen, weil die Theile desselben nur im Ganzen und nicht das Ganze durch die Theile möglich ist.“ KrV A 438 / B 466.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

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und ihm folgend Kant, von einem unendlichen Raum aus und sieht in den Orten, die dem Raum nachgeordnet sind, dessen Teile. 4)

Differenzen zwischen Raum und Begriff im Teil-Ganzes-Verhältnis

Der Raum wird als unendlich vorgestellt. Das Teil-Ganzes-Verhältnis zwischen Raum und Raumteil ist nun ein grundlegend anderes als das Verhältnis von Begriffsklasse und Begriff.101 Letztere fallen unter einander, nicht in einander. Die Teile eines Raumes sind im Raum. Der Raum enthält nun unendlich viele Teile. Unter einen Begriff können zwar potentiell unendlich viele Unterbegriffe fallen, jedoch, können nicht unendlich viele Unterbegriffe als in ihm gegeben, vorgestellt werden.102 Aus den Argumenten 3) und 4) ergibt sich nach Kant, dass der Raum Anschauung und nicht Begriff ist. Er nimmt damit in Anspruch, durch die metaphysische Erörterung des Raumes gezeigt zu haben, dass der Raum reine Anschauung a priori ist. In zahlreichen Punkten ist die kantische Raumkonzeption von Newton geprägt: Es herrscht eine Priorität des Raumes vor seinen Teilen, der Raum ist unmittelbar als unendlich gegeben und ist dabei ein Raum. Newtons Raum ist ebenfalls unmittelbar gegeben als „klarste Vorstellung von allen“103. Dies spiegelt sich in seinem Diktum „Zeit, Raum, Ort und Bewegung, als allen wohlbekannt, definiere ich nicht“104 wider. Newtons wenig differenziert vorgetragener, unmittelbarer Zugang zum Raum wird von Kant ausgebaut.105 Hinzu kommt der Sonderstatus des Raumes mit Bezug auf die Gegenstände und deren Eigenschaften in ihm.106 Die metaphysische Erörterung muss daher als Attacke auf die leibnizsche, nicht die newtonsche Position aufgefasst werden.107 Eine Kritik und Abgrenzung von der Haltung Newtons erfolgt erst in der transzendentalen Erörterung.

101 102 103 104 105

Vgl. Janiak 2012b. Für eine genauere Erörterung vgl. Janiak 2012b. Vgl. De Gravitatione, S. 37. Dt. Principia, S. 27. Wobei Newton, anders als Kant, die Unendlichkeit des Raumes als denkbar, aber nicht vorstellbar beschreibt. Vgl. De Gravitatione, S. 43 sowie 2.3.3. Der Raum hat für beide jedoch Aspekte des Grenzbegriffs. Dies wird in der Erörterung der Raumkonzeption der MAN deutlich werden. Vgl. 4.2.2.7. 106 Vgl. KrV A 20–21 / B 35 und De Gravitatione, S. 37, sowie meine Diskussion in 2.3.3. 107 Hier stimme ich mit Domski 2013 (besonders S. 441) gegen Allison 2004 und Hatfield 2006 überein. Hatfield glaubt, dass sich Kants Argument 1) der metaphysischen Erörterung auch gegen Newton richtet. Er schreibt: “A Newtonian absolute view also permits an empirical origin for our spatial representations, through interaction with objects in absolute space.” Hatfield 2006, S. 78. Hatfield übersieht hier, dass der Raum nach Newton unmittelbar gegeben ist. Vgl. hierzu meine Diskussion in 2.3.4 und 2.3.6.

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4 Kants Raumkonzeption

Die transzendentale Erörterung des Raumes Kant versteht „unter einer transcendentalen Erörterung die Erklärung eines Begriffs als eines Princips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann.“108 Kants Ziel in dieser Passage ist also, seine Raumkonzeption zu rechtfertigen, indem er zeigt, dass eine etablierte Wissenschaft, hier die Geometrie, nur durch sie verstanden werden kann. Interessant ist, dass in der A-Ausgabe noch nicht zwischen einer metaphysischen und einer transzendentalen Erörterung unterschieden wird. Während Kant zahlreiche Überlegungen aus der A-Ausgabe in die metaphysische Erörterung übernimmt, hat er die transzendentale Erörterung gänzlich neu entwickelt. Erst in der B-Ausgabe findet sich also eine ausführliche Rechtfertigung der Raumkonzeption durch die Geometrie als bestehende Wissenschaft. Diese Entwicklung ist unter systematischen Gesichtspunkten wichtig: Es wird deutlich, dass die Philosophie unter einem größer werdenden Rechtfertigungsdruck steht und dass sich das Autoritätsverhältnis zwischen Philosophie auf der einen und Mathematik und Naturwissenschaft auf der anderen Seite zunehmend verfestigt. Kant sieht es als eine zentrale Aufgabe der B-Ausgabe, die Frage zu beantworten, wie reine Mathematik und reine Naturwissenschaft möglich sind.109 Dabei entwickelt er sein eigenes philosophisches System, indem er eine Wissenschaftstheorie der etablierten Wissenschaften zu liefern sucht. Die Geometrie ist nach Kant eine synthetische Wissenschaft. D. h. sie geht in ihren Urteilen über den Inhalt der verwendeten Begriffe hinaus. So ergibt sich aus dem Begriff des Dreiecks noch nicht, dass es eine Winkelsumme von 180° haben muss. Dies wird erst durch die Anschauung klar. Dabei hat das Urteil zur Winkelsumme des Dreiecks apodiktische Gewissheit, denn „diese Anschauung muß a priori, d. i. vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes, in uns angetroffen werden […].“110 Die apodiktische Gewissheit der Sätze der Geometrie ist nun nach Kant nur dadurch einzusehen, dass wir in der Lage sind, direkt auf den Raum Bezug zu nehmen. Daraus folgert er die transzendentale Idealität und empirische Realität des Raumes: Wie kann nun eine äußere Anschauung dem Gemüthe beiwohnen, die vor den Objecten selbst vorgeht, und in welcher der Begriff der letzteren a priori bestimmt werden kann? Offenbar nicht anders, als so fern sie bloß im Subjecte als die formale Beschaffenheit desselben von Objecten afficirt zu werden, und dadurch unmittelbare Vorstellung derselben d. i. Anschauung, zu bekommen, ihren Sitz hat, also nur als Form des äußeren Sinnes überhaupt.111

108 109 110 111

KrV B 40. Vgl. KrV B 20. KrV B 41. KrV B 41. Vgl. hierzu auch eine Passage aus der Vorrede zur zweiten Auflage: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniß erweitert wurde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in der Aufgabe der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Ge-

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

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Der Raum ist deshalb Form der Erscheinungen. Alles äußerlich Angeschaute ist notwendig räumlich strukturiert. Der Raum ist als meine Vorstellung – und nur als diese – Bedingung der Möglichkeit meines Erkennens der Außenwelt. Er hat Realität für alle äußeren Erscheinungen, da durch ihn aus den Empfindungen erst räumlich strukturierte Erscheinungen werden. Kants ‚Schlüsse aus obigen Begriffen‘ arbeiten dies weiter aus: Der Raum ist unabhängig von den subjektiven Bedingungen unseres Erkennens nichts, d. h. er kommt nicht den Dingen an sich zu.112 Zusammenfassend schreibt er: Wir behaupten also die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller möglichen äußeren Erfahrung), ob zwar die transcendentale Idealität desselben, d. i. daß er Nichts sei, so bald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen, und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen.113

genstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntniß derselben a priori zusammenstimmt [...].“ KrV B XVI. 112 Eine Prästabiliertheit des Raumes, d. h. die Möglichkeit, dass der Raum sowohl unsere Anschauungsform ist als auch den Dingen an sich zu kommt, wird von Kant explizit ausgeschlossen. Eine solche Prästabiliertheit könnte zwar von uns niemals erkannt werden, da wir keinen Zugang zu den Dingen an sich haben, sie könnte jedoch auch nicht, wie Kant es tut, explizit ausgeschlossen werden. Man vgl. KrV A 41–44 / B 59–61. Indem Kant explizit von der Nichträumlichkeit der Dinge an sich ausgeht, verstößt er gegen seine eigene Beschränkung. Für eine Diskussion dieser ‚trendelenburgischen Lücke‘ vgl. u. a. Trendelenburg 1867, S. 215–276 und Trendelenburg 1870, S. 156–168. Gegen den Vorwurf siehe Willaschek 1997. Der transzendentale Idealismus hängt bei Kant zum einen an der Argumentation der transzendentalen Ästhetik, zum anderen kann er aus dem ‚Widerstreit der Antinomie‘ in der transzendentalen Dialektik gefolgert werden. Zur Antinomik kommt es nur, wenn wir in Raum und Zeit Dinge an sich sehen. Kant schreibt hinsichtlich der doppelten Begründung der transzendentalen Idealität: „Man kann aber auch umgekehrt aus dieser Antinomie einen wahren, zwar nicht dogmatischen, aber doch kritischen und doctrinalen Nutzen ziehen: nämlich die transcendentale Idealität der Erscheinungen dadurch indirect zu beweisen, wenn jemand etwa an dem directen Beweise in der transcendentalen Ästhetik nicht genug hätte.“ KrV A 506 / 534. Vgl. hierzu u. a. auch Wojtowicz 1997. Dieser Fehler Kants wird auch von Fries gesehen (vgl. 5.1.4). 113 KrV A 28 / B 44. Unter § 7 der Erörterung der Zeit geht Kant noch einmal auf die beiden Positionen von Newton und Leibniz ein. Er schreibt: „Dagegen die, so die absolute Realität des Raumes und der Zeit behaupten, sie mögen sie nun als subsistirend, oder nur inhärirend annehmen, mit den Principien der Erfahrung selbst uneinig sein müssen. Denn entschließen sie sich zum ersteren (welches gemeiniglich die Partei der mathematischen Naturforscher ist), so müssen sie zwei ewige und unendliche vor sich bestehende Undinge (Raum und Zeit) annehmen, welche da sind (ohne daß doch etwas Wirkliches ist), nur um alles Wirkliche in sich zu befassen. Nehmen sie die zweite Partei (von der einige metaphysische Naturlehrer sind), und Raum und Zeit gelten ihnen als von der Erfahrung abstrahirte, obzwar in der Absonderung verworren vorgestellte, Verhältnisse der Erscheinung (neben oder nach einander): so müssen sie den mathematischen Lehren a priori in Ansehung wirklicher Dinge (z. E. im Raume) ihre Gültigkeit, wenigstens die apodiktische Gewißheit bestreiten […].“ KrV A 39– 40 / B 56–57.

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4 Kants Raumkonzeption

Die Bedeutung des Raumes für Kants ‚Umkehr der Denkart‘ wird besonders anhand einer Passage der Prol deutlicht. Zur Rolle des Raumes für die Naturgesetze schreibt er: Hier also Natur, die auf Gesetzen beruht, welche der Verstand a priori erkennt und zwar vornehmlich aus allgemeinen Principien der Bestimmung des Raums. Nun frage ich: liegen diese Naturgesetze im Raume, und lernt sie der Verstand, indem er den reichhaltigen Sinn, der in jedem liegt, blos zu erforschen sucht, oder liegt sie im Verstande und in der Art, wie dieser den Raum nach den Bedingungen der synthetischen Einheit, darauf seine Begriffe insgesammt auslaufen, bestimmt?114

Und auf diese rhetorische Frage antwortend: […] [S]o ist der Verstand der Ursprung der allgemeinen Ordnung der Natur, indem er alle Erscheinungen unter seine eigenen Gesetze faßt und dadurch allererst Erfahrung (ihrer Form nach) a priori zu stande bringt, vermöge deren alles, was nur durch Erfahrung erkannt werden soll, seinen Gesetzen nothwendig unterworfen wird. Denn wir haben es nicht mit der Natur der Dinge an sich selbst zu thun, die ist sowohl von Bedingungen unserer Sinnlichkeit als des Verstandes unabhängig, sondern mit der Natur als einem Gegenstande möglicher Erfahrung, und da macht es der Verstand, indem er diese möglich macht, zugleich, daß Sinnenwelt entweder gar kein Gegenstand der Erfahrung oder eine Natur ist.115

Demnach ermöglicht der Raum als unsere Anschauungsform erst die von uns erkannten Gegenstände und Gesetze. Unser Erkenntnisapparat bringt sie erst hervor. Dies steht in einem starken Kontrast zu Newtons Raumkonzeption. In den „Schlüsse[n] aus diesen Begriffen“116 seiner Erörterung der Zeit schreibt Kant, dass er die „absolute Realität“117 der Zeit bestreitet. Das dort von Kant verwendete ‚absolut‘ kann auf seine Diskussion des transzendentalen Idealismus des Raumes übertragen werden und ist eine Reminiszenz an die Leibniz-Clarke-Debatte. Hinsichtlich der empirischen Realität des Raumes vertritt Kant zwar einen newtonschen Standpunkt, er wendet sich aber gegen die absolute Realität des Raumes in dem Sinne, dass der Raum nichts für sich Existierendes ist. Er ist meine Form der Anschauung und hat auch nur als meine Form der Anschauung Realität. Domski fasst die kantische Haltung daher treffend zusammen, wenn sie schreibt: [T]he failure of absolutism is ultimately a failure of ontology: the absolutist offers an acceptable characterization of the relationship space bears to bodies, but […] they mistakenly unite this characterization with unacceptable and essentially contradictory metaphysics according to which space is an existing, self-subsisting non-entity.118

Mit Blick auf die systematische Fragestellung der Arbeit fällt dabei gegenüber Newton und dem vorkritischen Werk eine Veränderung der Autoritätskonzeption 114 115 116 117

Prol AA 04, 321. Prol AA 04, 322. KrV A 32 / B 49. KrV A 35 / B 52. Es sei jedoch noch einmal daran erinnert, dass auch Newton den Raum, nur in einem bestimmten, nicht ontologischen Sinne, als absolut sieht. Vgl. 2.3.4 und 3.1. 118 Domski 2013, S. 440.

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ins Auge. Der Raum wurde bei Newton durch die Allgegenwart Gottes konstituiert. Demgegenüber bringt nach Kant unser Denken selber den Raum hervor. Wir erkennen nicht den Raum in der Welt, sondern der Raum ist die Form, durch die wir die Welt erkennen. Die Vernunft übernimmt hier die konstitutive Rolle, die bei Newton und dem vorkritischen Kant noch Gott innehatte. Den Raum im Substanz-Akzidenz-Schema zu verorten, war ein zentrales Problem von Kants Vorgängern. Indem Kant dem Raum transzendentale Idealität zuschreibt, löst er sich von diesem Verortungsproblem: Der Raum ist nichts Objektives und Reales, weder eine Substanz noch Akzidenz noch eine Relation, sondern etwas Subjektives und Ideales, das aus der Natur des Geistes nach einem unwandelbaren Gesetz hervorgeht, gleichsam als der Plan, alles überhaupt äußerlich Wahrgenommene sich zusammenzuordnen.119

Dabei lässt sich die Wende hin zum transzendentalen Idealismus, wie sie von Kant vollzogen wird, durch den Wechsel der Autorität erklären, auf die sich die Raumkonzeption stützt. Als emanativer Effekt Gottes hatte der Raum bei Newton einen epistemologischen Sonderstatus inne. So kommen dem Raum bestimmte Eigenschaften notwendig zu. Die Notwendigkeit der Raumeigenschaften kann demgegenüber nach Kant nicht durch Gott gerechtfertigt werden. Gott als externe Autorität fällt weg. Die Notwendigkeit von Sätzen über den Raum, wie sie uns in der Geometrie begegnen, wird nun durch die Vernunft begründet. Dies muss jedoch in letzter Konsequenz zum transzendentalen Idealismus führen: So kann die Gültigkeit der synthetischer Sätze apriori, die auf der Vorstellung des Raumes basieren, nur dadurch erklärt werden, dass der Raum unsere Vorstellung ist und durch unseren Erkenntnisapparat in die Welt kommt. Dies führt zu einer Veränderung des Metaphysikbegriffs. So ist Metaphysik als Wissenschaft nur als Wissenschaft von den apriorischen Vorraussetzungen unseres Erkennens möglich. Daher geht mit dem Übergang von Gott zur Vernunft als Autorität auch eine Veränderung des Metaphysikverständnisses einher. Klassische Metaphysik, wie sie die Grundlage der newtonschen Raummetaphysik bildete, wird als Begründung der Raumkonzeption nicht mehr akzeptiert. Sie wird ersetzt durch eine Wissenschaft der apriorischen Vorraussetzungen des menschlichen Erkennens.

4.2.1.2 Widerlegung des Idealismus Im letzten Abschnitt wurde die Raumkonzeption der transzendentalen Ästhetik untersucht. Es ist deutlich geworden, dass Kant für sich in Anspruch nimmt, einen transzendentalen Idealismus und einen empirischen Realismus zu vertreten. Eine der ersten Rezensionen der KrV behauptet nun, dass Kants Position starke Paralle-

119 Kant 1958, S. 58, MSI, AA 02, 403.

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4 Kants Raumkonzeption

len zu Berkeleys Idealismus aufweise. Christian Garve und Johann Georg Heinrich Feder,120 die Verfasser dieser Rezension, schreiben u. a.: Auf diesen Begriffen, von den Empfindungen als blossen Modificationen unserer selbst, (worauf auch Berkeley seinen Idealismus hauptsächlich baut) vom Raum und von der Zeit beruht der eine Grundpfeiler des kantischen Systems.121

Um die Differenzen zwischen seinem System und demjenigen Berkeleys zu unterstreichen, betont Kant deshalb in seinen darauf folgenden Veröffentlichungen immer wieder, dass sein System in Opposition zum Idealismus steht. Dabei unterscheidet er zwischen dem problematischen und dem dogmatischen Idealismus. Der problematische Idealismus, vertreten durch Descartes, hält die Existenz der Gegenstände im Raum für zweifelhaft. Der dogmatische Idealismus, vertreten durch Berkeley122, hält darüber hinausgehend auch den Raum selbst mitsamt den 120 Vgl. Erdmann 1878, S. XI–XIII. Erdmann 1878, S. I–XX gibt einen guten Überblick zur Entwicklung und Rezeption des kantischen Denkens rund um die erste Auflage der KrV. 121 Garve / Feder 1782, S. 41. 122 In der Forschung wird kontrovers diskutiert, ob Kant die Schriften Berkeleys überhaupt rezipiert hat. So schreibt Janitsch mit Bezug auf Riehl 1876 und Erdmann 1878: „Während man sich jedoch anfänglich darauf beschränkte, ihn [Berkeley] gegen die kantischen Angriffe in Schutz zu nehmen, oder auch mit einiger Animosität auf die offenbare Uebereinstimmung beider Philosophen hinzuweisen, fassten neuere Forscher das Problem schärfer in‘s Auge, und sprachen mehr oder weniger entschieden die Vermutung aus, dass Kant seinen idealistischen Vorgänger gar nicht aus eignem Studium kennen gelernt habe.“ Janitsch 1879, S. 1 (zu einem ähnlichen Ergebnis hinsichtlich der Rezeption Berkeleys durch Kant und Euler kommt Breidert 1983, S. 450, vgl. 3.3.2). Allison schreibt kritisch gegenüber Janitsch: „The philological argument, however, loses much of its force when we consider that there was indeed a German translation of Berkeley‘s Dialogues, which although apparently unknown to nineteenth century scholars, was readily accessible to Kant. This is to be found, together with a translation of Collier’s Clavis Universalis and criterical analyses, in a work by the professor of philosophy at Rostock, Johann Christian Eschenbach, entitled: Samlung der vornehmsten Schriftsteller die die Wirklichkeit ihres eignen Körpers und der ganzen Welt leugnen (Rostock, 1756). Furthermore, in addition to this work, which was probably known to Kant, there is Berkeley’s important Latin work, De Motu (1721), as well as French translations of many of Berkeley’s other writings, which Kant was perfectly capable of reading. The existence of these works does not, of course, prove that Kant actually read them. In view, however, of Kant’s great interest in both British philosophers and Schwarmerei, it seems highly probable that Kant had at least some first–hand acquaintance with Berkeley’s thought.” Allison 1973, S. 44. Gegen Allison kann, Waschkies folgend (vgl. 4.1.2), angeführt werden, dass Kant zu wenig Französisch konnte, um auf Übersetzungen der Werke Berkeleys in dieser Sprache zurückzugreifen. Ebenso halte ich es für unwahrscheinlich, dass Kant De Motu gelesen hat. Kant befand sich nach der oben zitierten Rezension im Alarmzustand und versuchte zu zeigen, dass starke Differenzen zwischen seiner Lehre und dem dogmatischen Idealismus bestehen. An mehreren Stellen pocht Kant daher auf die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Schein; auch in den MAN findet sich ein Distanzierungsversuch zur Lehre Berkeleys. So schreibt er in der Phänomenologie, die den Übergang von der Erscheinung zur Erfahrung markiert, recht unzusammenhängend, dass damit nicht der Übergang vom Schein zur Wahrheit gemeint sei. Vgl. MAN, AA 04, 555. In den MAN finden sich jedoch sonst keine Ver-

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

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Dingen in ihm für bloße Einbildung.123 Beide Positionen will Kant von seinem kritischen Idealismus unterschieden wissen.124 Der dogmatische Idealismus, den er mit der Haltung Berkeleys identifiziert, wird nach seiner Ansicht durch die transzendentale Ästhetik widerlegt. So ist es Berkeley Kant zufolge nicht möglich, die Apodiktizität der Mathematik verständlich zu machen. Er hält Berkeleys Attacke auf den newtonschen Raum jedoch für berechtigt. Newtons transzendentaler Realismus provoziert geradezu einen dogmatischen Idealismus: Denn wenn man den Raum und die Zeit als Beschaffenheiten ansieht, die ihrer Möglichkeit nach in Sachen an sich angetroffen werden müßten, und überdenkt die Ungereimtheiten, in die man sich alsdann verwickelt, indem zwei unendliche Dinge, die nicht Substanzen, auch nicht etwas wirklich den Substanzen Inhärirendes, dennoch aber Existirendes, ja die nothwendige Bedingung der Existenz aller Dinge sein müssen, auch übrig bleiben, wenn gleich alle existirenden Dinge aufgehoben werden: so kann man es dem guten Berkeley wohl nicht verdenken, wenn er die Körper zu bloßem Schein herabsetzte; ja es müßte sogar unsere eigene Existenz, die auf solche Art von der für sich bestehenden Realität eines Undinges wie die Zeit abhängig gemacht wäre, mit dieser in lauter Schein verwandelt werden, eine Ungereimtheit, die sich bisher noch niemand hat zu Schulden kommen lassen.125

Demnach sieht Kant in Berkeleys Newtonkritik ein Argument für die eigene Haltung. Noch deutlicher wird dies in der ‚Widerlegung des Idealismus‘:

weise auf Berkeley und dessen Kritik des newtonschen Raumes. Dies wäre sicherlich der Fall, hätte Kant De Motu rezipiert. So hätte bspw. Kants MAN eine hervorragende Möglichkeit geboten, um sich von Berkeleys Immaterialismus zu distanzieren. Eine breite Kritik des berkeleyschen Angriffes auf Newton wäre eine gute, zusätzliche Möglichkeit in den MAN gewesen, sich weiter von der Lehre Berkeleys abzusetzen. Dass Kant es jedoch an jeder Positionierung zu Berkeleys Newtonkritik fehlen lässt, deutet darauf hin, dass er diese schlichtweg nicht kannte. Gleiches gilt für Kants Dynamik. In dem dort vertretenen Kräfteessentialismus steckt ebenfalls viel Potential für eine klare Distanzierung von Berkeleys Kraftbegriff. Von den von Allison genannten Werken bleiben somit nur die Dialogues, welche für diese Untersuchung jedoch nicht relevant sind. Insgesamt scheint Kant zum Zeitpunkt der Verschriftlichung der ersten Auflage der KrV Berkeley nur peripher wahrgenommen zu haben. Zudem gehen die Distanzierungsversuche in den darauf folgenden Veröffentlichungen nur oberflächlich auf Berkeleys Haltung ein und karikieren sie eher. Daher halte ich es für wahrscheinlich, dass Kant die Schriften Berkeleys lediglich durch sekundäre Quellen rezipiert hat. 123 Somit unterscheiden sich die Haltungen in zweierlei Hinsicht: Der problematische Idealismus geht von der Existenz des Raumes aus und hält den Zweifel daran, ob den Erscheinungen Gegenstände zugrunde liegen, jedoch für berechtigt. Die Passage die Kant vor Augen hat könnte bspw. Meditationen S. 57 sein. Demgegenüber wird im dogmatischen Idealismus der Raum mitsamt den Gegenständen geleugnet, d. h. dass diese Haltung über die bloße Möglichkeit der Bezweifelbarkeit hinausgeht. 124 Vgl. Prol AA 04, 375. 125 KrV B 70–71.

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4 Kants Raumkonzeption Der dogmatische Idealism ist unvermeidlich, wenn man den Raum als Eigenschaft, die den Dingen an sich selbst zukommen soll, ansieht; denn da ist er mit allem, dem er zur Bedingung dient, ein Unding.126

Der Vorwurf Kants gegen Newton ist, dass dessen Raumlehre davon ausgeht, dass die im Raum existierenden Dinge auf einer Sache basieren, die selber nicht Substanz ist. Hier attackiert Kant den ontologischen Zwischencharakter des newtonschen Raumes.127 Dieses Problem fällt jedoch weg, wenn man von der transzendentalen Realität des Raumes abkommt und stattdessen von seiner transzendentalen Idealität ausgeht. Kant sieht in Berkeleys Angriff daher eine notwendige Konsequenz der newtonschen Raumkonzeption. Sowohl Newton als auch Berkeley haben jedoch mit unüberwindbaren Schwierigkeiten zu kämpfen. Newton muss ein ‚unendliches Unding‘ annehmen, während Berkeley u. a. nicht klären kann, warum die Mathematik eine apriorische Wissenschaft ist. Beide Probleme lassen sich nach Kant nur durch seinen transzendentalen Idealismus lösen.128

126 KrV B 274. Auffällig ist hier, dass mit Bezug auf den absoluten Raum von Kant immer wieder verwendete Wort ‚Unding‘. Kant gebraucht diesen Terminus an mehreren Stellen hinsichtlich der Annahme eines für sich bestehenden Raumes, d. h. eines Raumes, der mehr ist als subjektive Bedingung unserer Erkenntnis. Vgl. Domski 2013, S. 442. Die Stellen mit Bezug auf den Raum sind: KrV B 71, A 39 / B 56, B 274 und A 433 / B 461, ohne unmittelbaren Bezug auf den Raum: KrV A 315 / B 371 und A 291 / B 348. Dabei ist nach Kant ein ‚Unding‘ ein „[l]eerer Gegenstand ohne Begriff […]“ KrV A 292 / B 348. Näher beschrieben: „Der Gegenstand eines Begriffs, der sich selbst widerspricht, ist Nichts, weil der Begriff Nichts ist […].“ KrV A 291 / B 348. Der Raum soll nach Newton existieren und nicht Substanz sein, ist aber dennoch die Bedingung der Möglichkeit der Substanzen in ihm. Vgl. Domski 2013, S. 442. Hier attackiert Kant den ontologischen Zwischenstatus des newtonschen Raumes. 127 Vgl. Domski 2013, S. 442 sowie 3.1.1. 128 Durch die Argumentation der transzendentalen Ästhetik hält Kant die berkeleysche Position für widerlegt. Hinsichtlich des skeptischen Idealismus besteht die Differenz nach ihm darin, dass seine eigene Position nicht nur von der Existenz von denkenden Wesen und deren Vorstellungen ausgeht, sondern auch davon, dass den Erscheinungen Gegenstände zugrunde liegen. Diese Dinge an sich sind uns jedoch in ihrer Beschaffenheit völlig unbekannt. Vgl. Prol AA 4, 288–290. Der von Kant zur Widerlegung des Idealismus vorgebrachte Lehrsatz lautet: „Das bloße, aber empirisch bestimmte Bewußtsein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir.“ KrV B 275. Nach seinem ‚Beweis’ kann sich unser innerer Zustand jedoch nicht aufgrund von Vorstellungen ändern (für eine genaue Darstellung des ‚Beweises’ vgl. Bremer 2001). Solche Veränderungen können, so Kant, nur dadurch erklärt werden, dass Gegenstände außerhalb von uns angenommen werden, die diese Veränderung hervorbringen. Dem Argumentationsgang nach findet sich dieser Beweis bereits in ähnlicher Form beim vorkritischen Kant. Vgl. PND, AA 01, 410–412, dies wird auch gesehen von Heidemann 1998, S. 36.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

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4.2.2 Der Raum in den MAN In den bisherigen Untersuchungen ist deutlich geworden, dass Kant zwar Aspekte des newtonschen Raumes übernimmt, der Raum aufgrund seines transzendentalen Idealismus jedoch eine ganz neue Bedeutung erhält, was mit einem veränderten Metaphysikverständnis einhergeht. Eine auf der KrV aufbauende Auseinandersetzung mit dem absoluten Raum findet sich in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft. Dieses Werk gilt es im Folgenden zu analysieren. Die MAN bestehen aus einer Vorrede und vier Hauptstücken. Zu Beginn meiner Untersuchung soll die Zielsetzung der Schrift und der Bezug zu Newtons Principia anhand einer Analyse zentraler Passagen der Vorrede geklärt werden (4.2.2.1). Da die einzelnen Hauptstücke aufeinander aufbauen und auch die Raum- und Bewegungskonzeption unterschiedliche Stadien durchläuft, orientiere ich mich in meinen Ausführungen am Aufbau der Schrift. Im ersten Hauptstück, der Phoronomie, behandelt Kant für die Mathematisierung der Physik notwendige Konstruktion von Bewegung. Die von ihm dabei vorgetragene Raum- und Bewegungskonzeption gilt es zunächst zu betrachten (4.2.2.2). In der Dynamik erarbeitet Kant seine Materiekonzeption. In diesem Hauptstück finden sich keine Ausführungen zum Raum. Ich werde die von Kant dort vorgetragene Herleitung der Attraktionskraft jedoch nutzen, um auf die Trias aus Gott/Vernunft, Raum und Gravitation einzugehen (4.2.2.3). Im dritten Hauptstück, die Mechanik, führt Kant mehrere Lehrsätze, d. h. Grundgesetze der Physik, ein. Dabei erhält der absolute Raum hier die Funktion eines Schwerpunktsystems, die es zu untersuchen gilt (4.2.2.4). Im letzten Hauptstück, der Phänomenologie, geht Kant auf die verschiedenen Typen von Bewegung ein und diskutiert die Rolle des absoluten Raumes als Idee der Körperlehre. Eine Analyse der von Kant gegebenen Unterteilung und eine Gegenüberstellung mit der Position Newtons rundet die Untersuchung der MAN ab (4.2.2.5). Im Anschluss werde die ich auf die Funktion des absoluten Raumes als Idee eingehen und die Spannung zwischen dieser Konzeption und dem Raum als Anschauungsform herausarbeiten (4.2.2.6), um schließlich die kantische Konzeption kritisch zu diskutieren (4.2.2.7).

4.2.2.1 Einordnung der MAN Zu Beginn sollen zentrale systematische Aspekte der MAN analysiert und die Zielsetzung des Werkes geklärt werden. Ich werde die MAN daher zunächst kurz architektonisch in der Philosophie Kants verorten, um dann sein Wissenschaftsverständnis zu untersuchen. Daraufhin behandele ich das Verhältnis der MAN zu den Principia, um schließlich Kants Vorgehen in dieser Schrift zu skizzieren.

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4 Kants Raumkonzeption

Systematische Verortung der MAN Am Ende der Vorrede zur A-Ausgabe der KrV129 von 1781 kündigt Kant die Veröffentlichung eines naturphilosophischen Werkes an.130 Dabei stellt er diese ‚Metaphysik der Natur‘, wie er sie nennt, der KrV gegenüber. Die KrV muss die „Quellen und Bedingungen“ eines solchen „System[s] der reinen (speculativen) Vernunft“ freilegen, das dann „bei noch nicht der Hälfte der Weitläufigkeit dennoch ungleich reicheren Inhalt haben soll […].“131 Die KrV behandelt demnach als Propädeutik die apriorischen Quellen der Metaphysik.132 Die Metaphysik unterteilt sich nun in eine Metaphysik der Freiheit (als Metaphysik der Sitten) und eine Metaphysik der Natur.133 Einen Teil der Metaphysik der Natur bildet die Immanente Physiologie.134 Diese ist wiederum zweigeteilt. Kant schreibt:

129 Ebenso finden sich in den zu Lebzeiten Kants unveröffentlichten Papieren, Skizzen und Bemerkungen zu Ausarbeitungen, die thematisch in Richtung der MAN deuten. Vgl. hierzu Plaaß 1965, S. 15–16, Pollok 1997, S. XX, Pollok 2000, S. 2. Für eine detaillierte Untersuchung der Entstehung der MAN, an der sich auch diese Darstellung in Teilen orientiert, vgl. Pollok 1997, S. XIX–XXIX. Siehe auch Görg 2010. 130 Die MAN galten lange Zeit als blinder Fleck der Kantforschung. Die oberflächliche Rezeption behandelt zumeist die Vorrede des Werkes. Vgl. hierzu z. B. Plaaß 1965, S. 105, Pollok 1997, S. XXV–XXVII, Pulte 2005a, S. 228. Dieses Desiderat der Kantforschung wurde im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts und schließlich mit dem Erscheinen eines kritischen Gesamtkommentars (Pollok 2000) behoben. Hinsichtlich des Versuchs einer genaueren Einordnung des Werkes in die kritische Philosophie sei hier auf Plaaß 1965 und die Kommentierung der Vorrede in Pollok 2000, S. 45–179 verwiesen. 131 Alle drei Zitate aus KrV A XXI. Ob die MAN, abgesehen von der ausgelassenen Behandlung der rationalen Seelenlehre, dieses geplante Werk vollständig repräsentieren, ist fraglich. So spricht Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage von 1787, also ein Jahr nach der Veröffentlichung der MAN von seinem Ziel, die Metaphysik der Natur zu vollenden. Vgl. KrV B XLIII, dies wird auch von Plaaß 1965, S. 18–19 gesehen. Kant wollte also nach dem Erscheinen der MAN die Metaphysik der Natur immer noch vervollständigen. Dies zeigt, dass er sein Werk nicht als vollendet ansah. Auch wenn die kritische Phase durch die praktische Philosophie dominiert ist, wird deutlich, dass Kant sich auch in dieser Zeit immer wieder intensiv mit naturphilosophischen Fragen auseinandersetzte. Daraus, wie auch aus Passagen des OP, lässt sich erschließen, dass er, trotz anders lautendem Selbstzeugnis („Mehr ist hier nicht zu thun, zu entdecken oder hinzuzusetzen, sondern allenfalls, wo in der Deutlichkeit oder Gründlichkeit gefehlt sein möchte, es besser zu machen.“ MAN, AA 04, 476) hinsichtlich seiner naturphilosophischen Ausarbeitungen nie zu einem ihn endgültig zufriedenstellenden Ergebnis kam. Die MAN müssen daher als Momentaufnahme einer stetigen, jahrlangen Beschäftigung mit Problemen der Naturphilosophie gelesen werden. 132 Vgl. KrV A 841 / B 869. 133 Kant schreibt über die Metaphysik der Natur: „Jene enthält alle reine Vernunftprincipien aus bloßen Begriffen (mithin mit Ausschließung der Mathematik) von dem theoretischen Erkenntnisse aller Dinge […].“ KrV A 841 / B 869. 134 Für eine genauere Einordnung der Immanenten Physiologie in die Metaphysik der Natur, die hier nicht erfolgen kann, vgl. Pollok 2000, S. XXIX–XXXIV.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

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Die Metaphysik der körperlichen Natur heißt Physik, aber, weil sie nur die Principien ihrer Erkenntniß a priori enthalten soll, rationale Physik. Die Metaphysik der denkenden Natur heißt Psychologie, und aus der eben angeführten Ursache ist hier nur die rationale Erkenntniß derselben zu verstehen.135

Die MAN umfassen also nicht die gesamte Metaphysik der Natur, sondern sind nur ein Teil des geplanten Projekts.136 Sie beinhalten die immanente Physiologie der körperlichen Natur, genauer die rationale Physik.137 Zielsetzung der MAN In der Vorrede der MAN entwirft er die Aufgabenstellung der Schrift. Hierzu geht er auf die unterschiedlichen Bedeutungen des Naturbegriffs ein. Dieser kann entweder in formaler oder in materieller Bedeutung138 verstanden werden.139 Letztere beinhaltet den „Inbegriff aller Dinge, sofern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können“140 und ist hier für Kant von Interesse. Gemäß der Differenzierung zwischen einem inneren und einem äußeren Sinn ergibt sich daraus eine Zweiteilung in Seelen- und Körperlehre.141 Die MAN behandeln nur die Körperlehre in materieller Bedeutung. Ein ursprünglich geplanter Anhang zur Seelenlehre142 findet sich nicht. Dies hat mit Kants

135 KrV A 846 / B 874. 136 Vgl. Plaaß 1965, S. 17–18. Die anderen von Kant in der Architektonik skizzierten Teile der Metaphysik der Natur finden sich nicht in Kants Werk. Siehe Pollok 2000, S. 55. 137 Man beachte hinsichtlich der Identifikation der MAN mit der rationalen Physik auch Pollok 2000, S. 55 und Goy 2007, S. 144–145. 138 Siehe KrV A 418–419 / B 445. Man vgl. für die Unterscheidung zwischen formal und material auch den Beginn der Vorrede der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Siehe GMS, AA 04, 387. 139 Die Architektonik der reinen Vernunft trifft diese Unterscheidung nicht. Dort setzt Kant gleich mit dem materiellen Naturbegriff ein. Vgl. KrV A 845 / B 873. 140 MAN, AA 04 467. 141 Nach der KrV betrachtet Kant die Physiologie als „den Inbegriff gegebener Gegenstände, (sie mögen nun den Sinnen, oder, wenn man will, einer andern Art von Anschauung gegeben sein) […].“ KrV A 845 / B 873. Die danach in der KrV erfolgende Unterscheidung in immanent und transzendent wird in der MAN jedoch nicht getroffen (die Natur in materialer Bedeutung beinhaltet „das Ganze aller Erscheinungen, d. i. die Sinnenwelt, mit Ausschließung aller nicht sinnlichen Objecte […].“ MAN, AA 04, 467). Vielmehr beschränkt sich Kant in seinen Erörterungen von vornherein auf die immanente Physiologie. 142 Kant hatte vor dem Verfassen der MAN das Ziel, die gesamten apriorischen Prinzipien der immanenten Physiologie abzuhandeln. Er schreibt in einem Brief an Schütz: „Ehe ich zur besprochenen Metaphysik der Natur gehe, mußte ich vorher dasjenige, was zwar eine bloße Anwendung derselben ist, aber doch einen empirischen Begriff voraussetzt, nämlich die metaphysischen Anfangsgründe der Körperlehre, so wie in einem Anhange die der Seelenlehre abmachen […].“ Brief von Kant an Schütz vom 13.09.1785, Briefe, AA 10, 406. Vgl. dazu im Folgenden die Anmerkung zu den von Kant aus den MAN ausgeschlossenen Disziplinen. Siehe hierzu auch Pollok 1997, S. XX.

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4 Kants Raumkonzeption

Wissenschaftsverständnis zu tun, dass es nun mit Blick auf die diemersche Systematik zu untersuchen gilt. Kant versteht unter Wissenschaft „[e]ine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Principien geordnetes Ganze[s] der Erkenntniß, sein soll […].“143 Handelt es sich bei diesen Prinzipien um empirische Grundsätze, so haben wir es mit einer historische Naturlehre zu tun.144 Liegen jedoch rationale Grundsätze vor, so entsteht Naturwissenschaft.145 Diese wird von Kant in eigentliche und uneigentliche Naturwissenschaft unterteilt. Die erste enthält die apriorischen Prinzipien, die zweite basiert auf Gesetzen der Erfahrung. Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist; Erkenntniß, die blos empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen.146

Die eigentliche Naturwissenschaft ist apodiktisch. Wie Kant sich den Aufbau der Naturwissenschaft vorstellt, wird in seinen Überlegungen zur Systemkonzeption in der Architektonik der reinen Vernunft deutlich. Dort schreibt er: Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.147

Die Ordnung der Wissenschaft wird also durch eine zugrundeliegende Idee gegeben: Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es kann zwar innerlich (per intussusceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen, wie ein thierischer Körper, dessen Wachsthum kein Glied hinzusetzt, sondern, ohne Veränderung der Proportion ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht.148

Nach Kant besitzt die Physik also ein apriorisches ‚Skelett‘.149 Die MAN haben das Ziel, dieses Skelett herauszuarbeiten. Dabei wurzelt die Wissenschaftlichkeit der Physik in ihrer mathematischen Struktur. Kant schreibt: Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.150

143 MAN, AA 04, 467. 144 Noch einmal unterteilt in Naturbeschreibung (einer Klassifizierung nach empirischen Grundsätzen) und Naturgeschichte. 145 Hinsichtlich der Genese dieser Unterscheidungen vgl. Refl. 40, AA 14, 118 und Plaaß 1965, S. 25. 146 MAN, AA 04, 468. 147 KrV A 832 / B 860, vgl. hierzu auch Gloy 1976, S. 176. 148 KrV A 833 / B 861. 149 Für eine Einordnung der kantischen MAN in die klassische Wissenschaftskonzeption vgl. auch Abschnitt 1.3. 150 MAN, AA 04, 470.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

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Mathematik ist die apriorische Konstruktion von Begriffen151 in der reinen Anschauung. Demgegenüber verfährt die Philosophie diskursiv. Naturwissenschaft hat es nun mit synthetischen Sätzen a priori zu tun und muss somit auf die Mathematik zurückgreifen. Wie bereits gezeigt, wird das synthetische Urteil ‚ein Dreieck hat eine Winkelsumme von 180°‘ nach Kant durch die mathematische Konstruktion der Begriffe in der Anschauung ermöglicht. Eine bloße Analyse der verwendeten Begriffe, wie sie in der Philosophie stattfindet, würde nicht zu diesem Ergebnis führen.152 Um synthetische Urteile a priori in der Naturwissenschaft zu ermöglichen, müssen ihre Konzeptionen in der reinen Anschauung konstruiert werden.153 Dies geschieht durch die Mathematik. Bereits in Abschnitt 1.3 wurde gezeigt, dass Kants Überlegungen zur Wissenschaft in den MAN zeigen, dass er ein Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption ist. Eigentliche Wissenschaft ist apodiktisch (1. Absolutheitsthese). Sie hat es mit materialen Wahrheiten zu tun (2. Wahrheitsvorraussetzung) und macht keine partikulären, sondern allgemeine Aussagen (3. Allgemeinheitspostulat). Ihre Evidenz ergibt sich daraus, dass ihre Aussagen aus höher liegenden Sätzen (dem System der Grundsätze der KrV154) abgeleitet werden (4. LogischerAbleitungsEvidenz-Charakter). Auch Kants Diktum, nach dem Wissenschaftlichkeit mit Mathematisierbarkeit einhergeht, bestätigt, dass er ein Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption ist. Diemer schreibt, u. a. mit Bezug auf den gerade besprochenen kantischen Passus: Es kann hier nicht genug betont werden, daß hier [mit Bezug auf den Vorrang der Mathematik für die Grundlegung der Wissenschaft] primär nicht der Größen- und Meßcharakter im Vordergrund steht. […] Im Vordergrund steht die absolute Gültigkeit wie umgekehrt absolute Einsichtigkeit mathematischer Gesetzlichkeit. Der Meßcharakter tritt erst dann in den Vordergrund, als die absoluten Instanzen wie Gott und Vernunft zweifelhaft werden, und schließlich nur noch die subjektive […] Gewißheit zählt.155

Kants Gedanke ist nicht, dass aufgrund der Mathematisierung der Naturwissenschaft exakte Messungen vorgenommen werden können. Vielmehr entspringt die Forderung nach Mathematisierbarkeit aus seinem apriorischen Wissenschaftsverständnis, was ihn als Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption auszeichnet. Dies führt dazu, dass er allen anderen Disziplinen außer der Physik den Wissenschaftsstatus kategorisch abspricht. So wird die Chemie nach seiner Prognose niemals den Status einer Wissenschaft erlangen, da ihre Prinzipien nicht mathematisiert werden können.156 Gleiches gilt für die Psychologie.157 Dies ist auch der Grund für das Fehlen der Seelenlehre in den MAN. Kant beschränkt sich daher auf

151 152 153 154 155 156 157

Vgl. KrV A 716–718 / B 745–747. Vgl. KrV A 717–719 / B 745–747. Dies wird im ersten Hauptstück, der Phoronomie von Kant ausgearbeitet. Vgl. 4.2.2.2. Vgl. Vgl. 4.2.2.2.–4.2.2.5, insb. 4.2.2.4. Diemer 1968b, S. 25–26. Vgl. MAN, AA 04, 470–471. Vgl. MAN, AA 04, 471.

