Radikale Demokratie. Zum Staatsverständnis von Chantal Mou!e und Ernesto Laclau 9783848741915, 9783845284606


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German Pages 252 [251] Year 2020

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Radikale Demokratie. Zum Staatsverständnis von Chantal Mou!e und Ernesto Laclau
 9783848741915, 9783845284606

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Pier Paolo Portinaro, Torino Tine Stein, Kiel Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 104

Andreas Hetzel [Hrsg.]

Radikale Demokratie Zum Staatsverständnis von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau

© Titelbild: Mechthild Stubbe-Hetzel

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4191-5 (Print) ISBN 978-3-8452-8460-6 (ePDF)

1. Auflage 2017 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Globalisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« immer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsverständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Weimarer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang nicht verzichtet werden.

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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmittelbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

Andreas Hetzel Vorwort

I.

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Einflüsse und Debatten

Ingo Pohn-Lauggas Integraler Staat und radikale Demokratie. Hegemonie und Staatsmacht bei Gramsci und Laclau/Mouffe

21

Ingo Elbe Politische Macht, Faschismus und Ideologie. Ernesto Laclaus Auseinandersetzung mit Nicos Poulantzas

39

Liza Mattutat/Felix Breuning Unfreiwillig mit Schmitt. Die Rezeption Carl Schmitts in der Demokratietheorie Chantal Mouffes

65

II.

Zur staatstheoretischen Relevanz radikaldemokratischen Denkens

Anja Rüdiger Hegemonie als ethische Praxis. Zu den Strategien sozialer Bewegungen im neoliberalen Staat

85

Manon Westphal Reform und Innovation als Strategien einer radikaldemokratischen Kritik staatlicher Institutionen

107

Alfred Schäfer Bildung und Humankapital. Zur Interdiskursivität als hegemoniale Strategie staatlicher Steuerungsrhetorik

127

7

III.

Konfigurationen von Staatlichkeit heute

Simon Bohn Rechtspopulismus und radikale Demokratie. Eine Verhältnisbestimmung in Anbetracht der Protestbewegung PEGIDA

151

Joscha Wullweber Staat und Ökonomie als Diskursformationen

171

Susanne-Verena Schwarz Agonistische Öffentlichkeiten bei Chantal Mouffe: Zwischen lebendiger Demokratie und Populismus

193

Stefanie Wöhl Demokratie vs. multiple Krisen – Eine hegemonietheoretische Perspektive auf die Europäische Union

231

Verzeichnis der Beitragenden

249

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Andreas Hetzel Vorwort

Für die Klassiker der neuzeitlichen politischen Theorie von Hobbes über Locke, Rousseau, Montesquieu, Kant und Hegel bis hin zu Schmitt und Habermas verbindet sich die Frage nach dem Wesen des Politischen unlösbar mit der Frage nach der Legitimierbarkeit staatlicher Herrschaft. Begriff und Wirklichkeit des Staates stehen wie selbstverständlich im Zentrum der neuzeitlichen Politischen Theorie, der Staat gilt gewissermaßen als das politischste aller politischen Phänomene. Im Primat, der dem Begriff des Staates zukommt, findet das sich im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg etablierende Westfälische System souveräner Nationalstaaten seinen theoretischen Ausdruck. Diese Nationalstaaten sind definiert durch ein klar umgrenztes Staatsgebiet, durch ein auf diesem Gebiet ansässiges Volk sowie schließlich durch diejenige Instanz, der eine Hoheit oder Macht über dieses Gebiet und Volk zukommt.1 In unserer heutigen Zeit verliert nicht nur die Einheit von Staat und Politik ihre Selbstverständlichkeit, sondern auch die Idee und die Wirklichkeit des Staates selbst. Waren es in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch herrschaftskritische Ansätze, die ihn als Inbegriff einer zentralisierten Macht und einer auf Dauer gestellten Repression zu überwinden suchten, sehen gegenwärtig neoliberale Verfechter einer Deregulation der Märkte im Staat wenig mehr als ein Hindernis für ein ungebremstes wirtschaftliches Wachstum. Auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert hat zumindest in der westlichen Hemisphäre der Staat selbst die Deregulierung zum Programm erhoben und betreibt seine eigene Abschaffung. Besonders deutlich manifestiert sich dies in der Politik des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, der sein Amt im Januar 2017 mit dem Versprechen antritt, den ‚Regierungsapparat‘ abzubauen, und der alle wichtigen Ministerien mit Staatsskeptikern besetzt. Der Staat scheint damit von genau derjenigen politischen Bühne zu verschwinden, die er einst bereitstellte und verkörperte. Nach außen tritt er Kompetenzen an überstaatliche Politiknetzwerke und Bürokratien ab, nach innen an Expertengremien und Lobbyisten.2 Er wird, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel das einst sehr hellsichtig voraussagte, zu einer „allgemeinen Beute“3

1 Vgl. Jellinek 1900. 2 Vgl. Leif/Speth 2006; Hetzel/Unterthurner 2016. 3 Hegel 1990, S. 438.

9

auf dem „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle“4, als den Hegel einen Markt verstand, der nicht länger von außen reguliert würde. Vor diesem Hintergrund mag es nicht verwundern, dass linke TheoretikerInnen, die den Staat noch in den späten 1960er Jahren mit einem zu überwindenden ‚ideologischen Staatsapparat‘ identifizierten, heute für den Erhalt des Staates und staatlicher Institutionen plädieren, da nur der Staat die Gesellschaft davor bewahren könne, vollständig von marktförmigen Mechanismen kolonialisiert zu werden. Dies gilt, wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, auch und gerade für die radikaldemokratische Position von Ernesto Laclau und (1935–2014) Chantal Mouffe (*1943)..5+6 Seit der Veröffentlichung ihres gemeinsamen Hauptwerks Hegemonie und radikale Demokratie im Jahr 1985 gelten Laclau und Mouffe als wichtigste Vertreter eines postmarxistischen Denkens, das am emanzipatorischen Anspruch der Marxʼschen Theorie festhalten möchte, ohne deren geschichtsphilosophischen und ökonomistischen Determinismus beerben zu wollen. Laclau und Mouffe bemühen sich darum, das Projekt des Marxismus im Sinne einer Radikalisierung und Vertiefung von Demokratisierungsprozessen fortzusetzen, wobei sie auch und gerade staatliche Institutionen als demokratisierungsbedürftig thematisieren. Mouffe formuliert in diesem Sinne einen „call for a radicalization of liberal democratic institutions“7, welche die Voraussetzung für eine Erweiterung von zivilgesellschaftlichen Demokratisierungsprozessen wäre. Als ‚radikal‘ versteht sich die politische Theorie des Autorenpaares vor allem insofern, als sie keine transzendentalen Rahmenbedingungen, Verfahren oder Institutionalisierungsformen von Demokratie zulässt, die nicht selbst wieder in demokratischen Auseinandersetzungen in Frage gestellt werden könnten. Demokratie legitimiert sich dann über ihre Kontingenz und Konflikthaftigkeit, nicht dagegen über einen Rekurs auf universale Werte oder kategoriale Rechtsprinzipien, die die demokratische Auseinandersetzung von außen begrenzen könnten. Normativ gehaltvoll wird Demokratie hier einzig durch die Positivierung ihrer leeren Mitte, durch die Abweisung aller Versuche, diese leere Mitte mit konkreten Inhalten oder Institutionen zu besetzen. Laclau und Mouffe kritisieren ebenso einen Liberalismus, der versucht, das Politische durch eine Reduktion auf Marktmechanismen zu neutralisieren, wie die kommunitaristische Vorstellung, man könne sich unter Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft weiterhin auf die substantiellen Wertvorstellungen traditionaler Gemeinschaften beziehen. Demokratie fassen sie demgegenüber agonistisch, als offene Auseinandersetzung zwischen sich respektierenden Gegnern, die jeweils ver4 5 6 7

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Ebd., S. 458. Vgl. Laclau/Mouffe 2000; Marchart 1998. Die folgenden Überlegungen beruhen auf Hetzel 2009. Oppelt/Mouffe 2014, S. 264.

suchen, die Hegemonie im diskursiven Raum der Öffentlichkeit zu gewinnen. Nicht die Deliberation sondern der Kampf um Hegemonie gilt ihnen als zentrales Charakteristikum des Politischen. Damit der Kampf um Hegemonie nicht zu einem Krieg und der Gegner nicht zu einem Feind wird, muss sich die demokratische Auseinandersetzung in institutionellen Bahnen bewegen, die nur der Staat bereitstellen kann: „[T]he aim of democratic politics is to transform antagonism into agonism. This requires providing channels through which collective passions will be given ways to express themselves over issues which, while allowing enough possibility for identification, will not construct the opponent as an enemy but as an adversary”8.

Diese Kanäle können nur institutionalisierte Verfahren wie Wahlen und Formen einer repräsentativen Demokratie bilden. Wird der Staat in seiner Existenz bedroht, sind davon auch die Demokratie und die Möglichkeit des Politischen überhaupt betroffen: „Wenn parlamentarische Institutionen zerstört oder geschwächt werden, verschwindet die Möglichkeit einer agonistischen Konfrontation und wird durch ein antagonistisches Wir/Sie ersetzt. Man denke etwa an das Beispiel Deutschlands und an die Art und Weise, in der die Juden mit dem Zusammenbruch der parlamentarischen Politik zu einem antagonistischen ‚Sie‘ wurden. Die Gegner der parlamentarischen Demokratie der Linken täten gut daran, über dieses Beispiel nachzudenken!“9

Im Gegensatz zu anderen postmarxistischen Autoren wie Alain Badiou, Slavoj Žižek oder Jacques Rancière, für die der heutige Nationalstaat insofern eine Allianz mit dem Kapitalismus eingegangen ist, als er weitgehend darin aufgeht, Formen sozialer Ungleichheit und Monopolstellungen von Konzernen mit außerökonomischen Mitteln zu verteidigen,10 sehen Laclau und Mouffe im Staat eine mögliche Einspruchsinstanz gegen die Ökonomisierung des Politischen und die damit einhergehende Kommodifizierung, also gegen den Übergang von in die Gesellschaft eingebetteten Märkten zu entbetteten Marktgesellschaften.11 Als Antwort auf die Globalisierung der Märkte fordert Mouffe die Etablierung transnationaler politischer Institutionen, die die Nationalstaaten in ihrer Kraft der Bändigung von Märkten beerben. Sie plädiert in diesem Zusammenhang insbesondere für ein Europa, das über eine bloße Wirtschaftszone hinausgeht: „Ich für meinen Teil bin überzeugt, dass nur auf der europäischen Ebene eine effektive Antwort auf den Neoliberalismus beginnen kann, Form anzunehmen.“12 Ein radikaldemokratisches linkes Projekt könne heute

8 9 10 11

Mouffe 2000, S. 103; vgl. auch Mouffe 2007. Ebd., S. 33-34. Vgl. Badiou 2003; Rancière 2002; Žižek 2001; vgl. hierzu ausführlicher Hetzel 2009. Vgl. zur staatstheoretischen Relevanz des Denkens von Laclau und Mouffe insgesamt auch Marchart 2009. 12 Mouffe 2005, S. 44.

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„nur ein europäisches sein“13. Was „Europa“ hier bedeutet, kann selbst wiederum nur das Ergebnis demokratischer Auseinandersetzungen sein. Auf keinen Fall könne Europa die Vernunft oder den Kosmopolitismus verkörpern. Gegen den Kosmopolitismus eines Jürgen Habermas, der in Europa ein Vorbild für eine neue, universalistische Weltordnung sieht, plädiert Mouffe entschieden für eine multipolare Welt14, in der den Einzelstaaten nach wie vor eine zentrale Rolle zukommt. Sie richtet sich explizit gegen einen „demokratischen Transnationalismus“ wie gegen den „traditionellen Liberalismus“, die beide „den Staat für das Hauptproblem halten und die Lösung in der Zivilgesellschaft sehen“15. Zentral für ihre Vision Europas wird das Modell eines Wohlfahrtsstaats: „Ich möchte argumentieren, dass ein zentraler Bereich genau die Verteidigung der Institutionen des Wohlfahrtsstaates sein sollte, die den Kern der europäischen Identität ausmacht.“16 Sie wendet sich hier explizit gegen die „falsche Opposition von Zivilgesellschaft und dem Staat“17. Auch und gerade dem Staat komme eine „wichtige Rolle in der Bekämpfung“ ökonomischer „Unterdrückungsformen“18 zu. Damit entkräftet sie einerseits eine Kritik die unterstellt, der Diskurs der radikalen Demokratie fokussiere nur die Zivilgesellschaft19, andererseits den Einwand von Slavoj Žižek, das radikaldemokratische Denken würde zur Konzeption einer „reinen Politik“ tendieren, deren Horizont „keinen Platz für eine Marxʼsche ‚Kritik der politischen Ökonomie‘“20 zuließe. Mit ihrem Plädoyer für eine Stärkung des Wohlfahrtsstaates möchte Mouffe nicht, wie Ulrich Beck und Anthony Giddens, die Theoretiker einer sogenannten „Zweiten Moderne“, für „die ‚Modernisierung’ des Wohlfahrtsstaates eintreten, sondern für seine radikale Demokratisierung“21. Dies bedeutet, dass auch und gerade Fragen der gesellschaftlichen Verteilung demokratisch entschieden werden müssen. Zurzeit schütze der Staat tendenziell eher die Ungleichheit der Vermögensverhältnisse vor ihrer Demokratisierung, erhöhe die Klassengegensätze, erzeuge soziale Spannungen und bedrohe damit mittelfristig seine eigene Existenz. Mouffe formuliert in Bezug auf eine Demokratisierung der Vermögensverhältnisse konkrete Forderungen, und zwar 1) eine Verringerung der Arbeitszeit und Umverteilung der fest angestellten Beschäftigungsverhältnisse, 2) eine Ermutigung zu Non-Profit-Aktivitäten, die sowohl mit privaten wie mit öffentlichen Mitteln unterstützt werden, 3)

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Ebd., S. 61. Vgl. Mouffe 2010, S. 118ff. Ebd., S. 123. Ebd., S. 45. Ebd. Ebd. Hirsch 2007, S. 162. Žižek 2002, S. 97. Mouffe 2005, S. 46.

die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens, um so die Stigmatisierung der Ärmsten zu beenden.22 Gegen das radikaldemokratische Denken wird immer wieder der Einwand erhoben, es habe ein staats- und institutionentheoretisches Defizit. So wirft Dirk Jörke der agonistischen Politikauffassung von Laclau und Mouffe vor, „dass durch die Hervorhebung des diskursiven und daher prinzipiell variablen Charakters sämtlicher sozialen Phänomene die institutionelle Ebene zu sehr vernachlässigt wird [...]. Dies hat insofern unliebsame demokratietheoretische Konsequenzen, als dadurch die konkreten institutionellen Arrangements moderner Gesellschaften, die den heutigen Unterdrückungsverhältnissen zugrunde liegen und dafür Sorge tragen, dass demokratische Strukturen und Verhaltensmuster gesamtgesellschaftlich eher die Ausnahme darstellen sowie bestimmte Bevölkerungsgruppen vom Prozess der politischen Willensbildung mehr oder weniger stark ausgeschlossen werden, nicht genügend beachtet werden.“23

Mit dem Vorwurf einer Blindheit auf dem institutionentheoretischen Auge verbindet Jörke den weiteren Kritikpunkt, dass das radikaldemokratische Plädoyer für größtmögliche Freiheit und Gleichheit seine normativen Grundlagen nicht ausweisen könne. Der „normative Kerngehalt droht bei Mouffe zu verschwinden“24. Jörkes Kritik übersieht zum einen, dass der radikaldemokratische Diskurs die Frage nach den Institutionen, wie wir gesehen haben, nicht einfach ausblendet, sondern sich vor allem für Instituierungsprozesse interessiert, Institutionen mithin nicht einfach als gegeben voraussetzt, sondern als Resultat eines sie allererst konstituierenden Kampfes um Hegemonie interpretiert. Für Moufe ist „die Verfassung [von] Institutionen Teil der agonistischen Diskussion“.25 Institutionen gehen aus politischen Kämpfen hervor, werden in politischen Kämpfen (um-)definiert und zur Debatte gestellt. Zum anderen zielt Jörkes Vorwurf, Laclau und Mouffe würden die normativen Möglichkeitsbedingungen radikaler Demokratie nicht ausweisen können, am postfundationalistischen Charakter des radikaldemokratischen Diskurses vorbei. In der Tradition des Neukantianismus vermag Jörke Normativität scheinbar nur im Sinne der Befolgung einer Regel zu denken, die einem politischen Feld abstrakt aufoktroyiert wird. Laclau und Mouffe finden demgegenüber eine normative Orientierung in der Unmöglichkeit, eine solche Regel zu finden, in der wechselseitigen Entzogenheit der Akteure der politischen Auseinandersetzung, mithin in einer Konzeption von Normativität ohne Norm.26

22 Ebd., S. 60. 23 Jörke 2005, S. 181/182. – Auch Michael Hirsch beklagt einen institutionentheoretischen Differenzierungsverlust postmarxistischer Ansätze, die den Staat, Inbegriff „geordneter Verfahren der Legitimation von Entscheidungen über den Einsatz seiner Gewaltmittel aus dem Blick verlieren.“ (Hirsch 2007, 8) 24 Jörke 2005, S. 182. 25 Mouffe 2010, S. 158. 26 Vgl. Hetzel 2014.

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Die von Jörke und anderen geübte Kritik soll in diesem Band auf ihre Berechtigung geprüft werden. Zwar sucht man eine explizite und ausgefaltete Staatstheorie im Werk von Laclau und Mouffe vergebens. Gleichwohl spielt das Konzept des Staates wie das staatlicher Institutionen im radikaldemokratischen Denken eine wichtige Rolle als Widerstandspunkt gegen den Neoliberalismus. Laclau und Mouffe gehen damit explizit auf Distanz zur staatskritischen „leninistischen Tradition des totalen revolutionären Bruchs und betonen, daß [ihr] Verständnis von radikaler Demokratie an den Institutionen der sogenannten ‚formalen Demokratie‘ festhält“27, ohne diese Institutionen allerdings zu essentialisieren. Was Demokratie ist und wie sie staatlich institutionalisiert werden kann, steht für Laclau und Mouffe in den demokratischen Prozessen selbst zur Debatte. Diese Prozesse artikulieren sich allerdings immer schon in bereits bestehenden Institutionen, denen es theoretisch wie praktisch Rechnung zu tragen gilt. Darüber hinaus bietet das Denken von Laclau und Mouffe interessante Ansatzpunkte für ein verändertes Denken des Staates. Wie jeder andere Begriff wäre auch derjenige des Staates aus radikaldemokratischer Sicht nicht einfach vorauszusetzen, sondern zu politisieren, d.h. als Schauplatz eines Kampfes um Bedeutungen zu begreifen. Wie sich der Staat definiert oder definieren könnte, ist heute selbst Teil einer politischen Auseinandersetzung. Der Staat bildet also zunächst einen ‚leeren Signifikanten‘28 im Sinne Laclaus, einen Kreuzungspunkt verschiedenster diskursiver und gesellschaftlicher Konfliktlinien. Ein Teil der folgenden Beiträge wurde auf einem Workshop in Hannover am 18.06.2016 präsentiert und diskutiert. Ich danke dem Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (fiph), insbesondere Jürgen Manemann, Anna Maria Hauk und Agnes Wankmüller, für Unterstützung und Gastfreundschaft. Die Beiträge des Bandes setzen sich zum Ziel, die staatstheoretischen Implikationen und Konsequenzen der radikaldemokratischen Theorie von Laclau und Mouffe zu klären. In einer ersten Sektion werden die wichtigsten ideengeschichtliche Einflüsse (Gramsci, Schmitt) benannt sowie Debatten mit zeitgenössischen Positionen (Poulantzas) nachgezeichnet. Den Anfang macht ein Text von Ingo Pohn-Lauggas, der der Rezeption Antonio Gramscis im radikaldemokratischen (Staats-)Denken von Laclau und Mouffe nachgeht. Dabei wird insbesondere gezeigt, dass und wie Gramscis Begriff des integralen Staates in die Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe Eingang gefunden hat. Zugleich wird die radikaldemokratische Thematisierung des Staates aus gramscianischer Perspektive kritisch befragt. – Ingo Elbe rekonstruiert in seinem Beitrag Laclaus Auseinandersetzung mit Nicos Poulantzas, dessen Schriften aus den 1960er und 70er Jahren einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des Werkes von Laclau hatten. Während Laclau zunächst immanente 27 Mouffe 2010, S. 71. 28 Vgl. Laclau 2002, S. 65-78; Hetzel 2017.

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Kritik am Formalismus der Grundkategorien des strukturalen Marxismus übt und dabei auf eine Historisierung des Politikbegriffs drängt, bereitet vor allem seine Kritik an Poulantzasʼ Faschismusanalyse einen grundlegenden Umbau des marxistischen Theoriegerüsts vor. Der ‚populare‘ Diskurs, die antagonistische Reklamation des partikularen Gemeinwesens, wird für Laclau dabei zum zentralen Modus sozialer Kämpfe, die damit ideologische Gehalte aufwiesen, die nicht auf Klasseninteressen reduzierbar seien. Elbe zeigt, in welch problematische Gefilde eines linken Nationalismus sich Laclau mit seinem positiven Bezug auf die KPD-Programmatik einer ‚nationalen und sozialen Befreiung‘ begibt. – Liza Mattutat und Felix Breuning untersuchen die Spuren Carl Schmitts im Werk von Chantal Mouffe. Sie machen deutlich, wie Mouffe Schmittsche Argumente für ihre Kritik deliberativer Demokratietheorien nutzt, sich aber immer wieder auch von Schmitt zu distanzieren sucht. In letzter Konsequenz bleibe ihr radikaldemokratisches Denken allerdings gerade den problematischen Konsequenzen von Schmitts Theorie des Antagonismus verhaftet. Eine zweite Sektion von Texten behandelt die staatstheoretische Relevanz von zentralen theoretischen Konzepten Laclaus und Mouffes wie Diskurs, Hegemonie, Antagonismus und leerer Signifikant. Den Auftakt macht hier Anja Rüdiger, die auf die Erschließungskraft der Laclau-Mouffeʼschen Hegemonietheorie für ein adäquates Verständnis sozialer Bewegungen hinweist und zugleich vorschlägt, das Konzept einer hegemonialen Praxis um eine politische Ethik der Gleichgewichtung (equity) zu ergänzen. – Manon Westphal untersucht unterschiedliche Möglichkeiten, das Verhältnis von staatlichen Institutionen und radikaler Demokratie im Denken von Laclau und Mouffe zu deuten. Sie zeigt dabei, dass das kritische Befragen existierender und das Schaffen neuer Institutionen zwei mögliche radikaldemokratische Antworten auf die Frage nach der Rolle des Staates in der Demokratie sein könnten. – Alfred Schäfer nutzt die radikaldemokratische Theorie staatlicher Institutionen für eine Beschreibung des Schulsystems. Eine radikaldemokratische Perspektive geht aus seiner Sicht davon aus, dass staatliche Instituierungspraktiken keiner vorab bestimmbaren Logik oder Rationalität folgen. Insofern stellt sich die Frage, wie Problembestimmungen und Lösungsperspektiven im Bildungssektor einen hegemonialen Status gewinnen können, wie ihnen, obwohl sie sich argumentativ nicht begründen lassen, gleichwohl der Schein einer unumgänglichen Notwendigkeit verliehen werden kann. In der dritten Sektion von Beiträgen wird schließlich nach der Relevanz radikaldemokratischen Denkens für ein umfassendes Verständnis von Staatlichkeit heute gefragt. Simon Bohn untersucht hier zunächst die diagnostische Kraft des Populismuskonzepts von Laclau und Mouffe für das Phänomen PEGIDA. Im Zentrum steht weiter die Frage, wodurch die Politik der PEGIDA-Bewegung als populistisch ausgewiesen werden und in welche Richtung eine radikaldemokratische Theorie des

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Populismus weiterentwickelt werden könnte. – Joscha Wullweber befasst sich mit der Relevanz des Ansatzes von Laclau und Mouffe für ein Verständnis von Wissenschaft als staatlicher Institution. Im Mittelpunkt steht hier eine Deutung von Innovationspolitik als einem gesellschaftspolitischen Prozess, der bestimmte technische Entwicklungen als erwünscht erscheinen lässt und durchzusetzen sucht. Der Artikel verdeutlicht dies am Beispiel von deutschen Forschungsinitiativen im Kontext der Nanotechnologie, deren Förderung als Teil einer umfassenderen Strategie der Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit gelesen wird. – Susanne-Verena Schwarz thematisiert ausgehend von Mouffe die Trias von agonistischer Öffentlichkeit, Staat und Populismus. Sie zeigt dabei vor allem, dass sich Mouffes Position sehr gut eignet, sowohl einen gehaltvollen Begriff von Öffentlichkeit zu entwickeln als auch argumentative Ressourcen gegen aktuelle Tendenzen einer Verleugnung und Überschreibung von Öffentlichkeiten bereitzustellen. – Stefanie Wöhl wirft abschließend einen hegemonietheoretisch informierten Blick auf den europäischen Einigungsprozess. Im Mittelpunkt steht hier die Frage, welche Konsequenzen der Diskurs der radikalen Demokratie für die Frage einer Staatlichkeit transnationaler Institutionen hätte.

Literatur Badiou, Alain, 2003 [1998]: Über Metapolitik. Zürich/Berlin 2003. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 1990 [1820]: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Werkausgabe, Bd. 7, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. Hetzel, Andreas, 2009: Der Staat im Diskurs der radikalen Demokratie. In: Rüdiger Voigt/ Michael Hirsch (Hg.), Der Staat in der Post-Demokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. Stuttgart, S. 171–189. Hetzel, Andreas, 2014: Zur paradoxen Konstruktion des ethischen Lebens. Laclau über unbedingte moralische Ansprüche. In: Alfred Schäfer (Hg.), Hegemonie und autorisierende Verführung. Zum Verhältnis von Politischem und Pädagogischem. Paderborn, S. 25–40. Hetzel, Andreas, 2017: Eine Politik der Dislokation. Laclaus verallgemeinerte Rhetorik. In: Oliver Marchart (Hg.), Ordnungen des Politischen. Einsätze und Wirkungen der Hegemonietheorie Ernesto Laclaus. Wiesbaden, 139–158. Hirsch, Michael, 2007: Die zwei Seiten der Entpolitisierung. Zur politischen Theorie der Gegenwart. Stuttgart. Jellinek, Georg, 1900: Allgemeine Staatslehre (= Recht des modernen Staates, Bd. 1). Berlin. Jörke, Dirk, 2005: Die Agonalität des Demokratischen: Chantal Mouffe. In: Oliver Flügel/ Reinhard Heil/Andreas Hetzel (Hg.), Die Rückkehr des Politischen. Darmstadt, S. 164– 184. Laclau, Ernesto, 2002 [1996]: Emanzipation und Differenz. Wien. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, 2000 [1985]: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien.

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Leif, Thomas/Speth, Rudolf (Hg.), 2006: Die fünfte Gewalt: Lobbyismus in Deutschland. Bonn. Marchart, Oliver (Hg.), 1998: Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus. Wien/Berlin. Marchart, Oliver, 2009: Politik ohne Fundament. Das Politische, der Staat und die Unmöglichkeit der Gesellschaft bei Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. In: Michael Hirsch/Rüdiger Voigt (Hg.), Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. Stuttgart, S. 133–144. Mouffe, Chantal, 2000: The Democratic Paradox. London. Mouffe, Chantal, 2005: Exodus und Stellungskrieg. Die Zukunft radikaler Politik. Wien. Mouffe, Chantal, 2007: Pluralismus, Dissens und demokratische Staatsbürgerschaft. In: Martin Nonhoff (Hg.), Diskurs - radikale Demokratie - Hegemonie: zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Bielefeld, S. 41–54. Mouffe, Chantal, 2010: Über das Politische: Wider die kosmopolitische Illusion. Bonn. Oppelt, Martin/Mouffe, Chantal, 2014: “Thinking the World Politically”. An interview with Chantal Mouffe. In: Zeitschrift für Politische Theorie 5, S. 263–277. Ranciére, Jacques, 2002 [1995]: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a.M. Žižek, Slavoj, 2001 [1999]: Die Tücke des Subjekts. Frankfurt a.M. Žižek, Slavoj, 2002 [2002]: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin. Frankfurt a.M.

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I. Einflüsse und Debatten

Ingo Pohn-Lauggas Integraler Staat und radikale Demokratie. Hegemonie und Staatsmacht bei Gramsci und Laclau/Mouffe

1. Vorbemerkung Ernesto Laclau und Chantal Mouffe haben in ihrem 1985 gemeinsam verfassten Hauptwerk Hegemonie und radikale Demokratie1 den Anspruch formuliert, „die Frage der Beziehung zwischen Hegemonie und Demokratie in neuen Begriffen zu stellen“ (HSS, S. 183). Alle Teile dieses Werks drehen sich um den Schlüsselbegriff der ‚Hegemonie‘, dessen historische Genealogie zunächst rekonstruiert wird, um ihn unter Bezugnahme auf Antonio Gramsci – und sich in wesentlichen Punkten von ihm absetzend – in eine Gesellschaftstheorie zu überführen, die mit einer Diskurstheorie deckungsgleich wird, was abschließend in eine politische Theorie einer im spezifischen Sinne ‚radikalen‘ Demokratie mündet. Zumal man also die politische Diskursanalyse von Laclau und Mouffe „auch Hegemonieanalyse nennen kann“2, die ihren Ausgang am „gramscianischen Wendepunkt“ (HSS, S. 98) in der Geschichte der Inanspruchnahme dieses Konzepts nimmt, kann naheliegender Weise keine grundlegende Darstellung ihrer Theorie ohne eine Skizze des Theoriegebäudes Gramscis auskommen. Dies ist demnach schon an vielen Orten geschehen; es ist somit nicht Anliegen meines Beitrags zu wiederholen, was schon vielfach geleistet wurde, nicht zuletzt in Texten, die sich explizit der Rezeption Gramscis bei Laclau und Mouffe widmen. 3 Es kann hier des Weiteren nicht darum gehen, auf einer allgemeinen Ebene in das Denken Antonio Gramscis oder auch nur in seine Hegemonietheorie einzuführen.4 Stattdessen soll im ersten Teil des Beitrags spezifisch Gramscis Kernbegriff des Integralen Staates herausgearbeitet und dabei gezeigt werden, wie dieser eine tragende Säule des hegemonietheoretischen Gebäudes ist, auf welches sich Laclau und Mouffe so wesentlich beziehen. Seine Adaptierung für ihr eigenes theoretischen Anliegen soll in einem zweiten Schritt unter dem spezifischen Gesichtspunkt der Rolle des Staates in den Blick genommen werden. Es wird sich zeigen, dass diese nicht so 1 Hegemony & Socialist Strategy. Towards a radical democratic politics, im Folgenden aus der deutschsprachigen Neuauflage 2015 zitiert als HSS. 2 Nonhoff 2007b, S. 8. 3 Vgl. etwa Marchart 2007a und Marchart 2007b. 4 Auch dies wurde andernorts vielfach geleistet, vgl. zuletzt Barfuss/Jehle 2014, zum Hegemoniebegriff allgemein vgl. Haug/Davidson 2004 oder Opratko 2012a, S. 22–64.

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leicht aufzufinden ist, da der Staat von Laclau und Mouffe neben der Zivilgesellschaft und der Ökonomie als Teil eines örtlich nicht eingegrenzten ‚Politischen‘ aufgefasst wird, welches verstanden wird „als strategisches Terrain hegemonialer Artikulation“.5 Der Anspruch des vorliegenden Beitrags wird in erster Linie in der Befähigung bestehen, eine solche aus der Hegemonie-Theorie abgeleitete Wahrnehmung aus gramscianischer Perspektive kritisch zu befragen. Eine zweite Klärung scheint vorweg vonnöten: In Bezug auf Laclau und Mouffe wird gerne mit Etiketten hantiert, deren geläufigste die des Kontinuität und Bruch gleichermaßen markierenden „Postmarxismus“ ist. Die Frage, ob ihre politische Theorie den Marxismus „radikalisiert“6 oder im Grunde „verabschiedet“7, ist ebenso wenig Gegenstand des vorliegenden Beitrags, wie er als Richter darüber aufzutreten gedenkt, ob die Bezugnahme auf Gramsci und die Inanspruchnahme des Hegemoniebegriffs ihr Denken nun lediglich „postgramscianisch“ sein lässt,8 oder mehr noch „neo-gramscianisch“9, oder ob Laclau und Mouffe das Hegemonie-Konzept eigentlich „in Frage gestellt“ haben.10 ‚Hegemonie‘ lässt sich im Sinne Mieke Bals als „wandernder Begriff“ wahrnehmen,11 dessen Nützlichkeit im neuen Gewand an der Sache gemessen werden soll und nicht mit den Maßstäben einer wie auch immer sich begründenden, am Ausgangspunkt dieser ‚Wanderung‘ verwurzelten Orthodoxie. Im vorliegenden Fall ist diese Sache: der Staat.

2. Integraler Staat als integrales Element von Hegemonie Antonio Gramsci hat seine Hegemonietheorie in zahllosen Anläufen in den Gefängnisheften formuliert, die er in den Jahren der faschistischen Haft zwischen 1926 und 1937 niederschrieb.12 Ein Schlüsseltext ist jedoch auch ein kurz vor der Inhaftierung verfasster und Fragment gebliebener Aufsatz, in welchem Gramsci in seiner Auseinandersetzung mit „Einigen Gesichtspunkten der Frage des Südens“ zu Formulierungen gelangt, die das Terrain der Hegemonie-Theorie vorbereiten, wenn der Begriff hier auch noch im herkömmlicherer Weise für ein „System von Klassenbündnissen“ im engeren Sinne steht, mit dem „die Mehrheit der werktätigen Bevölkerung gegen den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat“ mobilisiert werden

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Marchart 2007a, S. 107f. Hetzel 2004, S. 188. Rehmann 2008, S. 137. Vgl. z.B. Wullweber 2012, S. 31. Marchart 2007a, S. 106. Haug/Davidson 2004, Sp. 28. Bal 2016, S. 25ff. Aus der ab 1991 erschienenen deutschsprachigen Kritischen Gesamtausgabe zitiere ich mit dem Kürzel GH, gefolgt von Heftnummer, Paragraph und Seitenangabe.

soll.13 Der „Wendepunkt“ – den wie gesagt auch Laclau und Mouffe orten – besteht in den Gefängnisheften nun in der Einsicht, dass es einer gesellschaftlichen Kraft weit über rein strategisch orientierte Klassenbündnisse hinaus gelingen muss, moralische und intellektuelle Führung zu erringen. Denn Herrschaft fußt auch auf der Zustimmung der ihr Unterworfenen, und dieser Konsens entsteht nicht spontan, sondern muss organisiert und permanent erneuert werden. Es ist – wie auch schon bei der „Frage des Südens“ – von großer Relevanz, zu welchem historischen Zeitpunkt Gramsci zu diesen Einsichten gelangt: Mit der Machtergreifung des Faschismus war die Niederlage der Arbeiterbewegung, in die Gramsci in und nach den Turiner Jahren der Bewegung der Fabrikräte noch große Hoffnungen gesetzt hatte, besiegelt; und zum anderen hatte die sozialistische Revolution aller marxistischen Logik zum Trotz im agrarischen und ‚rückständigen‘ Russland stattgefunden und nicht im industrialisierten Westen mit seinen starken Arbeiterbewegungen, wo sich die Widersprüche des Kapitalismus zuspitzten. Da das Hegemonie-Konzept bei Gramsci also einen theoretischen Umgang einerseits mit der Stabilität von Herrschaftsverhältnissen sucht, die offenkundig nicht nur auf der Macht eines staatlichen Gewaltmonopols fußen, und andererseits mit der strategischen Frage, wie diese Verhältnisse umzustoßen sind, indem sich die Subalternen in den Kampf um Hegemonie einbringen, ohne durch einen punktuellen Umsturz die Macht zu erlangen, ist es naheliegend, dass hier alle Fäden seiner politischen Theorie zusammenlaufen und jeder der bekannten Schlüsselbegriffe bei Gramsci Teil der Hegemonie-Konzeption ist: So spielt etwa der herzustellende Kollektivwille, der nicht mehr (zwangsläufig) an eine Klassenzugehörigkeit gebunden ist, eine zentrale Rolle in der Aufgabe einer revolutionären Partei, „Verkünder und Organisator einer intellektuellen und moralischen Reform“ zu sein, denn dies bedeutet, „das Terrain für eine Weiterentwicklung des popularen nationalen Kollektivwillens zu bereiten“, wie es in den Gefängnisheften heißt (GH 13 § 1, S. 1539f.). Damit hängt zusammen, dass politische Entwicklungen nicht mehr an die Ökonomie gebunden werden, sondern an konkrete Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Kräften oder Bündnissen, die durch solche Zusammenschlüsse geschichtlich handlungsfähig werden, weswegen Gramsci solche auf Konsens basierende Verbindungen geschichtlicher Block14 nennt: „Wenn das Verhältnis zwischen Intellektuellen und Volk-Nation, zwischen Führenden und Geführten, zwischen Regierenden und Regierten durch einen organischen Zusammenhalt gegeben ist, in dem das Gefühl-Leidenschaft zum Verstehen und folglich zum 13 Gramsci 1980, S. 191. 14 Im Original blocco storico: Mindestens ebenso verbreitet ist im deutschen Sprachraum die Wiedergabe dieses Begriffes als ‚historischer Block‘, wovon die Übersetzer der Gesamtausgabe aber ab Heft 10 mit der Begründung abgegangen sind, dass der Begriff nicht auf das Historische i.S.v. Vergangenem anspielt, sondern eben „die Geschichtsmächtigkeit einer politischkulturellen Formation gesellschaftlicher Kräfte bezeichnet“ (W.F. Haug in der Einleitung zu Band 6 der GH, S. 1214).

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Wissen wird […], nur dann ist die Beziehung eine der Repräsentanz […], es verwirklicht sich das gemeinsame Leben, das allein die soziale Kraft ist, es bildet sich der ‚geschichtliche Block‘.“ (GH 11 § 67, S. 1490)

Indem also „sozio-ökonomischer Inhalt und ethisch-politische Form“ im geschichtlichen Block „identisch werden“ (GH 10.I § 13, S. 1251), setzt Gramsci sich vom Ökonomismus orthodoxer Marxismen dahingehend ab, als er nicht mehr von einer (ökonomischen) ‚Basis‘ ausgeht, die den (ideologischen, kulturellen) ‚Überbau‘ determiniert, sondern „vielmehr deren Entwicklung als innerlich zusammenhängend und notwendig aufeinander bezogen und in Wechselwirkung“ begreift (GH 10.II § 41.I, S. 1308). Hegemonie und Konsens sind die notwendige Form des konkreten geschichtlichen Blocks (GH 10.I § 12, S. 1249), und hier kommt den Intellektuellen eine entscheidende Rolle zu, die bei Gramsci mit dem berühmten Satz, wonach „alle Menschen“ Intellektuelle sind, aber nicht alle Menschen „in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen“ haben (GH 12 § 1, S. 1500), sehr spezifisch definiert sind: Sie gelten ihm weniger als „autonome und unabhängige gesellschaftliche Gruppe“ (ebd., S. 1497), sondern werden vielmehr in ihrer die gesellschaftlichen Gruppen organisierenden Form wahrgenommen: denn „es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle“ (GH 11 § 12, S. 1385). Ihre Rolle ist damit zweifach definiert: Zum einen sind sie „die ‚Gehilfen‘ der herrschenden Gruppe“, indem sie den gesellschaftlichen Konsens organisieren (GH 12 § 1, S. 1502), zum anderen können sie auf Seiten der Herrschaftsunterworfenen an deren Alltagsverstand anschließen, diesen kohärent und kritisch machen und ihnen „Homogenität und Bewusstheit der eigenen Funktion nicht nur im ökonomischen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich geben“ (ebd., S. 1497).15 Da sich dieser Kampf in der abermals spezifisch definierten Zivilgesellschaft abspielt, sind wir beim eigentlichen Thema dieses Beitrags angelangt, denn die Zivilgesellschaft ist bei Gramsci, wie wir sehen werden, Teil des Staates. Ein Brief an seine Schwägerin Tatjana Schucht zeigt, wie die Intellektuellen-Problematik unmittelbar zur Staatstheorie führt, und enthält auch schon die wesentlichen Konturen des Integralen Staates: „[Ich weite] den Begriff des Intellektuellen sehr aus und beschränke mich nicht auf den gängigen Begriff, der sich auf die großen Intellektuellen bezieht. Diese Forschung führt auch zu gewissen Bestimmungen des Staatsbegriffs, der gemeinhin verstanden wird als politische Gesellschaft (entweder Diktatur oder Zwangsapparat zur Formung der Volksmasse gemäß dem Produktions- bzw. Wirtschaftstyp zu einem gegebenem Zeitpunkt) und nicht als Gleichgewicht zwischen politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft (bzw. Hegemonie einer sozialen Gruppe über die gesamte nationale Gesellschaft […]), und insbesondere in der Zivilgesellschaft sind die Intellektuellen tätig“.16

15 Vgl. Pohn-Lauggas 2011. 16 7.9.1931, Gramsci 2014, S. 128., Herv.i.O.

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2.1 Staat + Zivilgesellschaft Die Rolle des Staates in Gramscis Hegemonietheorie kann also nicht überbewertet werden, und dabei ist abermals zu bedenken, dass er kein Politikwissenschaftler war, dem es um die Ausformulierung einer abstrakten Staatstheorie ging, sondern dass sein Anliegen, sich einen genauen Begriff vom Staat zu machen, selbstverständlich politisch motiviert war: Ein „geringes Verständnis des Staates bedeutet geringes Klassenbewusstsein“ (GH 3 § 46, S. 368), und ein Verkennen dessen, „was der Staat ist (in integraler Bedeutung: Diktatur + Hegemonie)“ (GH 6 § 155, S. 824), wäre ein Fehler. Wir sehen also, dass es Gramsci selbst ist, der den Begriff des „Integralen Staates“ geprägt hat, wenn auch seit Christine Buci-Glucksmanns bahnbrechender Studie Gramsci und der Staat aus dem Jahr 1975 von einer „Erweiterung des Staates“ die Rede ist,17 was durchaus auch seine Entsprechung in den Gefängnisheften findet, wo Gramsci vom Staat „im organischen und weiteren Sinne“ spricht (GH 6 § 87, S. 782). Der griffigen Charakterisierung dieses integralen Verständnisses von Staat dient eine Formel, die gewiss zu den meistzitierten Stellen aus Gramscis Werk überhaupt gehört: Er wendet sich gegen die „Gleichsetzung von Staat und Regierung“, da zu bedenken ist, „dass in den allgemeinen Staatsbegriff Elemente eingehen, die dem Begriff der Zivilgesellschaft zuzuschreiben sind“, weshalb man sagen könne: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ (GH 6 § 88, S. 783). Gramsci ordnet also jene gesellschaftlichen Bereiche, die gemeinhin als ‚private‘ wahrgenommen würden – Vereine, Kirchen, Gewerkschaften, Zeitungen usw. – dem Staat zu. Er nimmt nicht nur ihre unter Umständen stabilisierende Funktion in einem Herrschaftssystem wahr, sondern hält die Unterscheidung zwischen der politischen Gesellschaft – womit staatliche Institutionen im engeren, herkömmlichen Sinne bezeichnet werden – und der Zivilgesellschaft für „rein methodisch“, denn „im konkreten historischen Leben sind politische Gesellschaft und Zivilgesellschaft ein und dasselbe“ (GH 4 § 38, S. 498f.). Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der Hegemonietheorie, weil auf diese Weise die beiden Elemente Zwang und Konsens auseinandergehalten und Kräfteverhältnisse immer auch dahingehend analysiert werden können, ob in ihnen Zustimmung oder Zwang überwiegen. Denn in gleicher Weise, wie sich Herrschaft auch auf die Zivilgesellschaft stützt, wird jede gesellschaftliche Kraft, die in hegemoniale Verhältnisse intervenieren will, ebenso auch dort ansetzen müssen. Dies erklärt auch die Niederlage der Arbeiterbewegung im Westen, von der Gramscis Denken seinen Ausgang zu nehmen gezwungen ist, denn „im Westen bestand zwischen Staat [im engeren Sinne, Anm. iPL] und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste

17 Buci-Glucksmann 1981, S. 76ff.

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Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand“ (GH 7 § 16, S. 874). Eine solche Wahrnehmung staatlicher Verhältnisse „schärft den Blick für das bestimmte Verhältnis, in dem die antagonistisch-komplementären Modi der Herrschaftsausübung – Konsens und Zwang – jeweils zueinander stehen“18. Der Zivilgesellschaft kommt für Gramsci somit die Funktion zu, vermittelnd zwischen die ökonomische Basis und den Staat im engeren Sinne zu treten, denn in ihren Institutionen und Organisationen wird Hegemonie erlangt und abgesichert. Wir haben es also mit zusammenwirkenden Ebenen zu tun, die Gramsci beide im Überbau verortet: „diejenige, die man die Ebene der ‚Zivilgesellschaft‘ nennen kann, d.h. des Ensembles der gemeinhin ‚privat‘ genannten Organismen, und diejenige der ‚politischen Gesellschaft oder des Staates‘“(GH 12 § 1, S. 1502). Sie entsprechen „der Funktion der ‚Hegemonie‘, welche die herrschende Gruppe in der gesamten Gesellschaft ausübt, und der Funktion der ‚direkten Herrschaft‘ oder des Kommandos, die sich im Staat und in der ‚formellen‘ Regierung ausdrückt“ (ebd.). Ganz anders als in der Wahrnehmung seiner kommunistischen Zeitgenossen war der Staat für Gramsci also weit mehr als das reine Instrument bürgerlicher Herrschaft19, wiewohl er für den gesamten Komplex aller Aktivitäten und Institutionen steht, anhand derer Herrschaft nicht nur gerechtfertigt und aufrecht erhalten, sondern auch der aktive Konsens der Regierten erlangt wird (vgl. GH 15 § 10, S. 1725f.). Man könnte es so formulieren, dass der Staat bei Gramsci gleichzeitig Instrument, Ort und Prozess ist: Instrument einer herrschenden Klasse im herkömmlichen Sinne zur Wahrung ihrer Interessen;20 Ort der hegemonialen Auseinandersetzung im Bereich der Zivilgesellschaft; und Prozess der Einigung der führenden Klassen. Deren geschichtliche Einheit vollzieht sich für Gramsci nämlich im Staat selbst, und „die grundlegende geschichtliche Einheit ist […] das Ergebnis der organischen Beziehungen zwischen Staat oder politischer Gesellschaft und ‚Zivilgesellschaft‘“ (GH 25 § 5, S. 2195). Dies bedeutet aber auch, dass die subalternen Klassen, die zunächst eben nicht vereinheitlicht sind, nur in dem Maße Einheit erringen und sich aus ihrer Subalternität befreien können, wie sie sich in die Lage versetzen, selbst ‚Staat zu werden‘. Aus diesem Grund steht ihre Geschichte in engem Zusammenhang mit der der Zivilgesellschaft (vgl. ebd.). „Für Gramsci ergreift eine Klasse nicht die Staatsmacht“, fassen Laclau und Mouffe das zusammen, „sondern wird Staat“ (HSS, S. 102, Herv.i.O.). Im Integralen Staat werden also Zwang und Konsens zusammengeführt: Der Zwang ist der Panzer, der die Zivilgesellschaft dort ‚schützt‘, wo der Konsens der Regierten nicht erzielt wird. Alex Demirović definiert den Integralen Staat als 18 Barfuss/Jehle 2014, S. 109. 19 Vgl. Röttger 2004, Sp. 1255. 20 Vgl. Priester 1977, S. 520.

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„fließendes Kräftegleichgewicht, das jedoch asymmetrisch bleibt, weil er immer die Partei derjenigen ist, die den Produktionsapparat organisieren; er ist Prozess und Ergebnis der Verallgemeinerung und der Ausarbeitung von Kompromissen als Grundlage des Konsenses. Bei den den Staat tragenden Kräften liegt die Initiative, sie organisieren im und durch den Staat den gesellschaftlichen Kollektivwillen.“21

2.2 Der ethische Staat Die oben zitierte Formel „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft“ taucht in einem Paragraphen der Gefängnishefte auf, der sich mit dem „Nachtwächterstaat“ beschäftigt, also mit einer Staatskonzeption, die Ferdinand Lassalle abschätzig so bezeichnete, da die Funktion des Staates in ihr auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Kontrolle der Einhaltung der Gesetze und den Schutz des Privateigentums beschränkt ist. Gramsci setzt dem den Begriff des ‚ethischen‘ Staates entgegen, den er der „regulierten Gesellschaft“ und der Zivilgesellschaft annähert, um festzustellen, dass man sich die Zwangselemente des Staats „in dem Maße als erlöschend vorstellen [kann], wie sich immer beträchtlichere Elemente von regulierter Gesellschaft (oder ethischem Staat oder Zivilgesellschaft) durchsetzen“ (GH 6 § 88, S. 783). Der Begriff der regulierten Gesellschaft lässt erkennen, dass Gramsci die Perspektive der klassenlosen Gesellschaft nicht aus den Augen verliert und mit der Metapher des erlöschenden Staates, mit dem Bild vom „Staat ohne Staat“ (ebd.) die Annahme ausdrückt, dass eine solche erstrebenswerte Gesellschaftsform Konflikte und Antagonismen so sehr zurückdrängen würde, dass der Zwang und mit ihm die ‚politische Gesellschaft‘ an Bedeutung verliert. Im Faschismus, den er buchstäblich vor Augen hat, ist natürlich genau das Gegenteil der Fall: Hier dehnt die politische Gesellschaft, das Zwangs-Element, ihren Zugriff auf Kosten der Zivilgesellschaft, des Moments des Konsens‘ aus. Zumal mit ‚ethischem Staat‘ jene nur scheinbar privaten Aktivitäten bezeichnet sind, die, ohne unmittelbar repressiv zu sein, die kapitalistischen Produktionsbedingungen sichern sollen, die also „den Apparat der politischen und kulturellen Hegemonie der herrschenden Klassen bilden“ (GH 8 § 179, S. 1043), liegt seine fundamentale Bedeutung für Gramscis hegemonietheoretisches Staatsverständnis auf der Hand: In der Tat ist so gesehen jeder Staat ethisch, „insofern eine seiner wichtigsten Funktionen darin besteht, die große Masse der Bevölkerung auf ein bestimmtes kulturelles und moralisches Niveau zu heben, [das] den Entwicklungsnotwendigkeiten der Produktivkräfte und daher den Interessen der herrschenden Klassen entspricht“ (ebd.).

21 Demirović 2007a, S. 33.

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Mit der Erweiterung des Staatsbegriffs um die Zivilgesellschaft, in der um Hegemonie gerungen und der Konsens erzielt wird, wonach der Staat „verlangt“, wird es zu einer staatlichen Aufgabe, die Menschen mit allen möglichen Mitteln zu diesem Konsens zu ‚erziehen‘ (GH 1 § 47, S. 117f.). Den „Staat als ‚Erzieher‘“, der danach strebt, „einen bestimmten Typus von Zivilisation und von Staatsbürger […] zu schaffen und zu erhalten“ (GH 13 § 11, S. 1548), ortet Gramsci in den Institutionen des Rechts und der Bildung, in den Medien, Parteien, Gewerkschaften und Kirchen. Zu betonen ist dabei einerseits, dass er das Moment des Zwangs erst dort in den Blick nimmt, wo die ‚Erziehung‘ an ihre Grenzen gelangt, wo die Herstellung von Konsens und Hegemonie misslingt: „Der staatliche Zwang soll legal die Disziplin derjenigen Gruppen gewährleisten, die weder aktiv noch passiv zustimmen, sondern bestrebt sind, einen Bruch mit der vorherrschenden Lebensweise zu organisieren.“22 So linear, im Sinne einer zeitlichen Abfolge, ist das andererseits freilich nicht zu denken – die Elemente Zwang und Konsens greifen ebenso ineinander wie Veränderungen der Produktionsverhältnisse und Erziehung im Bereich des Überbaus: sie werden „nicht alternativ oder sukzessiv – und damit undialektisch – gedacht, sondern als sich wechselseitig bedingende Elemente einer dialektischen Einheit von Basis und Überbau im ‚historischen [geschichtlichen, Anm. iPL] Block‘“23. Von Interesse im vorliegenden Zusammenhang ist, dass Gramscis eigentümlich scheinende Terminologie des ‚Ethischen‘ auch dort zum Tragen kommt, wo in den absoluten Schlüsselpassagen der Hegemonietheorie der „Übergang vom bloß ökonomischen […] Moment zum ethisch-politischen Moment“ beschrieben wird (GH 10.II § 6, S. 1259). Will sie hegemonial werden, muss eine Klasse eine „Katharsis“ durchlaufen (ebd.), sich also in Anlehnung an die wörtliche Bedeutung der Reinigung von ihren rein korporatistischen Interessen befreien und ihr politisches Projekt in eine Form zu bringen, die über ihr gesellschaftlich-politisches Segment hinaus konsensfähig ist. Im Zusammenhang mit dieser Phase, die für Gramsci „am eindeutigsten politisch ist“ (GH 13 § 17, S. 1561), wird mit gutem Grund sehr häufig folgende Passage zitiert, die auch hier ausführlich wiedergegeben sei, da sie auch „der laclauschen Logik der Hegemonie zum Vorbild dient“;24 Chantal Mouffe hatte schon in Arbeiten, die Hegemony & Socialist Strategy vorausgegangen waren, darin „one of the key texts for an understandig of the gramscian conception of hegemony“ erkannt.25 In unserem Zusammenhang von Interesse: Auch hier „stellt sich die Staatsfrage“ (GH 13 § 17, S. 1560). Gramsci beleuchtet also die Phase,

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Demirović 2007a, S. 33. Priester 1977, S. 529, Herv.i.O. Marchart 2007b, S. 180. Mouffe 1979, S. 180.

„die den klaren Übergang von der Struktur zur Sphäre der komplexen Superstrukturen markiert, es ist die Phase, in der die zuvor aufgekeimten Ideologien ‚Partei‘ werden, zur Konfrontation kommen und in den Kampf eintreten, bis eine einzige von ihnen oder zumindest eine einzige Kombination derselben dazu tendiert, das Übergewicht zu erlangen, sich durchzusetzen, sich über den gesamten gesellschaftlichen Bereich zu verbreiten, wobei sie über die Einheitlichkeit der ökonomischen und politischen Ziele hinaus auch die intellektuelle und moralische Einheit bewirkt, alle Fragen, um die der Kampf entbrannt ist, nicht auf die korporative, sondern auf eine ‚universale‘ Ebene stellt und so die Hegemonie einer grundlegenden gesellschaftlichen Gruppe über eine Reihe untergeordneter Gruppen herstellt“ (ebd., S. 1561).

Neben der Herstellung von Hegemonie kommt hier also auch die neu wahrgenommene Rolle des Staates zum Tragen. Er bleibt zwar gewissermaßen ein ‚Klassenstaat‘ im Interesse der Herrschenden, doch seine Aufgaben gehen weit über das Gewaltmonopol hinaus, da deren Interessen als allgemeine dargestellt, vermittelt und bis zu einem gewissen Grad auch mit jenen der untergeordneten Gruppen abgestimmt werden. Das staatliche Leben wird damit „als ein ständiges Sich-Bilden und Überwunden-Werden instabiler Gleichgewichte (im Rahmen des Gesetzes) zwischen den Interessen der grundlegenden Gruppe und denen der untergeordneten Gruppen“ aufgefasst (ebd.). Dies läuft darauf hinaus, dass das staatliche Leben mit dem gesellschaftlichen Leben de facto in eins fällt, der Staat ein Bereich des Gesellschaftlichen ist. Die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich, die mit dem Konzept des Integralen Staates obsolet wird, weil der ‚öffentliche‘ Charakter der Institutionen der Zivilgesellschaft verdeutlicht wird, bringt auch die substanzielle Trennung von Staat und Gesellschaft zu Fall, da bei Gramsci die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat in den Staat selbst fällt.26 Auf diesem Pfad der Definition des Gesellschaftlichen lässt sich nun zu Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes diskursanalytischer Adaptierung des Hegemonie-Konzeptes überleiten: Indem sie nämlich den Begriff des Diskursiven auf weit mehr als auf sprachliche und symbolische Praxen anwenden, gibt es kein gesellschaftliches Feld und keine Handlung mehr, die nicht diskursiv strukturiert wäre. Dass Gesellschafts- bei ihnen mit Diskurstheorie, politische mit Diskursanalyse zusammenfällt, hat nämlich seinen schlichten Grund in der Identität von Sozialem und Diskursiven. Mehrfach haben sie klar gemacht, resümiert Laclau, „dass Diskurs nicht auf Sprache und Schrift begrenzt ist, sondern alle Signifikationssysteme umfasst. In diesem Sinne ist er gleichbedeutend mit dem gesellschaftlichen Leben.“27 Wie lässt sich dies noch mit Gramscis Theorie verbinden, für die – wie gezeigt – das Politische „für eine Logik hegemonialer Kämpfe“ steht, die in der Zivilgesellschaft als Teil des Staates gefochten werden, eine Logik, „die mit dem Begriff der Gesellschaft [zusammenfällt]“28? 26 Vgl. Demirović 2007a, S. 27. 27 Laclau 2007, S. 29; vgl. Demirović 2007b. 28 Hetzel 2004, S. 190.

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3. Laclau/Mouffe: Anti-Ökonomismus 2.0 Gramsci erkannte im Verhältnis zwischen Basis und Überbau „das Schlüsselproblem des historischen Materialismus“ (GH 4 § 38, S. 493), und wenn man bedenkt, dass für ihn außer Frage stand, dass jegliche deterministische Interpretation dieses Verhältnisses, in der „jede Schwankung der Politik und der Ideologie“ als Ausdruck der ökonomischen Basis gilt, „als primitiver Infantilismus“ bekämpft werden muss (GH 7 § 24, S. 878), scheint es auf den ersten Blick einigermaßen paradox, dass Laclau und Mouffes entscheidende Absetzbewegung von Gramsci ausgerechnet mit „Gramscis Ökonomismus“ sich zu begründen scheint.29 Hier lohnt ein genauerer Blick, zunächst vor allem ein Schritt zurück zu ihrer Absetzbewegung vom Marxismus selbst, wie er in der Zweiten und Dritten Internationale vertreten wurde. Diese galt nicht nur dessen ökonomischem Determinismus, für den alle sozialen und politischen Phänomene auf ökonomische Prozesse zurückgeführt werden können, sondern auch der damit verbundenen ‚objektiven‘ Notwendigkeit, dass einer bestimmten Klasse, deren Stellung durch die ökonomischen Verhältnisse definiert ist, die historische Aufgabe zukommt ebendiese Verhältnisse auf dem Weg der Revolution zu überwinden. Oft wird hier Laclaus eigene biographische Erfahrung mit den politischen Kämpfen im Argentinien der 1960er Jahre ins Spiel gebracht, in denen sich ihm Klassenkämpfe eher als Konflikte um kulturelle Hegemonie darstellten, „deren komplexe Logik sich jeder marxistischen Basis-Überbau-Schematik“ zu entziehen schien.30 In der Tat benennt Laclau als Ausgangspunkt der Überlegungen die Ortung eines Widerspruches zwischen zwei ganz grundlegenden marxistischen Sichtweisen auf Geschichte und Gesellschaft: Zum einen werde Geschichte als vollkommen objektiver Prozess wahrgenommen, der von den Produktionsverhältnissen bestimmt wird; zum anderen ist die Geschichte der Menschheit, wie das erste Kapitel im Manifest der Kommunistischen Partei bekanntlich anhebt, eine „Geschichte von Klassenkämpfen“31. Die Inkompatibilität dieser beiden Annahmen bestehe darin, dass zum einen „Gesetze historischer Notwendigkeit“ zu wirken scheinen, während andererseits die zentrale Bedeutung des Klassenkampfs in den Blick gerückt wird, „die wenigstens potenziell die Möglichkeit kontingenter Ergebnisse eröffnete“.32 Bestritten werden aber mitnichten die antagonistischen Verhältnisse – im Gegenteil, Laclau und Mouffe gehen vielmehr von einem „kreuz und quer von Antagonismen durchzogenen Feld“ aus (HSS, S. 173). Verworfen wird jedoch der hier geortete Reduktionismus auf ökonomisch definierte Klassen: Der Konflikt zwischen Lohnarbeit und 29 30 31 32

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Wullweber 2012, S. 31. Reckwitz 2011, S. 301. Marx/Engels 1974, S. 462. Laclau 2007, S. 34.

Kapital ist ein möglicher Antagonismus von vielen, und auch er kommt nur zu Stande, wenn solche Kämpfe auch tatsächlich ausgetragen werden: „Die Beziehung wird nur zu einer antagonistischen, wenn der Arbeiter der Abschöpfung des Mehrwerts Widerstand entgegensetzt.“33 Dies ist ein zentraler Ausgangspunkt dessen, was in Hegemony & Socialist Strategy entwickelt wurde (und gleichzeitig setzt hier die entscheidende Abgrenzung von Gramscis Fassung der Hegemonie-Theorie an). Die Logik der Geschichte entfaltet sich in dieser ‚objektivistischen‘ Sichtweise durch die Antagonismen hindurch, wird von ihnen aber, anders als bei Laclau und Mouffe, nicht konstituiert: „Wenn Antagonismen jedoch als erst-konstitutiv für das soziale Gewebe begriffen werden, dann wird die Bestimmung ihres ontologischen Status zur zentralen theoretischen Aufgabe.“34 Wie hierfür eine über Gramsci hinausführende ‚Radikalisierung‘ seiner Konzepte (HSS, S. 173) fruchtbar gemacht werden sollte, um den ökonomistischen Marxismus gewissermaßen „von innen“35 aufzubrechen, soll in der gebotenen Kürze umrissen werden.

3.1 Wandernde Begriffe Zunächst ließ sich an dieser Stelle zustimmend an Gramscis Metapher des Stellungskrieges anschließen, mit der darauf verwiesen wird, dass eine politische Umwälzung nicht punktuelles Ergebnis der Erstürmung von Regierungspalästen ist, sondern im hegemonialen Ringen auf dem heterogenen Feld der Zivilgesellschaft errungen wird, wobei homogene Klassen – wie oben schon gezeigt – hinter den ‚Kollektivwillen‘ zurücktreten. So haben bei Gramsci politische Subjekte, wie Laclau und Mouffe anerkennen, ebenso „keine notwendige Klassenzugehörigkeit“ wie „die ideologischen Elemente, die durch eine hegemoniale Klasse artikuliert werden“ (HSS, S. 100). Dennoch problematisieren sie, dass es bei Gramsci weiterhin „ein einziges vereinheitlichendes Prinzip“ vorausgesetzt werde, „und dies kann nur eine fundamentale Klasse sein“ (ebd., S. 102, Herv.i.O.), deren Stellung und geschichtliche Rolle auf der ökonomischen Basis ruht. Es ergibt sich also eine „grundlegende Ambiguität“ zwischen dem kontingenten Charakter der Arbeiterklasse, deren Identität durch die Artikulation mit verschiedensten demokratischen Forderungen transformiert wird, und dem augenscheinlich „notwendigen Charakter“ ihrer Zentralität, der sich daraus ergibt, dass die ökonomischen Verhältnisse ihr diese artikulatorische Rolle zuweisen (ebd., S. 103).

33 Laclau 2007, S. 35, Herv.i.O. 34 Laclau 2007, S. 26. 35 Reckwitz 2011, S. 301.

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Dies ist es, was Laclau und Mouffe als „Klassenkern“ bezeichnen, den es aus der Hegemonie-Theorie zu entfernen gelte: Erst dadurch werde, so Oliver Marchart, „das ganze Potential des Hegemoniebegriffs freigesetzt, und durch den discursive turn wird das Terrain der Klassenanalyse endgültig verlassen“ (2007a, S. 114). Neben diesem Klassenkern orten Laclau und Mouffe ein weiteres essentialistisches Element, wie sie es nennen, das die „letztinstanzliche Verwurzelung des Gramscianischen Hegemoniebegriffs im Ökonomischen“ belegen soll,36 und das für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse ist, nämlich dessen „Annahme eines einfachen politischen Raumes als notwendigen Rahmen“ für die Entstehung fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaftsformationen, die durch zunehmende Komplexität gekennzeichnet sind (HSS, S. 175). Der Verzicht auf dieses Element impliziert, dass Laclau und Mouffe ‚populare‘ Kämpfe nur noch in dem Sonderfall orten, wo „die Spaltung eines einfachen politischen Raumes in zwei entgegengesetzte Felder“ tendenziell noch gegeben ist; zum „Grundbegriff“ hingegen erheben sie die ‚demokratischen‘ Kämpfe, die der konstatierten „Pluralität politischer Räume“ inhärent seien (ebd.). Diesen beiden Formen von Kämpfen entsprechen zwei Formen von ‚Konjunkturen‘: In Bezug auf letztere sprechen sie im Falle einer Vermehrung von Antagonismen, die mit einer „allgemeinen Krise gesellschaftlicher Identitäten“ einhergeht, im Anschluss an Gramsci von einer organischen Krise; der geschichtliche Block hingegen taucht unter dem Namen einer hegemonialen Formation wieder auf, wo der gesellschaftliche und politische Raum „durch die Bildung von Knotenpunkten und durch die Konstitution von tendenziell relationalen Identitäten vereinheitlicht wird“ (ebd., S. 173, Herv.i.O.).37 Der hohe Abstraktionsgrad dieser Wahrnehmung ist offensichtlich und bekannt. Im vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist nun aber die Frage, wo der Staat zu verorten und wie seine Rolle zu definieren ist, wenn Hegemonie für Laclau und Mouffe grundlegend ein „Typus von Beziehung“ ist, eine Form von Politik, „aber keine bestimmbare Stelle innerhalb einer Topographie des Gesellschaftlichen“ (ebd., S. 177, Herv.i.O.). Bei Gramsci hatten wir ja gesehen, dass dem (erweiterten) Staat, der sehr wohl als ‚Ort‘, als Terrain hegemonialen Ringens definiert ist, eine entscheidende Rolle im hegemonialen Gefüge zukommt. Bringen Laclau und Mouffe ihn mit ihrer diskursanalytischen Reformulierung der Hegemonie-Theorie zum Verschwinden?

36 Nonhoff 2006, S. 158. 37 Bei Gramsci entsprächen diesen Grundtypen laut Marchart „die beiden idealtypischen Phasen des Transformismus, der Differenzen integriert und Äquivalenzketten aufspaltet, und der expansiven Hegemonie, die Differenzen äquivalentiell verknüpft“ (2007b, S. 183).

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3.2 Staat und radikale Demokratie In der Tat besteht ein wesentliches Element in der Theorie von Laclau und Mouffe darin, dass mit dem Abschied von der Basis-Überbau-Metapher die Vorstellung einer hierarchisch strukturierten Topographie des Sozialen insgesamt verworfen wird. Es liegt in der Logik der Sache, dass keinem Teilbereich des Sozialen, sei es nun der Ökonomie, der Zivilgesellschaft oder eben dem Staat, eine privilegierte Rolle zukommt, da die diskursiven Formationen, die das Soziale selbst ausmachen, gewissermaßen quer zu diesen Bereichen liegen. Den Ausgangspunkt des Post-Marxismus benennt Laclau genau darin, dass die antagonistische Relation, die ja wie gesagt keineswegs verneint wurde, nun auf eine Weise gedacht wurde, „die sie nicht just an jenen Orten fixierte, welche ihr durch die objektivistische Konzeption zugewiesen worden waren“.38 Wir müssen hier den bereits angesprochenen diskurstheoretischen Paradigmenwechsel, demzufolge Diskurs und Gesellschaft in eins fallen, beim Wort nehmen, denn hiervon ist eben auch der Staat betroffen: Er gehört zu jenen offenkundig nicht-sprachlichen und demnach eigentlich „‚schweigsamen‘ institutionellen Komplexen“ und Strukturen,39 die nichtsdestotrotz diskurstheoretisch ge- und erfasst werden. Ökonomie oder Staat werden also mitnichten zum Verschwinden gebracht, sondern ausdrücklich „neu definiert“ (HSS, S. 180), rekonzeptualisiert „als Schnittmengen einer Vielzahl von Diskursen (Rechnungs-Diskursen, InformationsDiskursen, Autoritäts-Diskursen, technischen Diskursen), die jene traditionell strikt unterschiedenen Ebenen von Basis und Überbau – oder auch von Staat und Gesellschaft – durchkreuzen, ja quer zu ihnen liegen“ (Marchart 2007a, S. 108).

Die ‚Machtfrage‘ stellt sich demnach nicht als grundlegende, da der entscheidende Punkt für Laclau und Mouffe darin besteht, „dass jede Form der Macht auf pragmatische Art und Weise und dem Sozialen innerlich“ stets neu konstruiert und rekonfiguriert wird: „Das Problem der Macht kann deswegen nicht im Sinne einer Suche nach der Klasse oder dem dominanten Sektor gestellt werden, die oder der das Zentrum einer hegemonialen Formation bildet, da sich uns ein solches Zentrum definitionsgemäß immer entziehen wird.“ (HSS, S. 180, Herv.i.O.) Damit wollen sie aber nicht einer „völligen Auflösung der Macht im Sozialen“ das Wort reden, da dies den Blick auf jeweils aktuelle „Machtkonzentrationen“ trüben würde, die in jeder konkreten Gesellschaftsformation spezifisch existieren, die Rede ist hier wieder von „Knotenpunkten“ (ebd.). Besagte Neudefinition des Begriffsarsenals der „klassischen Analyse“ (ebd.) erhält die Möglichkeit seines Einsatzes offen, doch wie gezeigt sind Diskurs und Hegemonie nun untrennbar verbunden, da jeder Diskurs he-

38 Laclau 2007, S. 26. 39 Reckwitz 2011, S. 303.

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gemoniale Verhältnisse zum Ausdruck bringt: Hegemonie steht damit diskurstheoretisch für die Logik des Politischen schlechthin. ‚Das Politische‘ wird von Laclau dabei „als vorbildlose und unbedingte Praxis der Instituierung von Gesellschaft“ gefasst, die von der herkömmlichen ‚Politik‘ im Gefüge der Institutionen abzugrenzen ist;40 damit ist es eben nicht auf einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Ebene des Gesellschaftlichen bezogen, sondern ist zu verstehen als Schauplatz hegemonialer Artikulation, der an allen Bereichen verortet sein kann, sei es nun die Zivilgesellschaft, die Ökonomie oder der Staat. Die „Pluralität der Kämpfe“ des demokratischen Projekts bezieht sich auf keine „privilegierten Punkte“ des Sozialen,41 was aber nicht bedeutet, dass jegliche Bezugnahme auf liberal-demokratische Prinzipien verworfen werden soll – im Gegenteil, sie sind ein Ausgangspunkt, und die Linke hat sie „in Richtung auf eine radikale und plurale Demokratie zu vertiefen und auszuweiten“ (HSS, S. 214, Herv.i.O.). Der Staat verschwindet also nicht aus dem Fokus, wird aber dahingehend ‚marginalisiert‘, als es „keine diskursiven Regionen gibt, die das Programm einer radikalen Demokratie a priori als mögliche Kampfbereiche ausschließen sollte“ (ebd., S. 231, Herv.i.O.). Diese radikale Öffnung geht allerdings ganz offenkundig weit über Gramscis Neudefinition des Staates im Sinne einer Erweiterung um die Zivilgesellschaft hinaus.

4. Fazit Wie man sieht, entfernen sich Laclau und Mouffe deutlich weiter von Gramsci als jene meinen, sie hätten ihn lediglich in aktualisierender Weise systematisiert. Am schwersten wiegt wohl das Problem, dass der Zwang, welcher Hegemonie laut Gramscis berühmter Metapher ‚panzert‘, aus dem Blick gerät, wenn staatliche Institutionen, die radikaldemokratischen Projekten durchaus auch gewaltförmig Grenzen setzen, anders als in Gramscis Konzept des Integralen Staates lediglich als strategisches Problem diskursiver Praxen auftauchen.42 Wie eingangs betont, ist dies nicht der Ort, Laclaus und Mouffes Berufung auf Gramsci vertiefend in kritischer Weise zu diskutieren,43 hier können problematische Punkte nur benannt werden: So ließe sich beispielsweise fragen, ob es nicht Gramsci selbst war, der mit der objektivistischen Behauptung der Existenz von reinen Klasseninteressen gebrochen hat, was Laclaus und Mouffes Geste der Abgrenzung relativieren würde.44 Schließlich ist es doch gerade Gramscis Konzept des Popular-Nationalen, dessen Bedeutung auch La40 41 42 43

Hetzel 2004, S. 187. Laclau 2007, S. 36. Vgl. Opratko 2012a, S. 152f.; Demirović 2007a, S. 37. Eine gramscianisch wohlinformierte Kritik an der „Ontologisierung des Hegemoniebegriffs bei Laclau und Mouffe“ formuliert Opratko 2012b. 44 Vgl. Barfuss/Jehle 2014, S. 32.