158

4 Kants Raumkonzeption

eine metaphysische Fundierung der Physik. Dabei versteht er jedoch unter Physik im Wesentlichen die Mechanik. Das Verhältnis der MAN zur newtonschen Principia Kants MAN müssen verstanden werden als eine Bestimmung der apriorischen Grundlagen der Mechanik. Die Mechanik, die er dabei vor Augen hat, ist in weiten Teilen die der Principia.158 Kant erhebt dabei natürlich nicht den Anspruch, lediglich dieses Werk einer metaphysischen Fundierung zu unterziehen. Dies wird auch durch verschiedene, noch aufzuzeigende, Differenzen zwischen beiden Werken deutlich, auf die in der jüngeren Forschung hingewiesen wird. Vielmehr geht es Kant um eine metaphysische Fundierung der Mechanik, wobei die Principia paradigmatische Bedeutung für Kant hat.159 Eine Herleitung der Grundsätze der im Wesentlichen durch Newton begründeten Mechanik aus den Prinzipien der KrV wäre dabei ein prestigeträchtiger Erfolg des kritischen Systems. Kants Ziel einer metaphysischen Fundierung der Körperlehre steht, wie er selbst bemerkt, jedoch im Widerspruch zu der newtonschen Methodologie: Alle Naturphilosophen, welche in ihrem Geschäfte mathematisch verfahren wollten, haben sich daher jederzeit (obschon sich selbst unbewußt) metaphysischer Principien bedient und bedienen müssen, wenn sie sich gleich sonst wider allen Anspruch der Metaphysik auf ihre Wissenschaft feierlich verwahrten. Ohne Zweifel verstanden sie unter der letzteren den Wahn, sich Möglichkeiten nach Belieben auszudenken und mit Begriffen zu spielen, die sich in der Anschauung vielleicht gar nicht darstellen lassen, und keine andere Beglaubigung ihrer objectiven Realität haben, als daß sie blos mit sich selbst nicht im Widerspruche stehen. Alle wahre Metaphysik ist aus dem Wesen des Denkungsvermögens selbst genommen und keinesweges darum erdichtet, weil sie nicht von der Erfahrung entlehnt ist, sondern enthält die reinen Handlungen des Denkens, mithin Begriffe und Grundsätze a priori, welche das Mannigfaltige der empirischer Vorstellungen allererst in die gesetzmäßige Verbindung bringt, dadurch es empirisches Erkenntniß, d. i. Erfahrung, werden kann. So konnten also jene mathematische Physiker metaphysischer Principien gar nicht entbehren und unter diesen auch nicht solcher, welche den Begriff ihres eigentlichen Gegenstandes, nämlich der Materie, a priori zur Anwendung auf äußere Erfahrung tauglich machen, als des Begriffs der Bewegung, der Erfüllung des Raums, der Trägheit, u.s.w. Darüber aber blos empirische Grundsätze gelten zu lassen, hielten sie mit Recht der apodiktischen Gewißheit, die sie ihren Naturgesetzen geben wollten, gar nicht gemäß, daher sie solche lieber postulirten, ohne nach ihren Quellen a priori zu forschen.160

158 Vgl. Friedman 1992, S. 136. 159 Vgl. Pollok 1997. Diese Interpretation wird dadurch bestätigt, dass Kant im Opus Postumum von Newtons Principia als den „mathematische[n] Anfangsgründe[n] der Naturwissenschaft“ (OP, AA 21, 161) spricht. Vgl. Pollok 1997, S. XXXIX. 160 MAN, AA 04, 472. Kant spielt hier auf Newtons ‚Hypothesis non fingo’ an, das im achtzehnten Jahrhundert von den Anhängern Newtons gegen die Philosophie Leibniz und Wolffs vorgebracht wurde. Hinsichtlich der Adressierung des Absatzes vgl. die Anmerkung in Pollok 1997, S. 128 sowie Pollok 2000, S. 113.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

159

Dieser Absatz der Vorrede bezieht sich in seiner Charakterisierung der Naturphilosophen und mathematischen Physiker auf Newton.161 Zwar richtet auch Kant sich gegen die Schwärmereien der Metaphysiker, glaubt jedoch, dass Newton in seiner Ablehnung zu undifferenziert vorgegangen ist. So können nach Kant zahlreiche Grundsätze der newtonschen Naturwissenschaft anhand eines durch die Kritik geläuterten Vernunftgebrauchs hergeleitet werden. Dabei sieht Kant auch die Begründungsschwierigkeiten, die aus Newtons empiristischer Methodologie entspringen und die im Konflikt zu seinem Anspruch stehen, den Grundlagen seines Systems quasi mathematische Evidenz zu geben.162 Er bemerkt, dass Newton neben seinem ‚vorgeschobenen‘ Empirismus auf Überlegungen zurückgreift, die in Widerspruch zur Methodologie der Principia stehen.163 Sein Ziel in den MAN ist es daher, diese Grundsätze der Körperlehre a priori bereitzustellen. Die Kritik der newtonschen Mechanik bezieht sich demnach nicht auf den mathematischen oder physikalischen Teil, sondern vielmehr auf das zugrundeliegende, in Kants Augen mangelhafte metaphysische Fundament. Kants Vorgehen in den MAN Wie deutlich geworden ist, sollen in den MAN der an sich korrekten Mechanik Newtons eine metaphysische Basis vorangestellt werden, indem ihre grundlegenden Konzeptionen wie Raum, Materie und Kräfte aus der kritischen Philosophie hergeleitet werden. Um dies zu ermöglichen, gilt es den Begriff der Materie auf die apriorische Konstruktion in der Anschauung, d. h. die Mathematisierung, vorzubereiten:164 Damit aber die Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre, die durch sie allein Naturwissenschaft werden kann, möglich werde, so müssen Principien der Construction der Begriffe, welche zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören, vorangeschickt werden; mithin wird eine vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt zum Grunde gelegt werden müssen, welches ein Geschäfte der reinen Philosophie ist, die zu dieser Absicht sich keiner besonderen Erfahrungen, sondern nur dessen, was sie im abgesonderten (obzwar an sich empirischen) Begriffe selbst antrifft, in Beziehung auf die reinen Anschauungen im Raume und der Zeit (nach Gesetzen, welche schon dem Begriffe der Natur überhaupt wesentlich anhängen) bedient, mithin eine wirkliche Metaphysik der körperlichen Natur ist.165

161 Vgl. Pollok 1997, S. 128. 162 Vgl. 2.2.6 und Brief von Newton an Cotes vom 28.03.1713, Newton Correspondence V, S. 396–397, sowie Pulte 2005a, S. 126–131. 163 Man denke nur an Kants Newtoncharakterisierung in der transzendentalen Ästhetik, die ihn in harten Kontrast zu seinen empiristischen Zeitgenossen stellt. Vgl. 4.2.1.1. 164 Wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird, ist die Mathematisierbarkeit als Wissenschaftskriterium der 'Scheideweg' zwischen der Naturphilosophie des deutschen Idealismus und der mathematischen Naturphilosophie Fries. Vgl. MN, S. I–VI, WW 13, I–VI. Siehe auch Bonsiepen 1997, S. 432–433, sowie die Ausarbeitungen in 5.1.2 und 5.2.2. 165 MAN, AA 04, 472.

160

4 Kants Raumkonzeption

In den MAN wird der Begriff der Materie daher durch die Kategorien der KrV bestimmt.166 Daraus leitet sich der Aufbau des Werkes ab: Der Begriff der Materie wird bezüglich des Prädikats der Bewegung nach den Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität untersucht. Entsprechend ergibt sich eine Unterteilung der MAN in die Hauptstücke Phoronomie, Dynamik, Mechanik und Phänomenologie. All diese Hauptstücke beginnen mit den Worten „Materie ist das Bewegliche“167. Demnach handelt es sich bei der Materie um das Subjekt, dass in den MAN gemäß dem Prädikat der Bewegung untersucht wird. Dabei greift Kant immer wieder auf das System der Grundsätze der KrV zurück. Auf der einen Seite benötigt die MAN die KrV, denn in der KrV werden die Prinzipien herausgearbeitet, die in den MAN ihre Anwendung finden. Auf der anderen Seite bieten die MAN eine ‚veranschaulichende Konkretisierung‘ der Ergebnisse des kritischen Hauptwerkes:168 Und so thut eine abgesonderte Metaphysik der körperlichen Natur der allgemeinen vortreffliche und unentbehrliche Dienste, indem sie Beispiele (Fälle in Concreto) herbeischafft, die Begriffe und Lehrsätze der letzteren (eigentlich der Transcendentalphilosophie) zu realisieren, d. i. einer bloßen Gedankenform Sinn und Bedeutung unterzulegen.169

Kants apriorische Wissenschaftskonzeption führt dabei dazu, dass er den Anspruch erhebt, in den MAN die gesamte metaphysische Körperlehre vollkommen erschöpfend behandelt zu haben:170 Mehr ist hier nicht zu thun, zu entdecken oder hinzuzusetzen, sondern allenfalls wo in der Deutlichkeit oder Gründlichkeit gefehlt sein möchte, es besser zu machen.171

Im Folgenden sollen die vier Hauptstücke mit Blick auf die Fragestellung der Arbeit untersucht werden.

166 Bzw. den synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes. 167 MAN, AA 04, 480, 496, 536, 554, wobei die Sperrung der Worte ‚Materie‘ und ‚Bewegliche‘ lediglich bei den ersten beiden Hauptstücken auftritt. 168 Vgl. dazu Plaaß 1965, S. 20–21. Er formuliert: „Also nicht nur stützen sich die M.A. offensichtlich auf das in der Kritik Ausgeführte, sondern sie sind zweifellos von Kant zugleich gedacht als eine Anwendung, in der allererst gewisse Züge des Grundsatzes sich in der nötigen Konkretheit zeigen und diskutierbar werden.“ Plaaß 1965, S. 20. Und weiter: „Was hier also mit einer Deutlichkeit, die keinen Zweifel zulässt, gesagt wird: daß die Dienste der M.A. für die allgemeine Metaphysik ganz unentbehrlich sind, das heißt doch nicht mehr und nicht weniger, als daß eine jede Auslegung der Kr.d.r.V., die in deren positiven Teilen Verständnis erreichen will, in ständiger Beziehung auf die M.A. zu führen ist.“ Plaaß 1965, S. 20. Man siehe hierzu auch Westphal 1995. 169 MAN, AA 04, 478. 170 Vgl. MAN, AA 04, 473. 171 MAN, AA 04, 476.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

161

4.2.2.2 Phoronomie Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die Vorrede MAN betrachtet wurde, gilt es nun, die einzelnen Hauptstücke nacheinander mit Blick auf die Raum- und Bewegungskonzeption zu untersuchen. Das erste Hauptstück ist die Phoronomie. In ihm behandelt Kant die Überlagerung von Bewegung. Im Folgenden werde ich zunächst Kants Raumkonzeption der newtonschen gegenüberstellen, um daraufhin Kants Bewegungskonstruktion genauer zu analysieren. Kants Raum- und Bewegungskonzeption in der Phoronomie Um die Überlagerung von Bewegung zu betrachten, abstrahiert Kant im ersten Hauptstück von allen Eigenschaften der Materie (Ausdehnung, wirkenden Kräften etc.) – abgesehen von ihrer Beweglichkeit – und stellt sich die Körper als punktförmig vor. Gleich in der ersten Erklärung führt er dabei die Unterscheidung zwischen absolutem und relativem Raum ein: Materie ist das Bewegliche im Raume. Der Raum, der selbst beweglich ist, heißt der materielle, oder auch der relative Raum; der, in welchem alle Bewegung zuletzt gedacht werden muß (der mithin selbst schlechterdings unbeweglich ist), heißt der reine, oder auch absolute Raum.172

Kant übernimmt also die newtonsche Terminologie aus dem ersten Absatz des Scholions. Er unterzieht sie jedoch einer Umdeutung. So ist das Verhältnis des absoluten Raumes zu den relativen Räumen für Kant und Newton ein grundlegend anderes:173 Bei Newton war der relative Raum das ‚Maass des absoluten Raumes‘174, d. h. der relative Raum war in seiner Existenz unmittelbar vom absoluten Raum abhängig. Demgegenüber unterstreicht Kant in der Phoronomie, dass er als absoluten Raum lediglich den äußersten relativen Raum verstanden wissen will. Gleich nach der eingangs zitierten Erklärung legt Kant dar, wie er sich das Verhältnis von relativen Räumen zum absoluten Raum vorstellt. Der relative Raum ist nach ihm aus zwei Elementen zusammengesetzt: Auf der einen Seite steht der Raum als Form der Anschauung, d. h. der Raum der transzendentalen Ästhetik. Auf der anderen Seite das Mannigfaltige, das als Materie im metaphysischen Sinne in der Form der Anschauung gegeben wird.175 Beide werden nach Kant von uns zu einem relativen Raum verbunden. Deshalb spricht Kant auch

172 MAN, AA 04, 480. 173 Ich folge hier Palter, der schreibt: “Kant’s exposition here is indeed the very opposite of Newton’s, for where Newton begins with absolute space in terms of which he characterizes relative space, Kant begins with relative spaces, in terms of which he characterizes absolute space.” Palter 1971, S. 51–52. 174 Vgl. Dt. Principia, S. 28. Siehe hierzu auch die Analyse zu Newtons mathematischen Realismus in 2.3.5. 175 „[…] so ist Materie ein jeder Gegenstand äußerer Sinne […].“ MAN, AA 04, 481.

162

4 Kants Raumkonzeption

vom materiellen oder empirischen Raum – zwei Bezeichnungen, die bei Newton nicht auftauchen. Zum relativen Raum schreibt Kant: In aller Erfahrung muß etwas empfunden werden, und das ist das Reale der sinnlichen Anschauung, folglich muß auch der Raum, in welchem wir über die Bewegungen Erfahrung anstellen sollen, empfindbar, d. i. durch das, was empfunden werden kann, bezeichnet sein, und dieser, als der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung und selbst ein Object derselben, heißt der empirische Raum.176

Der relative Raum ist der Inbegriff der Körper als Gegenstände der Erfahrung. Der Raum als bloße Form der Anschauung, d. h. der Raum der transzendentalen Ästhetik, reicht zur Bewegungbegründung nicht aus:177 Bewegung kann es nur zwischen Erfahrungsgegenständen geben. Demnach muss der Raum, in dem Bewegung stattfinden soll, selbst wieder Gegenstand der Erfahrung sein. Aus diesem Grund benötigen wir für die Begründung einer Bewegungskonzeption einen relativen oder materiellen Raum, der bloß reine Raum reicht dazu nicht aus. Ein materieller Raum ist jedoch selber wieder beweglich: Ein beweglicher Raum aber, wenn seine Bewegung soll wahrgenommen werden können, setzt wiederum einen anderen, erweiterten materiellen Raum voraus, in welchem er beweglich ist, dieser eben sowohl einen andern und so forthin ins Unendliche.178

Jeder relative Raum ist somit beweglich in einem weiteren relativen Raum. Diese Vorstellung von ineinander geschachtelten, immer umfassenderen relativen Räumen ist für Kant von zentraler Bedeutung. Hier kommt der absolute Raum als jeweils äußerer Raum ins Spiel: Einen absoluten Raum, d. i. einen solchen, der, weil er nicht materiell ist, auch kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, als für sich gegeben annehmen, heißt etwas, das weder an sich, noch in seinen Folgen (der Bewegung im absoluten Raum) wahrgenommen werden kann, um der Möglichkeit der Erfahrung willen annehmen, die doch jederzeit ohne ihn angestellt werden muß. Der absolute Raum ist also an sich nichts und gar kein Object, sondern bedeutet nur einen jeden andern relativen Raum, den ich mir außer dem gegebenen jederzeit denken kann, und den ich nur über jeden gegebenen ins Unendliche hinausrücke, als einen solchen, der diesen einschließt und in welchem ich den ersteren als bewegt annehmen kann.179

Newton und Kant unterscheiden sich jedoch an dieser Stelle nicht nur hinsichtlich ihrer Interpretation von absoluten und relativen Räumen. Es besteht auch eine Differenz in ihrer Bewegungskonzeption. Bei Newton ist Bewegung Ortsveränderung. Der Ort ist Teil des absoluten oder des relativen Raumes und damit entweder absolut oder relativ, woraus die Unterscheidung zwischen relativer und abso-

176 MAN, AA 04, 481. 177 Die zusätzliche Notwendigkeit der Zeit, um die Beweglichkeit des Raumes zu gewährleisten, bleibt hier außen vor. Für eine Untersuchung des Überganges vom Raum als Form der Anschauung zum Raum als Begriff bis hin zum relativen und schließlich absolutem Raum vgl. Palter 1971. 178 MAN, AA 04, 481. 179 MAN, AA 04, 481.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

163

luter Bewegung resultiert. Demgegenüber wird bei Kant die Bewegung nicht durch die Ortsveränderung erklärt. Er verzichtet auf den Zwischenschritt eines Ortes und fasst Bewegung als Veränderung des Verhältnisses zu einem Raum auf.180 Dadurch gelingt es ihm, die Rotation, die stets eine Änderung des Verhältnisses zum Raum, jedoch nicht des Ortes sein muss, in seine Bewegungskonzeption einzuschießen.181 Dabei pocht er darauf, dass Bewegung stets relativ ist, d. h. dass sie immer nur zwischen einem Körper und einem materiellen Raum bestehen kann. Kants Bewegungskonstruktion Kants absolutem Raum kommt in der Phoronomie eine zentrale Bedeutung bei der Konstruktion der Bewegung zu. Diese Konstruktion der Bewegung zu ermöglichen, ist die eigentliche Aufgabe der Phoronomie: Den Begriff einer zusammengesetzten Bewegung construiren heißt eine Bewegung, so fern sie aus zwei oder mehreren gegebenen in einem Beweglichen vereinigt entspringt, a priori in der Anschauung darstellen.182

Die Aufgabe der Phoronomie ist es, die Mathematisierung der Naturwissenschaft zu gewährleisten:183 Phoronomie ist also die reine Größenlehre (Mathesis) der Bewegungen. Der bestimmte Begriff von einer Größe ist der Begriff der Erzeugung der Vorstellung eines Gegenstandes durch die Zusammensetzung des Gleichartigen.184

Die Geometrie basiert nun auf extensiven Größen. Diese werden durch die sukzessive Synthesis der Einbildungskraft hervorgebracht.185 Das Gleichartige, das in

180 Allerdings nimmt er in seiner Erklärung der Ruhe wieder Bezug auf den Ort. Er schreibt: „Ruhe ist die beharrliche Gegenwart (praesentia perdurabilis) an demselben Orte; beharrlich aber ist das, was eine Zeit hindurch existirt, d. i. dauret.“ MAN, AA 04, 485. In der Anmerkung geht Kant ausführlich auf die Wichtigkeit des Begriffs der Beharrlichkeit in dieser Erklärung ein. Ruhe ist mehr als ein Mangel an Bewegung. Nach Kant muss die Geschwindigkeit „bis zu einem Grad verzögert werde[n], der kleiner ist als jede nur anzugebende Geschwindigkeit“ (MAN, AA 04, 486) damit der Körper im eigentlichen Sinne ruht. Systematisch gesprochen ist Kants Ziel die Einführung eines Stetigkeitskriteriums, um die Differenzierbarkeit der Geschwindigkeitsfunktion zu gewährleisten. 181 „Bewegung eines Dinges ist die Veränderung der äußeren Verhältnisse desselben zu einem gegebenen Raum.“ MAN, AA 04, 482. Vgl. ebenfalls die erste Anmerkung hierzu in MAN, AA 04, 482–483. 182 MAN, AA 04, 486. 183 Vgl. KrV B 204. 184 MAN, AA 04, 489. 185 Der Phoronomie liegen die Axiome der Anschauung der KrV zugrunde: „Das Princip derselben ist: Alle Anschauungen sind extensive Größen.“ KrV B 202. Auffällig sind hier die von Kant vorgenommenen Änderungen in den unterschiedlichen Auflagen der KrV.

164

4 Kants Raumkonzeption

der Phoronomie zusammengesetzt wird, ist die geradlinige186 Bewegung.187 Dabei ist Kants zentrales Problem, dass nach ihm einem Körper nur eine Bewegung zugeschrieben werden kann. Um dennoch zwei Bewegungen in einem Körper zu überlagern, greift er auf die soeben behandelte Unterscheidung zwischen relativen Räumen und dem absoluten Raum zurück. Bewegungen können überlagert werden, indem sie aufgeteilt und verschiedenen, ineinander bewegten Räumen zugeschrieben werden. Um dies zu ermöglichen, führt Kant den folgenden Grundsatz ein: Grundsatz Eine jede Bewegung als Gegenstand einer möglichen Erfahrung kann nach Belieben als Bewegung des Körpers in einem ruhigen Raume, oder als Ruhe des Körpers und dagegen Bewegung des Raumes in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit angesehen werden.188

Für die Konstruktion der Bewegung bedeutet dies: Lehrsatz Die Zusammensetzung zweier Bewegungen eines und desselben Punkts kann nur dadurch gedacht werden, daß die eine derselben im absoluten Raume, statt der anderen aber eine mit der gleichen Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung geschehende Bewegung des relativen Raums als mit derselben einerlei vorgestellt wird.189

Sollen zwei Bewegungen v1 und v2 zu v12 zusammengesetzt werden, so wird die eine Bewegung v1 dem Körper und die andere Bewegung dem materiellen Raum R1 als –v2 zugeschrieben. Damit sich R1 bewegen kann, muss der Raum jedoch selber wieder in einem weiteren Raum vorgestellt werden. Dieser Raum R2 ist der unbewegte Konstruktionshintergrund und somit als äußerster relativer Raum der absolute Raum, was sich wie folgt darstellen lässt:

186 Diese Sonderstellung der geradlinigen Bewegung geschieht mit Blick auf die anderen Hauptstücke. Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit sind Eigenschaften der kräftefreien Bewegung (ebenso wäre es auch möglich, jede andere Bewegung aus der Sukzession krummliniger Bewegungen zusammenzusetzen, vgl. hierzu auch die Besprechung von Fries’ Primat der geradlinig–gleichförmigen Bewegung in 5.2.3.1 und 5.2.3.4). Pollok schreibt, dass Kant geradlinig–gleichförmige Bewegung zusammensetzt. Vgl. Pollok 1997, S. XLIV. Eine solche Beschränkung auf geradlinige und gleichförmige Bewegung wird allerdings von Kant nicht vollzogen. Vgl. hierzu auch meine Diskussion in 4.2.2.7. 187 Ob die Bewegung dem Körper zugeschrieben wird, oder ob der Raum als in die entgegengesetzte Richtung bewegt vorgestellt wird, ist in der Phoronomie noch egal. Der darauf folgende ‚Beweis’ dieses Lehrsatzes konstruiert die Überlagerung der drei Fälle der parallelen, antiparallelen und der mit beliebigem Winkel zueinander stehenden Bewegung. Dies geschieht, etwas gezwungen, mit Blick auf die Kategorien der Quantität Einheit, Vielheit und Allheit. Vgl. MAN, AA 04, 495. 188 MAN, AA 04, 487. Wie Kant später in der Mechanik bemerkt, gilt der Grundsatz in dieser Form nur in der Phoronomie. 189 MAN, AA 04, 490.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

165

Sollen weiterführend v12 und v3 verbunden werden, so wird R2 mit der Bewegung -v3 versehen und in R3 bewegt vorgestellt, dem dann die Rolle des absoluten Raumes zukommt. Durch diese Prozedur lassen sich prinzipiell beliebig viele Bewegungen eines Körpers zusammensetzen. Aus dem oben angeführten Grundsatz folgert Kant dabei ein Prinzip, das man als ‚Galileiinvarianz‘ bezeichnen kann. Er schreibt: Aber auch in aller relativen Bewegung kann der Raum selbst, weil er als materiell angenommen wird, wiederum als ruhig oder bewegt vorgestellt werden. Das erstere geschieht, wenn mir über den Raum, in Beziehung auf welchen ich einen Körper als bewegt ansehe, kein mehr erweiterter und ihn einschließender gegeben ist (wie wenn ich in der Kajüte eines Schiffs eine Kugel auf dem Tische bewegt sehe); das zweite, wenn mir über diesen Raum hinaus noch ein anderer Raum, der ihn einschließt (wie im genannten Falle das Ufer des Flusses) gegeben ist, da ich denn in Ansehung des letzteren den nächsten Raum (die Kajüte) als bewegt und den Körper selbst allenfalls als ruhig ansehen kann. Da es nun schlechterdings unmöglich ist, von einem empirisch gegebenen Raume, wie erweitert er auch sei, auszumachen, ob er nicht in Ansehung eines in einem noch größeren Umfange ihn einschließenden Raumes selbst wiederum bewegt sei, oder nicht, so muß es aller Erfahrung und jeder Folge aus den Erfahrung völlig einerlei sein, ob ich einen Körper als bewegt, oder ihn als ruhig, den Raum aber in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit bewegt ansehen will. Noch mehr; da der absolute Raum für alle mögliche Erfahrung nichts ist, so sind auch die Begriffe einerlei, ob ich sage: ein Körper bewegt sich in Ansehung dieses gegebenen Raumes in dieser Richtung mit dieser Geschwindigkeit, oder ob ich ihn mir als ruhig denken und dem Raum alles dieses, aber in entgegengesetzter Richtung beilegen will. Denn ein jeder Begriff ist mit demjenigen, von dessen Unterschiede vom ersteren gar kein Beispiel möglich ist, völlig einerlei und nur in Beziehung auf die Verknüpfung, die wir ihm im Verstande geben wollen, verschieden.190

190 MAN, AA 04, 487–488.

166

4 Kants Raumkonzeption

Dabei ist, systematisch gesprochen, die Invarianz der geradlinigen Bewegung lediglich ein Zwischenschritt191 in der metaphysischen Bestimmung der Materie: In der Phoronomie also, wo ich die Bewegung eines Körpers nur mit dem Raume (auf dessen Ruhe oder Bewegung jener gar keinen Einfluß hat) in Verhältniß betrachte, ist es an sich ganz unbestimmt und beliebig, ob und wie viel ich Geschwindigkeit dem einen oder dem andern von der gegebenen Bewegung beilegen will; künftig in der Mechanik, da ein bewegter Körper in wirksamer Beziehung auf andere Körper im Raume seiner Bewegung betrachtet werden soll, wird dieses nicht mehr so völlig einerlei sein, wie es an seinem Orte gezeigt werden soll.192

Das heißt, dass die Ergebnisse der Phoronomie mitunter nur vorläufige Bedeutung haben und mit Blick auf spätere Überlegungen revidiert werden müssen.

4.2.2.3 Dynamik Im zweiten Hauptstück der MAN behandelt Kant die Konstitution der Materie. Dazu leitet er die beiden Grundkräfte der Attraktion und Repulsion her. Es finden sich hier, in der Dynamik, keine Ausarbeitungen zum Raum. Für die systematische Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist jedoch interessant, dass Kant in der Dynamik die newtonsche Gravitation in revidierter Form in seine Naturphilosophie einführt. Deshalb eignet sich dieses Hauptstück, um einen Blick auf die systematische Trias aus Gott/Vernunft, Raum und Gravitation zu werfen.193 Während Materie in der Phoronomie als punktförmig betrachtet wurde, untersucht Kant in der Dynamik, wie es möglich ist, dass Materie den Raum erfüllt.194 Seine erste Erklärung lautet: Materie ist das Bewegliche, sofern es einen Raum erfüllt. Einen Raum erfüllen, heißt allem Beweglichen widerstehen, das durch seine Bewegung in einen gewissen Raum einzudringen bestrebt ist. Ein Raum, der nicht erfüllt ist, ist ein leerer Raum.195

191 Kant geht nicht nur von zwei Fällen (bewegter Körper, ruhender Raum/entgegengesetzt bewegter Raum, ruhender Körper) aus, sondern erklärt, dass die Bewegung auch aufgeteilt werden darf, wodurch prinzipiell jedes geradlinig zu Körper und Raum bewegte Bezugssystem eingenommen werden kann: „Von dieser Bewegung eines Körpers im empirischen Raume kann ich nun einen Theil der gegebenen Geschwindigkeit dem Körper, den andern dem Raume, aber in entgegengesetzter Richtung, geben, und die ganze mögliche Erfahrung in Ansehung der Folgen dieser zwei verbundenen Bewegungen ist völlig einerlei mit derjenigen, da ich den Körper mit der ganzen Geschwindigkeit allein bewegt, oder ihn als ruhig und den Raum mit derselben Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung bewegt denke.“ MAN, AA 04, 488. 192 MAN, AA 04, 488. 193 Die Dynamik ist der Länge nach das umfangsreichste Hauptstück der MAN. Ich fasse hier die kantische Argumentation kurz zusammen, ohne auf Einzelheiten zu sprechen zu kommen. Für eine ausführliche Untersuchung, auf die ich mich hier z. T. stütze, vgl. Görg 2010, Görg 2014, Görg 2015. 194 Die Dynamik bestimmt die Natur der Materie gemäß der Kategorie der Qualität.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

167

Materie nimmt den Raum nach Kant nicht aufgrund ihrer bloßen Existenz ein.196 Die Vorstellung einer solchen ‚mathematische Raumerfüllung‘ wird von ihm abgelehnt und attackiert. So sind Körper nach Kant nicht atomistisch aufgebaut, d. h. sie bestehen nicht aus unzerstörbaren Kleinstkörpern, sondern sie sind beliebig teilbar197 und werden durch die beiden Grundkräfte Repulsion und Attraktion konstituiert.198 Diese Grundkräfte werden in der Dynamik wie folgt erschlossen: Ein Körper kann nur deshalb nicht in einen anderen Körper eindringen, da er den Raum aufgrund einer ihm innewohnenden Kraft erfüllt. In dem komprimierten Körper wirkt eine Kraft dem eindringenden Körper entgegen.199 Demnach muss einem Körper die Kraft der Repulsion innewohnen. Sie sorgt dafür, dass die Bewegung von zwei aufeinander treffenden Körpern vermindert wird.200 Dabei wirkt sie reziprok zum vom Körper eingenommenen Volumen:

FR ~

1 ~. V

Die Grundkraft der Repulsion alleine kann die Ausdehnung der Materie jedoch nicht erklären. Kant zufolge würde die Dichte der Materie unendlich abnehmen, wenn ihr nur die Kraft der Repulsion zukommen würde. Die Körper würden im Raum zerfließen. Deshalb muss es eine zweite Kraft geben, die den Körpern innewohnt. Dies ist die Grundkraft der Attraktion.201 Sie wirkt ‚durch den leeren Raum‘, d. h. ohne ein ihr zugrundeliegendes Medium, anziehend und antiproportional zum Quadrat des Abstandes. Sie bedarf keines Mediums, d. h. z. B. eines materiellen Äthers, denn als materiekonstituierend kann diese Kraft in ihrer Wirkung nicht selber wieder von der Materie abhängig sein.

195 196 197 198

MAN, AA 04, S. 496. Vgl. MAN, AA 04, S. 497. Hinter seiner Ablehnung des Atomismus steht die zweite Antinomie der KrV. Hier greift Kant, wenn auch in revidierter Form, auf seine in der vorkritischen Phase immer wieder auftauchende Konzeption von Attraktion und Repulsion zurück. Vgl. hierzu insbesondere die MoPh. 199 „Die Materie kann ins Unendliche zusammengedrückt, aber niemals von einer Materie, wie groß auch die drückende Kraft derselben sei, durchdrungen werden.“ MAN, AA 04, S. 501. 200 Vgl. Lehrsatz 1 und den Beweis in MAN, AA 04, S. 497. 201 Einer der einflussreichsten Texte zu Kants Herleitung der Gravitation ist Friedmans Aufsatz Metaphysical Foundation of Newtonian Science (Friedman 1992, S. 136–164). Dort versucht Friedman die verschiedenen Argumentationsschritte der Phänomenologie mit Buch III der Principia zu parallelisieren. Diese voraussetzungsreiche Rekonstruktion Friedmans sieht es als primäres Ziel der kantischen Argumentation, zu zeigen, dass es sich bei der Gravitation um eine universelle Eigenschaft der Materie handelt. Da die Herleitung der Gravitation nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, beschränke ich mich auf Kants Überlegungen in der Dynamik, ohne auf Friedmans Argumentation näher einzugehen.

168

4 Kants Raumkonzeption

Um die reziprok quadratische Wirkung der Attraktion herzuleiten, greift Kant auf den Zusammenhang zwischen der Attraktion und der Dimensionalität des Raumes zurück, den er schon in den GSK angeführt hat. Hier in der Dynamik setzt Kant jedoch implizit voraus, dass der Raum notwendig dreidimensional ist.202 Von der Dreidimensionalität des Raumes schließt er dann auf die mathematischen Eigenschaften der Attraktion. Es gilt:

FA ~

m1  m 2 r2

Nach Kant lässt sich das Gravitationsgesetz also a priori aus naturphilosophischen Überlegungen herleiten. Lediglich die Gravitationskonstante muss experimentell ermittelt werden.203 Außer der Repulsion und der Attraktion kann es nach Kant keine weiteren Grundkräfte geben: Es lassen sich nur diese zwei bewegende Kräfte der Materie denken. Denn alle Bewegung, die eine Materie einer anderen eindrücken kann, da in dieser Rücksicht jede derselben nur wie ein Punkt betrachtet wird, muß jederzeit als in der geraden Linie zwischen zweien Punkten erteilt angesehen werden. In dieser geraden Linie aber sind nur zweierlei Bewegungen möglich: die eine, dadurch sich jene Punkte von einander entfernen, die zweite, dadurch sie sich einander nähern.204

Die Existenz der Materie kann durch die beiden Grundkräfte der Attraktion und Repulsion erklärt werden. Die Grundkräfte selbst sind jedoch keiner Erklärung mehr fähig. Insofern erhebt Kant das newtonsche ‚Hypothesis non fingo‘ ins Apriorische: Man hüte sich aber über das, was den allgemeinen Begriff einer Materie überhaupt möglich macht, hinaus zu gehen und die besondere oder so gar specifische Bestimmung und Verschiedenheit derselben a priori erklären zu wollen. Der Begriff der Materie wird auf lauter bewegende Kräfte zurückgeführt, welches man auch nicht anders erwarten konnte, weil im Raume keine Thätigkeit, keine Veränderung, als blos Bewegung gedacht werden kann. Allein wer will die Möglichkeit der Grundkräfte einsehen?205

In Abschnitt 4.1 ist deutlich geworden, dass Gott in der Attraktions- und Raumtheorie der vorkritischen Phase eine konstitutive Bedeutung zukam. Gott setzte die Attraktion, aufgrund derer sich der Raum zwischen den aufeinander wirken-

202 Vgl. MAN, AA 04, 518–521, sowie Prol, AA 04, 320–322. 203 Dabei entspricht die Repulsion der Kategorie der Realität, die Attraktion der Negation und die Materie der Limitation. 204 MAN, AA 04, 498. Hier offenbart sich die Beschränktheit und zeitliche Gebundenheit der kantischen Konzeption. So schließt Kant die Möglichkeit anderer Kräfte, z. B. der eben nicht auf gerader Linie wirkenden Kraft zwischen bewegten Ladungen, wie sie 1822 von Ampere entdeckt wurde, aus. Vgl. hierzu u. a. Pulte 2005a, S. 230. 205 MAN, AA 04, 524; vgl. hierzu auch Görg 2015.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

169

den Körpern konstituiert. In der kritischen Phase verliert Gott diese konstitutive Bedeutung. Dies wird durch eine Passage aus einer anderen kritischen Schrift deutlich. In Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft schreibt Kant: So ist die Ursache der allgemeinen Schwere aller Materie der Welt uns unbekannt, dermaßen daß man noch dazu einsehen kann, sie könne von uns nie erkannt werden: weil schon der Begriff von ihr eine erste und unbedingt ihr selbst beiwohnende Bewegungskraft voraussetzt. Aber sie ist doch kein Geheimniß, sondern kann jedem offenbar gemacht werden, weil ihr Gesetz hinreichend erkannt ist. Wenn Newton sie gleichsam wie die göttliche Allgegenwart in der Erscheinung (omnipraesentia phaenomenon) vorstellt, so ist das kein Versuch, sie zu erklären (denn das Dasein Gottes im Raum enthält einen Widerspruch), aber doch eine erhabene Analogie […].206

Kant distanziert sich hier von der Vorstellung eines omnipräsenten Gottes, wie ihn Newton sich noch vorstellte, bzw. von dem Gedanken, dass Gott für die Wirkung der Gravitation verantwortlich ist.207 Demnach bricht der kritische Kant mit seinen vorkritischen Ausarbeitungen. Dort kam Gott sowohl für den Raum als auch für die Attraktion eine konstitutive Rolle zu. Hier in der kritischen Phase ist Gott nicht mehr die Vermittlungs- und Sicherungsinstanz, sondern hat innerhalb der Naturwissenschaft nur noch die Rolle einer regulativen Idee. Die Autorität, auf die sich der Raum und die Gravitation stützen, ist, wie in 4.2.1.1 deutlich wurde, die Vernunft selbst. Die Vernunft bringt das Gravitationsgesetz hervor.208 Unter systematischen Gesichtspunkten sind dabei zwei Dinge von zentraler Bedeutung:209 Zum einen fällt Gott als konstitutives Element weg. Er wird ersetzt durch die Vernunft. Zum anderen kommt es zu einer Umkehr im Begründungsverhältnis: Der Raum bestimmt aufgrund seiner Eigenschaften die Attraktion, wobei die Eigenschaften des Raumes durch die Strukturen unseres Erkennens gesetzt sind. Der Raum ist unsere Anschauungsform. Den Dingen an sich kommt er nicht zu. Demnach verbietet Kants transzendentaler Idealismus die Vorstellung eines sich im Raum erstreckenden Gottes. Das Verhältnis der Konzeptionen Gott/Vernunft, Raum und Gravitation beim kritischen Kant stellt sich demnach so dar:

206 207 208 209

RGV, AA 06, 138. Vgl. Friedman 1990, S. 201. Man vgl. für meine Argumentation Friedman 1990, S. 199–202, insbesondere S. 200. Vgl. Prol AA 04, 321. Vgl. hierzu auch meine Analyse unter Gesichtspunkten der diemerschen Systematik in 4.3.

170

4 Kants Raumkonzeption

4.2.2.4 Mechanik Das dritte Hauptstück baut auf den Überlegungen von Phoronomie und Dynamik auf und versucht deren Ergebnisse zu synthetisieren. Die Phoronomie betrachtet die Konstruktion von Bewegungen. Materie wird als punktförmig vorgestellt. Demgegenüber wurden in der Dynamik die materiekonstituierenden Grundkräfte untersucht und Materie als ruhend angesehen. Die Mechanik hat darauf aufbauend das Ziel, die Bewegungsübertragung wechselwirkender210 Körper herauszuarbeiten.211 Dazu leitet Kant vier Lehrsätze her.212 Diese Lehrsätze gilt es im Folgenden mit Blick auf ihre Bedeutung für die Raum- und Bewegungstheorie zu analysieren.

210 Die Untersuchung der Interaktion bewegter, ausgedehnter Materie setzt die Dynamik voraus, wie Kant betont: Ohne die bewegenden Kräfte wäre eine Übertragung von Bewegung nicht möglich. Vgl. MAN, AA 04, 536–537. 211 Diese Lehrsätze stehen zwischen den Analogien der Erfahrung der KrV und den drei newtonschen Bewegungsgesetzen in einem nicht zu lösenden Spannungsverhältnis. Vgl. dazu Pollok 2000, S. 387. 212 Die Wechselwirkung zwischen Körpern wird lediglich im letzten der drei Grundgesetze der Mechanik behandelt. Allerdings legt Kant selber in der Anmerkung zur ersten Erklärung den Fokus auf die ‚Mitteilung‘ von Bewegung zwischen Körpern. Vgl. MAN, AA 04, 536.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

171

Lehrsatz 1: Quantität der Materie, Größe der Bewegung Die Lehrsätze der Mechanik machen Aussagen zu Bewegung und Masse. Beide Größen werden von Kant in einer Erklärung zunächst definiert. Er schreibt: Die Quantität der Materie ist die Menge des Beweglichen in einem bestimmten Raum. Dieselbe, so fern alle ihre Theile in ihrer Bewegung als zugleich wirkend (bewegend) betrachtet werden, heißt die Masse, und man sagt, eine Materie wirke in Masse, wenn alle ihre Theile, in einerlei Richtung bewegt, außer sich zugleich ihre bewegende Kraft ausüben. […] Die Größe der Bewegung (mechanisch geschätzt) ist diejenige, die durch die Quantität der bewegten Materie und ihre Geschwindigkeit zugleich geschätzt wird; phoronomisch besteht sie blos in dem Grade der Geschwindigkeit.213

An diese Definition von Masse ist auch die mechanische Bedeutung von Bewegung gekoppelt. Während Kant in der Phoronomie unter der Bewegung die Größe ‚Geschwindigkeit‘ zuordnete, versteht er in der Mechanik darunter den ‚Impuls‘. Dieser ist Produkt aus der Quantität der in Bewegung wirkenden Materie (Masse) und der Bewegung im phoromischen Sinne (Geschwindigkeit). Das Ziel des ersten Lehrsatzes ist darzutun, wie die Quantität der Materie gemessen werden kann. Dies ist nach Kant nur anhand der „Quantität der Bewegung bei gegebener Geschwindigkeit“214 möglich, d. h. durch den Quotienten aus Impuls und Geschwindigkeit:215 213 MAN, AA 04, 537. Kant mahnt jedoch in einer Anmerkung zu Lehrsatz 1, dass Masse nicht mit der Quantität der Materie gleichgesetzt werden dürfe, sondern nur mit der Quantität eines festen Körpers: „Dagegen wirkt das Wasser eines Mühlbachs auf die Schaufel des unterschlägigen Wasserrades nicht in Masse, d. i. mit allen seinen Teilen, die gegen dieses anlaufen, zugleich, sondern nur nach einander.“ MAN, AA 04, 540. 214 MAN, AA 04, 537. 215 Kants Definition der Masse weicht von derjenigen Newtons ab. Dieser definierte, viel kritisiert, Masse als das Produkt aus Volumen und Dichte. Ein Problem der newtonschen Konzeption besteht darin, dass Dichte ihrerseits anhand des Quotienten aus Masse und Volumen bestimmt werden muss. Der Grund, aus dem Newton dennoch die Masse auf diese Weise einführt, ist, dass er eine Definition von Masse geben muss, die nicht auf die Schwere rekuriert. So hätte ein Bezug auf die Schwere das gesamte Unternehmen der Principia, d. h. die Herleitung der allgemeinen Gravitation, in den Verdacht der Zirkularität gerückt. Schüller vermutet, dass sich hinter dem Bezug auf die Dichte der newtonsche Atomismus verbirgt, wobei unter der Dichte die ‚Packungsdichte’ der Atome zu verstehen ist. Vgl. Schüller 1999, S. 626. Diese These Schüllers lässt sich durch sehr frühe Ausarbeitungen Newtons in seinen Quaestiones untermauern. Vgl. Quaestiones, S. 358 und Steinle 1991, S. 98–99. Gleich zu Beginn seines ‚Beweises‘ zum Lehrsatz lehnt Kant eine Herleitung der Quantität der Materie über den Atomismus ab: „Die Materie ist ins Unendliche theilbar, folglich kann keiner ihre Quantität durch eine Menge ihrer Theile unmittelbar bestimmt werden.“ MAN, AA 04, 537. Soll die Masse eines Körpers ermittelt werden, so muss dies anhand der Bewegung geschehen. Dazu müssen beide Körper nach Kant die gleiche Geschwindigkeit haben. Gilt p1 = m1 ∙ v1 und p2 = m2 ∙ v2, so kann für v1 = v2 geschlossen werden m1 / m2 = p1 / p2. Das Problem besteht dann jedoch darin, die Quantität der Bewegung zu ermitteln. Kant sieht selbst die Gefahr einer zirkulären Begründung: Er bestimmt Masse als die Quantität der wirkenden (d. h. bewegten) Materie und die Größe der Bewegung als das Produkt aus Geschwindigkeit und der Quantität der bewegten Materie: „Allein dieser vermeinte Cirkel würde

172

4 Kants Raumkonzeption

m

p v

Lehrsatz 2: Erstes Gesetz der Mechanik – Materieerhaltung In den auf Lehrsatz 1 folgenden Passagen leitet Kant die drei ‚Gesetze der Mechanik‘ her. Zunächst führt er in einem Lehrsatz das jeweilige Gesetz an, um es dann unter Bezug auf die allgemeine Metaphysik zu beweisen. Die Möglichkeit, die Naturgesetze a priori zu erkennen, beruht auf dem System der Grundsätze der KrV. Die Grundsätze bilden die Bedingung, anhand derer Gegenstände erkannt werden können:216 Aber ohne Unterschied stehen alle Gesetze der Natur unter höheren Grundsätzen des Verstandes, indem sie diese nur auf besondere Fälle der Erscheinung anwenden. Diese allein geben also den Begriff, der die Bedingung und gleichsam den Exponenten zu einer Regel überhaupt enthält, Erfahrung aber giebt den Fall, der unter der Regel steht.217

In den MAN als der speziellen Metaphysik handelt es sich bei der bewegten Materie um den ‚Fall‘, auf den die ‚Regeln‘ der Grundsätze angewendet werden.218 Die ‚Gesetze der Mechanik‘ erheben deshalb Anspruch auf Apodiktizität, weil sie als spezielle Naturgesetze der Körperlehre unter den allgemeinen Gesetzen der Grundsätze des reinen Verstandes stehen.219 Das erste Gesetz der Mechanik lautet nun: Erstes Gesetz der Mechanik. Bei allen Veränderungen der körperlichen Natur bleibt die Quantität der Materie im Ganzen dieselbe, unvermehrt und unvermindert.220

216 217 218

219

220

es wirklich sein, wenn er eine wechselseitige Ableitung zweier identischen Begriffe von einander wäre. Nun aber enthält er nur einerseits die Erklärung eines Begriffs, andererseits die der Anwendung desselben auf Erfahrung. Die Quantität des Beweglichen im Raume ist die Quantität der Materie; aber diese Quantität der Materie (die Menge des Beweglichen) beweiset sich in der Erfahrung nur allein durch die Quantität der Bewegung bei gleicher Geschwindigkeit (z. B. durchs Gleichgewicht).“ MAN, AA 04, 540. Kant geht es demnach um die Möglichkeit, die Masse eines Körpers experimentell zu ermitteln, nicht sie herzuleiten. Vgl. KrV A 159–162 / B 197–202. KrV A 159 / B 198. Vgl. Friedman 2001a, S. 53–54 und KrV A 80 / B 106. Aus den Kategorien der Relation ergeben sich die Analogien der Erfahrung, nach denen Wahrnehmungen verknüpft werden müssen (KrV A 176 / B 218). Diese sind der ‚Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz‘ (KrV A 182 / B 224), der ‚Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität‘ (KrV A 189 / B 232) und der ‚Grundsatz des Zugleichseins nach dem Gesetze der Wechselwirkung oder Gemeinschaft‘ (KrV A 211 / B 256). Die Grundsätze leiten sich ihrerseits aus den Kategorien her: „Die Tafel der Kategorien giebt uns die ganz natürliche Anweisung zur Tafel der Grundsätze, weil diese doch nichts anders, als die Regel des objekctiven Gebrauchs der ersteren sind.“ KrV A 161 / B 200. MAN, AA 04, 541.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

173

Diesen Satz begründet Kant durch die erste Analogie der Erfahrung, nach der das Quantum der Substanz, hier in den MAN die Quantität der Materie, nicht vergeht.221 Lehrsatz 3: Zweites Gesetz der Mechanik – Trägheitsgesetz Zweites Gesetz der Mechanik. Alle Veränderung der Materie hat eine äußere Ursache. (Ein jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder Bewegung, in derselben Richtung und mit derselben Geschwindigkeit, wenn er nicht durch eine äußere Ursache genöthigt wird, diesen Zustand zu verlassen.)222

Kant übernimmt hier in weiten Teilen das erste newtonsche Axiom: Der Text in Klammern ist eine Übersetzung aus den lateinischen Principia. Kant ersetzt jedoch den Begriff der Kraft durch den der äußeren Ursache (gegenüber einer inneren Ursache, d. h. einer den Körpern innewohnenden Kraft). Newton betont in den Principia, dass er lediglich in der vis inertia, nicht aber in der Gravitation eine essenzielle Eigenschaft der Körper sehe.223 Demgegenüber geht Kant nicht mehr davon aus, dass es eine Kraft gibt, die den Körper in seinem Bewegungszustand hält. Er ist darin von Euler beeinflusst.224 In Opposition zu Newton sieht Kant in der Attraktion eine Grundkraft, während er eine Trägheitskraft ablehnt. Lehrsatz 4: Drittes Gesetz der Mechanik – Die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung Der letzte Lehrsatz der Mechanik ist von entscheidender Bedeutung für die kantische Raumkonzeption. Er lautet:

221 In der KrV ist Kants Beispiel hierfür die Masseerhaltung bei Verbrennungsprozessen (d. h. seine erste Analogie lehnt sich bereits sehr dicht an seine späteren Ausführungen in den MAN an): „Ein Philosoph wurde gefragt: wie viel wiegt der Rauch? Er antwortete: ziehe von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrigbleibenden Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauchs. Er setzte also als unwidersprechlich voraus: daß selbst im Feuer die Materie (Substanz) nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.“ KrV A 185 / B 228. Hinsichtlich der Differenzen zwischen den newtonschen und den kantischen Bewegungsgesetzen vgl. Watkins 1997, Watkins 1998, Watkins 2015. Ein Gesetz der zeitlichen Konstanz der Quantität der Materie findet sich bei Newton nicht. Dafür fehlt bei Kant das Aktionsprinzip, d. h. das zweite newtonsche Bewegungsgesetz, nach dem die Kraft der Bewegungsänderung äquivalent ist. Für eine ausführliche Diskussion vgl. hierzu Bonsiepen 1997, S. 86–87 sowie Pulte 2005a, S. 233–236. Auf das Verhältnis des dritten Gesetzes der Mechanik zum dritten Axiom werde ich im Folgenden noch zu sprechen kommen. 222 MAN, AA 04, 543. 223 Vgl. Principia, S. 796 und in dieser Arbeit Abschnitt 2.3.1. 224 Vgl. Abschnitt 3.1.4 und 4.1.4.