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clau und Mouffe herausstellen (HSS, S. 101), mit dem per defintionem Klassengrenzen überschritten werden45 – der so zentrale Kollektivwille selbst taucht in den Gefängnisheften ja wie gesagt auch als „popular-nationaler Kollektivwille“ auf (GH 13 § 1, S. 1538). Gewinnbringend abseits einer solchen Überprüfung wäre aber die Frage, wie tragfähig sich die hier umrissenen ‚Staatstheorien‘ in gegenwärtigen Verhältnissen erweisen, die nicht nur wesentlich andere sind als die nationalen und internationalen Gegebenheiten, in deren Angesicht Antonio Gramsci die Gefängnishefte verfasste, sondern auch von den 1980er Jahren sich gehörig unterscheiden, in denen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ihr hier diskutiertes Hauptwerk verfassten.46 Ihr Ausgangspunkt war bekanntlich das Bestreben, jene Neuen Sozialen Bewegungen analytisch fassen zu können, die eben weder parteiförmig organisiert waren, noch auf einen Klassenstandpunkt zurückgeführt werden konnten – dies war ja die Veranlassung, über Gramscis Denkrahmen hinauszugehen. Die Ausdifferenzierung sozialer und politischer Verhältnisse hat seither beträchtlich zugenommen, und in der Logik von Laclau und Mouffe erhöhen Komplexität und Fragmentierung die Relevanz hegemonialer Politik. Gerade der Neoliberalismus ist ja ein immer wieder gern herangezogenes Beispiel, um die Wirkungsweise von Hegemonie anschaulich zu machen, und zwar auch schon mit Gramsci selbst, noch ohne Diskurstheorie: Die scheinbare Unhinterfragbarkeit des kapitalistischen Systems auch und gerade durch jene, die zu seinen Opfern gehören, und seine über Krisen hinweg augenscheinlich unerschütterliche Stabilität sind gutes Anschauungsmaterial für Alltagsverstand und Passive Revolution. Gleichzeitig scheint ausgerechnet der globalisierte Neoliberalismus für eine Zurückdrängung des Staates im Dienste einer entfesselten Ökonomie zu stehen, was die Parameter seiner hegemonietheoretischen Kritik gehörig verschieben würde. Dieser kurzsichtige Blick verkennt jedoch die nach wie vor gegebene Rolle des Staates in der Sicherung dieser Verhältnisse, denn was häufig als ‚Entstaatlichung‘ gefasst wird, ist in Wahrheit eine „Reartikulation von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft“.47 Solches lässt sich also mit Gramsci benennen, auch wenn er seinen Begriff des Integralen Staates selbstverständlich mit Blick auf nationale und nicht auf globalisierte Verhältnisse entwickelt hat. Dies macht einmal mehr deutlich, dass es weniger darum gehen kann, gegebene Konzepte auf neue Gegebenheiten mechanisch anzu45 Vgl. Nonhoff 2006, S. 146f. 46 Auch wenn dieser Strang hier nicht vertieft werden kann, sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass Chantal Mouffe in Fortsetzung ihrer theoretischen Arbeit Fragen der Demokratie in einer Weise weiterentwickelt (hat), die sich durchaus von Hegemonie und radikale Demokratie absetzt, auch wenn sie an die positive Bezugnahme auf liberal-demokratische Institutionen anschließt, gerade auch im Kampf gegen europäische Rechtspopulisten. Nicht zuletzt gegen die Zumutungen der neoliberalen Zwänge sieht sie im Staat durchaus eine Instanz des Einspruchs (vgl. Mouffe 2005). 47 Röttger 2004, Sp. 1264.

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wenden, als sich vielmehr um theoretische Übersetzungsleistungen zu bemühen, die den historischen Bedingungen Rechnung tragen.

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Ingo Elbe Politische Macht, Faschismus und Ideologie. Ernesto Laclaus Auseinandersetzung mit Nicos Poulantzas

Die Rezeption der Schriften von Nicos Poulantzas, einem der prominentesten marxistischen Staatstheoretiker der 1970er Jahre, hatte einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des Werkes von Ernesto Laclau. Im Folgenden werde ich zeigen, dass man dabei zwei thematische Felder und Radikalitätsgrade dieser Auseinandersetzung unterscheiden kann: Zunächst interveniert Laclau in die Kontroverse zwischen Poulantzas und dem Politikwissenschaftler Ralph Miliband. Hier übt Laclau eine immanente Kritik am gesellschaftstheoretischen Instanzen-Formalismus der strukturmarxistischen Schule und beschränkt sich auf eine Historisierung des Begriffs des Politischen als Moment einer Teilbereichstheorie. In der Diskussion von Poulantzasʼ Faschismusanalyse, die vor allem unter dem Aspekt der Bedeutung von ideologischen Krisen und Kämpfen geführt wird, formuliert Laclau allerdings Thesen, die nach seiner damaligen Einschätzung zwar lediglich Poulantzasʼ klassenreduktionistische Konzeptualisierung von Ideologien überwinden sollen, de facto aber den grundlegenden Umbau von Laclaus marxistischem Theoriegerüst vorbereiten – allerdings ohne diesen Umbau bereits vorzunehmen. Der ‚populare‘ Diskurs, die antagonistische Reklamation des partikularen Gemeinwesens, wird hier schon zum vornehmlichen Mechanismus des Politischen – zum Modus des ideologisch-politischen Klassenkampfs, wie es hier noch heißt –, aber das Politische ist hier noch nicht, wie in Laclaus postmarxistischer Phase, die Logik der Konstitution des Sozialen schlechthin. Trotz der paradigmatischen Differenzen zwischen Laclaus marxistischer und postmarxistischer Phase wird dabei allerdings eine erstaunliche inhaltliche Kontinuität seines Verständnisses von ‚linker‘ Politik erkennbar, die in seinem Plädoyer für einen linken Populismus und Nationalismus besteht.

1. Aufräumarbeiten im strukturmarxistischen Baukasten 1.1. Die Spezifik des Politischen In seinem ersten Hauptwerk Politische Macht und gesellschaftliche Klassen (1968), das der vornehmliche Gegenstand der Poulantzas-Miliband-Laclau-Debatte der

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1970er Jahre sein wird, ordnet Poulantzas die Politikanalyse in ein Theoriesystem ein, das sich wesentlich an Louis Althussers und Etienne Balibars strukturalem Marxismus orientiert. Poulantzas unterscheidet zunächst eine „allgemeine Theorie“ von „Einzeltheorien“ und „Teilbereichstheorien“.1 Die allgemeine Theorie beinhalte Grundkategorien, die den wissenschaftlichen Gegenstandsbereich ‚Geschichte‘ konstituieren: Produktionsweise, Gesellschaftsformation, Produktionsverhältnisse usw. Einzeltheorien sollen dagegen eine konkrete historische Produktionsweise und Gesellschaftsformation analysieren. Teilbereichstheorien schließlich seien solche, die relativ autonome Instanzen, nämlich „Ökonomie, Politik, Ideologie“, untersuchen, „deren jeweilige Verbindung eine Produktionsweise und eine Gesellschaftsformation ergibt“.2 Die Theorie des Politischen ist damit zunächst eine Teilbereichstheorie, die den Begriff einer bestimmten Produktionsweise und allgemeine geschichtstheoretische Kategorien voraussetzt. Das soll im Folgenden erläutert werden: Zunächst unterscheidet Poulantzas die Begriffe Produktionsweise und Gesellschaftsformation. Eine Produktionsweise bezeichnet nicht lediglich das ökonomische Feld, sondern die Gesamtstruktur einer aus den „Instanzen“ Ökonomie, Politik und Ideologie in spezifischer Weise zusammengesetzten Gesellschaftsordnung.3 Eine Produktionsweise als komplex strukturiertes Ganzes sei ein „abstrakt-formales Objekt“,4 ein Begriff der Kernstrukturen einer Sozialordnung „in ihrem idealen Durchschnitt,“5 während mit ‚Gesellschaftsformation‘ „ein soziales Ganzes […] zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner historischen Existenz“6 bezeichnet werde, z.B. die französische Gesellschaft im Jahr 1968. Eine Gesellschaftsformation könne wiederum eine Kombination aus verschiedenen Produktionsweisen sein, wobei eine Produktionsweise die dominante Position innehabe. Die Theorie des Politischen könne daher als Teilbereichstheorie auf der hohen Abstraktionsebene einer Produktionsweise (das Politische im Kapitalismus im Allgemeinen) und auf der niedrigen Abstraktionsebene einer Gesellschaftsformation (die politische Instanz in der französischen Gesellschaft des Jahres 1968) konzeptualisiert werden. In einer Produktionsweise sei das Ökonomische in letzter Instanz determinierend, ohne immer die dominante Instanz sein zu müssen. Das Ökonomische, verstanden als bestimmte Struktur der Produktionsverhältnisse, bestehe im Kern aus den Besitzund Eigentumsverhältnissen. ‚Besitz‘ wird diffus als „Verhältnis der realen Aneignung“ bestimmt, während ‚Eigentum‘ das Verfügungsverhältnis des „Nicht-Arbeitenden“ über die Arbeitskraft bzw. Produktionsmittel bezeichne. Besitz- und Eigentumsverhältnisse kombinieren die „invarianten Elemente“ ‚unmittelbare Produzen1 2 3 4 5 6

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Poulantzas 1974, S. 10. Ebd. Vgl. ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Marx 1989, S. 839. Poulantzas 1974, S. 13.

ten‘, ‚Produktionsmittel‘ und „Nicht-Arbeitende“.7 Diese Kombination innerhalb der Produktionsverhältnisse bestimme, welche Art von Trennung und Verbindung der sozialen Instanzen existiere, weise diesen also ihre Position im sozialen Gefüge zu und determiniere so zugleich deren relative Autonomie.8 Im Gegensatz zum Modell der „expressive[n] Totalität“,9 das die Determination durch die Ökonomie als völlige Unselbständigkeit der anderen Praxisfelder begreife, sind also relative Autonomie des Politischen und Determination durch das Ökonomische keine Widersprüche. Im Rekurs auf Marx10 behauptet Poulantzas gar, dass die Determination durch die Ökonomie in vorkapitalistischen Produktionsweisen das Politische als dominante Instanz setzen könne, während die Ökonomie im Kapitalismus sowohl determinierende als auch dominierende Instanz sei. Anhand der kapitalistischen Produktionsweise stelle sich das Determinationsverhältnis wie folgt dar: Der Feudalismus sei durch das Auseinanderfallen von Eigentums- und Besitzverhältnissen gekennzeichnet. Die unmittelbaren Produzenten seien in der Form mit ihren Produktionsmitteln verbunden, als sie damit ihre Subsistenz bestreiten können. Das Mehrprodukt müsse ihnen daher in Form persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse „‘durch außerökonomischen Zwang abgepreßt werden‘“.11 Im Kapitalismus hingegen bestehe eine „Homologie“12 von Nichtbesitz/Nichteigentum der unmittelbaren Produzenten an den Produktionsmitteln: Sie kommen erst nachträglich, durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft, überhaupt mit Produktionsmitteln in Kontakt und verfügen nicht einmal teilweise über die damit hergestellten Arbeitsprodukte. Das Mehrprodukt wird ihnen in Gestalt des Mehrwerts vermittelt über strukturelle Zwänge des Marktes (durch Nichteigentum/-besitz an Produktionsmitteln bedingter Zwang zum ‚freiwilligen‘ Tausch) abgepresst. Damit konstituiere sich eine Struktur des gesellschaftlichen Ganzen, die eine „spezifische Autonomie“13 der Instanzen Politik/Ökonomie aufweise. ‚Ökonomie‘ bedeute dann eine relativ autonome, weil marktvermittelte, Abpressung des Mehrwerts, ‚Politik‘ ein relativ autonomes, weil nicht unmittelbar die Mehrwertaneignung bewerkstelligendes Feld des organisierten Zwangs. Die politischen Strukturen bestünden damit „in der institutionalisierten Staatsmacht“,14 die im Kapitalismus die Form des staatlichen Monopols legitimer Gewaltausübung angenommen habe. Poulantzas verteidigt in seiner Theorie ‚Politik‘ als Teilbereichskonzept. Nicht nur verwendet er die Begriffe Politik/Politisches, die später in postmarxistischen

7 8 9 10 11 12 13 14

Ebd., S. 24. Vgl. Marx 1989, S. 799f. Poulantzas 1974, S. 12. Vgl. Marx 1993, S. 96Fn. bei Poulantzas 1974, S. 26. Poulantzas 1974, S. 28. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Ebd., S. 41, vgl. auch 51Fn., 235f.

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Ansätzen jeweils eine eigenständige Bedeutung erhalten,15 synonym, er wendet sich auch scharf gegen eine Entdifferenzierung des Begriffs des Politischen zum Inbegriff für den „historisch-dynamischen Aspekt“ jeder gesellschaftlichen Instanz. Dies führe zur „Abschaffung […] der Besonderheit des Politischen, seine[r] Zersplitterung in lauter nicht unterscheidbare Elemente“,16 würde „eine Untersuchung der Strukturen des Politischen und der politischen Praxis überflüssig“17 werden lassen, was so viel heißen soll wie die politische Theorie als Staatstheorie fallenzulassen, weil das Politische ja nun überall zu finden sei. Schließlich bewirke dies auch eine „Überpolitisierung der theoretischen Ebene“, die in Schemata wie „‘bürgerliche Wissenschaft – proletarische Wissenschaft‘“18 münde. Diese Bemerkungen stellen eine Art Kritik des Postmarxismus avant la lettre dar, treffen sie doch vielen seiner TheoretikerInnen gemeinsame Tendenzen, nämlich die Entdifferenzierung des Politischen vom mit dem Staat verbundenen Teilbereichsbegriff zum Zentralbegriff für Wandel und instituierende Praxis19 und die extreme Politisierung des Diskurses im Sinne einer politischen Theorie der Wissensproduktion – die allerdings nicht mehr in einem klassentheoretischen Duktus daherkommt, sondern im Stile eines unspezifischeren epistemischen Relativismus und Machtreduktionismus formuliert wird.20 Allerdings meint auch Poulantzas, der politische (im Gegensatz zum bloß ökonomischen) Kampf sei der „Angelpunkt des Veränderungsprozesses“21 einer Gesellschaftsformation. Diese These ist aber Resultat seiner Auffassung der Zentralität des Staates für die Veränderung oder Bewahrung einer gesellschaftlichen Ordnung, d.h. politische Praxis besteht in der Bezogenheit des Handelns auf den Staatsapparat. Daher sei die über den Klassenkampf vermittelte „Eroberung der Macht im Staat das Spezifische der politischen Praxis“.22 Die Bedeutung des kapitalistischen Staates als Form des Politischen bestehe nämlich in seiner „globale[n] Kohäsionsfunktion“23 für gesellschaftliche Verhältnisse. Einerseits vereinzele der Staat die Individuen zu Rechtssubjekten und Konkurrenten auf dem Markt. Dieser „Vereinzelungseffekt“ werde aber vom Staat durch „die repräsentativen Institutionen der Einheit des Volkes als Nation“24 wieder kompensiert, wobei er die Hegemonie einer Klassenfrakti15 Politisches wird dort bisweilen als instituierende und Politik als instituierte Praxis verstanden, je nach Vertreter aber anders benannt. 16 Ebd., S. 36. 17 Ebd., S. 37. 18 Ebd., S. 36. 19 Vgl. Laclau/Mouffe 2000, S. 193, die betonen, dass „Politik als eine Praxis des Erzeugens, der Reproduktion und Transformation sozialer Verhältnisse nicht auf einer bestimmten Ebene des Gesellschaftlichen verortet werden kann, da das Problem des Politischen das Problem der Einrichtung des Sozialen ist“. 20 Vgl. Mouffe 2013, S. 73f., 101, Marchart 2011, S. 213. 21 Poulantzas 1974, S. 78. 22 Ebd., S. 42. 23 Ebd., S. 50. 24 Ebd., S. 136.

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on innerhalb des herrschenden Klassenbündnisses (Machtblock) und die Hegemonie des Machtblocks im sozialen Gesamtgefüge (der herrschenden über die beherrschten Klassen) organisiere. Der Staat fungiere damit als „Einigungsfaktor“25 der herrschenden Klasse, indem er deren allgemeines Klasseninteresse durchsetze – und zwar auch und gerade gegen die unmittelbaren Interessen bestimmter Kapitalfraktionen oder konkurrierender Einzelkapitale.26 Er sei somit in mehrfacher Hinsicht kein Instrument der herrschenden Klasse oder gar einer Klassenfraktion: Die Bourgeoisie sei kein homogenes, einheitlich als Gesamtkapital agierendes Klassensubjekt, sondern vielmehr in konkurrierende Einzelkapitale und Fraktionen zersplittert, deren unmittelbares Interesse häufig ihrem langfristigen widerspreche. Den Einzelkapitalen müssten ihre langfristigen Interessen staatlich aufgezwungen werden. Der Staat sei aber auch kein unabhängig von Klassenkämpfen existierendes neutrales Subjekt, sondern Ort der Verdichtung der Kräfteverhältnisse dieser Klassen, in deren Kämpfen auf dem politisch-ideologischen Feld sich erst ein verbindlicher staatlicher Wille konstituiere.27 Um Hegemonie und soziale Einheit zu organisieren, bedürfe es symbolischer und ökonomischer Kompromisse innerhalb des Blocks an der Macht und zwischen diesem und den subalternen Klassen. Politische Herrschaft mittels Hegemonie stelle damit ein instabiles Kompromissgleichgewicht mit Dominante dar, innerhalb dessen sich die dominierenden Interessen symbolisch als Interessen des gesamten Machtblocks und als Verkörperung der ‚Volksinteressen‘ präsentierten.28 Auch wenn Poulantzas sich von einer abstrakten „Kombinatorik“29 distanziert, die Ökonomie, Politik und Ideologie als „im Vorhinein gegebene Wesenheiten“ verstehe, welche „erst dann, wenn sie schon bestehen, zueinander in rein äußerliche Beziehungen treten“,30 so behauptet er 1968 noch, dass den genannten Instanzen „in anderen Produktionsweisen“ als der kapitalistischen ebenfalls eine „relative Autonomie“31 zukomme, allerdings „nicht dieselbe Autonomie“32 wie im Kapitalismus. Bezüglich der Politikwissenschaft bestehe damit das „Problem, den spezifischen Charakter des politischen Teilbereichs je nach den jeweiligen Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen zu erfassen.“33 Poulantzas proklamiert also die Möglichkeit einer allgemeinen Theorie des Politischen (allgemein im Sinne von allgemeiner Geschichtstheorie) als Teilbereichstheorie. Dagegen wendet sich Laclau: Poulantzas entwickle keinen „theoretischen“, sondern lediglich einen „deskriptiven und intuiti-

25 26 27 28 29 30 31 32 33

Ebd., S. 311. Vgl. ebd., S. 295ff., 310ff. Vgl. Poulantzas 1976b, S. 97. Vgl. Poulantzas 1974, 139ff., 194–198, 228. Ebd., S. 24. Ebd., S. 15. Ebd., S. 28. Ebd., S. 31Fn. Ebd., S. 23.

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ven“34 Begriff des Ökonomischen. Dieser werde im Rahmen einer abstrakten Kombinatorik von Instanzen verwendet, die genau das praktiziere, was Poulantzas leugne: die Konstruktion der Spezifik einer Produktionsweise durch die nachträgliche Kombination vorab unterschiedener Instanzen. Die Aussagen, dass es die spezifische Kombination der Instanzen Politik/Ökonomie/Ideologie sei, die die Struktur einer Produktionsweise ausmache, dass diese Instanzen dabei stets als relativ autonom gelten und dass die Ökonomie in letzter Instanz determinierend sei, auch wenn die Politik die dominante Instanz darstelle, hält Laclau für Symptome einer theoretischen Anomalie. Zwar erahne Poulantzas, dass die Konstruktion der Ebenen Politik/ Ökonomie aus der kapitalistischen Produktionsweise heraus erfolge und ihre Projektion in vorkapitalistische Produktionsweisen einen Anachronismus darstelle. So bemerke bereits Poulantzasʼ Gewährsmann Balibar, dass gewaltvermittelte Aneignungen des Mehrprodukts im Feudalismus, „[k]eine direkten ökonomischen Formen [darstellen], sondern in unlösbarer Verflechtung politische und ökonomische Formen zugleich“, es also Produktionsweisen gebe, die „keine […] Unterscheidung einer ‚ökonomischen‘, ‚juristischen‘, ‚politischen‘ Ebene [.] zulassen“.35 Zugleich werde aber mit Marx behauptet, im Feudalismus werde das Mehrprodukt „durch außerökonomischen Zwang abgepreßt“.36 Laclau räumt nun mit den begrifflichen Unklarheiten des strukturalistischen Baukastens und seiner Bauklötze Politik/ Ökonomie/Ideologie auf, indem er die Ambiguität des dabei verwendeten Begriffs des Ökonomischen auflöst. Es existieren demnach zwei grundverschiedene Begriffe von Ökonomie im Denken von Balibar/Poulantzas: Der erste Begriff sei auf der Ebene der allgemeinen Geschichtstheorie angesiedelt und bezeichne die Produktionsverhältnisse im Sinne der zentralen Formen der Aneignung von Mehrarbeit.37 Der zweite Begriff hingegen „bezieht sich nur auf warenproduzierende Gesellschaften“,38 ist also auf der Ebene der Einzeltheorie einer ganz spezifischen Produktionsweise (des Kapitalismus) angesiedelt, die die Aneignung von Mehrprodukt marktvermittelt und nicht mehr direkt gewaltvermittelt organisiert. Nur hier sei eine relativ autonome Instanz ‚Ökonomie‘ existent. Wenn im Feudalismus daher unmittelbare Gewalt im Rahmen persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse zur Aneignung des Mehrprodukts verwendet werde, so sei das im Sinne des ersten Begriffs keineswegs ‚außerökonomischer‘ Zwang, sondern diese Form der Aneignung sei eben die Gestalt der Produktionsverhältnisse. Diese konstituieren im Feudalismus aber, wie Laclau feststellt, keine relativ autonomen Instanzen Politik/Ökonomie, d.h. in der zweiten Bedeutung existiert dort keine Ökonomie. Damit werde aber auch die Unterscheidung von Determinante und Dominante hinfällig, denn im Sinne der „Produkti34 35 36 37 38

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Laclau 1981, S. 68. Balibar 1972, S. 298f. Marx 1989, S. 799. Vgl. Laclau 1981, S. 67f. Ebd., S. 68.

on der materiellen Existenz“ sei die Ökonomie immer „nicht in letzter Instanz, sondern in erster Instanz“ determinierend und „dominierend, in welcher Produktionsweise auch immer“.39 D.h. wenn ‚das Politische‘ in Antike oder Feudalismus dominiere, sei es eben Moment der Produktionsverhältnisse.40 Es ist also die spezifische Verbindung/Trennung von Produktionsmitteln, Arbeitskräften und Nichtproduzenten, die die gesellschaftliche Struktur determiniert, die dann je nachdem relativ autonome Instanzen haben kann oder auch nicht. Welche Konsequenz hat diese immanente Kritik für Laclaus Politikbegriff? Er vertritt hier noch eine historisch klar konturierte „Spezifik des Politischen“,41 die die nur im Kapitalismus existierende relativ autonome Instanz des staatlichen Gewaltmonopols bezeichnet, das einer marktvermittelten, strukturellen Zwängen folgenden ökonomischen Ebene gegenübersteht. Es findet sich noch keine Spur seines späteren Konzepts von Politik als einer „Praxis des Erzeugens […] sozialer Verhältnisse“42 schlechthin. Die historische Spezifizierung des Politikbegriffs erkennt auch Poulantzas in seiner Antwort auf Miliband und Laclau an. Hier spricht er vom „klassischen Irrtum […] historischer Rückprojizierung“,43 der ihm im Falle der Instanzentheorie unterlaufen sei und deutet bereits seine Schlussfolgerung aus der Staatstheorie an, dass es keine invariante politische Instanz und demnach auch „keine allgemeine Theorie des Staates geben kann, in der die allgemeinen Gesetze seiner Transformation in den verschiedenen Produktionsweisen fixiert sind“.44 Es sei „gerade eines der Verdienste des Marxismus, hier […] die metaphysischen Höhenflüge der politischen Philosophie vermieden zu haben, die vagen und nebelhaften allgemeinen, abstrakten Theoretisierungen, mit denen die großen Geheimnisse der Geschichte, des Politischen, des Staates und der Macht aufgedeckt werden sollten.“45 Hier wendet sich Poulantzas bereits gegen die poststrukturalistische Tendenz46 zu „großen und mystifizierenden Ausdrücken“, „simpelsten und bombastischen Verallgemeinerungen“,47 mit denen die realen Probleme der politischen Wissenschaft in eine diffuse Philosophie des Politischen aufgelöst würden. Man benötigt nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie Poulantzas Laclaus postmarxistischen Ansatz beurteilt hätte.

39 Ebd., S. 69. 40 Die Unterscheidung von funktionaler Ebene der materiellen Reproduktion und Ökonomie als relativ autonomer Teilstruktur findet sich ausgearbeitet im Werk von Godelier 1990, S. 29f., 39. 41 Laclau 1981, S. 46. 42 Laclau/Mouffe 2000, S. 193. 43 Poulantzas 1976b, S. 107. 44 Poulantzas 1978, S. 20. 45 Ebd., S. 18. 46 Poulantzas wendet sich explizit gegen so unterschiedliche Autoren wie Deleuze, Foucault, Lefort, Castoriadis, Levy und Glucksmann. 47 Ebd., S. 19, vgl. S. 33-38.

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1.2. Die ideologischen „Staats“apparate Im Anschluss an Ralph Milibands Kritik an Poulantzas stellt Laclau auch das Konzept der ideologischen Staatsapparate von Althusser/Poulantzas in Frage, allerdings ohne deren Ideologiebegriff selbst zu kritisieren: Althusser bestimmt Ideologie als Repräsentation des „imaginäre[n]“ – d.h. mythischen, illusionären und verzerrten – „Verhältnis[ses] der Individuen zu ihren realen Existenzbedigungen“,48 die in sozialen Praktiken situiert sei, deren institutionelle Seite er ‚ideologische Staatsapparate‘ (ISA) nennt. Althusser versucht im Anschluss an Gramscis Hegemonietheorie die Institutionen und Praktiken der Ideologieproduktion als zentrale Orte der Herstellung von Zustimmung zu Herrschaft und der Reproduktion der Produktionsbedingungen durch Identitätsbildung („subjektivierende[.] Unterwerfung“49) in den Blick zu nehmen. „Anrufung“50 ist der Mechanismus der Subjektkonstitution, der institutionalisierten Hervorbringung und Verinnerlichung von Verhaltenserwartungen, die Individuen zu Rollenträgern werden lassen, die mit relativer personaler Kohärenz (Identität) und Handlungsfähigkeit ausgestattet sind.51 Die allgemeinen Strukturen des ideologischen Effekts sind die Identitätsillusion (die real fragmentierte Individualität wird imaginär als homogene, einheitliche Identität erlebt); der Anthropomorphismus (die Welt wird als teleologisch zentriert auf das einheitliche Subjekt hin erlebt) und die individualistische Autonomieillusion: „[A]ufgrund der Anrufung“, so Laclau zustimmend, leben „Individuen ihre Lebensbedingungen […], als wären sie selbst deren autonomes Prinzip – als wenn sie, die Determinierten, das Determinierende wären“.52 Miliband stellt nun die Frage, warum z.B. Familien, Schulen, Vereine, Gewerkschaften, Kirchen und Unternehmerverbände, die von Althusser (und im Anschluss an ihn auch von Poulantzas)53 als solche Staatsapparate identifiziert werden, prinzipiell ideologische Staatsapparate sein sollen. Hier, so Miliband, werde eine fatale Konfundierung nichttotalitärer und totalitärer Regime vollzogen, die diese häufig privaten und damit nichtstaatlichen Institutionen in der Tat unter staatliche Kontrolle stellen.54 Wie begründet Poulantzas nun die Staatlichkeit der Apparate? 1) Weil politische Herrschaft nicht allein über das „Mittel der organisierten physischen Repression“ funktionieren könne, sondern die „Mitwirkung der Ideologie“ erfordere, seien deren Apparate „direkt in das staatliche System eingegliedert“.55 2) Alles, was

48 49 50 51 52 53 54 55

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Althusser 2012, S. 256. Ebd., S. 252. Ebd., S. 268. Vgl. ebd., S. 271ff. Laclau 1981, S. 89. Vgl. Poulantzas 1976a, 19ff. Vgl. Miliband 1976, S. 33. Poulantzas 1973, S. 323.

gesellschaftliche Kohäsion stifte und die Produktionsbedingungen reproduziere, sei staatlich. Der Staat dürfe nicht allein als Instanz begriffen werden, die die „Machtmittel zur physischen Repression“ beinhalte, sondern müsse über seine „Rolle in der Aufrechterhaltung der Einheit und des Zusammenhangs einer gesellschaftlichen Formation, in der Aufrechterhaltung […] und damit der Reproduktion der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen“56 begriffen werden. 3) Alles, was von organsierter Zwangsgewalt geschützt werde, sei staatlich. Der repressive Staatsapparat (RSA) garantiere die Funktion der ISA, er biete Rechtsgarantien für Verbände, Schulen, Kirchen usw. 4) Der „Staat selbst“ treffe die Unterscheidung privat/öffentlich – und zwar mittels des Rechts. Da diese Unterscheidung also lediglich „eine rein formaljuristische“57 Unterscheidung des Staates sei, könne sie nicht dazu verwendet werden, den Staat im Unterschied zur Ökonomie zu bestimmen. Mit der Behauptung, es sei für die Frage des Charakters einer Institution als ISA irrelevant, ob diese privat oder öffentlich ist, werde, so lautet Laclaus Kritik, der Staatsbegriff von einem Begriff für eine relativ autonome Instanz zu einem reinen Funktionsbegriff verschoben.58 Der Begriff des Staates umfasse nun alles, was die Funktion der „Kohäsion“ einer widersprüchlichen Gesellschaft ausfüllt. Damit wäre, um Laclaus Überlegung zu ergänzen, auch der Markt staatlich, weil er eine, wenn auch antagonistische, Form der Konstitution von gesellschaftlichem Zusammenhang ist. Und auch der Staat wäre zum Teil ‚nicht-staatlich‘, weil er als Rechtssystem die Form des Privateigentums und damit der Konkurrenz und Dissoziation der sozialen Einheit mitkonstituiert,59 wie Poulantzas im Kontext seiner These vom rechtlich vermittelten Vereinzelungseffekt selbst proklamiert.60 Es handle sich, so Laclau, dabei um den Fehlschluss von der These, der Staat sei eine „Instanz, die den Zusammenhalt zwischen den Ebenen einer Gesellschaftsformation herstellt, zur Behauptung, alles, was zum Zusammenhalt einer Gesellschaftsformation beiträgt, gehöre per definitionem zum Staat.“61 Damit werde die Staat/Gesellschaft-Differenz aufgelöst in die Differenz von integrativen/desintegrativen Praktiken. Insbesondere werde der spezifische Charakter des bürgerlichen Staates als relativ autonomer Sphäre und öffentlicher Zwangsgewalt damit eskamotiert.

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Ebd., S. 324. Ebd., S. 327. Vgl. Laclau 1981, S. 62. Von anderen Dissoziationseffekten des Staates wie Bürgerkriegen, politischen Krisen usw. ganz abgesehen. 60 Vgl. Poulantzas 1974, S. 132f., 220. 61 Laclau 1981, S. 61.

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2. Faschismus, Populismus, Ideologie Laclaus Kritik an Nicos Poulantzasʼ Buch Faschismus und Diktatur (1970) geht weit über die konkrete Frage der Faschismusanalyse hinaus und beinhaltet eine Theorie des ideologischen Kampfes und der diskursiven Verknüpfung von Elementen, die spätestens gegen Ende der 1970er Jahre einen radikalen Paradigmenwechsel Laclaus hin zum ‚Postmarxismus‘ einleitet.

2.1. Poulantzas über den Klassencharakter des Faschismus Poulantzas begreift den Faschismus als spezifische Herrschaftsform einer Ausnahmegestalt des ‚interventionistischen‘ kapitalistischen Staatstyps.62 Diese komplexe Bestimmung impliziert, dass er den Faschismus weder aus dem Kapitalismus im allgemeinen (Ebene der Produktionsweise) noch aus einem bestimmten ‚Stadium‘ der Entwicklung des Kapitalismus (‚Staatsinterventionismus‘) ableitet, sondern ihn innerhalb dieser Strukturen aus einer konkreten historischen Klassenkampfkonstellation hervorgehen sieht. Er grenzt sich damit von den deterministischen Stadientheorien des Faschismus ab, die in der Kommunistischen Internationale (KI) vertreten wurden. Diese betrachteten den Faschismus als unvermeidliche, letzte und die revolutionären Energien der Arbeiterklasse unabsichtlich befördernde Form der ‚Diktatur des Großkapitals‘, als bloßes Werkzeug dieses Großkapitals, als „offene, terroristische Diktatur“ letztlich nur der „reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“,63 ohne die Massenbasis und ideologische Integrationsfähigkeit faschistischer Bewegungen zu begreifen.64 Poulantzas zufolge reagiert der Faschismus auf eine Hegemoniekrise des Blocks an der Macht: Weder innerhalb des Bündnisses der herrschenden Klassen noch zwischen diesem und den beherrschten Klassen könne die stabile Führung einer Fraktion oder Klasse etabliert werden.65 Das bedeute keineswegs, dass die Revolution vor der Tür gestanden habe und die Bourgeoisie aus Furcht vor der Arbeiterklasse nun zur faschistischen Krisenlösung greifen musste. Vielmehr stünde der Hegemonieunfähigkeit des Machtblocks eine in der Defensive befindliche, geschwächte Arbeiterbewegung gegenüber.66 Der Faschismus reorganisiere die Hegemonie unter der Füh-

62 63 64 65 66

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Vgl. Poulantzas 1973, S. 332-336. Dimitroff 1976, S. 97. Vgl. Poulantzas 1973, S. 86, 157. Vgl. ebd., S. 71f. Vgl. ebd., S. 50, 82f.

rung des ‚Monopolkapitals‘,67 indem er das Machtzentrum vom Parlament auf parastaatliche Organisationen (z.B. NS-Bewegung mit Kampfbünden sowie „ökonomisch-ständischen ‚pressure groups‘, die […] unmittelbar auf die Exekutive einwirkten“)68 und eine verselbständigte Exekutive (politische Polizei, Verwaltung, Richterschaft, Armee) verlagere.69 Dabei zeichne er sich durch das „Vorhandensein einer Massenpartei“ mit starker außerparlamentarischer Orientierung und „durch eine permanente Mobilisierung der Volksmassen“70 aus, die, einmal an der Macht, eine antibürokratische Pluralisierung der Machtzentren bewirke. Der Faschismus sei keineswegs bloßes Werkzeug einer kleinen Gruppe von Finanzkapitalisten, wie die offizielle KI-Linie behauptete, sondern weise eine spezifische „relative Autonomie sowohl gegenüber dem Block an der Macht als auch gegenüber der Fraktion des monopolistischen Großkapitals“71 auf, einmal, weil er, wie jede Form kapitalistischer Herrschaft, eine spezifische doppelte Kompromiss- und Repräsentationsstruktur zwischen dominanter Klassenfraktion und mitherrschenden Klassen im Machtblock sowie zwischen diesem und den beherrschten Klassen etablieren müsse. Darüber hinaus, weil er sich auf eine bestimmte soziale Bewegung stützen könne – seine vor allem kleinbürgerliche Massenbasis und ihre faschistische Ideologie. Poulantzas spricht denn auch von der „entscheidenden Rolle, die in solchen historisch bestimmten Umständen der Ideologie zukommt“.72 Die faschistische Ideologie bestehe im Wesentlichen aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Elementen, denen es allmählich gelinge, die Ideologie der Arbeiterklasse „zu durchtränken“.73 Die kleinbürgerliche Ideologie, der Poulantzas die stärkste Bedeutung zumisst, sei ein spezielles Phänomen, da es im Kapitalismus eigentlich „nur die Ideologien der beiden Hauptklassen, Bourgeoisie und Proletariat“ gebe, „die politisch absolut gegensätzlich sind“.74 Bereits hier schließt er ökonomische Klassenlage und bestimmte Formen des politischen Bewusstseins kurz, ohne diesen Schritt zu rechtfertigen oder die Transformation von gegensätzlichen ökonomischen Interessen auf der Grundlage des Verhältnisses Lohnarbeit-Kapital in „unversöhnlich[e]“ „politische[.] Klassenstandpunkt[e]“75 anzugeben. Die Diagnose eines Kurzschlusses von positionellen

67 Die von Poulantzas verwendete Unterscheidung von Großkapital und mittlerem Kapital (vgl. ebd., S. 95) trifft die inneren Spannungen der kapitalistischen Klassenfraktionen am Vorabend des Dritten Reichs nicht wirklich (vgl. Sablowski 2006, S. 270f.; Hoffmann 1996, S. 376–381). 68 Poulantzas 1973, S. 106. 69 Vgl. ebd., S. 74, 106, 132. 70 Ebd., S. 355. 71 Ebd., S. 87. 72 Ebd., S. 76. 73 Ebd., S. 77. 74 Ebd., S. 256. 75 Ebd., S. 259, 255.

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und ethischen Interessen ist hier naheliegend.76 Das kleinbürgerliche ideologische „Subsystem“ entstehe durch die „Vermischung“ der proletarischen und „bürgerlichen Ideologie mit den spezifischen kleinbürgerlichen Wunschvorstellungen“.77 Furcht vor der Proletarisierung und Festhalten am kleinen Eigentum einerseits, Furcht vor der Konkurrenz durch das Großbürgertum und Existenz als unmittelbar Arbeitende andererseits sollen beim alten Kleinbürgertum folgende ideologische Auswirkungen zeitigen: 1) privateigentumszentrierter, am status quo festhaltender ‚Antikapitalismus‘ (Opposition gegen ‚Plutokratie‘ und Monopole); 2) Elitedenken und Mythos des leistungsbasierten individuellen Aufstiegs; 3) „Fetischismus der Macht“78 als Glaube an den klassenneutralen, starken Staat und 4) ‚Mittelstandsideologie‘. Beim neuen Kleinbürgertum stehen die Bildungsreligion, die starke Identifizierung mit den Spitzen des Staates und die Idee der neutralen, allein Sachzwängen folgenden Bürokratie im Vordergrund.79 Nun soll auch noch die Ideologie des Kleinbürgertums in eine Krise geraten, was dazu führe, dass insbesondere der „systemimmanente[.]“80 Pseudoantikapitalismus vorherrschend werde. Die zur Ideologie des „rebellierenden Kleinbürgertums“81 modifizierte Ideologie sei im Faschismus damit prima facie zur herrschenden Ideologie geworden und weise starke Überein76 Ich folge hier Schuck 2014. Er unterscheidet subjektive von positionellen und diese wiederum von ethischen Interessen. Während subjektive Interessen individuelle Präferenzen sind, die in der Psyche von Akteuren lokalisiert sind, sind positionelle Interessen insofern objektiv, als sie institutionalisierte Verhaltenserwartungen oder strukturelle Zwänge bezeichnen (S. 308), die sich relativ unabhängig von den Deutungsleistungen der Akteure konstituieren und die sich Akteure bei der Verfolgung subjektiver Interessen zu eigen machen müssen, ohne dass sie diese (die positionellen Interessen) bejahen müssen. „Positionelle Interessen“, so Schuck, „unterwerfen die Möglichkeit eines guten Lebens – und nicht selten auch die des nackten Überlebens – sozio-strukturell bedingten Zwecken.“ (S. 317) Sie bezeugen die „Existenz eines kausalen Einflusses materieller Verhältnisse auf die Bestrebungen und Handlungspräferenzen“ von Akteuren (S. 300) und zeigen, dass Interessen nicht „voraussetzungslos produziert [werden] – als gäbe es keine sozialen Bedingungen, sondern nur ‚pure‘ soziale Praxis, die jederzeit ihre eigenen Motive gleich mitliefert.“ (S. 314). Ethische Interessen hingegen bezeichnen Motive eines guten Lebens, die im Falle eines sozialistischen ethischen Interesses lediglich kontingent mit dem positionellen Interesse als Lohnarbeiter verknüpft sind. Man kann zwar behaupten, die Arbeiterklasse als ganze könne sich nur von Ausbeutung emanzipieren, wenn sie den Sozialismus realisiert, aber dass der einzelne Lohnarbeiter durch seine positionellen Interessen gezwungen wäre, diesen Standpunkt der Arbeiterklasse als ganzer einzunehmen, ist nicht plausibel. Poulantzas‘ Bestimmung objektiver Interessen bleibt dagegen kryptisch: Er betrachtet die Macht einer Klasse als die „Fähigkeit […] ihre objektiven Interessen durchzusetzen“ (Poulantzas 1974, S. 114). Diese „objektiven Interessen“ begreift er als „Grenzen des Umfangs einer spezifischen Klassenpraxis“ (S. 114). Es ist zu vermuten, dass hiermit die strukturelle Begrenzung von Handlungs- und Interpretationsspielräumen durch die ökonomische Position gemeint ist. Die objektiven Interessen können sich aber, so Poulantzas weiter, „infolge der Einwirkung der Ideologie“ durchaus „unterscheiden […] von der Vorstellung, die sich die Agenten oder sogar die Klassen von diesen Interessen machen“ (S. 115). 77 Poulantzas 1973, S. 256. 78 Ebd., S. 257. 79 Vgl. ebd., S. 258. 80 Vgl. ebd., S. 268. 81 Ebd., S. 269.

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stimmungen mit der „imperialistischen Ideologie“ auf: „Von der Fetischisierung der Macht der [sic!] ‚starken Staats‘ und von aggressivem und zum Selbstzweck gewordenen Nationalismus bis hin zur mythischen Überhöhung des Staatsgedankens und zum Führerkult, von Antiparlamentarismus bis hin zum Korporativismus und Autoritarismus erstreckt sich der Bogen“ ihrer „gemeinsamen Züge“.82 In das Proletariat dringe die kleinbürgerliche Ideologie vor allem in Gestalt des chauvinistischen, spontaneistischen und gewaltverherrlichenden Pseudoantikapitalismus ein,83 der ein wesentliches Element der „ideologische[n] Integrationsfunktion“84 des Faschismus darstelle. Der faschistische „Kampf gegen die liberale Ideologie“ beinhalte „einen ‚antikapitalistischen‘ – keineswegs jedoch sozialistischen – Aspekt“. Erwähnt werden „Versöhnungsversuche zwischen den nationalistischen Traditionen und Elementen der Ideologie der Arbeiterklasse“, die sich „in Angriffen auf die ‚Plutokratie‘“,85 Ideen einer Nationalisierung von Aktiengesellschaften und der antiimperialistischen These eines von den Alliierten kolonisierten Deutschland zeigen sollen. Der Nationalismus ist und bleibt aber für Poulantzas eine ‚nichtproletarische‘ ideologische Tradition, die als Ideologie des „rebellierende[n] Kleinbürgertum[s]“86 in die Arbeiterklasse eindringt. Ein wesentliches Moment der ‚ideologischen Krise‘ der Arbeiterklasse sei demnach die „sozialchauvinistische[.] Schwenkung“ der KPD vor allem im Zuge der Schlageter-Kampagne 1923, die „die Agitation gegen den Frieden von Versailles in ganz offen nationalistischer Weise für sich zu benutzen versuchte, um die ‚nationalistischen Kleinbürger‘ für sich zu gewinnen“. Durch diese „Ausnutzung des ‚Nationalismus‘ des Kleinbürgertums“87 habe die „Position der KPD, die sich in mehreren Punkten mit der des Nationalsozialismus deckte, die deutschen Massen“ in „Verwirrung“88 gestürzt.

2.2. Laclaus Konzept des popular-demokratischen Klassenkampfs Poulantzasʼ Ideologiekonzeption begreift Laclau zufolge die ideologische Krise, die zum Faschismus führt, richtig als „Verdichtung“ bestimmter diskursiver Elemente zum „Bruch“89 mit einer bisher dominierenden Ideologie. Er analysiere Ideologien, indem er „sie in ihre konstituierenden Elemente entsprechend ihrer Klassenzugehörigkeit“90 zerlege. Konkrete historische Ideologien wie die des Faschismus seien 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Ebd. Vgl. ebd., S. 151f., 216. Ebd., S. 174. Ebd., S. 110. Ebd., S. 202. Ebd., S. 179. Ebd., S. 197. Laclau 1981, S. 82. Ebd., S. 83.

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demnach „eine Verschmelzung heterogener Elemente“, „wobei […] jedes Element seine Klassenzugehörigkeit hat“91 und behält: Der Nationalismus oder der putschistische Aktivismus seien kleinbürgerliche Elemente, die in den proletarischen Diskurs eingespeist werden, ohne ihre Klassenzugehörigkeit zu wechseln, und widersprechen damit den Interessen des Proletariats. Nationalismus sei für Poulantzas damit (klein-)bürgerlicher Chauvinismus und könne „nicht in eine sozialistische Richtung transformiert werden“. Poulantzasʼ Zuordnung dieses Elements zu einer Klassenposition sei aber „ein rein willkürlicher Prozeß“.92 Dagegen postuliert Laclau, „daß ideologische ‚Elemente‘, isoliert betrachtet, keine notwendige Klassen-Konnotation haben, und daß diese Konnotation erst das Resultat der Artikulation dieser Elemente in einen konkreten ideologischen Diskurs ist. Die Analyse des Klassencharakters einer Ideologie setzt daher voraus, zu untersuchen, was die spezifische Einheit eines ideologischen Diskurses begründet.“93

Das Einheitsprinzip ideologischer Diskurse besteht, so Laclau in Anknüpfung an Althusser, im Subjekt-Effekt der Anrufung, also der Hervorbringung eines sich bestimmten Verhaltenserwartungen unterwerfenden und sich mit ihnen identifizierenden Handlungsträgers (z.B.: ‚ich bin ein deutscher Arbeiter‘). Die Verbindung von ideologischen Elementen wie Nationalismus oder Klassenidentität in ideologischen Diskursen wie dem Faschismus oder dem Leninismus werde dabei nicht durch die logische Konsistenz der Elemente ermöglicht – sie sei sogar „mit einem großen Ausmaß an logischer Inkonsistenz“ vereinbar –, sondern durch ihre „Fähigkeit […], Verdichtungen mit den anderen Elementen herzustellen“.94 Diese Stelle bleibt kryptisch, denn über die Bestimmung dieser „Fähigkeit“ der Elemente schweigt sich Laclau aus. Auch ein Blick auf das Freudsche Konzept der Verdichtung macht den Gedanken kaum klarer. Freud unterscheidet den durch Zensur seitens der Ich-Instanz konstituierten manifesten, erlebten Trauminhalt vom latenten, unbewussten Traumgehalt und konstatiert einen geringeren Inhalt des manifesten im Vergleich zum latenten. Verdichtung in Gestalt von selektiver Berücksichtigung latenter in manifesten Gehalten und Konstitution eines manifesten Gehalts, der als Mischform für mehrere latente steht, ist einer der Mechanismen, die eine solche Gehaltreduzierung bewirken. Im Traum taucht also z.B. eine Person auf, die selektive Züge mehrerer Personen trägt, die sie symbolisiert.95 Das Prinzip der Assoziation, das dabei waltet, sagt nun aber nichts über Kriterien aus, nach denen assoziiert wird, was aber in unserem Zusammenhang von Interesse wäre, da Laclau ja „Fähigkeit[en]“ konstatiert, die Elemente für eine Assoziation, also Verknüpfung, tauglich machen. Folgt man 91 92 93 94 95

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Ebd., S. 84. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Ebd., S. 90. Vgl. Freud 1995, S. 163.

David Hume, so „gibt es nur drei Prinzipien der Vorstellungsverknüpfung, nämlich Ähnlichkeit, Berührung in Zeit und Raum und Ursache und Wirkung.“96 Solche Verknüpfungen wiederum beruhen Hume zufolge auf unwillkürlichen Vorstellungsintensitäten, Wiederholung bestimmter Vorstellungen und Gewohnheit.97 Allerdings ist an dieser Stelle nicht entscheidbar, welchem Assoziationsbegriff Laclau folgt. In seinem späteren Werk wird er die Assoziation von Elementen als rein diskursive Konstruktion von „Äquivalenzkette[n]“98 analysieren. Laclaus postmarxistischer Ansatz impliziert aber eine veränderte Sozialontologie, die in den hier zu behandelnden Texten noch nicht zu erkennen ist. In der Phase relativer Stabilität ideologischer Diskurse gelinge die Neutralisierung von sozialen Widersprüchen durch „Verschiebungen“.99 Auch dieser Freud entlehnte Begriff bleibt unterbestimmt. Bei Freud bedeutet er die Entstellung latenter Traumgedanken durch manifeste in Folge einer „Akzentverschiebung“.100 So werde aus dem latenten Gedanken ‚ich habe zu früh geheiratet, es hätte noch viele andere Partner gegeben’ der manifeste Gehalt ‚ich habe zu früh Theaterkarten gekauft und Vorverkaufsgebühr bezahlt, es sind aber noch viele Plätze frei‘. Man kann sich ungefähr vorstellen, dass, auf die gesellschaftliche Ebene übertragen, Verschiebung meinen könnte, ökonomische Interessenkonflikte zwischen den Klassen auf andere Ebenen zu transponieren, z.B. auf einen vermeintlichen Konflikt zwischen den Generationen bei der Frage der Finanzierung des Sozialstaats. In Krisenzeiten, so Laclau, löse sich die Einheit eines ideologischen Diskurses auf, was zugleich eine „‘Identitätskrise‘“101 der Subjekte bewirke. Eine Krisenlösung könne durch Umgruppierung der Anrufungen bewerkstelligt werden – eine neue dominante Anrufung strukturiere dann den Zusammenhang. Die ideologische Ebene der Krisenlösung wird Laclau zufolge umso wichtiger, je weniger bedeutsam eine Klasse für die „dominierenden Produktionsverhältnisse[.]“ ist, „je diffuser ihre ‚objektiven Interessen‘“102 sind und je bedeutsamer sie innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsformation ist, was auf die Rolle des Kleinbürgertums im Faschismus verweist. Laclau geht nun davon aus, dass im Zuge des Klassenkampfes ideologische Diskurse durch die spezifische Artikulation von ideologischen Elementen transformiert werden. Er konstatiert eine „doppelte Artikulation des politischen Diskurses“103 – als Klassendiskurs, der die Form des Gesamtdiskurses bestimmt, und als Volksdis-

96 97 98 99 100 101 102 103

Hume 2005, S. 25. Vgl. ebd., S. 63. Laclau 1981, S. 181. Ebd., S. 90. Freud 1995, S. 134. Laclau 1981, S. 90. Ebd., S. 91. Ebd., S. 171.

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kurs, als klassenunspezifisches, in seiner Bedeutung niemals endgültig fixierbares, von Klassendiskursen spezifisch geformtes Material. Zunächst zum Klassenkampf und Klassendiskurs „auf der Ebene der Produktionsweise“: Das „Produktionsverhältnis, das seine beiden Pole als Klassen konstituiert“, sei hier „ein antagonistisches Verhältnis“.104 Die „Stellung im Produktionsprozeß“105 „konstituiert […] zugleich das Verhältnis zwischen Kapitalisten und Arbeitern und den Antagonismus zwischen ihnen“.106 Laclau scheint einen polarischen Gegensatz anzuvisieren, also einen, in dem die Pole des Gegensatzes nur durch den und in dem Gegensatz existieren – „wir können den Begriff Arbeiter [meint: Lohnarbeiter, I.E.] nicht denken, ohne an den komplementären Begriff des Kapitalisten zu denken“.107 Antagonistisch ist diese Beziehung u.a., weil die strukturell bedingten Interessen der Nichteigentümer an Produktionsmitteln an einem möglichst hohen Lohn (v) und der Produktionsmitteleigentümer an einer möglichst hohen Mehrwertrate (m/v) sich strikt widersprechen und ein Nullsummenspiel zwischen Lohn- und Mehrwertanteil implizieren. Der ideologische Diskurs rufe hier die Individuen als Klassensubjekte an.108 Vom Klassenkampf unterscheidet Laclau die „Klassen im Kampf“109 auf der „Ebene einer konkreten Gesellschaftsformation“.110 Hier sei die Stellung der Klassen im Produktionsprozess ihrem Antagonismus „relativ äußerlich“. Es handelt sich damit nicht um einen Klassenantagonismus im Sinne eines polarischen Gegensatzes, da beide Klassen nicht erst im Entgegenstehen zueinander existieren – „die Konfrontation ist ihrem Wesen relativ äußerlich“,111 wie im Falle von Kapitalisten und Kleinbürgern. Die Beherrschten „verstehen“ sich hier nicht als Klasse, sondern als „‚die Anderen‘“, „als ‚Unterdrückte‘“ im Verhältnis zum „herrschenden Machtblock“. Ideologie bedeutet hier die Anrufung der Individuen als „Volk“, weshalb Laclau auch von der „Sphäre des popular-demokratischen Kampfes“ spricht. Dieser Kampf sei nur durch Berücksichtigung der „politischen und ideologischen Herrschaftsverhältnisse“ zu begreifen und finde „nur auf der ideologischen und politischen Ebene statt“, denn „das Volk existiert auf der Ebene der Produktionsverhältnisse […] nicht“.112 Es dominiert der Widerspruch zwischen Volk und Machtblock.

104 105 106 107 108 109 110 111 112

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Ebd., S. 91. Ebd., S. 93. Ebd., S. 91. Ebd., S. 92. Bei Laclau bleibt unklar, ob es sich bei dem Subjekt-Effekt um Identitätsbewusstsein, Konfliktbewusstsein oder gar revolutionäres Klassenbewusstsein handelt. Zur Differenzierung dieser Momente vgl. Giddens 1984, S. 137. Laclau 1981, S. 93. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93. Ebd., S. 93f.

Laclau wehrt sich dabei gegen ‚klassenreduktionistische‘ Deutungen des Volksbegriffs als bloßes Klassenbündnis im Sinne einer Schnittmenge voneinander klar unterscheidbarer Klasseninteressen oder im Sinne bloßer „Rhetorik oder Propaganda“:113 „‚deutsche‘, ‚italienische‘, ‚englische Arbeiterklasse‘“ seien „nicht reduzierbare Besonderheit[en]“.114 „Das Spezifische des ideologischen Klassenkampfs“115 bestehe im Kampf um Identifizierung von Klassenprojekt und Volkssubjekt. „Jede Klasse“, meint Laclau, „kämpft auf ideologischem Gebiet gleichzeitig als Klasse und Volk“, d.h. sie „sucht ihren ideologischen Diskurs kohärent zu machen, indem sie ihre Klassenziele als Erfüllung popularer Ziele hinstellt“.116 Ähnliche Formulierungen finden sich immer wieder in diesem Zusammenhang: Der Antikapitalismus soll sich als Höhepunkt nationaler Traditionen und Kämpfe „präsentieren“ oder „dar[..]stellen“.117 Das klingt nach einem ‚so tun, als ob‘. Die proletarische Ideologie müsse jedenfalls „alle [!] nationalen Traditionen […] absorbieren“,118 „eine vollständige [!] Identität von popularem und sozialistischem Kampf“,119 eine „ideologische Verschmelzung von Nationalismus, Sozialismus und Demokratie“120 bewirken. Bevor ich auf die inhaltliche Problematik dieses Ansatzes zu sprechen komme, müssen weitere begriffliche Differenzierungen erörtert werden. Es dürfe nämlich die popular-demokratische Anrufung nicht mit dem Populismus verwechselt werden. Popular-demokratische Anrufungen der Klassen als ‚Volk’ könnten nämlich alle Akteure im politischen Klassenkampf betreiben, auch der Block an der Macht. Dieser errichte seine Hegemonie durch Verwandlung potentieller Antagonismen zwischen Volk und Machtblock in bloße Differenzen: „Die Hegemonie einer Klasse“, erläutert Laclau, „beruht nicht so sehr darauf, daß sie fähig ist, der übrigen Gesellschaft eine einheitliche Weltsicht aufzuzwingen, sondern darin, daß sie verschiedene Weltsichten in einer Weise artikulieren kann, die deren potentiellen Antagonismus neutralisiert.“121 Die Spezifik des Populismus dagegen sei dort zu verorten, „wo popular-demokratische Elemente als antagonistische Option gegen die Ideologie des herrschenden Blocks präsentiert werden.“122 Es seien dabei zwei Formen des Populismus zu unterscheiden, der der herrschenden und der der beherrschten Klassen. Im ersten Fall genüge es, „daß eine Klasse […] zur Behauptung ihrer Hegemonie eine grundlegende Veränderung im Machtblock braucht, um eine populistische Entwick113 Ebd., S. 93. 114 Ebd., S. 95. Deutlicher wird das im postmarxistischen Werk betont: Durch die Artikulation in popularen Diskursen verändere sich die Identität von Klassensubjekten, vgl. Laclau/Mouffe 2000, S. 227f. 115 Laclau 1981, S. 171. 116 Ebd., S. 94f. Herv. von mir. 117 Ebd., S. 101, 111. 118 Ebd., S. 101. 119 Ebd., S. 104. 120 Ebd., S. 114. 121 Ebd., S. 141. 122 Ebd., S. 151.

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lung zu ermöglichen.“ Dies sei „im Nazismus der Fall“ gewesen.123 Hier hätten die bisherigen Verschiebungs- und Neutralisierungsmechanismen gesellschaftlicher Widersprüche versagt und die Etablierung der ‚monopolkapitalistischen Hegemonie‘ sei nur durch Änderung der Staatsform möglich gewesen, in deren Gefolge Fraktionen der herrschenden Klassen populistisch einen Antagonismus Volk/alter Machtblock aufgemacht hätten. Die „Lähmung des herrschenden Blocks“124 führte zu einer radikalen, aber systemkonformen Bewegung, die die Verbindung Volk-Proletariat desartikulierte, indem sie das Volk als „Rasse“ angerufen habe und „[a]lle anti-plutokratischen, nationalistischen und demokratischen Aspekte“125 um dieses Subjekt herum gruppierte. Der Faschismus schließt durch Artikulation von Klassenverhältnissen als bloßen Differenzen von ‚Arbeitern der Stirn‘ und ‚Arbeitern der Faust‘ den Klassenkampf ideologisch aus und lässt klassenspezifische Interessen nur noch in Form des Korporatismus zu. „Für die Beherrschten“ dagegen bestehe „der ideologische Kampf in einer Ausdehnung des in den demokratischen Anrufungen enthaltenen Antagonismus und in seiner Artikulation mit ihren eigenen Klassendiskursen“.126 Populistische Diskurse haben demnach Elemente, die keine konkreten Klassenkonnotationen haben, sind aber immer in „Klassendiskurse“127 eingebaut. Der „Jakobinismus“ als „reine[.] Form“ der Opposition „System“-„Volk“128 sei nur als vorübergehende Phase des ideologischen Kampfes möglich. Die Unterscheidung Volk-Machtblock ist für Laclau daher einerseits irreduzibel, muss aber nichtreduktionistisch mit Klassendiskursen verbunden werden, andernfalls sei sie tatsächlich, wie Poulantzas fälschlicherweise dem Populismus insgesamt unterstelle, kleinbürgerliche Ideologie, in der die Idee vorherrsche, der Kampf gegen den Machtblock „könne als ausschließlich demokratischer Kampf jenseits der Klassen geführt werden“.129 Der Entstehungskontext populistischer Bewegungen und Ideologien ist damit eine Hegemoniekrise des herrschenden Blocks, die sich in Gestalt eines rechten Populismus (Bruch im Machtblock und Umgruppierung desselben zugunsten der herrschenden Klassen) und/oder eines linken Populismus (als Aufbrechen der Antagonismen zwischen Herrschenden und Beherrschten überhaupt) äußern könne. Dieses „zentrale Feld des ideologischen Klassenkampfes“130 wird von Laclau mit dem Kleinbürgertum in Verbindung gebracht. Weil es nicht im Verhältnis eines polarischen Gegensatzes zur Bourgeoisie stehe, sei sein Antagonismus zum Machtblock nicht ökonomisch bedingt, sondern – als ‚Klasse im Kampf‘ – lediglich „auf der

123 124 125 126 127 128 129 130

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Ebd., S. 151f. Ebd., S. 102. Ebd., S. 104. Ebd., S. 152. Ebd., S. 153. Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Ebd., S. 94.

Ebene der politischen und ideologischen Verhältnisse situiert“. Es weise „fast ausschließlich eine ‚Volks‘-Identität“ auf, womit die „Mittelklassen das natürliche Terrain“131 des popular-demokratischen Kampfes bilden. Auch wenn oben unklar blieb, was das nichtreduzierbare Moment popularer Anrufungen sein soll, und die Reklamation des Volkes seitens einer Klasse damit in die Nähe eines manipulativen ‚Als ob‘ rückte, unterstellt Laclau dann schließlich doch, der Nationalismus habe einen „allgemeine[n] Bedeutungskern[.]“ – den er uns aber leider verschweigt –, dieser könne aber „konnotativ mit verschiedenen ideologischartikulatorischen Bereichen verknüpft“132 sein. Zudem gebe es in jeder nationalen Tradition von Sozialisten reklamierbare semantische Gehalte: Die Anrufung Volk/ Nation bleibe „in der Tiefe des popularen Bewußtseins […] möglicher Ursprung für eine Radikalisierung“.133 Er proklamiert in diesem Zusammenhang eine relative Dauerhaftigkeit von „Volkstraditionen“ und deren Bedeutungsüberschuss gegenüber Klassenstrukturen: Dort werde der „Widerspruch ‚Volk‘/Machtblock im Unterschied zu einem Klassenwiderspruch“ ausgedrückt, worin sich „die ideologische Kristallisation von Widerstand gegen Unterdrückung überhaupt, d.h. gegen die Form des Staates als solche“134 zeige. Es soll hier nicht geleugnet werden, dass kommunistische und proletarische Forderungen nicht notwendig verknüpft sind, oder dass in vorkapitalistischen Bewegungen vereinzelte Momente herrschaftskritischen Denkens auftauchen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die systematische Verknüpfung ‚Herrschaftskritik-Volkstradition‘ korrekt ist oder ob sie nicht eher ein problematisches Verständnis von emanzipatorischer Politik offenbart. Denn Volkstraditionen müssen keineswegs immer im Gegensatz zu einem „Machtblock“ artikuliert werden, was Laclau selbst feststellt. Er hält das aber offenbar für eine Neutralisierung ‚eigentlich‘ antagonistischer Elemente in diesen Traditionen, da er diese Traditionen mit einer Bedeutung auflädt, die sie selten hatten und haben – nämlich Signum von Herrschaftskritik schlechthin zu sein. Dabei ist sein Schluss von „Unterdrückung überhaupt“ zum „Staat“ ein Kurzschluss, auch für Volkstraditionen, weil diese keineswegs prinzipiell staatskritische Positionen artikulieren müssen und die Opposition gegen einen bestimmten „Machtblock“ oder selbst gegen den Staat als solchen keineswegs identisch mit Kritik an Unterdrückung überhaupt sein muss. Schließlich werden in der Regel z.B. patriarchale, vorrechtlich-‚sittliche‘, feudale, anarchokapitalistische, antisemitische135 und faschistische Herrschaftsverhältnisse

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Ebd., S. 99. Ebd., S. 140. Ebd., S. 101. Ebd., S. 146. Allerdings erklärt Laclau allen Ernstes den Antisemitismus der unteren Klassen sowie des Bürgertums in der frühen Neuzeit zu einem progressiven Phänomen (vgl. ebd., S. 87, 190), indem er den ressentimentgeleiteten Schluss von wenigen royalistischen ‚Wucherern‘ und Geldgebern auf alle (damals meist verarmten) Juden offenbar für selbstverständlich erachtet.

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im Rahmen einer Volkstradition artikuliert. Rackets, völkische Partisanen, besitzindividualistische Steuerverweigerer, faschistische Bewegungen und islamistische Mobs sind aber keine herrschaftskritischen Akteure.136 Laclau ordnet den Elementen des Populismus also essentialistisch ein „revolutionäres Potential“ zu. Ansonsten wäre es unverständlich, dass er die obigen Ausführungen zum herrschaftskritischen Gehalt der Volkstraditionen macht und dass er unterstellt, der NS-Populismus habe das „revolutionäre[.] Potential“ der popular-demokratischen Anrufungen von seinen „wahren Ziele[n]“ abgelenkt: „Der Nazismus war eine populistische Erfahrung, der [sic!], wie jeder Populismus der herrschenden Klasse, an eine Reihe von ideologischen Verzerrungen – z.B. den Rassismus – appellieren mußte, um zu verhindern, daß das revolutionäre Potential popularer Anrufungen auf sein wahres Ziel [!] umorientiert wurde.“137 Ohne die Prämisse einer ‚eigentlich‘ revolutionären Stoßrichtung popularer Elemente, die nur verzerrt wurden oder auf halbem Wege stehen blieben, könnte Laclau auch nicht behaupten, nur der Sozialismus könne das antagonistische Potential des Gegensatzes Volk/Machtblock voll entfalten.138 Was aber, wenn ein solches Potential fehlt und die popularen Elemente repressiv sind? Es wird aber noch problematischer. Nicht nur essentialisiert Laclau die vermeintlich antagonistischen Potentiale der Volkstraditionen, er überträgt auch Erfahrungen mit der national-popularen Anrufung in kolonialen Kontexten auf die kapitalistischen Metropolen. Charakteristisch dafür ist seine positive Einschätzung der Politik der KPD in der Weimarer Republik, in der Laclau zutreffend eine „nationalistische Agitation gegen den Versailler Vertrag“139 entdeckt. Die nationalistische Linie der KPD taucht vor allem im Jahr 1923 im Zuge der sog. ‚Schlageter-Kampagne‘, des Kampfes gegen die französische Ruhrbesatzung und der teilweisen Zusammenarbeit der KPD mit völkischen Gruppen, und von 1930-1932 im Kontext der „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ auf. Es finden sich hier massive nationalistische und antisemitische Hetzschriften und -reden auf Seiten der KPD, die bisweilen in direkte Mord- und Pogromaufrufe gegen Industrielle und Juden münden. Dabei konstruiert die KPD die „Äquivalenzkette“140 Proletariat = werktätige Massen = antikapitalistisches Kleinbürgertum = mittleres Kapital = Volk = „nationale Würde“ = ausgebeutete deutsche Nation vs. „jüdisches“ und nichtjüdisches „Großkapital“ = „internationales Ausbeutergesindel“ = fremdvöl-

136 Wenn Laclau die „Abschaffung des Staates als ‚dem Volk‘ antagonistisch entgegenstehender Kraft“ (ebd., S. 173) als „höchste Form des ‚Populismus‘“ begreift, so ist das zumindest eine Unterbestimmung von Herrschaftskritik und lässt faschistischen Positionen eine offene Flanke. 137 Ebd., S. 152 sowie 174: „populare Anrufungen wurden an Inhalte wie Rassismus und Korporatismus gebunden, die ihre Radikalisierung in sozialistischer Richtung verhinderten.“ 138 Vgl. ebd., S. 149. 139 Ebd., S. 86. 140 Ebd., S. 181.

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kische „Parasiten“ = „Feinde der Völker“.141 Folgende Annahmen veranlassen Laclau dazu, diesen Kurs zu affirmieren: 1) Er glaubt, die „anti-plutokratische“ und ‚jakobinische‘ Tradition in der NSDAP „hätten leicht zu einem wirksamen Antikapitalismus werden können“.142 Die antisemitische Ideologie des Kampfes gegen das ‚jüdische‘ bzw. ‚raffende‘ Finanzkapital wird von ihm als ein auf halbem Wege stehenbleibender Antikapitalismus begriffen, nicht als prinzipiell regressive und herrschaftsaffirmative Ideologie. 2) Wenn die genannten „anti-plutokratischen“ und nationalistischen Elemente als progressiv besetzbar gelten, dann sind es weder emanzipationsfeindliche Haltungen der faschistischen Akteure noch die semantischen Gehalte ihrer Ideologie und bestimmte Klasseninteressen, die Hitler groß werden ließen, sondern es ist der fehlende „Wille zur Hegemonie“143 seitens der Arbeiterklasse. 3) Daher, so Laclaus Folgerung, hätte die KPD die „Schlageter-Linie […] vertiefen“ und „für eine nationale Renaissance“ kämpfen müssen, was den „linke[n] Flügel“144 der NSDAP und den „plebejischen und antikapitalistischen Zug“ der „Mittelklassen“145 in ein kommunistisches Projekt integriert hätte. Worauf läuft die ‚national-populare Anrufung‘ aber tatsächlich hinaus? Der Preis für die Konstruktion der Äquivalenzkette vom Proletariat zur Nation ist keineswegs ein die Klassengrenzen transzendierendes herrschaftskritisches Projekt, sondern der zunehmende Bedeutungsverlust der Signifikanten, was Laclau explizit einräumt,146 und damit die Abkehr von begrifflich konturierter Kapitalismus- und Faschismusanalyse zugunsten der Bedienung diffuser Ressentiments gegen ‚Schieber‘, ‚Spekulanten‘ und ‚Parasiten‘, teils ‚jüdischer‘ Art. Befördert wird die Identifikation mit einer als klassenübergreifend und homogen imaginierten Nation. Das Problem sind jetzt nur noch die ‚antinationalen Groß- und Finanzkapitalisten‘. Dass Laclau den Topos der ‚Anti-Plutokratie‘ und dessen antisemitische Artikulation als zu einem konsequenten Antikapitalismus hin entwicklungsfähiges Element begreift, zeigt erstens seine Ausblendung der emotionalen Matrix dieser ressentimentbeladenen und prokapitalistischen Haltung.147 Er bedenkt nicht, dass, wie auch immer konstruktivistisch verstanden, die Volk-als-Nation-Anrufung auf gesellschaftlich produzierte kollektiv narzisstische Bedürfnisstrukturen trifft, die zur projektiv-aggressiven Bekämpfung innerer sozialer und psychischer Konflikte an ausgeschlossenen Dritten neigen und die keineswegs mit der behavioristischen Konzeption des Subjekts als

141 142 143 144 145

Vgl. ausführlich Haury 2002, Kap. 5 (daraus auch die Zitate) sowie Kistenmacher 2015. Laclau 1981, S. 105. Ebd., S. 112. Ebd. Ebd., S. 111. So redet auch die Rote Fahne von den „starken, wenn auch unklaren antikapitalistischen Stimmungen“ der Mittelschichten (zit. nach Haury 2002, S. 271). 146 Vgl. Laclau 1981, S. 179. 147 Vgl. dazu Fromm 1989, Rensmann 1998.

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diskursiver Oberflächeneffekt zu erfassen sind.148 Zweitens erweist die Annahme eines neutralen ‚Antiplutokratismus‘ Laclaus problematisches Verständnis von ‚Kapitalismuskritik‘. So zitiert er einen „Gesetzesvorschlag“ der „Nazi-Abgeordneten Strasser, Feder und Frick“ von 1930, der „eine Beschränkung des Zuwachses für alle Kapitalanlagen auf 4%, die entschädigungslose Enteignung des Aktienbesitzes der ‚Bank- und Finanzmagnaten‘ und die Nationalisierung der großen Banken“ vorsah und der „wortwörtlich“149 auch von KPD-Abgeordneten eingebracht worden sei. Statt dies als Indiz für die Verkürzung des Antikapitalismus der KPD auf ein Ressentiment gegen Zins und (unverstandenes) Finanzkapital zu begreifen, gilt es Laclau als Beleg für die nicht nur Klassen-, sondern auch politische Neutralität und sozialistische Entwickelbarkeit des NS-„Jakobinismus“. Laclau ignoriert, dass die faschistische Rhetorik auf systematisch falschen Verständnissen ‚kapitalistischer‘ Ausbeutung als „Zinsknechtschaft“, der Trennung des zusammengehörenden Finanz- und industriellen Kapitals150 und der grundsätzlichen Affirmation des Privateigentums an Produktionsmitteln beruht.151 Werden dem Kapitalverhältnis völlig äußerliche Kriterien ‚guter‘, ‚schaffender‘ Produktion unterlegt und die Abweichung davon als Verschwörung der Reichen getadelt, die das gute Ziel mit dem Zweck der Vermehrung ihrer Vermögen (und damit der Befriedigung ihrer Luxusbedürfnisse) korrumpieren, so kann von einem Verständnis kapitalistischer Produktionsverhältnisse keine Rede sein. Als Lösung empfiehlt sich dann auch letztlich das Pogrom, wie es das führende KPD-Mitglied Ruth Fischer 1923 auf einer gemeinsamen Veranstaltung von ‚Kommunisten‘ und völkischen Rechten propagiert hat: „Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner […]?“152 Die Ignoranz gegenüber einem sozialpsychologisch informierten Begriff regressiver Ideologien und Bewegungen, die Abwesenheit einer ökonomiekritisch informierten Konzeption mystifizierter Wahrnehmung kapitalistischer Reproduktion, das Fehlen einer kontextsensiblen Einschätzung der völkischen Tradition des deutschen Nationalismus und überhaupt ein problematisches Verständnis von Gesellschaftskritik zeichnen also Laclaus Beiträge zu Faschismus und Populismus in Auseinandersetzung mit Poulantzas aus. Laclaus Kunstgriff, der Nationalismus habe „isoliert betrachtet“153 keine Klassenkonnotation, krankt nicht nur an der traditionsmarxisti148 Fromms Studien zum autoritären Charakter werden von Laclau mit wenigen Zeilen abgefertigt (vgl. Laclau 1981, S. 76). Im Postmarxismus ist es dann Mouffe, die den kollektiven Narzissmus und den autoritär-masochistischen „Trieb“, „mit der Masse zu verschmelzen und sich damit selbst in ihr zu verlieren“ (Mouffe 2007, S. 34) sogar zur anthropologischen Konstante adelt. 149 Laclau 1981, S. 105. 150 Vgl. zur Kritik an diesem Pseudoantikapitalismus v.a. Postone 2005, Heinrich 2005, S. 186ff. 151 Vgl. Barkai, S. 29, 94ff., 230. 152 Zit. nach Haury 2002, S. 283. 153 Laclau 1981, S. 87.