174

4 Kants Raumkonzeption Drittes mechanisches Gesetz. In aller Mitteilung der Bewegung sind Wirkung und Gegenwirkung einander jederzeit gleich.225

In seinem ‚Beweis‘ greift Kant auf die dritte Analogie der Erfahrung, den „Grundsatz des Zugleichseins nach dem Gesetze der Wechselwirkung oder Gemeinschaft“226, zurück. Dieser Grundsatz lautet: Alle Substanzen, so fern sie im Raume als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechselwirkung.227

Alle Veränderung der Verhältnisse muss nach Kant wechselseitig sein. Das bedeutet, dass in der Wechselwirkung zwischen zwei Körpern beiden die gleiche Bewegung in entgegengesetzer Richtung zugeschrieben werden muss. Für die beiden Körper A und B gilt also pA '  pB ' für die Beträge der Impulse. Die daraus resultierende Geschwindigkeit der Körper ist dann vA 'mA  vB 'mB , was bedeutet, dass sich die Geschwindigkeit gemäß dem Verhältnis v' A  v'B

mB aufteilt. mA

Es handelt sich bei diesem Raum um das Schwerpunktsystem der Körper A und B. Dieses Schwerpunktsystem wird von Kant als absoluter Raum bezeichnet. Indem Kant fordert, dass die beiden Körper im Schwerpunktsystem betrachtet werden müssen, geht er in der Mechanik über den Bewegungsrelativismus der Phoronomie hinaus und greift auf die Bewegungskonzeption seiner vorkritischen Schrift NLBR zurück.228 Während es im ersten Hauptstück noch egal war, ob eine Bewegung dem Raum oder dem Körper zugeschrieben wurde, muss wechselwirkende Materie in der Mechanik im absoluten Raum als Schwerpunktsystem betrachtet werden. Der absolute Raum taucht hier im dritten Hauptstück also mit anderer Bedeutung wieder auf. Während der absolute Raum in der Phoronomie noch der bloß äußere Raum war, in dem Bewegung betrachtet werden muss, wird er in der Mechanik zum Schwerpunktsystem. Kant schreibt: In der Phoronomie, da die Bewegung eines Körpers blos in Ansehung des Raums, als Veränderung der Relation in demselben betrachtet wurde, war es ganz gleichgültig, ob ich den Körper im Raume, oder an statt dessen, dem relativen Raume eine gleiche, aber entgegengesetzte Bewegung zugestehen wollte; beides gab völlig einerlei Erscheinung. Die Quantität der Bewegung des Raums war blos die Geschwindigkeit, und daher die des Körpers gleichfalls nichts als seine Geschwindigkeit (weswegen er als ein bloßer beweglicher Punkt betrachtet werden konnte). In der Mechanik aber, da ein Körper in Bewegung gegen einen anderen betrachtet wird, gegen den er durch seine Bewegung ein Causalverhältniß hat, nämlich das, ihn selbst zu bewegen, indem er entweder bei seiner Annäherung durch die Kraft der Undurchdringlichkeit, oder seiner Entfernung durch die Kraft der Anziehung mit ihm in Gemeinschaft

225 226 227 228

MAN, AA 04, 544. KrV B 256. KrV B 256. Vgl. 4.1.1.3.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

175

kommt, da ist es nicht mehr gleichgültig, ob ich einem dieser Körper, oder dem Raume eine entgegengesetzte Bewegung zueignen will.229

Indem die Ursachen der Bewegung mit in Betracht gezogen werden, kann Bewegung nicht mehr einem Körper beliebig zu- oder abgesprochen werden. Sobald Kausalverhältnisse in Betracht kommen, muss beiden wechselwirkenden Körpern der gleiche Impuls zugeschrieben werden. Wir müssen daher ein Bezugssystem wählen, dass diesem Gesetz Rechnung trägt. Durch das dritte Gesetz230 der Mechanik wird daher ein Bezugssystem konstituiert. Dieses durch die Gültigkeit des dritten Gesetzes der Mechanik ausgezeichnete Bezugssystem ist der absolute Raum als Konstruktionshintergrund des Schwerpunktsystems. Unter systematischen Gesichtspunkten ist interessant, dass Kant das Gesetz der Wechselwirkung verwendet, um ein Bezugssystem auszuzeichnen. Das dritte Gesetz der Mechanik konstituiert also den absoluten Raum. Es wird somit nicht, wie bei Newton, zunächst der absolute Raum eingeführt, um dann die Bewegungsgesetze, die in diesem absoluten Raum gelten, einzuführen. Vielmehr begründet bei Kant das Gesetz der Mechanik das zu wählende Bezugssystem.231 Es findet demnach eine Prioritätsverschiebung zwischen den Bewegungsgesetzen und dem absoluten Raum statt. Wie in 3.3 deutlich wurde, wird diese Verschiebung durch Euler vorbereitet. Er verwendet zwar nicht das Bewegungsgesetz zur Konstruktion des absoluten Raumes, sieht jedoch die Gültigkeit der Bewegungsgesetze insgesamt als Kriterium, um die Frage nach der Existenz eines absoluten Raumes zu beantworten.232 Es wird somit von Newton über Euler hin zu Kant eine Entwicklung deutlich: Der absolute Raum wird in seiner fundamentalen Bedeutung durch die Bewegungsgesetze abgelöst. Dies illustriert das von Diemer in seiner Systematik beschriebene Absinken des Systemschwerpunktes.

4.2.2.5 Phänomenologie In den drei ersten Hauptstücken der MAN wurden die Eigenschaften der Materie bestimmt. Demgegenüber untersucht die Phänomenologie das Verhältnis des Körpers zum erkennenden Subjekt. Es geht hier also Erscheinung in Erfahrung über. Der Erscheinung nach kann eine Bewegung beliebig entweder dem Raum

229 MAN, AA 04, 547. 230 In der Forschung wird Kants drittes Gesetz der Mechanik z. T. falsch rekonstruiert. So sieht Friedman darin das dritte newtonsche Bewegungsgesetz. Demgegenüber zeigt Carrier, dass es Kant nicht um die Gleichheit der Kräfte, sondern um die Gleichheit der Impulse geht. Kants drittes Gesetz der Mechanik ist demnach nicht das dritte newtonsche Bewegungsgesetz. Siehe dazu Carrier 1992. Dies wird aus der vorkritischen Schrift NLBR klar. Friedman parallelisiert hier zu sehr zwischen Kant und Newton. Dies gilt auch für Palter. Vgl. Palter 1971, S. 56 und Palter 1972, S. 105. 231 Vgl. Friedman 1992, S. 142–143. 232 Vgl. dazu die Abschnitte 3.3.2. und 3.3.4.

176

4 Kants Raumkonzeption

oder dem Körper zugeschrieben werden. Dies ändert sich, wenn aus der Erscheinung Erfahrung werden soll:233 Bewegung ist so wie alles, was durch Sinne vorgestellt wird, nur als Erscheinung gegeben. Damit ihre Vorstellung Erfahrung werde, dazu wird noch erfordert, daß etwas durch den Verstand gedacht werde, nämlich zu der Art, wie die Vorstellung dem Subjecte inhäriert, noch die Bestimmung eines Objects durch dieselbe.234

In der Phänomenologie wird also die Bewegung eines Körpers zum Raum modal bestimmt. Die erste Erklärung des Hauptstückes lautet daher: Materie ist das Bewegliche, so fern es als ein solches ein Gegenstand der Erfahrung sein kann.235

Die Aufgabe der Phänomenologie kann an einem Beispiel erläutert werden: Ein Körper rotiere im Weltall um die eigene Achse. Diese Bewegung kann als Gegenbewegung auch den Fixsternen zugeschrieben werden. Zumindest als Erscheinung gleichen sich die Bewegungen. Um die Bewegung der Materie jedoch vollständig zu beschreiben, müssen wir urteilen, welche Bewegung dem Körper tatsächlich

233 „In der Erscheinung, die nichts als die Relation in der Bewegung (ihrer Veränderung nach) enthält, ist nichts von diesen Bestimmungen enthalten; wenn aber das Bewegliche als ein solches, nämlich seiner Bewegung nach, bestimmt gedacht werden soll, d. i. zum Behuf einer möglichen Erfahrung, ist es nöthig die Bedingungen anzuzeigen, unter welchen der Gegenstand (die Materie) auf eine oder andere Art durch das Prädicat der Bewegung bestimmt werden müsse.“ MAN, AA 04, 554–555. Kant selber hat jedoch bereits vor der Phänomenologie über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einiger Bewegungszuschreibungen geurteilt, z. B. in Lehrsatz 4 der Mechanik. Vgl. MAN, AA 05, 548. Es findet also bereits vor der Phänomenologie eine modale Bestimmung der Materie statt. In der KrV werden die ersten beiden Kategorien zur Bestimmung der Erscheinung herangezogen. Demgegenüber beginnt Kant hier in den MAN erst in der Phänomenologie, die sich an der vierten Kategorie orientiert, mit Erfahrung. Vgl. Pollok 2000, S. 476. Hinsichtlich der Postulate des empirischen Denkens, die der Phänomenologie zugrunde liegen, schreibt Kant: „Die Kategorien der Modalität haben das Besondere an sich: daß sie den Begriff, dem sie als Prädicate beigefügt werden, als Bestimmung des Objects nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältniß zum Erkenntnißvermögen ausdrücken. Wenn der Begriff eines Dinges schon ganz vollständig ist, so kann ich doch noch von diesem Gegenstand fragen, ob er bloß möglich, oder auch wirklich, oder wenn er das letztere ist, ob er gar auch nothwendig sei? Hiedurch werden keine Bestimmungen mehr im Objecte selbst gedacht, sondern es frägt sich nur, wie es sich (samt allen seinen Bestimmungen) zum Verstande und dessen empirischen Gebrauche, zur empirischen Urtheilskraft und zur Vernunft (in ihrer Anwendung auf Erfahrung) verhalte?“ KrV A 219 / B 266. Die Postulate lauten: „1. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich. 2. Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich. 3. Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existirt) nothwendig.“ KrV A 218 / B 265–266. 234 MAN, AA 04, 554. 235 MAN, AA 04, 554.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

177

zukommt. Erst dadurch wird sie vollständiger Erfahrungsgegenstand.236 Dafür beurteilt Kant die Bewegung von Körpern durch die Kategorie der Kausalität. Die Lehrsätze der Phänomenologie behandeln drei verschiedene Bewegungstypen hinsichtlich der Kategorie der Modalität.237 Dabei werden den unterschiedlichen Bewegungstypen (geradlinige, kreisförmige und Bewegung zu einem anderen Körper) die drei vorangegangenen Hauptstücken zugeordnet:238

Bewegungstyp Geradlinige Bewegung Kreisförmige Bewegung Bewegung als Wechselwirkung zwischen Körpern

Bewegung in Ansehung des Hauptstückes Phoronomie Dynamik

Alternativ Disjunktiv

Mechanik

Notwendig

Urteil

Im Folgenden werde ich Kants Diskussion dieser Bewegungstypen analysieren, um abschließend auf die allgemeinen Anmerkungen zur Phänomenologie einzugehen. Kants Ausarbeitungen zur phoronomischen Bewegung in der Phänomenologie Eine modale Beurteilung der Bewegung in der Phoronomie findet sich im ersten Lehrsatz der Phänomenologie: Lehrsatz 1 Die geradlinichte Bewegung einer Materie in Ansehung eines empirischen Raumes ist zum Unterschiede von der entgegengesetzten Bewegung des Raums ein blos mögliches Prädicat. Eben dasselbe in gar keiner Relation auf eine Materie außer ihr, d.i. als absolute Bewegung gedacht, ist unmöglich.239

236 Dieser Übergang müsste, außerhalb der kantischen Terminologie gesprochen, mit dem Übergang von Kinematik zu Dynamik einhergehen. Er ist jedoch, wie bereits bemerkt, schon in Passagen der Mechanik geschehen. Dies weist erneut auf Unstimmigkeiten in Kants System hin. Vgl. erneut Pollok 2000, S. 476. 237 „Es sind also hier immer zwei Correlata, deren einem in der Erscheinung erstlich eben so gut wie dem anderen die Veränderung beigelegt und dasselbe entweder, oder das andere bewegt genannt werden kann, weil beides gleichgültig ist, oder zweitens, deren eines in der Erfahrung mit Ausschließung des anderen als bewegt gedacht werden muß, oder drittens, deren beide nothwendig durch Vernunft als zugleich bewegt vorgestellt werden müssen.“ MAN, AA 04, 554. 238 Eine, wie deutlich werden wird, unter mehreren Gesichtspunkten gezwungene Vereinheitlichung. 239 MAN, AA 04, 555.

178

4 Kants Raumkonzeption

Es handelt sich bei diesem Lehrsatz um die modale Bestimmung des Grundsatzes der Phoronomie.240 Geradlinige (und gleichförmige) Bewegung findet ohne äußere Einwirkung statt und kann nach Belieben entweder dem Raum oder dem Körper zugeschrieben werden.241 Beide Bewegungen werden von Kant als gleichgeltend bezeichnet.242 Die Unterscheidung zwischen Ruhe und geradliniger (und gleichförmiger) Bewegung hat nur für Erscheinungen Gültigkeit. Für Erfahrungen hat sie keine Bedeutung: Ob ein Körper im relativen Raume bewegt, dieser aber ruhig genannt werde, oder umgekehrt, dieser in entgegengesetzte Richtung gleich geschwinde bewegt, dagegen jener ruhig genannt werden solle, ist kein Streit über das, was dem Gegenstande, sondern nur seinem Verhältnisse zum Subject, mithin der Erscheinung und nicht der Erfahrung zukommt.243

Kant erklärt dies anhand einer arbiträren Verschiebbarkeit des Zuschauers. Eine Person ruht in einem Raum R1, zu dem sich ein Körper bewegt. Die Erfahrung ist nach Kant dieselbe, wenn die Person sich in einem umfassenderen Raum R2 befindet und der Körper ruht, während dem Raum R1 die entgegengesetzte Bewegung zugeschrieben wird.244 Es handelt sich lediglich um eine subjektive und keine objektive Unterscheidung. Kant spricht daher von einem alternativen Urteil. Wie in 3.1 deutlich wurde, ist das Verhältnis von geradlinig-gleichförmiger Bewegung und Ruhe ein zentraler Differenzpunkt zwischen Leibniz und Clarke: Absolute Ruhe kann von absoluter geradlinig-gleichförmiger Bewegung empirisch nicht unterschieden werden. Aus dieser Ununterscheidbarkeit folgerte Leibniz die Gleichheit beider Zustände. Demgegenüber zwingt Newtons Konzeption des absoluten Raumes ihn dazu, empirisch nicht feststellbare Bewegungszustände anzunehmen. Hier liegt, wie gezeigt wurde, eine Schwäche der newtonschen Bewegungslehre. Diese Schwäche wird von Kant hier, zumindest vorläufig,245 behoben. Am Ende des Abschnittes unterstreicht Kant noch einmal, dass es absolute geradlinige Bewegung im Sinne einer Bewegung zum absoluten Raum nicht geben kann:

240 Vgl. 4.2.2.2 sowie MAN, AA 04, 487. 241 Da, wie Kant in der dritten Analogie der Erfahrung betont, Materie jederzeit untereinander in Wechselwirkung steht, handelt es sich dabei um eine Idealisierung, die lediglich approximative Gültigkeit hat. 242 MAN, AA 04, 556. 243 MAN, AA 04, 555. 244 „Denn, stellt sich der Zuschauer in demselben Raume als ruhig, so heißt ihm der Körper bewegt; stellt er sich (wenigstens in Gedanken) in einem andern und jenen umfassenden Raum, in Ansehung dessen der Körper gleichfalls ruhig ist, so heißt jener relative Raum bewegt. Also ist in der Erfahrung (einer Erkenntniß, die das Objekt für alle Erscheinungen gültig bestimmt) gar kein Unterschied zwischen der Bewegung des Körpers im relativen Raume, oder der Ruhe des Körpers im absoluten und der entgegengesetzten gleichen Bewegung des relativen Raums.“ MAN, AA 04, 555. 245 Vgl. meine Diskussion in 4.2.2.7.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

179

Da ferner eine Relation, mithin auch eine Veränderung derselben, d. i. Bewegung, nur so fern ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, als beide Correlate Gegenstände der Erfahrung sind; der reine Raum aber, den man auch im Gegensatze gegen den relativen (empirischen) den absoluten Raum nennt, kein Gegenstand der Erfahrung und überall nichts ist: so ist die geradlinichte Bewegung ohne Beziehung auf irgend etwas Empirisches, d. i. die absolute Bewegung, schlechterdings unmöglich, welches das zweite war.246

Kants Ablehnung der absoluten Bewegung hat seinem Anspruch nach für alle anderen Bewegungstypen Gültigkeit.247 Kants Ausarbeitungen zur dynamischen Bewegung in der Phänomenologie Der zweite Lehrsatz der Phänomenologie widmet sich der Kreisbewegung:248 Diese kann entweder als Bewegung des Körpers zum ruhenden Raum oder als umgekehrte Bewegung des Raumes zum ruhenden Körper betrachtet werden. Die

246 MAN, AA 04, 556. Man kann Kants Kritik der newtonschen Bewegungskonzeption aus der transzendentalen Ästhetik heraus verstehen. Newtonianer müssen einen Körper in Beziehung zu einem ‚Unding’ setzen, das nicht Gegenstand der Erfahrung sein kann. Dass eine Relation zwischen zwei Gegenständen der Erfahrung bestehen muss und nicht lediglich im Verhältnis eines Körpers zum Raum, findet sich auch an anderer Stelle wieder: in der Antithese der ersten Kosmologischen Idee. Ähnlich wie Kant absolute Bewegung ablehnt, da der absolute Raum nicht Gegenstand der Erfahrung sein kann, so kann auch die Welt nicht durch den Raum begrenzt sein. Die Argumentation ist (auch hinsichtlich der gewählten Begrifflichkeiten) analog: „Da nun die Welt ein absolutes Ganzes ist, außer welchem kein Gegenstand der Anschauung und mithin kein Correlatum der Welt angetroffen wird, womit dieselbe im Verhältniß stehe, so würde das Verhältniß der Welt zum leeren Raum ein Verhältniß derselben zu keinem Gegenstande sein. Ein dergleichen Verhältniß aber, mithin auch die Begrenzung der Welt durch den leeren Raum ist nichts; also ist die Welt dem Raume nach gar nicht begrenzt, […].“ KrV A 427–429 / B 455–457. 247 Vgl. dazu meine kritische Disskusion in 4.2.2.7. 248 An dieser Stelle ist Kants Zuordnung der Bewegungstypen zu den Hauptstücken gezwungen. Die Phoronomie behandelte die bloß kräftefreie Bewegung, wie auch der erste Lehrsatz der Phänomenologie. Die Mechanik gipfelte im dritten Gesetz der Mechanik, die die Wechselwirkung von Materie untersucht, was ebenfalls mit dem dritten Lehrsatz der Phänomenologie einhergeht. Die Dynamik beschäftigt sich jedoch mit den der Materie innewohnenden Kräften. Eine nähere Bestimmung eines bestimmten Bewegungstyps (wie in Phoronomie und Mechanik) erfolgt in der Dynamik nicht. Dennoch versucht Kant eine Verbindung zwischen Dynamik und Kreisbewegung zu schlagen: „Dieser Lehrsatz bestimmt die Modalität der Bewegung in Ansehung der Dynamik; denn eine Bewegung, die nicht ohne den Einfluss einer kontinuierlich wirkenden äußern bewegenden Kraft stattfinden kann, beweist mittelbar oder unmittelbar, ursprüngliche Bewegungskräfte der Materie, es sei der Anziehung oder Zurückstoßung.“ MAN, AA 04, 557. Dagegen lässt sich einwenden, dass die Bewegungsübertragung, die in dem Lehrsatz zur Mechanik behandelt wird, ebenfalls die bewegenden Kräfte benötigt. Die Kreisbewegung eines Körpers entsteht durch die Wechselwirkung mit anderer Materie, die ihn auf der Kreisbahn hält. Kants Zuordnung der Kreisbewegung zur Dynamik entspringt daher nicht inhaltlichen Gründen, sondern seiner Neigung zur architektonischen Kohärenz.

180

4 Kants Raumkonzeption

erste Bewegung nennt Kant ein wirkliches Prädikat, während es sich bei der zweiten um keine wirkliche Bewegung, d. h. bloß um Schein handelt: Lehrsatz 2 Die Kreisbewegung einer Materie ist zum Unterschiede von der entgegengesetzten Bewegung des Raums ein wirkliches Prädicat derselben; dagegen ist die entgegengesetzte Bewegung eines relativen Raums, statt der Bewegung des Körpers genommen, keine wirkliche Bewegung des letzteren, sondern, wenn sie dafür gehalten wird, ein bloßer Schein.249

Die Bewegung eines Körpers auf einer Kreisbahn bedarf der Wirkung einer bewegenden Kraft. Ansonsten würde sich der Körper beginnen, geradlinig (und gleichförmig) von der Kreisbahn weg zu bewegen. Kant nennt eine Gegenrotation des Raumes zu diesem Körper eine „blos phoronomisch[e]“250 Bewegung. D. h. diese Zuschreibung ist bloß kinematisch unter Vernachlässigung der Bewegungsursache möglich. Deshalb fällt Kants Urteil hinsichtlich der Unterscheidung zwischen beiden Betrachtungsweisen der Bewegung disjunktiv und nicht wie noch in Lehrsatz 1 alternativ aus. Die Rotation eines Körpers bleibt bei der Transformation zwischen unterschiedlichen Inertialsystemen unverändert. Dies gilt nicht für die geradlinige (und gleichförmige) Bewegung. Wie in 2.2.5 gezeigt, greift Newtons Versuch, die absolute Bewegung anhand der rotierenden Kugeln zu ermitteln, zu kurz: Anhand der Fadenspannung und deren Variation kann nur die Rotations-, nicht aber die Translationsgeschwindigkeit ermittelt werden. Kant unterscheidet daher diese beiden Unterarten der newtonschen absoluten Bewegung251 und differenziert die geradlinige (und gleichförmige) Bewegung und die Kreisbewegung. Interessant ist, dass er dabei die newtonsche Terminologie aufgreift, sie aber als relative Bewegung umdeutet252 und weiter ausarbeitet: Er übernimmt für die Kreisbewegung die von Newton in § 14253 des Scholions verwendeten Begrifflichkeiten, gibt ihr jedoch eine neue Bedeutung. Anders als Kant verwendet Newton ‚absolut‘ und ‚wahr‘ sowie ‚relativ‘ und ‚scheinbar‘ nicht synonym.254 Newton schreibt: Die wahren Bewegungen der einzelnen Körper zu erkennen und von den scheinbaren [Bewegungen] tatsächlich zu unterscheiden, ist gerade deshalb so außerordentlich schwierig, weil

249 250 251 252 253

MAN, AA 04, 556–557. MAN, AA 04, 557. Eine Differenzierung, die von Newton jedoch nie getroffen wird. Vgl. Carrier 1992. D. h. in dem Abschnitt, in dem Newton die wahre Bewegung anhand rotierender Körper aufzeigen will. 254 Man erinnere sich an hier an Abschnitt 2.2.2.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

181

die Teile jenes unbeweglichen Raumes, in welchem sich die Körper in wahrer Bewegung befinden, nicht in die Sinne fallen.255

Kant führt diese Passage im lateinischen Original an und verwendet daraufhin den Begriff der wahren und der wirklichen Bewegung gleichbedeutend.256 D. h. Kant greift den Terminus, den Newton in § 14 für die Kreisbewegung257 verwendete, auf und deutet ihn um. Kants Klassifikationen der Bewegung müssen daher als eine Kritik und Erweiterung der newtonschen dichotomischen Unterscheidung gelesen werden. Dies lässt sich schematisch wie folgt gegenüberstellen: Newton Absolute geradlinige-gleichförmige Bewegung eines Körpers Absolute Rotation eines Körpers Bloß relative Rotation eines Körpers

Kant Relative, mögliche Bewegung (alternativ kann die Bewegung auch dem Raum zugeschrieben werden) Relative, jedoch wirkliche Bewegung Relative, jedoch bloß scheinbare Bewegung

Newtons absolute geradlinige (und gleichförmige) Translation wird für Kant zu einer bloß möglichen Eigenschaft, während die absolute Rotation im newtonschen Sinne bei Kant zu wirklicher Bewegung wird, die als relational und nicht absolut angesehen werden muss. Kants Ausarbeitungen zur mechanischen Bewegung in der Phänomenologie Lehrsatz 3 In jeder Bewegung eines Körpers, wodurch er in Ansehung eines anderen bewegend ist, ist eine entgegengesetzte gleiche Bewegung des letzteren nothwendig.258

Der letzte Lehrsatz behandelt die Bewegung von Körpern in Relation zueinander. In seinem 'Beweis' versucht Kant die Differenzen zum zweiten Lehrsatz der Phänomenologie herauszuarbeiten. Die Wirklichkeit der Kreisbewegung beruhte auf der Wirkung äußerer Kräfte. Demgegenüber basiert die Wechselwirkung zwischen Materien, die in Lehrsatz 3 behandelt wird, auf der Relation der bewegten

255 Dt. Principia, S. 32 , § 14, eckige Klammern bei Schüller, Hervorhebungen durch mich. 256 Vgl. MAN, AA 04, 562, der von Newton verwendete Begriff 'verus' kann als 'wahr' oder 'wirklich' übersetzt werden. Kant spricht in den allgemeinen Anmerkungen zur Phänomenologie von wahrer Bewegung und stellt sie der scheinbaren Bewegung gegenüber. Wahre Bewegung und wirkliche Bewegung werden demnach von ihm synonym verwendet. 257 Vgl. Friedman 1992, S. 150–153, Pollok 2000, S. 496–499. 258 MAN, AA 04, 558.

182

4 Kants Raumkonzeption

Körper. Diese über das Prädikat der Wirklichkeit hinausgehende Bewegung bezeichnet Kant als notwendig.259 Nach dem dritten Gesetz der Mechanik muss wechselwirkenden Körpern die gleiche Bewegung zugeschrieben werden. Dabei sieht Kant im Schwerpunktsystem dieser Körper den absoluten Raum.260 Auch wenn die Bewegungen von zwei Körpern im absoluten Raum als Schwerpunktsystem konstruiert werden müssen, haben wir es nicht mit absoluter Bewegung zu tun. Da lediglich die Relation der beiden Körper zueinander betrachtet wird, handelt es sich nach Kant um bloß relative Bewegung. Allgemeine Anmerkung zur Phänomenologie In der Allgemeinen Anmerkung zur Phänomenologie kommt Kant ein letztes Mal auf den absoluten Raum zu sprechen. Er schreibt: Es zeigen sich also hier drei Begriffe, deren Gebrauch in der allgemeinen Naturwissenschaft unvermeidlich, deren genaue Bestimmung um deswillen nothwendig, obgleich eben nicht so leicht und faßlich ist, nämlich der Begriff der Bewegung im relativen (beweglichen) Raume, zweitens der Begriff der Bewegung im absoluten (unbeweglichen) Raume, drittens der Begriff der relativen Bewegung überhaupt, zum Unterschiede von der absoluten. Allen wird der Begriff des absoluten Raumes zum Grunde gelegt. Wie kommen wir aber zu diesem sonderbaren Begriffe, und worauf beruht die Nothwendigkeit seines Gebrauchs? Er kann kein Gegenstand der Erfahrung sein; denn der Raum ohne Materie ist kein Objekt der Wahrnehmung, und dennoch ist er ein notwendiger Vernunftbegriff, mithin nichts weiter als eine bloße Idee.261

Bewegung bedarf eines materiellen Raumes als „Object der Wahrnehmung“262, zu dem sich der Körper bewegt. Dieser materielle Raum muss wieder in einem materiellen Raum gedacht werden „und so ins Unendliche, ohne jemals zu einem unbeweglichen (unmateriellen) Raume durch Erfahrung zu gelangen, in Ansehung dessen irgend einer Materie schlechthin Bewegung oder Ruhe beigelegt werden könne […]“263. Kant folgert daraus, dass Bewegung bzw. Ruhe immer nur relativ und niemals absolut sein kann. Wenn wir einem Körper eine Bewegung zuschreiben, dann hat dies nur für einen spezifischen relativen Raum Gültigkeit.264 Dabei nennt Kant den absoluten Raum einen ‚Vernunftbegriff‘, bzw. eine ‚bloße Idee‘, was im Folgenden geklärt werden muss.

259 „Da aber die Wirklichkeit dieser Bewegung nicht (wie im zweiten Lehrsatze) auf dem Einflusse äußerer Kräfte beruht, sondern aus dem Begriffe der Relation des Bewegten im Raume […] so ist die Bewegung des letzteren nothwendig.“ MAN, AA 04, 558. 260 Vgl. meine Analyse in 4.2.2.4. 261 MAN, AA 04, 558–559. 262 MAN, AA 04, 559. 263 MAN, AA 04, 559. 264 Man vgl. MAN, AA 04, 559–560 mit der Argumentation in NLBR.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

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4.2.2.6 Der absolute Raum als Idee der Körperlehre Kant charakterisiert den absoluten Raum als Idee. Dadurch setzt er diese Konzeption in Verbindung zu den kosmologischen Ideen der KrV. Seine Überlegungen zum absoluten Raum lassen sich anhand der Idee des Weltganzen verstehen.265 Der erste Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft behandelt die Streitfrage, inwieweit die Welt der Zeit und dem Raum nach in Grenzen eingeschlossen ist. Sowohl eine in Raum und Zeit begrenzte (Thesis) als auch eine unbegrenzte Welt (Antithesis) sind widersprüchlich. Eine Welt ohne Grenzen ist ein unendliches Ganzes. Eine Sukzession aller endlichen Teile dieses Ganzen könnte jedoch aufgrund der benötigten unendlichen Zeitreihe nie abgeschlossen werden. Die Welt als unendliches Ganzes kann uns deshalb nicht gegeben werden. Eine in Grenzen eingeschlossene Welt ist aber ebenfalls unmöglich. Zum einen, da ihr sowohl eine leere Zeit vorangehen müsste und aus deren Homogenität keinem Zeitteil ein Vorzug in der Weltentstehung zugeschrieben werden könnte. Zum anderen würde dies bedeuten, dass die endliche Welt durch den leeren Raum begrenzt wäre, der jedoch lediglich eine Anschauungsform und kein Gegenstand ist.266 Dies bedeutet für die Idee eines Weltganzen: Ich kann demnach nicht sagen: die Welt ist der vergangenen Zeit, oder dem Raume nach unendlich. Denn dergleichen Begriff von Größe als einer gegebenen Unendlichkeit, ist empirisch, mithin auch in Ansehung der Welt als eines Gegenstandes der Sinne schlechterdings unmöglich. Ich werde auch nicht sagen: der Regressus von einer gegebenen Wahrnehmung an zu allen dem, was diese im Raume sowohl, als der vergangenen Zeit in einer Reihe begränzt, geht ins Unendliche; denn dieses setzt die unendliche Weltgröße voraus; auch nicht: sie ist endlich; denn die absolute Gränze ist gleichfalls empirisch unmöglich. Demnach werde ich nichts von dem ganzen Gegenstande der Erfahrung (der Sinnenwelt), sondern nur von der Regel, nach welcher Erfahrung ihrem Gegenstande angemessen, angestellt und fortgesetzt werden soll, sagen können.267

Die Unmöglichkeit, das Weltganze als Gegenstand der Erfahrung zu fassen, mündet somit in einer ‚Regel’. Nach ihr sind die endlichen Grenzen der Beobachtung auszuweiten, hin zu einem nie erreichbaren Zielpunkt, dem Weltganzen.268 Ähnlich wie hinsichtlich der regulativen Idee eines Weltganzen urteilt Kant nun über die regulative Idee des absoluten Raumes: Der absolute Raum ist also nicht als ein Begriff von einem wirklichen Object, sondern als eine Idee, welche zur Regel dienen soll, alle Bewegung in ihm blos als relativ zu betrachten,

265 Meine Rekonstruktion der kantischen Überlegungen zur ‚Idee‘ eines absoluten Raumes ist maßgeblich durch Friedman und Palter beeinflusst. 266 Man vgl. die Kritik des newtonschen Raumes in der transzendentalen Ästhetik. Siehe hierzu 4.2.1.1. 267 KrV A 520 / B 548. 268 Ansätze zu dieser regulativen Bedeutung finden sich bereits in der Kosmologie von 1755. So bemerkt Kant: „Es steht hier ein weites Feld zu Entdeckungen offen, wozu die Beobachtung den Schlüssel geben muß.“ NTH, AA 01, 255. Dabei geht er jedoch noch unvorsichtig mit dem Begriff der Unendlichkeit um.

184

4 Kants Raumkonzeption nothwendig, und alle Bewegung und Ruhe muß auf den absoluten Raum reduciert werden, wenn die Erscheinung derselben in einen bestimmten Erfahrungsbegriff (der alle Erscheinungen vereinigt) verwandelt werden soll.269

Sähe man im absoluten Raum einen Gegenstand, so würde man die Idee mit einer Kategorie verwechseln und die Grenzen möglicher Erfahrung überschreiten.270 Die Aufgabe der Vernunft ist nicht die Bestimmung der Gegenstände selbst. Vielmehr setzt sie die Gegenstände in das richtige Verhältnis zueinander. Der absolute Raum hat daher nur eine immanente Bedeutung, d. h. durch ihn werden die relativen Räume zueinander angeordnet: Dagegen aber haben sie [die Ideen, in diesem Fall die Idee des absoluten Raumes] einen vortrefflichen und unentbehrlich nothwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt, ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen. Nun entspringt uns zwar hieraus die Täuschung, als wenn diese Richtungslinien von einem Gegenstande selbst, der außer dem Felde empirisch möglicher Erkenntnis läge, ausgeschlossen wären (so wie die Objekte hinter der Spiegelfläche gesehen werden); allein diese Illusion (welche man doch hindern kann, daß sie nicht betrügt) ist gleichwohl unentbehrlich notwendig, wenn wir außer den Gegenständen, die uns vor Augen sind, auch diejenigen zugleich sehen wollen, die weit davon uns im Rücken liegen, d. i. wenn wir, in unserem Falle den Verstand über jede gegebene Erfahrung (den Theil der gesammten möglichen Erfahrung) hinaus, mithin auch zur größtmöglichen und äußersten Erweiterung abrichten wollen.271

Somit ist der absolute Raum nach Kant für die Physik notwendig, jedoch nicht im konstitutiven, sondern im regulativen Sinne. Vom kantischen Standpunkt aus kann Newton vorgeworfen werden, dass relative Räume nach ihm nur als Teil des absoluten Raumes wirklich sind.272 Dabei hat Newton, zumindest nach Kant, die eigentliche Bedeutung des absoluten Raumes missverstanden: Der hypothetische Gebrauch der Vernunft aus zum Grunde gelegten Ideen als problematischen Begriffen ist eigentlich nicht constitutiv, nämlich nicht so beschaffen, daß dadurch, wenn man nach aller Strenge urteilen will, die Wahrheit der allgemeinen Regel, die als Hypothese angenommen worden, folge; denn wie will man alle möglichen Folgen wissen, die, indem sie aus demselben angenommenen Grundsatze folgen, seine Allgemeinheit beweisen? Sondern er ist nur regulativ, um dadurch, so weit als es möglich ist, Einheit in die besonderen Erkenntnisse zu bringen, und die Regel dadurch der Allgemeinheit zu nähern.273

269 270 271 272

MAN, AA 04, 560. Vgl. KrV A 642 / B 670. KrV A 644–645 / B 672–673. Man vgl. Kants Anmerkung zum apodiktischen Gebrauch der Vernunft in KrV A 647 / B 675. Siehe auch Palter 1971. 273 KrV A 647 / B 675.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

185

Die Idee des absoluten Raumes gibt der Naturwissenschaft beim Auffinden weiterer, umfassenderer Schwerpunktsysteme ein anzustrebendes, jedoch niemals zu erreichendes, imaginäres Ziel. Wie in der Untersuchung der NTH deutlich274 wurde, geht Kant davon aus, dass das Universum aus ineinander geschachtelten, weitere Körper umfassenden Schwerpunktsystemen aufgebaut ist. In den MAN geht er von pyramidal aufeinander aufbauenden Räumen aus, wobei die Basis dieser ineinander geschachtelten Räume, der absolute Raum, niemals erreicht wird. Dabei wäre der absolute Raum im kantischen Sinne ein alle Körper umfassendes Schwerpunktsystem. Die Aufgabe des absoluten Raumes als Idee in der Phänomenologie geht also über die des bloß äußersten relativen Raumes in der Phoronomie insofern hinaus,275 als er das Verhältnis der relativen Räume zueinander strukturiert.276 Dadurch gibt der absolute Raum der Physik das Schema ihrer Einheit: Wir tun so, als ob es einen absoluten Raum als ein alle Körper umfassendes, unendliches Schwerpunktsystem gäbe. Die Physik erhält ihre empirische Einheit anhand der systematischen Einheit dieser Idee.277 Unsere Naturwissenschaft bewegt sich damit in ihrer Entwicklung am Gängelband der Idee des absoluten Raumes. Nach der kantischen Bewegungskonzeption muss Bewegung zwischen zwei Gegenständen erfolgen. Daraus ergibt sich jedoch zunächst eigentlich nur, dass ein relativer Raum als bewegt zu einem anderen relativen Raum aufgefasst werden muss, nicht jedoch, dass Bewegung in einem umfassenderen relativen Raum zu betrachten ist. Dies kann am folgenden Beispiel erörtert werden: Sei RM der relative Raum der Milchstraße und RA der relative Raum des Andromedanebels. Der bewegliche Raum RM muss eigentlich zunächst nur als beweglich zu RA vorgestellt werden:

274 Vgl. 4.1.2 sowie Friedman 1992, S. 143. De Bianchi zeigt, dass Kant diese Vorstellung vom Aufbau des Universums auch in seiner kritischen Phase vertritt. Siehe De Bianchi 2013b, S. 19. 275 Vgl. MAN, AA 04, S. 480 und Palter 1971, S. 51. 276 „The ideal limit to the procedure of ‘embedding’ spaces in still more comprehensive spaces is ‘absolute space.’ But the concept of absolute space refers only to this ideal limit. It is a regulative idea, the principle of the construction of ever–larger spaces, and not an object of experience.” Brittain 1978, S. 104. 277 Vgl. KrV A 669–675 / B 697–703, spezifischer KrV A 672 / B 700.

186

4 Kants Raumkonzeption

Kant geht es jedoch nicht um die Bewegung von Materiesystemen zueinander, sondern um die Bewegung der Räume ineinander: Dieser aber [der relative Raum], als materiell, ist selbst beweglich. Ein beweglicher Raum aber, wenn seine Bewegung soll wahrgenommen werden können, setzt wiederum einen anderen, erweiterten materiellen Raum voraus, in welchem er beweglich ist, dieser eben sowohl einen andern, und so forthin ins Unendliche.278

Daher muss die Bewegung des relativen Raumes der Milchstraße als Bewegung in einem umfassenderen Raum, dem Raum aus Milchstraße und Andromedanebel, gesehen werden:

Dieser Ineinanderschachtelung relativer Räume liegt die Idee des absoluten Raumes zugrunde: Durch sie angeleitet decken wir stets umfassendere physikalische Systeme auf. Die Idee des absoluten Raumes sorgt dafür, dass nicht zwei Mannigfaltige separat synthetisiert, sondern verschiedene Mannigfaltige zu einem synthetisiert werden. Demnach ordnen wir, angeleitet durch die Idee des absoluten Raumes, die relativen Räume ineinander und nicht zueinander an. Ohne diese Idee könnten wir bloß für jeden Körper die Relativgeschwindigkeit zu anderen Körpern angeben. Die Wichtigkeit des absoluten Raumes kann dabei verständlich gemacht werden, wenn man nicht lediglich von zwei Körpern ausgeht, sondern von einer größeren Anzahl.279 Wenn N Körper beobachtet werden, so können N

 n 1

N  n Relativbewegungen zwischen den Körpern angegeben werden. Dies ist 2

wenig hilfreich.280 Das ‚Wirrwarr aus Relativbewegungen‘ wird erst durch den absoluten Raum strukturiert:

278 MAN, AA 04, 481, Hervorhebungen durch mich. 279 Vgl. hierzu Palter 1971, S. 53. 280 Vgl. Palter 1971, S. 53.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

187

It is this contingency which is eliminated – but only in a highly tenuous and abstract way – by the idea of absolute space.281

Der absolute Raum enthält demnach die Bedingung, „jedem Theile seine Stelle und Verhältniß zu den übrigen a priori zu bestimmen.“282

4.2.2.7 Diskussion der kantischen Konzeption Auf den vorangegangenen Seiten wurde Kants kritische Raumlehre untersucht. Abschließend sollen hier verschiedene Schwierigkeiten dieser Konzeption analysiert werden. Zunächst werde ich auf den Status des absoluten Raumes gegenüber geradlinig-gleichförmig bewegten Räumen eingehen. Daraufhin sollen der Raum der transzendentalen Ästhetik und der absolute Raum gegenübergestellt werden. Zuletzt wird untersucht, inwieweit auch Kant noch auf einen newtonschen Raum zurückgreifen muss. Der absolute Raum und die Galileiinvarianz Zunächst ist anzumerken, dass Kant in den MAN in der Phoronomie, aber auch in den entsprechenden späteren Abschnitten zur phoronomischen Bewegung von geradliniger und nicht von gradlinig-gleichförmiger Bewegung spricht. Eine solche Beschränkung ist nicht umfassend genug, wie in 1.1 gezeigt wurde. 283 Diese durchgehende Auffälligkeit kann als ein unbedeutender, jedoch kontinuierlich auftretender Lapsus aufgefasst werden. Er könnte aber auch in Zusammenhang mit Kants in Teilen inkonsistentem Kraftbegriff stehen. Auffällig ist zumindest, dass die Forschungsdiskussion zumeist gewillt ist, hierüber hinwegzusehen. Ein weiteres Problem der kantischen Raum- und Bewegungskonzeption ist, dass das Verhältnis des absoluten Raumes zu den anderen geradlinig-gleichförmig bewegten Räumen unklar bleibt.284 Wie in Abschnitt 4.2.2.5 gezeigt, führt Kant im ersten Lehrsatz der Phänomenologie eine Art Galileiinvarianz ein. Geradlinige (und gleichförmige) Bewegung eines Körpers kann beliebig entweder als Ruhe des Raumes und Bewegung des Körpers oder als entgegengesetzte Bewegung des Raumes und Ruhe des Körpers aufgefasst werden. Der Erfahrung nach sind beide Bewegungen als gleich anzusehen. Geradlinige (und gleichförmige) Bewegung ist ebenso wie die Ruhe nur ein mögliches Prädikat. Kant scheint hier Newtons Beschränkung auf ein hervorzuhebendes Bezugssystem zu überwinden. Allerdings weist Kants Galileiinvarianz einige Unstimmigkeiten auf. Zunächst beschränkt sich Kant auf die Äquivalenz von geradliniger (und gleichförmiger) Bewegung und Ruhe. Was ist aber mit einem rotierenden Körper? Kann ihm ebenfalls neben 281 282 283 284

Palter 1971, S. 54. Vgl. hierzu auch Carrier 1992, S. 402–404. KrV A 645 / B 673. Vgl. Palter 1971, S. 54. Vgl. hierzu DiSalle 1990, S. 205, sowie Pollok 2000, S. 185. Ich orientiere mich hier an DiSalle 1990, einem Kommentar zu Friedman 1990.

188

4 Kants Raumkonzeption

der Kreisbewegung eine beliebige geradlinige (und gleichförmige) Bewegung zugeschrieben werden? Zu weiteren Interpretationsschwierigkeiten führt Lehrsatz 3 der Phänomenologie. Dort führt Kant den absoluten Raum als Konstruktionshintergrund ein. Wechselwirkende Körper müssen im Schwerpunktsystem betrachtet werden, d. h. beiden muss derselbe Impuls zugeschrieben werden. Wie ist nun das Verhältnis des ersten Lehrsatzes zum dritten? Gibt Kant im dritten Lehrsatz die Galileiinvarianz zu Gunsten des absoluten Raumes auf? Oder ist es sein Ziel, durch die Verbindung von Lehrsatz 1 und 3 eine Klasse von Bezugssystemen einzuführen, die sich allesamt geradlinig (und gleichförmig) zum Schwerpunktsystem bewegen? Wenn letzteres zuträfe, dann wäre der absolute Raum äquivalent zu einer Klasse zu ihm geradlinig (und gleichförmig) bewegter Räume.285 Durch den absoluten Raum als regulative Idee würden wir dann zu immer besseren Approximationen der Klasse von Inertialsystemen gelangen. Eine solche Interpretation des Verhältnisses von Lehrsatz 1 zu Lehrsatz 3 hat das Problem, dass Kant nirgends darauf eingeht. Demgegenüber steht eine Interpretation, die davon ausgeht, dass Kant mit Lehrsatz 3 die Galileiinvarianz vor der Schwierigkeit aufgibt, dass nicht klar wird, warum Kant sie wenige Seiten zuvor in Lehrsatz 1 überhaupt einführt. Wie auch immer man Kants Bewegungskonzeption interpretieren mag, es wird deutlich, dass eine stimmige Rekonstruktion der Beweglungslehre der MAN durch zahlreiche Unschärfen in den Lehrsätzen und Erklärungen des Werkes erschwert wird. Das Verhältnis des Raumes als Form der Anschauung zum absoluten Raum als Idee Eine weitere Schwierigkeit der Raumkonzeption der MAN ist das unklare Verhältnis zwischen dem Raum als Form der Anschauung und dem Raum als Idee. In beiden Raumkonzeptionen wird von der Materie abstrahiert: Weil ich den erweiterten, obgleich immer noch materiellen, Raum nur in Gedanken habe und mir von der Materie, die ihn bezeichnet, nichts bekannt ist, so abstrahire ich von dieser, und er wird daher wie ein reiner, nicht empirischer und absoluter Raum vorgestellt, mit dem ich jeden empirischen vergleichen und diesen in ihm als beweglich vorstellen kann, der also jederzeit als unbeweglich gilt. Ihn zum wirklichen Dinge zu machen, heißt die logische Allgemeinheit irgend eines Raums, mit dem ich jeden empirischen als darin eingeschlossen vergleichen kann, in eine physische Allgemeinheit des wirklichen Umfanges verwechseln, und die Vernunft in ihrer Idee mißverstehen.286

Der absolute Raum als reiner Raum287 erinnert an den reinen Raum der transzendentalen Ästhetik, der übrig bleibt, wenn wir von allen anderen Eigenschaften der Gegenstände abstrahieren. Dies wird auch von Pollok bemerkt. Er schreibt: 285 Eine solche Interpretation wird von Friedman 1986, S. 34 vertreten. Vgl. hierzu Carrier 1992, S. 404. 286 MAN, AA 04, 481–482. 287 Vgl. MAN, AA 04, 480.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

189

Kants Ausführungen in der Phoronomie legen nahe, den Begriff des absoluten Raums als Idee mit dem Raum als Anschauungsform zu identifizieren. [...] Es liegen jedoch zu viele Verwerfungen zwischen beiden Begriffen, um dieser Identifikation systematisches Gewicht zu verleihen.288

Die Nähe beider Konzeptionen wird auch durch andere Passagen der KrV deutlich, in denen Kant den absoluten Raum mit dem Raum als Form äußerer Anschauung gleichsetzt. So schreibt er in der transzendentalen Dialektik: Der Raum ist bloß die Form der äußeren Anschauung (formale Anschauung), aber kein wirklicher Gegenstand, der äußerlich angeschauet werden kann. Der Raum vor allen Dingen, die ihn bestimmen (erfüllen oder begrenzen), oder die vielmehr eine seiner Form gemäße empirische Anschauung geben, ist unter dem Namen des absoluten Raumes nichts anderes, als die bloße Möglichkeit äußerer Erscheinungen, sofern sie entweder an sich existiren, oder zu gegebenen Erscheinungen noch hinzu kommen können. Die empirische Anschauung ist also nicht zusammengesetzt aus Erscheinungen und dem Raume (der Wahrnehmung und der leeren Anschauung). Eines ist nicht des anderen Correlatum der Synthesis, sondern nur in einer und derselben empirischen Anschauung verbunden, als Materie und Form derselben. Will man eines dieser zwei Stücke außer dem anderen setzen (Raum außerhalb aller Erscheinungen), so entstehen daraus allerlei leere Bestimmungen der äußeren Anschauung, die doch nicht mögliche Wahrnehmungen sind: z. B. Bewegung oder Ruhe der Welt im unendlichen leeren Raum, eine Bestimmung des Verhältnisses beider untereinander, welche niemals wahrgenommen werden kann, und also auch das Prädicat eines bloßen Gedankendinges ist.289

Diese Bemerkung findet sich sowohl in der A-Ausgabe von 1781 als auch in der B-Ausgabe von 1787, d. h. sowohl vor als auch nach der Herausgabe der MAN. Kant hat die Passage nach dem Erscheinen der MAN nicht abgeändert. Der absolute Raum wird also z. T. mit dem Raum der transzendentalen Ästhetik identifiziert. Demnach hat der absolute Raum an zwei Stellen des kritischen Systems seinen Platz. Er ist sowohl die Form der äußeren Anschauung als auch eine Idee der Körperlehre. Dies ist insofern problematisch, als Kant zwischen den Ideen und den Formen der Anschauung eigentlich streng unterscheidet. So fordert er in den MAN explizit dazu auf, beide Raumkonzeptionen voneinander zu trennen. Er scheibt in der allgemeinen Anmerkung zur Phänomenologie: Der leere Raum in phoronomischer Rücksicht, der auch der absolute Raum heißt, sollte billig nicht ein leerer Raum genannt werden […].290

Der Raum der transzendentalen Ästhetik und der absolute Raum der MAN stehen demnach in einem nicht aufzulösenden Spannungsverhältnis. Vergleicht man Kants Konzeption mit derjenigen Newtons, so wird deutlich, dass sich auch bei ihm dieses Spannungsverhältnis findet. Es gibt bei Newton sowohl Überlegungen, 288 Pollok 2000, S. 186. 289 KrV A 430 / B 458, Hervorhebung durch mich. Eine Reflexion Kants weist in dieselbe Richtung: „Zeit und Raum verstatten allein Grentzen, aber nicht der totalitaet. Der erste Anfang und die äußerste Grentze der Welt sind gleich unbegreiflich. Denn es ist das erste ein Seyn und Nichtseyn zugleich, und beydes scheinet eine absolute Zeit und Raum, d. i. etwas, was da begrentzt und doch nichts enthält, anzuzeigen.“ Refl 4503, AA 17, 576. 290 MAN, AA 04, S. 563.

190

4 Kants Raumkonzeption

die davon ausgehen, dass der Raum uns unmittelbar als unendlich gegeben ist, als auch Argumente, die im Raum einen Grenzbegriff sehen.291 Der Raum ist bei Kant sowohl in der Anschauung als auch in der Vernunft beheimatet. Auch in der Untersuchung zu Newton ist deutlich geworden, dass wir sowohl durch die imaginatio als auch durch den intellectus Zugang zum absoluten Raum haben. Demnach ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Raum als Anschauungsform und dem Raum als Vernunftidee nicht neu. Vielmehr geht es auf zwei Zugangsweisen zum Raum zurück, die sowohl bei Newton als auch bei Kant anzutreffen sind.292 Zum einen liegt dem Raum die Überlegung zugrunde, dass er durch die sukzessive Erweiterung des uns empirisch Gegebenen erschlossen wird. Zum anderen gibt es aber auch eine Tradition, die im Raum etwas unmittelbar als unendlich Gegebenes sieht. Inwieweit gelingt es Kant, auf einen newtonschen absoluten Raum zu verzichten? Kant unterstreicht immer wieder, dass der absolute Raum lediglich regulative Bedeutung hat. Sowohl der Anschauungsraum als auch der absolute Raum als Idee dürfen nicht als ‚Gegenstand‘ angesehen werden. An dieser Stelle möchte ich untersuchen, inwieweit Kant in Anspruch nehmen kann, tatsächlich auf einen absoluten Raum, wie Newton ihn im Sinne hatte, zu verzichten. Dazu werde ich ein von Kant selber gewähltes Problem untersuchen: Die Rotation eines Körpers im leeren Raum. In der Phänomenologie pocht Kant darauf, dass es sich bei der Kreisbewegung um eine wahre Bewegung, jedoch nicht um eine absolute Bewegung handelt. Der Unterschied besteht darin, dass wahre Bewegung stets Bewegung relativ zu einem anderen Körper, bzw. relativen Raum bleibt. Demgegenüber würde es sich bei absoluter Bewegung um Bewegung zwischen Körper und Raum handeln. Kant selber bespricht jedoch in der allgemeinen Anmerkung zur Phänomenologie die Rotation eines Körpers im leeren Raum. Um seine Argumente genau nachvollziehen zu können, soll hier die gesamte Passage zitiert werden: Man kann sich z.B. die Erde im unendlichen leeren Raum als um die Achse gedreht vorstellen und diese Bewegung auch durch Erfahrung darthun, obgleich weder das Verhältniß der Theile der Erde untereinander, noch zum Raume außer ihr phoronomisch, d.i. in der Erscheinung, verändert wird. Denn in Ansehung des ersteren als empirischen Raumes verändert nichts auf und in der Erde seine Stelle, und in Beziehung des zweiten, der ganz leer ist, kann überall kein äußeres verändertes Verhältniß, mithin auch keine Erscheinung einer Bewegung stattfinden. Allein wenn ich mir eine zum Mittelpunkt der Erde hingehende tiefe Höhle vorstelle und lasse einen Stein darin fallen, finde aber, daß, obzwar in jeder Weite vom Mittelpunkte die Schwere immer nach diesem hingerichtet ist, der fallende Stein dennoch von seiner senkrech-

291 Vgl. 2.3.6. 292 Die Rollen von Intellectus und Imaginatio gegenüber der Vernunft und der Anschauung sind bei Newton und Kant allerdings mitunter vertauscht. So können wir nach Newton den Raum als aktual unendlich denken, während nach Kant der Raum als unendlich durch die Anschauung gegeben wird.

4.2 Der Raum in Kants kritischer Philosophie (ab 1781)

191

ten Richtung im Fallen kontinuierlich und zwar von West nach Ost abweiche, so schließe ich, die Erde sei von Abend gegen Morgen um die Achse gedreht. Oder wenn ich auch außerhalb den Stein von der Oberfläche der Erde weiter entferne, und er bleibt nicht über demselben Punkte der Oberfläche, sondern entfernt sich von demselben von Westen nach Osten, so werde ich auf eben dieselbe vorhergenannte Achsendrehung der Erde schließen, und beiderlei Wahrnehmungen werden zum Beweise der Wirklichkeit dieser Bewegung hinreichend sein, wozu die Veränderung des Verhältnisses zum äußeren Raume (dem bestirnten Himmel) nicht hinreicht, weil sie bloße Erscheinung ist, die von zwei in der That entgegengesetzten Gründen herrühren kann und nicht ein aus dem Erklärungsgrunde aller Erscheinungen dieser Veränderung abgeleitetes Erkenntniß, d. i. Erfahrung, ist. Daß aber diese Bewegung, ob sie gleich keine Veränderung des Verhältnisses zum empirischen Raume ist, dennoch keine absolute Bewegung, sondern continuierliche Veränderung der Relationen der Materien zu einander, obzwar im absoluten Raume vorgestellt, mithin wirklich nur relative und sogar darum allein wahre Bewegung sei, das beruht auf der Vorstellung der wechselseitigen kontinuierlichen Entfernung eines jeden Theils der Erde (außerhalb der Achse) von jedem andern ihm in gleicher Entfernung vom Mittelpunkte im Diameter gegenüber liegenden. Denn diese Bewegung ist im absoluten Raume wirklich, indem dadurch der Abgang der gedachten Entfernung, den die Schwere für sich allein dem Körper zuziehen würde, und zwar ohne alle dynamische zurücktreibende Ursache (wie man aus dem von Newton Prin. Ph. N. pag. 10 Edit. 1714 gewählten Beispiele ersehen kann), mithin durch wirkliche, aber auf den innerhalb der bewegten Materie (nämlich des Centrum derselben) beschlossenen, nicht aber auf den äußeren Raum bezogene Bewegung continuierlich ersetzt wird.293

Kants Argument ist, dass die wahre Bewegung eines rotierenden Körpers auch ohne einen relativen Raum aufgrund von dynamischen Effekten erkannt werden kann. So kann man aufgrund der veränderten Flugbahn eines Körpers auf die wahre Bewegung der Erde schließen, auch wenn die Erde sich nicht im relativen, sondern im leeren, absoluten Raum bewegen würde.294 Er greift Newtons Beispiel der rotierenden Kugeln auf. In diesem hatte Newton aufzuzeigen gesucht, wie sich die wahre Bewegung, von ihm jedoch verstanden als absolute Bewegung, d. h. als Bewegung zum absoluten Raum, ermitteln lässt. Newton führt also ein experimentelles Verfahren zur Bestimmung des Bewegungszustandes in Bezug auf den nicht sichtbaren, absoluten Raum ein.

293 MAN, AA 04, 561–562. 294 An diesem Beispiel wird erneut die Nähe zwischen dem absoluten Raum der MAN und dem Raum der transzendentalen Ästhetik deutlich. So spricht er hier vom leeren (MAN, AA 04, 561) und vom absoluten Raum synonym. Dies geschieht, obwohl Kant nicht zugestehen müsste, dass es sich in dem Problem der im leeren Raum rotierenden Erde oder dem Beispiel der im leeren Raum rotierenden Kugeln überhaupt um den absoluten Raum handelt. Hier verliert der absolute Raum den von Kant immer wieder unterstrichenen Status eines Grenzbegriffes (denn die Sukzession des Mannigfaltigen ist im Fall der im leeren Raum rotierenden Erde endlich). Hinzu kommt, dass Kant sich um dieses Problem insofern ‚herumwinden‘ könnte, als er eigentlich davon ausgeht, dass es einen leeren Raum nicht gibt (man vgl. seine Überlegungen in der Dynamik und am Ende der Phänomenologie). Dass er dennoch die Rotation eines Körpers im leeren Raum betrachtet und diesen Raum mit dem absoluten Raum gleichsetzt, zeigt, dass es im kantischen Denken Tendenzen gibt, nach denen der absolute Raum auch eine Idee ist, aber eben nicht nur.

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4 Kants Raumkonzeption

Kant referiert in einer Fußzeile auf diese Passage. Auch sie soll hier vollständig angeführt werden: Er [d. h. Newton] sagt daselbst: Motus quidem veros corporum singulorum cognoscere et ab apparentibus actu discriminare difficillimum est: propterea, quod partes spatii illius immobilis, in quo corpora vere moventur, non incurrunt in sensus. Causa tamen non est prorsus desparata. Hierauf läßt er zwei durch einen Faden verknüpfte Kugeln sich um ihren gemeinschaftlichen Schwerpunkt im leeren Raume drehen und zeigt, wie die Wirklichkeit ihrer Bewegung sammt der Richtung derselben dennoch durch Erfahrung könne gefunden werden. Ich habe dieses auch an der um ihre Achse bewegten Erde unter etwas veränderten Umständen zu zeigen gesucht.295

Kant gibt hier § 12 des Scholions wieder, d. h. den Absatz, in dem sich das Eimerexperiment befindet. Daraufhin geht er auf § 14 ein, in dem Newton die Rotation der Kugeln um ihren Schwerpunkt bespricht. Kant hat vollkommen recht damit, dass sich die wahre Bewegung durch dynamische Effekte (z. B. die Zentrifugalkraft) aufweisen lässt. Eine andere Frage ist aber, ob dies der entscheidende Punkt der newtonschen Argumentation ist. Nach Newton ist wahre Kreisbewegung die Kreisbewegung zum absoluten Raum. Dabei werden die dynamischen Effekte, die bspw. beim Eimerexperiment auftreten, durch die Bewegung zum Raum erklärt. Die Zentrifugalkraft tritt auf, weil sich der Körper kreisförmig im absoluten Raum bewegt. Kant begnügt sich nun damit, wahre Bewegung durch die Zentrifugalkraft aufzuzeigen. Wie kann er aber die Zentrifugalkräfte erklären? Es hat den Anschein, dass Kant an dieser Stelle dem Raum mehr als nur regulative Bedeutung zuschreiben muss. Dies will ich an einem Gedankenexperiment zeigen: Man stelle sich einen leeren Raum vor, in dem sich zwei Kugeln befinden. Die eine Kugel (A) rotiere um ihre eigene Achse, die andere (B) ruhe.296 Nach Kant kann dies aufgrund der Verformung der Oberfläche der Kugeln aufgezeigt werden. Die ruhende Kugel (B) bleibt unverändert, während die rotierende Kugel (A) sich als Folge der durch die Kreisbewegung auftretenden Zentrifugalkraft verformt.

295 MAN, AA 04, 562. Hervorhebungen durch mich. Die lateinische Passage wird von Pollok wie folgt ins Deutsche übersetzt: „Die Ursachen, durch welche wahre und relative Bewegungen verschieden sind, sind die Kräfte, welche zur Erzeugung der Bewegung auf die Körper eingewirkt haben. Eine wahre Bewegung wird nur erzeugt oder abgeändert durch Kräfte, welche auf den Körper selbst einwirken, wogegen relative Bewegungen erzeugt und abgeändert werden können, ohne daß die Kräfte auf diesen Körper einwirken.“ Pollok 1997, S. 147– 148. 296 Das Gedankenexperiment ist Einstein 1916, S. 771 nachempfunden.

4.3 Systematische Zusammenfassung der kantischen Raumkonzeption

193

Wie würde Kant aber dieses Verhalten erklären? Die wahre Bewegung kann anhand dynamischer Effekte aufgezeigt werden. Das sieht auch Newton so.297 Aber müssten zur Begründung des unterschiedlichen Verhaltens der Kugeln nicht diese in Relation zum Raum gesetzt werden? Newton kann als Grund für das Auftreten der Zentrifugalkraft angeben, dass der Körper zum absoluten Raum rotiert. Wenn Kant nun einen Grund angeben muss, warum A und B sich unterschiedlich verhalten, so könnte er sich nicht auf das Verhältnis der Körper zueinander beziehen, denn dieses ist für beide Kugeln das gleiche: A rotiert relativ zu B und B rotiert relativ zu A. Dementsprechend müsste er sich in der Erklärung der Zentrifugalkräfte auf die Bewegung der Kugeln zum Raum beziehen. Dann müsste Kant aber den Raum selber als Gegenstand auffassen.298 Demnach bleibt Kants Raumkonzeption bei der Erklärung der Zentrifugalkräfte hinter Newton zurück.

4.3 SYSTEMATISCHE ZUSAMMENFASSUNG DER KANTISCHEN RAUMKONZEPTION Nachdem die Raumkonzeption der kritischen Phase untersucht wurde, gilt es nun, die Ergebnisse des Kapitels zusammenzufassen und unter systematischen Gesichtspunkten zu diskutieren. Zu Beginn vertritt der vorkritische Kant eine leibnizsch-wolffsch geprägte Raumkonzeption, die er mit der newtonschen Gravitation zu verbinden versucht. Der Raum ist im Unterschied zu Leibniz’ Konzeption nicht nur die Gesamtheit der Substanzen. Zusätzlich müssen die Substanzen nach Kant auch noch in Verbindung stehen. Diese Verbindung ist die von Gott gesetzte Gravitation. Gott kommt damit konstitutive Bedeutung zu. Dabei ist die vorkritische Raumkonzeption als Versuch einer Synthese aus der leibnizschen Raumtheorie und der newtonschen Gravitation zu verstehen. Das Verhältnis der Trias aus Gott, Raum und Gravitation lässt sich dabei wie folgt skizzieren: 297 „It is certainly very difficult to find out the true motions of individual bodies […]. Nevertheless, the case is not utterly hopeless. For it is possible to draw evidence partly from apparent motions, […] and partly from the forces […].” Principia, S. 414. 298 Es ließe sich auch hier zugunsten Kants anführen, dass er einen leeren Raum ablehnt. Dennoch wird das Beispiel eines leeren Raumes, in dem die Erde rotiert, von ihm selber gewählt.

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4 Kants Raumkonzeption

Im Laufe der Zeit kommen Kant jedoch Zweifel an dieser Raumvorstellung. Beeinflusst von Euler bricht er 1768 schließlich mit der relationalen Raumtheorie und versucht zu beweisen, dass der Raum unabhängig von den Körpern existiert. In den darauf folgenden Jahren entwickelt Kant seine kritische Position, u. a. durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Raumproblematik. Obwohl die Raumkonzeption der kritischen Phase zahlreiche Charakteristika mit Newtons absolutem Raum teilt, gewinnt sie durch den transzendentalen Idealismus eine ganz neue Bedeutung. Der Raum ist unsere a priori gegebene Anschauungsform und nur als diese subjektive Bedingung unserer Erkenntnis wirklich. Kant wirft Newton vor, dass er im Raum einen Gegenstand und nicht die bloße Bedingung der Möglichkeit unserer Anschauung gesehen hat. Die newtonsche Position kann jedoch nicht erklären, wie wir zu apodiktischen Aussagen zum Raum gelangen, und führt zudem zur Antinomik. Dabei will Kant seinen eigenen transzendentalen Idealismus streng von Berkeleys Position unterschieden wissen. Dennoch glaubt er, dass Berkeleys Haltung einige Probleme der newtonschen Konzeption erkannt hat. Er hat nach Kant allerdings die falschen Konsequenzen daraus gezogen. Sein dogmatischer Idealismus wie auch die Position Leibniz’ kann nicht die Notwendigkeit der Mathematik erklären, wie es die kantische Position für sich in Anspruch nimmt. Mit Kants transzendentalem Idealismus geht eine Veränderung des Metaphysikbegriffs einher. So wird eine Fundierung in Gott von Kant abgelehnt und durch eine Metaphysik ersetzt, die nach den apriorischen Voraussetzungen unseres Erkennens fragt. In seiner Herleitung der Attraktion geht Kant von der Notwendigkeit des Raumes aus und schließt vom Raum auf die Eigenschaften der zwischen Körpern wirkenden Anziehung. Es kommt zu einer grundlegenden Veränderung hinsichtlich der Autorität, auf die sich die Naturphilosophie stützt. Dabei fällt Gott weg, der bei Newton und dem vorkritischen Kant noch eine konstitutive Rolle hatte. Er nimmt nur noch eine regulative Rolle ein. Die ‚Autorität‘, auf die sich der kantische Raum und damit auch seine Gravitationskonzeption stützt, ist nun die Vernunft:

4.3 Systematische Zusammenfassung der kantischen Raumkonzeption

195

In den MAN findet sich ebenfalls eine intensive Auseinandersetzung mit der Raumlehre Newtons. In dieser Schrift versucht Kant aus der kritischen Philosophie heraus ein metaphysisches Fundament der Mechanik herzuleiten. Dabei werden ihre grundlegenden Konzeptionen neu gedeutet. Dies gilt auch für den absoluten Raum. Während Newton noch davon ausging, dass jedem Körper eine absolute Bewegung im absoluten Raum zukommt, lehnt Kant die Vorstellung von absoluter Bewegung gänzlich ab. Bewegung kann ihm zufolge nur zwischen Gegenständen stattfinden. Kant führt allerdings den absoluten Raum als regulative Idee eines allumfassenden Schwerpunktsystems ein. Gemäß der diemerschen Systematik kann man dabei im absoluten Raum eine für die Mechanik notwendige Hypothese sehen. Der absolute Raum ist der imaginäre Zielpunkt, bezüglich dessen die relativen Räume ineinander angeordnet werden. Die Idee des absoluten Raumes als ein allumfassendes Bezugssystem dient als nie zu erreichender imaginärer Zielpunkt der Naturwissenschaft. In Differenz zu Newton fällt auf, dass relative Räume nicht durch Einschränkungen des absoluten Raumes erschlossen werden. Vielmehr setzt die Idee des absoluten Raumes die relativen Räume ins richtige Verhältnis zueinander. Der absolute Raum ist also nicht mehr das grundlegende Medium, in dem alle Körper ihren absoluten Ort und ihre absolute Bewegung haben. Er bildet nicht die Grundlage der Naturwissenschaft, sondern ihre Spitze. Dabei ist jedoch anzumerken, dass es Kant nicht komplett gelingt, seine eigene Forderung nach einer rein regulativen Verwendung des absoluten Raumes einzuhalten. Spannungen im Verhältnis von absolutem Raum und dem Raum als Anschauungsform können jedoch ihrerseits auf Ambivalenzen zurückgeführt werden, die schon bei Newton zu finden sind. In Eulers Plädoyer für den absoluten Raum hatte ich, Cassirer folgend, eine Autoritätsverschiebung zwischen Metaphysik und Naturwissenschaft gesehen. Der kritische Kant ist durch dieses Plädoyer Eulers geprägt. Er entwickelt sein eigenes kritisches System mit Blick auf die Naturwissenschaft als Faktum. Dabei sieht er es gerade als Stärke seines Systems an, dass sich, nach seiner Meinung, große

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4 Kants Raumkonzeption

Teile der Physik aus der kritischen Philosophie herleiten lassen. Kants kritische Philosophie kann daher in Teilen als Umsetzung des von Euler geforderten Programmes gelesen werden. Auch wenn gezeigt werden konnte, dass es sich bei Kant um einen klassischen Denker handelt, weist dieses Verständnis von Philosophie und Naturwissenschaft in die Richtung einer moderneren Auffassung (L5). Zusammenfassend soll nun die von Kant entwickelte Bewegungslehre mit Blick auf Diemers Systematik der newtonschen gegenübergestellt werden. Wie deutlich geworden ist, kann es nach Kant einen absoluten Raum im newtonschen Sinne nicht geben. Wie für seine Philosophie typisch, interpretiert er diese Grundkonzeption der newtonschen Mechanik jedoch um. Wie in Kapitel 2 gezeigt wurde, unterscheidet Newton zwischen absoluter und relativer Bewegung, wobei allein die absolute Bewegung physikalische Relevanz hatte:

Kant versucht zum einen, die absolute Bewegung gänzlich aus der Physik zu verbannen, zum anderen aber, Newtons dichotomische Unterscheidung zu erweitern. Absolute Bewegung kann es für Kant nicht geben, da Bewegung immer nur zwischen zwei Gegenständen möglich ist. Der Raum ist jedoch kein Gegenstand. Demnach muss alle Bewegung relativ sein. Diese relative Bewegung wird von Kant in verschiedene Bewegungsarten aufgespalten:

Kant versucht die absolute Bewegung, verstanden als Bewegung zum absoluten Raum, ganz außen vor zu lassen. Die verschiedenen Funktionen der absoluten Bewegung sollen dabei von verschiedenen relativen Bewegungstypen übernommen werden, auch wenn seine Konzeption z. T. Schwierigkeiten hat. Dies kann im Lichte der diemerschen Systematik interpretiert werden. Während Zentrifugalkräfte bei Newton noch anhand von Bewegung zum absoluten Raum erklärt wurden, geschieht dies bei Kant durch einen bestimmten Bewegungstyp. Die Kreis-

4.3 Systematische Zusammenfassung der kantischen Raumkonzeption

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bewegung geht mit der Zentrifugalkraft einher, auch wenn sie nicht mehr als Bewegung zum absoluten Raum verstanden wird. Von Newton zu Kant kommt es demnach zu einem Absinken des Systemschwerpunktes in das System hinein. Nicht mehr die Bewegung zu einem Raum, sondern der Bewegungszustand selbst ist es, der physikalische Bedeutung hat. Allerdings konnte im Falle der Zentrifugalkraft gezeigt werden, dass Kant hinter seinem Anspruch zurückbleibt, auf einen absoluten Raum gänzlich zu verzichten. Dieses Absinken des Systemschwerpunktes konnte auch an anderen Stellen der kantischen Naturphilosophie herausgearbeitet werden. So ging Newton noch davon aus, dass es einen absoluten Raum gibt, in dem die Bewegungsgesetze gelten. Demgegenüber verschiebt sich bei Kant die Priorität hin zum Bewegungsgesetz. Das dritte Gesetz der Mechanik muss als Anleitung zur Konstruktion des absoluten Raumes verstanden werden, nicht umgekehrt. Demnach nimmt das Bewegungsgesetz bei Kant die fundamentalere Rolle ein, wobei er durch Euler beeinflusst ist. Des Weiteren reinigt Kant, ebenfalls auf Euler aufbauend, die Mechanik von metaphysischem Ballast. Während Newton noch von einer Trägheitskraft ausging, findet sich eine solche Kraft bei Kant ab 1758 nicht mehr. Die Kraft wird durch einen Zustand ersetzt, in dem der Körper von Natur aus verharrt. Wie in 4.2.2.1 deutlich wurde, handelt es sich bei Kant um einen Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption. Nichtsdestotrotz finden sich bei ihm im Unterschied zu Newton Tendenzen hin zu einer Läuterung der Naturwissenschaft von der klassischen Metaphysik und eine Neuordnung der grundlegenden Prinzipien der Mechanik. Dabei haben die Bewegungsgesetze zunehmend Prinzipiencharakter und haben Aufgaben inne, die bei Newton noch dem absoluten Raum zukamen. Kants Umdeutung des absoluten Raumes zu einer notwendigen Hypothese kann des Weiteren als modernisierende Tendenz verstanden werden. Im folgenden Kapitel soll untersucht werden, wie Fries verschiedene Gedanken Kants zur Bewegungslehre aufgreift und weiterführend modernisiert.

5 FRIES’ RAUMKONZEPTION Die philosophische Diskussion um Achtzehnhundert ist geprägt von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk Kants. Dabei werden unterschiedliche Überlegungen und Tendenzen seiner Philosophie aufgegriffen und weiterentwickelt.1 Ein wichtiger Denker in den Bahnen Kants ist Jakob Friedrich Fries. Sein Ziel ist es, das kantische System mit kritischem Abstand ‚auszubessern‘ und weiterzuentwickeln. Dies gilt insbesondere für die Naturphilosophie. Als ausgewiesener Kenner der damaligen naturwissenschaftlichen Debatten versucht er, Kants MAN an die sich verändernde Wissenschaftslandschaft anzupassen. Dabei beweist er ein feines Gespür für die wissenschaftskonzeptionellen Veränderungen, die in dieser Zeit vonstattengehen. Wie in diesem Kapitel deutlich wird, kann das insbesondere an seiner Raum- und Bewegungskonzeption festgemacht werden. Im Folgenden soll zunächst das Verhältnis Fries’ zu den anderen Protagonisten dieser Arbeit untersucht werden. Hierfür werde ich zunächst auf seine Newton- und Kantrezeption und sein Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft eingehen (5.1). Daraufhin gilt es, seine Mathematische Naturphilosophie mit Blick auf die Raum- und Bewegungskonzeption zu analysieren (5.2). Abschließend werde ich die erarbeiteten Ergebnisse mit Blick auf die systematischen Fragestellungen der Arbeit betrachten (5.3). Dabei werde ich zeigen, dass Fries’ grundlegende Gedanken Kants aufgreift, sie jedoch mit Blick auf die anbrechende moderne Wissenschaftskonzeption neu deutet.

5.1 FRIES’ NEWTONREZEPTION UND SEIN VERHÄLTNIS ZUR PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT In diesem Abschnitt soll zunächst Fries’ Leben und Werk anhand einer biografischen Skizze vorgestellt werden (5.1.1). Um die Bedeutung seiner MN richtig einschätzen zu können, werde ich daraufhin auf sein Verhältnis zu Kant sowie zur damaligen Philosophie und Wissenschaft eingehen (5.1.2). Dann wird Fries’ Darstellung Newtons in seiner Geschichte der Philosophie untersucht (5.1.3), um schließlich seine Raumkonzeption in der Anthropologischen Kritik der Vernunft zu analysieren (5.1.4). Dadurch wird ein flüssiger Übergang zur Diskussion der Raum- und Bewegungskonzeption gewährleistet.

1

Vgl. Bonsiepen 1997.

5.1 Fries’ Newtonrezeption und sein Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft

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5.1.1 Biografische Skizze zu Fries An dieser Stelle soll Fries’ Leben und Werk kurz skizziert werden. Damit unterscheidet sich das vorliegende Kapitel von meinen Untersuchungen zu Newton und Kant, da das Leben dieser Denker nicht eigens vorgestellt wurde. Eine biografische Einführung zu Fries ist jedoch deshalb notwendig, da er anders als Newton oder Kant leider noch nicht die angemessene Würdigung erhalten hat und dem Leser möglicherweise unbekannt ist.2 Jakob Friedrich Fries wird 1773 in Barby an der Elbe geboren und wächst ab dem fünften Lebensjahr in der dort ansässigen ‚Brüdergemeine‘ auf. Schon früh zeigt er eine große mathematische Begabung.3 1792 tritt er in das theologische Seminar der Brüdergemeine in Niesky ein, wo er zum ersten Mal durch seinen Lehrer Garve mit dem Werk Kants in Berührung kommt. Davon ausgehend entwickelt Fries, der sich zunächst mehr für Mathematik begeistern kann, langsam ein Interesse an Philosophie. Nach Abbruch eines Jurastudiums in Leipzig begibt er sich 1797 nach Jena und damit zu der Universität, an der die kantische Philosophie zu jener Zeit am intensivsten diskutiert wurde.4 Dabei steht Fries schon bald in Opposition zu idealistischen Denkern wie Fichte, Schelling und (später) Hegel. Nach einem kurzen Intermezzo als Lehrer in der Schweiz habilitiert er sich und wird Privatdozent. 1803 wird er in der philosophischen Fachwelt durch seine Schrift Reinhold, Fichte, Schelling bekannt. Daraufhin erhält er 1805 „zugleich mit Hegel“5 eine Professur für Philosophie in Jena. Die Konkurrenz zu Hegel, mit dem er mehrmals in Vergabeverfahren um Professuren wetteifert, durchzieht sein ganzes Leben.6 1805–1816 hat er eine Professur für Philosophie an der Universität

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5 6

Zudem finden sich zahlreiche ausführliche Biografien zu Newton und Kant, während es lediglich eine Fries–Biografie von dessen Schüler und Schwiegersohn Ernst Ludwig Theodor Henke gibt. Im Folgenden stütze ich mich auf diese Darstellung Henkes. Siehe dazu Henke 1937. Er greift seinerseits in vielem auf Fries’ Briefwechsel zurück. Vgl. Bonsiepen 2013, S. 252. Für diese Untersuchung ist interessant, dass Fries angibt, zu dieser Zeit die leibnizsche Monadologie und Eulers Briefe an eine deutsche Prinzessin kennengelernt zu haben. Der damals wenig an Philosophie interessierte Fries schreibt: „Außerdem lasen wir Euler’s ‚Briefe an eine deutsche Prinzessin‘; alles Metaphysische darin erschien mir aber, wie Cicero’s Gespräche, unzulänglich und willkürlich, Leibniz’ ‚Monadenlehre‘ z. B. als ein willkürlich ersonnener, unbegründeter Traum. […] So kam ich mit einem sehr günstigen Urtheil für die Mathematik und einem ungünstigen über die Philosophie im Herbst 1792 in das theologische Seminarium nach Niesky.“ Fries zitiert nach Henke 1937, S. 18. In den 1780er Jahren ist Jena der erste Ort, an dem eine tiefgehende Beschäftigung mit der kritischen Philosophie Kants einsetzt. Dabei können Jena und das benachbarte Weimar zur Zeit um 1800 als ein kulturelles Zentrum in Deutschland gesehen werden. Vgl. Wundt 1932, S. 140. Fries zitiert nach Henke 1937, S. 94. Für einen Vergleich Hegels und Fries’ siehe van Dooren 1970. Vgl. bspw. Henke 1937, S. 152. Für eine tiefer gehende Einschätzung des Verhältnisses zwischen Hegel und Fries siehe König / Geldsetzer 1982, S. 24*–33*.

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5 Fries’ Raumkonzeption

Heidelberg inne. In dieser Zeit veröffentlicht er sein Hauptwerk, die Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft (1807)7 und das System der Logik (1811). Ein Jahr später übernimmt er auch eine Professur für Physik. In diese Phase fällt seine Populäre Vorlesung über Sternenkunde. 1816 wechselt er zurück nach Jena und erhält, nach der Teilnahme am Wartburgfest und der Ermordung August von Kotzebues durch seinen ehemaligen Schüler Karl Ludwig Sand im Jahr 1819, Lehrverbot.8 1820 erscheint sein Handbuch für psychologische Anthropologie, 1822 Die mathematische Naturphilosophie9 und 1823 das System der Metaphysik. Zwar wird Fries aufgrund des Lehrverbots eine erneute Professur für Philosophie bis zum Ende seines Lebens verwehrt bleiben, aber er erhält 1825 wieder eine Professur für Physik. Öffentliche Vorlesungen in Philosophie darf er dennoch nicht mehr halten. Nur „in der Form eines Privatissimum in seinem Hause“10 ist es ihm ab 1825 wieder gestattet. Henke zitiert dazu Fries: ‚Die Demagogik‘, heißt es kurz nachher an Beaulieu, ‚ist hier allerdings so ziemlich vergessen, aber mir gehen ihre Leiden doch sehr nach, und das geht noch immer fort, weil ich (er meint öffentlich) keine Philosophie lehren darf. Besonders schlimm ist, daß darüber mein philosophisches Licht überall in der Welt erlischt; ohne die Anregung vom Katheder herunter ist es mit der philosophischen Schriftstellerei jetzt wenig. […]‘11

In die Zeit seiner Tätigkeit als Professor für Physik fällt das Lehrbuch der Naturlehre von 1826. Als letztes großes Werk veröffentlicht Fries 1837 und 1840 seine zweibändige Geschichte der Philosophie. Er stirbt 1843 nach einer Reihe von Schlaganfällen, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag.

7

Die erste Auflage von 1807 trägt noch den Namen Neue Kritik der Vernunft, während Fries in der zweiten Auflage von 1828 den Titel zu Neue oder anthroplogische Kritik der Vernunft erweitert hat. 8 Vgl. hierzu z. B. König / Geldsetzer 1982, S. 22*–24*. 9 Dabei gibt es in der Darstellung Henkes immer wieder Bemerkungen, die zeigen, dass Fries über einen Zeitraum von etwa 25 Jahren an der MN gearbeitet hat. Erste Überlegungen zu diesem Werk reichen daher bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein. Henke zitiert Fries, der über seinen Aufenthalt in der Schweiz schreibt: „Ferner führte mich Gilbert’s dissertatio de mathesi prima und der glückliche Fund von Newton’s principia math. phil. nat. auf der Zofinger Bibliothek oft auf die mathematische Naturphilosophie zurück und ließ mich dafür mehrere Vorarbeiten ausführen.“ Fries zitiert nach Henke 1937, S. 61. Auch sonst kommt Fries nach Henke immer wieder auf seine MN zurück, auch wenn sein Biograph den Arbeitsschwerpunkt auf 1820–1822 datiert. Fries schreibt demnach lange an diesem Werk und veröffentlichte es erst spät. Vergleicht man das Veröffentlichungsdatum seiner Schrift mit dem der schellingschen Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797, so erfolgte die Veröffentlichung wohl zu spät. Vgl. König / Geldsetzer 1982, S. 13*. Fries lange, intensive Arbeit an der MN weist jedoch auf eine Tiefe, aber auch auf einen systeminternen Status hin, den Kant mit seiner MAN nicht erreicht. Hinzu kommt, dass Fries als Naturwissenschaftler und Mathematiker ganz andere fachliche Voraussetzungen vorzuweisen hat als Kant, der trotz aller Begeisterung für die Naturwissenschaft doch zeitlebens ein Laie blieb. Vgl. hierzu Kötter 1991. 10 Henke 1937, S. 239. 11 Henke 1937, S. 239.

5.1 Fries’ Newtonrezeption und sein Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft

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5.1.2 Fries’ Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft seiner Zeit Aufbauend auf der biografischen Skizze soll nun das Werk Fries’ in seiner Zeit verortet werden. Dafür werde ich auf sein Verhältnis zu Kant und zur damaligen Philosophie und Naturwissenschaft eingehen. Fries’ Verhältnis zu Kant und zur Philosophie seiner Zeit Der oben angedeutete Konflikt Fries’ mit dem deutschen Idealismus, wie er später genannt wurde, markiert eine Weggabelung der deutschen Philosophie ausgehend von Kant. In Reaktion auf die kantische Philosophie12 bilden sich die dominanten Systeme der Folgezeit heraus.13 Wie in der biografischen Skizze zu Fries deutlich geworden ist, interessierte sich Fries zu Beginn seiner Karriere mehr für Mathematik als für Philosophie. Dies änderte sich, als er mit dem Werk Kants in Berührung kam. Er schreibt: Das war eine andere Art zu philosophiren, als ich sie noch irgendwo gefunden hatte; hier war wie in der Mathematik bestimmte und einleuchtende Wahrheit zu finden; [...].14

Die Bewunderung für Kant, aber auch die tiefe Überzeugung, dass Kant der Philosophie endlich wissenschaftlichen Status verliehen hat, durchzieht Fries’ gesamtes Werk.15 Im Gegensatz zu seinen idealistischen Konkurrenten ist es nicht sein Ziel, ein weiteres originäres Gedankengebäude zu begründen. Vielmehr gilt ihm das kantische System als guter, wenn auch verbesserungsbedürftiger Ausgangspunkt. Fries geht es daher nicht um eine Überwindung, sondern eine Überarbeitung des kantischen Systems. Dabei kann er jedoch nicht als bloßer Epigone Kants abgestempelt werden. Vielmehr deutet er die kantische Philosophie in interessanter Weise neu. Er schreibt: Ungeachtet der strengen systematischen Form, und der regelmäßigen Vollständigkeit des Systems, fehlte es doch dem Ganzen an Schluß, Rundung und dadurch an innerer Haltung und Einheit.16

Fries zentraler Kritikpunkt an der Philosophie Kants ist, dass dieser die transzendentale Deduktion mit einem Beweis verwechselt hat.17 Ein jeder Beweis geht jedoch von einem gültigen Obersatz aus, der seinerseits wieder eines Beweises

12 13 14 15

Vgl. Bonsiepen 1997, S. 14. Vgl. Fischer 1862b, S. 81–82 sowie Wundt 1932, S. 140. Fries zitiert nach 1937, S. 26. Vgl. z. B. GdP II, S. 502–503, WW 19, 502–503 oder AKdV I, S. 250, WW 04, 250. Fries schreibt gleich zu Beginn der Vorrede zum zweiten Band der zweiten Auflage der AKdV: „Durch die Kantischen Entdeckungen ist es uns möglich geworden, die Philosophie in derselben Strenge wissenschaftlich zu bearbeiten, wie die Mathematik schon lang bearbeitet worden ist.“ AKdV II, S. V, WW 05, 9. 16 AKdV I, S. 15, WW 04, 79. 17 Vgl. z. B. AKdV I, S. 25, WW 04, 89.

202

5 Fries’ Raumkonzeption

bedarf, was letzten Endes stets in einem infiniten Regress enden muss.18 Hier sieht Fries auch den zentralen Fehler Reinholds, Fichtes und Schellings, die versuchen, dem kantischen System anhand stets höherer Grundsätze Einheit zu geben.19 Demgegenüber wäre es der richtige Schritt gewesen, zu erkennen, dass es sich bei der KrV Kants eigentlich um ein Werk der philosophischen Anthropologie20 handelt bzw. handeln sollte.21 Ihr Ziel muss es sein, die impliziten Voraussetzungen unseres Erkennens herauszuarbeiten: […] [S]o kann die Deduktion einzig darin bestehen, daß wir aus einer Theorie der Vernunft ableiten, welche ursprüngliche Erkenntniß wir nothwendig haben müssen, und was für Grundsätze daraus nothwendig in unsrer Vernunft entspringen. Dies bestimmt die Wichtigkeit der Anthropologie für die Philosophie.22

Teile dieser Neudeutung der kantischen Philosophie werde ich unter Abschnitt 5.1.4 mit Blick auf den Raum analysieren. Fries und die Naturwissenschaft seiner Zeit Wirft man einen Blick auf die Naturphilosophie Fries’, so fällt eine weitere Differenz zu seinen idealistischen Konkurrenten ins Auge. Während sich Schelling und Hegel mit ihrer Naturphilosophie bewusst in Opposition zur Naturwissenschaft ihrer Zeit stellen, geht es Fries darum, den breiter werdenden Graben zwischen beiden Disziplinen zu überbrücken.23 Dabei ist er sowohl ein Kenner der philosophischen als auch der mathematischen und naturwissenschaftlichen Debatten und steht mit zahlreichen Wissenschaftlern in engem Kontakt.24 Exemplarisch seien hier nur Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt25 genannt, die beide ihre Hochachtung für Fries bezeugen. So schreibt Gauß nach einigen kritischen und polemischen Bemerkungen hinsichtlich der nachkantischen Philosophie in einem Brief an Fries:

18 Vgl. AKdV I, S. 19, WW 04, 83. Hinsichtlich dieser Haltung ist Fries, wie er selbst schreibt, durch Jakobi beeinflusst, mit dem er in regem philosophischem Austausch steht. Siehe z. B. AKdV I, S. 13, WW 04, 77 und AKdV I, S. 338–339, WW 04, 402–403. Zum Verhältnis zwischen Fries und Jakobi vgl. z. B. Bloching 1969, S. 44–56. 19 Vgl. Fischer 1862b. 20 Zur Neuartigkeit des friesschen Anthropologiebegriffs vgl. van Zantwijk 2005. 21 Dies hat Fries den Psychologismusvorwurf eingebracht. Vgl. hierzu bspw. Fischer 1862b und Liebmann 1865, S. 150. Für eine Widerlegung dieser Kritik siehe Sachs–Hombach 1999. Hinsichtlich einer Einschätzung des fischerschen Angriffs vgl. Wundt 1932, S. 381. 22 AKdV I, S. 342, WW 04, 406. 23 Vgl. hierzu Görg 2015. 24 Vgl. Herrmann 2000, S. 141–144. 25 Henke zitiert in diesem Zusammenhang Alexander von Humboldt: „Fries ist in seiner mathematisch–philosophischen Richtung eine Wohltat für Deutschland, die nicht genug anerkannt werden kann.“ A. Humboldt in: Henke 1937, S. 256. Dabei bescheinigt gerade die Unterstreichung der ‚mathematisch–philosophischen‘ Ausrichtung die als problematisch empfundene Entwicklung des philosophischen Zeitgeistes in eine andere Richtung.

5.1 Fries’ Newtonrezeption und sein Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft

203

Ich habe oft bedauert, nicht mit Ihnen an Einem Orte zu leben, um aus der mündlichen Unterhaltung mit Ihnen über philosophische Gegenstände eben so viel Vergnügen als Belehrung schöpfen zu können.26

Fries erkennt klar die Autonomisierung der Naturwissenschaft von philosophischen Debatten und versucht, durch eine Neudeutung und Überarbeitung der kantischen Naturphilosophie dieser Entwicklung gerecht zu werden. Dazu entwirft er, unter Rückgriff auf die MAN Kants, in seiner MN eine Wissenschaftsphilosophie, die den Naturwissenschaftlern bei der Entwicklung ihrer Theorien unter die Arme greifen soll. Diese Neudeutung bietet eine interessante Fortführung der Philosophie Kants, die noch nicht die ausreichende Würdigung erfahren hat.27 Dabei ist es gerade Fries’ Stärke, grundlegende kantische Gedanken an die sich modernisie-

26 Brief von Gauß an Fries vom 11.5.1841, Gauß 2011, S. 205. Dies verdeutlicht auch eine Anekdote des Friesschülers Schleiden: „Als ich (1830–34) in Göttingen studirte, kam einer der gediegenen Studenten zu Gauß, sah auf dessen Tische das genannte Werk [Fries’ Mathematische Naturphilosophie] und sagte [...] ‚Aber Herr Professor, geben Sie sich denn auch mit dem confusen philosophischen Zeug ab‘? worauf sich Gauß sehr ernst zu dem Frager wendete mit den Worten: ‚Junger Manu [sic!], wenn Sie es in Ihrem Triennium [d. h. den ersten drei Studienjahren] dahin bringen, daß Sie dieses Buch würdigen und verstehen können, so haben Sie Ihre Zeit bei weitem besser angewendet als die meisten Ihrer Commilitonen‘“. Schleiden 1863, S. 43, vgl. auch Dunnington 1955, S. 315 und König / Geldsetzer 1979, S. 93*. 27 Im Unterschied zu den Vertretern des deutschen Idealismus wurde Fries’ Philosophie wenig rezipiert. Dies hat mehrere Gründe: Zunächst schadete Fries das langjährige Lehrverbot. So entwarf er seine Veröffentlichungen oft aus Aufzeichnungen, die seinen Vorlesungen zugrunde lagen. Das Fehlen eines Auditoriums schlug sich deshalb auf seine schriftstellerische Tätigkeit nieder. Vgl. dazu das obige Zitat aus Henke 1937, S. 239. Des Weiteren wirkte sich der Mangel an Hörerschaft auf die Verbreitung seiner Schriften aus. Fries neigt außerdem dazu, eigene Neuerungen herunterzuspielen. So betont er (und dies gilt auch für seine Rezeption und Kritik des absoluten Raumes) stets die Kontinuität zu seinen Vorgängern. Vgl. hierzu Pulte 1999a, S. 60. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt schon Hoffmeister. Er wird von Henke folgendermaßen zitiert: „[D]aß Fries ‚manches Kant zuschreibe, was eigentlich ihm gehöre; dadurch kommt es, daß Ihre Verdienste sich nicht genug hervorstellen, sondern in die Kantischen Leistungen zum Theil verlieren. […].‘“ Hoffmeister zitiert nach Henke 1937, S. 261. Das von Hoffmeister über das Verhältnis von Kant zu Fries gefällte Urteil kann in Passagen auch für die Newtonrezeption Fries’ gelten. Vgl. 5.1.3. Für eine ausführliche Analyse der spärlichen Friesrezeption mit Fokus auf die hier im Mittelpunkt stehende Naturphilosophie Fries’ vgl. Pulte 1999a. Pulte sieht als Hauptgrund die puristische Philosophie– und die induktivistische Wissenschaftsgeschichtsschreibung, für die Fries MN zu sehr ‚zwischen den Stühlen‘, d. h. zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, steht. Des Weiteren fällt Fries’ Versuch, die kantische Naturphilosophie für die sich verändernde Wissenschaftskonzeption weiterzuentwickeln in eine Zeit, in der die Schulphilosophie diese Entwicklung und Veränderung gar nicht wahrnimmt. Somit handelt es sich bei der MN mit ihrem Versuch einer Brückenbildung um eine ‚unzeitgemäße Betrachtung‘, die von philosophischer Seite nicht gewürdigt werden kann, weil sie sich dieses Problems gar nicht bewusst ist. Hinzu kommt die Dominanz der hegelschen Philosophie. Diese wird zwar vom Ruf ‚zurück zu Kant‘ abgelöst, jedoch fällt Fries dann als ‚bloßer Epigone‘ unter den Tisch. Dabei bietet die friessche Philosophie gerade die Anbindung an die Wissenschaft, die die Vertreter des Neukantianismus beim deutschen Idealismus vermissten.

204

5 Fries’ Raumkonzeption

rende Wissenschaftskonzeption anzupassen. Dadurch bietet Fries’ Naturphilosophie noch heute einen interessanten Anknüpfungspunkt.

5.1.3 Fries’ Newtonrezeption In seinen Schriften äußert sich Fries an mehreren Stellen emphatisch über das Werk Newtons. Die große Bedeutung, die er ihm zukommen lässt, wird besonders in seiner Geschichte der Philosophie deutlich. Dort widmet er Newton einen eigenen Abschnitt. Um ein tiefgehendes Verständnis der friesschen Newtonrezeption zu gewährleisten, soll dieser Abschnitt hier analysiert werden. Fries schreibt der newtonschen Principia in der Entwicklung der Naturwissenschaft, oder, wie er sich ausdrückt, des „lichten Naturalismus“28, eine Schlüsselrolle zu. In Newtons Absage an bloße Hypothesen sieht er seine eigene Lehre vorbereitet (und eine Spitze gegen die Philosophie seiner Zeit, insbesondere die Naturphilosophie Schellings und Hegels). Dabei ist sich Fries aber auch der ‚theologischen Seite‘ in Newtons Denkens bewusst. Er hält ihm jedoch zugute, dass seine theologischen Überlegungen keinerlei Einfluss auf sein Werk gehabt hätten: Diesem Manne geben wir seine ausgezeichnete Stelle in der Geschichte der Philosophie nicht wegen der beiläufig von ihm ausgesprochenen metaphysischen Ansichten und Muthmaßungen, sondern nur wegen der unüberwindlich festen Gründung jenes lichten Naturalismus, dem er zugleich Freiheit und Selbständigkeit gab, indem er ihn von allen metaphysischen Hypothesen unabhängig machte, selbst warnend gegen die Einmengung der Metaphysik in die Physik, und welcher in Verbindung mit dem Rationalismus in jenen Kampf der Freidenker des achtzehnten Jahrhunderts gegen den Auctoritätsglauben trat, aus dem unsre geläuterten Ansichten gewonnen worden sind. Freilich würde der große Mann dies Lob, so wie wir es aussprechen, gar nicht genehmigt haben, denn er blieb ein strenger Anhänger der positiven Lehre seiner Kirche und widersprach mit klaren Ausführungen telelogischer Naturbetrachtung dem einseitigen Naturalismus. Allein die Consequenz seiner wissenschaftlich so klaren und festen Lehre wies doch dorthin, und gab dem Naturalismus die einzige unwiderlegliche Unterlage.29

Wenig später schreibt er weiter: Er hält die wissenschaftlichen Grundgesetze ganz unabhängig von jener Metaphysik und kommt nur zum Schluß seiner ganzen Lehre, wie am Ende der mathematischen Principien der Naturphilosophie in einfach schönen Worten und am Schlusse der Optik mit unsichern

28 GdP II, S. 342, WW 19, 342. 29 GdP II, S. 342–343, WW 19, 342–343. Ähnlich Passagen in seinen Populären Vorlesungen über die Sternenkunde: „Diese newtonische Theorie ist der größte Sieg, den der menschliche Verstand je in der Wissenschaft errungen hat, aber zugleich die völlige Entzauberung der Lehre. Keplern tönten noch die Harmonieen der Welten in den geheimnißvollen Zahlen des Himmels. Aber Newton hat uns dieser Zahlen eitles Geheimniß verrathen, und alle mystische Tiefen der Lehre vernichtet. Von nun an konnte es keine Astrologie mehr geben, und dieser Himmel war wahrhaft seiner Götter beraubt.“ PVÜS, S. 209, WW 16, 209.