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schen Verknüpfung von ‚(proletarischem) Klasseninteresse‘ und ‚Sozialismus‘.154 Es ist gerade das Problem des Nation-Begriffs, dass er als Signifikant – isoliert betrachtet und linguistisch abstrakt gefasst – arbiträr mit Bedeutungen versehen ist, es aber mehr als fraglich ist, ob irgendeine historisch gegebene Bedeutung von ‚Nation‘, die sich faktisch in Institutionen, Diskursen und Bedürfnisstrukturen verfestigt hat, mit dem Projekt sozialistischer Emanzipation in Marxscher Perspektive vereinbar war.155+156 Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Laclau sich positiv auf die KPD bezieht, die faktisch zum Legitimationsbeschaffer faschistischer Ressentiments wurde, denn seine Hegemoniekonzeption in den hier untersuchten Beiträgen entbehrt jedes kategorialen Mittels, um sich gegen eine diskurstheoretisch begründete Querfrontstrategie abzugrenzen.

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154 Laclau beharrt darauf, der Marxismus-Leninismus sei „ein Element in der Ideologie der Arbeiterklasse“ (ebd., S. 95). Wie dieses Element mit der Arbeiterklasse verbunden ist, bleibt aber unklar. Eine Differenzierung zwischen ökonomischen Interessen und politisch-ethischen Haltungen des Proletariats unterbleibt in seinen frühen Schriften, die genauso wie Poulantzas durchgängig ‚proletarisch‘ mit ‚sozialistisch‘ vermischen. Die Frage ist aber nicht, ob der Nationalismus proletarisch ist oder nicht, sondern, ob er sozialistisch ist oder nicht. Das geht bei Laclau hier durcheinander. 155 Die Gründe für die sozialistische Revolution lassen keinerlei nationale Spezifizierung zu: Kapitalistische – und nicht deutsche, englische oder italienische – Ausbeutung, Krisenhaftigkeit und Entfremdung sind hier zu überwinden. 156 Das bedeutet nicht, dass der Appell an die Nation in antikolonialen oder der antisemitischen Vernichtungswut entgegentretenden Praktiken nicht auch eine sinnvolle defensive Rolle spielen kann, die die weitere Möglichkeit emanzipatorischer Praktiken bewahren könnte. In der antiimperialistischen Ideologie geht dieser situative und jeweils eingehend zu begründende Aspekt der nationalen Anrufung aber in eine besinnungslose Affirmation des Volkes-als-Nation über, die sich zum nützlichen Idioten metropolitaner herrschender Klassen machen lässt und rechten Ressentiments Legitimität verleiht statt sie zu bekämpfen. So lobt Laclau Poulantzas‘ vermeintlich „entwickeltere Position“ (ebd., S. 189) aus späteren Schriften, in der dieser einen progressiven Aspekt europäischer Nationalismen (z.B. des Gaullismus) erkennt, weil diese gegen die Vorherrschaft des ‚US-Imperialismus‘ gerichtet seien. Als wären de Gaulles Ziele um einen Deut besser gewesen als die der US-Bourgeoisie, nur weil er weniger erfolgreich in der internationalen Konkurrenz war.

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Liza Mattutat/Felix Breuning Unfreiwillig mit Schmitt. Die Rezeption Carl Schmitts in der Demokratietheorie Chantal Mouffes

Chantal Mouffes zentrales Anliegen ist die „Rückkehr des Politischen“1 in die Demokratietheorie und in linke Bewegungen. Laut ihrer Analyse negieren sowohl die liberale als auch die linke politische Theorie die antagonistische Dimension des Politischen – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Während liberale Demokratietheorien das notwendig Konflikthafte demokratischer Identitätsbildung und Entscheidungsfindung durch ihren Rationalismus verleugnen, entwirft die linke politische Theorie mit demselben Ergebnis utopische Vorstellungen einer ‚absoluten Demokratie‘ jenseits aller staatlichen Institutionen. Beide geraten so in Gefahr, das spezifisch Politische moderner Demokratien zu verfehlen. Gerade durch diese Verfehlung tragen sie aber zu einer antagonistischen Zuspitzung politischer Beziehungen bei, „die eine agonistische Sichtweise hätte verhindern können.“2 Um die theoretischen Schwachpunkte innerhalb beider Strömungen auszumachen, stützt sich Mouffe wesentlich auf die völkische Liberalismuskritik und autoritäre Demokratietheorie Carl Schmitts. Zugleich will sie an grundlegenden Stellen mit der Schmitt’schen Theorie und ihren faschistischen Konsequenzen brechen. Mouffes Schmittrezeption steht so von Beginn an unter dem Motto „mit Schmitt gegen Schmitt.“3 Dieses Motto gibt auch die Struktur unseres Aufsatzes vor. Im Folgenden werden wir zunächst zeigen, welche Argumente Mouffe mit Carl Schmitt gegen ‚post-politische‘ Demokratiebegriffe vorbringt (1). Anschließend werden wir nachzeichnen, wo und wie sie sich gegen Schmitt wendet (2). Im letzten Schritt wollen wir fragen, ob Mouffes Abkehr von Schmitt gelingt, und zeigen, dass ihre agonistische Demokratietheorie sich seinem Verständnis politischer Konflikte in problematischer Weise annähert (3).4 1 2 3 4

Mouffe 1993. Mouffe 2010, S. 10. Ebd., 22. Unsere Kritik wird dabei ausdrücklich nicht die Form annehmen, Mouffe als Linksschmittianerin zu denunzieren. Der Bezug auf Schmitt ist nach unserer Auffassung nicht deshalb problematisch, weil Schmitt persönlich ein Nazi war. Das Arbeiten mit Schmitts Argumenten wird aber dann problematisch, wenn es Versatzstücke der Schmitt’schen Theorie übernimmt, die der Form nach nazistisch sind. Unsere Kritik bringen wir daher als Befragung von Mouffes Theorie auf solche Versatzstücke vor.

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(1) Mit Schmitt gegen ‚post-politische‘ Theorien der Demokratie An zeitgenössischen liberalen Demokratietheorien kritisiert Mouffe mit Schmitt ihren methodologischen Individualismus und ihren Rationalismus. Linke, teils kommunistische Theorien stehen in der Kritik, weil sie sich illusorischen Hoffnungen auf eine Weltgesellschaft oder eine absolute Demokratie hingeben. Aufseiten der liberalen, deliberativen Theorie wendet sie sich damit insbesondere gegen Habermas und Rawls, aber auch gegen Benhabib und Dworkin. Aufseiten der linken Theoretiker*innen bringt Mouffe Einwände gegen den Postoperaismus Negris und Hardts sowie gegen den affirmativen Bezug auf den Kommunismus bei Žižek und Badiou5 vor. Im Hintergrund beider Kritiken steht ein Modell des Politischen, das sie Carl Schmitts Der Begriff des Politischen entnimmt. Dort heißt es, die „spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“6 Der Feind sei „in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes […], so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind.“7 Erst durch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Abgrenzung gegen den Feind kann sich nach Schmitt eine politische Einheit bilden und erst ausgehend von der „reale[n] Möglichkeit des Kampfes“8 mit ihm gewinnt diese Einheit ihre spezifisch politische Existenz. Diese zentrale Unterscheidung Schmitts eignet sich Mouffe als Ausgangspunkt ihrer eigenen, antiessentialistischen und diskurstheoretischen Demokratietheorie an. Dabei legt sie keine detaillierte Lektüre von Der Begriff des Politischen oder gar des Werks Schmitts insgesamt vor, sondern stützt sich auf ausgewählte Stellen.9 Sie begreift jede Identität als relational, d.h. jede Identität existiert nur in der Affirmation einer Differenz zu einem ‚Anderen‘, einem „konstitutiven Außen.“10 Im Politischen kann Identität so nur in einem kollektiven ‚Wir‘ bestehen, das sich von einem ‚Sie‘ abgrenzt. Demokratische Subjekte konstituieren sich demnach erst durch eine Grenzziehung zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘, die Gleichheit in ihrem Inneren beruht auf einer Ungleichheit nach außen. Deshalb sei Weltdemokratie unmöglich; Inklusi-

5 6 7 8 9

Vgl. Mouffe 2015a, S. 107–132. Schmitt 1963, S. 26. Ebd., S. 27. Ebd., S. 32. Zwar entwickelte Mouffe ihre politische Theorie gemeinsam mit Ernesto Laclau in Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus ganz ohne Bezug auf Schmitt, doch in ihren darauf folgenden Texten führt sie ihn bis heute als Gewährsmann ihrer Argumente an. Schmitt habe mit seiner Betonung des relationalen Charakters politischer Identitäten „mehrere intellektuelle Strömungen vorweg[genommen]“ (Mouffe 2010, S. 23). So etwa den Poststrukturalismus, der es nun erlaube, Schmitts Behauptungen theoretisch auszuarbeiten (vgl. ebd.). 10 Mouffe 2015a, S. 25.

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on nach innen und Exklusion nach außen seien der Demokratie wie jeder politischen Einheit wesentlich.11 Diesen Punkt verpassen liberale Demokratietheorien zunächst durch ihren methodologischen Individualismus: Weil sie stets das Individuum zum letzten Bezugspunkt ihrer politischen Theorien machen, verkennen sie, dass man es im Feld des Politischen mit kollektiven Identitäten zu tun hat, die sich nur in Abgrenzung zu anderen herausbilden: „Der für das liberale Denken charakteristische methodologische Individualismus schließt das Verständnis des Wesens kollektiver Identitäten aus, während das Kriterium des Politischen, seine diffentia specifica, für Schmitt die Unterscheidung von Freund und Feind ist.“12

Auch die liberale Demokratie könne, entgegen der gängigen liberalen Vorstellung, politische Gegnerschaft nicht überwinden, sondern setze in ihrem Vollzug vielmehr die ständige Bestimmung von Kontrahenten voraus. Sie könne aber den immer drohenden Umschlag dieser agonistischen Wir-Sie-Beziehungen in antagonistische Kämpfe zwischen Freund und Feind verhindern. Dazu muss sie Verfahren bereitstellen, in denen sich die konfligierenden Parteien als legitime Opponenten anerkennen. Dabei hat Mouffe im Wesentlichen die Prozesse parlamentarischer Debatten und demokratischer Entscheidungsfindung im Blick.13 Demokratische Politik besteht so „nicht in der Überwindung des Wir-Sie-Gegensatzes, sondern in der spezifischen Weise seiner Etablierung“14 – nämlich in der „Umwandlung des Antagonismus in Agonismus.“15 Diese Umwandlung kann aber wegen der grundsätzlich antagonistischen Verfasstheit des Sozialen stets scheitern und zu einem offenen Kampf zwischen Freund und Feind führen: „Dies geschieht, wenn wir anfangen, den Anderen, die uns bis dato lediglich als anders galten, zu unterstellen, sie stellten unsere Identität infrage und bedrohten unsere Existenz. Von diesem Augenblick an, darauf hat Carl Schmitt hingewiesen, wird jede Form der Wir/Sie-Beziehung […] zum Austragungsort eines Antagonismus.“16 Die Gefahr der liberalen Leugnung des Politischen besteht nun laut Mouffe genau darin, dass sie dazu beiträgt, dass politische Konflikte eher im Register der Moral und also antagonistisch statt agonistisch ausgetragen werden. Vom Standpunkt liberaler Theorie aus, demzufolge politische Gegnerschaft und politische Identitäten schon zugunsten eines rationalen, allgemeingültigen Diskurses zwischen Individuen überwunden sind, muss eine antagonistische Opposition zwi-

11 12 13 14 15 16

Vgl. Mouffe 1999a, S. 43. Mouffe 2010, S. 18. Mouffe 1993, S. 130. Mouffe 2010, S. 22. Ebd., S. 30. Mouffe 2015a, S. 26.

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schen Gruppen „als Wiederkehr irgendwelcher archaischer Mächte interpretiert“17 und moralisch geächtet werden. Mouffe stützt sich in diesem Punkt auf die Argumentation Schmitts, der am Beispiel des ‚gerechten Krieges‘ gegen die liberale Beanspruchung universeller Gültigkeit für rational begründete Politiken pointierte: „Solche Kriege sind notwendigerweise besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muss, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist.“18

Neben dem methodologischen Individualismus wird in liberalen Theorien so auch der Rationalismus zum Problem: Liberale Theorien betrachteten die Verfahren der parlamentarischen Demokratie als „Institutionen […], die alle widerstreitenden Interessen und Werte durch vermeintlich ‚unparteiliche‘ Verfahren miteinander versöhnen.“19 Dahinter steht der Glaube, dass sich Demokratien durch ihre liberalen Institutionen hindurch auf einen „universellen rationalen Konsens[…]“20 über politische Fragen zubewegen. Dagegen wendet Mouffe mit Schmitt ein, dass es aufgrund des stets latenten politischen Antagonismus für politische Konflikte letztlich keine rationale Lösung geben kann. Es gibt nur die hegemoniale Durchsetzung bestimmter Programme gegen andere, die bestenfalls einen für die involvierten Subjekte akzeptablen Kompromiss darstellt. Denn der irreduzible Antagonismus betreffe auch die Konstitution der streitenden Subjekte und der gesellschaftlichen Objektivität selbst: „Das Hauptproblem des liberalen Rationalismus ist dabei seine gesellschaftliche Logik, die auf der essentialistischen Vorstellung des ‚Seins als Präsenz‘ beruht, sowie seine Auffassung, Objektivität sei etwas den Dingen wesenhaft Eingeschriebenes. Er vermag nicht zu erkennen, dass Identität nur möglich ist, wenn sie als Differenz konstruiert wird, und dass jede gesellschaftliche Objektivität durch Akte der Macht konstituiert ist. Er weigert sich einzugestehen, dass letztlich jede Form der gesellschaftlichen Objektivität eine politische ist und die Spuren der Akte der Exklusion tragen muss, die mit ihrer Konstituierung einhergehen.“21

Demokratische Politik könne demnach nicht auf eine rationale Versöhnung aller politischen Gegensätze hoffen, sondern nur vor dem ontologischen Hintergrund radikaler Kontingenz die Konfrontation konkurrierender hegemonialer Projekte in möglichst zivilisierte Bahnen lenken. Auch linke politische Theorien ignorieren laut Mouffe das antagonistische Wesen des Politischen. Allerdings nicht durch methodologischen Individualismus und Ra17 18 19 20 21

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Mouffe 2010, S. 95. Schmitt 1963, S. 37. Mouffe 2010, S. 9. Mouffe 2010, S. 9. Mouffe 2015a, S. 25.

tionalismus, sondern indem sie von einem Weltbürgertum oder einer Weltgesellschaft träumen und so eine ‚absolute Demokratie‘ projektieren, die sich nicht durch Veränderung, sondern vollständige Abschaffung staatlicher Institutionen und politischer Einheiten verwirklicht. Das linke oder ‚jakobinische Imaginäre‘, gegen das Mouffe schreibt, stützt sich zentral auf die privilegierte geschichtliche Rolle der Arbeiterklasse, die Erwartung einer großen sozialistischen Revolution und die Vorstellung eines homogenen und einheitlichen Willens zur Emanzipation.22 Eine kosmopolitische Weltordnung hält Mouffe aber für ausgeschlossen, da das Politische gerade in der oben skizzierten Dialektik von Inklusion und Exklusion besteht. Eine vollständig inklusive Gesellschaft könne daher nur als unpolitische gedacht werden: „if a state attempted to realize the universal equality of individuals in the political realm without concern for national or any other form of homogeneity, the consequence would be a complete devaluation of political equality, and of politics itself.”23 Entgegen dem postoperaistischen Rückzug aus den Institutionen mahnt Mouffe im Kampf gegen den Neoliberalismus gerade das offensive Eingreifen in die bestehenden Institutionen an. Denn das Ziel könne keine apolitische, versöhnte Gesellschaft sein, sondern nur eine andere, linke Hegemonie in einer radikalisierten Demokratie. Sie durchzusetzen, verlange die Herstellung eines linken ‚Wir‘, indem verschiedene emanzipatorische Forderungen in einer „Äquivalenzkette“24 aufeinander bezogen werden. Eine solche bildet sich, indem heterogene politische Projekte ein gemeinsames Außen benennen und sich dadurch aufeinander beziehen. Indem etwa eine Allianz von parlamentarischen, außerparlamentarischen und gewerkschaftlichen Kräften an konkreten politischen Konflikten ansetzt, können die „Brennpunkte der Macht“25 umgestaltet werden.

(2) Gegen Schmitts substanzielle Homogenität und das (vermeintliche) demokratische Dilemma Indem Mouffe sich Schmitts Kritik am Liberalismus zu eigen macht, ist sie vor die Aufgabe gestellt, gegen die strukturell völkischen26 Momente seiner Theorie zu ar22 23 24 25 26

Vgl. Laclau/Mouffe 2000, S. 32. Mouffe 1999a, S. 41. Mouffe 2015a, S. 118. Ebd., S. 119. Unter „strukturell völkisch“ verstehen wir Argumente, die ausdrücklich keinen rassistischen Volksbegriff mit antisemitischer Konnotation aufrufen, doch aber die formale Struktur solcher Positionen teilen. Er ist analog zu dem Ausdruck „strukturell antisemitisch“ gebildet, der Positionen benennt, die zwar nicht gegen Juden agitieren, wohl aber die Prozesse anonymer Herrschaft bestimmten gesellschaftlichen Gruppen schuldhaft zuschreiben und so die Form antisemitischer Ideologie wiederholen. „Strukturell völkisch“ meint demnach Positionen, denen zufolge es a) einander gegenüberstehende Gruppen gibt, deren Konflikte prinzipiell nicht rational zu vermitteln sind, weil ihnen eine gemeinsame existenzielle Grundlage fehlt; b) die deshalb

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gumentieren. Diesen Balanceakt – Schmitts Kritik zu teilen, aber seine Probleme zu vermeiden – benennt sie als die Herausforderung, vor die jede gestellt ist, die sich heute auf Carl Schmitt bezieht.27 Mouffe stellt sich dieser Herausforderung durch eine Diskussion der Homogenitätsthese Schmitts. Laut Schmitt erfordert der Grundgedanke der Demokratie ein homogenes Staatsvolk: Wenn Herrscher und Beherrschte in der Demokratie identisch sein sollen, wenn der Demos also vermittels eines bestimmten Sets gesellschaftlicher Institution über sich selbst herrschen soll, muss er selbst auch eines, d.h. einheitlich sein. „Demokratie ist eine dem Prinzip der Identität (nämlich des konkret vorhandenen Volkes mit sich selbst als politischer Einheit) entsprechende Staatsform.“28 Diese Einheitlichkeit ist Schmitt zufolge nur als substanzielle zu denken. Jede politische Einheit müsse sich auf eine Eigenschaft der Mitglieder der Volksgemeinschaft beziehen, die bereits vor der rechtlichen Konstituierung in der Verfassunggebung besteht. Demokratische Gleichheit sei so „seiende Gleichheit“ der Bürger*innen und nicht bloß normative, „sein sollende Gleichheit“ vor dem Gesetz. Die seiende Gleichheit sei vielmehr die Voraussetzung rechtlicher Gleichbehandlung: Nur „[w]eil alle Staatsbürger an dieser Substanz teilhaben, können sie als gleich behandelt werden, gleiches Wahl- und Stimmrecht haben usw.“29 Politische Pluralität, die diese Substanz des Staates infrage stellt, erscheint Schmitt so nur als Gefährdung der politischen Einheit. Die gewaltsame Konsequenz liegt auf der Hand: „Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“30 Pluralismus und Demokratie sind aus seinen Überlegungen folgend miteinander unvereinbar. Denn, so fasst Mouffe dieses Dilemma zusammen, „either there is unity of the people, and this requires expelling every division and antagonism outside the demos – the exterior it needs if it is to establish unity; or some forms of division inside the demos are considered legitimate, and this will lead inexorably to the kind of pluralism which negates political unity and the very existence of the people.”31

Mouffe markiert damit ein Moment, an dem Schmitts Theorie selbst nazistisch ist: Seine Vorstellung einer substanziellen Homogenität, an die politische Gleichheit an-

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den politischen Konflikt nur als Kampf um die Vorherrschaft einer dieser Gruppen oder die räumliche Trennung der Gruppen denken können. Eine Form ist etwa der „Ethnopluralismus“ der Neuen Rechten, der sich, nebenbei bemerkt, auch ganz wesentlich auf Schmitts FreundFeind-Unterscheidung stützt (vgl. z.B. Vad 2003; Benoist 2007). Dem „Ethnopluralismus“ zufolge sind Völker „Wesenheiten mit eigener [geschichtlich gewachsener] Persönlichkeit“ (Benoist 1999, S. 42.) und daher unveränderliche kulturelle Identitäten, die vor fremden Einflüssen geschützt werden müssen (vgl. Eckert 2010). Vgl. Mouffe 1999a, S. 50. Schmitt 1957, S. 223. Ebd., S. 228. Schmitt 1996, S. 14. Mouffe 1999a, S. 49.

zuschließen habe, und die daraus erwachsende Aufgabe, das Heterogene aus der politischen Einheit auszuscheiden. In früheren Schriften ließ Schmitt zwar noch offen, welche Substanz die vorgängige Gemeinschaft des Volkes trage. Solange sie nur durch entschiedene Dezision stark genug politisiert werden kann, um Menschen in gleiche Freunde und ungleiche Feinde zu gruppieren, galt ihm jede beliebige Eigenschaft als mögliche Grundlage politischer Einheit.32 1933, kurz nach der nationalsozialistischen Machteroberung und Schmitts Eintritt in die NSDAP, lässt er diesen Dezisionismus fallen und versteht das Politische schließlich explizit völkisch. In seinem Aufsatz Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit erklärt er die „Artgleichheit“ des Volkes zur grundlegenden Voraussetzung für das nationalsozialistische Recht.33 Chantal Mouffe sieht darin eine bloß persönliche Wende Schmitts, die allein aus seinen „moral flaws“34, nicht aber aus seiner Theorie zu erklären sei. Schmitts Modell des Politischen ist jedoch schon vor 1933 formal oder strukturell betrachtet völkisch: Freund und Feind sind als zwei einander ausschließende Gruppen konzipiert, deren Verschiedenheit substanziell und deren Konflikt immer existenziell ist, d.h. sie kämpfen um den Erhalt ihrer Identität.35 Ihr Streit kann aufgrund des Fehlens einer gemeinsamen Basis prinzipiell nicht rational vermittelt werden. Ihre Auseinandersetzungen nehmen deshalb immer die Form des Kampfes um die Vorherrschaft einer dieser Gruppen an. Diese Auseinandersetzung rassistisch zu fassen, war nicht einfach ein Bruch in der Theorie, sondern ihre zeitgemäße nazistische Aktualisierung. Während Mouffe sich explizit gegen alle völkischen Folgerungen verwehrt, stimmt sie Schmitts Homogenitätsthese doch zunächst in zwei Punkten zu: Erstens ist sie sich mit Schmitt darüber einig, dass Demokratie „some form of ‘homogeneity’“36 erfordert. Denn ohne „eine Art gemeinsamen Bandes“37 zwischen den Bürger*innen können keine demokratischen Wege der agonistischen Konfliktlösung etabliert werden. Zweitens stimmt sie Schmitt darin zu, dass das demokratische Gleichheitskonzept als politisches stets eine Unterscheidung impliziert. Er habe recht damit, dass eine Demokratie nicht die Menschheit als Ganze umfassen kann und also einem abgegrenzten Volk zugehören muss.38 Für eine Identität ist auch laut Mouffe die relationale Beziehung zu ihrem Gegenteil konstitutiv. Politische Gleichheit ohne Unterscheidung von den Ungleichen lässt sich daher ihrer Auffassung nach nicht denken – es gibt kein ‚Wir‘ ohne ‚Sie‘. 32 33 34 35 36 37 38

Vgl. Schmitt 1963, S. 36. Vgl. Schmitt 1935, S. 32ff. Mouffe 1999b, S. 1. Vgl. Schmitt 1963, S. 27. Mouffe 1999a, S. 50. Mouffe 2010, S. 29. Vgl. Mouffe 1999a, S. 40.

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Gleichzeitig will sie aber Pluralismus und Demokratie zusammendenken und das Schmitt’sche Dilemma als falsch zurückweisen. Mouffe wendet sich so nicht gegen Schmitts Homogenitätskonzept per se. Sie beansprucht lediglich, es nicht-substanzialistisch zu reformulieren und dadurch auch seinen antipluralen Konsequenzen zu entgehen: Die politische Gleichheit des demokratischen Demos, seine Einheitlichkeit oder Identität, darf nicht, wie bei Schmitt, als auf eine vorpolitisch gegebene Substanz bezogen verstanden werden. Die politische Identität des Demos ist „not merely the acknowledgement of empirical differences, such an identity of the people must be seen as the result of the political process of hegemonic articulation.“39 Das bedeutet, dass politische Identitäten nicht durch Bezug auf einfach vorliegende geteilte Eigenschaften bestehen. Diese werden vielmehr durch eine Vielzahl von performativ zu verstehenden Identifikationen diskursiv hergestellt. Das Soziale ist – nach der von Mouffe und Laclau in Hegemonie und radikale Demokratie entwickelten These – nämlich diskursiv verfasst und durch hegemoniale Artikulationen strukturiert, die diskursive Elemente in Beziehung setzen und dadurch ihre Identität erst konstruieren. Hegemonial ist ein Diskurs, wenn es ihm gelingt, das „Fließen der Differenz aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren“40, und so zeitweise fixierte Identitäten zu erzeugen. Aufgrund der irreduziblen Polysemie der diskursiven Elemente kann es aber nie zur vollständigen und dauerhaften Fixierung einer Identität kommen. Es ergeben sich stets flottierende „Signifikanten, die nicht gänzlich zu einer diskursiven Kette artikuliert werden können. Dieser flottierende Charakter durchdringt letztlich jede diskursive […] Identität.“41 Hier ist auch der systematische Ort des Begriffes ‚Antagonismus‘ in der Theorie Mouffes und Laclaus. Identitäten bilden sich ihnen zufolge immer in Abgrenzung zu einem anderen heraus (‚konstitutives Außen‘). Das Andere wird von der Identität ausgeschlossen und steht ihr diametral entgegen. Dieses Verhältnis lässt sich weder mit dem Begriff „Widerspruch“ noch mit dem Begriff „Realopposition“ angemessen fassen: Ein Widerspruch besteht zwischen Begriffen. Dass zwischen Identität und Anderem ein realer Konflikt besteht, lässt sich mit dem Konzept „Widerspruch“ daher nicht begreifen. Eine Realopposition beschreibt zwar ein reales (Kräfte-)verhältnis, doch kann mit dem Konzept, nicht die wechselseitige Konstitution der gegenüberstehenden Parteien begriffen werden. Es setzt sie vielmehr als schon „volle[…] Totalitäten“42 voraus. „Im Fall des Antagonismus stehen wir jedoch vor einer anderen Situation: Die Präsenz des ‚Anderen‘ hindert mich daran, gänzlich Ich selbst zu sein. Das Verhältnis entsteht nicht aus vollen Totalitäten, sondern aus der Unmöglichkeit ihrer Konstitution.“43 Auf politische Identitäten übertragen bedeutet das, dass es aus zwei Gründen 39 40 41 42 43

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Ebd., S. 51. Laclau/Mouffe 2000, S. 150. Ebd., S. 151. Ebd., S. 164. Ebd., S. 164.

nie zu einer geschlossenen politischen Identität kommen kann: 1) Weil sich eine politische Identität wesentlich durch Abgrenzung von einem Anderen konstituiert, ist sie von ihm abhängig. 2) Weil immer mehrere Artikulationen einer politischen Identität miteinander konkurrieren, sich überschneiden und gegenseitig unterlaufen, ergeben sich Widersprüche und Uneindeutigkeiten, die verhindern, dass eine politische Identität jemals abschließend konstruiert werden kann.44 Während bei Schmitt politische Gleichheit nur denkbar ist, wenn sie an eine vorausgesetzte gleiche Eigenschaft anschließt, sind politische Subjekte bis hin zum Demos nach Mouffe und Laclau immer nichtidentisch mit sich selbst. Mouffe geht davon aus, dass die liberale Demokratie genau diejenige Staatsform ist, die den Abstand zwischen dem Demos und seinen Identifikationen anerkennt und den konfligierenden Artikulationsvorschlägen der hegemonialen und gegenhegemonialen Projekte ein Forum bietet. Genau in der Verdeckung dieses Abstands des Demos von sich selbst durch die Fiktion eines rationalen Konsenses sieht Mouffe auch die Gefahr deliberativer Demokratiemodelle: Der rationale Konsens ist nur eine Variante der Vorstellung einer irgendwie geschlossenen oder doch zumindest schließbaren politischen Identität, die nicht mehr offen genug ist, um gegenhegemoniale Artikulationen zu verarbeiten. Sie erscheinen dann als Negation des eigenen Seins, d.h. als Antagonismus oder eben als Feind. Um dies zu vermeiden, muss die liberale Demokratie nach Mouffe Verfahren einrichten, die es erlauben, Auseinandersetzungen auf Basis gegenseitiger Anerkennung – agonistisch statt antagonistisch – zu führen. Dies kann allerdings nur gelingen, wenn alle Konfliktparteien doch „some form of ‘homogeneity’“45 aufweisen, die Mouffe „commonality“46 nennt: Nur wenn alle Parteien die Werte, politischen Prinzipien und Verfahren der Entscheidungsfindung der liberalen Demokratie anerkennen47, etablieren sie zwischen sich das notwendige gemeinsame Band, durch das allein eine agonistische Auseinandersetzung möglich wird.

(3) Unfreiwillig mit Schmitt: Das geltungstheoretische Problem der radikalen Demokratietheorie und seine schmittianischen Konsequenzen Wir möchten abschließend zeigen, dass die politische Diskurstheorie Chantal Mouffes ein zentrales geltungstheoretisches Problem aufweist, durch das sie unfreiwillig wieder in die Nähe von Schmitt gerät. Mouffe setzt die Kritik essentialistischer Modelle politischer Identität gewissermaßen zu radikal an und verstellt dadurch den 44 45 46 47

Vgl. Mouffe 1999a, S. 51. Mouffe 1999a, S. 50. Ebd., S. 50. Vgl. Mouffe 1993, S. 130–132.

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Blick auf die Bedeutung gesellschaftlicher Geltung für politische Konflikte. In Konstellation mit ihrer Ontologie des politischen Antagonismus ähnelt sich so ihr Verständnis politischer Auseinandersetzungen Schmitt wieder an. Die Diskurstheorie der Identität, die Mouffe und Laclau in „Hegemonie und radikale Demokratie“ entwerfen, soll subjektive, politische und letztlich auch begriffliche Identität – d.h. die Produktion von Subjektpositionen, politischer Einheit und begrifflicher Geltung – gleichermaßen fassen: Jede dieser Identitäten bildet sich nach ihrer Theorie relational durch Abgrenzung von einem Anderen, das ihr antagonistisch entgegengesetzt ist und zugleich die Totalisierung der eigenen Identität verhindert.48 Diese Engführung der verschiedenen Probleme führt aber unter der Hand dazu, dass Mouffe und Laclau politische Einheit und begriffliche Geltung letztlich nach dem Modell der Subjektivität denken. Sie betonen, dass Identität nur als Identifizierung gedacht werden kann. Und Identifizierungen sind Handlungen von Individuen: Viele Einzelne müssen sich mit etwas identifizieren, um eine Subjektposition zu stabilisieren. Viele Einzelne müssen eine Artikulation des Diskurses vorbringen, um den Diskurs partiell zu schließen und so zeitweilig soziale Objektivität herzustellen. Das Problem liegt nun nicht darin, dass Mouffe und Laclau die Konstitution solcher Identitäten auf das Handeln von Individuen zurückführen. Es ist im Gegenteil ein Verdienst der Diskurstheorie, herauszustellen, dass sich persönliche, politische und begriffliche Identität durch tätige Bezugnahme, d.h. durch Handlungen bildet. Doch Mouffe und Laclau versäumen zu erklären, wie sich subjektive, politische und begriffliche Identifizierungen in Geltung setzen. Sie beantworten nicht die Frage, wie sich Subjektpositionen und Diskurse gegenüber diesem aktuellen Handeln verselbstständigen. In ihrer Theorie scheinen alle diskursiven Identitäten nur dadurch zu bestehen, dass sich viele Einzelne aktiv mit ihnen identifizieren und nur so lange stabil zu bleiben, wie die aktive Bezugnahme auf sie anhält. Grund dafür ist eine falsche Alternative in ihrer Auffassung der Relationalität jeglicher Identität. Den zurecht kritisierten Formen des „Essentialismus der Totalität“49, etwa im historischen Materialismus, und des „Essentialismus der Elemente“50, etwa bei Schmitt, stellen sie ihr Modell einer prinzipiell grenzenlosen historischen Kontingenz im Hintergrund jeder Subjektposition und jeder diskursiven Artikulation gegenüber: „Somit kommt ein Niemandsland zum Vorschein, das die artikulatorische Praxis erst möglich macht.“51 In dieser Opposition von Essentialismus und reiner Kontingenz droht aber der spezifische gesellschaftliche Kontext, in dem die – ja wesentlich als individuelles, konkretes Handeln gedachten – Konstruktionen politischer Identitäten stattfinden, zu verschwinden. Denn 48 49 50 51

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Vgl. Laclau/Mouffe 2000, S. 164f. Ebd., S. 154. Ebd., S. 154. Ebd., S. 148.

tätige Identifizierungen vollziehen sich nicht in einem unendlichen Spielraum artikulatorischer Möglichkeiten, sondern in stets konkreten, schon geltenden gesellschaftlichen Institutionen. Diese sozialen, polit-ökonomischen und natürlichen Bedingungen sind zwar selbst zweifellos durch historisch kontingente Praxis entstanden, sie sind dem individuellen Handeln jeweils aber unhintergehbar vorausgesetzt. In Mouffes Begriff des Diskurses wird diese relative Selbständigkeit gesellschaftlicher Institutionen gegen individuelles Handeln immer wieder verdeckt, indem politische Auseinandersetzungen grundsätzlich als Konflikte um Subjektpositionen und Identitäten beschrieben werden. „Das Naturwüchsige wird zur reinen Kontingenz, die Entwicklung der Gesellschaft, die ‚selbst kein Wesen‘ oder ‚einfaches Grundprinzip‘ hat, zum bloßen Effekt artikulatorischer Praktiken, welche (diskursive bzw. politische) Hegemonie begründen.“52 Indem die gesellschaftlich geltenden Institutionen so aus dem Blick geraten, kommt es zu einer Personalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Das zeigt sich auch daran, wie Mouffe und Laclau ihre Beispiele für politische Antagonismen anlegen. Sie erscheinen im Wesentlichen als Konflikte zwischen konkurrierenden, kontingenten Subjektivierungsversuchen: Der Bauer kann aufgrund des ihn vertreibenden Großgrundbesitzers kein Bauer sein, „ich [kann] für mich keine vollständige Präsenz sein.“53 Der Witz der Kritik jedes Essentialismus soll darin liegen, jede Behauptung sozialer Notwendigkeit bestimmter Subjektpositionen als bloße politische Strategie zu entlarven: „Der Diskurs der ‚historischen Interessen‘ ist nichts anderes als die hegemoniale Einbindung bestimmter Forderungen. [...] die politische Praxis konstruiert die Interessen, die sie repräsentiert.“54 Obwohl Mouffe und Laclau sich gegen den methodologischen Individualismus liberaler Demokratietheorien aussprechen, vertreten sie so doch selbst eine Variante desselben: Kollektivität und politischer Konflikt sind bei ihnen als eine Vielzahl von kontingenten Einzelakten konzipiert. Deshalb lassen sich erstens die Phänomene der apersonalen politischen Herrschaft und des ‚stummen Zwangs‘ gesellschaftlicher Verhältnisse mit den begrifflichen Mitteln der ‚radikalen Demokratie‘ nicht fassen. Zweitens und schwerwiegender aber: Während die Bestimmung von politischer Identität (‚Freund‘) bei Schmitt von der realen Möglichkeit des offenen Kampfes mit dem Anderen (‚Feind‘) abhängt, hebt Mouffes und Laclaus Ontologie des Antagonismus den offenen Kampf auf die Ebene des Faktischen: Es gibt nur ein ‚Wir‘, wenn und insofern es wirklich mit einem ‚Sie‘ ringt – mag dieses Ringen auch noch so sehr vom „bewaffnete[n] Kampf“55 zur Auseinandersetzung um die Diskurshoheit entschärft sein. Politische Auseinandersetzungen sind so in einer schlechten Unendlichkeit gefangen. Die zum 52 53 54 55

Wallat 2010, S. 278. Laclau/Mouffe 2000, S. 165. Ebd., S. 159f. Schmitt 1963, S. 33.