5.1 Fries’ Newtonrezeption und sein Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft

205

Muthmaßungen, die aber nie auf seine Lehre selbst Einfluß gewannen, auf die Abhängigkeit der Natur von Gott zu sprechen.30

In seiner Darstellung geht Fries auf Schlüsselstellen der Principia ein und kommentiert sie. Dabei konzentriert er sich auf die Regulae Philosophandi und auf die Passagen vor dem ersten Buch. Auch wenn Fries Newtons empiristische Methodologie für fruchtbar hält, übersieht er seiner Ansicht nach doch, dass zahlreiche Ergebnisse der Naturwissenschaft auf mathematische und philosophische Untersuchungen zurückgehen.31 Dabei fällt an Fries’ Darstellung der Grundlagen der Principia auf, dass er nicht auf das Scholion zu Raum und Zeit zu sprechen kommt. Zunächst gibt er eine knappe, kommentierende Zusammenfassung der newtonschen Definitionen, woraufhin er gleich zu den Bewegungsgesetzen übergeht.32 Das Scholion wird also übersprungen. Fries schreibt jedoch nach den Bewegungsgesetzen mit Bezug auf das dritte Axiom: Hieraus wird dann zunächst abgeleitet das Gesetz des Parallelorgramms und die Gesetze der Relativität aller Bewegung. Entgegengesetzte Richtungen gegen einander aufgehoben, bleibt die Größe der Bewegung bei allen innern Gegenwirkungen in einem System von Körpern immer unverändert; der gemeinschaftliche Schwerpunct zweier oder mehrerer Körper verändert durch die innern Gegenwirkungen derselben seinen Zustand der Ruhe oder Bewegung nicht, ruht also entweder oder folgt einer gleichförmigen gradlinigen Bewegung, wenn keine äußern Kräfte einwirken. Bewegen sich mehrere Körper in einem gegebenen Raum, so erfolgen ihre gegenseitigen Bewegungen in ganz gleicher Weise, dieser Raum mag ruhen oder einer gleichförmigen gradlinigen Bewegung folgen; mögen sich Körper unter einander bewegen, wie es sei, wenn sie dabei von gleichen beschleunigenden Kräften in parallelen Richtungen bewegt werden, so werden ihre gegenseitigen Bewegungen ganz dieselben bleiben, diese letzteren Bewegungen mögen erfolgen oder nicht.33

Nach Fries reichen also die Axiome alleine aus, um eine Bewegungskonzeption zu errichten. Aus den Axiomen leiten sich die Korollarien ab. Ein absoluter Raum wird dazu nicht benötigt. Dies ist auch mit Blick auf die weitere Untersuchung des friesschen Argumentationsgangs relevant: Ausgehend von Newtons eigenen physikalischen Prinzipien lässt sich eine Bewegungskonzeption begründen, die nicht mehr auf den absoluten Raum zurückgreift. Dazu müssen diese Prinzipien jedoch umgedeutet werden. Diesbezüglich schreibt Fries: So stehen uns also in Newton’s Lehre die Methoden der Induction und die mathematischnaturphilosophischen Grundlagen neben einander. Ueber das erste verstand er sich ganz und sicherte uns damit die reiche Ausbeutung neuer Entdeckungen, über das andere war er sich mathematisch vollkommen klar, aber nicht so in der Berührung der Physik mit der Metaphysik und daher mit der Gotteslehre. Hier träumte er, der Raum sei das Sensorium Gottes und meinte dann, die Gottheit müsse von Zeit zu Zeit wieder Hand an ihr Werk legen, um das

30 GdP II, S. 344, WW 19, 344. 31 Vgl. dazu seine Ausführungen zur newtonschen Methodologie in 5.2.3.4. 32 D. h. während Newton in den Principia erst die Definitionen, dann das Scholion zu Raum und Zeit und dann die Axiome bespricht, finden sich in Fries’ Darstellung nur die Definitionen und die Axiome. Das Scholion wird komplett ausgelassen. 33 GdP II, S. 351–352, WW 19, 351–352.

206

5 Fries’ Raumkonzeption nach und nach hinschwindende Getriebe der Natur wieder in neuen Schwung zu setzen. Gegen diese Ansichten sprach Leibnitz und behauptete vorzüglich, daß eine solche göttliche Nachhülfe an die Natur der Idee der allweisen Allmacht nicht unpassend sei. Newton’s Schüler und Freund Samuel Clarke suchte ihn dagegen zu vertheidigen, aber Leibnitz hatte den schärferen metaphysischen Gedanken für sich. Indessen gab dies doch der Sache nicht die rechte Erläuterung. Newton hatte nur die Metaphysik und die Gottesidee fälschlich eingemengt, seine Frage ist eigentlich nur eine physische.34

Diese Passage zeigt, dass Fries die Debatte zwischen Leibniz und Clarke rezipiert hat. Er wusste also, dass Newton sehr wohl zwischen dem absoluten Raum und geradlinig-gleichförmig zu ihm bewegten Systemen unterscheidet.35 Fries spricht dennoch davon, dass Newton die „Grundgesetze der Relativität aller Bewegung“36 ableitet. Zum einen hängt dies damit zusammen, dass seine Darstellung der newtonschen Lehre nicht bloß historischen, sondern auch systematischen Anspruch hat. Zum anderen ist er aber auch sehr bescheiden, sobald es um seine eigenen Ergebnisse geht.37 Wenn Fries in der MN davon spricht, dass die Bewegungslehre keines absoluten Raumes bedarf,38 so ist damit klarerweise die Lehre Newtons in ihrer ursprünglichen Form gemeint. Sein Punkt ist, dass ausgehend von den Axiomen Newtons, durch eine Umdeutung auf einen absoluten Raum verzichtet werden kann. Dies wird auch aus Fries’ Darstellung der kantischen MAN in der GdP deutlich. Er schreibt: So giebt uns seine Lehre die vollständige philosophische Begründung von Newton’s Physik und die Befreiung derselben von den Vorurtheilen der Atomistik. Das ganze Werk enthält nur eine genauere philosophische Erörterung der Newtonschen Grundsätze der Relativität aller Bewegung, der Größe der Bewegung und der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung, wobei er alle diese Gesetze genau in ihrer mathematischen Bestimmtheit und Anwendbarkeit auffaßt.39

Newton hat – darin liegt Kants Verdienst – die Gesetze der Relativität philosophisch noch nicht genau herausgearbeitet, auch wenn sie in gewisser Weise in seinem Werk zu finden sind.40 Hierin kann Fries’ Zielsetzung in Kontinuität zu seinen beiden Vorgängern gesehen werden. Newtons Relativität wird von Kant philosophisch genauer herausgearbeitet. Kant baut also mit seinem Phoronomischen Grundsatz philosophisch das aus, was in Newtons Principia zumindest implizit enthalten ist. Wie deutlich werden wird, geht Fries in seinem Verzicht auf den absoluten Raum über Kant hinaus, wobei er immer wieder auf Überlegungen Kants und Newtons zurückgreift.41

34 35 36 37 38 39 40 41

GdP II, S. 355, WW 19, 355. Vgl. 3.1.3. GdP II, S. 351, WW 19, 351. Vgl. Pulte 1999a. Vgl. 5.2.3.1. GdP II, S. 550, WW 19, 550. Vgl. hierzu auch GdP II, S. 354, WW 19, 354. Vgl. 5.3.

5.1 Fries’ Newtonrezeption und sein Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft

207

5.1.4 Der Raum in der Anthropologischen Kritik der Vernunft Auf den letzten Seiten wurden Fries’ Leben und Werk sowie seine Rezeption Newtons und Kants behandelt. Der nächste Abschnitt analysiert die weitgehend unerforschte Bewegungskonzeption der MN. Um beide Untersuchungen zu verbinden, sollen hier spezifische Aspekte des Raumes in Fries’ Hauptwerk, der AKdV, betrachtet werden. Da Fries die kantische Konzeption in vielen Punkten übernimmt, gilt es, sich auf zentrale Punkte seiner Raumlehre zu beschränken.42 In der Untersuchung zu Kants kritischer Philosophie ist deutlich geworden, dass sich seine Raumkonzeption auf die Vernunft als Autorität stützt, während Gott als externe Instanz wegfällt.43 Während Kant die Dreidimensionalität des Raumes in der KrV nicht tiefer begründet, findet sich bei Fries eine Deduktion dieser Raumeigenschaften. Dabei bezieht er, über Kant hinausgehend, den Aspekt der Perspektive in seine Untersuchung des Raumes mit ein. Seine transzendentale Deduktion des Raumes in der AKdV gilt es daher genauer zu betrachten.44 Dazu soll zunächst die Bedeutung der Deduktion bei Fries untersucht werden, um dann spezifischer auf die Raumdeduktion einzugehen.

42 Am Rande sei hier erwähnt, dass Fries die Idealität des Raumes, anders als bei Kant, nur durch die Antinomik herleitet. Kant argumentiert bereits in der transzendentalen Ästhetik für den transzendentalen Idealismus und rechtfertigt dies noch einmal in der transzendentalen Dialektik durch die Antinomien.Vgl. 5.2.1.1. Kants Argument in der transzendentalen Ästhetik wurde vielfach kritisiert. Vgl. hierzu meine Randnotizen zur ‚Trendelenburgischen Lücke‘ in 4.2.1.1. Fries stimmt dieser Kritik zu. Er schreibt über Kants Ablehnung einer Prästabiliertheit des Raumes in den Dingen an sich: „Diese Behauptung zugegeben, so ist der obige Beweis leicht gerechtfertigt. Aber eben diese Behauptung wird sich nicht rechtfertigen lassen. Woher wissen wir denn, ob nicht irgend eine dritte höhere Ursache möglich sey, welche die Uebereinstimmung zwischen Vorstellung und ihrem Gegenstand bestimmt, indem sie beyde möglich macht? […] Dieser Kantische Beweisgrund für die Idealität von Raum und Zeit wird also wol verworfen werden müssen.“ AKdV I, S. XXV, WW 04, 53. Die Differenz zu Kant in diesem Punkt hat weitreichende Konsequenzen für den Aufbau der AKdV: „Nun hat ihn [d. h. den Beweis] Kant nicht nur an die Spitze gestellt, sondern auch so nahe mit der ausführlichen Erläuterung seiner eigenthümlichen Lehre, ‚das die Sinnenwelt nur Erscheinung und nicht die Dinge wie sie an sich sind, zeigte‘ verbunden, daß die meisten das Glück dieser ganzen Lehre vom Schicksaal dieses Beweises abhängig hielten. Allein dies letzte ist nicht der Fall. Seine wahre Lehre vom transcendentalen Idealismus ist die Lehre von den Antinomien der Vernunft, dort sind mit großer Ausführlichkeit alle Erörterungen gegeben, durch welche er das Schicksal der Metaphysik für immer entschieden hat. […] Demgemäß ist mein Entwurf ein ganz anderer geworden.“ AKdV I, S. XXVI, WW 04, 54. Diese Differenz in der Herleitung des transzendentalen Idealismus bei Kant und Fries kann in dieser Arbeit nicht weiter betrachtet werden. 43 Vgl. 5.2.1, sowie Diemer 1968b, S. 25. 44 Für eine ausführlichere Darstellung der friesschen Raumkonzeption in der AKdV vgl. Gent 1962.

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5 Fries’ Raumkonzeption

Deduktion und Beweis bei Fries Bereits in 5.1.2 wurde klar, dass Fries Kant vorwirft, die transzendentale Deduktion mit einem Beweis zu verwechseln. Daraus hatte sich seine Forderung einer anthropologischen Fundierung der kritischen Philosophie ergeben. Nach Fries werden Beweise in ihrer Bedeutung für die Philosophie überschätzt.45 Er schreibt: Wir werden leicht bemerken, daß diese Aufgabe ganz falsch gestellt war, was wir beweisen wollen, dessen Wahrheit muß implicite schon in dem liegen, wovon ich im Beweis ausgehe, ich finde durch den Beweis nicht neues, ich mache mir’s nur deutlicher.46

Beweise wandern ohne eigentlichen Erkenntnisgewinn zwischen den Urteilen hin und her. Demgegenüber beweist eine Deduktion nicht.47 Vielmehr zeigt sie, wie die Philosophie generell, anhand der Reflexion nur auf, was ohnehin in unserem Denken, wenn auch dunkel, enthalten ist.48 Fries unterscheidet zwischen mittelbaren und unmittelbaren Urteilen. Mittelbare Urteile erhalten ihre Gültigkeit durch die Grundsätze, aus denen sie sich durch mehr oder weniger komplizierte Ableitungen speisen; und nur für diese mittelbaren Urteile ergeben Beweise aus höheren Sätzen überhaupt einen Sinn. Synthetische Urteile a posteriori können ihre Gültigkeit aus der Unmittelbarkeit der Anschauung beziehen. Die Grundsätze der Mathematik sind ihrerseits durch die reine Anschauung demonstrierbar. Dies ist in der Philosophie jedoch nicht möglich. Ihre Grundsätze müssen anhand der Reflexion über die Voraussetzungen unserer Erkenntnis aufgedeckt werden.49 Dies ist die Aufgabe der philosophischen Anthropologie. Sie findet demnach die dunkel in uns enthaltenen Bedingungen unserer Erkenntnis. Von diesen Grundsätzen ausgehend kann dann das System der Philosophie unter Anwendung der Logik entwickelt werden.50 Das Auffinden der Grundsätze ist dabei zwar der Genese nach empirisch, erhebt jedoch hinsichtlich der Geltung einen apodiktischen Anspruch für unser Denken. Die Deduktion umfasst bei Fries die Formen der Anschauung, die Kategorien, die Grundsätze und auch die Ideen. Hierin unterscheidet er sich also ebenfalls von Kant. Dieser Unterschied resultiert aus Differenzen im Deduktionsbegriff:51 Kants

45 Vgl. AKdV II, S. 337, WW 04, 401. 46 AKdV I, S. 338, WW 04, 402. Für eine tiefergehende Analyse der friesschen Deduktion, ihrer Schwächen und Voraussetzungen vgl. Sachs–Hombach 1999. 47 Vgl. Sachs–Hombach 1999, S. 134. 48 In dieser Hinsicht erinnert Fries’ Vorstellung von dunkel in uns enthaltenem Wissen, das durch die philosophische Anthropologie ans Licht gebracht wird, an die platonische Anamnesis. Man vgl. hierzu Fries’ Bemerkung bei AKdV I, S. 304, WW 04, 368. 49 Vgl. AKdV I, S. 340–341, WW 04, 404–405. 50 AKdV I, S. 337, WW 04, 401. 51 Vgl. hierzu Elsenhans: „So ist für Fries mit der Beschränkung der Deduktion auf den Nachweis der subjektiven Allgemeingiltigkeit [sic!] aus einer Theorie der Vernunft die gleichmäßige Ausdehnung derselben auf die Kategorien, auf die Ideen und auf die Prinzipien der praktischen Vernunft gegeben. Bei Kant ist die Deduktion der Kategorien von der der Ideen durch

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209

Ziel ist es, in der Deduktion aufzuzeigen, wie sich die Erkenntnis auf Gegenstände beziehen kann.52 Demgegenüber geht es Fries nicht um die Bezugnahme auf Gegenstände, sondern vielmehr um eine „subjective Ableitung aus dem Wesen der Vernunft“ 53: Dieses ist aber ein bloßes Geschäft der Anthropologie, und somit der innern Erfahrung, die Philosophie beruft sich zuletzt in Rücksicht der Wahrheit ihrer Sätze auf innere Erfahrung, aber nicht um diese zu beweisen, denn dadurch würden sie selbst zu bloßen Erfahrungssätzen, sondern nur um sie als unerweisliche Grundsätze in der Vernunft aufzuweisen. Ich beweise nicht, daß jede Substanz beharrlich sey, sondern ich weise nur auf, daß dieser Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz in jeder endlichen Vernunft liege; ich beweise nicht, daß ein Gott sey, sondern ich weise nur auf, daß jede endliche Vernunft einen Gott glaubt.54

Fries’ Deduktion des Raumes Aus den oben genannten Gründen findet sich bei Fries, anders als bei Kant, eine Deduktion des Raumes. Fries’ Ziel ist es aufzuzeigen, wie wir als Menschen, ausgehend von den notwendigen Bedingungen unserer Sinnlichkeit, zu der Vorstellung eines unendlichen, stetigen und dreidimensionalen Raumes kommen. Auf seine Herleitung der Unendlichkeit und der Dreidimensionalität des Raumes für unser Erkennen werde ich im Folgenden eingehen. Über die Unendlichkeit des Raumes schreibt er: Unendlichkeit ist […] die Folge des Gesetzes, nach welchem uns der Sinn das Material liefert; es ist ein für unsre Vernunft fremdes Verhältniß, nach welchem sie zur Empfindung afficirt wird, daher die subjective Zufälligkeit der einzelnen materialen Erkenntniß und Unvollendbarkeit ihres Ganzen […].55

Das Mannigfaltige, durch das wir affiziert werden, unterliegt nicht unserer Willkür. D. h. wir können nicht bestimmen, was uns gegeben wird. Dabei ist dieses affizierende Mannigfaltige unvollendet: Auf alles Mannigfaltige folgt ein weiteres ‚subjekiv zufälliges‘ Mannigfaltiges. Der Raum muss diesem endlichen Mannigfaltigen jedoch als unendliche Form zugrunde liegen. Die Unendlichkeit des Raumes ergibt sich daraus, dass eine Form notwendig ist, in der das unvollendbare, zufällige Mannigfaltige gegeben wird. Mit Blick auf seine Vorgänger ist interessant, dass Fries hier zwei Gedanken verbindet. In den beiden Kapiteln zu Newton und Kant ist deutlich geworden, dass sich bei beiden sowohl Überlegungen finden, nach denen der Raum unmittelbar

52 53 54 55

die Beziehung auf Gegenstände möglicher Erfahrung und die daraus sich ergebende objektive Giltigkeit [sic!] geschieden […].“ Elsenhans 1906, S. 181. „Ich nenne daher die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die transcendentale Deduction.“ KrV A 85 / B 117. AKdV II, S. 171, WW 05, 187. AKdV I, S. 343, WW 04, 407. AKdV II, S. 115, WW 05, 131. Fries Deduktion ist sehr komplex. Ich beschränke mich in meiner Untersuchung auf die Aspekte der Unendlichkeit und Dreidimensionalität des Raumes. Für eine tiefgehende Analyse vgl. Elsenhans 1906, S. 276–280.

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5 Fries’ Raumkonzeption

gegeben ist, als auch solche, die den Raum für einen Grenzbegriff halten.56 Der Raum ist bei Kant deshalb sowohl eine Anschauungsform, die uns unmittelbar als unendlich gegeben wird, als auch eine Idee, die unsere Sukzession des endlichen Mannigfaltigen anleitet. In seiner Deduktion der Unendlichkeit des Raumes verbindet Fries beide Überlegungen miteinander. Das nicht endende, zufällige Mannigfaltige benötigt eine unendliche Form, in dem es uns gegeben wird. Dabei ist uns diese Form selber jedoch unmittelbar als unendlich gegeben: Den Raum stellen wir uns unmittelbar als eine gegebene unendliche Größe vor, die Vorstellung desselben kann also nicht durch die einzelne Sinnesanschauung, welche jederzeit endlich ist gegeben seyn.57

Neben der Unendlichkeit deduziert Fries auch die Dreidimensionalität des Raumes.58 Eine Dimension erschließt sich daraus, dass das Mannigfaltige uns ins Unendliche gegeben ist. Die zweite Dimension folgt aus der Verbindung des Gegebenen. D. h. daraus, dass die ins Unendliche gegebenen Gegenstände in einem Verhältnis zueinander stehen. Hinsichtlich der dritten Dimension schreibt er: Durch dieses beydes wäre aber noch kein Gesetz der nothwendigen Anordnung der Dinge gegeben, wenn nicht 3) die Dimension des festen Verhältnisses zu dem Standpunkt des selbst im Raume gegenwärtigen Beobachters hinzukäme, wodurch erst das Ganze geschlossen wird. Daher kommt es z. B., daß, sobald in der Anschauung das letzte Verhältniß, etwa die Entfernung der einzelnen Gegenstände vom Auge nicht bestimmt ist, sich nur die Bedingung für die Construktion der Gegenstände nach zwei Dimensionen finden, für die Tafel des Gemäldes oder die Fläche des Himmelsgewölbes. Die Entfernung der Tafel und die Rundung des Gewölbes sind aber nur willkürliche Aushülfe der Einbildung, denn eigentlich sind nur die Richtungslinien als Schenkel der Sehwinkel wirklich gegeben, so daß der Ort jedes einzelnen Sterns noch um eine Dimension unbestimmt bleibt, nämlich in Rücksicht der Wahl irgend eines Punkts in der ganzen unendlichen geraden Linie, welche die Richtung vom Auge nach dem Stern angibt.59

Die dritte Dimension des Raumes wird durch die Einbildungskraft hinzugesetzt.60 Erst wenn wir das Verhältnis zwischen Beobachter und Gegenstand hinzukonstruieren, gelangen wir zum unendlichen, dreidimensionalen Raum. Demnach erschließen wir die Dreidimensionalität anhand der durch unsere Einbildungskraft hinzugesetzten Entfernung zu den Dingen, denn „die dritte Dimension ist die Dimension der Entfernung von mir […].“61 Wenn wir dies vernachlässigen, sind uns nur zwei Dimensionen gegeben. Dies wird von Fries am Beispiel des Sternenhimmels illustriert:62 Sieht man von der Entfernung der Sterne zu uns ab, so lassen 56 Vgl. 2.3.6 und 4.2.2.7. 57 AKdV I, S. 174, WW 04 S. 238. Vgl. Principia, S. 408 und KrV A 25 / B 39. 58 Vgl. im Folgenden AKdV II, S. 117–118, WW 05, 133–134. Die Argumentation wird auch von Herrmann 2012, S. 33 untersucht. Bei Fries findet sich auch eine Deduktion der Stetigkeit des Raumes, die ich jedoch hier überspringe. 59 AKdV II, S. 117–118, WW 05, 133–134. 60 Vgl. auch Herrmann 2012, S. 33. 61 AKdV I, S. 181, WW 04, 245. 62 Vgl. hierzu AKdV I, S. 181, WW 04, 245.

5.1 Fries’ Newtonrezeption und sein Verhältnis zur Philosophie und Wissenschaft

211

sich die Sterne auf einer Hohlkugel anordnen. Dann haben wird es tatsächlich mit einem Sternenzelt zu tun. Erst indem ich die Entfernung der Sterne zu mir hinzusetze, erhalte ich die Vorstellung von einem dreidimensionalen Raum, in dem die Sterne angeordnet sind. Dann wird deutlich, dass wir eben kein Sternenzelt, sondern einen mit unterschiedlich weit entfernten Sternen erfüllten Raum vor uns haben. Fries führt in seine Deduktion des Raumes Aspekte ein, die von Kant selbst noch nicht gesehen wurden. Er deutet das kantische apriori anthropologisch, d. h. er deckt die Bedingungen auf, durch die wir als Menschen zur notwendigen Vorstellung eines unendlichen, dreidimensionalen Raumes kommen. Dies geht mit Tendenzen der Empirisierung des kantischen Aprioris einher. So entsteht unsere Vorstellung des unendlichen, dreidimensionalen Raumes, indem wir die Perspektivität des Beobachters und die Konstruktion des Abstandes zwischen Beobachter und Gegenstand miteinbeziehen. Fries nimmt dabei Überlegungen vorweg, die in anderer Form später bei Poincaré63, Helmholtz64 und Mach65 wieder auftauchen.66 Dies zeigt eine Verschiebung der Problemstellung. Während Kant die Dreidimensionalität des Raumes in der kritischen Phase als gegeben ansah, bemüht sich Fries, diese Eigenschaft des Raumes ausgehend von einer anthropologischen Betrachtung tiefer zu begründen, wobei er neue Aspekte einbezieht. So stützen sich seine Überlegungen zur Perspektivität auf Bedingungen der visuellen Wahrnehmung. Dies unterstreicht den anthropologischen Aspekt seiner Deduktion des Raumes. Es bietet sich daher an, das Verhältnis zwischen Raum und Vernunft bei Kant und Fries anders zu skizzieren:

Diese Verschiebung des Fokus wird in der genaueren Diskussion der systematischen Trias in 5.2.3.2 weiterführend behandelt.

63 64 65 66

Vgl. Poincaré 1906, S. 56–58. Vgl. Helmholtz 2017b, S. 899. Vgl. Mach 1926, S. 346–349. Vgl. Torreti 1978.

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5 Fries’ Raumkonzeption

5.2 DER RAUM IN DER MATHEMATISCHEN NATURPHILOSOPHIE Wie im letzten Abschnitt deutlich geworden ist, gibt es in Fries’ Deduktion des Raumes Tendenzen der modernen Wissenschaftskonzeption. Im Folgenden soll auch Fries’ Naturphilosophie dahingehend untersucht werden. In den vorangegangenen Kapiteln wurde klar, dass dem absoluten Raum bei Newton und Kant, wenn auch in ganz unterschiedlicher Form, eine wichtige Bedeutung zukommt. Demgegenüber verzichtet Fries gänzlich auf diese Konzeption. Der absolute Raum findet sich bei ihm nicht mehr, auch nicht wie noch bei Kant als regulative Idee. Fries versucht demgegenüber, seine Bewegungslehre um die Konzeption der geradlinig-gleichförmigen Bewegung aufzubauen, wobei er immer wieder auf Überlegungen Newtons und Kants zurückgreift und sie neu deutet. Dies soll im Folgenden untersucht werden. Dazu werde ich zunächst Fries’ Kritik der kantischen Ideenkonzeption darlegen (5.2.1). Daraufhin werden Ziel und Inhalt der MN herausgearbeitet (5.2.2), um dann die einzelnen relevanten Kapitel dieser Schrift mit Blick auf die Raum- und Bewegungskonzeption zu diskutieren (5.2.3).

5.2.1 Naturbegriffe und Ideen bei Fries Kant unterstreicht an mehreren Stellen seiner theoretischen Philosophie, dass den Ideen eine regulative, aber keine konstitutive Bedeutung zukommt. Sie bringen also selber keine Erkenntnis hervor, sondern ordnen sie nur, d. h. sie geben den Gegenständen lediglich das richtige Verhältnis zueinander.67 In diesem Punkt weicht Fries von Kant ab. Einer seiner zentralen Kritikpunkte an der Philosophie Kants ist die immanente Verwendung der Ideen in der Naturwissenschaft:68 Das Resultat der ganzen Kantischen Kritik der reinen Vernunft: es giebt keine speculative Erkenntniß aus reiner Vernunft, bedeutet ihm eigentlich so viel als unser ideales Regulativ: Es giebt keine Theorien aus Ideen. So wie er aber die regulativen Principien im Anhang zur Dialektik der reinen Vernunft behandelt, misversteht er dieses Gesetz, indem er die Maximen des systematisirenden Verstandes mit Ideen vermengt. Die Maximen enthalten die Ansprüche der Einheit an jedes wirklich gegebene Mannichfaltige, also nach einem Moment der Urtheilskraft, dagegen die Idee aus der höchsten Forderung der Einheit für jedes irgend zu gebende Mannichfaltige nach dem Moment der Vernunft entspringt. Der speculative Gebrauch der Ideen ordnet sich daher bey Kant zu einer bloßen Nachhülfe der Theorie nach einer sogenannten relativen Supposition ihrer Gegenstände herab. Aber eben dazu lassen sie sich gar

67 Vgl. KrV A 643 / B 671, sowie 4.2.2.6. 68 Man vgl. z. B. Fries’ Einleitung in die Philosophie der Mathematik in der MN. Dort identifiziert er die mangelnde Trennung zwischen der idealen und der wissenschaftlichen Weltsicht als zentrales Problem der griechischen Naturphilosophie, ein Problem, dass sich bis zu seinem Zeitgenossen Schelling durchzieht. Vgl. MN, S. 1–4, WW 13, 1–4. Hinsichtlich dieser ‚Spaltungen der Weltansicht‘ vgl. Arjomand 1990, S. 96–100.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

213

nicht brauchen. Deswegen haben wir die heuristischen Maximen der systematisirenden Urteilskraft selbst von den idealen Regulativen noch ganz abgesondert.69

Fries trennt streng zwischen zwei Arten von Regulativen: den idealen Regulativen, also den Ideen, und den heuristischen Maximen. Dabei wirft er Kant vor, nicht streng genug zwischen Idee und Theorie unterschieden zu haben.70 Deshalb arbeitet er die kantische Unterscheidung zwischen ‚konstitutiv‘ und ‚regulativ‘ weiter aus. Fries schreibt: Ich nenne aber ein Prinzip constitutiv, wenn es, sobald es gegeben ist, sich selbst den Fall seiner Anwendung bestimmt, so daß die subsumirende Urtheilskraft im Stande ist, aus ihm Wissenschaft in theoretischer Form zu entwickeln; regulativ hingegen heißt ein Princip, wenn die reflectirende Urteilskraft erst zu ihm hinzu den Fall der Anwendung und seine constitutive Bestimmung suchen muß.71

Die Prinzipien der Mathematik sind konstitutiv.72 Die regulativen Prinzipien der Philosophie können dadurch konstitutive Bedeutung erlangen, dass sie mathematisiert werden: [J]edes mathematische Princip ist unmittelar constitutiv, indem es das Gesetz seiner Entwicklung schon bey sich führt, jedes philosophische hingegen bleibt zunächst ein regulatives, und wird überhaupt nur dadurch constitutiv, daß wir es mathematisch zu bestimmen im Stande sind.73

Dies soll an einem in ähnlicher Form von Fries verwendeten Beispiel,74 das auch für die spätere Raumdiskussion von Bedeutung ist, erläutert werden: Das Gesetz der Wechselwirkung75 ist ein metaphysisches und damit regulatives Prinzip aus dem System der Grundsätze. In der Metaphysik der Natur lässt sich dieses Gesetz auf den Begriff der Materieranwenden r und mathematisieren, wodurch es als drittes newtonsches Axiom ( Factio  Freactio) auch konstitutive Bedeutung erlangt. Dabei hat dieses Prinzip eine Doppelrolle innerhalb der Wissenschaft: An der Spitze des Systems einer jeden theoretischen Naturlehre steht eine mathematische Physik, welche sich aus constitutiven Gesetzen entwickelt. So weit wir aber auch diese Ent-

69 AKdV II, S. 307, WW 05, 323. Für eine tiefergehende Studie zu Fries‘ Kritik der kantischen Verwendung der Ideen, an der sich auch die vorliegende Arbeit orientiert, vgl. Elsenhans 1906, S. 335–345, sowie Pulte 1999b, 330–333. 70 Vgl. Pulte 1999b, S. 330. Fries erklärt: „Die Scheidung dieses theoretischen und idealen Gebietes in unserm Geiste ist denn das eigentliche letzte Ziel aller Speculation, die Vermengung und Verwechslung von Theorie und Idee ist hingegen die erste Quelle aller mythologischen Religionslehre von der ersten Dichtung bis zur sublimsten Metaphysik; sie ist die Quelle aller hyperphysischen Theorie und aller positiven Lehre vom Absoluten.“ AKdV II, S. 317, WW 05, 333. 71 AKdV II, S. 295, WW 05, 311. 72 Vgl. AKdV II, S. 296, WW 05, 312. 73 AKdV II, S. 296, WW 05, 312. 74 Vgl. AKdV II, S. 302, WW 05, 318. 75 „Alle Gemeinschaft der Dinge in der Sinnenwelt kann nur als Wechselwirkung des Zugleichseyenden erkannt werden.“ SdM, S. 337, WW 08, 337.

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5 Fries’ Raumkonzeption wickelung fortsetzen mögen, so bleiben wir doch dabey immer bey einer Wissenschaft allgemeiner Gesetze, ohne je das Individuelle einer einzelnen Geschichte (z.B. unsers Sonnensystems, der Erde) zu erreichen. Wollen wir daher umgekehrt nach dem dritten physikalischen Regulativ alles Einzelne der Geschichte als bedingt durch die allgemeinen Gesetze anerkennen, so schweben alle jene constitutiven Gesetze doch nur als heuristische Maximen von unbestimmter Anwendung über dem Ganzen der Beobachtung […].76

Um beim dritten newtonschen Axiom zu bleiben: Es ist als allgemeines Gesetz der Mechanik von konstitutiver Natur. Wird es allerdings an konkrete Einzelbeobachtungen herangetragen, z. B. bei der Auswertung experimenteller Daten, so kann das Gesetz dabei helfen, die zugrunde liegenden Kräfte aufzufinden, indem es als heuristische Maxime die rationale Induktion anleitet.77 Fries’ Verzicht auf den absoluten Raum als Idee muss aus der oben beschriebenen Kritik der kantischen Regulative heraus verstanden werden. Für die weitere Analyse gilt es festzuhalten, dass sich bei Fries sowohl eine explizite Kritik der kantischen Ideen als auch eine explizite Kritik des absoluten Raumes findet. Allerdings kritisiert Fries an keiner Stelle unmittelbar Kants Idee des absoluten Raumes. Daher muss es das Ziel meiner Untersuchung sein, beide Kritikpunkte Fries’ zusammenzuführen und zu klären, warum der absolute Raum als Idee in seiner Naturphilosophie nicht mehr auftaucht. Fries schreibt zu Kants regulativen Gebrauch der Ideen in der Naturphilosophie: Am Allgemeinsten zeigt sich dieser Fehler im Gebrauch der Ideen der Seele, der Welt und der Gottheit, welche selbst Kant fälschlich wieder als physikalische Regulative anerkennt, nachdem er ihnen anfangs alle Ansprüche constitutiv abgesprochen hatte. Er verstand aber hier die Natur der systematisirenden Maximen nicht, sonst hätte er eingesehen, daß jede regulative Maxime für die Ansicht der Dinge sich nur dem Grade nach in der Anwendung vom constitutiven Gesetz unterscheidet, und eigentlich selbst als ein nun noch unbekanntes constitutives Gesetz der Theorie zum Grund liegt […]. Aller Theorie aber setzen wir die idealen Regulative überhaupt entgegen, welche nur ästhetisch auf die Natur bezogen werden dürfen. Es giebt gar keinen rechtmäßigen physikalischen Gebrauch der Ideen, Seele, Welt und Gottheit.78

Die Ideen, z. B. die Idee Gottes, darf innerhalb der Naturwissenschaft keine Rolle spielen, auch nicht als bloßes Regulativ wie bei Kant.79 Die Theorie ist von der Einmischung der Ideen frei zu halten. Aus ebendiesem Grund kann es den absoluten Raum als Idee bei Fries nicht geben. Der Raum als Grundkonzeption muss bei Fries konstitutiv sein, denn er hat nach ihm Prinzipiencharakter. Er kann daher keine regulative Idee sein. Demnach kann Fries in der MN, anders als Kant in seinen MAN, nicht auf ein allumfassendes Schwerpunktsystem als imaginären Zielpunkt zurückgreifen. Er schreibt programmatisch:

76 AKdV II, S. 302, WW 05, 318. 77 „[…] [E]ben solche Maximen leiten die gesamte experimentale Naturbetrachtung überhaupt.“ AKdV II, S. 296, WW 05, 312. Für eine Darstellung der friesschen Methodologie vgl. Arjomand 1990, S. 93–126. 78 AKdV II, S. 330, WW 05, 346. 79 Vgl. dazu die spätere Diskussion der systematisierenden Trias unter 5.2.3.2.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

215

Ferner hatte ich die idealen Regulative ganz von den heuristischen Maximen der Naturwissenschaften zu unterscheiden und erhielt dadurch eine eigne Aufgabe an die Metaphysik der Natur, indem ich die Selbstständigkeit der Newtonischen mathematischen Physik und ihre gänzliche Unabhängigkeit von der Ideenlehre zu verfechten hatte. Kant hat mit der größten Vorsicht der philosophischen Kritik in seinen metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft die philosophische Construction nur auf die Nothwendigkeit einer jeden Masse zukommenden Anziehungskraft aus der Ferne und einer Zurückstoßungskraft in der Berührung beschränkt und alle anderen Bestimmungen bewegender Kräfte nur der Erfahrung überlassen. Für die empirischen Inductionen, nach denen diese Erfahrungen zu leiten wären, stehen dann aber bei ihm als höchste leitende Maximen die des regulativen Gebrauchs der Ideen, welche ich unzulässig fand. Darnach hat sich mir die Aufgabe der mathematischen Naturphilosophie geändert.80

Wie in Kapitel 4 deutlich wurde, hat der absolute Raum in den MAN an verschiedenen Stellen, u. a. als Idee, jedoch eine wichtige Bedeutung. Demnach muss es Fries gelingen, eine Bewegungslehre zu begründen, die nicht auf diese Konzeption zurückgreift. Diese Ersatzkonzeption zum absoluten Raum gilt es herauszuarbeiten und zu untersuchen.

5.2.2 Ziel und Inhalt der Mathematischen Naturphilosophie Fries nennt sein naturphilosophisches Hauptwerk aus zwei Gründen nicht bloß Naturphilosophie: Zum einen beschäftige sich die Naturphilosophie allgemein nicht nur mit den metaphysischen Anfangsgründen der Körperlehre, sondern auch mit den Gesetzen des menschlichen Geistes. Diese werden jedoch als Anthropologie von ihm an anderer Stelle behandelt. Da die Anthropologie keiner Mathematisierung fähig ist, wird sie durch die Wahl des Titels ausgeschlossen. Zum anderen distanziert Fries sich mit der Betonung der Mathematik von der Naturphilosophie seines Konkurrenten Schellings. Ihm wirft er vor, Kants Diktum, nach dem Naturwissenschaft mathematisch zu sein hat, nicht ernst genommen zu haben. Im Gegenzug möchte Fries die Notwendigkeit der Mathematik für dieses Forschungsfeld betonen: Bey dem jetzigen Zustand der Ausbildung der Wissenschaft in Deutschland trifft nun dieser Versuch mit vielen Darstellungen der sogenannten dynamischen Naturlehre oder Naturphilosophie zusammen, so wie diese a us den Kantischen Lehren von Schelling und in Schelling’s Schule entwickelt worden sind. Und darin findet sich mir ein zweyter Grund, die Wissenschaft, auf welche mein Versuch gerichtet ist, bestimmt mathematische Naturphilosophie zu nennen. Das Schellingische Philosophem ist nemlich, wenn ich nicht irre, durch seinen Grundfehler von der Anwendung der wahrhaft mathematischen Methoden entfernt worden und kommt

80 GdP II, S. 607, WW 19, 607.

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5 Fries’ Raumkonzeption sich deswegen in der Anwendung auf äußere Naturlehre nur bey dem Gebrauch sehr unbestimmter allgemeiner Begriffe, […] gefallen.81

Anders als Schelling verknüpft Fries also naturphilosophische und mathematische Untersuchungen. Dabei besteht die MN aus zwei Teilen. Nach der Vorrede und einer Einleitung behandelt sie zunächst, unter Rückgriff auf Kant, die Philosophie der Mathematik. Darauf aufbauend entwickelt Fries im Anschluss die Reine Bewegungslehre. Dieser zweite Teil ist hier von zentralem Interesse. Vergleicht man ihn mit der MAN, so fallen zunächst Differenzen im Aufbau beider Texte ins Auge. Neben der Phoronomie, Dynamik, Mechanik, Phänomenologie, die sich auch bei Kant finden, hat Fries mit der Stöchiologie und der Morphologie noch zwei weitere Kapitel82 hinzugefügt: Kant 1. Phoronomie 2. Dynamik 3. Mechanik 4. Phänomenologie

Fries 1. Phoronomie 2. Dynamik 3. Mechanik 4. Stöchiologie 5. Morphologie 6. Phänomenologie

Diese Veränderung geht mit einem anderen Selbstverständnis der Naturphilosophie einher, aber auch mit einem anderen Wissenschaftsbegriff. Beides ist für die vorliegende Arbeit unter systematischen Gesichtspunkten interessant. Die MN hat eine andere Zielsetzung als die MAN. Kant ging es in seiner MAN fast ausschließlich um eine Fundierung der Mechanik. Demgegenüber versucht Fries auch andere Bereiche, die von Kant noch als bloße Naturlehre abgetan wurden,83 durch metaphysische und mathematische Untersuchungen in den Status einer Wissenschaft zu erheben. Zu Beginn der MN schreibt er: Es ist nemlich diese Wissenschaft [die MN] eigentlich die Rüstkammer aller derjenigen Hypothesen, aus welchen nachher in der Erfahrung die Erklärungen gelingen. Darin ist bey weitem das meiste von mathematischer Entwicklung, aber die Grundbegriffe sind philosophisch,

81 MN, S. V, WW 13, V. Henke zitiert Fries wie folgt: „Zu derselben Zeit erschienen Schelling’s Ideen zur Philosophie der Natur; diese Schrift ließ mich das Talent und die gewandte Darstellung ihres Verfassers sehr anerkennen, wiewol sie durch ihre phantastische Auffassung und die Vernachlässigung der Mathematik wissenschaftlich für mich keine Bedeutung gewinnen konnte.“ Henke 1937, S.49. Für eine Gegenüberstellung der Naturphilosophie Fries’ und Schellings vgl. bspw. Arjomand 1990, S. 93–99 und Bonsiepen 1997. 82 Kants Bezeichnung ‚Hauptstück‘ findet sich bei Fries nicht mehr. 83 Vgl. 4.2.2.1.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

217

und sollte es gelingen, die Naturkundigen über diese zu verständigen, so würden wir dadurch für die Disciplin der Hypothesen ungemein viel gewinnen.84

Die Reine Bewegungslehre hat zwei Aufgaben: Unter Anwendung der Grundsätze unseres Erkennens auf bewegte Materie gilt es erstens, eine konstitutive Theorie zu erarbeiten. Es sind jedoch nicht alle Bereiche der Naturlehre durch konstitutive Theorien erschlossen.85 Daher sollen zweitens heuristische Maximen entwickelt werden, die den Naturwissenschaftlern beim Aufstellen ihrer theoretischen Erklärungen helfen.86 So schreibt Fries in der Morphologie: Die Construction der Naturtriebe wird nun nach Verschiedenheit der physischen Processe mit sehr verschiedenem Glück gelingen. Wir können bey der Untersuchung aber wieder im Allgemeinen zwey Wege einschlagen. Der eine ist der der directen Methode oder der constitutiven Theorie, welche aus den a priori gegebenen Grundansichten die Entwicklung fortsetzt, so weit es bis jetzt gelingen mag. Diese Aufgabe liegt uns hier am nächsten, und so wenig wir auch bis jetzt darin zu leisten vermögen, müssen wir ihr doch zu folgen suchen. Der andere Weg ist der der indirecten Methode, welcher durch die Beobachtung der physischen Processe ihr Gesetz zu bestimmen sucht. Er führt zu allen Reichthümern der Experimentalphysik. Wir versuchen hier nur zu seinem Gebrauch die obersten Erklärungsgründe zu ordnen.87

Fries geht also nicht bloß von einem statischen, konstitutiven Teil der Physik aus, wie noch Kant in den MAN.88 Vielmehr steht hinter seinem Ansatz der Gedanke, die bisher nur regulativ behandelten Teile der Naturlehre in konstitutive Theorien zu fassen. Dabei ist die Mechanik für Fries das durch Newton aus der Taufe gehobene Paradebeispiel einer konstitutiven, naturwissenschaftlichen Theorie. Diese wird in der Reinen Bewegungslehre durch die Kapitel Phoronomie und Mechanik sowie in Passagen durch die Dynamik anhand philosophischer und mathematischer Untersuchungen begründet. Die im Vergleich zu Kants MAN deutlich umfassender behandelte Dynamik versucht in weiten Teilen anhand mathematischer und naturphilosophischer Untersuchungen heuristische Maximen zu entwickeln. Von diesen heuristischen Maximen ausgehend ist es das Ziel der Stöchiologie, konstitutive Theorien für Chemie, Elektrizitätslehre, Magnetismus, Kristallisation und Optik zu erarbeiten. Weiterführend will Fries in der Morphologie die kantische Trennung zwischen anorganischen und organischen Prozessen überwinden. Die Phänomenologie fasst schließlich Kants Behandlung der unterschiedlichen Bewegungstypen kürzer und analysiert daraufhin weitläufig „[d]ie reine Theorie in der Naturlehre im Verhältniß zu den Inductionen aus der Erfahrung“89.

84 MN, S. 10, WW 13, 10. 85 Einen Überblick hinsichtlich des Status der einzelnen Teilgebiete gibt Fries in MN, S. 584– 585, WW 13, 584–585. Vgl. hierzu auch Arjomand 1990, S. 100–101. 86 Vgl. MN, S. 399–400, WW 13, 399–400. 87 MN, S. 583–584, WW 13, 583–584. 88 Vgl. MAN, AA 04, S. 476. 89 MN, S. 609, WW 13, 609. Diese Einordnung ist nur als grober Überblick zu verstehen. So finden sich in der Mechanik bspw. auch Ausführungen zur regulativen Untersuchungen.

218

5 Fries’ Raumkonzeption

Diese Differenzen zwischen Kants MAN und Fries’ MN sind mit Blick auf die von ihnen vertretenen Wissenschaftskonzeptionen wichtig: Bei Kant handelt es sich um einen Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption.90 Er hat in den MAN ein sehr statisches Bild von Naturwissenschaft. Ihre Strukturen sind durch ihr apriorisches Skelett gesteckt.91 Demgegenüber versucht Fries, anhand einer Überarbeitung und Neudeutung kantischer Konzeptionen, die MAN an die sich verändernde Wissenschaftslandschaft anzupassen. Ihm geht es nicht mehr nur darum, einer faktisch bestehenden Wissenschaft ein metaphysisches Fundament zu geben. Vielmehr will Fries der sich entwickelnden Wissenschaft anhand metaphysischer und mathematischer Untersuchungen das theoretische ‚Werkszeug‘ bereitstellen. Dadurch findet bei ihm eine für die moderne Naturwissenschaftskonzeption charakteristische Hypothetisierung statt. Dies wird auch durch die zusätzlichen Kapitel klar: Kant legte noch großen Wert auf die Verknüpfung der Hauptstücke mit den Kategorien. Die Hauptstücke wurden als eine Anwendung der jeweiligen Kategorie auf den Begriff der Materie gesehen.92 Diese z. T. sehr erzwungene Verbindung wird von Fries in dieser Form nicht mehr verfolgt.93 Das hat zwei Gründe: Zum einen zerstören die zusätzlichen Kapitel die kantische Unterteilung in vier Hauptstücke. Zum anderen, und dies ist mit Blick auf die systematische Fragestellung dieser Arbeit viel wichtiger, hat Fries nicht mehr den Anspruch einer strengen kategorischen Ableitung, wie sie noch Kant hatte. Auch wenn er immer noch das System der Grundsätze auf Materie anwendet, geht es ihm anders als Kant nicht mehr darum, die eine Naturwissenschaft aus einer Reihe von Prinzipien a priori herzuleiten. Der Anspruch einer strengen, kategorial-deduktiven Ableitung der Grundlagen der Naturwissenschaft, in der im Wesentlichen klar ist, was Wissenschaft ist und was nicht, wird gelockert zugunsten eines pluralistischeren Wissenschaftsbegriffes. So hat bspw. die Anwendung der mathematischen und naturphilosophischen Untersuchungen auf die Gesetze der Kristallisation einen lediglich hypothetischen Anspruch: Endlich muß ich hier noch eine Anmerkung in Rücksicht der oben erwähnten Linienkräfte machen, von der ich nicht weiß, ob sie nicht noch einmal brauchbare Folgen zeigen kann.94

Fries’ Naturphilosophie versteht sich also nicht mehr in dem Maße, wie Kant es vor Augen hatte, als Ausgangspunkt und Grundlage aller Naturwissenschaft, sondern in weiten Teilen als ‚Rüstkammer‘, d. h. als eine (wenn auch systematisch geordnete) Sammlung von Werkzeugen, die die Naturwissenschaft unterstützt.95

90 91 92 93

Vgl. meine Erörterung in 1.3 und 4.2.2.1. Vgl. 4.2.2.1. Vgl. 4.2.2.1. Obwohl sich diese Strukturen durch seine Orientierung an den MAN und am System der Grundsätze in Teilen wieder finden. Vgl. z. B. MN, S. 409–412, WW 13, 409–412. 94 MN, S. 493, WW 13, 493. 95 Dies wird auch von Herrmann gesehen. Vgl. Herrmann 2012, S. 55.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

219

Dies macht Fries auch für aktuelle Debatten interessant. Versucht man die kantische Naturphilosophie auf Probleme der modernen Wissenschaft anzuwenden, so wird dies durch Kants Gebundenheit an die klassische Wissenschaftskonzeption erschwert, z. B. durch den Absolutheitsanspruch seines Aprioris und die statische Beschränktheit auf die quasi abgeschlossene newtonsche bzw. euklidische Wissenschaft. Fries’ Versuch einer modernisierten kantisch geprägten Philosophie muss als erster interessanter Entwurf gesehen werden, in dem Kants Grundgedanken für die moderne Wissenschaftslandschaft fruchtbar gemacht werden.96

5.2.3 Die Raum- und Bewegungslehre in der Mathematischen Naturphilosophie Nach den einleitenden Ausführungen zur MN gilt es nun, die Raum- und Bewegungskonzeption dieser Schrift zu analysieren. Es wird deutlich werden, dass auch die friessche Bewegungslehre Tendenzen der modernen Wissenschaftskonzeption aufweist. Wie bereits bemerkt, verzichtet Fries in der MN gänzlich auf den absoluten Raum. In einer anderen Schrift, dem System der Metaphysik, erklärt er: Im Raume aber haben wir keinen festen Punct, auf den sich alle unsre Raumbestimmungen bezögen, keinen absoluten Raum (als ruhende Form der Welt,) welcher uns zu einem Abschluß der Raumbestimmungen gelangen ließe, sondern alle Bestimmungen von Lage und Bewegung bleiben verhältnißmäßig. Nur im Verhältniß gegen ein System verhältnißmäßig ruhender Körper können wir die Bewegung anderer bestimmt vorstellen, so daß wir für die Beurtheilungen in der Erfahrung den Raum selbst verhältnißmäßig (relativ) nehmen müssen, bezogen auf einen gegebenen Punct und die Lage fester Ebenen durch diesen. Einen solchen verhältnißmäßigen Raum, den wir durch die Verhältnisse der Lage von den Körpern in ihm erkennen, nennen wir einen empirischen Raum.97

Diese Kritik des absoluten Raumes könnte in ähnlicher Form auch von Kant stammen. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass der absolute Raum in den MAN durchaus noch eine Rolle spielt. In der MN taucht diese Konzeption demgegenüber gar nicht mehr auf, auch nicht in den von Kant verwendeten Variationen, d. h. als äußerer Raum, Schwerpunktsystem oder Idee. Diese Differenz zwischen Kant und Fries gilt es zu untersuchen.98 Dabei werde ich zeigen, dass

96 Zu dieser Einschätzung kommt Pulte, wenn er schreibt: „[D]ie Bedeutung des wissenschaftstheoretischen und naturphilosophischen Werkes von Fries [sollte] gerade darin gesehen werden […], daß es Kants kritisches System und die nachkantische Wissenschaftsentwicklung in einen fruchtbaren Dialog zu bringen sucht.“ Pulte 1999a, S. 58. 97 SdM, S. 269–270, WW 08, 269–270. 98 Unter den einführenden Monografien in die Raumproblematik (Jammer 1960, Gosztonyi 1976, Gent 1962) wird Fries’ Raumkonzeption nur von Gent behandelt. Vgl. Gent 1962, S. 195–205. Er geht dabei jedoch nicht auf die Differenzen zwischen Kant und Fries in deren Behandlung des absoluten Raumes in MAN und MN ein, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen sollen. In den tiefergehenden Untersuchungen zur Geschichte der Raumproblematik, z.

220

5 Fries’ Raumkonzeption

Fries seine Bewegungslehre um die geradlinig-gleichförmige Bewegung, die er als ‚Normalzustand‘ der Körper auffasst, entwirft. Zusätzlich soll die systematische Trias aus Gott/Vernunft, Raum und Gravitation bei Fries betrachtet werden. Daher werden im Folgenden die Phoronomie (5.2.3.1), Dynamik (5.2.3.2), Mechanik (5.2.3.3) und Phänomenologie (5.2.3.4) mit Blick auf die Fragestellungen dieser Arbeit analysiert.99

5.2.3.1 Phoronomie

Bei der friesschen Phoronomie handelt es sich, wie auch beim ersten Hauptstück der MAN, um eine mathematische Untersuchung.100 Fries geht es hier lediglich um die Darstellung und Konstruktion der Bewegung. Von wirkenden Kräften sieht er vollkommen ab.101 Dabei besteht die Phoronomie aus drei Abschnitten. In

B. bei Earman 1989 und DiSalle 2006, findet Fries ebenfalls keine Beachtung. Trotz des in den letzten knapp 30 Jahren gesteigerten Interesses an Kants Transformation des absoluten Raumes zur Idee der Körperlehre durch Friedman 1986 hat es die Forschung zu Fries’ Naturphilosophie verpasst (z. B. Arjomand 1990, Bonsiepen 1997, Herrmann 2000, Pulte 2005a), hier eine Brücke zu schlagen. Dies ist umso verwunderlicher, als die friessche Philosophie u. a. durch die Herausgabe von dessen gesammelten Werken in den letzten Jahren eine gewisse Renaissance erlebt. So hat zwar das durch Fries veränderte Verhältnis von Naturwissenschaft und Ideen gegenüber Kants Konzeption Aufmerksamkeit erregt (vgl. Elsenhans 1906, Pulte 1999b), jedoch wurde übersehen, dass sich dies auch auf Fries’ Verzicht auf den absoluten Raum als Idee überträgt. Dass Fries, anders als Kant, gänzlich auf den absoluten Raum zu verzichten versucht, wird lediglich von Janich gesehen, der diese Differenz jedoch nicht weiter untersucht. Vgl. Janich 1999, S. 393–409. Hier soll dieses Desiderat behoben werden. Erste Überlegungen dazu habe ich in Görg 2013 veröffentlicht. 99 Dabei greife ich in meiner Darstellung und Untersuchung im Folgenden u. a. immer wieder auf Herrmann 2000 zurück. Die beiden Kapitel zur Stöchiologie und Morphologie sind für die Raumfrage nicht relevant und werden von mir nicht in eigenen Abschnitten behandelt. Sie sollen hier jedoch kurz zusammengefasst werden: Die Stöchologie kann als eine Erweiterung von Kants ‚Allgemeiner Anmerkung zur Dynamik‘ angesehen werden. Dabei ist es ein Ziel von Fries, die Chemie in den Status einer ‚eigentlichen Wissenschaft‘ zu erheben. Hierzu wendet er seinen in der Dynamik erweiterten Kanon möglicher Kräfte auf die Interaktion der Materie an. Für eine genauere Analyse der friesschen Versuche zur Chemie vgl. u. a. König / Geldsetzer 1975, S. VII–XXV und Görg 2014. Die Morphologie richtet sich gegen teleologische Betrachtungen des Organischen, wie sie sich noch bei Kant finden. Siehe KrV A 686 / B 714. Für die friessche Kritik vgl. auch SdP, S. XII–XIII, WW 03, 16–17, sowie HdR, S. 83–84, WW 12, 83–84. Hinsichtlich einer ausführlichen Untersuchung der Kritik der Physiktheologie zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts über den vorkritischen und kritischen Kant hin zu Fries siehe Pulte 1999b. 100 „Die Phoronomie ist die reine Mathematik in der Bewegungslehre, welche nachher erst in der Mechanik auf die Grundbegriffe von Masse und Kraft und auf die metaphysischen Gesetze der Wechselwirkung in der Körperwelt angewendet werden muß.“ MN, S. 427–428, WW 13, 427–428. 101 Fries legt jedoch den Fokus auf die geradlinige–gleichförmige, d. h. kräftefreie Bewegung.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

221

meiner Analyse folge ich dieser Unterteilung, wobei die Überschriften der Abschnitte von Fries übernommen werden. 1) Grundbegriffe Anders als Kant, der seine Phoronomie mit einer Erklärung zu relativen und absoluten Räumen beginnt, geht Fries zunächst auf die Darstellung von Bewegungszuständen in Linien ein. In bewusster Differenz zu Kant fasst er Bewegung nicht mehr als Bewegung zu einem Raum, sondern als Bewegung zu Körpern auf: Die mathematisch construirbaren Zustände der Materie sind ihr in Bewegung und in Ruhe seyn. Bewegung ist aber die stetige Veränderung des Ortes, und Ruhe die andauernde Gegenwart eines Dinges an demselben Ort, wobey andauernd heißt, was eine Zeit hindurch existiert. Kant meinte den Begriff der Bewegung noch allgemeiner als Veränderung der äußern Verhältnisse eines Dinges zu einem gegebenen Raum erklären zu müssen. Es ist aber dabey kein Vortheil, wenn wir nur die Bewegung eines Körpers von der Bewegung seiner Theile unterscheiden. Die Bewegungen im Sonnensystem sind von der Ortsveränderung des ganzen Sonnensystems verschieden, aber auch bey jeder Bewegung im Sonnensystem verändern diejenigen Körper, die hier bewegt sind, ihre Orte.102

Kant versteht unter Bewegung die Änderung des Verhältnisses eines Körpers zum Raum. Um auch die Rotation von Körpern einbeziehen zu können, verzichtet er darauf, in seiner Bewegungskonzeption auf den Ort zurückzugreifen.103 Demgegenüber sieht Fries in der Bewegung eine stetige Ortsveränderung. Zumindest in diesem Punkt ist Fries der newtonschen Bewegungskonzeption also näher als Kant.104 Um die Rotation in seiner Bewegungskonzeption zu fassen, geht Fries wie folgt vor: Körper werden in der Phoronomie anders als bei Kant nicht als punktförmig vorgestellt. Vielmehr betrachtet Fries die Bewegung von Punkten in Körpern. Diese Punkte können der Schwerpunkt des Körpers (ein Gedanke, der implizit der kantischen Reduktion der Materie auf einen Punkt zugrunde liegt), aber auch andere Punkte sein. Dadurch kann die Rotation um die eigene Achse als Kreisbewegung eines Punktes um den Körperschwerpunkt beschrieben werden.105

102 MN, S. 413, WW 13, 413. Hinsichtlich der Ruhe folgt Fries Kants Erklärung 3 in dessen Phoronomie und sieht in ihr die andauernde Gegenwart an einem Ort. Er schreibt: „Nöthiger ist es, auf die Bemerkung zu achten, welche er [Kant] in Rücksicht auf den Begriff der Ruhe gibt. Ruhe ist die Null der Bewegung, aber darum nicht eine bloße Verneinung der Bewegung, sondern ein positiver Zustand der andauernden Gegenwart an einem Orte.“ MN, S. 414, WW 13, 414. Fries’ Hintergedanke ist, wie schon bei Kant, dass die Ortskurve differenzierbar sein muss. Vgl. 4.2.2.2. 103 Vgl. 4.2.2.2 und MAN, AA 04, 482. 104 Vgl. 2.2.2 und Principia, S. 409. 105 Vgl. MN, S. 415, WW 13, 415 und MN, S. 419, WW 13, 419.

222

5 Fries’ Raumkonzeption

Nach Fries ist jede Bewegung aus geradlinigen-gleichförmigen Bewegung zusammengesetzt: Jede ungleichförmige Bewegung ist eine zusammengesetzte, welche aus discreten oder stetigen Veränderungen von gleichförmigen Bewegungen besteht, und die einfachste Art der Bewegung, aus der alle andere zusammengesetzt ist, ist die gleichförmige gradlinige.106

Fries sieht also in der geradlinig-gleichförmigen Bewegung den Grundbaustein, aus dem sich jede andere Art von Bewegung konstruieren lässt. Dieses Primat der geradlinigen-gleichförmigen Bewegung in der Bewegungskonstruktion hat mehrere Gründe.107 Zum einen nennt Fries die Einfachheit dieser Art von Bewegung: Die einfachste Bewegung ist die mit unveränderter Richtung und unveränderter Geschwindigkeit, d. h. die gleichförmige gradlinige.108

Zum anderen wählt er die geradlinig-gleichförmige Bewegung auch mit Blick auf die späteren Hauptstücke. Kräfte werden zwar erst in der Dynamik und Mechanik untersucht. Dennoch entwirft Fries bereits die Phoronomie mit Blick auf das zweite newtonsche Axiom: Die geradlinig-gleichförmige Bewegung ist kräftefreie Bewegung. Schon in der Einleitung zur Reinen Bewegungslehre schreibt er: Laplace meint das Gesetz p 

v , nach welchem die Kraft p durch die entstandene Get

schwindigkeit v und die Zeit t gemessen wird, der Beobachtung zu entlehnen. Wir haben es aber hier nur mit Grundbestimmungen a priori und mit unsern eigenen Begriffen zu thun. Dies geht daraus hervor, daß die Beobachtung diesen Grundgesetzen gar nicht widersprechen kann, indem wir sie schon als Principien der Beurtheilung jeder möglichen Beobachtung voraussetzen.109

Die geradlinig-gleichförmige Bewegung als ‚Normalzustand‘ aller Bewegung definiert nach Fries die Wirkung der Kraft als Änderung dieses Zustandes. Ausgehend von der geradlinigen-gleichförmigen Bewegung erklärt Fries Geschwindigkeit als das Verhältnis von Strecke und Zeit. Dabei sieht er in der Geschwindigkeit eine intensive Größe. Aufgrund der in der mathematischen Untersuchung entwickelten Differentialrechnung110 kann daher die Geschwindigkeit eines jeden Körpers, auch die ungleichförmige, „in ihren unendlich kleinen Theilen“111 als gleichförmig gesehen werden.112 Es gilt deshalb: v  ds . dt

106 MN, S. 417, WW 13, 417. 107 So ließe sich eine Bewegung auch als Überlagerung anderer Bewegungstypen zusammensetzen, so z. B. durch die Überlagerung von kreisförmigen Bewegungen. Dies wird von Fries allerdings nicht besprochen. 108 MN, S. 417, WW 13, 417. 109 MN, S. 402–403, WW 13, 402–403. Vgl. hierzu die weiteren Ausführungen in 5.2.3.3. 110 Vgl. MN, S. 290–291, WW 13, 290–291. 111 MN, S. 418, WW 13, 418.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

223

2) Verhältnismäßigkeit aller Bewegung Im darauf folgenden Abschnitt erklärt Fries, warum er einen absoluten Raum in der Körperlehre für überflüssig hält. Zunächst gibt er an, dass sich die Bestimmung eines relativen Raumes auf einen beliebigen Körper beziehen könne: Alle unsre Vorstellungen von der Lage der Dinge im Raume sind so relativ, daß ich meine Bestimmungen beliebig auf irgend einen gegebenen Körper beziehen kann. Ich gehe dann von dem Orte dieses Körpers aus und setze einen Raum voraus, in welchem dieser Körper ruht und in dem ich die Lage anderer Körper gegen den ersten bestimme. So haben wir immer nur von relativen Räumen, die selbst beweglich sind und in Bewegung gefunden werden können, zu sprechen, ohne je auf einen absoluten Raum einer gleichsam fest stehenden Grundform der Welt zu kommen. Wir beobachten die Bewegung eines Körpers nur im Verhältniß zu andern ihn umgebenden und werden verhältnißmäßig den den Bewegten nennen, der von vielen andern umgeben ist, welche im Verhältniß gegen einander ihre Lage nicht ändern.113

Bewegung wird immer nur zu anderen Körpern, nie zu einem absoluten Raum festgestellt. Hinsichtlich der Erscheinungen gilt also ein allgemeines Relativitätsprinzip. Beim Übergang zur Erfahrung, bzw. wenn Kräfte miteinbezogen werden, muss dieses Relativitätsprinzip jedoch aufgegeben werden. Es behält nur mit Bezug auf geradlinig-gleichförmige Bewegung seine Gültigkeit.114 Für geradliniggleichförmige Bewegung gilt also die „Verhältnißmäßigkeit aller Bewegung“115 auch, wenn Kräfte betrachtet werden: Die einfachste Art der Bewegung, das heißt die gleichförmige gradlinige, wird uns also nur im Verhältniß eines Körpers zu einem vorausgesetzten relativen Raum gegeben. Daher liegt hier allen unseren Beurtheilungen der Grundsatz zugrunde: Jede gleichförmige gradlinige Bewegung als Gegenstand einer möglichen Erfahrung, kann nach Belieben als Bewegung des Körpers in einem ruhenden Raume oder als Ruhe des Körpers und dagegen Bewegung des Raumes in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit angesehen werden.116

Dieser von Fries formulierte Grundsatz lehnt sich dicht an denjenigen Kants in dessen Phoronomie an.117 Fries leitet daraus zwei Sätze ab. Erstens das Super-

112 Analog behandelt Fries auch die Kreisbewegung. 113 MN, S. 422, WW 13, 422. 114 Vgl. MN, S. 422–423 und 603–604, WW 13, 422–423 und 603–604 sowie die tiefergehenden Erörterungen in 5.3. 115 MN, S. 422, WW 13, 422. 116 MN, S. 423, WW 13, 423. 117 Dies wird deutlich, wenn man die Grundsätze gegenübergestellt:

224

5 Fries’ Raumkonzeption

positionsprinzip für Bewegungen, das vor allem für die später von ihm durchgeführte Koordinatendarstellung wichtig ist.118 [W]ir können jede in einem bestimmten relativen Raum als Ganzes construirte Bewegung als aus einer beliebigen Anzahl anderer Bewegungen zusammengesetzt ansehen, wenn wir die Construction der Bedingungen unterwerfen, daß 1) jede Teihlbewegung sich ungestört nach ihrem eigenen Gesetz fortsetzt und 2) die geometrische Construction der Vereinigung aller dieser Bewegungen in dem gegebenen relativen Raume eine zusammengesetzte Bewegung gibt, welche mit der gegebenen ganz zusammenfällt.119

Zweitens die ‚Grundregel der Anwendbarkeit‘: Ferner aus dem phoronomischen Grundsatz ergibt sich die Grundregel der Anwendbarkeit von den Gesetzen der Bewegungslehre auf wirkliche Erfahrungen auf folgende Weise: die gegenseitigen Bewegungen im Innern eines Systems von Körpern erfolgen ganz auf dieselbe Weise, der Raum, in welchem sich dieses System befindet, mag nun im Ganzen ruhen, oder sich gradlinicht fortbewegen; welches auch ausgesprochen werden kann: diese gegenseitigen Bewegungen im Innern des Systems erfolgen auf dieselbe Weise, welche gradlinichte Bewegung mit gleicher Geschwindigkeit und parallelen Richtungen man auch allen Theilen des Systems gemeinschaftlich geben mag.120

Fries referiert in dieser Passage mit einer Anmerkung auf Newton. Vor dem längeren kursiven Teil findet sich der Verweis: „Newton Pr. Phil. N. math. Ax. lex 3. Cor. 5 et 6.“121 Die Grundregel der Anwendbarkeit folgt somit aus dem dritten newtonschen Axiom und aus den Korollarien 5 und 6.122 Hinsichtlich des dritten

118 119 120 121 122

Kant:

Fries:

„Eine jede Bewegung als Gegenstand einer möglichen Erfahrung kann nach Belieben als Bewegung des Körpers in einem ruhigen Raume, oder als Ruhe des Körpers und dagegen Bewegung des Raumes in entgegengesetzte Richtung mit gleicher Geschwindigkeit angesehen werden.“ MAN, AA 04, 487.

„Jede gleichförmige gradlinige Bewegung als Gegenstand einer möglichen Erfahrung, kann nach Belieben als Bewegung des Körpers in einem ruhenden Raume oder als Ruhe des Körpers und dagegen Bewegung des Raumes in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit angesehen werden.“ MN, S. 423, WW 13, 423, Hervorhebungen durch mich.

Abgesehen von der Kommasetzung unterscheiden sich die Passagen nur durch Fries’ Einschränkung auf geradlinig–gleichförmige Bewegung. Kant bemerkt allerdings später, dass er sich hier lediglich auf geradlinige Bewegung bezieht: „Ich nehme hier aber alle Bewegung als gradlinicht an.“ MAN, AA 04, 488. Vgl. MN, S. 423, WW 13, 423. MN, S. 423, WW 13, 423. MN, S. 423–424, WW 13, 423–424. MN, S. 424, WW 13, 424. Vgl. 2.2.5.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

225

Axioms nimmt Fries die Überlegungen der Mechanik vorweg.123 In 2.2.1 wurde deutlich, dass sich bei Newton ein Relativitätsprinzip findet, das jedoch noch nicht voll entfaltet wird. Fries sieht jedoch in der Grundregel der Anwendbarkeit die Möglichkeit, ganz auf den absoluten Raum zu verzichten: Ohne Beyhülfe dieses Princips würden wir für die Construction jeder wirklich gegebenen Bewegung ins Unendliche zum Zusammenhang immer größerer Systeme im Weltraum fortgedrängt und erhielten keine sichere Anwendung der Gesetze auf beschränkte Erfahrungen, wie sie doch allein in unsrer Gewalt sind.124

Der Vorläufer dieser Passage ist Kants Anmerkung zum Grundsatz.125 Eine Bewegung muss nach ihm stets in einem äußeren Raum gedacht werden, der als absoluter Raum aufgefasst wird. Auch er sieht dabei die epistemische Äquivalenz der Bewegung des Körpers oder der Gegenbewegung des Raumes. Anders als Fries geht er aber dennoch von einer fortschreitenden Erweiterung der einzubeziehenden Gegenstände aus. Dies geschieht durch die Idee eines absoluten Raumes, die uns dazu führt, jeden Raum in einem weiteren Raum als bewegt anzusehen. Bei Kant lassen sich daher zwei ‚Tendenzen‘ identifizieren: Zum einen erkennt er die Beschränkung möglicher Erfahrung auf einen bloß relativen Raum an, zum anderen sind wir aber auch gezwungen, jeden relativen Raum jeweils wieder gemäß der Idee eines absoluten Schwerpunktsystems in einem weiteren relativen Raum zu betrachten. Hinter der einen ‚Tendenz‘ stehen die Korollarien, hinter der anderen die Idee eines Systems der Welt, aufgefasst als Regulativ. Dieser ‚Druck‘, das gegebene Bezugssystem aufgrund des absoluten Raumes als imaginären Zielpunkt zu erweitern, findet sich bei Fries in dieser Form nicht mehr. Hier in der Phoronomie behandelt er lediglich die Überlagerung von geradlinigergleichförmiger Bewegung. Da wir aufgrund der Grundregel der Anwendbarkeit die Bewegung entweder dem Raum oder dem Körper zuschreiben können, müssen wir nach Fries den Raum nicht wieder in einem umfassenden Raum betrachten. Das Problem der Erweiterung der zu betrachtenden Körper wird hier von ihm nicht gestellt, sondern erst in der Mechanik behandelt, jedoch ohne dass er auf einen absoluten Raum zurückgreift. 3) Die Zusammensetzung der Bewegung Der letzte Abschnitt der Phoronomie behandelt die für die Mathematisierung notwendige Überlagerung von Bewegung.126 Wie in Abschnitt 4.2.2.2 deutlich wur-

123 Interessant ist, dass Fries auch auf Korollar 6 verweist. Damit erhält die Grundregel der Anwendbarkeit nicht nur für geradlinig–gleichförmig bewegte Systeme Gültigkeit, sondern auch für Systeme, in denen alle Körper die gleiche Beschleunigung haben. 124 MN, S. 424, WW 13, 424. 125 Vgl. MAN, AA 04, S. 487–488 und 4.2.2.2. 126 Hieraus leitet Fries die mathematische Beschreibung beliebiger Bewegungen im dreidimensionalen Raum ab. Eine jede Bewegung lässt sich ihrerseits in drei rechtwinklige zerlegen,

226

5 Fries’ Raumkonzeption

de, verwendet Kant dabei den absoluten Raum als Konstruktionshintergrund. Er ist als äußerster relativer Raum für seine Konstruktion der Bewegung notwendig. Kant schrieb anhand des phoronomischen Grundsatzes die eine Bewegung v1 dem Körper zu, während die andere Bewegung dem Raum R1 als Gegenbewegung -v2 im absoluten Raum vorgestellt wurde. Demgegenüber findet sich der absolute Raum in Fries’ Bewegungskonstruktion nicht mehr. Mit Bezug auf diese Differenz schreibt er: Kant gab diese Construction so, daß von zwey gegebenen Bewegungen die eine dem Punct, die andere dem Raum, in welchem man beobachtet, in entgegengesetzter Richtung gegeben wird. Noch einfacher wird die Darstellung, wenn wir mit E. G. Fischer die eine Bewegung dem Punct, die andere einem relativen Raum zuschreiben, in welchem dem Punct die erstere zukommt. Z.B. indem wir die Bewegung eines Mannes, der auf einem Floße geht, welches den Fluß hinabtreibt, vom Ufer aus beobachten.127

Kants Konzeption sieht nach Fries wie folgt aus:128

Fries’ eigene Überlagerung stellt sich demgegenüber so dar:

wodurch Fries eine Koordinatendarstellung beliebiger Bewegungen in der Einheitsdarstellung erhält. 127 MN, S. 424–425, WW 13, 424–425. Die Bewegungskonstruktion Fischers, auf die Fries hier verweist, findet sich in dessen Lehrbuch der mathematischen Naturlehre. Vgl. Fischer 1805, S. 23–24. Fischer geht darin, anders als Fries, von der Existenz eines absoluten Raumes newtonscher Prägung aus. Vgl. Fischer 1805, S. 20–25. Der Einfluss Fischers besteht bloß in der spezifischen Überlagerung, der zufolge der Körper die Bewegung mit dem Raum mitmacht. Demgegenüber ist der Körper bei Kant von der Bewegung des relativen Raumes nicht unmittelbar beeinflusst, bewegt sich also frei. Im zwischen Fries und Fischer erhaltenen Briefwechsel (Briefe III, WW 29, 712–716 und 718–720) finden sich keine weiteren Hinweise auf die Bewegungskonzeption. 128 Vgl. MN, S. 426, WW 13, 426.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

227

Fries’ Gedanke ist, dass man auf den absoluten Raum als Konstruktionshintergrund verzichten kann, wenn der Beobachter nach außen verlagert wird. Innerhalb des Raumes R2, in dem sich der Beobachter befindet, wird die Bewegung konstruiert, indem im Raum selbst ein Raum R1 als bewegt betrachtet wird.129 Hinsichtlich der Frage, inwieweit der Beobachter am Ufer des Flusses nicht auch wieder in einem umfassenderen, äußeren Raum gedacht werden müsse, würde Fries antworten, dass solch eine weitere Einbettung nicht notwendig sei. Das betrachtete System kann gemäß der Grundregel der Anwendbarkeit als isoliert verstanden werden. Nach Fries müssen wir also den Raum, in dem wir uns befinden, nicht in einem umfassenderen Raum vorstellen, um Bewegung zu konstruieren. Wir können vielmehr innerhalb des Raumes, in dem wir uns befinden, weitere, kleinere Räu-

129 Diese Deutung der friesschen Revision der kantischen Bewegungskonstruktion wird durch ein von König in den Unterlagen Apelts gefundenes, beidseitig beschriftetes, einzelnes Blatt gestützt. Apelt, der die Bewegungslehre in der MN und den MAN intensiv mit Fries diskutierte (vgl. 5.3), schreibt über die Unterschiede zwischen Kants und Fries’ Bewegungskonstruktion: „Diese Construktion unterscheidet sich so von der Kantischen. Kant giebt dem Körper einer Bewegung im absoluten Raume, etwa A B Durch diese Bewegung bewegt er einen relativen Raum, in dem die Beobachtung angestellt wird (d. h. in welchem wir beobachten) in der Richtung von A´nach A; also so daß er die Zeichnung auf die linke Seite von A B bekommt. Somit bekommt Kant das Parallelogram in dem relativ beweglichen Raum gezeichnet. Fries dagegen giebt mit Fischer dem Körper die Bewegung A B in dem relativ beweglichen Raum C D. Diesen Raum setzt er in einen andern relativen Raum, welcher ruht, und giebt in diesem letztern dem erstern, nemlich dem relativ beweglichen Raum die Bewegung von A nach A´. So erhält er die Zeichnung des Parallelograms in dem relativ ruhenden Raume und braucht den absoluten Raum gar nicht dabey, welcher sich wie schon Neuton bemerkt, nirgends recht festhalten lässt. Ueberdieß möchte sich wohl auch die Kantische Construction im Ganzen genommen viel Küntlicher mit der Erfahrung vergleichen.“ Apelt 2013.

228

5 Fries’ Raumkonzeption

me denken, die sich zueinander bewegen. Auf eine Erweiterung nach außen kann nach ihm verzichtet werden.

5.2.3.2 Dynamik

Wie auch in Kants gleichnamigem Hauptstück finden sich in Fries’ Dynamik keine Ausführungen zur Bewegungskonzeption. Das Kapitel ist jedoch aus einem anderen Grund für diese Arbeit interessant: Es behandelt die Raumerfüllung der Materie durch ihr innewohnende Kräfte. Daher soll anhand der Dynamik die systematische Trias aus Gott/Vernunft, Raum und Gravitation bestimmt werden.130 Wie in 4.2.2.3 deutlich wurde, meint Kant, dass zahlreiche Eigenschaften der Gravitation durch naturphilosophische Untersuchungen ermittelt werden können. Lediglich die Gravitationskonstante muss experimentell bestimmt werden.131 Demgegenüber schränkt Fries die Reichweite naturphilosophischer Betrachtungen zugunsten mathematischer und experimenteller Verfahren ein. Dies gilt es genau zu analysieren. Gleich zu Beginn der Dynamik erklärt er seine Herangehensweise: Alle Grundvorstellungen über das Wesen der Materie und ihre Kräfte sind Erkenntnisse a priori. Substanz und Kraft sind Vorstellungen von philosophischem Ursprung und finden sich hier a priori mit den mathematischen Vorstellungen von der Bewegung verbunden. So bestimmt sich uns die directe Methode dieser Untersuchungen dahin, daß wir die metaphysischen Grundbegriffe mit mathematischen Constructionen verbinden. Entweder wissen wir von diesen Dingen gar nichts oder in einem solchen Philosophem.132

Nach Fries lässt sich ausgehend von unserer Erfahrung nicht erschließen, wie Materie konstituiert ist.133 Vielmehr muss das Wesen der Materie durch mathematische und philosophische Untersuchungen bestimmt werden. Daraus lässt sich ein ‚apriorischer Rumpf‘ der Grundkräfte herleiten. Dabei müssen naturphilosophische, mathematische und empirische Betrachtungen ineinandergreifen. Alle drei gilt es, Fries folgend, zu analysieren. 1) Naturphilosophische Untersuchung Kant ging noch davon aus, dass es nur zwei Grundkräfte geben kann: Die Anziehung in die Ferne (Attraktion) und die Abstoßung in der Berührung (Repulsion). Fries führt zusätzlich noch die Abstoßung in die Ferne und die Anziehung bei

130 Wie auch zuvor in der Untersuchung der kantischen Dynamik kann diesem Kapitel nur kurz Aufmerksamkeit gegeben werden. 131 Vgl. hierzu 4.2.2.3 und Görg 2015. 132 MN, S. 443, WW 13, 443. 133 Dies ist auch eine Attacke gegen Newton und die Methodologie der Regulae Philosophandi. Vgl. GdP II, S. 346, WW 19, 346 und 5.1.3. Siehe hierzu auch Görg 2014.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

229

Berührung ein. Er erweitert daher die Anzahl der aus naturphilosophischen Überlegungen hergeleiteten Kräfte:134 Anziehung Nahwirkung Fernwirkung

Abstoßung

F ~

1 V

F ~

1 V

F ~

1 r2

F~

1 r2

Fries bestimmt die Form dieser Kräfte ausgehend von metaphysischen Überlegungen, die sich bereits bei Kant finden: Wenn eine Kraft allseitig in die Ferne wirkt, so müssen wir ihre Wirksamkeit von jedem Punct ihrer Masse aus sich ausbreitend in jeder Weite als eine Function der Entfernung von diesem Puncte denken. Der Raum selbst aber verbreitet sich um diesen Punct im Verhältnis der Kugeln um ihn als Mittelpunct. Für jede bestimmte Entfernung von einem Puncte ist also das Maaß der gleichförmigen Ausbreitung des Raumes um ihn in der Oberfläche der Kugel gegeben, welche um ihn mit der gegebenen Weite als Halbmesser beschrieben ist. Diese Kugelflächen verhalten sich aber wie die Quadrate ihrer Halbmesser, also wie die Quadrate der Entfernung. Breitet sich also der Grad der wirkenden Kraft allseitig nach dem einfachsten Gesetze aus, so wird seine Verminderung an jeder Stelle im Verhältniß der Quadrate der Entfernung und also der Grad der Kraft selbst an jeder Stelle im umgekehrten Verhältniß der Quadrate der Entfernung stehen.135

Er wiederholt hier ein Argument aus der kantischen Dynamik.136 Dabei setzt Fries stillschweigend die Dreidimensionalität des Raumes voraus, die er in der AKdV deduziert hat.137 Abgesehen davon, dass er nicht mehr von nur zwei Kräften ausgeht, unterscheidet sich seine Herangehensweise bis zu diesem Punkt nicht von derjenigen Kants. 2) Mathematische Untersuchung Kants naturphilosopische Untersuchung wird jedoch von Fries um eine mathematische Untersuchung erweitert. Obwohl Kant die Mathematisierung der Naturwissenschaft forderte, verwendet er in den MAN kaum mathematischen Methoden.

134 Dabei hebe ich die Kräfte, die sich schon bei Kant finden, durch eine graue Schattierung hervor. Man vgl. für diese tabellarische Darstellung Herrmann 2000, S. 161–171, sowie Görg 2010, Görg 2015. Fries’ Ausführungen zu Linienkräften bespreche ich hier nicht. Vgl. hierzu Görg 2014. 135 MN, S. 457–458, WW 13, 457–458. 136 Vgl. MAN, AA 04, S. 489–490. 137 Vgl. 5.1.4.

230

5 Fries’ Raumkonzeption

Demgegenüber greift Fries in der MN auf die Mathematik zurück, um die Eigenschaften möglicher Grundkräfte genauer zu bestimmen: Kant hat nicht bedacht, daß die Construction a priori hier eigentlich der reinen Mathematik gehöre und nach deren Recht beurtheilt werden müsse. So maßt sich seine Metaphysik zu viel an, indem sie jeder möglichen Materie diese beyden Kräfte a priori zuschreibt und sogar den Grad der Anziehung bestimmt. Sie unternimmt aber auf der anderen Seite zu wenig, indem sie die mathematische Natur dieser Untersuchung verkennt. Die Bestimmung der Formen der Grundkräfte ist eine rein mathematische Lehre aus geometrischen Prämissen, so erscheint sie in der hier gegebenen Form und läßt noch eine weitere mathematische Entwicklung zu, mit welcher wir der Erfahrung in Rücksicht der Bestimmung einzelner Materien nie vorgreifen, aber wohl bestimmen, welche Hypothesen zu Erklärungsgründen überhaupt zulässig seyen oder nicht.138

Fries betrachtet anhand mathematischer Konstruktionen, wie eine Materiekugel, von der eine Kraft ausgeht, auf beliebige Punkte im Raum wirkt. Er spielt dabei verschiedene mögliche Kräfte durch, die mit verschiedenen Exponenten in die Ferne wirken, und untersucht diese Kräfte auf mathematische Stetigkeit und Endlichkeit.139 Dadurch bestimmt er die Eigenschaften der Gravitation näher. 3) Empirische Untersuchung140 Kant erhebt den Anspruch, zahlreiche Eigenschaften der Attraktion nur anhand metaphysischer Untersuchungen herzuleiten. Sämtliche Eigenschaften der Gravitation, mit Ausnahme der Gravitationskonstanten, die empirisch aufgefunden werden muss, können durch naturphilosophische Betrachtungen a priori ermittelt werden. Fries glaubt demgegenüber, dass Kant die Reichweite metaphysischer Untersuchungen überschätzt hat. So wirft er ihm vor, die Gleichheit von schwerer und träger Masse ins Apriorische erhoben zu haben. Gegen Kant gerichtet schreibt er: Es ist durchaus nur Sache der Erfahrung, daß alle schweren Massen in unserm Sonnensystem denselben Grad der Anziehungskraft zeigen. Wir sind durch nichts veranlaßt, diesen Satz auf das räumliche Weltall auszudehnen. […] Es bleibt also nichts übrig, als den Grad der Kraft zwischen je zwey Massen durch die Erfahrung kennen zu lernen.141

138 MN, S. 460–461, WW 13, 460–461. 139 Fries´ mathematische Untersuchung ist sehr komplex und kann deshalb hier nur skizziert werden. Für eine genauere Analyse vgl. Görg 2014. 140 Die Bezeichnungen „Naturphilosopische Erörterung“ und „Mathematische Erörterung“ finden sich als Überschriften einzelner Abschnitte in der friesschen Dynamik. Eine ‚Empirische Erörterung‘ findet sich dort nicht. Ich führe sie hier ein, da Fries an mehreren Stellen darauf pocht, dass nur eine empirische Untersuchung bestimmte Eigenschaften der Grundkräfte darlegen kann. 141 MN, S. 453, WW 13, 453. „Fries wird nicht müde zu betonen, daß der Grad der durchdringenden Kraft, mit der zwei Massen aufeinander einwirken, nicht a priori festgelegt werden

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

231

Bei Fries findet also eine Beschneidung der Reichweite metaphysischer Argumente zugunsten von Mathematik und Empirie statt.142 Das Gravitationsgesetz zwischen zwei Massen m1 und m2 lautet: F g 1  m 1t  a 

m1 g  m 2 g r2

G

Dabei ist mt die träge und mg die schwere Masse. Dies lässt sich umstellen zu: m2 g m1g a 2  G m1t r Dabei wird der Term

m2 g r2

nach Fries anhand metaphysischer und mathemati-

scher Methoden hergeleitet.143 Demgegenüber kann

m1g m1t

G nur experimentell

ermittelt werden. Fries sieht im Gegensatz zu Kant die Gleichheit der trägen und schweren Masse nicht mehr als notwendig an: […] wohl möglich, daß zwischen Sonnenmasse und Arkturmasse ein anderer Grad von Anziehung statt findet, als zwischen Siriusmasse und Arkturmasse.144

Stellt man Fries’ Bestimmung der Gravitation derjenigen Kants gegenüber, so wird deutlich, dass er die Grenzen der metaphysischen Untersuchung enger zieht. Dies ist besonders mit Blick auf die systematische Trias interessant. Um die Besonderheiten des friesschen Standpunktes hervorzuheben, soll zunächst die systematische Trias beim kritischen Kant noch einmal kurz rekapituliert werden:

kann. Über den Grad der Anziehung (oder Abstoßung) habe allein die Erfahrung zu entscheiden.“ Herrmann 2000, S. 164. 142 Vgl. Görg 2015. Der unterschiedliche epistemische Status der ‚Teile‘ des Gravitationsgesetzes wird von Arjomand verkannt. Vgl. Arjomand 1990, S. 119–120. 143 Hier greife ich auf Herrmann 2000, S. 164–166 zurück. 144 Brief von Fries an Apelt vom 7.7.1834, Briefe I, WW 27, 68. Vgl. Herrmann 2000, S. 164.

232

5 Fries’ Raumkonzeption

Der Raum basierte bei Kant auf der Vernunft als Autorität. Durch die Eigenschaften des Raumes bestimmte sich nun die Gravitation.145 Das Gesetz der Gravitation kann, mit Ausnahme der Gravitationskonstante, im Wesentlichen aus naturphilosophischen Überlegungen hergeleitet werden.146 Während Gott beim vorkritischen Kant noch eine konstitutive Bedeutung zukam, ist er in der kritischen Phase ein bloßes Regulativ. Welche Veränderungen lassen sich nun bei Fries feststellen? Zunächst wurde deutlich,147 dass Fries die Dimensionalität des Raumes selbst anhand des Verhältnisses des Mannigfalltigen zum erkennenden Subjekt herleitet. Raumeigenschaften, die vom kritischen Kant als gegeben angenommen wurden, werden von Fries also tiefergehend, unter Einbezug der Perspektivität bei der Entstehung unserer Raumvorstelllung begründet. Während Kant weiterhin noch meinte, dass die Gravitation im Wesentlichen anhand metaphysischer Argumente erschlossen werden kann, nimmt bei Fries die Wichtigkeit mathematischer und experimenteller Untersuchungen zu. Die Rechtfertigung der Kräfte geschieht bei Fries stets anhand naturphilosophischer, mathematischer und experimenteller Betrachtungen.148 Außderdem darf nach Fries, anders als bei Kant, den Ideen, also auch Gott,149 in der Theorie keine Bedeutung zukommen, auch keine regulative. Dies lässt sich wie folgt darstellen:

145 146 147 148

Vgl. 4.2.1.1. Vgl. 4.2.2. Vgl. 5.1.4. Tatsächlich sieht Fries, dies wird an zahlreichen Passagen sowohl in als auch außerhalb der MN deutlich, die Erweiterung der kantischen Grundkräfte als den wesentlichsten Fortschritt seiner MN gegenüber den MAN. 149 Vgl. 5.2.1.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

233

Während bereits eine Empirisierungstendenz für Fries’ Deduktion der Raumeigenschaften deutlich wurde, kann dies auch für seine Behandlung der Gravitation festgestellt werden. Die Dreidimensionalität des Raumes wird aus unserem Verhältnis zum Mannigfaltigen bestimmt. Von der Dimensionalität des Raumes wird auf die Form der Gravitation geschlossen. Das Gravitationsgesetz bestimmt sich aber, wie deutlich wurde, nicht allein durch die Dimensionalität des Raumes, sondern bedarf weiterhin experimenteller und mathematischer Untersuchungen.150

5.2.3.3 Mechanik

Das Ziel des dritten Kapitels der Reinen Bewegungslehre ist es, grundlegende Gesetze der Mechanik herzuleiten. Dies geschieht, indem die Analogien der Erfahrung auf die Materie und ihren Bewegungszustand angewandt werden: Newtons Grundgesetze der Bewegung sind von metaphysischem Ursprung. Die metaphysische Grundform unsrer Erkenntniß fordert nemlich, daß wenn ein Wesen der Dinge nach Naturgesetzen vollständig bestimmt erkannt werden solle, für dieses Wesen der Dinge die drey Analogien der Erfahrung gelten müssen.151

150 Deshalb habe ich den Pfeil zwischen Raum und Gravitation in der Grafik zu Fries als gestrichelt dargestellt. Aufgrund der Empirisierungstendenz, die sich in seiner Deduktion des Raumes findet, wird der Pfeil zwischen Vernunft und Raum ebenfalls gestrichelt dargestellt, während die durchgezogene Linie zwischen Gott und Gravitation darauf hinweist, dass Gott als Idee in der Theorie überhaupt keine Rolle mehr spielt. 151 MN, S. 500, WW 13, 500.

234

5 Fries’ Raumkonzeption

Fries orientiert sich bei den vier hergeleiteten Sätzen klar an den vier Lehrsätzen der kantischen Mechanik. Während die Phoronomie lediglich die Bewegung unter mathematischen Gesichtspunkten einführte, d. h. die Überlagerung, Darstellung und Konstruktion von Bewegung untersuchte, führt die Mechanik nun die Bewegungsgröße (d. h. den Impuls), Kraft und Masse ein und stellt Bewegungsgesetze auf. Die vier Sätze von Fries sollen hier analysiert werden. Erster Satz: Gesetz der Größe der Bewegung Die im Raum gegenwärtige Materie, deren Zustände die der Bewegung sind, ist die Substanz im Raume, und die Masse ist die Quantität des Wesens der Dinge im Raume selbst. Die Größe der Bewegung muß daher gemessen werden nach dem zusammengesetzten Verhältniß der Menge der Masse, die in Bewegung ist, und der Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegt.152

Der erste Satz definiert die Begriffe der Masse und der Bewegung. Letzteres wird hier als das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit verstanden. Insoweit stimmt dieser Satz mit Kants erstem Lehrsatz der Mechanik überein. Anders als Kant153, fasst Fries jedoch Masse als die Quantität einer Substanz auf.154 Zweiter Satz: Gesetz der Beharrlichkeit von Masse und Kraft Bey allen Veränderungen der körperlichen Natur bleibt die Quantität der Materie im Ganzen dieselbe, unvermehrt und unvermindert. Auch ihre Grundkräfte sind unveränderlich und nur die Zustände ihrer Bewegung können verändert werden.155

Kants zweiter Lehrsatz behandelte lediglich die Konstanz der Quantität der Materie. Demgegenüber formuliert Fries hier auch die Konstanz der Kraft. Die Kraft selbst ist demnach keine Funktion der Zeit. Interessant ist, dass Fries in der zeitlichen Konstanz der Kraft das zweite newtonsche Axiom unterbringt, das bei Kant noch nicht vorhanden war. Fries gibt an, dass die Kraft anhand der Änderung der Geschwindigkeit gemessen werden kann: Wenn wir daher zwischen bestimmten Massen die Gegenwirkung in der Natur durch Grundkräfte berechnen wollen, so wird die vollständige Gleichung zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Weg und der Zeit bey gradlinichter Bewegung, in wiefern sich die Entfernung der gegenwirkenden Massen nicht ändert, s = at + bt² […] seyn, wobey v = a + 2bt, das

152 MN, S. 501, WW 13, 501. 153 Vgl. MAN, AA 04, 537 und 4.2.2.4 in der vorliegenden Arbeit. 154 Vgl. auch MN, S. 443, WW 13, 443 oder MN, S. 448, WW 13, 448. Dabei erfolgt die Messung der Bewegungsgröße und somit der Masse anhand des vierten Gesetzes, d. h. die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung. Fries verwendet also das dritte newtonsche Axiom, um die (träge) Masse eines Körpers zu ermitteln. 155 MN, S. 501, WW 13, 501.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

235

Maaß der Kraft aber = 2b ist, denn jede höhere Gleichung würde einer veränderlichen in der Natur unmöglichen Grundkraft entsprechen.156

Fries führt das zweite newtonsche Axiom daher nicht als einzelnen Satz ein. Der Grund ist wohl, dass er sich am Aufbau der MAN orientiert. Er erklärt aber, dass es sich bei der geradlinigen-gleichförmigen Bewegung um einen ‚Normalzustand‘ der Materie handelt. Die Kraft wird durch die Abweichung von diesem ‚Normalzustand‘ bestimmt: Warum beziehen wir vielmehr das Gesetz der Bewirkung hier nur auf die Veränderung von Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung? Weil das in gradliniger Bewegung Seyn mit bestimmter Geschwindigkeit ein Zustand und nicht Veränderung des Zustandes einer Materie ist.157

Dritter Satz: Gesetz der Trägheit Alle Veränderung in der Materie hat eine äußere Ursache. Ein Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder Bewegung in derselben Richtung und mit derselben Geschwindigkeit, wenn er nicht durch eine äußere Ursache genöthigt wird, diesen Zustand zu verlassen.158

Fries übernimmt hier von Kant die Vorstellung, dass ein Körper seine Bewegung nur aufgrund einer äußeren Kraft ändert. Es gibt keine dem Körper innewohnende Trägheitskraft.159 Ursachen, die auf den Bewegungszustand eines Körpers wirken, sind immer äußere Ursachen: Alle Zustände der Materie bestehen in äußern Verhältnissen, sie hat keine inneren Zustände und kein Leben, d. h. keine Kraft der innern Selbstbestimmung. Das einzige Innere der Massen ist die Grundkraft derselben, welche selber nur eine Ursach der Veränderung äußerer Verhältnisse mehrerer Massen ist […].160

Vierter Satz: Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung In allen unmittelbaren Gegenwirkungen zwischen zwey Massen erhält jede die gleiche Quantität der Bewegung, aber die eine in entgegensetzter Richtung als die andere.161

Fries führt hier das dritte newtonsche Bewegungsgesetz ein. Seine Herleitung dieses Satzes folgt aus der Anwendung des Gesetzes der Wechselwirkung162 auf das 156 MN, S. 501–502, WW 13, 501–502. Fries verweist an dieser Stelle auf Lagrange 1797, genauer wohl auf die Übersetzung in Lagrange 1798, S. 178–179. Dies wird u. a. durch die von Fries verwendeten Symbole klar. Die zu messende Kraft ist proportional zu 2b. Dies gilt natürlich nur, wenn die Kraft keine Funktion der Zeit ist. Des Weiteren muss die Kraft als lokal konstant angenommen werden, was selbstverständlich nur näherungsweise der Fall ist. Fries denkt hier wahrscheinlich, wie auch Lagrange, an den freien Fall in der Nähe der Erdoberfläche. Vgl. Lagrange 1798, S. 178–179. 157 AKdV II, S. 109, WW 05, 125. 158 MN, S. 502, WW 13, 502. 159 Fries nennt explizit Kant als Quelle dieser Position, ohne auf Euler oder Descartes, der Euler in diesem Punkt beeinflusste, einzugehen. Vgl. MN, S. 503, WW 13, 503. 160 MN, S. 502–503, WW 13, 502–503. 161 MN, S. 509, WW 13, 509.