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Kampf zwingende Gegensätzlichkeit aller Subjektpositionen kann nicht aufgehoben werden.56 In ihren späteren Schriften anthropologisiert Mouffe den politischen Antagonismus sogar zunehmend: „Mit dem ‚Politischen‘ meine ich die Dimension des Antagonismus, die ich als für alle menschlichen Gemeinschaften konstitutiv betrachte.“57 Es kann ihrer Auffassung nach niemals zu einer Lösung eines Antagonismus kommen, ohne dass mit ihm auch die durch ihn gebildeten Identitäten verschwinden und neue entstehen. Und das heißt: Zwischen dem ‚Wir‘ und dem ‚Sie‘ kann keine irgendwie geartete, grundlegende Gemeinsamkeit bestehen. Sie sind nur durch den Konflikt ihrer Identitäten, also sind sie wesentlich bzw. existentiell verschieden. Diese Verschiedenheit geht aufgrund der dargelegten Engführung von Erkenntnistheorie und politischer Theorie bei Mouffe und Laclau sogar so weit, dass zwischen ‚Wir‘ und ‚Sie‘ prinzipiell keine vernünftige Verständigung stattfinden kann. Vernunft gibt es in der Theorie der radikalen Demokratie, wie Ingo Elbe schreibt, „nur noch als ‚Schleier‘ vor der eigentlich partikularen, irrationalen, gewaltbegründeten Wirklichkeit. Chantal Mouffe betrachtet jede Form der Erkenntnis und jeden allgemeinen Wahrheitsanspruch als gewaltkonstituiert, als bloßen Ausschlussakt und Machteffekt.“58 Denn der Antagonismus, die Unmöglichkeit vollständiger politischer Identität, ist zugleich die Grenze aller begrifflichen Geltung: Er „konstituiert die Grenzen jeder Objektivität, die sich als partielle und prekäre Objektivierung enthüllt.“59 Weil es keine den konfligierenden Artikulationen übergeordnete Objektivität gibt, gibt es nichts, worin sie sich vermitteln könnten. Deshalb kann der Andere in Mouffes Theorie niemals argumentativ überzeugt werden. Statt der rationalen Lösung von Konflikten gibt es nur die Durchsetzung der einen Partei gegen die andere, d.h. bestenfalls die Unterwerfung des ‚Sie‘ durch das Erringen einer hegemonialen Position. So geschieht es etwa dem Begriff der Demokratie, den Mouffe und Laclau Mitte der 1980er Jahre zwischen seinen verschiedenen Artikulationen als Antikom56 Bei aller berechtigten Kritik der marxistischen Orthodoxie, die den Klassenkampf zum überhistorischen Bewegungsgesetz verklärte, macht Mouffe so die Frage nach einem politischen Subjekt, das sich gerade um das Ziel der Aufhebung des politischen Antagonismus bildet, unmöglich. Mouffe hat recht damit, dass das Entstehen jedweder partikularer politischen Identität nicht aus historischer Zwangsläufigkeit abgeleitet werden kann. Doch der Anspruch auf Überwindung des fundamentalen Antagonismus, den etwa Marx und Engels unter dem Namen „Proletariat“ formulierten, ist damit nicht – wie Mouffe meint – widerlegt: „Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist“ (Marx/Engels 1974, S. 51f.; vgl. dazu auch Demirovic 2007, S. 80.). 57 Mouffe 2010, S. 16. 58 Elbe 2015, S. 41, Anm 11. 59 Laclau/Mouffe 2000, S. 165.

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munismus oder als Antifaschismus völlig zerrissen sehen.60 Aufgrund dieses sozusagen ‚epistemischen Antagonismus‘ nähert sich Mouffe dort wieder an Schmitt an, wo sie sich eigentlich von ihm trennen wollte. Zwar mit weniger existenzialistischem Pathos, aber doch in der Sache gleich behauptet sie wie er: „Die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist […] nur durch das existentielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben.“61 Mouffe spitzt ihre relationalistische Kritik des liberalen Rationalismus unter Absehung von der Frage gesellschaftlicher Geltung also so sehr zu, dass ihre Theorie trotz aller Versuche, dies abzuwehren, für das Verständnis politischer Konflikte auf ähnliche Konsequenzen hinausläuft wie Schmitts These substanzieller Homogenität: Weil nicht nur alle politischen Identitäten, sondern auch ihre begriffliche Beschreibung und die Geltung ihrer Argumente unmittelbar abhängig von performativen Bezugnahmen sind, ist im Politischen im Zweifelsfall keine rationale Verständigung möglich, Konflikte können nur durch hegemoniale Unterdrückung des Gegners gelöst werden. Wer etwa, wie Schmitt, den Begriff der Demokratie als völlig unabhängig von liberalen Freiheitsrechten begreift, kann durch keinen Hinweis auf dessen Geschichte oder praktische Verwendung argumentativ zur Einsicht bewegt werden. Laut Mouffe müssen deshalb alle Angehörigen der politischen Einheit einer liberalen Demokratie eine ‚commonality‘ bilden. D.h. sie müssen sich mit denselben Werten, politischen Prinzipien und Verfahren der Entscheidungsfindung identifizieren62, damit eine politische Einheit möglich ist. Wer sich dieser Identifikation radikal verweigert, ist der absolut Andere, der nur bekämpft werden kann. Die liberale Demokratie wandelt aber genau deshalb in Mouffes Modell den Antagonismus nicht grundsätzlich in einen Agonismus um. Sie verschiebt ihn nur auf den Konflikt zwischen denjenigen, die sich mit einem bestimmten Verständnis liberaler Demokratie identifizieren, und denjenigen, die dies nicht tun. Ein zentrales Ziel der Theorie der radikalen Demokratie bleibt damit uneingelöst. Wegen ihrer Dekonstruktion von Objektivität kann Mouffe auch keine Gründe dafür geben, warum man sich eher mit der einen als mit der anderen politischen Position identifizieren sollte. Es gibt nur „rein pragmatische[…] Gründe[…] der Ansprüche auf Machtlegitimität.“63 Mouffes eigenes Engagement für die Linke ist daher schlichtweg das Ergebnis einer kontingenten, persönlichen Entscheidung, was sie selbst auch offen eingesteht.64 Mouffes nähert sich auch hier wieder an Schmitt an, denn sie begreift wie er politisches Handeln letztlich als dezisionistisch. 60 61 62 63 64

Vgl. Laclau/Mouffe 2000, S. 27. Schmitt 1963, S. 27. Vgl. Mouffe 1993, S. 130–132. Laclau/Mouffe 2000, S. 28. Dass Laclau und Mouffe sich überhaupt um eine linke Kritik des Marxismus bemühen, begründen sie so: „Für uns beruht die Gültigkeit dieses Ausgangspunktes ganz einfach auf der Tatsache, daß er unsere eigene Vergangenheit bildet“ (Laclau/Mouffe 2000, S. 34).

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Dieses Begründungsproblem betrifft ebenso ihr neustes Plädoyer für einen linken Populismus: Mouffe sieht Europas konkrete Wir-Sie-Unterscheidung im Moment im Konflikt zwischen linkem und rechtem Populismus.65 Vor dem Hintergrund ihrer Diskurstheorie ist allerdings klar, dass keine der beiden Seiten einen objektiven Anspruch auf Macht formulieren kann, und eine Entscheidung für eine der beiden Seiten nur pragmatisch getroffen werden kann. Als Linke schlägt Mouffe dann freilich vor, sich auf die Seite des linken Populismus zu stellen, der die allgemeine Wahrnehmung eines Konflikts zwischen dem ‚Volk‘ und der ‚Elite‘ als Kampf gegen den Neoliberalismus statt als Kampf gegen Migrant*innen artikuliere. Argumente im emphatischen Sinn kann sie dafür aus den oben genannten Gründen allerdings nicht vorbringen. Weil Mouffe also nicht erläutert, wie Begriffe und gesellschaftliche Institutionen sich von den individuellen Handlungen emanzipieren, sich objektivieren und ihnen gegenüber in allgemeine Geltung setzen, nähert sich ihre Theorie den dezisionistischen und strukturell völkischen Konsequenzen Schmitts: ‚Wir‘ und ‚Sie‘ sind als einander faktisch in ihrer jeweiligen Existenz bedrohend konzipiert. Weil ‚Wir‘ und ‚Sie‘ sich im Konfliktfall nicht argumentativ überzeugen können, rät Mouffe zu einem Kampf um Hegemonie, d.h. um die Unterdrückung der Gegenposition. In diesem Kampf, der wegen des ‚epistemischen Antagonismus‘ nicht mit den Mitteln der Vernunft ausgetragen werden kann, gelte es zudem, die Leidenschaften zu mobilisieren. Während Mouffe sich also bemüht, jede Art des Essentialismus zu entkräften, und daher keineswegs rassistisch oder nationalistisch argumentiert, hat ihre Theorie doch die Struktur völkischer Mobilisierung gegen das Fremde und kann deshalb auch von rechten Bewegungen dafür genutzt werden.66 Diesem geltungstheoretischen Problem innerhalb der Theorie der radikalen Demokratie lässt sich begegnen, indem man erläutert, wie soziale Objektivität – obschon durch menschliche Praxis gestiftet – sich gegenüber individuellen Akten verselbstständigt und verallgemeinert. In der philosophischen Debatte um den Status von Handlungs- und Praxisformen argumentiert etwa Frank Kannetzky im Anschluss an Wittgenstein und Hegel gegen einen methodologischen Individualismus in der Handlungstheorie.67 Sein Kerneinwand, der auch Mouffe trifft, ist, dass Handlungen sich nicht ausgehend von einzelnen Akteuren verstehen lassen, sondern nur unter der Annahme ihnen vorausgesetzter Handlungsformen. Individuelle Handlungen sind nur als Teilnahme an und Aktualisierung von gesellschaftlichen Praxisformen zu begreifen. Außerhalb dieses Bezugs lasse sich überhaupt nicht feststellen, ob eine individuelle Handlung gelungen ist. Denn ob eine Handlung gelungen ist oder 65 Vgl. Mouffe 2015b. 66 So haben etwa die Autoren der neu-rechten Zeitschrift Sezession die formalen Nähen zwischen Chantal Mouffes Projekt und dem der Neuen Rechten erkannt. Zuletzt Felix Menzel in seiner Besprechung von Mouffes Artikel zum Populismus in Europa (vgl. Menzel 2015). 67 Für den Hinweis auf diese einschlägige Diskussion danken wir Jan Müller und Jens Kertscher.

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nicht, bemisst sich daran, ob sie unter eine Handlungsform gebracht werden kann. Die allgemeine Handlungsform ist der individuellen Handlung gerade dadurch, dass sie ihr Maß ist, logisch vorausgesetzt. Da das Gelingen wesentlich zum Begriff der Handlung gehört, kann jenseits gesellschaftlicher Institutionen überhaupt kein Handeln gedacht werden.68 Diese Handlungsformen gehen dem individuellen Handeln also begrifflich voraus und sind dennoch selbst gewordene „‚Kristallisationen‘ bzw. reale[…] Verobjektivierungen“69 der gemeinsamen Praxis. Als solche sind sie objektive Macht, bringen also Handlungsmöglichkeiten und damit allererst „die Möglichkeit entsprechender Absichten hervor.“70 Nicht also das Niemandsland sozialer Kontingenz ermöglicht artikulatorisches Handeln, sondern gesellschaftlich vorausgesetzte Praxisformen. Das bedeutet aber zugleich: „Wenn sich die Individuen diese Möglichkeiten aneignen, müssen sie sich der Eigengesetzlichkeit der Institution fügen. Deren Fortbestehen ist gegenüber den faktischen Anerkennungen dann relativ stabil und unabhängig und kann insofern auch nicht einfach durch Übereinkunft oder Entzug der kollektiven Anerkennung außer Kraft gesetzt werden.“71 In Mouffes Theorie gibt es also ein zentrales geltungstheoretisches Problem: Politisches Handeln wird ausgehend von Einzelhandlungen konzipiert und verbleibt so im Rahmen des methodologischen Individualismus. Dadurch muss unklar bleiben, wie sich Subjektpositionen, begriffliche Geltung und politische Einheit gegenüber den individuellen Bezugnahmen stabilisieren. Es ergeben sich fünf Anschlussprobleme, die ohne den Rückgang hinter den methodologischen Individualismus nicht gelöst werden können: Erstens erscheinen politische Konflikte immer als Auseinandersetzungen, die um Bedrohung und Erhalt von Identität – in Mouffes Terminologie: Subjektpositionen – geführt werden. Die Geltung von Begriffen, Argumenten und Institutionen erscheint zweitens ebenfalls als unmittelbar abhängig von diesen Auseinandersetzungen. Denn sie besteht nicht übergreifend, sondern nur innerhalb der jeweils von Subjekten vorgebrachten Artikulationen. Deshalb kann es drittens keine rationale Verständigung zwischen antagonistischen Parteien geben und das Politische stellt sich insofern als Kampf homogener kollektiver Subjekte um die diskursive Hegemonie dar. Dies rückt Mouffes relationalistische Kritik am Essentialismus viertens selbst wieder in die Nähe von Schmitts Konzept existentieller Teilhabe, das homogene Gemeinschaftlichkeit als Voraussetzung politischer Einheit und politischen Handelns begreift. Weil sich nur innerhalb politischer Einheiten wirklich argumentieren lässt, ist die Wahl zwischen politischen Einheiten dem rationalen Zugriff grundsätzlich versperrt. Welcher politischen Einheit (z.B. Links- oder Rechts-

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Vgl. Kannetzky 2005, S. 124. Ebd., S. 126. Ebd., S. 127. Ebd., S. 127.

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populismus, Differenz- oder Gleichheitsfeminismus) man sich anschließt, stellt sich daher fünftens als existenzielle Entscheidung dar. Mit dem Einwand Kannetzkys kann Mouffes Kritik des Essentialismus in der Gesellschaftstheorie aufgegriffen werden, ohne jedoch die Frage gesellschaftlicher Geltung insgesamt zu vernachlässigen. Begreift man mit Kannetzky die Geltung von Begriffen, Argumenten und Institutionen als „Kristallisation“ oder „Verobjektivierung“ von gesellschaftlicher Praxis, wird politisches Handeln nicht länger durch radikale Kontingenz ermöglicht, sondern durch die realen Möglichkeiten der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung. In politischen Auseinandersetzungen geht es dann erstens nicht mehr um die Verteidigung von Identität, sondern um die Veränderung von gesellschaftlich Geltendem, d.h. z.B. um die Verteilung gesellschaftlichen Reichtums oder um die Teilhabe an Rechten. Die Geltung von Begriffen und Argumenten ist dann zweitens nicht mehr von den einzelnen Bezugnahmen, sondern von der Instituierung durch die politischen Auseinandersetzungen als solchen abhängig. Bestimmt der politische Antagonismus so nicht länger „die Grenzen jeder Objektivität“, können drittens auch zwischen „verfeindeten“ Konfliktparteien Argumente ausgetauscht werden. Voraussetzung für gültiges Argumentieren ist dann nämlich viertens nicht mehr die existenzielle Teilhabe an einer homogenen Gemeinschaft, sondern die Teilhabe an der gesellschaftlichen Praxis überhaupt. Die Wahl zwischen politischen Alternativen ist dann auch fünftens nicht mehr als beliebig zu begreifen, denn durch ihre Rückbindung an die gesellschaftliche Praxis können verschiedene Artikulationen auf ihre Angemessenheit an ebendiese Praxis befragt werden. Vermeidet man also das oben benannte geltungstheoretische Problem der radikalen Demokratietheorie, kann sich eine mit Schmitt vorgetragene Kritik des liberalen Rationalismus und Individualismus auch wahrhaft gegen Schmitts substanzialistische Voraussetzungen und völkische Konsequenzen richten.

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II. Zur staatstheoretischen Relevanz radikaldemokratischen Denkens

Anja Rüdiger Hegemonie als ethische Praxis. Zu den Strategien sozialer Bewegungen im neoliberalen Staat

„So sieht Demokratie aus“ – die Parole, die 1999 in den Straßen von Seattle erklang und 2011 auf besetzten Plätzen widerhallte – meint eigentlich „So kann Demokratie wirklich werden.“ Sie bezieht sich auf den Prozess und die AgentInnen der Veränderung, nicht auf neue Institutionen einer radikalen Demokratie. Dasselbe gilt für Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Hegemonietheorie, die sozialen Bewegungen eine post-fundationalistische Theorie der Veränderung angeboten hat, situiert in der emanzipatorischen Tradition des Marxismus, jedoch ohne dessen historischen und ökonomischen Determinismus. Soziale Bewegungen debattieren lebhaft darüber, wie man Veränderung herbeiführen kann, die Frage, wie eine veränderte Gesellschaft aussehen könnte, wird jedoch oft vermieden. Die Praxis sozialer Bewegungen in den Vereinigten Staaten, auf die ich mich in diesem Essay stütze, illustriert jedoch, dass es möglich ist, die Hegemonietheorie auf ein emanzipatorisches Überdenken von Institutionen hin auszuweiten. Während Laclau und Mouffe die Institutionalisierung radikaler Demokratie mit einer Institutionalisierung von Offenheit gleichsetzen, zeigt der gegenwärtig populäre Rückgriff auf das Menschenrechtskonzept, dass ein bloßes Ethos der Kontingenz unzureichend ist, um kollektives emanzipatorisches Handeln zu motivieren. Stattdessen schlage ich vor, hegemoniale Praxis um eine politische Ethik der Gleichgewichtung (equity) zu ergänzen, inspiriert von der asymmetrischen Beziehung zwischen dem Subjekt und seinem ihn konstituierenden Anderen. Indem man dem Anderen jeglicher Konstruktion mit einer Verpflichtung zur Gleichgewichtung (equity) antwortet, können hegemoniale Operationen eine relationale ethische Haltung einnehmen, die den Institutionenwandel lenken kann, ohne gleichzeitig Machtkämpfe zu unterdrücken.

1. Strategische Spannungen in heutigen sozialen Bewegungen Dreißig Jahre nach Hegemonie und radikale Demokratie haben sich die sozialen Bewegungen, die Laclau und Mouffe dazu inspiriert haben, sich eine Ausdehnung politischer Kämpfe auf neue konfliktreiche soziale Verhältnisse vorzustellen, in unter-

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schiedlichen und divergierenden Formen ausgebreitet.1 Sie verwandelten sich in Revolutionäre, die das Sowjet- und das Apartheidsregime stürzten, wurden zu globalen Nomaden, die von Seattle bis Porto Alegre protestierten, sie gingen gegen permanenten Krieg auf die Straße, erhoben sich für Demokratie im Mittleren Osten und strebten an, alles zu besetzen. Im neoliberalen politischen und ökonomischen Kontext engagieren sich solche Bewegungen – die kontingenten Artikulationen von Kämpfen, die durch kollektives Handeln bestehende Machtverhältnisse zu transformieren suchen – im Widerstand gegen vielfältige Ungerechtigkeiten, steigende Ungleichheit und Konzentration von Reichtum und Macht, die Kommodifikation sämtlicher Aspekte der Gesellschaft, einhergehend mit einer Kultur des uneingeschränkten Konsums und Wettbewerbs, umfassender Privatisierung, getrieben von einer unerbittlichen Sparpolitik, allgegenwärtiger Sekuritisierung, Überwachung und Kontrolle im Krieg gegen den Terror, tödlichen Flüchtlingskrisen, anhaltendem strukturellen Rassismus, einem wachsenden Prekariat und nicht zuletzt Umweltzerstörung und Klimawandel. Trotz dieser Multiplikation von BewegungsakteurInnen und -aktionen ist es bislang jedoch noch keiner Bewegung gelungen, die in Hegemonie und radikale Demokratie angedachte radikal demokratische Hegemonie zu etablieren, die die Ausweitung von Gleichheit auf immer mehr soziale Verhältnisse mit der Institutionalisierung einer neuen sozialen Ordnung verbinden würde, die ihrerseits ihre eigene Offenheit und Instabilität gegenüber Herrschaftsverhältnissen bestätigt.2 In der facettenreichen Welt der BewegungsakteurInnen erhalten strategische Fragen bezüglich der Parameter struktureller Transformationen besondere Beachtung, begleitet von erneuerten Hoffnungen auf eine lange überfällige „left convergence“.3 Während sich ökonomische und politische Dislokationen beschleunigen und vertiefen, mag die Konstellation der Kräfte im linken Spektrum tatsächlich als vielversprechend erscheinen. Der jüngste Bewegungsdiskurs richtet seine Aufmerksamkeit auf die doppelte Ungerechtigkeit der ungleichen (inequitable) Verteilung von Reichtum und Macht, und sieht das Thema der Verteilungsgerechtigkeit (equity) innerhalb des öffentlichen Diskurses sowie der Wahlpolitik in den Vereinigten Staaten und in Europa reflektiert. Aber an Stelle von überzeugenden Strategien für „a profound transformation of the existing relations of power“4 beruhten diese Hoffnungen lediglich auf den jüngsten Wahlkämpfen, die linke PolitikerInnen mit ihren Versprechen, den Würgegriff neoliberaler Politik zu lockern, ins nationale Rampenlicht gestellt haben, bevor sie von Rechtspopulismen überstrahlt wurden.

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Laclau/Mouffe 1991, S. 219–234. Laclau/Mouffe 1991, S. 255ff. Pritchard/Worth 2016. [„linke Annäherung“; Übersetzung H.F.]. Laclau/Mouffe 2014, S. xv. (Diese Angabe bezieht sich auf die englische Ausgabe; der deutschen Ausgabe ist ein anderes Vorwort vorangestellt. Anm. d. Ü.) [„eine tiefgehende Transformation der bestehenden Machtverhältnisse“; Übersetzung H.F.].

PolitiktheoretikerInnen sind während dieser fortlaufenden Wellen progressiver Mobilisierung nicht untätig geblieben. Mit der Katalogisierung diverser Widerstandspraktiken haben sie über spontane politische AgentInnen der Veränderung spekuliert, die sich zu einer rhizomatischen Multitude zusammenfinden, über neue Formen von politischem und ethischem Anarchismus reflektiert und hegemoniale Allianz-Projekte identifiziert.5 Eine zentrale Verwerfungslinie verläuft zwischen denjenigen, die Bewegungen als durch kontingente, hegemoniale Artikulation von Kämpfen in der Konfrontation mit wechselnden antagonistischen Kräften konstruiert verstehen, und denjenigen, die Bewegungen als Resultate individueller Widerstandshandlungen ansehen, die zufällig ineinanderfließen, gefördert durch die Entwicklungen neuer subversiver Subjektpositionen im Spätkapitalismus. Jedoch bleiben wichtige strategische Fragen, die sich aus der Praxis der Bewegungsentwicklung ergeben – dem koordinierten Entwicklungsprozess, der die Bewegungsinfrastruktur erzeugt, stärkt und aufrechterhält – unbeantwortet, insbesondere die Herausforderung, sich Institutionen vorzustellen, die radikal veränderte Machtverhältnisse verkörpern könnten. Tatsächlich muss jedoch die Gestaltung sowohl öffentlicher, als auch gemeinschaftsbasierter alternativer Strukturen ein integraler Bestandteil radikaler Demokratisierungspraktiken sein, wie dieser Essay zeigen möchte. Da eine Diskussion zeitgenössischer Bewegungstheorien den Rahmen an dieser Stelle sprengen würde, beschränke ich mich im Folgenden auf eine Skizzierung drei bedeutender Argumentationsstränge, die es ermöglichen, Laclaus und Mouffes Hegemonietheorie innerhalb vorherrschender strategischer Spannungen zu verorten. Die Höhepunkte jüngerer sozialer Bewegungen erstrecken sich von den globalisierungskritischen Bewegungen der späten 1990er, zu den Anti-Kriegs-Protesten und der Verteidigung von Immigrantenrechten im Zuge des 11. Septembers 2001 sowie einer wachsenden Klimagerechtigkeitsbewegung bis hin zum Arabischen Frühling, Spaniens Indignados, der Occupy-Bewegung und Black Lives Matter in den Vereinigten Staaten, und letztlich zu den teils kurzlebigen, von Rechtspopulismen gedämpften Wahlerfolgen von Podemos, Syriza und der Kandidaten Corbyn in Großbritannien und Sanders in den USA. Man könnte eine globale Phase bis zum 11. September 2001 feststellen, gefolgt von einer nationalen Phase als Folge der „Reterritorialisierung der Staatsmacht“6 und einer stärker lokalisierten, ortsgebundenen, aber global vernetzten Phase (auf die weltweite Rezession von 2008 folgend) mit einer Proliferation autonomer Praktiken einerseits und linker Wahlstrategien andererseits. Die drei immer wiederkehrenden Fragen zur politischen Handlungsfähigkeit, zum Repräsentationsverhältnis und zur Auseinandersetzung mit staatlichen In5 Für einen Überblick über die Bewegungstheorien, auf die hier Bezug genommen wird – darunter Michael Hardt/Antonio Negri, Simon Critchley und AnhängerInnen von Laclau/Mouffe – vergleiche beispielsweise Kioupkiolis 2010 und Decreus u.a. 2014. 6 Critchley 2008, S. 135.

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stitutionen durchziehen diese Mobilisierungen als Leitfäden – sowohl in praktischer, als auch theoretischer Hinsicht. Dabei ist, erstens, der postfundationalistischen Kritik am Klassenprimat folgend, die Frage nach den AgentInnen politischer Veränderung wieder aufgetaucht. Einige TheoretikerInnen erwarten, dass vernetzte Individuen, hervorgebracht durch die Wissens- und Gig-Economy des Informationskapitalismus, vielfältige und heterogene Widerstände einleiten werden, gestützt durch eine neue, selbstverwaltete Produktionsweise.7 In diesem Fall wären weder die Bande der Gemeinschaft, noch die hegemonialen Praktiken der politischen Artikulation erforderlich, um vernetzte 99 % zu erzeugen. Als ein Spiegel des Marktindividualismus erscheint dieser Typus des Agenten jedoch nicht weniger ökonomisch determiniert und selbstimmanent, als der Klassenagent des industriellen Kapitalismus.8 Im Gegensatz dazu haben Laclau und Mouffe überzeugend dafür argumentiert, dass soziale Bewegungen das Resultat kontingenter Artikulierungsprozesse sind und somit nicht der zufälligen sozialen Interaktion oder vorgegebenen ökonomischen Positionen entspringen. Die Hegemonietheorie geht davon aus, dass politische AgentInnen in kollektiven Identifizierungsund Exklusionsprozessen entstehen. Ihre Identität und Einheit ist nicht vorgefertigt, sondern im antagonistischen sozialen Feld geprägt und als Glied in einer kontingenten Kette äquivalentieller Forderungen aufgereiht.9 Eine soziale Bewegung konstruiert in einer hegemonialen Operation eine gemeinsame Identität und einen universalisierenden Diskurs, hervorgebracht aus der Verknüpfung vieler unterschiedlicher, aber äquivalentieller Elemente, die einer antagonistischen Kraft entgegentreten. Diese Praxis der politischen Konstruktion hat die Occupy-Bewegung möglicherweise unterschätzt: Die Evozierung einer breiten Einheit („Wir sind die 99 %“), verallgemeinernde Forderungen (Gleichheit, Demokratie) und ein vager Gegner („Wall Street“ und „das 1 %“) ersetzten einen aktiven Prozess der Artikulation, der die vielen partikulären, ortsspezifischen Aufstände mit anderen Kämpfen innerhalb des Feldes der Bewegungsgruppen hätte verknüpfen können.10 Zweitens kann die politische Debatte um Partizipation versus Repräsentation, die auch als eine Hierarchie-Debatte (horizontale versus vertikale Praktiken) verstanden wird, dadurch erhellt werden, dass man sie zu ihren philosophischen Wurzeln zurückverfolgt. Das Konzept der Repräsentation hat eine besondere Funktion in jeder 7 8 9 10

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Siehe z.B. die jüngsten Äußerungen von Michael Hardt. Özselçuk 2016. Für Kritik an diesem Konzept vergleiche z.B. Laclau 2001 und Kioupkiolis 2010. Vgl. Laclau/Mouffe 1991, S. 194. In Mouffes Occupy-Kritik, die sich auf die gescheiterte Konstruktion einer starken Äquivalenzkette konzentriert, wird der performative Aspekt des Schaffens von Einheit vernachlässigt. Demgegenüber stimme ich der These Laclaus zu, dass eine performative Operation, die vage Symbole ins Spiel bringt, von essentieller Bedeutung für die Vereinigung radikal heterogener Forderungen ist. Occupy jedoch, fixiert auf die symbolische Ebene, hat es nicht zu einer tatsächlichen Vereinigung der vielfältigen Kämpfe gebracht. Vgl. Mouffe 2013, S. 171ff.; Laclau 2005, S. 98, S. 108.

Theorie, die Identität als relational betrachtet, gebildet in einem offenen, instabilen System von Differenzen, also weder als eine selbst-gegenwärtige Entität noch als Element in einer geschlossenen Struktur.11 Der Repräsentationsbegriff beschreibt beispielsweise das kontingente Verhältnis zwischen einem politischen Subjekt und dessen Interessen oder zwischen einer Gemeinschaft und der Gesamtgesellschaft. Auf praktischer Ebene befinden sich Partizipation und Repräsentation in einer immerwährenden Spannung, da sich soziale Bewegungen in einer Kette äquivalentieller Forderungen artikulieren (eine horizontale Konstruktion), die dann wiederum durch eine universale Forderung repräsentiert wird, die aus der horizontalen Vielfalt erwächst (eine vertikale Konstruktion). Beide Prozesse sind Teil der Logik des Politischen und können als solche nicht auf die repräsentative Demokratie einerseits oder auf eine Abwesenheit von Hierarchie andererseits reduziert werden. Während die liberale Demokratie durch Repräsentationsmechanismen die Illusion der Macht politischer Subjekte erzeugt, gleichzeitig diesen Subjektstatus jedoch durch soziale und wirtschaftliche Exklusion widerruft, riskieren horizontale, deliberative Prozesse eine Entpolitisierung der Machtverhältnisse, indem sie Antagonismen unsichtbar machen oder sie für lösbar erklären. Drittens befeuert der Skeptizismus gegenüber sowohl demokratischer Repräsentation als auch Partizipation eine Exodus-Mentalität bezüglich bestehender Institutionen, insbesondere staatlichen. Während viele Bewegungsorganisationen geschickt mit den Spannungen einer Innen-Außen-Strategie umgehen – sie entwickeln Beziehungen zu MachthaberInnen und organisieren gleichzeitig kollektive Aktionen, die ihre eigene Macht stärken – setzen andere Bewegungen auf subversive Aktionen oder autonome Praktiken außerhalb der Reichweite von Staatsapparaten. Die Befreiung vom Staat wird dabei über das Ziel von Gleichheit und Gerechtigkeit innerhalb des Staates gestellt; an diesem Punkt gehen progressive und neoliberale Protesthaltungen gegenüber dem Staat ineinander über. Dieser Ansatz vergisst, dass jedes System abhängig ist von seinen eigenen Ausschlüssen, seinem konstitutiven Außen, wodurch jegliche subversiven Aktionen in ein Korrektiv autoritärer Tendenzen umgewandelt werden können und so gesehen als Sanierungsmaßnahme der liberalen Demokratie funktionieren. Bewegungen im neoliberalen Staat sind immer schon Teil der bestehenden Ordnung, sogar als ausgeschlossene Elemente. Obwohl subversive und autonome Praktiken potentielle Bestandteile einer hegemonialen Politik sind, müssen sie in Prozessen der permanenten Organisation und kontingenten Artikulation begründet sein, damit Mobilisierungsmomente katalysiert und systematisch ausgenutzt werden können. Viele soziale Bewegungen haben sich an den Schnittstellen dieser Spannungen entwickelt und Antworten auf diese strategischen Herausforderungen angeboten. Im

11 Vgl. Laclau/Mouffe 1991, S. 165ff., S. 172ff.

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nächsten Abschnitt werde ich darlegen, wie ein solches Beispiel aus der Bewegungspraxis ein Umdenken der Hegemonietheorie für gegenwärtige progressive soziale Bewegungen inspirieren kann.

2. Der leere Signifikant der Menschenrechte Während des vergangenen Jahrzehnts haben sich progressive Bewegungen in den Vereinigten Staaten verstärkt einen Menschenrechtsdiskurs angeeignet, um breite Bevölkerungsschichten anzusprechen, Gruppen zu vereinigen und Kämpfe zu verknüpfen, mit dem Ziel, eine emanzipatorisch-hegemoniale Kraft zu formen. Die folgenden Überlegungen zu Bewegungspraktiken stützen sich auf meine doppelte Rolle als Teilnehmerin und Beobachterin. Dies ist keine ungewöhnliche Position, doch sie bringt eine gewisse Verantwortung mit sich – Bewegungsakteure schärfen ihre Praxis oft dadurch, dass sie sie reflektierend mit anderen austauschen, woraus folgt, dass „the identities and borders of the movements are constituted performatively by those speaking about them and in their name.“12 Obwohl es nicht meine Absicht ist, eine detaillierte Fallstudie zu entwickeln, entspringen meine Argumente doch hauptsächlich meiner Arbeit mit der Healthcare Is a Human Right (HCHR) Kampagne, einer Graswurzel-Bewegung, die auf lokaler Ebene in Vermont entstanden ist und sich nach und nach zu einer Menschenrechtsbewegung ausgewachsen hat und in eine bundesstaatenübergreifende Zusammenarbeit gemündet ist.13 Ihr größter politischer Erfolg bestand darin, dass sie das erste – und bisher einzige – Gesetz für ein allgemeines, öffentlich finanziertes Gesundheitssystem durchgesetzt hat, das zwar auf den Staat Vermont begrenzt war, aber Bewegungen im ganzen Land beeinflusst hat.14 Die HCHR-Bewegung hat den Menschenrechtsansatz dazu benutzt, eine große Bandbreite einzelner Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Ungleichgewichtung (inequity) zu repräsentieren, einschließlich unerfüllter Grundbedürfnisse, Ausbeutung, Exklusion und politischer Entmachtung. Durch die Verbindung mit dem Signifikanten der Menschenrechte können tief verwurzelte, persönliche Erfahrungen politisiert und verallgemeinert werden. Indem verschiedenste einzelne Fälle von Ungerechtigkeit in einer Kette von allgemeinen Menschenrechtsverletzungen artikuliert werden, wird auch die Bedeutung der Menschenrechte in der Verknüpfung mit kollektiver Gerechtigkeit und Gleichgewichtung (equity) verändert und verschärft. Menschenrechte werden kontextualisiert, behalten aber die Kraft ihrer universellen Form. Sie 12 Prentoulis/Thomassen 2013, S. 170. [„die Identitäten und Grenzen der Bewegungen performativ von denjenigen konstituiert werden, die über sie und in ihrem Namen sprechen.“ Übersetzung H.F.]. 13 Vgl. www.healthcareisahumanright.org. 14 Vgl. Rüdiger 2011.

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dienen als leerer Signifikant innerhalb einer Logik der Äquivalenz, die einzelne Ungerechtigkeiten aneinanderreiht, ihnen eine universelle Bedeutung und Sichtbarkeit verleiht und sie gegen herrschende Politik und Institutionen in Stellung bringt, welche damit als Menschenrechtsverletzer definiert werden. Durch die Bezeichnung von Individuen als InhaberInnen von Rechten, die ihre eigenen Erfahrungen als von anderen geteilten Menschenrechtsverletzungen bestätigt finden, ist die Bewegung in der Lage, ein kollektives politisches Subjekt zu konstituieren. So verwandelt sich eine angeeignete Opferidentität, oftmals verbunden mit Ressentiments und einer Sündenbockmentalität, in einen kollektiven Machtanspruch, der sich gegen ungerechte politische und wirtschaftliche Institutionen richtet. Hegemoniale Operationen dieser Art sind nicht auf die Anwendung des Menschenrechtssignifikanten beschränkt. Dass jedoch der Menschenrechtsdiskurs die Funktion eines leeren Signifikanten in einem progressiven Projekt eingenommen hat, kann zuvor vernachlässigte Dimensionen hegemonialer Projekte beleuchten. Menschenrechte sind tief eingebettet in die Tradition der liberalen Demokratie, gewöhnlich in Form eines essentialistischen Diskurses über die menschliche Natur und einer universalisierenden Moralität, die sich systematischen Exklusionen verdankt. Als solche sind sie Teil einer Ideologie individueller politischer Freiheiten, die ihrerseits wirtschaftliche Ausbeutung, Herrschaft im Bereich des Privaten und imperialistische Homogenisierung gerechtfertigt hat. Gleichzeitig sind Menschenrechte im Völkerrecht kodifiziert und übertragen Staaten Pflichten, deren Erfüllung von Menschenrechtsorganisationen überwacht wird. Von besonderer Bedeutung sind die Menschenrechtsprinzipien der Gleichheit und Freiheit in dem Prozess, den Laclau und Mouffe als demokratische Revolution bezeichnet haben, nämlich der allmählichen Ausweitung von Rechten auf alle Bereiche der Gesellschaft.15 Die HCHR-Bewegung baut auf dieser demokratischen Logik auf und vermeidet dabei das traditionale fundationalistische und präskriptive Menschenrechtsverständnis. Sie hat gelegentlich den internationalen rechtlichen Rahmen der Menschenrechtsabkommen verwendet, um ihre Forderungen zu legitimieren und international zu vernetzen, was, wie Critchley bestätigt, ein fruchtbarer Prozess sein kann: „Es ist die strategische Besetzung des universalistischen Terrains internationaler Rechte und des Völkerrechts, die das Instrument für eine regionale politische Artikulation mit globalen Folgen zur Verfügung stellt.“16 Dennoch leitet die HCHR-Kampagne ihre Menschenrechtsprinzipien nicht vom universalistischen Völkerrechtsdiskurs ab, sondern verankert sie lokal in Erfahrungen von Ungerechtigkeit und subversiven Infragestellungen von Herrschaft. Für diese Graswurzelperspektiven sind Menschenrechte nicht in universalen Gesetzen begründet, sondern stellen kontingente Konstruktionen dar, die aus kollektiven Kämpfen um Emanzipation hervorgehen. Dies 15 Vgl. Laclau/Mouffe 1991, S. 211. 16 Critchley 2008, S. 128.

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schließt Kämpfe um wirtschaftliche und soziale Rechte ein, die die wirtschaftlichen Bedingungen einfordern, die notwendig sind, um einen würdevollen Lebensstandard zu sichern. Dies ist ein politisiertes Verständnis von Rechten „in which the universality appears to be grounded in the contingency of the insurrection itself“.17 Anstatt politische Forderungen in einen rechtlichen Rahmen zu zwängen, politisiert der Signifikant der Menschenrechte persönliche Erfahrungen zu einer kollektiven Vision von Gerechtigkeit und Gleichgewichtung (equity): „the value of rights discourse for a radical democratic project today lies not […] in its guarantees of protection […] or as remedy to social injury, but in the (fictional) egalitarian imaginary this discourse could engender“18. Eine solche transformative Artikulation des liberalen Menschenrechtskonzepts ist deshalb möglich, weil Menschenrechte als ein flottierender Signifikant fungieren, dessen Bedeutung sich innerhalb verschiedener Äquivalenzketten ändert – vom dominanten zivil- und politischen Rechtsdiskurs, der den individualistischen Begriff von Freiheit gegenüber dem Staat stärkt, bis zu kollektiven sozialen und wirtschaftlichen Rechten, die das Prinzip der Gleichgewichtung (equity) hervorheben und Umverteilungsforderungen nach sich ziehen. Die Logik der Äquivalenz gibt den Menschenrechten einen neuen hegemonialen Sinngehalt, der sich zunehmend bestimmter partikularer Inhalte entledigt, je länger die Kette artikulierter Erfahrungen und Forderungen wird. Sobald ihr Sinngehalt mit bestimmten allgemeinen Forderungen assoziiert wird – in diesem Beispiel mit Gleichgewichtung (equity) und Umverteilung – verschließt sich die Kette vor potentiell inkompatiblen Forderungen wie Besitzrechten. Als Ergebnis dessen werden Menschenrechte als ein neuer politischer Diskurs der Gleichgewichtung (equity) artikuliert, der vielfältige politische Forderungen sozialer Bewegungen verbindet und gegen die neoliberale Individualrechtsideologie, die kollektive wirtschaftliche Ansprüche ausschließt, stark macht. Im Folgenden werde ich untersuchen, wie Menschenrechte als „Instrument politischer Artikulation“19 dazu beitragen können, soziale Bewegungen und deren Verhältnis zu staatlichen und ökonomischen Institutionen in einer Weise zu formen, die das Entstehen radikal demokratischer Hegemonie fördert. Erstens können wir in einer Systematik von Bewegungen diejenigen Kämpfe, die sich auf Identitäten oder Inklusionsforderungen konzentrieren, von denjenigen unterscheiden, die sich auf Problembereiche oder Transformationsforderungen beziehen. Menschenrechtsbewegungen wurden oftmals als identitätsbasierte Kämpfe kon17 Balibar 2007, S. 6. [„in welchem die Universalität in der Kontingenz des Aufstands selbst begründet zu sein scheint“; Übersetzung H.F.]. 18 Brown 1995, S. 133. [„Der Wert des Rechtediskurses für ein radikal demokratisches Projekt liegt nicht […] in seinen Schutzgarantien […] oder darin, ein Allheilmittel gegen soziale Verletzungen zu sein, sondern in dem Status eines (fiktiven) egalitären Imaginären, das dieser Diskurs erzeugen könnte“; Übersetzung H.F.]. 19 Critchley 2008, S. 108.

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struiert, die die Ausdehnung gleicher Rechte auf ausgeschlossene Personengruppen einfordern.20 Antagonismen, die mit Identitäten verbunden sind, zeichnen sich durch klare Exklusionen aus, wobei Äquivalenzketten die ausgeschlossenen Identitäten durch Forderungen nach Anerkennung artikulieren. Die hier vorgestellte, rechtebasierte Bildung von Bewegungen konstruiert Antagonismen jedoch nicht entlang von Identitätslinien, sondern mittels systematischer Problembereiche, wie etwa Kommodifikation und dadurch entstehende Ungerechtigkeitsdynamiken, z. B. Einkommensungleichheit.21 Sie befasst sich weniger damit, Widersprüche hinsichtlich des Zugangs zu bestehenden Rechten aufzuzeigen und diesen Zugang auszuweiten, sondern benutzt die Logik der Menschenrechte als Richtlinie zur Transformation von Strukturen und Institutionen. Dies verändert das Verhältnis der sozialen Bewegungen zum Staat, indem Forderungen nach Anerkennung und Inklusion in eine strategische Dekonstruktion und Rekonstruktion von Institutionen überführt werden. Ein solcher Perspektivwechsel erhöht den Einsatz: Er lässt politische Grenzen verschwimmen, da Subjekte bereits Teil der Strukturen sind, die sie zu verändern versuchen22 und verkompliziert die Artikulation einer äquivalentiellen Kette, die zusehends länger und heterogener wird, da Subjekte in unterschiedlicher Weise von verschiedensten systematischen Ungerechtigkeiten betroffen sind. Die HCHR-Bewegung suchte diesen Herausforderungen durch die Konstruktion einer populären, universellen politischen Identität zu begegnen, um verschiedenartige Forderungen23 miteinander zu verbinden – und somit den Rückgriff auf Klassenakteure zu vermeiden. Gleichzeitig benutzte sie das Konzept der Gleichgewichtung (equity), um politische und zivile Rechte mit wirtschaftlichen und sozialen Rechten zu verknüpfen. Zweitens veranschaulicht die auf Menschenrechten basierende Bildung von Bewegungen ein Verständnis kollektiver Handlungsfähigkeit, das auf den zwei Säulen von Ermächtigung und Zusammenführung ruht. Der Signifikant der Menschenrechte erleichtert die Konstruktion eines universellen Agenten – alle Menschen – als „das Volk“ (the people), während er gleichzeitig die besondere Führungsrolle derjenigen Menschen, die am stärksten von Ungerechtigkeit betroffen sind (sowohl ausgeschlossen, als auch ausgebeutet) betont, legitimiert durch die Priorisierung „verwundbarer“ Bevölkerungsgruppen im Sinne der internationalen Menschenrechtsstandards. Der praktischen Verpflichtung, die am stärksten betroffenen Menschen zu AnführerInnen von Bewegungen zu ermächtigen, leitet sich nicht von einem ontolo20 Für Laclau und Mouffe ist dies Teil einer „äquivalentielle[n] Verschiebung des egalitären Imaginären auf immer umfassendere soziale Verhältnisse“ (Laclau/Mouffe 1991, S. 255), ein Charakteristikum neuer sozialer Bewegungen, das von Kritikern als Identitätspolitik, die die Staatsmacht legitimiert, abgetan wird; vgl. z.B. Day 2005, S. 69. 21 Während Laclau und Mouffe zwischen der Kritik politischer Ungleichheit und ökonomischer Ungleichheit ein Kontinuum sehen (Laclau/Mouffe 1991, S. 216.), behaupte ich, dass die diesbezüglichen politischen Möglichkeiten und Probleme sehr unterschiedlich sind. 22 Für eine tiefer gehende Betrachtung dieser Problematik vgl. Decreus u.a. 2014, S. 144. 23 Vgl. auch Laclau 2005, S. 231.

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gischen Konzept des Primats bestimmter AgentInnen ab, sondern von einem ethischen Bezugspunkt, einer Antwort auf eine Ungerechtigkeit, die die Verantwortung bedingt, mit der Emanzipation in der Praxis des Kampfes zu beginnen. Dies ist durchaus mit einer Art populistischer Allianz vereinbar, da der Menschenrechtsdiskurs die am stärksten Betroffenen in ein Repräsentationsverhältnis zu „Menschen“ insgesamt stellt, so dass eine einzige antagonistische Grenze zwischen dem Volk (people) und existierenden Machtstrukturen gezogen wird.. Die Konstruktion von „Volk“ verdankt sich der Artikulation einer Vielzahl heterogener Erfahrungen und Forderungen und deren Zusammenführung durch den leeren Signifikanten der Menschenrechte, der „alle Menschen“ (all people) zu InhaberInnen von Rechten bestimmt.24 Drittens erkennt diese Art der Bildung von Bewegungen sowohl affektive als auch ethische Dimensionen kollektiven Handelns an. Bewegungsakteure wissen, dass weder die Erfahrung von Ungerechtigkeit25 noch rationale Lösungsvorschläge ausreichend sind, um politisches Handeln zu motivieren. Obwohl die Hegemonietheorie beschreiben kann, wie sich Bewegungen entwickeln, befasst sie sich nicht mit der Frage, warum sich Menschen engagieren und wie ihr Engagement in eine emanzipatorische Richtung geleitet werden kann. HCHR-OrganisatorInnen meiden Antriebskräfte wie Angst, Wut oder charismatische Autoritäten und konzentrierten sich stattdessen darauf, Gemeinschaft durch die Entwicklung von persönlichen Beziehungen herzustellen; dabei erfüllen sie das Bedürfnis nach Anerkennung durch persönliche Ansprüche, überwinden die Opfermentalität und nutzen Rituale, um ein Gefühl von Zugehörigkeit zu entwickeln. Zudem mobilisieren sie das normative Potential der Menschenrechte, indem sie gemeinsame Werte konstruieren, die als ethische Bindeglieder von sozialen Banden fungieren und die kollektive Entwicklung einer emanzipatorischen Vision lenken. Viertens konzentrieren sich rechtebasierte Bewegungen auf die Konstruktion eines neuen politischen Imaginären anstelle einer defensiven Strategie. Während es für die HCHR-Kampagne leicht war, Menschen gegen private Versicherungsunternehmen als den Hauptgegner zu mobilisieren, erkannten die OrganisatorInnen zugleich, dass strukturelle Veränderungen zudem eine positive Vision für das Gesundheitssystem erfordern, die sich auf die von der Bewegung entwickelten Menschenrechtsprinzipien gründet. Hegemoniale Projekte konstruieren einen Antagonismus, um ihre verschiedenartigen Elemente zusammenzuführen; auf diese Weise bilden sie eine prekäre einheitlich Front gegenüber spezifischen Unterdrückungsverhältnissen. Würden sich solche Projekte jedoch lediglich durch ihre subversive, oppositionelle Reaktion definieren, wären sie nicht in der Lage, eine neue hegemoniale Formation

24 Vgl. auch Laclau 2005, S. 74ff., S. 223–232. 25 Vgl. Laclau/Mouffe 1991, S. 211.

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zu erzeugen. Ein „instabiles Gleichgewicht“26 zwischen dem Widerstand gegen unterdrückende Strukturen und der Rekonstruktion einer alternativen sozialen Ordnung ist eine Grundvoraussetzung für das Entstehen von Hegemonie. Diese fortwährende Spannung, die die Unmöglichkeit hervorhebt, eine rationale, stabile soziale Ordnung zu etablieren, die vollständig im Einklang mit sich selbst ist, wird durch das ambige Verhältnis der Menschenrechte zum Staat veranschaulicht. Menschenrechte bieten ein wirksames Instrument, um Staatsmacht in Frage zu stellen und für eine gerechte soziale Ordnung zu entwerfen, aber sie legitimieren und bestärken auch bereits bestehende staatliche Strukturen als Orte der Macht. Indem sie Forderungen an den Staat stellen und staatliche Verpflichtungen einrichten, bestätigen die Menschenrechte den Staat als den Gebieter der Gerechtigkeit. Balibar nennt diese Menschenrechtspolitik „intrinsically antinomic – therefore all the more congenial to a rigorous concept of the political“.27 In ihrer Ambiguität repräsentieren die Menschenrechte die irreduzible politische Logik des Sozialen. Dieses hegemoniale Terrain, das durch die Unentscheidbarkeit jedes Systems eröffnet wird, ist geprägt von der Spannung zwischen einem einleitenden Entscheidungsakt und dessen unmöglicher rationaler Begründung, die in agonistischen Verhältnissen lebendig bleibt. Menschenrechtsbewegungen konstruieren politische Artikulationen, die Rechte gegen staatliche Macht einfordern und gleichzeitig nutzen sie Rechte, um einen Systemwechsel und neue Formen der Institutionalisierung einzuleiten, die dann wiederum zu Machtstrukturen und damit zu Orten neuer Rechtsansprüche mutieren. Der flottierende Signifikant der Menschenrechte wird sowohl in subversiven, als auch in institutionellen Prozessen artikuliert, wobei soziale Bewegungen eine offene Dynamik von Widerstand, Subversion und Institutionalisierung beflügeln. Insofern die permanente Spannung zwischen Subversion und Institutionalisierung die radikale Demokratie kennzeichnet, wie Laclau und Mouffe vorschlagen28, können Menschenrechte sowohl Merkmal als auch Triebkraft eines hegemonialen Demokratisierungsprozesses sein.

3. Zu einer Ethik der Ver-Antwortung Eine Menschenrechts-Strategie hält mögliche Antworten für die zentralen Herausforderungen bereit, denen sich progressive Bewegungen stellen müssen: Sie zeigt wie politische Artikulationen den Akzent auf strukturelle Transformation und eine alternative Vision legen können, wie sich kollektives Handeln in der Entwicklung 26 Laclau/Mouffe 1991, S. 257. 27 Balibar 2013, S. 21. [„intrinsische Antinomie und deshalb umso passender für ein rigoroses Konzept des Politischen“; Übersetzung H.F.]. 28 Vgl. Laclau/Mouffe 1991, S. 257.

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von affektiven Bindungen und normativen Prinzipien bildet, wie ausgeschlossene und ausgebeutete Menschen ermächtigt werden können, und wie ein populäres Subjekt und Bündnis konstruiert werden kann. Aus einer theoretischen Perspektive können Menschenrechte jedoch nicht gegenüber anderen Signifikanten oder Strategien bevorzugt werden, da alle gleichermaßen von ihrer kontingenten Konstruktion innerhalb einer politischen Artikulation abhängig sind. Die Hegemonietheorie beschreibt, wie sich politische Veränderung vollzieht, legt dabei aber nicht deren Inhalte oder Bewegungsrichtung fest. Ob eine Veränderung in eine emanzipatorische Richtung weist, hängt von ihrer jeweiligen Artikulation ab. Dennoch ist es wichtig, wie uns die Praxis lehrt, welche Art von Beziehungen, Werten und Visionen in einem hegemonialen Projekt ausgebildet werden. Rechte Populismen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen äußeren Feind konstruieren, Bevölkerungsgruppen durch Angst voneinander isolieren und einen hegemonialen Diskurs herstellen, der liberale demokratische Werte wie Freiheit mit den Geboten des Marktes artikuliert. Ihre Erfindung von Feind- und Heldenbildern verstärkt partikulare Identitäten, verfestigt sie zu starren Entitäten und motiviert kollektives Handeln durch Ressentiment und Wut. Eine Überprüfung empirischer Beispiele kann uns dabei helfen, zwischen verschiedenen Typen von Antagonismen, Äquivalenzen und Signifikanten zu unterscheiden und dabei Muster progressiver oder konservativer Gesinnung zu erkennen, aber es gibt kaum eine theoretische Grundlage, um das emanzipatorische Potential einer hegemonialen Operation zu identifizieren. Um den prozessualen Charakter der Hegemonietheorie sowie anderer Bewegungstheorien zu korrigieren, sind einige TheoretikerInnen den Hinweisen aus der Praxis gefolgt und erklären kollektives Engagement durch die Hinzufügung einer affektiven Dimension.29 Mouffe beispielsweise ergänzte die hegemoniale Operation der Konstruktion eines kollektiven politischen Subjekts durch eine affektive Komponente: „Eine kollektive Identität, ein „Wir“, ist das Ergebnis einer leidenschaftlichen affektiven Investition, die zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft ein starkes Identifikationsgefühl entstehen lässt.“30 Obwohl Bewegungsakteure dem wahrscheinlich zustimmen würden, wirft diese Ergänzung eine weitere Frage darüber auf, wie solch ein Zugehörigkeitsgefühl von einer exklusivistischen in eine emanzipatorische Richtung gelenkt werden kann. Die emotionale Sicherheit, zu einer Gemeinschaft zu gehören, ist lediglich die Kehrseite der rationalen Auslöschung von Unterschieden, die den liberalen demokratischen Ansatz auszeichnet. Die daraus resultierenden Ausschlüsse werden als natürlich angesehen oder unsichtbar gemacht, was ihre Infragestellung erschwert. Konsequenterweise fügte Mouffe 29 Für einen Überblick über die KritikerInnen der Hegemonietheorie, die die affektive Dimension mit biopolitischer Immanenz verwechseln, vgl. Stavrakakis 2014. 30 Mouffe 2013, S. 80. Vgl. auch Laclau, der eine affektive Komponente in jeder hegemonialen Formation sieht, nämlich als Teil des Bedeutungsprozesses, i. e. der Assoziationen und Substitutionen, die die äquivalentielle Logik charakterisieren. Laclau 2005, S. 111.

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einen ethischen Bezugspunkt in Form der liberalen demokratischen Werte der Gleichheit und Freiheit hinzu. Letztere sollen als Regulatoren innerhalb eines agonistischen Pluralismus dienen, der versucht, Ausschlüsse zu verhindern, die durch feste Feind-/Freund-Grenzen hervorgerufen werden.31 Mouffes Konzept einer agonistischen Demokratie wird oft als normativ, aber post-fundationalistisch kategorisiert, da sie liberale Werte als das Resultat einer kontingenten Konstruktion anerkennt.32 Dennoch riskiert diese Einbindung des radikalen demokratischen Engagements in den liberalen Rahmen des pluralistischen Wettstreits, dass die Entwicklung eines radikalen Imaginären, welches Antagonismus benötigt, um die Grenzen jeder gegebenen Ordnung aufzuzeigen, verhindert wird. Konkret heißt dies, dass Mouffes Intervention nicht unbedingt vereinbar ist mit emanzipatorischer Praxis, die die grundsätzliche Transformation liberaler politischer und kapitalistischer ökonomischer Strukturen zum Ziel hat. Im Gegensatz dazu kann man in Hegemonie und radikale Demokratie – und später bei Laclau – zumindest eine minimale ethische Stoßrichtung erkennen, erzeugt durch die Dynamik der Offenheit und Veränderung, denen die Mechanismen hegemonialer Operationen, gleichwohl geplagt von einem „normative deficit“33, unterliegen. Wenn ein radikal demokratisches Projekt – das laut Definition seine eigene Kontingenz anerkennt – die Spannung zwischen der Dekonstruktion und Rekonstruktion einer sozialen Ordnung aufrecht erhält, wie in Hegemonie und radikale Demokratie vorgeschlagen, dann liegt sein ethisches Potential in einer Affirmation der Instabilität von Macht. Der paradoxe Versuch, Subversion zu institutionalisieren, der durch den prekären Status jeder durch Antagonismen destabilisierten sozialen Ordnung vereitelt wird, öffnet den politischen Spielraum für Kämpfe gegen Ausschlüsse und für neue Artikulationen, die Machtverhältnisse herausfordern. Der Dekonstruktionsprozess, der den Machtakt in jeder Entscheidung bloßlegt, ist selbst ethisch aufgeladen, obgleich er jede substantielle Norm unterminiert, die den Modus demokratischer Rekonstruktion vorzuschreiben sucht. Das Ethos radikaler Demokratie ist Offenheit, gekennzeichnet durch die kontinuierliche Verschiebung zwischen einer hegemonialen Konstruktion und der Machtposition, die diese einnimmt. So wird die Verhärtung von Machtverhältnissen verhindert.34 In diesem Sinne erfüllen und unterminieren hegemoniale Operationen das emotionale Bedürfnis nach Zugehörigkeit, da sie sich gleichzeitig sowohl der ausschließenden Dynamik bedienen, von der kollektives Handeln abhängt, als diese auch bloßlegen. Dennoch fehlt diesem Ethos der Kontingenz noch etwas. Während die dekonstruktive Geste ohne Zweifel befreiend ist, erschöpft sich die Rekonstruktion, die ihr 31 32 33 34

Vgl. Mouffe 2013, S. 13ff. Vgl. z.B. Hildebrand/Séville 2015, S. 28. Critchley 2004. [„normativen Defizit“; Übersetzung H.F.]. Vgl. Laclau/Mouffe 1991, S. 200f.

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unweigerlich folgt, in einer Erwartung der nächsten Dekonstruktionswelle. Dieser Kreislauf bietet wenig Motivation und noch geringere Inspiration für ein emanzipatorisches Projekt. Im Kontrast zur kraftvollen Rolle der Menschenrechte in der Bewegungspraxis, in der vereinbarte Menschenrechtsprinzipien einen ethischen Prüfstein für die kollektive Konstruktion emanzipatorischer Ziele bereitstellen, öffnet sich erneut eine ethische Leerstelle im Zentrum der Hegemonietheorie. Das Streben nach einem ethischen Bezugspunkt sollte jedoch nicht mit einer Suche nach normativen Inhalten verwechselt werden, die die jeweiligen Artikulationen transzendieren. Stattdessen können wir den ethischen Moment in der heterogenen Subjektbildung verorten, indem wir die radikale Spannung zwischen dem Akt der Konstruktion und der Unmöglichkeit seiner Vervollständigung auf das asymmetrische Verhältnis des Selbst und seines konstitutiven Anderen ausweiten. Da das Subjekt keine autonome, sondern eine relationale Entität ist, erschaffen durch eine externe Intervention, eine kontingente Differenzbeziehung, die die Unvollständigkeit des Subjekts enthüllt und verhüllt, enthält es die unauslöschliche Spur eines Anderen.35 Als solches ist das Subjekt immer schon ein antwortendes, dem vorangegangen Anderen folgend und damit der Anforderung ausgesetzt, seinen quasi-sozialen Ursprung in einer asymmetrischen Beziehung anzuerkennen. Diese Situation verleiht eine positionale, rezeptive Ver-Antwortung, die den Mangel im Zentrum der Identität erkennt, die Abhängigkeit von dem Anderen affirmiert und an die Ausschlüsse erinnert, auf denen Einheit beruht.36 Ohne die Erfahrung der Ver-Antwortung institutionalisiert eine radikal demokratische Hegemonie lediglich ihre eigene Kontingenz und damit die Anfechtbarkeit von Macht. Wenn sie durch eine Ethik der Ver-Antwortung ergänzt wird, bleibt die hegemoniale Konstruktion nicht nur offen und vorübergehend, sondern ist von einer Antwort auf ihr Außen durchzogen, von einer Affirmation der Beziehung zu dem unrepräsentierbaren Anderen jedes Konstruktionsakts. Diese relationale Ethik antwortet auf den verschiebenden Effekt eines Außen nicht nur mit einem Bewusstsein für Kontingenz, sondern auch mit einer Rechenschaftspflicht gegenüber dem Anderen. Meine Anregung für die politische Praxis ist, dass sich die ethische Erfahrung von Ver-Antwortung – gegründet in einer asymmetrischen Beziehung – für eine politische Verpflichtung zu Gleichgewichtung (equity) eignet. Eine Kultivierung von Verantwortung nicht nur in Richtung Offenheit, sondern auch in Richtung Gleichgewichtung (equity), könnte emanzipatorische Praktiken leiten, selbst wenn sich hegemoniale Projekte notwendigerweise darum bemühen, Bedeutungen zu verfestigen, eine Ordnung zu etablieren und neue Machtverhältnisse hervorzubringen. Eine Poli35 Vgl. Rüdiger 1996, S. 280ff., 299ff., 321f. und Derrida 1988. 36 Vgl. Critchleys „heteroaffektiv“ konstituiertes Subjekt und die daraus resultierende „Forderung nach Verantwortung“; Critchley 2008, S. 18 und S. 110.

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tik der Gleichgewichtung (equity) wäre getrieben von einer Antwort auf das, was anders, ausgeschlossen und ausgebeutet ist, was noch kommt, was nicht repräsentiert werden kann. Eine solche politische Ethik wäre innerhalb sozialer Verhältnisse zu verorten, anstelle eines universalen moralischen Imperativs. Gleichgewichtung (equity) ist ein relationales Konzept, das sowohl Differenz und Gleichheit berücksichtigt, das auf Prozesse genauso zutrifft wie auf Ergebnisse und das Anerkennung ebenso wie Umverteilung einfordert. Eine Verpflichtung zu Gleichgewichtung (equity) würde in der Praxis zumindest die Entwicklung von dezentralisierten Prozessen der Partizipation und Rechenschaftspflicht in allen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bereichen enthalten, wie auch die Gestaltung von Institutionen, die Besitz vergemeinschaftlichen und Güter gemäß vorhandenen und erst noch entstehenden Bedürfnissen verteilen. Mein Vorschlag, die Spur des Anderen in der Form des antwortenden und verantwortlichen Subjekts auf eine politische Verpflichtung zu Gleichgewichtung (equity) auszuweiten, ist von der auf Rechten basierenden Bewegungspraxis inspiriert, die oben erörtert wurde. Die normative Stoßrichtung der Menschenrechte, obgleich konstruiert in einer bestimmten hegemonialen Artikulation, weist auf eine Leerstelle innerhalb der Hegemonietheorie hin. Ich behaupte, dass diese Lücke geschlossen werden kann, indem die ethische Erfahrung von Ver-Antwortung dazu genutzt wird, die politische Praxis mit einer Verpflichtung zu Gleichgewichtung (equity) zu durchziehen. Eine solche Verpflichtung würde weder eine individuelle Pflicht noch eine zwingende Norm darstellen, sondern ein praktisches Prinzip, das die hegemoniale Konstruktion mit einem ethischen Bezugspunkt erfüllt. Eine politische Artikulation, die durch das Aneinanderreihen äquivalentieller Elemente gegenüber eines ausgeschlossenen Außen errungen wurde, würde eine ethische Dimension erhalten, und könnte sich damit zu einem emanzipatorischen hegemonialen Projekt konstituieren, das in der Lage ist, Transformation politischer und ökonomischer Strukturen ethisch zu leiten.

4. Institutionenwandel durch eine politische Ethik der Gleichgewichtung Inspiriert von US-amerikanischen Menschenrechtsbewegungen beabsichtige ich, die Hegemonietheorie von einer Veränderungstheorie in Richtung einer radikal demokratischen Institutionentheorie zu führen. Schließlich legen soziale Bewegungen es darauf an, Strukturen zu verändern, nicht nur Praktiken.37 Wenn hegemoniale Operationen politische Grenzen ziehen, verschiedenste Forderungen und Kämpfe zusammenführen und einen vereinigenden Diskurs schmieden, haben sie einen strukturel-

37 Vgl. auch Marcus 2012, S. 59.

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len Systemwandel zum Ziel, im Zuge dessen die etablierten Institutionen mit ihren vorherrschenden Regeln, Normen, Organisationen und Handlungsmustern destabilisiert werden. In diesen Prozessen werden kollektives Lernen, Bewusstsein und Handeln nicht nur durch geteilte Erfahrungen und Identifikationen erzeugt, sondern auch durch das Entwickeln einer konkreten positiven Vision. Transformative politische Praxis beinhaltet die Konstruktion von etwas Neuem jenseits von „bubbles of freedom“38 in einer agonistischen Auseinandersetzung mit bestehenden Institutionen. Wenn aber Hegemonie und radikale Demokratie zu „einer Reihe von Vorschlägen für die positive Organisation des Sozialen“39 aufgerufen hat, war dies darauf beschränkt, eine Form der Politik zu entwerfen, die Offenheit und Kontingenz affirmiert.40 Aber ohne eine Vorstellung davon, wie tatsächliche Institutionen in einem gegebenen Kontext aussehen könnten, „politics always ends up as an abstraction.“41 Bewegungen, die es wagen, sich die Zukunft mit einer alternativen Vision gesellschaftlicher Strukturen vorzustellen und vorzuführen, sind viel zu selten. Im neoliberalen Kontext sind bewusst anti-institutionelle Haltungen populär, nicht zuletzt als Reaktion auf die Trugschlüsse des Reformismus. Sie riskieren dabei eine Stärkung der unerbittlichen Staatskritik von rechten und rechtspopulistischen Strömungen, deren anti-staatliche Ideologie die Abhängigkeit des Kapitalismus von staatlichen Institutionen verschleiert. Sowohl radikale Verweigerung als auch defensive, reformistische Forderungen münden letztendlich in eine Bestätigung bestehender Institutionen, gefangen in einem System-Recycling-Kreislauf. Während Occupy mit seinen Verkündungen populistischer Werte und einer 99-prozentigen Einigkeit frischen Wind gebracht hat, entwickelte es nie eine kollektive Vision davon, wie radikale Demokratie aussehen könnte. Die Herausforderung für heutige Bewegungen besteht darin, die Zukunft in einer Weise vorzudenken und vorzuführen, dass sie dabei nicht bloß eine Kontrastfolie existierender Strukturen darstellt. Eine radikal demokratische Vorstellung von Institutionen kann nicht in der Tradition utopischer Projekte verortet werden, die von den großen Erzählungen des Liberalismus oder Marxismus fabuliert wurden und von einem teleologischen Fortschrittsbegriff, verankert in einer universalen Idee, angetrieben werden. Stattdessen taucht sie aus der Verschiebung zwischen einer hegemonialen Konstruktion und ihrem konstitutiven Außen auf, antwortend auf das notwendige Andere bestehender 38 David Graeber zitiert in Marcus 2012, S. 58. [„Blasen der Freiheit“; Übersetzung H.F.]. 39 Laclau/Mouffe 1991, S. 256. 40 Vgl. Laclau/Mouffe 2014 [1985], S. xix. (Diese Angabe bezieht sich auf die englische Ausgabe; der deutschen Ausgabe ist ein anderes Vorwort vorangestellt. Anm. d. Ü.) Vgl. Laclau/ Mouffe 1991, S. 258ff. Ich teile Howarths Einschätzung eines „institutionellen Defizits“ in Laclau und Mouffes gemeinsamer und separater Arbeit; Howarth 2008, S. 189. Obwohl Mouffe die Auseinandersetzung mit bestehenden Institutionen hervorhebt, konzentriert sie sich auf deren prozessuale Rolle in der Vermittlung agonistischer Beziehungen und warnt vor der Preisgabe liberaler Institutionen; Mouffe 2013, S. 12, 130f. 41 Critchley 2015, S. 7. [„endet Politik immer als eine Abstraktion“; Übersetzung H.F.].

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Strukturen. So formt sich eine generative politische Praxis, die mit der Verpflichtung zu Gleichgewichtung (equity) eine positive Antwort auf die asymmetrischen Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung anbietet. Eine politische Ethik der Gleichgewichtung (equity), die sich nicht von einer normativen Grundlage abgeleitet, sondern von der Erfahrung einer antwortenden Beziehung zu einem konstitutiven Anderen inspiriert wird, kann sozialen Bewegungen helfen, die Blockierungen in ihrer Entwicklung zu überwinden und die oben diskutierten strategischen Spannungen zu entschärfen. Dabei ist das Konzept der Gleichgewichtung (equity) nicht als eine Hälfte des traditionellen Paares von Gleichheit und Freiheit zu verstehen, sondern verkörpert Aspekte von beidem, da es Differenz und Transformation gegenüber von Gleichförmigkeit und Inklusion betont. Es enthüllt die Vernetzung des Befreiungsprozesses, der sich gegen Herrschaft und Entfremdung richtet, mit der Gleichheitsforderung, die sich gegen Ungerechtigkeit richtet. Eine Verpflichtung zur Gleichgewichtung (equity) ist gleichermaßen relevant für Bewegungen, die durch gemeinsame Praktiken42 miteinander verbunden sind, wie für diejenigen, die sich durch substantielle Forderungen artikulieren. Praktiken des Organisierens, der Partizipation und der Befreiung erfordern Aufmerksamkeit für eine gerechte (equitable) Verteilung von Ressourcen, Raum und Zeit, besonders wenn sie es vermeiden wollen, der prozessualen Neigung liberaler Demokratie nachzueifern, die Ansprüche auf politische Partizipation willkommen heißt, Forderungen nach ökonomischer Gleichgewichtung (equity) jedoch zurückweist. Dementsprechend müssen Bewegungen, die auf ökonomische Gerechtigkeit fokussiert sind, gerechte (equitable) Praktiken der Anerkennung, Partizipation und Kontrolle befördern, wenn sie Machtstrukturen anfechtbar machen wollen, statt Verhältnisse von Herrschaft und Ausschluss zu verfestigen. Eine politische Ethik der Gleichgewichtung (equity) reichert partizipatorische Praktiken mit einer Sensibilität für strukturelle Ungleichgewichtungen (inequity) an, und gebietet gleichzeitig eine Kontrolle „von unten“ über einen bedürfnisbasierten, redistributiven Institutionenwandel. Im neoliberalen Staat des 21. Jahrhunderts haben sich emanzipatorische Bewegungen zunehmend das Prinzip der Gleichgewichtung (equity) zugeeignet, sowohl um ihre internen Praktiken zu demokratisieren, als auch ihr kollektives Engagement mit politischen und ökonomischen Institutionen zu lenken. In der Auseinandersetzung mit Staatsapparaten auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene haben Bewegungen eine Reihe von komplementären, oftmals eskalierenden Strategien entwickelt: von einer direkten Lobbyarbeit zur Politikbeeinflussung und der Teilnahme an Wahlpolitik, über umfassende Graswurzel-Kampagnen bis zur Entwicklung von kooperativen Projekten in lokalen Gemeinschaften, durchsetzt mit gelegentlichen Protest- und Störungspraktiken. Bewegungen für wirtschaftliche und 42 Pino weist darauf hin, dass die spanische Indignados-Bewegung durch die Praxis der Partizipation artikuliert wurde; Pino 2013, S. 237.