236

5 Fries’ Raumkonzeption

Gesetz der Trägheit. In der Wechselwirkung wird nur die Verbindungslinie zwischen den beiden Körpern betrachtet, nicht das Verhältnis zum Raum. Eine Drehung der Körper würde dem Trägheitsgesetz widersprechen, denn die Körper würden aus sich selbst heraus ihr Verhältnis zum Raum verändern. Deshalb kann nur die gerade Linie zwischen den beiden Körpern verlängert oder verkürzt werden.163 Nach Fries, wie auch nach Kant, muss die Wechselwirkung zwischen den Körpern im Schwerpunktsystem betrachtet werden. Fries’ vierter Satz unterscheidet sich von Kants Lehrsatz vier jedoch in zwei zentralen Punkten: Zum einen leitet Fries hier das dritte newtonsche Axiom her. Demgegenüber ging es Kant um die Gleichheit der Impulse zwischen wechselwirkenden Körpern.164 Zum anderen ist bei Fries, anders als bei Kant, das Schwerpunktsystem kein absoluter, sondern ein relativer Raum. Für den Fall zweier gleicher wechselwirkender Körper schreibt er: Haben wir nun einen Fall in dieser Einfachheit, so werden wir für die zwischen zwey gleichen Massen bewirkte Bewegung einer jeden dieselbe Geschwindigkeit beylegen müssen, mit welcher die beyden Puncte auf der gegebenen graden Linie sich bey der Anziehung einander nähern, bey der Zurückstoßung von einander entfernen, und diese Bewegung müssen in dem relativen Raume construirt werden, in welchem die beyden Puncte gegeneinander in relativer Ruhe sind oder sich mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung bewegen.165

Demnach verzichtet Fries, anders als Kant, auch in der Mechanik auf die Konzeption eines absoluten Raumes. Der Grund ist für Fries, dass der Schwerpunkt der wechselwirkenden Massen wiederum als geradlinig-gleichförmig bewegt angesehen werden kann. Dies wird auch an anderer Stelle von ihm verdeutlicht. So schreibt er in einem seiner Briefe an Apelt: Nach dem Gesetz der Trägheit kann die Bewirkung von Bewegung nie so gegeben werden, daß ein Körper zum andern kommt, sondern so, daß beyde sich gegen den Schwerpunkt ihres Systems bewegen, der durch ihre Gegenwirkung nie bewegt werden kann. Dieser Schwerpunkt bestimmt den relativen Raum ihrer gegenseitigen Ruhe. […] Wenn der Schwerpunkt des Sonnensystems sich gleichförmig gradlinicht fortbewegt, in welcher Richtung mit welcher Geschwindigkeit es sey, so folgen dem alle Theile des Systems. Aber das ändert ihre eignen Gegenwirkung gar nicht, indem diese nur um diesen Schwerpunkt, als ob er ruhte,

162 „Alle Gemeinschaft der Dinge in der Sinnenwelt kann nur als Wechselwirkung des Zugleichseyenden erkannt werden.“ SdM, S. 337, WW 8, 337. 163 Fries dehnt die kantische Behandlung der Wechselwirkung zwischen Körpern aus. So geht er auf verschiedene Formen der Wechselwirkung von Körpern ein, so auch z. B. bei unterschiedlichen Flächenkräften und versucht Ansätze für eine mathematische Behandlung bspw. der Wirkung zwischen zwei Körpern bei positiven und negativen Flächenkräften zu entwickeln. Der restliche Teil der Mechanik untersucht verschiedene Wechselwirkungen bei verschiedenen Kräften. 164 Vgl. 4.2.2.4 und 4.1.4. 165 MN, S. 511, WW 13, 511, Hervorhebungen durch mich.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

237

construirt werden müssen, in seinem relativen Raum, in welchem die Theile des Systems keine gemeinschaftliche gradlinige Bewegung haben.166

Ebenso schreibt er in einem späteren Brief: Der Raum der gegenseitigen Ruhe zweyer Massen, den ihr Schwerpunkt bestimmt, ist allerdings ein leicht mißzuverstehender Ausdruck. Es ist der Raum, welcher sich mit beyden Körpern in gleicher gradliniger Bewegung fortbewegt, in welchem beyde zusammen ruhen d.h. sich nicht in einer und derselben Richtung und Geschwindigkeit der gleichförmigen gradlinigen Bewegung bewegen. In dem Raume (relativen), in welchem der Schwerpunkt der Sonne ruht gehört der Erde ihre ganze für die Sonne scheinbare Tangentialgeschwindigkeit, hingegen in dem Raum, in welchem der Schwerpunkt von und ruht gehört die Tangentialgeschwindigkeit so beyden getheilt, daß die mit derselben Quantität der Bewegung von Abend gegen Morgen und die von Morgen gegen Abend geht. Dieser letzte ist der relative Raum, in welchem und relativ gegen einander nach der angegebenen Bedeutung ruhen. Dieser kann nun mit ihnen wer weiß welche gleichf[örmige] gradl[inige] Bewegung haben, ihre Wechselwirkung bleibt dabey in ihm immer dieselbe, und kann nur in ihm construirt werden.167

Wie schon in Fries’ Darstellung der newtonschen Principia deutlich wurde, reichen nach ihm die Gesetze der Mechanik (das dritte und erste newtonsche Axiom bzw. die Korrolarien) aus, um eine Bewegungslehre zu errichten, die nicht auf einen absoluten Raum zurückgreift.168

5.2.3.4 Phänomenologie

Zu Beginn der Phänomenologie skizziert Fries Aufgabe und Aufbau seines letzten Kapitels: In unsern frühern Untersuchungen haben wir alles besprochen, was sich a priori über die Natur der Körperwelt sowohl aus philosophischen als aus mathematischen Quellen feststellen läßt. Jetzt werden wir zum Schluß die Modalität dieser naturphilosophischen Erkenntniß noch nach ihrem Verhältniß zur Wahrnehmung und Erfahrung bestimmen müssen. Dabey wird es ankommen 1) auf das Verhältniß der mathematischen Erkenntniß zur Wahrnehmung wirklicher Bewegungen, 2) auf das Verhältniß der Sinnesanschauung zur Erkenntniß der Bewegungen und 3) auf das Verhältniß der reinen Theorie überhaupt in der Naturlehre zu den inductorischen Theorien durch Erfahrung.169

Im Vergleich zu Kant erweitert Fries also den Fokus der Phänomenologie. Neben der Untersuchung der verschiedenen Bewegungstypen, die bei Kant noch die wesentliche Aufgabe des letzten Hauptstückes ausmachte, werden vor allem metho-

166 Brief von Fries an Apelt vom 14.2.1835, Brief I, WW 27, 108. 167 Brief von Fries an Apelt vom 21.2.1835, Brief I, WW 27, 112–113. Eckige Klammern durch König und Geldsetzer. 168 Dagegen ließe sich einwenden, dass auch Kant, je nach Lesart, von der Äquivalenz der geradlinig–gleichförmig zueinander bewegten Räume ausgeht und er dennoch von einem absoluten Raum spricht. Vgl. 4.2.2.7. 169 MN, S. 601, WW 13, 601.

238

5 Fries’ Raumkonzeption

dologische Fragen analysiert. Fries diskutiert dabei ausführlich das Zusammenspiel von apriorischer und empirischer Erkenntnis bei der Genese neuer naturwissenschaftlicher Theorien. Dadurch schlägt er die Brücke von der MN zum System der Logik. Die experimentelle Forschung wird in der Theoriengenese durch die in der MN hergeleiteten heuristischen Maximen unterstützt. Dabei erfolgt die Erschließung neuer Bereiche der Naturwissenschaft auf zwei Ebenen: Zum einen werden die experimentellen Daten durch die „Combinationen der Erfahrung“170 geordnet. Hier wird aus den Daten mithilfe der heuristischen Maximen in einer rationellen Induktion ein allgemeines Gesetz gebildet. Auf der anderen Seite finden wir anhand der „mathematischen Construction der reinen Theorie“171 Erklärungsgründe, d. h. wir gelangen zu einer erklärenden Theorie. Fries nennt Galilei, Newton und Laplace als „Beyspiele musterhafter Verbindung zwischen reiner Theorie und Induction.“172 Er bemängelt jedoch, dass Newton den Fehler gemacht hätte, seine Induktion nur auf Erfahrung zu stützen.173 Demgegenüber muss der Naturwissenschaftler nach Fries auf die Theorie zurückgreifen, um eine rationelle Induktion durchführen zu können: Unsre ganze metaphysisch-mathematische reine Theorie ist mit allen constitutiven Entwicklungen eigentlich nur beschäftigt, jene leitenden Maximen für die Erfahrungswissenschaften vollständig aufzuweisen, unter denen die Induction der Erfahrung Naturgesetze abzufragen und die Hypothese ihre Erklärungsgründe zu errathen vermag.174

Im Rahmen der Aufgabenstellung dieser Arbeit werde ich mich im Folgenden auf Fries’ Ausführungen zur Bewegung beschränken.175 Hier orientiert er sich, jedoch mit Abweichungen, an Kants Lehrsätzen der Phänomenologie. Dabei greift er aber nicht auf einen absoluten Raum zurück, auch nicht als bloßes Regulativ. Dennoch orientieren sich seine Lehrsätze sehr dicht an denen Kants. So schreibt er im ersten Abschnitt, der den Titel „Mathematische Erkenntniß und Wahrnehmung“176 trägt: Die mathematischen Grundgesetze der Erkenntniß wirklicher Bewegungen sind die drey Kantischen.177

Daraufhin führt Fries die Lehrsätze Kants in abgeänderter Form an. Er nennt sie modalische Regeln. Sie sind von entscheidender Bedeutung für seine Bewegungs-

170 171 172 173 174 175

MN, S. 611, WW 13, 611. MN, S. 611, WW 13, 611. MN, S. 613, WW 13, 613. Vgl. 5.1.3. MN, S. 615, WW 13, 615. Die thematische Verschiebung hin zur Methodologie wird allein durch die Anzahl der Seiten des jeweiligen Abschnitts deutlich. Die Phänomenologie hat einen Umfang von 90 Seiten. Davon behandeln lediglich 4 Seiten die Bewegung in Anschluss an Kant. 176 MN, S. 601, WW 13, 601. 177 MN, S. 601, WW 13, 601.

5.2 Der Raum in der Mathematischen Naturphilosophie

239

konzeption. Ich stelle sie hier den kantischen Lehrsätzen gegenüber und kennzeichne signifikante Differenzen kursiv: Kant

Fries

1) Die geradlinichte Bewegung einer Die gleichförmige gradlinige Bewe-

Materie in Ansehung eines empirischen Raumes ist zum Unterschiede von der entgegengesetzten Bewegung des Raums ein blos mögliches Prädikat. Eben dasselbe in gar keiner Relation auf eine Materie außer ihr, d. i. als absolute Bewegung gedacht, ist unmöglich.178

gung eines Körpers in Ansehung eines empirischen Raumes ist, zum Unterschied von der entgegengesetzten Bewegung des Raumes, ein bloß mögliches Prädicat. Eben dieselbe in gar keinem Verhältniß zu einem Körper außer ihr, d. i. als absolute Bewegung gedacht, ist unmöglich.179

2) Die Kreisbewegung einer Materie Jede zusammengesetzte oder verän-

ist, zum Unterschiede von der entgegengesetzten Bewegung des Raums ein wirkliches Prädikat derselben; dagegen ist die entgegengesetzte Bewegung eines relativen Raums, statt der Bewegung des Körpers genommen, keine wirkliche Bewegung des letzteren, sondern, wenn sie dafür gehalten wird, ein bloßer Schein.180

derte Bewegung eines Körpers, (mag sie nun beschleunigte oder verzögerte gradlinige seyn, mag sie in gebrochnen oder krummen Linien erfolgen,) ist, zum Unterschiede von der entgegengesetzten Bewegung des Raumes, ein wirkliches Prädicat desselben; dagegen ist die entgegengesetzte Bewegung eines relativen Raumes, statt der Bewegung des Körpers genommen, keine wirkliche Bewegung des letzteren, sondern, wenn sie dafür gehalten wird, ein bloßer Schein.181

3) In jeder Bewegung eines Körpers, Jede Bewegung, welche einem Körper

wodurch er in Ansehung eines anderen bewegend ist, ist eine entgegengesetze gleiche Bewegung des letzteren notwendig.182

nach dem Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung zugeschrieben wird, muß ihm mit Nothwendigkeit beygelegt werden.183

Diese modalischen Regeln werden von Fries erläutert: 178 179 180 181 182 183

MAN, AA 04, 555, Hervorhebungen durch mich. MN, S. 602, WW 13, 602, Hervorhebungen durch mich. MAN, AA 04, 555, Hervorhebungen durch mich. MN, S. 602, WW 13, 602, Hervorhebungen durch mich. MAN, AA 04, 555. MN, S. 602, WW 13, 602.

240

5 Fries’ Raumkonzeption

Zur ersten modalischen Regel Fries’ erster Grundsatz und Kants Lehrsatz 1 gleichen mit Ausnahme irrelevanter Abweichungen einander fast aufs Wort. Lediglich hinsichtlich der behandelten Art von Bewegung zeigen sich Differenzen: Kant spricht von geradliniger, Fries hingegen von geradlinig-gleichförmiger Bewegung. Fries ist sich dessen bewusst: Die erste Regel, welche bestimmter als bey Kant nur von gleichförmiger gradliniger Bewegung spricht, ist eine Folgerung aus dem phoronomischen Grundsatz, welcher die gleichförmige gradlinige Bewegung eines Körpers in einer und die des relativen Raumes in der entgegengesetzten Richtung für gleichgeltend erklärt.184

Nach dem phoronomischen Grundsatz kann die Bewegung eines Körpers nach Belieben entweder dem Körper oder dem relativen Raum zugeschrieben werden. Zur zweiten modalischen Regel Anders als bei Kant, beschäftigt sich der darauf folgende Grundsatz nicht nur mit der Kreisbewegung. Vielmehr fasst Fries unter diesem Fall alle Arten der zusammengesetzten, nicht geradlinig-gleichförmigen Bewegung zusammen. Eine geradlinig beschleunigte Bewegung würde daher nach Kant, verstünde man ihn wörtlich, unter Lehrsatz 1 fallen, während Fries sie unter dem zweiten Lehrsatz behandeln würde. Anders als die geradlinige-gleichförmige Bewegung können zusammengesetzte Bewegungen nicht mehr beliebig entweder dem Raum oder dem Körper zugeschrieben werden. Deshalb unterscheidet Fries, wie schon Kant, zwischen scheinbarer und wirklicher Bewegung. Zur dritten modalischen Regel Im letzten Satz bestehen zwischen Kant und Fries lediglich Differenzen in der Wortwahl. Während Kant von der Bewegung in „Ansehung eines anderen“185 spricht, benennt Fries die Bewegung nach dem Gesetz der Wechselwirkung. Solange wir nur von Erscheinungen ausgehen, kann jedem Körper jede beliebige Bewegung zugeschrieben werden. Erst wenn kausal erklärende Gesetze auf die Erscheinungen angewendet werden, ist nur noch die geradlinig-gleichförmige Bewegung relativ: Die durchgängige Relativität aller gleichförmigen gradlinigen Bewegung und die Unmöglichkeit, dieselbe in einem absolut ruhenden Raume erfahrungsmäßig darzustellen, haben wir schon oben in der Phoronomie dargethan. Aber für die Erscheinung findet diese durchgängige Verhältnißmäßigkeit auch bey veränderten Bewegungen statt. Wir können in der Sternenkunde eben sowohl voraussetzen, daß der Himmel sich über der ruhenden Erde in entgegengesetzter Richtung unter dem ruhenden Himmel im Kreise bewege. Wir können der nur phoro-

184 MN, S. 602–603, WW 13, 602–603. 185 MAN, AA 04, 558.

5.3 Zusammenfassung der friesschen Raum- und Bewegungskonzeption

241

nomischen Construction nach die Bewegung im Sonnensystem eben sowohl nach den Epicykeln des Hipparch oder denen des Tycho de Brahe als nach den Voraussetzungen des Kopernikus und Keppler erklären. Allein sobald wir nach den Ursachen dieser erscheinenden Bewegung fragen, entscheidet die Erfahrung für die Axendrehung der Erde und die Voraussetzung des Kopernikus und Keppler.186

Fries schließt den Absatz wie folgt: Unsre erste modalische Regel führt die Unbestimmtheit der ganzen menschlichen Erkenntniß von Bewegungen auf ihren einfachen Ausdruck zurück. Die zweyte Regel leitet uns im Aufsuchen der Ursachen von Bewegungen und die dritte enthält die Forderung: wenn wir meinen die wirkenden Kräfte errathen zu haben, nur den Erklärungen der Erscheinungen zu vertrauen, welche aus den Grundsätzen der Bewirkung von Bewegungen für den einzelnen Fall eine nothwendige mathematische Construction der Erscheinungen geben.187

Kant griff in seiner Bewegungskonzeption noch auf den absoluten Raum als imaginären Zielpunkt zurück: Körper müssen stets in immer weiteren Schwerpunktsystemen beobachtet werden. Dadurch gelangen wir zu immer besseren Approximationen der eigentlichen Bewegung der Körper. Demgegenüber findet sich bei Fries nicht mehr die Vorstellung eines absoluten Schwerpunktsystems, auf das sich unsere Naturforschung hin bewegt. Seine zweite modalische Regel fordert uns auf, bei beobachteten Abweichungen von der geradlinigen-gleichförmigen Bewegung die Ursache dieser Abweichung zu finden. Fries versucht also, Kants Idee des absoluten Raumes durch die modalischen Regeln zu ersetzen, was im Folgenden diskutiert werden soll.

5.3 ZUSAMMENFASSUNG DER FRIESSCHEN RAUM- UND BEWEGUNGSKONZEPTION In der Untersuchung der MN ist deutlich geworden, dass sich der absolute Raum bei Fries nicht mehr findet. Dem absoluten Raum kam jedoch bei Kant, als regulative Idee, eine wichtige Bedeutung zu. Im Folgenden möchte ich eine kohärente Zusammenfassung der friesschen Bewegungskonzeption liefern, um dann gleich im Anschluss die systematischen Fragen der Arbeit zu beantworten.188 Dabei werde ich klären, wie es Fries gelingt, eine Bewegungslehre zu errichten, ohne auf die Idee eines allumfassenden Schwerpunksystems zurückzugreifen. Aus den unter 5.2.1 genannten Gründen kann es einen solchen absoluten Raum als regulative Idee innerhalb der Naturwissenschaft bei Fries nicht geben. Ebenso dürfen wir nach Fries nicht auf einen absoluten Raum im newtonschen

186 MN, S. 603, WW 13, 603. 187 MN, S. 604, WW 13, 604. 188 Damit weicht die systematische Zusammenfassung zu Fries von denjenigen zu Newton (2.4) und Kant (4.3) ab. Dies bietet sich jedoch aufgrund der Bruchstückhaftigkeit der friesschen Ausführungen an.

242

5 Fries’ Raumkonzeption

Sinne zurückgreifen,189 denn die Lage und Bewegung von Körpern lässt sich stets nur ‚verhältnißmäßig‘190, also in Bezug auf andere Körper bestimmen. Während Newton noch davon ausging, dass Bewegung immer Bewegung zu einem absoluten Raum ist, sieht Fries in der Bewegung eines Körpers einen Zustand.191 Dabei präsupponiert er, dass der ‚Normalzustand‘ eines Körpers dessen geradlinigen-gleichförmige Bewegung ist: Da nun die grade Linie die Linie in unveränderter Richtung ist, so folgt, daß die einfachste Art der Bewegung die gleichförmige gradlinige sey und daß jede andere Bewegung als eine Zusammensetzung aus gleichförmigen gradlinigen Bewegungen anzusehen sey.192

Aus diesen beiden Grundgesetzen folgert er: [W]ir [können] die Bewegung eines Körpers nur verhältnißmäßig gegen den empirischen Raum, in dem ein System von Körpern in gegenseitiger Ruhe erscheint, auffassen. Daher bekommt die Bewegungslehre den Grundsatz: Jede gleichförmige gradlinige Bewegung als Gegenstand einer möglichen Erfahrung, kann nach Belieben als Bewegung eines Körpers in einem ruhenden Raume oder als Ruhe des Körpers und dagegen Bewegung des Raumes in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit angesehen werden.193

189 Im Zusammenhang mit der Raumproblematik, insbesondere mit Blick auf die spätere Entwicklung, ist zu bemerken, dass Fries, anders als Kant, durchaus das Problem einer Aberration des Lichtes bei der Beobachtung von Sternen bei gleichzeitiger Bewegung der Erde um die Sonne sieht. Vgl. PVS, S. 143–145, WW 16, 143–145. Diese Aberration wurde 1725 von Bradley entdeckt. Wenn die Erde sich um die Sonne bewegt, so müssen die Sterne, deren Licht sich auf die Erde zu bewegt, je nach Richtung der Erdbewegung eine leicht veränderte Stellung am Himmel haben (bewegt sich die Erde parallel bzw. antiparallel zum Licht, so tritt kein Effekt auf, bewegt sie sich aber orthogonal zum vom Stern einfallenden Licht, so überlagern sich beide Geschwindigkeiten und der Stern erscheint leicht versetzt). Fries sieht in der gemessenen Aberration eine Bestätigung der durch Rømer bestimmten Lichtgeschwindigkeit. Vgl. PVS, S. 314–315, WW 16, 314–315. Dabei spricht er bei der entstehenden Aberration des Lichtes einmal vom „kosmisch ruhenden Raum“ (PVS, S. 145, WW 16, 145) und „vom bewegten Raum der Erde“ (PVS, S. 145, WW 16, 145). Der ‚kosmisch ruhende Raum‘ erinnert natürlich an ein absolutes Bezugssystem, in dem die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gilt, bzw. als verschobenes Problem an ein im Verhältnis zu seinen Teilen ruhendes Licht tragendes Medium, welches diesen Effekt erklären könnte. Leider erläutert Fries diese Bezeichnung nicht weiter und es finden sich bei ihm auch keine weiteren Überlegungen hinsichtlich der Kopplung von Raum und Lichtgeschwindigkeit. Der Grund liegt wohl in der zu wenig ausgearbeiteten Theorie des Lichtes. Dass Fries, obwohl er an anderer Stelle von der Unmöglichkeit eines absoluten Raumes als „gleichsam fest stehenden Grundform der Welt“ (MN, S. 420, WW 13, 420) spricht, hier doch jedoch hinsichtlich des Problems der Aberration zumindest beiläufig von einem ‚kosmisch ruhenden Raum‘ redet, kann als Ansatz für ein Problembewusstsein bezüglich der Debatte um einen Lichtäther gesehen werden. 190 SdM, S. 269–270, WW 8, 269–270. Vgl. hierzu auch MN, S. 422, WW 13, 422 sowie 5.3.2. 191 „Diese Zustände sind daher für einen Körper theils Zustände der beharrlichen Gegenwart an einem Orte, Ruhe; theils Zustände der Veränderung des Ortes, Bewegung. Die Gesetze dieser Veränderungen lehrt die reine Bewegungslehre.“ SdM, S. 269, WW 8, 269. 192 SdM, S. 356–357, WW 8, 356–357. 193 SdM, S. 357, WW 8, 357.

5.3 Zusammenfassung der friesschen Raum- und Bewegungskonzeption

243

Wie gehen wir nun nach Fries von einem ‚beliebigen Körper‘ zur Bestimmung der geradlinig-gleichförmigen Bewegung über? Wie können wir also erkennen, ob ein Körper sich tatsächlich geradlinig-gleichförmig bewegt? Ist der Bezugskörper selber beschleunigt, führt dies dazu, dass die geradlinig-gleichförmig bewegten Körper fälschlicherweise als beschleunigt angesehen werden. Bei Kant spielte die Idee des absoluten Raumes für den Approximationsprozess eine wichtige Rolle. Wie möchte Fries das Problem lösen? Passagen der Phänomenologie der MN können als Antwort auf diese Frage gelesen werden.194 Die geradlinig-gleichförmige Bewegung eines Körpers kann man dem Körper oder dem Raum zuschreiben. Handelt es sich um Bewegung, die von der geradlinig-gleichförmigen Bewegung abweicht, gilt es zwischen einer wirklichen und einer scheinbaren Bewegung zu unterscheiden. Hinsichtlich der Bewegungsbestimmung gemäß dem dritten newtonschen Axiom schreibt Fries: Diese Bewegung [die geradlinig-gleichförmige] bestimmt uns nur den Zustand eines Körpers in der Erscheinung seines Verhältnisses zu andern Körpern. Sobald hingegen Veränderungen dieses Zustandes in der erscheinenden Bewegung beobachtet werden, so müssen wir nach dem Gesetz der Bewirkung Ursachen derselben voraussetzen; diese Veränderung muß die Wirkung bewegender Kräfte seyn und so kommt es darauf an, aus der Beobachtung den wirklich bewegten Körper zu bestimmen, denn auf den Raum selbst können keine Kräfte wirken. In jeder Beobachtung veränderter Bewegung liegt uns also die Aufgabe, die bewegenden Kräfte zu suchen, welche diese Veränderung bewirkt haben, und gelingt es diese zu finden, so werden wir dann die erscheinende Begebenheit aus dem Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung mit Notwendigkeit zu construiren haben.195

Die modalischen Regeln helfen uns also dabei, die Ursachen für die Veränderung des ‚Normalzustandes‘ eines bewegten Körpers zu finden. Leider erklärt Fries nicht, was er unter der modalischen Regel genau versteht. Es ist jedoch naheliegend, sie hier als eine heuristische Maxime zu deuten. Fries greift also in seiner Bewegungskonzeption auf das dritte newtonsche Axiom zurück. Dieses hat bei ihm konstitutiven Charakter, gewinnt jedoch eine heuristische Funktion, wenn es darum geht, die Bewegung eines Körpers zu bestimmen. Als Regulativ sorgt es dafür, dass Abweichungen von der geradlinig-gleichförmigen Bewegung auf ihre Ursache zurückgeführt werden. Sobald eine Abweichung von der geradliniggleichförmigen Bewegung beobachtet wird, verpflichten uns die Gesetze der Mechanik dazu, die Ursachen dieser Abweichung ausfindig zu machen. Wie könnte das konkret aussehen? Angenommen, wir betrachten einen Körper A. Dieser Körper weicht nun in seiner Bewegung von seinem ‚Normalzustand‘, d. h. von der geradlinigen-gleichförmigen Bewegung ab:

194 Ebenso finden sich im SdM, im Abschnitt „Von der Anwendung der Gesetze der Bewegung auf die Erscheinung“ (SdM, S. 370, WW 08, 370–371), wichtige Erläuterungen, die ich hier heranziehe. 195 MN, S. 603, WW 13, 603.

244

5 Fries’ Raumkonzeption

Gemäß der dritten modalischen Regel müssen wir die Ursache für diese Abweichung suchen. Wenn wir herausfinden, dass sie in dem Körper B liegt, muss die Bewegung zwischen Körper A und Körper B gemäß dem vierten Satz der Mechanik im Schwerpunktsystem konstruiert werden:

Die Körper A und B können auf ihren Schwerpunkt AB reduziert werden. Dabei ist eine geradlinig-gleichförmige Bewegung des Schwerpunktes äquivalent zu seiner Ruhe.

Sollten allerdings auch in der Bewegung von AB Abweichungen vom ‚Normalzustand‘ auftreten, müssen wir wieder nach der Ursache suchen, d. h. den Körper (er sei hier C genannt), der diese Abweichung bewirkt, miteinbeziehen. Wir müssten ein Schwerpunktsystem aus ABC konstruieren etc. Wenn wir, wie Fries sagt, einen beliebigen Körper wählen können und diesen als ruhig in einem Raum setzen, dann geben uns die oben beschriebenen heuristischen Maximen die Aufgabe an die Hand, andere Körper mit in Betracht zu zie-

5.3 Zusammenfassung der friesschen Raum- und Bewegungskonzeption

245

hen, bis wir keinerlei Abweichungen mehr von der geradlinigen-gleichförmigen Bewegung des Systemschwerpunktes beobachten – in ähnlicher Weise wie auch nach Kant ein Approximationsprozess hin zu besseren Bezugssystemen anhand der Idee des absoluten Raumes erfolgt. Wollten wir die tatsächliche Bewegung eines Körpers bestimmen, müssten alle Körper des Universums miteinbezogen werden. Eine solche Approximation würde mit dem absoluten Raum Kants übereinstimmen. Die Differenz zwischen Kant und Fries liegt darin, dass bei Fries diese Approximation durch eine heuristische Maxime geschieht, welche uns beauftragt, die Ursache der Abweichung von dem ‚Normalzustand‘ zu finden. Die Approximation erfolgt bei Fries also nicht mit Blick auf einen alle Körper umfassenden imaginären Zielpunkt, sondern mit Blick auf die modalische Regel, für jede Abweichung von der geradlinig-gleichförmigen Bewegung die Ursache gemäß den Gesetzen der Mechanik zu ermitteln. Dies ist für die systematischen Fragestellungen dieser Arbeit interessant. Anders als Kant greift Fries in der Bewegungskonzeption nicht mehr auf die übergeordnete Idee eines absoluten Raumes zurück. Vielmehr nutzt er ein wissenschaftsinternes Prinzip. Die Bewegungskonzeption bedarf nicht der Idee eines absoluten Raumes, sondern des dritten newtonschen Axiomes, das hier eine heuristische Funktion übernimmt. Dieses wissenschaftsinterne Prinzip zwingt uns dazu, die Ursache der Bewegungsänderung zu ergründen. Das dritte Axiom als modalische Regel übernimmt demnach bei Fries eine Aufgabe, die bei Kant noch der absolute Raum innehatte. Dies verdeutlicht die von Diemer als ‚Absinken des Systemschwerpunktes‘ bezeichnete Entwicklung der Wissenschaft. Fries macht demnach auch in seiner Raum- und Bewegungslehre gegenüber Kant einen wichtigen Schritt hin zur modernen Wissenschaftskonzeption. Ausgehend von dieser Rekonstruktion sollen nun die Leitfragen der Arbeit für Fries beantwortet werden. Newton und der vorkritische Kant stützten sich auf Gott als externe Autorität. Demgegenüber wird beim kritischen Kant Gott durch die interne Autorität der Vernunft ersetzt. Gott hat nur noch regulative Bedeutung. Wie in diesem Kapitel deutlich wurde, ist die Autorität der Vernunft bei Fries ebenfalls der Stützpfeiler des Systems. Es finden sich dabei jedoch Tendenzen der Empirisierung. So versucht Fries, die Eigenschaften des Raumes aus dem Verhältnis des beobachtenden Subjekts zum gegebenen Mannigfalltigen herzuleiten. Die dritte Dimension des Raumes wird erst durch die Einbildungskraft hervorgebracht, indem wir das Verhältnis von Gegenstand und Beobachter mit einbeziehen. Der dreidimensionale euklidische Raum wird also anhand einer anthropologischen Betrachtung unter Einbezug der Bedingungen unseres Sehsinnes deduziert. Es wird dadurch ein tiefergehendes Problembewusstsein für die Verankerung des Raumes in den Bedingungen der menschlichen Wahrnehmung deutlich. (L4) Des Weiteren darf nach Fries Gott als Idee in der Theorie weder eine konstitutive noch eine regulative Bedeutung haben. Demnach ist er in seiner Trennung von Theorie und Idee strenger als Kant. Mit Blick auf die systematische Trias aus Gott/Vernunft, Raum und Gravitation sind jedoch noch weitere Veränderungen zu erkennen. Kant glaubte, dass sich die Form der Gravitationskraft aus philosophischen Überlegungen ablei-

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5 Fries’ Raumkonzeption

ten lässt. Demgegenüber schränkt Fries die Reichweite naturphilosophischer Argumente ein. Zwar schließt auch Fries von der Dreidimensionalität des Raumes auf die Form der Gravitation, jedoch verliert die Metaphysik bei der Herleitung der Grundkräfte gegenüber mathematischen und experimentellen Untersuchungen an Bedeutung. Die lässt sich wie folgt gegenüberstellen:196 Kant:

Fries:

Fries sieht es als die zentrale Aufgabe der Naturphilosophie, heuristische Maximen zu erarbeiten, auf die sich die Naturwissenschaft in der Entwicklung ihrer Theorien stützen kann. Das Ziel seiner MN ist es also, der Naturwissenschaft das nötige ‚Handwerkszeug‘ zu liefern. Durch diese Methodisierung des kantischen Aprioris kommt es zu einer Neuinterpretation und Weiterentwicklung des kantischen Ansatzes. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Naturwissenschaft und Philosophie wird die bei Euler herausgearbeitete Autoritätsverschiebung zwischen Naturwissenschaft und Philosophie immer deutlicher und verfestigt sich. Natürlich geht Fries, wie schon Kant, davon aus, dass sich zahlreiche Grundlagen der Naturwissenschaft durch philosophische Überlegungen herleiten lassen. Fries schränkt die Reichweite dieser Überlegungen gegenüber Kant jedoch ein, gibt mathematischen und empirischen Aspekten der Untersuchung einen größeren Raum und versteht große Teile seiner Naturphilosophie als Rüstkammer der für die Naturwissenschaft notwendigen Hypothesen, was die weiterführende Autoritätsverschiebung unterstreicht (L5). Vergleicht man Fries’ Bewegungskonzeption mit derjenigen Newtons und Kants, lässt sich eine weitergehende Einschränkung der Metaphysik finden, als es 196 Erläuterung zur Grafik: Anders als bei Kant hat Gott bei Fries auch keine regulative Bedeutung mehr. Deshalb findet sich bei Fries eine durchgezogene Linie. Aufgrund der Empirisierungstendenz werden die Pfeile bei Fries gestrichelt eingezeichnet.

5.3 Zusammenfassung der friesschen Raum- und Bewegungskonzeption

247

bei Kant der Fall war. Ich gehe zunächst auf die Differenzen zu Newton ein. Fries greift in seiner Bewegungskonzeption nicht auf einen absoluten Raum im newtonschen Sinne zurück. Die wahre Bewegung eines Körpers ist nicht mehr die Bewegung zum absoluten Raum. Eine solche Bewegung kann es nicht geben, denn der absolute Raum ist nicht Gegenstand der Erfahrung. Fries Bewegungskonzeption basiert demnach nicht mehr auf einer ‚externen Entität‘. Vielmehr geht er von einem ‚Normalzustand‘ der Körper aus, um den er seine Bewegungslehre entwirft. In diesem ‚Normalzustand‘ bewegt sich der Körper geradliniggleichförmig. Demnach verlagert sich die Erklärung verschiedener Bewegungszustände von einer externen Entität (d. h. dem absoluten Raum) in die Körper selber hinein. Fries übernimmt von Kant die unterschiedlichen Prädikate für die verschiedenen Bewegungstypen, ist dabei jedoch exakter als noch Kant. Auch wenn entsprechende Ausführungen bei Fries fehlen, ist anzunehmen, dass er die beim Eimerexperiment auftretenden Kräfte durch die Abweichung vom ‚Normalzustand‘ der Körper erklären würde. Demnach hat der ‚Normalzustand‘ bei Fries eine Aufgabe, die bei Newton noch durch den absoluten Raum erfüllt wurde (L3). Anders als Newton nimmt Fries auch an, dass geradlinige-gleichförmige Bewegung und Ruhe eines Körpers dasselbe sind. In seinen Ausführungen zur Äquivalenz von Ruhe und geradlinig-gleichförmiger Bewegung ist er dabei ebenfalls eindeutiger als Kant (L2). Die auffälligste Differenz zwischen Kant und Fries ist das gänzliche Fehlen eines absoluten Raumes. Bei Kant war es noch eine Idee, auf die sich die Bewegungskonzeption stützte. Die Erweiterung der relativen Räume zu einem immer umfassenderen Bezugssystem geschah mit Blick auf den absoluten Raum als Regulativ. Demgegenüber findet sich bei Fries der absolute Raum nicht mehr. Das Problem der Approximation geradlinig-gleichförmiger Bewegung wird ganz durch das dritte newtonsche Axiom übernommen, das hierfür heuristische Bedeutung erhält. Es handelt sich bei diesem Gesetz nicht um eine Idee, sondern um den vierten Satz der Mechanik, der unter der Anwendung des Gesetzes der Wechselwirkung auf den Begriff der Bewegung hergeleitet wird. Demnach greift Fries in seiner Bewegungskonzeption anders als Kant auf ein wissenschaftsinternes Prinzip zurück. Das apriorische Gesetz gibt uns eine Methode an die Hand, gemäß derer wir vorgehen sollen: Sobald wir beobachten, dass die Bewegung eines Körpers A von seinem ‚Normalzustand‘ abweicht, d.h. das Kräfte auf ihn wirken, müssen wir nach der Ursache für diese Abweichung suchen. Dies bedeutet, dass wir zusätzlich den Körper B, der mit A wechselwirkt, betrachten müssen. Der Schwerpunkt aus A und B muss sich gemäß dem Trägheitsgesetz und dem Gesetz der Wechselwirkung wieder geradlinig-gleichförmig bewegen. Wird wiederum beobachtet, dass der Schwerpunkt von A und B in seiner Bewegung vom ‚Normalzustand‘ abweicht, so muss erneut gemäß dem dritten newtonschen Axiom nach den Ursachen für diese Abweichung gesucht werden und der Körper C, auf den diese Abweichung zurückgeht, miteinbezogen werden usw. (L1) Fries ersetzt daher sowohl Kants absoluten Raum durch ein Bewegungsgesetz, das in diesem Zusammenhang heuristische Bedeutung gewinnt, als auch Newtons absoluten Raum durch einen ‚Normalzustand‘. Mit Blick auf die diemer-

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5 Fries’ Raumkonzeption

sche Systematik wird daran sowohl das Absinken des Systemschwerpunktes als auch eine Entmetaphysierung der Prinzipien deutlich, wie sie für eine Modernisierung der Wissenschaftskonzeption typisch sind: Die Bewegungskonzeption der MN verzichtet auf eine der Naturwissenschaft übergeordnete Idee, aber auch auf einen absoluten Raum, durch den sich die wahre Bewegung eines Körpers bestimmt. Sie werden ersetzt durch wissenschaftsinterne- bzw. körperinhärente Prinzipien. Fries’ Raum- und Bewegungslehre weist ihn daher als einen Denker mit Tendenzen hin zur modernen Wissenschaftskonzeption aus.

6 FAZIT UND AUSBLICK Das Verhältnis von Metaphysik und Naturwissenschaft durchläuft von Newton hin zu Fries eine bemerkenswerte Entwicklung. Anhand des Verhältnisses von Gott/Vernunft, Raum und Gravitation konnten in dieser Arbeit sowohl die vonstattengehende Entmetaphysierung als auch eine Umdeutung der Rolle der Metaphysik genauer nachvollzogen werden. Bei Newton stützte sich die Naturwissenschaft auf Gott als externe Autorität und auf systeminterne, ontologische Annahmen wie den absoluten Raum und die Trägheitskraft. Eine externe Autorität findet sich demgegenüber in Fries’ Wissenschaftskonzeption nicht mehr. Ebenfalls wurden zentrale ontologische Annahmen fallen gelassen. Die Autorität Gottes wird durch die Vernunft ersetzt, wobei die Empirie für Fries eine gegenüber Kant größer werdende Rolle spielt. Dabei hat sich sowohl die Metaphysik als auch ihr Verhältnis zur Naturwissenschaft verändert. Ihre Aufgabe ist es nun, die grundlegenden, apriorischen Voraussetzungen der Naturwissenschaft aufzudecken. In enger Zusammenarbeit mit Empirie und Mathematik kann sie dabei helfen, neue Hypothesen zu entwickeln, um neue Forschungsfelder anhand konstitutiver Theorien zu fassen. Es kommt daher zu einer Ausdünnung systeminterner, metaphysischer Grundannahmen und zu einer Methodologisierung des Aprioris. Grundlegende Gesetze der Mechanik werden als Arbeitsauftrag gedeutet, die den Forscher dabei anleiten, die wahre Bewegung eines Körpers herauszufinden und die verursachenden Kräfte zu bestimmen. Diese Entwicklung von Newton hin zu Fries werde ich abschließend mit Blick auf die roten Fäden der Untersuchung darstellen, um davon ausgehend auf die Grenzen der Entmetaphysierung mit Blick auf die kuhnsche Paradigmentheorie einzugehen. Zuletzt werde ich besprechen, welche Aufgabe der Philosophie in diesem Prozess zukommt und einen Ausblick geben, wie Fries’ Ansatz dabei Impulse setzen kann. Zunächst wurde in der vorliegenden Untersuchung gegen die exemplarische Haltung DiSalles gezeigt, dass es sich bei Newtons absoluten Raum nicht um eine Hypothese oder eine bloße Definition handelt. Vielmehr handelt es sich beim absoluten Raum um eine ontologische Grundannahme Newtons, die tief in seiner Intuition verankert und nur durch seine Metaphysik ganz verständlich wird. So stützen sich Newtons Raumtheorie wie auch seine Überlegungen zur Wirkung der Gravitation auf Gott als externer Autorität (L5). Für die systematische Trias ergibt sich daraus das folgende Abhängigkeitsverhältnis:

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6 Fazit und Ausblick

Durch die Verankerung des Raumes in Gott als externe Autorität wird verständlich, dass Newton in seiner Raumtheorie gegen grundlegende Forderungen seiner eigenen, in den Principia vorgetragenen, Methodologie verstößt. Newton geht zwar davon aus, dass der absolute Raum von anderen Inertialsystemen empirisch nicht unterschieden werden kann, pocht jedoch dennoch auf die Existenz eines absoluten Raumes (L2). Dies verdeutlicht, dass der absolute Raum auf Überlegungen zurückgeht, die tiefer liegen als die empiristische Methodologie der Principia. So wird die Annahme eines absoluten Raumes nicht anhand von Experimenten, sondern von einem intuitiven Vorverständnis ausgehend entwickelt. Als emanativer Effekt Gottes hat er dabei Eigenschaften, die auf Eigenschaften Gottes zurückzuführen sind: Da Gott nicht teilbar und unendlich ist, muss auch der Raum unteilbar und unendlich sein. Damit geht auch ein epistemologischer und ontologischer Sonderstatus dieser Konzeption einher, der anhand der Regulae Philosophandi nicht gerechtfertigt werden kann. Innerhalb der Physik übernimmt der absolute Raum eine wichtige erklärende Funktion, bringt jedoch auch verschiedene philosophische Probleme mit sich. So nutzt Newton den absoluten Raum, um das Verhalten von Körpern im Raum zu erklären. Das Auftreten der Zentrifugalkraft lässt sich demnach auf die Bewegung eines Körpers zum absoluten Raum zurückführen (L3). Da der absolute Raum jedoch homogen ist, kann er selber nicht erkannt werden. Deshalb bedient sich Newton der Hypothese, dass das System der Welt im absoluten Raum ruhe, was jedoch wiederum mit seinem eigenen Hypothesenverdikt im Konflikt steht (L1). Die Verankerung des Raumes und der Gravitation in Gott als externer Autorität weisen Newton dabei als Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption aus (L4&5). Darauf aufbauend wurde die frühe Rezeption des absoluten Raumes durch Leibniz, Berkeley und Euler untersucht. Leibniz und Berkeley attackieren den absoluten Raum jeweils aus ihrem eigenen philosophischen System heraus. Ausgangspunkt der Kritik ist dabei für Leibniz der Satz vom hinreichenden Grund und für Berkeley sein eigenes idealistisches System. Einer ihrer zentralen Kritikpunkte ist dabei, dass der absolute Raum Eigenschaften hat, die eigentlich Gott vorbehalten sind. Den Ausgangspunkt ihrer Angriffe auf die Raumkonzeption Newtons bilden daher metaphysische Überlegungen und Prinzipien: Anders als Newton sieht Leibniz im Raum die Gesamtheit des zugleich Existierenden. Da seinen Überlegungen jedoch nicht entnommen werden kann, wie das Auftreten von Zentrifugalkräften zu erklären ist, scheitert seine Raumkonzeption. Berkeley bringt ausgehend von seinem idealistischen System verschiedene relationalistische Bewegungskonzeptionen vor, die auf den absoluten Raum verzichten. Allerdings bleibt es auch bei ihm bei bloßen Skizzen, von denen nicht klar ist, inwieweit sie den absoluten Raum ersetzen können. Für Leibniz und Berkeley gilt deshalb, dass beide stichhaltige Argumente gegen den absoluten Raum vorbringen. Es gelingt ihnen jedoch nicht, adäquate Gegenkonzeptionen zu entwickeln. Hier setzt Eulers Kritik an. Sein Plädoyer für den absoluten Raum verschiebt die Deutungshoheit von den ‚Mechanikern‘ hin zu den ‚Metaphysikern‘. Euler greift nicht die Prinzipien der Gegner an und versucht nicht, sie auf der Ebene metaphysischer

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Prinzipien zu widerlegen. Vielmehr argumentiert er ausgehend von der faktisch etablierten Mechanik: Wenn die Raumkonzeption Leibniz’ und Berkeleys daran scheitert, die Bewegungsgesetze der Mechanik zu begründen, liegt das Problem in ihren Systemen, nicht der Mechanik. Es bedarf demnach einer neuen Philosophie, die den Grundlagen der Mechanik gerecht wird. Dabei kann die Naturwissenschaft für die Metaphysik eine anleitende Funktion übernehmen. Durch Euler kommt es erstmals in der Geschichte der Raumtheorie zu einer Umkehr in der Deutungshoheit zwischen philosophischer Spekulation und Naturwissenschaft. Die philosophische Kritik hat allerdings zur Folge, dass der absolute Raum, wie auch das Trägheitsgesetz, einer ontologischen und metaphysischen ‚Reinigung‘ unterzogen wird. Während der absolute Raum bei Newton noch tief in der Gottesvorstellung verankert war, wird er nun gänzlich aus der Mechanik, genauer, dem Trägheitsgesetz, selbst begründet. Der Prozess der Entmetaphysierung setzt also nicht erst um 1800 ein, wie Diemer meint. Vielmehr lässt sich der Entmetaphysierungsprozess bis hin zu Euler zurückverfolgen. Eulers Haltung weist ihn daher in einzelnen Punkten als einen Denker mit Tendenzen zur modernen Wissenschaftskonzeption aus, z. B. in seiner Lösung der Mechanik von einer absoluten Autorität und seiner Reinigung der Mechanik von ontologischem Ballast. In anderen Punkten wie seinem Prinzipiencertismus zeigt er sich jedoch als Vertreter der klassischen Konzeption. In der Untersuchung des vorkritischen Kant wurde ersichtlich, dass dieser zunächst versucht, die newtonsche Gravitation mit einer relationalen, modifizierten leibnizschen Raumkonzeption zu synthetisieren. Kant sieht im Raum die Gesamtheit der in Verbindung stehenden Substanzen. Diese Verbindung besteht durch die Gravitation, die wiederum nur durch Gottes Verstand möglich ist:

Beim vorkritischen Kant hat Gott für die Raum- und Gravitationstheorie eine konstitutive Bedeutung. Im Laufe seiner Entwicklung kommen Kant jedoch zunehmend Zweifel an dieser Raumkonzeption, bis er schließlich – von Euler beeinflusst – mit ihr bricht. Zunächst schlägt er in NLBR vor, wechselwirkende Körper im Schwerpunktsystem zu betrachten. Den Hintergrund seiner Überlegungen bildet die von ihm in NTH erarbeitete Unendlichkeit der Welt. In seiner Raumschrift von 1768 tritt er schließlich für die unabhängige Existenz eines absoluten Raumes

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ein. In der darauf folgenden Zeit kommt es, ausgehend von der Problematik eines unendlichen Raumes und der daraus entspringenden Antinomik, zu tiefgreifenden Veränderungen in Kants Denken. Diese Entwicklung mündet schließlich in der kritischen Philosophie. In der kritischen Phase vertritt Kant eine durch Newton geprägte Raumkonzeption, die jedoch durch den transzendentalen Idealismus eine ganz neue Bedeutung erhält. Der Raum ist die apriorische Form unserer Anschauung und nur als Bedingung der Möglichkeit unserer Erkenntnis wirklich. Dadurch wird der Raum dem Substanz-Akzidenz-Schema enthoben. Die Wende zum transzendentalen Idealismus führt zudem zu einer Neudeutung der Metaphysik. Ihre Aufgabe ist es nun, die apriorischen Bedingungen unseres Erkennens aufzudecken. In seiner Rechtfertigung dieser Raumkonzeption greift Kant auf die Geometrie als bestehende Wissenschaft zurück. Nach ihm können synthetische Urteile a priori, aus denen diese Wissenschaft besteht, nur durch die kritische Raumlehre verstanden werden. Demgegenüber kritisiert Kant die Positionen Leibniz’ und Berkeleys, weil sie seiner Meinung nach die Möglichkeit der Geometrie nicht erklären können, während Newtons Konzeption daran scheitert, dass er ‚ein unendliches, für sich existierendes Unding annehmen muss‘. An dieser Stelle wird, wie auch hinsichtlich Kants Ablehnung einer Trägheitskraft, der Einfluß Eulers deutlich. Indem Kant seine eigene Position durch die bestehende Wissenschaft rechtfertigt, kommt es zur von Euler geforderten Autoritätsverschiebung. Kant sieht es als zentrale Stärke seines Systems an, die Möglichkeit der Mathematik und Physik zu erklären. So versucht er, in den MAN die Grundlagen der Mechanik aus der kritischen Philosophie herzuleiten. Die in der KrV entwickelte theoretische Philosophie rechtfertigt sich also u. a. durch die Möglichkeit, ein metaphysisches Fundament der Mechanik herleiten zu können (L5). In den MAN setzt sich Kant intensiv mit dem absoluten Raum auseinander. Es wird deutlich, dass er in dieser Konzeption, anders als Newton, nicht mehr die Grundlage der Physik sieht. Vielmehr wird aus dem absoluten Raum eine Idee, ein focus imaginarius, auf den sich die Naturwissenschaft hin entwickelt (L1). So werden relative Räume nicht mehr als Einschränkungen des absoluten Raumes gesehen. Vielmehr ordnet der absolute Raum als Idee die relativen Räume in ihrem Verhältnis zueinander. Nach Kant muss zwei wechselwirkenden Körpern der gleiche Impuls zugeschrieben werden, d. h. sie müssen im Schwerpunktsystem betrachtet werden. Die Idee des absoluten Raumes führt nun dazu, dieses begrenzte Schwerpunktsystem mit Blick auf ein niemals zu erreichendes, allumfassendes Schwerpunktsystem zu erweitern. Demnach nutzt Kant die Bewegungsgesetze, um ein Bezugssystem zu konstruieren. Newton ging jedoch erst vom absoluten Raum aus, um dann die Bewegungsgesetze einzuführen. Von Newton zu Kant kommt es also zu einer Prioritätsverschiebung zwischen den Konzeptionen. Bei der Betrachtung der Bewegungstypen wurde klar, dass Kant die von Newton verwendeten Termini aufgreift und neu deutet. Dabei bemüht er sich, z. T. etwas gezwungen, auf absolute Bewegung, verstanden als Bewegung zum absoluten Raum, zu verzichten und nur Bewegung zwischen den Körpern als physikalisch relevant aufzufassen. Während Newton Zentrifugalkräfte noch durch die Bewe-

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gung eines Körpers zum absoluten Raum erklärte, versucht Kant, sie auf den Bewegungstyp eines Körpers zurückzuführen (L3). Demnach übernehmen die verschiedenen Bewegungstypen und die Bewegungsgesetze eine erklärende Funktion, die bei Newton noch dem absoluten Raum zukam. Kant verschiebt zentrale Aufgaben, die der absolute Raum bei Newton noch hatte, in die Bewegungsgesetze bzw. Bewegungstypen hinein. Obwohl Kant ein Vertreter der klassischen Wissenschaftskonzeption ist, wurde deutlich, dass sich die Rolle der Metaphysik für die Naturwissenschaft verändert hat. Dies wurde an der systematischen Trias klar. Gott und der absolute Raum verlieren bei Kant in der kritischen Phase ihre konstitutive Bedeutung. Die Raumkonzeption der transzendentalen Ästhetik stützt sich auf die Vernunft (L4). Aus der Dreidimensionalität des Raumes leitet sich die Form der Gravitationskraft ab: Sie wirkt proportional zum inversen Abstandsquadrat. Gott und der absolute Raum, verstanden als Idee der Körperlehre, werden zu bloßen Regulativen, d. h. zu Zielpunkten, auf die sich die Wissenschaft zubewegt und die uns helfen, Erkenntnisse ins richtige Verhältnis zueinander zu setzen:

Dabei finden sich bei Kant Spannungen zwischen dem Raum der transzendentalen Ästhetik und dem Raum als regulativer Idee. Diese lassen sich, wie deutlich wurde, auf Ambivalenzen zurückführen, die sich bereits bei Newton finden. Im letzten Kapitel wurde die Raum- und Bewegungskonzeption Fries’ untersucht. Sein Ziel ist es, die kantische Naturphilosophie an die sich verändernde Wissenschaftskonzeption anzupassen. Dabei läßt er Tendenzen zur modernen Wissenschaftskonzeption erkennen, was insbesondere an seiner Raum- und Bewegungskonzeption validiert werden kann. Bereits der kritische Kant gründete seine Raumkonzeption auf der Vernunft als Autorität. Fries versucht, diese Überlegung fortzuführen. Er deduziert die Eigenschaften des Raumes aus dem Verhältnis unseres Erkennens zum Mannigfaltigen. Dabei zeigt er in seiner Deduktion der Dreidimensionalität des Raumes moderne Ansätze. So versucht er, die Eigen-

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schaften des euklidischen Raumes anhand der anthropologischen Bedingungen unserer Sinnlichkeit herzuleiten. Die dritte Dimension des Raumes wird durch das Verhältnis des Beobachters zum Gegenstand hinzugesetzt, eine Überlegung, die in ähnlicher Form in der Raumdiskussion des mittleren neunzehnten Jahrhunderts wieder aufgegriffen wird. (L4). Fries’ Versuch, die kantische Naturphilosophie an die anbrechende moderne Wissenschaftskonzeption anzupassen, zeigt sich auch in seiner MN. Kant glaubte noch, zahlreiche Grundlagen der Mechanik aus seiner Philosophie herzuleiten zu können. Demgegenüber beschneidet Fries die Reichweite der Metaphysik zugunsten experimenteller und mathematischer Untersuchungen. Anders als Kant versucht Fries nicht mehr, real existierende Grundkräfte herzuleiten. Vielmehr geht es ihm um bloß mögliche Kräfte. Bei Fries zeigen sich also Tendenzen der Hypothetisierung, wie sie für die moderne Wissenschaftskonzeption typisch sind. Die Metaphysik hat in der MN die Aufgabe, in enger Zusammenarbeit mit der Mathematik Theorien zu entwickeln, die den Forschern dabei helfen, bisher bloß als Wissenschaftslehre behandelte Felder in die Naturwissenschaft zu integrieren (L5). Es kommt demnach zu einer methodischen Umdeutung der kantischen Naturphilosophie. Fries’ weitergehende Kritik der Reichweite metaphysischer Untersuchungen wird auch an seiner Kritik an der Rolle der Ideen für die Naturwissenschaft deutlich. Sie haben innerhalb der Naturwissenschaft, anders als bei Kant, auch als Regulative keinen Platz mehr. Für die systematische Trias ergibt sich daher folgendes Bild:

Was für die Idee Gottes gilt, gilt auch für die Idee des absoluten Raumes. Die Vorstellung eines umfassenden Schwerpunktsystems, auf die Kant in seiner Bewegungskonzeption zurückgreift, findet sich bei Fries nicht mehr. Er weitet somit Kants Kritik der klassischen Metaphysik in der Naturwissenschaft aus und treibt die Entmetaphysierung der Wissenschaft voran. Die Rolle des absoluten Raumes wird in der MN durch heuristische Maximen übernommen. Beobachten wir die Veränderung einer geradlinigen-gleichförmigen Bewegung, so geben uns die mo-

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dalischen Regeln die Aufgabe, nach den Ursachen dieser Abweichung vom ‚Normalzustand‘ zu suchen. Dazu müssen wir auf das dritte Axiom zurückgreifen und die Ursache für die Abweichung finden. Demnach übernehmen bei Fries der ‚Normalzustand‘ der Körper und das dritte Axiom, verstanden als heuristische Maxime, eine Aufgabe, die bei Newton und Kant der absolute Raum in jeweils anderer Form hatte. Es kommt daher bei Fries zu einer Methodisierung der apriorischen Gesetze der Mechanik. Dadurch wird erneut das von Diemer beschriebene Absinken des Systemschwerpunktes deutlich. Bei Fries wird die Bewegungslehre der Physik gänzlich durch wissenschaftsinterne Prinzipien begründet. Euler rechtfertigt den absoluten Raum durch das Trägheitsgesetz. Bei Kant konstituiert ein Bewegungsgesetz den zu wählenden Raum. Darauf aufbauend greift Fries in seiner Bewegungskonzeption nur noch auf die Bewegungsgesetze, verstanden als heuristische Maximen, und den ‚Normalzustand‘ zurück. Die Bewegungsgesetze gewinnen zunehmend fundamentalen Charakter für die Bewegungslehre. Fries’ Naturphilosophie führt also konsequent Überlegungen Kants fort, die sich bis zu Euler zurückverfolgen lassen (L1-3). Diemer und König merken an, dass die Entmetaphysierungsthese mit Blick auf das Wissenschaftsverständnis Kuhns relativiert werden muss.1 An dieser Stelle möchte ich die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit nutzen, um den stattfindenden Entmetaphysierungsprozess dahingehend zu spezifizieren. Kuhn beschreibt, dass ein Paradigma die Weltsicht eines Forschers vorgibt. Es bestimmt, aus welchen Entitäten die Welt besteht. Also bestimmt das Paradigma die Ontologie der Wissenschaft.2 Demgegenüber hat die moderne Wissenschaftskonzeption nach Diemer nur noch mit dem faktisch Gegebenen zu tun. Dagegen lässt sich jedoch, Kuhn folgend, einwenden, dass es das faktisch Gegebene nicht gibt. Beobachtungen finden immer im Rahmen eines Paradigmas statt. Mit Blick auf die in dieser Arbeit herausgearbeitete Entwicklung schlage ich deshalb vor, zwischen zwei Metaphysikkonzeptionen zu differenzieren. So bietet es sich an, zwischen einer traditionellen Metaphysik und einer wissenschaftlichen Metaphysik zu unterscheiden.3 Die traditionelle Metaphysik fragt nach den Ideen Gott, Seele und Welt. Anhand der Untersuchung ist deutlich geworden, wie sich die Mechanik von dieser Art von Metaphysik bereits in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts gelöst hat. Die in weiten Teilen durch Newton geprägte Mechanik (die fälschlicherweise mit der klassischen Mechanik gleichgesetzt wird) gibt dabei gemäß Kuhn jedoch auch die Ontologie vor, von der ein Forscher auszugehen hat. Diese kann verstanden werden als wissenschaftliche Metaphysik. Es handelt sich um Grundannahmen, hinter die ein Vertreter des Paradigmas nicht zurücktreten kann. Betrachtet man die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit, so wird deutlich, dass diese wissenschaftliche Metaphysik, verstanden als die Lehre der grundlegenden Entitäten und ihrer Eigenschaften eines Paradigmas, ebenfalls einer Ent1 Diemer / König 1991, S. 7. 2 Kuhn 1976, S. 21-22. 3 Vgl. Lakatos, 1982b.

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wicklung unterliegt. Die wissenschaftliche Metaphysik löst sich von ihrer Fundierung in Gott. Durch ihre neue Verankerung in der Vernunft gewinnt sie die Bedeutung einer Wissenschaft von den apriorischen Voraussetzungen unseres Denkens, wobei die Reichweite der Vernunft später z. T. durch die Empirie zurückgedrängt wird. In diesem Prozess ist zum einen zu beobachten, dass einzelne Konzeptionen ihre ontologische Bedeutung verlieren und in die Bewegungsgesetze hineingelegt werden. War es bei Newton noch ein absoluter Raum, dem beim Auftreten von Zentrifugalkräften kausale Bedeutung zugeschrieben wurde, verlagert sich diese Erklärung am Ende der untersuchten Entwicklung in die Bewegungsgesetze. Die Aufgabe wird bei Kant vom absoluten Raum als notwendiger Hypothese und bei Fries durch ein methodisiertes drittes Newtonsches Axiom und den ‚Normalzustand‘ der Körper übernommen. Des Weiteren fällt in der Entwicklung der Mechanik die Vorstellung weg, dass Körper ihre geradliniggleichförmige Bewegung aufgrund einer Trägheitskraft vollführen. Beeinflusst durch Euler, sehen Kant und Fries in der Trägheit nur noch eine Eigenschaft der Materie. Anhand naturphilosophischer Reflexionen kommt es demnach bis zu einem gewissen Punkt zum Umbau des Paradigmas und damit einhergehend zu einer Entontologisierung und Methodisierung der klassischen Mechanik. Es bleiben jedoch bestimmte, notwendige Vorgaben durch das Paradigma bestehen, die nicht von der Entmetaphysierung erfasst werden können. In der Entwicklung der metaphysischen Grundlagen der Mechanik kommt daher der philosophischen Reflexion eine wichtige Bedeutung zu. Eine ähnliche Rolle spielt die Philosophie auch in aktuellen Forschungsfeldern. Welche Entitäten müssen bspw. in der Allgemeinen Relativitätstheorie angenommen werden? In welchem Verhältnis stehen Materie bzw. Energie und die Raumzeit? Inwieweit lassen sie sich aufeinander zurückführen? Fries’ MN bietet interessante Ansatzpunkte, auch wenn seine Position mit Blick auf die tiefgreifenden Veränderungen der Physik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts modifiziert werden muss. So glaubt Fries noch, Teile der klassischen Mechanik a priori herleiten zu können, eine Haltung, die so nicht mehr vertreten werden kann. Sein Gedanke, dass die Naturphilosophie dabei helfen kann, neue Hypothesen aufzustellen, um konstitutive Theorien zu bilden, ist jedoch wegweisend und kann weiter ausgebaut werden. Neue Theorien werden nicht bloß durch das Zusammenfassen empirischer Daten erschlossen. Zusätzlich bedarf es zugrundeliegender Hypothesen, die durch Anwendung der mathematischen Konstruktion auf die philosophische Spekulation erarbeitet werden. Diese heuristischen Maximen leiten die Forschung an und helfen, wenn sie an die Empirie herangetragen werden, neue konstitutive Theorien zu erschließen. Daher möchte ich die Arbeit mit dem folgenden Zitat abschließen:

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Es ist nemlich diese Wissenschaft [also die Mathematische Naturphilosophie] eigentlich die Rüstkammer aller derjenigen Hypothesen, aus welchen nachher in der Erfahrung die Erklärungen gelingen. Darin ist bey weitem das meiste von mathematischer Entwicklung, aber die Grundbegriffe sind philosophisch, und sollte es gelingen, die Naturkundigen über diese zu verständigen, so würden wir dadurch für die Disciplin der Hypothesen ungemein viel gewinnen. 4

4 MN, S. 10, WW 13, 10.

BIBLIOGRAPHIE ZITIERWEISE UND ABKÜRZUNGEN DER WERKE Im Text wird auf die im Literaturverzeichnis angeführten Titel durch Nachnamen, Veröffentlichungsjahr(e) und Seitenzahl Bezug genommen, z. B. Bonsiepen 1997, S. 27. Wird innerhalb eines unbeendeten Satzes auf einen Text referiert, so wird die Referenz in Klammern gegeben. Bei Briefen werden zusätzlich der Absender, der Empfänger und das Datum angegeben. Ausnahmen bilden die folgenden Werke von Newton, Kant und Fries, einschließlich des unter Newtons Aufsicht geführten Briefwechsels zwischen Leibniz und Clarke, sowie die Werke von Aristoteles, Descartes, Leibniz, Berkeley und Euler. Sie werden angeführt als: Newton: Principia Dt. Principia Org. Principia De Gravitatione De Motu IV1 Eng. De Gravitatione Optik Newton Correspondence Hydrostatics, Optics, Sound and Heat Quaestiones Leibniz-Clarke

Newton (1999a) Newton (1999b) Newton (1687) Newton (1988) Newton (1965) Newton (2004b) Newton (1898) Newton (1959-1977) Newton (1672-1706) Newton (2002) Leibniz / Clarke (1991)

Kant: Brief von Kant an Euler vom 23.8.1749 Briefe GSK NTH PND MoPh

1

Kant (1985) Kant (1922) Kant (1910a) Kant (1910b) Kant (1910c) Kant (1910d)

Es handelt sich bei De Motu IV um eines von fünf, mit ‚De Motu‘ überschriebenen Manuskripte Newtons. De Motu IV ist dabei, nach Herivels 1965 Datierung der zeitlich vorletzte Text mit diesem Titel. Siehe Herivel 1965, S. 304.

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Bibliographie NLBR GUGR MSI KdU KrV MAN MSI GMS OP Prol RGV Refl

Kant (1912a) Kant (1912b) Kant (1912c) Kant (1913) Kant (1911a), Kant (1911b) Kant (1911e) Kant (1985) Kant (1911d) Kant (1936) Kant (1911c) Kant (1914) Kant (1925-1928)

Die Abkürzungen der von Kant veröffentlichten Werke richten sich nach dem Siglienverzeichnis der Kant-Studien. Nach dem abgekürzten Titel werden der Band und dann die Seitenzahl nach der Akademieausgabe angegeben. So referiert z. B. MAN, AA 04, S. 477 auf die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft im vierten Band der Akademieausgabe und darin auf die Seite 477. Eine Ausnahme bilden Verweise auf die Kritik der reinen Vernunft. Hier werden stattdessen die Seiten nach den Originalen der ersten (A) und der zweiten (B) Auflage angegeben, z. B. KrV A 299 / B 356. Finden sich Passagen in der A- und der BAusgabe, werden sie gemäß der B-Ausgabe zitiert. Fries: AKdV I AKdV II ESP GdPII HdR MN PVS SdP SdM Briefe I Briefe III

Fries (1967a) Fries (1967b) Fries (1974) Fries (1969b) Fries (1970a) Fries (1979) Fries (1973) Fries (1968) Fries (1970b) Fries (2009) Fries (2011)

Bei Verweisen auf Textstellen in den Werken von Fries wird zusätzlich in Klammern die Bandnummer und Seitenzahl in der Gesamtausgabe angeführt, z. B. AKdV II, S. 24, WW 05, 40. Aristoteles: Kategorien Physik

Aristoteles (1997) Aristoteles (1997)

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Bibliographie

Der Verweis auf die Werke des Aristoteles erfolgt anhand der Bekker-Zählung. Dabei werden angegeben: Buch, Kapitel, Seite, Spalte, Zeile.

Descartes: Principia philosophiae Mediationen

Descartes (1955) Descartes (1993)

Leibniz: Metaphysische Anfangsgründe der Mathematik Leibniz III, 6

Leibniz (1996b) Leibniz (2004)

Berkeley: De Motu Treatise Dt. Treatise

Berkeley (1969b) Berkeley (1998) Berkeley (2004)

Euler: Mechanica Ged. v. d. Elementen der Körper Reflexionen über Raum und Zeit Briefe an eine dt. Prinzessin Theoria Motus Opera Omnia

Euler (1848) Euler (1746) Euler (1763) Euler (1986) Euler (1853) Euler (1912-1986)

Locke: Versuch über den menschlichen Verstand

Locke (1999)

Zusätzlich wird in den Anmerkungen auf häufig angeführte Gesamtausgaben in eckigen Klammern Bezug genommen. Bei Briefen werden, soweit es sinnvoll und möglich ist, das Datum und der Empfänger des Briefes angegeben.

ABKÜRZUNGEN DER ZEITSCHRIFTEN AGP AHES AHS AP ASPL

Archiv für Geschichte der Philosophie Archive for History of Exact Science Advances in Historical Studies Annalen der Physik Astronomical Society of the Pacific Leaflets

Literaturverzeichnis BJHS BJPS BWG DZFP ESM ISPS JGPS JHA JHI JHP JRAM KS PL PTRS SHPS SHPSA UCPP ZPF

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British Journal for the History of Science British Journal for the Philosophy of Science Berichte zur Wissenschaftsgeschichte Deutsche Zeitschrift für Philosophie Early Science and Medicine International Studies in the Philosophy of Science Journal for General Philosophy of Science Journal for the History of Astronomy Journal for the History of Ideas Journal of the History of Philosophy Journal für reine und angewandte Mathematik Kantstudien Philosophischer Literaturanzeiger Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Studies in History and Philosophy of Science Studies in History and Philosophy of Science Part A University of California publications in philosophy Zeitschrift für philosophische Forschung

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REGISTER PERSONENREGISTER Adickes 130, 132, 137 Allison 143, 145, 150 An der Brügge 136, 137 Apelt 227, 231, 236, 237 Archytas 71 Aristoteles 18, 39, 67 Arjomand 212, 214, 216, 217, 220, 231 Ball 49 Barrow 55, 68 Beaulieu 200 Belkind 31, 58 Bentley 31, 32, 55, 56 Berkeley 26, 75, 79, 90-102, 104, 105, 117, 120, 126, 150-152, 250 Biener 26, 89 Blackmore 98 Bloching 202 Böhme 29, 41, 57-59 Bonsiepen 159, 173, 198, 199, 201, 216, 220 Boyle 32, 54 Bradley 126, 127, 242 Breger 69, 78 Breidert 105, 150 Bremer 152 Brittain 185 Buchdahl 30 Carrier 27, 43, 82, 87, 88, 98, 175, 180, 187, 188 Casey 67 Cassini 79, 83 Cassirer 22, 26, 103, 104, 106, 108, 117, 119, 195 Cicero 199 Clarke 26, 29, 32, 46, 47, 52, 54, 70, 75-90, 109, 121, 130, 141-144, 148, 178, 206 Cleve 134 Cohen 9, 30, 34, 37, 49, 57, 69, 106 Collier 150 Cotes 49, 53, 54, 159

Cover 87 Crucius 127 Dancy 92 De Bianchi 185 De Brahe 241 De Motte 9 Demokrit 78 Dempsey 64, 67 Descartes 26, 29, 33, 36, 37, 39-41, 43, 44, 52, 54-64, 66, 67, 70-72, 75, 79, 89, 94, 95, 108, 112-115, 118, 123, 124, 141, 150, 235 Detel 67 Diemer 17-22, 24, 27, 99, 157, 175, 207, 245, 251, 255 DiSalle 25, 31, 34, 38, 46, 47, 49, 51, 52, 114, 187, 219 Domski 71, 143-145, 148, 152 Downing 94 Ducheyne 34 Earman 87, 219 Einstein 33, 98, 116, 192 Elkana 49 Elsenhans 208, 209, 213, 220 Epikur 67, 78 Erdmann 136, 137, 150 Eschenbach 150 Euler 25-27, 37, 75, 76, 102-120, 124, 130, 133, 138, 144, 150, 173, 175, 194, 196, 197, 199, 235, 246, 250-252, 255, 256 Falkenburg 126 Feder 14, 150 Fichte 199 Fischer, E.G. 226, 227 Fischer, K. 201, 202 Fisher 67 Frederick 134 Friedman 23, 24, 26, 27, 119-121, 124, 126, 127, 129, 158, 167, 169, 172, 175, 181, 183, 185, 187, 188, 220

Personenregister Fries 9-11, 14, 16, 17, 19, 21, 23-25, 27-29, 32, 39, 47, 51, 70, 75, 136, 147, 159, 164, 197-249, 253, 254, 256 Gabbey 64 Galilei 238 Garve, C. 137, 150 Garve, K. B. 199 Gassendi 67 Gauß 202, 203 Geldsetzer 199, 200, 203, 220, 237 Gelsetzer 17 Gent 82, 87, 103, 207, 219 George 135 Gloy 156 Görg 56, 154, 166, 168, 202, 220, 228-231 Gosztonyi 32, 38, 52, 64, 67, 71, 112, 128, 129, 136, 137, 144, 219 Goy 155 Greene 54 Harnack 105 Hartz 87 Hatfield 142, 145 Hegel 199, 202 Heidemann 152 Helmholtz 17, 211 Henke 199, 200, 202, 203, 216 Henry 55 Herrmann 21, 202, 210, 218, 220, 229-231 Herz 137 Hipparch 241 Hobbes 78 Hoffmeister 203 Hoppe 105 Humboldt 202 Hume 136 Hutton 54 Huygens 75, 86, 87 Jakobi 202 Jammer 32, 48, 53, 54, 68, 69, 129, 219 Janiak 25, 26, 44, 56, 58, 64, 65, 70, 76, 80, 89, 90, 113, 142, 143, 145 Janich 220 Janitsch 150 Kant 9-11, 14, 17-25, 28, 32, 39, 47, 48, 51, 72, 75, 76, 89, 102, 110, 112, 116, 118187, 189-201, 203, 206-209, 211-221, 223-232, 234-243, 245-247, 249, 251254, 256 Keill 124 Kepler 241 Kleinert 113 Kluge 11

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König 17, 18, 20, 199, 200, 203, 220, 227, 237, 255 Kopernikus 113, 241 Koriako 144 Kötter 200 Kreimendahl 137 Kuhn 255 Kühn 124 Kulenkampf 91 Kutschmann 33, 42, 57, 115 Lagrange 235 Lakatos 255 Lambert 136 Laplace 222, 238 Lasswitz 67 Leibniz 24, 25, 29, 32, 37, 39, 46, 47, 50, 52, 54, 55, 57, 58, 62, 67, 70, 75-90, 92, 98, 102, 104, 105, 107-109, 116118, 120-124, 129, 130, 134, 138, 142144, 147, 148, 158, 178, 193, 194, 199, 206, 250, 252 Liebmann 202 Locke 92, 143 Luther 113 Mach 31, 33, 98-100, 116, 211 Masterman 85 McGuire 55, 58, 65, 71 Mirarchi 101 More 55 Myhill 98 Nerlich 38, 39 Newton 9, 11, 14, 16, 23-73, 76-79, 81, 85, 86, 88-92, 94, 95, 99, 101-103, 109, 112-118, 121, 126, 129, 131, 141, 144, 145, 147-149, 151, 152, 158, 159, 161, 162, 169, 171, 173, 175, 180, 181, 184, 189-200, 204-206, 209, 212, 217, 224, 228, 238, 241, 242, 245, 247, 249, 250, 252, 253, 255 Palter 55, 68, 139, 161, 162, 175, 183-185, 186, 187 Paneth 126 Parsons 141 Plaaß 154-156, 160 Poincare 211 Pollok 122, 130, 154, 155, 158, 159, 164, 170, 176, 181, 187-189, 192 Popper 98 Poser 144 Power 54, 55 Pulte 17, 18, 21, 22, 29, 30, 34, 36, 38, 50, 51, 57, 69, 84, 85, 89, 98, 105, 108,

276

Register

113-115, 117, 122, 154, 159, 168, 173, 203, 206, 213, 219, 220 Rattansi 55, 65 Reich 136 Reichenbach 31, 45, 82, 87 Reinhold 199 Richards 30 Riehl 124, 130, 132, 150 Rømer 242 Ruffner 30 Rusnock 135 Rynasiewicz 25, 33, 36, 38, 40, 44, 75 Sachs–Hombach 202, 208 Sand 200 Schelling 199, 202, 212, 215, 216 Schiemann 17 Schleiden 203 Schliesser 26, 89 Schmalenbach 106 Schmucker 137 Schnädelbach 22 Schramm 54 Schüller 9, 52, 61, 69, 76, 83, 86, 171, 180 Schütz 155 Schwan 103 Shabel 143 Shapiro 30, 50, 55, 62 Silver 100, 101 Sklar 100 Slowik 55, 64, 70 Smith 30, 34, 106 Speiser 105, 106, 112, 119 Stein 49, 56, 57, 64, 113

Steinle 57, 58, 62, 171 Stephani 11 Strong 49, 55, 69 Suchting 104, 107 Tamny 58 Thackray 64 Timerding 49, 114, 116 Torreti 211 Trendelenburg 147 Unruh 70, 129 Vaihinger 144 van Dooren 199 van Zantwijk 202 Volder 82 Voltaire 30 von Kotzebue 200 Wahsner 30 Walford 134 Waschkies 127, 150 Watkins 27, 120, 121, 132, 173 Westfall 54-56, 64, 76, 78 Westphal 160 Whitman 9 Whitrow 98 Windheim 105 Winkler 100, 101 Wojtowicz 142, 147 Wolfers 104 Wolff 104, 105, 115, 127, 142 Wright 126 Wundt 199, 201, 202 Yeo 30

SACHREGISTER A priori 20, 73, 135, 139-149, 152-160, 163, 168, 172, 182, 184, 187, 194, 195, 197, 208, 209, 211, 217, 218, 222, 228, 230, 237, 238, 247, 249, 252, 255, 256 Akzidenz 53, 66-68, 149, 252 Aktionsprinzip 11, 34, 37, 42, 170, 173, 222, 234, 235, 237 Allgegenwart Gottes 25, 53, 55, 56, 58, 6466, 70, 77-80, 92, 96, 129, 149, 169 Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Kants 48, 120, 121, 126, 127, 130, 131, 134, 138, 183, 185.

An Essay Concerning Humane Understanding, Lockes 143 An original theory or new hypothesis of the Universe, Wrights 150 Anschauung 122, 133, 137, 139-148, 153, 155, 157-159, 161-163, 169, 176, 179, 183, 188-190, 194, 208-211, 237, 252 Antinomie 137, 138, 147, 167, 183, 194, 207, 252 Attraktion: s. Gravitation Ausdehnung 63, 64, 66, 67, 71, 73, 80, 109, 110, 112, 115, 124, 126, 132, 133, 143, 161, 167

Sachregister Aus den metaphysischen Anfangsgründen der Mathematik, Leibniz‘ 82 Begriff 139, 140, 142, 144-148, 150, 152, 154, 155, 157-160, 162, 163, 165, 168, 172, 173, 176, 183, 184, 209, 212, 213, 216, 218, 221, 222 Bewegung – absolute 11, 31, 33, 36-48, 50, 59-62, 67, 72, 73, 86, 93, 94, 97, 98, 101, 103, 104, 112, 114, 115, 177-181, 190, 191, 195, 196, 239, 247 – geradlinig-gleichförmige 14-16, 46, 49, 72, 86, 93, 94, 97, 98, 101, 103, 104, 112, 114, 115, 164, 166, 173, 177-181, 187, 188, 196, 205, 207, 212, 220, 222227, 234-237, 239, 240, 242-248, 254, 256 – kreisförmige 13-16, 32, 33, 42-46, 49, 50, 61, 72, 87, 94, 97, 99, 100, 127, 163, 176, 177, 179-181, 187, 188, 190-194, 196, 197, 221, 222, 239-241 – bei Berkeley 93-95, 97, 99-101, 105, 107, 108 – bei Descartes 29, 32, 39-43, 52, 57-62, 94, 95, 113 – bei Euler 103, 107, 110-115 – bei Fries 205, 207, 212, 220, 222-227, 234- 248, 253-256 – bei Kant 126-128, 130-134, 138, 153, 160-167, 170, 171, 173-193, 196-197, 224-226, 235-241 – bei Leibniz 86-88, 107, 178 – bei Newton, siehe absolute Bewegung Bewegungsgesetz, sog. 1. Newtonsches: siehe Trägheitsprinzip Bewegungsgesetz, sog. 2. Newtonsches: siehe Aktionsprinzip Bewegungsgesetz, sog. 3. Newtonsches: siehe Reaktionsprinzip Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke 26, 29, 32, 46, 47, 52, 54, 58, 70, 7590, 109, 121, 130, 142-144, 148, 178, 206 De Gravitatione, Newtons 25, 29, 30, 33, 35, 37-39, 41, 50-53, 55-71, 73, 79, 93, 109, 144,145 De Motu, Berkeleys 26, 81,95-99, 101, 150, 151 De Motu, Newtons 38 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, Kants 122, 134, 136, 142, 149,

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Dissertatio de Mathesi Prima, Gilberts 200 Eimerexperiment 16, 33, 40, 42-44, 59, 62, 72, 87, 94, 95, 98-100, 113, 192, 247 Enquiry Concerning Human Understanding, Humes 137 Entmetaphysierung 19, 22, 23, 28, 74, 102, 116, 248-256, Erhaltungssätze 77, 123, 172, 173, 234, 235 Experimental philosophy 30, 35, 50, 55 Fernwirkung 55, 56, 87, 98, 101, 108, 129, 167, 195, 229 Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, Kants 213-125, 128-130, 168 Geschichte der Philosophie, Fries‘ 136, 198, 200, 201, 204-206, 215, 228 Gott 17, 19, 23-25, 27, 32, 33, 47, 48, 50, 53-57, 61, 63-67, 70, 73, 74, 77-81, 84, 85, 90-92, 96, 97, 99, 109, 113, 118, 125, 126, 128-130, 137, 138, 149, 157, 167-169, 193, 194, 205-207, 209, 214, 232, 233, 245, 246, 249-251, 253-256 Gravitation 10, 14, 23, 24, 27, 32, 47, 48, 55, 56, 65, 73, 87, 96, 102, 118, 121, 123-130, 138, 153, 166-169, 171, 173, 190, 191, 193, 194, 220, 228, 230-233, 245, 246, 249-251, 253 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kants 155 Handbuch der Religionsphilosophie und philosophische Aesthetik, Fries‘ 220 Heuristische Maxime 212-217, 238, 243245, 254-257 Hydrostatics, Optics, Sound and Heat, Newtons 55, 64 Imaginatio 71, 72, 190 Idealismus – berkelyscher (dogmatischer) 75, 91, 93, 95, 101, 139, 149-152, 194 – kantischer (transzendentaler) 27, 75, 136, 137, 140, 141, 147-153, 169, 194, 207, 252 – leibnizscher 82, 83 – cartesischer (problematischer) 150, 151 Idee, bei Fries, 208, 210, 212-215, 219, 220, 232, 233, 241, 243, 245, 247, 248, 254 Idee, bei Kant – der Welt 126, 179, 183 – des absoluten Raumes 122, 126, 127, 153, 182-191, 195, 220, 225, 245, 247, 252, 253 – Gottes 169

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Register

Impetus 41, 60, 115 Inertialsystem 11-16, 35, 46, 50, 51, 72, 73, 88, 120, 165, 180, 187, 188, 189, 250 Intellectus 71, 72, 190 Kategorien, Aristoteles’ 67 Kraft 11-16, 21, 23, 33, 36-38, 41-46, 48, 50, 55, 58, 60, 61, 68, 72, 80, 85, 86, 93-101, 106, 107, 111, 113-116, 118, 121, 123-126, 130, 131, 151, 153, 159, 166-169, 171, 173-175, 179-181, 187, 191-193, 196, 197, 205, 214, 215, 218, 220, 222, 223, 228-236, 241, 243, 245247, 249, 250, 252-254, 256 Keplersche Gesetze 47, 48, 204 Kritik der reinen Vernunft, Kants 27, 75, 118, 122, 123, 130, 135-137, 139-158, 160, 163, 167, 170, 172-174, 176, 179, 183-185, 187, 189, 202, 207, 209, 210, 212, 220, 252 Kritik der Urteilskraft, Kants 22 Leitfragen 10, 16, 20-23, 51, 72, 73, 121, 196, 197, 245-247, 249-255 Lettres à une Princesse d’Allemagne, Eulers 103, 105, 112, 113, 115-117, 122, 199 Masse 42, 87, 99, 123, 171-173, 215, 220, 229-231, 234-237 Mathematische Naturphilosophie, Fries‘ 28, 198, 200, 203, 206, 207, 212, 214, 216246, 248, 254, 256, 257 Mathematischer Realismus 53, 68-71, 103 Materietheorie 56, 63, 64, 66, 67, 166-168, 171-173, 228-231 Mechanica sive motus scientia analytice exposita, Eulers 26, 102, 103, 104, 106, 110, 114, 116, 122 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Kants 10, 20, 26, 27, 102-104, 106, 110, 114, 116, 118, 122, 125, 126, 130-135, 139, 143, 150, 151, 153-198, 200, 203, 206, 214-221, 224, 225, 227, 229, 232, 234, 235, 239, 240, 252, 253 Monaden 83, 105, 106, 199 Monadologiam physicam, Kants 130, 167 Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, Fries‘ 26, 200-202, 207-210, 213, 214, 229, 235 Neuer Lehrbegriff der Bewegung und der Ruhe, Kants 123, 130-132, 174, 175, 182, 251

Normalzustand (geradlinige-gleichförmige Bewegung bei Fries) 220, 222, 235, 242-245, 247, 248, 255, 256 Nova dilucidatio, Kants 84, 123, 127-130, 134, 152 Optik, Newtons 29, 30, 32, 48, 53, 54, 57, 62, 76-78, 122, 204 Opus Postumum, Kants 154, 158 Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Newtons 8-10, 24, 25, 29-65, 68, 69, 72, 73, 86, 91-94, 103, 109, 112114, 120-122, 145, 153, 158, 159, 161, 167, 171, 173, 181, 193, 200, 202, 205, 206, 210, 221, 237, 250 Physik, Aristoteles‘ 39 Populäre Vorlesungen über die Sternenkunde, Fries‘ 200, 204, 242 Principia philosophiae, Descartes’ 39, 43, 57, 66, 70, 113, 114 Prolegomena, Kants 19, 118, 148, 151, 152, 168, 169 Quaestiones, Newtons 50, 54, 58, 171 Reaktionsprinzip 11, 12, 34, 132, 170, 173, 175, 205, 213, 214, 234-237, 240, 241, 243, 245, 247, 255, 256 Realismus, empirischer 140, 146-149 Réflexions sur l’espace et le temps, Euler 26, 103-109, 116, 117, 122, 132, 133, 135, 144 Repulsion 166-168, 228, 229 Royal Society 54, 57 Satz vom hinreichenden Grund 79-81, 84, 85, 88, 90, 108, 116, 128, 250 Satz vom Widerspruch 79, 127, 128, 250 Schwerpunktsystem 45, 48-50, 73, 97, 98, 127, 174, 175, 182, 185, 188, 192, 195, 214, 219, 225, 236, 237, 241, 244, 245, 247, 251, 252, 254 Substanz 53, 64, 66, 67, 78, 79, 91, 112, 124-126, 128-130, 132, 138, 149, 151, 152, 172-174, 193, 209, 228, 234 System der Metaphysik, Fries‘ 200, 213, 219, 236, 242, 243 System der Philosophie, Fries‘ 220 Systematische Trias (Gott/Vernunft, Raum, Gravitation) 23-25, 27, 28, 65, 66, 73, 74, 118, 125, 138, 169, 170, 193, 194, 195, 211, 231-233, 245, 246, 249-254 Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum, Eulers 26, 103, 110-113, 115, 116, 122,

Sachregister Three Dialogues between Hylas and Philonous, Berkeleys 150, 151 Trägheit 11, 14, 15, 85, 102, 107, 108, 112, 114-116, 158, 235, 236, 256 Trägheitskraft (vis inertia) 115, 130, 173, 197, 235, 249, 252, 256 Trägheitsprinzip 11, 34, 53, 120, 170, 173, 235, 236, 251 Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, Berkeleys 26, 91-99, 101, 126 Unitarismus 65, 76 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume, Kants 122, 132-138. 194, 251 Versuch über den menschlichen Verstand, Lockes 143 Wirbeltheorie 41, 61 Wissenschaftskonzeption, klassische 16-22, 24, 35, 74, 90, 99, 100, 117, 156, 157, 196, 218, 219, 250, 251, 253 Wissenschaftskonzeption, moderne 16-22, 34, 35, 74, 90, 99, 100, 117, 196-198, 203, 204, 212, 218, 219, 245-251, 253256 Zentrifugalkraft 11, 13-15, 42, 43, 45, 192, 193, 196, 197, 250, 252, 253, 256

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boethius Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften

Begründet von Joseph Ehrenfried Hofmann, Friedrich Klemm und Bernhard Sticker. Herausgegeben von Menso Folkerts und Richard L. Kremer.

Franz Steiner Verlag

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ISSN 0523–8226

Astrid Schürmann Griechische Mechanik und antike Gesellschaft Studien zur staatlichen Förderung einer technischen Wissenschaft 1991. X, 348 S., kt. ISBN 978-3-515-05853-7 Dieter Herbert Die Entstehung des Tensorkalküls Von den Anfängen in der Elastizitätstheorie bis zur Verwendung in der Baustatik 1991. IV, 318 S., 3 Faltktn., kt. ISBN 978-3-515-06019-6 Volker Bialas (Hg.) Naturgesetzlichkeit und Kosmologie in der Geschichte Festschrift für Ulrich Grigull 1992. 116 S., kt. ISBN 978-3-515-06080-6 Freddy Litten Astronomie in Bayern 1914–1945 1992. XII, 329 S., kt. ISBN 978-3-515-06092-9 David Cahan (Hg.) Letters of Hermann von Helmholtz to his Parents The Medical Education of a German Scientist 1837–1846 1993. X, 133 S., 15 Taf., kt. ISBN 978-3-515-06225-1 Detlef Haberland (Hg.) Engelbert Kaempfer. Werk und Wirkung Vorträge der Symposien in Lemgo (19.– 22.9.1990) und in Tokyo (15.–18.12.1990). Hg. im Auftrag der Engelbert-KämpferGesellschaft (Lemgo) und des Deutschen Instituts für Japanstudien 1993. 472 S. mit 114 Abb., kt. ISBN 978-3-515-05995-4 Ellen Jahn Die Cholera in Medizin und Pharmazie Im Zeitalter des Hygienikers Max von Pettenkofer

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2005. XIX, 395 S. mit 139 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08768-1 Harald Siebert Die große kosmologische Kontroverse Rekonstruktionsversuche anhand des Itinerarium exstaticum von Athanasius Kircher SJ (1602–1680) 2006. 383 S. mit 13 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08731-5 David A. King Astrolabes and Angels, Epigrams and Enigmas From Regiomontanus’ Acrostic for Cardinal Bessarion to Piero della Francesca’s Flagellation of Christ 2007. XI, 348 S. mit zahlr. z.T. farb. Abb. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-09061-2 H. L. L. Busard (†) Nicole Oresme, Questiones super geometriam Euclidis 2010. VII, 199 S. mit 41 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09287-6 Hartmut Hecht / Regina Mikosch / Ingo Schwarz / Harald Siebert / Romy Werther (Hg.) Kosmos und Zahl Beiträge zur Mathematik- und Astronomiegeschichte, zu Alexander von Humboldt und Leibniz 510 S. mit zahlr. Abb., geb. ISBN 978-3-515-09176-3 Horst Kranz / Walter Oberschelp Mechanisches Memorieren und Chiffrieren um 1430 Johannes Fontanas Tractatus de instrumentis artis memorie 2009. 167 S. mit 33 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09296-8 Anne-Marie Vlasschaert (Éd.) Le Liber mahameleth Édition critique et commentaires 2010. 613 S. mit zahlr. Abb., geb. ISBN 978-3-515-09238-8 Renate Tobies „Morgen möchte ich wieder 100 herrliche Sachen ausrechnen“ Iris Runge bei Osram und Telefunken. Mit einem Geleitwort von Helmut Neunzert 2010. 412 S. mit 21 Abb., 13 Tab. und Dokumentenanh. sowie 52 Abb. auf 16 Taf., geb. ISBN 978-3-515-09638-6

62. Paul Kunitzsch / Richard Lorch (Hg.) Theodosius: Sphaerica Arabic and Medieval Latin Translations 2010. 431 S. mit 77 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09288-3 63. Gregor Schuchardt Fakt, Ideologie, System Die Geschichte der ostdeutschen Alexander von Humboldt-Forschung 2010. 370 S. mit 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09777-2 64. Bernd Klengel Über Galvanismus und deutsche Träumereien Zur Rezeption romantischer Naturforschung in Frankreich zwischen 1800 und 1820 2010. 180 S. mit 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09780-2 65. Horst Kranz (Hg.) Johannes Fontana: Opera iuvenalia de rotis horologiis et mensuris / Jugendwerke über Räder, Uhren und Messungen 2011. 544 S. mit 132 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09909-2 66. Horst Kranz (Hg.) Johannes Fontana: „Liber instrumentorum iconographicus“ / Ein illustriertes Maschinenbuch 2014. 192 S. mit 136 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10660-3 67. Harald Siebert Die ptolemäische „Optik“ in Spät­ antike und byzantinischer Zeit Historiographische Dekonstruktion, textliche Neuerschließung, Rekontextualisierung 2014. 575 S. mit 12 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10812-6 68. Horst Kranz (Hg.) Methoden des Erinnerns und Vergessens Johannes Fontanas „Secretum de thesauro experimentorum ymaginationis hominum“ 2016. 249 S. mit 52 Abb. 7 Graf. und 2 Tab., geb. ISBN 978-3-515-11583-4 69. Gunthild Peters Zwei Gulden vom Fuder Mathematik der Fassmessung und praktisches Visierwissen im 15. Jahrhundert 2018. 344 S. mit 83 Abb., geb. ISBN 978-3-515-12052-4

Die Principia Isaac Newtons (1643–1727) gelten als zentraler Beitrag zur klassischen Mechanik. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass es sich bei diesem Werk lediglich um den Anfangspunkt einer jahrhundertelangen Entwicklung handelt, an deren Ende das steht, was heute als klassische Mechanik bezeichnet wird. Dies gilt insbesondere für Newtons Raumtheorie: Newtons absoluter Raum hat nicht nur zentrale Bedeutung für seine Mechanik, sondern auch für seine Metaphysik. Der Einfluss metaphysischer Überlegungen auf das Werk Newtons wird in der Forschung jedoch häufig heruntergespielt.

Erdmann Görg nimmt in diesem Band die Verbindung physikalischer und metaphysischer Überlegungen in der Raumtheorie Newtons in den Blick und untersucht davon ausgehend die Entmetaphysierung des Raumes im 18. und 19. Jahrhundert anhand der Position Immanuel Kants (1724–1804) und der noch kaum erforschten Raumtheorie Jakob Friedrich Fries’ (1773–1843). Indem Görg die Konzeptionen von Raum, Gott und Gravitation bei Newton, Kant und Fries ins Verhältnis setzt, kann er ein vollständigeres Bild der Entwicklung der klassischen Mechanik zeichnen.

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ISBN 978-3-515-11780-7

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