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soziale Menschenrechte agieren an der Schnittstelle von Staat und Kapital, wobei sie versuchen, den Staat für ökonomische Ungerechtigkeiten rechenschaftspflichtig zu machen und öffentliche Kontrolle über staatliche Institutionen zurückzugewinnen, um Besitz, Produktion und Verteilung von wichtigen Gütern und Dienstleistungen dem Markt zu entziehen. Die Mobilisierung des Staates gegen die Logik des Kapitals ist ein klares Zuwiderhandeln gegen die Grundformeln neoliberaler Politik; trotzdem geht dies auch gegen den Strich von Widerstandsprojekten, deren hauptsächliche Zielscheibe staatliche Repressionen sind und die die marktgestützten Informations- und Kommunikationsnetzwerke dafür nutzen wollen, den Staatsapparaten zu entkommen und eine Solidarwirtschaft neben dem Kapitalismus aufzubauen. Eine politische Ethik der Gleichgewichtung (equity) ist in der Lage, diese Spaltung zwischen emanzipatorischen Praktiken, die das Kapital im Visier haben und denen, die den Staat zur Zielscheibe machen, zu überwinden: So kann zum Beispiel ein solidarisches Wirtschaftsnetzwerk in gemeinschaftlich kontrollierten öffentlichen Systemen verankert werden. Dies suggeriert eine doppelte Wende: die Politisierung der Wirtschaftssphäre und die Zurückführung wirtschaftlicher Funktionen in den Staatsbereich. Einerseits würde dies eine Zentralisierung zumindest derjenigen wirtschaftlichen Prozesse, die zur Erfüllung kollektiver Bedürfnisse notwendig sind, beinhalten und andererseits eine Dezentralisierung politischer Prozesse, um gehaltvolle Partizipation zu ermöglichen. Kontroll- und Verantwortungsfunktionen würden auf partizipative Prozesse übertragen werden, die auch kollektive Besitzstrukturen regulieren würden, wohingegen eine gleichgewichtende Ressourcenumverteilung ein gewisses Maß an zentraler Koordination und öffentlichem Eigentum erfordern würde. Ein praktisches Beispiel für diesen Ansatz kann man in den Zielsetzungen der oben beschriebenen Menschenrechtsbewegungen finden. Sie suchen öffentliche Institutionen so umzugestalten, dass die Dominanz der Märkte untergraben wird. Da diese Bewegungen den kollektiven Charakter von wirtschaftlichen und sozialen Rechten anerkennen, basierend auf Grundbedürfnissen, die nur durch gesellschaftliche Kooperation erfüllt werden können, haben sie ein heterodoxes Konzept öffentlicher Güter entwickelt. Öffentliche Güter werden neu definiert als diejenigen essentiellen Güter, Dienstleistungen und Infrastrukturen, die zur Befriedigung der Grundbedürfnisse und zur Erfüllung von Menschenrechten notwendig sind, im Gegensatz zu der exklusivistischen und ungleichgewichtenden (inequitable) Logik von Marktgütern.43 Mit diesem Ansatz wird ein Antagonismus zwischen dem Marktindividualismus und den kollektiven öffentlichen Gütern konstruiert und zudem der öffentliche Raum zu einem demokratischen Netzwerk universaler Institutionen und Systeme umgestaltet, die von lokalen Gemeinschaften kontrolliert werden. Die zweifache Herausforderung besteht dann darin, einerseits dem staatlichen Dirigismus zu wider-

43 Vgl. Human Rights at Home Campaign 2012; Vermont Declaration of Human Rights 2012.

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stehen und andererseits ausschließenden Prozessen innerhalb der Gemeinschaften entgegenzutreten. So bildet sich eine Vision von einer in universalen öffentlichen Systemen verankerten Wirtschaft, die in lokal kontrollierten Netzwerken einer Solidarwirtschaft gedeiht, unterstützt von einem offen zugänglichen Informationsfluss, der selbst als öffentliches Gut in zugänglichen Technologien erhalten wird. In diesem Szenario würden öffentliche Systeme eine gemeinschaftliche Kontrolle erfordern und Gemeinschaftsprojekte würden staatlichen Institutionen eine vermittelnde Rolle in Form von Gesetzgebung, Regulierung und Finanzierung zugestehen, die der Beförderung gerechter (equitable) und kollektiver Formen von Besitz, Produktion und Verteilung verpflichtet wäre. Weder Gemeinschaftsinitiativen, noch öffentliche Güter werden als automatische Mechanismen der wirtschaftlichen Verteilungsgerechtigkeit (equity) konzipiert; stattdessen informiert eine Verpflichtung zur Gleichgewichtung (equity) die hegemoniale Konstruktion der jeweiligen Prozesse und Strukturen, die diesen Formen des Institutionenwandels zu Grunde liegen.

5. Fazit In diesem Essay habe ich versucht, die Praxis von US-amerikanischen sozialen Bewegungen zu nutzen, um die Hegemonietheorie zu einer aktiveren und konstruktiveren Haltung gegenüber der Frage der Institutionalisierung radikaler Demokratie herauszufordern. So sehr Laclaus und Mouffes Theorie auch geholfen hat, praktische Veränderungsstrategien zu entwickeln, so hat sie sich doch weniger effektiv erwiesen, wenn es darum geht, rein oppositionelle oder defensive Kämpfe in ein hegemoniales Projekt des Struktur- und Institutionenwandels zu überführen. Politische Praxis ohne eine positive Vision ist jedoch kaum transformativ, und eine politische Vision ohne einen ethischen Bezugspunkt erlangt kaum emanzipatorische Kraft. Aus diesem Grund habe ich das Beispiel einer Menschenrechtsbewegung, d.h. einer bestimmten hegemonialen Artikulation mit einer starken ethischen Dimension, verwendet, um die Hegemonietheorie an die Grenze ihres Ethos der Kontingenz zu bringen. Es geht dabei nicht darum, eine bestimmte Praxis mit theoretischen Analysekategorien zu vermischen, sondern darum, die politische Wirkungskraft von sowohl Praxis als auch Theorie zu stärken. Die Menschenrechtspraxis erhält ihre politische Dimension durch das Bewusstsein ihrer eigenen Kontingenz und Ambiguität. Gleichzeitig benötigt die hegemoniale Theorie keine präskriptiven oder kontextuellen ethischen Prinzipien, die von einem bestimmten Signifikanten (z.B. Menschenrechten) geliefert werden. Vielmehr verbirgt sich in einem hegemonialen Projekt eine ethische Spur, die sich einem konstitutiven Antagonismus verdankt. Indem ich eine Ethik der Ver-Antwortung innerhalb der hegemonialen Praxen verorte, strebe ich danach, eine Politik der Gleichgewichtung (equity) hervorzurufen, eine kontin-

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gente politische Verpflichtung, die einem hegemonialen Projekt emanzipatorisches Potential verleihen kann. Ausgestattet mit dieser Verpflichtung können wir uns besser vorstellen, wie radikale Demokratie aussehen kann. (Übersetzt von Hannah Feiler)

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Manon Westphal Reform und Innovation als Strategien einer radikaldemokratischen Kritik staatlicher Institutionen1

Einleitung Die Rolle des Staates in der Theorie Laclaus und Mouffes zu untersuchen, ist aus mindestens zwei Gründen ein interessantes Unterfangen. Zum einen haben Laclau und Mouffe mit Hegemonie und radikale Demokratie2 eine Theorie des Sozialen und des Politischen entwickelt, die als einer „der einflussreichsten Beiträge zur politischen Theorie der Gegenwart“3 bezeichnet werden kann. Der innovative Wert ihrer Theorie, der diesen Einfluss erklärt, besteht vor allem darin, dass Laclau und Mouffe, anders als viele andere Ansätze zeitgenössischer politischer Theorie, keine Maßstäbe für gerechte politische Ordnungen entwerfen, sondern über die Analyse einer im Sozialen angelegten Offenheit jeglicher Ordnung die Notwendigkeit begründen, dass entsprechende Maßstäbe als kontinuierliche Gegenstände des politischen Streits verstanden werden sollten. Ein großer Vorzug dieser Perspektive besteht darin, dass sie die politische Integration einer Bandbreite grundlegend divergierender Positionen in Aussicht stellt. Für pluralistische und sich weiter pluralisierende Gesellschaften ist das eine unverzichtbare Leistung demokratischer Politik. Es sind deshalb insbesondere die aktuellen sozialen und politischen Konstellationen in zeitgenössischen Demokratien, angesichts derer die Theorie Laclaus und Mouffes eine fruchtbare Grundlage für kritische Reflexionen über die politische Praxis zu bieten verspricht. Dass der Staat unter diesem Gesichtspunkt ein zentrales Thema darstellt, liegt auf der Hand: Es ist schlicht ein Faktum politischer Realität, dass unsere gegenwärtigen Gesellschaften eine staatliche Form haben und ein großer Teil der kollektiven Handlungskoordination über staatliche Institutionen erfolgt. Sofern politische TheoretikerInnen also eingehender die praktischen Konsequenzen des Laclau-Mouffeschen Politikverständnisses sondieren wollen, drängt sich der Staat als ein zentraler Fluchtpunkt dieses Unterfangens auf.

1 Ich danke Simon Bohn, Felix Breuning, Andreas Hetzel und Susanne Schwarz für die hilfreiche Diskussion des Textes im Rahmen des AutorInnen-Workshops am 18. Juni 2016 in Hannover. 2 Deutsche Ausgabe von Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics (1985). Im Folgenden wird die 3. Auflage der deutschen Ausgabe (2006) zitiert. 3 Nonhoff 2009, S. 7.

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Zum anderen macht aber schon die genannte Kernthese der in Hegemonie und radikale Demokratie entwickelten Theorie deutlich, dass sich Versuche, Laclaus und Mouffes Politikverständnis auf den Staat zu beziehen, mit einer Schwierigkeit konfrontiert sehen. Wenn der Clou dieses Verständnisses doch gerade darin besteht, dass offengehalten werden soll, wie eine angemessen gestaltete politische Ordnung aussieht, scheint der Staat zunächst Ausdruck einer sich dieser Idee widersetzenden Logik zu sein. Es ist eine zentrale Eigenschaft staatlicher Institutionen, dass sie Ordnung schaffen und über das Einfordern kollektiver Regelkonformität stabilisieren. Während also der besondere Wert des Laclau-Mouffeschen Politikverständnisses einerseits dazu einlädt, zu untersuchen, wie sich der Staat aus dieser Theorieperspektive denken lässt, macht er dieses Projekt auch zu einer besonderen Herausforderung. Wie können die Idee einer konstitutiven Offenheit politischer Ordnung und staatliche Institutionen zueinander in Beziehung gesetzt werden? Dieses Kapitel unterbreitet einen Vorschlag für die Beantwortung dieser Frage. Meine These lautet, dass ein fruchtbarer Zugang zu einer Diskussion staatlicher Institutionen, die sich Laclaus und Mouffes Politikverständnis zu Nutzen macht, darin besteht, ausgehend vom Status Quo Optionen der Reform und Innovation institutioneller Settings zu erschließen. Der Beitrag ist folgendermaßen aufgebaut. Im ersten Teil wird das Politikverständnis, das Laclau und Mouffe in Hegemonie und radikale Demokratie entwerfen, detaillierter rekonstruiert. Im zweiten Teil werden drei mögliche Deutungen des Verhältnisses von staatlichen Institutionen und radikaler Demokratie skizziert. Der ersten Deutung zufolge sollten staatliche Institutionen, weil sie auf die Schließung und nicht auf eine Öffnung sozialer Ordnung zielen, gar nicht als Orte radikaldemokratischer Politik in Betracht gezogen werden. Dieser Interpretation ist mit dem hegemonietheoretischen Argument leicht der Boden zu entziehen. Der zweiten Deutung zufolge sind staatliche Institutionen zwar ein wichtiger Gegenstand der radikaldemokratischen Praxis, aber kein sinnvoller Gegenstand einer Theorie radikaler Demokratie, weil das Laclau-Mouffesche Politikverständnis der politischen Theorie eine Grundlage für die Positionierung zu wünschenswerten Formen der Gestaltung staatlicher Institutionen entzieht. Meine Kritik an dieser Deutung lautet, dass sie aus dem Umstand, dass die Idee radikaler Demokratie keine Identifizierung einer idealen oder besten Ausgestaltung staatlicher Institutionen ermöglicht, einen falschen Schluss zieht. Die Politikidee radikaler Demokratietheorie ist insofern normativ gehaltvoll, als sie es ermöglicht, zwischen ‚besseren‘ und ‚schlechteren‘ Formen staatlicher Institutionen zu unterscheiden. Ausgehend von diesem Befund skizziere ich eine dritte Deutung, der zufolge das Modifizieren existierender Institutionen und das Schaffen neuer Institutionen zwei mögliche Strategien für konstruktive Überlegungen radikaler DemokratietheoretikerInnen zur Rolle des Staates in der Demokratie

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sind. Der dritte und letzte Teil veranschaulicht diese These anhand von zwei Beispielen.

1. Das Politikverständnis radikaler Demokratie nach Laclau und Mouffe Das Wesen der Demokratie und die Form politischen Handelns in der Demokratie stehen für Laclau und Mouffe in enger Verbindung mit einer fundamentalen Eigenschaft des Sozialen, nämlich der prinzipiellen Kontingenz sozialer Ordnung. Das Soziale – verstanden als die Gesamtheit sozialer Phänomene, Identitäten, Interaktionen und Institutionen – hat gemäß dieser Idee keine ‚natürliche‘ Form und kann deshalb auch stets anders gestaltet werden, als es zu einem bestimmten Zeitpunkt der Fall ist. Laclau und Mouffe nennen diesen Umstand die konstitutive „Offenheit des Sozialen“.4 Um diese Idee darzustellen, entwerfen Laclau und Mouffe in Hegemonie und radikale Demokratie ein Diskurs-Modell, das ihnen als Grundlage für alle Überlegungen zu den Modi und Zielen politischer Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung sozialer Ordnung – also über den politischen Umgang mit der Offenheit des Sozialen – dient. Aufgrund dieser Schlüsselbedeutung des Diskurses müssen die wichtigsten Ideen dieses Modells in den Blick genommen werden, bevor das Politikverständnis radikaler Demokratie charakterisiert werden kann.

1.1 Die Diskurstheorie des Sozialen – Offenheit, Artikulation und Antagonismus Als Diskurs bezeichnen Laclau und Mouffe eine „strukturierte Totalität“, die sich innerhalb eines Feldes herausbildet, das man sich ganz allgemein als jenen Ort vorstellen kann, an dem das Phänomen Gesellschaft entsteht. Die Offenheit des Sozialen gründet darin, dass dieses Feld insofern prinzipiell indeterminiert ist, als von der Vielzahl unterschiedlicher Elemente, die sich in diesem Feld befinden, keines eine natürliche Position hat.5 Allerdings heißt das nicht – und dieser Umstand ermöglicht überhaupt das Phänomen einer ‚strukturierten Totalität‘ –, dass aus dieser prinzipiellen Indeterminiertheit eine konstante Unordnung und damit letztlich die Abwesenheit sozialer Ordnung folgte. Innerhalb des diskursiven Feldes vollziehen sich stetig Artikulationen genannte Praxen, welche die nicht ‚natürlich‘ geordneten Elemente zueinander in Beziehungen setzen und ihnen so konkrete Positionen im diskursiven Feld zuweisen und sie zu Momenten einer Diskursformation machen.6 Wichtig ist an dieser Stelle, dass kein Resultat dieser Ordnung schaffenden Praxen endgültig sein 4 Laclau und Mouffe 2006, S. 130. 5 Ebd., S. 141. 6 Ebd., S. 141.

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kann. Die differenziellen Positionen des diskursiven Feldes nehmen nur provisorisch die Gestalt von Momenten an und können stets wieder zu Elementen gemacht werden, wonach wieder neue artikulatorische Praxen einsetzen und ihnen andere Positionen im Diskurs zuweisen können. Laclau und Mouffe sprechen diesbezüglich davon, dass das Soziale nur „partielle Fixierungen“ zulässt.7 „Jedweder Diskurs konstituiert sich als Versuch, das Feld der Differenzen zu beherrschen, das Fließen der Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstituieren.“8 Soziale Beziehungen sperren sich gegen endgültige Schließungen. Damit sind die allgemeinen Bedingungen beschrieben, unter denen sich soziale Ordnungen herausbilden. Um ein genaueres Bild der politischen Prozesse zu zeichnen, in denen über den erfolgreichen Vollzug von Artikulationen bzw. Re-Artikulationen provisorisch fixierter Ordnungen entschieden wird, muss ein weiteres zentrales Konzept der Diskurstheorie einbezogen werden, der Antagonismus. Unter Antagonismus verstehen Laclau und Mouffe eine Eigenschaft des Diskurses, die mit der konstitutiven Offenheit des Sozialen einhergeht. Weil es immer andere Möglichkeiten der Gestaltung sozialer Beziehungen gibt, hat auch jede (zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehende) Ordnung ein ‚Außerhalb‘, ein ‚Anderes‘, dessen Präsenz sowohl die Bedingung ihrer Existenz ist – weil soziale Formen nur durch die Artikulation einer Differenzbeziehung zwischen Momenten entstehen können, braucht jede Ordnung etwas von ihr Unterschiedenes – als auch eine Herausforderung für ihre Existenz darstellt. Das Andere repräsentiert immer auch das potentielle Entstehen einer alternativen Ordnung. Die „Erfahrung“ dieser Grenze des Sozialen, die sich auch als „die Negation einer gegebenen Ordnung“ oder „ganz einfach die Grenze dieser Ordnung“ bezeichnen lässt, ist der Antagonismus.9 Nun ist es nicht so, dass die Grenze des Sozialen wörtlich zu verstehen ist in dem Sinne, dass sie (lediglich) die äußeren ‚Ränder‘ einer sozialen Ordnung markiert. Als die Unmöglichkeit einer endgültigen Schließung von Gesellschaft ist die Grenze des Sozialen „innerhalb des Sozialen selbst gegeben“.10 In den Worten Laclaus und Mouffes: „Gesellschaft kann niemals vollständige Gesellschaft sein, weil alles in ihr von ihren Grenzen durchzogen ist, die verhindern, daß sie sich selbst als objektive Realität konstituiert.“11 Der Antagonismus ist also ein auch innerhalb der Gesellschaft stets präsentes Phänomen. Um genauer zu fassen, wie die Grenze des Sozialen erfahrbar wird, muss ein genauerer Blick auf jene diskursiven Prozesse geworfen werden, die einen Antagonismus als eine distinkte Diskurskonstellation entstehen lassen. Denn auch wenn der Antagonismus ein stets präsentes Phänomen ist, sind nicht alle Momente eines Diskurses zu jedem Zeitpunkt auch Bestandteile von Anta7 8 9 10 11

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Ebd., S. 150. Ebd., meine Hervorhebung. Ebd., S. 166. Ebd., S. 167. Ebd.

gonismen. Laclau und Mouffe betonen, dass „jede Position in einem System von Differenzen [.], sofern sie negiert wird, der Ort eines Antagonismus werden“ kann.12 Das bedeutet zweierlei. Erstens gibt es kein Moment einer Diskursformation, an dem nicht potentiell ein Antagonismus entstehen kann. Zweitens müssen für die Realisierung dieses Potentials Veränderungen in den bestehenden Diskursbeziehungen in Form von Negationen passieren. Im Kern geschieht bei der Herausbildung eines Antagonismus genau das, was oben als eine (erneute) Transformation von Momenten eines Diskurses in Elemente beschrieben wurde – die Ergebnisse früherer artikulatorischer Praxen werden unterlaufen und dadurch andere ermöglicht. Laclau und Mouffe führen das Beispiel eines kolonisierten Landes an, um diese Idee zu veranschaulichen. Während „die Präsenz der herrschenden Macht jeden Tag durch eine Reihe von Inhalten wie Unterschiede in der Kleidung, in der Sprache, der Hautfarbe, bei den Sitten und Gebräuchen, evident gemacht“ werde, verliere in der Unterscheidung von den Kolonisierten jeder dieser Inhalte „seinen Zustand eines differentiellen Moments“.13 Es tritt stattdessen die „gemeinsame Unterscheidung vom kolonisierten Volk“ als geteilte Eigenschaft hervor, auf Grundlage derer die verschiedenen Inhalte eine Äquivalenzkette14 bilden. Der für Laclau und Mouffe zentrale Punkt hierbei ist, dass die Äquivalenzbeziehung „alle positiven Bestimmungen des Kolonisators im Gegensatz zu den Kolonisierten absorbiert“.15 Auf diese Weise wird eine Konfrontation zwischen zwei Polen geschaffen – der Äquivalenzkette der Kolonisierenden auf der einen und der Äquivalenzkette der Kolonisierten auf der anderen Seite –, die insofern radikal ist, als „ein jeder von ihnen ausschließlich das [zeigt], was er nicht ist“.16 Dies ist die „Formel des Antagonismus“,17 die die Grenze des Sozialen erfahrbar macht. Die Negation lässt neue Identitäten entstehen und kreiert damit eine Situation, in der die Kontingenz der bisherigen Ordnung sichtbar wird und artikulatorische Praxen einsetzen können, die eine neue Ordnung schaffen. Weil die Frage nach dem Erfolg neuer Artikulationen eine genuin politische ist – die Offenheit des Sozialen impliziert die Abwesenheit irgendeiner diesbezüglich prinzipiell entscheidend wirkenden Kraft –, bilden diese Diskurskonstellationen das Terrain demokratischer Kämpfe.18

12 Ebd., S. 171. 13 Ebd., S. 167. 14 Ebd. – Der Begriff bringt zum Ausdruck, dass die Grundlage dieser neu entstehenden kollektiven Identität nichts in ihrem ‚Wesen‘ Enthaltenes ist, sondern etwas, bezüglich dessen die einzelnen Teile der ‚Kette‘ einander äquivalent sind – in diesem Fall das Unterschieden sein von den Kolonisierten. 15 Ebd., Hervorhebung im Original. 16 Ebd., S. 169. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 174.

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1.2 Radikaldemokratische Politik Im Kontext moderner westlicher Gesellschaften lässt sich das „Problem des Politischen“, das im Sinne des Diskurs-Modells in „der Definition und Artikulation sozialer Beziehungen auf einem kreuz und quer von Antagonismen durchzogenen Feld“ besteht, spezifischer charakterisieren.19 Westliche Gesellschaften zeichnet nach Laclau und Mouffe aus, dass sich hier im Zuge der „demokratischen Revolution“, für die vor allem die Französische Revolution ausschlaggebend war, „das demokratische Prinzip der Freiheit und Gleichheit als neue Matrix des sozialen Imaginären“ durchgesetzt hat.20 Das bedeutet, dass sich in den gesellschaftlichen Deutungsmustern eine Ressource für die Kritik an Machtverhältnissen etabliert hat, die es politischen AkteurInnen fortan ermöglichte, (objektive) Unterordnungsverhältnisse als (illegitime) Unterdrückungsverhältnisse zu interpretieren.21 So ist die Deutung bestimmter Unterordnungsverhältnisse als mit Freiheit und Gleichheit unvereinbare Ordnungen die treibende Kraft nicht nur der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert oder des frühen Feminismus,22 sondern auch zahlreicher aktueller politischer Kämpfe, die gemeinhin unter dem Begriff neue soziale Bewegungen zusammengefasst werden: „urbane, ökologische, anti-autoritäre, anti-institutionelle, feministische, anti-rassistische sowie ethnische, regionale oder [jene] sexueller Minderheiten“.23 Trotz ihrer unterschiedlichen inhaltlichen Ziele sind alle diese Kämpfe gleichermaßen Ausdruck jener Form politischen Handelns, die eine radikale Demokratie mit Leben füllt. Eine radikale Demokratie zeichnet sich Laclau und Mouffe zufolge dadurch aus, dass sie die oben skizzierten Eigenschaften des Diskurses produktiv verarbeitet. Der Sinn des Attributs ‚radikal’ besteht also nicht darin, eine ‚extreme‘ Form von Politik auszuweisen, sondern eine Form von Politik, die dem „Negativismus“ des Sozialen – jener durch Antagonismen stetig erfahrbaren Offenheit sozialer Beziehungen – Rechnung trägt.24 Zwei Dinge sollen hier näher in den Blick genommen werden: erstens die praktischen Voraussetzungen radikaldemokratischer Politik und zweitens dasjenige, was wir als den normativen Gehalt der Idee radikaler Demokratie bezeichnen können. Bei den politischen Bewegungen, die Laclau und Mouffe als Beispiele für radikaldemokratisch agierende Kräfte anführen, handelt es sich um exemplarische Fälle jener oben beschriebenen diskursiven Phänomene. Durch ihre Kritik an bestehenden 19 Ebd., S. 193. Dass die Gesellschaft von vielfältigen Antagonismen durchzogen ist, folgt aus dem Umstand, dass prinzipiell jedes Diskursmoment zum Ort eines Antagonismus werden kann (s.o.). Keine antagonistische Konstellation an einem Ort schließt das Entstehen einer weiteren an einem anderen Ort aus. 20 Ebd., S. 195. 21 Ebd., S. 194ff. 22 Ebd., S. 196f. 23 Ebd., S. 200. 24 Hetzel 2010, S. 236.

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sozialen Strukturen negieren die Bewegungen eine Diskursformation und erzeugen einen Antagonismus, indem sie auf Basis dieser Negation eine Äquivalenzkette und so den einen Pol der antagonistischen Konfrontation bilden, der einer zweiten, durch den Widerstand gegen diese Negation geeinten Äquivalenzkette gegenübersteht. Um die problematisierte Ordnung tatsächlich zu überwinden und durch eine andere zu ersetzen, muss die kritische Äquivalenzkette eine neue artikulatorische Praxis gegen den Widerstand ihrer Opposition durchsetzen. An dieser Stelle tritt die politische Relevanz von Macht und der Status der Laclau-Mouffeschen Theorie als eine Hegemonietheorie25 hervor. Denn aus der Abwesenheit einer den Konfliktausgang determinierenden Logik und dem deshalb genuin politischen Charakter antagonistischer Entscheidungssituationen folgt, dass die kritisch agierenden Gruppen nur dann Erfolg haben werden, wenn sie es schaffen, „strategisch die Oberhand gegenüber den opponierenden Gruppen und Kräften“ zu erlangen.26 Diese für die Praxis radikaldemokratischer Politik maßgebliche Überlegung impliziert, dass die von Laclau und Mouffe exemplarisch genannten politischen Bewegungen keineswegs beliebige Beispiele für AkteurInnen der radikalen Demokratie sind. Denn unabhängig von den Differenzen ihrer inhaltlichen Ziele teilen sie eine Eigenschaft, die für eine Bewältigung der hegemonialen Herausforderung ausschlaggebend ist: Sie stützen sich auf eine breite Allianz zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen – Vereinen, Parteien, Nichtregierungsinstitutionen, Protestgruppen, lokalen politischen Initiativen und diversen nicht organisierten UnterstützerInnen. Angesichts des Umstandes, dass der politische Erfolg von Forderungen nach Veränderungen des Status Quo einer Herausbildung hegemonialer Macht bedarf, stellt die Fähigkeit, eine maßgebliche gesellschaftliche Koalition zu bilden, ein strategisches Erfordernis radikaldemokratischer Politik dar. Erst der Zusammenschluss von zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen lässt es aussichtsreich erscheinen, jene Machtressourcen zu akquirieren, die es braucht, um ausgehend von der Kritik an der bestehenden Ordnung eine Gegenmacht aufzubauen, die diese Ordnung neu gestaltet. Der zweite Punkt, der hier hervorgehoben werden soll, ist der normative Gehalt der radikalen Demokratietheorie. ‚Normativ‘ kann Verschiedenes meinen. Mir geht es darum – weil ich hierin den Schlüssel für eine Anwendung radikaldemokratischer Theorie auf Fragen staatlicher Institutionengestaltung sehe –, zu pointieren, dass die radikale Demokratie als Politikmodell eine politische Gestaltungsidee voraussetzt, die streng genommen nicht aus den sozialontologischen Thesen der Diskurstheorie folgt, sondern eine Positionierung zugunsten einer nicht alternativlosen Option der Politikgestaltung impliziert. Damit ist Folgendes gemeint. Kernmerkmal der Theorie radikaler Demokratie, wie sie von Laclau und Mouffe in Hegemonie und radikale Demokratie begründet und anschließend vor allem von Mouffe in ihrer Theorie des 25 Laclau und Mouffe 2006, insb. S. 175ff. 26 Smith 1998, S. 184, meine Übersetzung.

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agonalen Pluralismus27 weiterentwickelt wurde, ist die Forderung nach einer permanenten Ermöglichung und Ausweitung radikaldemokratischer Praxen. Diese Forderung enthält ein Plädoyer für soziale und politische Pluralität bzw. für eine Pluralisierung von politischen Räumen, in denen Kritik an der bestehenden sozialen Ordnung artikuliert und die Bildung von politischer Gegenmacht aufgenommen werden kann. Laclau und Mouffe betonen, dass radikale Demokratie auf eine Verhinderung von „Machtkonzentration an einem Punkt“ angewiesen sei und einer „Autonomisierung von Kampfsphären und der Vervielfachung politischer Räume“ bedürfe.28 Auf diese Weise fordern sie ein Äquivalent für die konstitutive Offenheit des Sozialen in der politischen Praxis: Die Dispersion von Macht und eine Pluralisierung von politischen Räumen, in denen antagonistische Konflikte artikuliert und ausgetragen werden können, sollen entgegenkommende Bedingungen für Bemühungen um den Aufbau hegemonialer Gegenmacht schaffen und dafür sorgen, dass jenes aufgrund der Offenheit des Sozialen stets mögliche Szenario einer Umgestaltung der sozialen Ordnung regelmäßig in sich faktisch realisierenden Umgestaltungen Ausdruck finden kann. „The only democratic society is one which permanently shows the contingency of its own foundations […].”29 Es geht der Laclau-Mouffeschen Demokratietheorie also keineswegs darum, in einer historisch-genealogischen Perspektive bloß nachzuzeichnen, wie sich die ethisch-politischen Prinzipien Gleichheit und Freiheit als ein kritisches Potential bietendes ‚soziales Imaginäres‘ herausgebildet haben. Es geht ihr vielmehr (auch) darum, jene politischen Voraussetzungen zu beschreiben, unter denen sich dieses kritische Potential entfalten kann – und sie versteht einen fortlaufenden Streit über die Gestalt der sozialen Ordnung und die Beförderung einer Pluralität politischer Räume als die wirksamsten Instrumente, um diesen Anspruch zu realisieren.30 Damit bespielt die radikale Demokratietheorie zwar nicht das Feld der politischen Ethik, sofern wir hierunter die Suche nach Gründen verstehen, aus denen sich konkrete Handlungsimperative ableiten lassen.31 Sie enthält sich einer Parteinahme mit spezifischen politischen Inhalten. Sie bezieht aber Position für ein politisches Offenhalten der Frage, welche politischen Inhalte die soziale Ordnung gestalten sollen,

27 28 29 30

Mouffe 1999, 2000. Laclau und Mouffe 2006, S. 221. Laclau 2000, S. 86, meine Hervorhebung. Mouffe führt in ihren späteren demokratietheoretischen Arbeiten als zentrales Argument für die Notwendigkeit, den Streit über die soziale Ordnung lebendig zu halten, die hierdurch ermöglichte Reproduktion der kollektiven Bindung an Gleichheit und Freiheit an. Weil der Gehalt dieser Prinzipien unter Bedingungen von Pluralität und Dissens umstritten bleibt, kann der „konfliktuale“ Konsens über Gleichheit und Freiheit – das ‚soziale Imaginäre‘ der Demokratie schlechthin – nur Bestand haben, wenn diesem umstrittenen Charakter Ausdruck verliehen wird, indem verhindert wird, dass sich vermeintlich neutrale oder vernünftige Interpretationen verfestigen. Vgl. Mouffe 2000, S. 103ff. 31 Hetzel 2014, S. 30.

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und verknüpft damit ihre Diagnose bezüglich der Offenheit des Sozialen mit einer bestimmten Sicht darauf, wie demokratische Politik funktionieren sollte.

2. Staatliche Institutionen und radikale Demokratie(theorie) Nachdem bis hierhin die grundlegenden Ideen der Laclau-Mouffeschen Diskurstheorie sowie des auf dieser Theorie fußenden Politikverständnisses radikaler Demokratie skizziert wurden, soll im Folgenden diskutiert werden, welche Rolle der Staat aus Perspektive der radikalen Demokratietheorie spielt bzw. spielen kann. Diese Aufgabe stellt eine Herausforderung dar, weil verschiedene Aspekte der Theorie Ansatzpunkte für unterschiedliche Interpretationen des Verhältnisses zwischen radikaler Demokratie und staatlichen Institutionen bieten. Ich möchte mich in diesem Abschnitt über eine kritische Auseinandersetzung mit zwei potentiellen Interpretationen einer dritten Deutung annähern, deren Stärke darin besteht, dass sie die Idee radikaldemokratischer Politik zu einem für den Umgang mit ordnungspolitischen Gestaltungsfragen anwendbaren Instrument macht. Der ersten Deutung zufolge sind der Staat und radikale Demokratie in einem starken Sinne Gegensätze. Diese Deutung betont die Kritikintention radikaldemokratischer Politik und gibt dem Erfordernis hegemonialer Gegenmachtbildung eine anarchische Wendung. Weil staatliche Institutionen soziale Ordnung schaffen und verfestigen, operieren sie gemäß einer Logik, die der Idee radikaldemokratischer Praxis, der zufolge soziale Ordnung ja gerade geöffnet und als kontingent entlarvt werden soll, diametral entgegensteht. Um sich nicht von der konservativen ‚Schließungslogik‘ staatlicher Institutionen vereinnahmen und sich dadurch die Schärfe ihres Kritikpotentials nehmen zu lassen, sollten Bemühungen um das Bilden gegenhegemonialer Allianzen stets jenseits staatlicher Institutionen stattfinden und die Relevanz des Staates unterlaufen, anstatt seine Institutionen durch explizite Adressierung und Bemühungen um Re-Organisation zu reproduzieren. Einen auf dieser Deutung fußenden Ansatz radikaler Demokratie entwickeln etwa Michael Hardt und Antonio Negri. Hardt und Negri beschreiben die „Multitude“32 als einen sich jeglicher Formgebung entziehenden kollektiven politischen Akteur und bewerten „Desertion, Exodus und Nomadismus“33 als die wichtigsten Strategien demokratischer Politik. Das übergreifende Ziel dieser Strategien ist die Bildung einer sich der Vereinnahmung durch staatliche Macht erwehrenden und in diesem positiv verstandenen Sinne anarchischen Gegenmacht. „Heute muss das generalisierte Dagegen-Sein der Menge die imperiale Souveränität als Feind erkennen und die geeigneten Mittel finden, um de-

32 Hardt und Negri 2004. 33 Hardt und Negri 2002, S. 224.

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ren Macht zu untergraben.“34 Es ist bezeichnend, dass Mouffe sich in Über das Politische explizit von diesem Ansatz distanziert und ihm attestiert, „für wirkungsvolle politische Interventionen keinen Raum“ zu lassen.35 Hardts und Negris anti-staatliches Verständnis radikaldemokratischer Politik hat eine fundamentale Schwäche und erweist sich im Vergleich zu anderen möglichen Deutungen des Verhältnisses zwischen radikaler Demokratie und Staat als wenig überzeugend. Kurz gesagt: Es trägt dem diskursiven Charakter staatlicher Institutionen nicht angemessen Rechnung und verschenkt eine für kritische politische Projekte potentiell wertvolle Machtressource. Da es für Laclau und Mouffe keine sozialen Phänomene außerhalb des Diskurses gibt, sind auch staatliche Institutionen Produkte artikulatorischer Praxen. Das heißt, dass sie veränderbar sind und ihre jeweilige Gestalt stets das Produkt kontingenter Machtverhältnisse ist. So halten Laclau und Mouffe in Hegemonie und radikale Demokratie fest: „Die Autonomie des Staates als einem Ganzen hängt – wenn wir für einen Moment annehmen können, daß wir von ihm als einer Einheit sprechen können – von der Konstruktion eines politischen Raumes ab, der nur das Resultat hegemonialer Artikulationen sein kann.“36 Das anti-staatliche Verständnis radikaler Demokratie vermöchte nur dann zu überzeugen, wenn es entweder eine feste, unveränderbare (und dem Aufkommen radikaldemokratischer Projekte abträgliche) Form staatlicher Existenz gäbe, oder zumindest der maximale Umfang bzw. die maximale Reichweite von potentiellen Modifikationen staatlicher Formen so marginal wären, dass es prinzipiell unmöglich ist, staatliche Institutionen produktiv in radikaldemokratische Projekte einzubinden. Dieses Bild einer klaren Dichotomie zwischen dem politische Veränderungen hemmenden Staat und den sich in der Zivilgesellschaft frei entwickelnden, politisch subversiven Bewegungen erweist sich in Anbetracht einiger erfolgreicher radikaldemokratischer Projekte jedoch als unplausibel. Laclau und Mouffe führen selbst ein in diesem Zusammenhang einschlägiges Beispiel an, nämlich den Kampf der Frauenbewegung gegen Geschlechterungerechtigkeit. Hier habe der Staat maßgeblich zu einer Durchsetzung von Forderungen nach Veränderung der kritisierten Verhältnisse beigetragen. „Im Falle des feministischen Kampfes ist der Staat ein bedeutendes Mittel, um in der Gesetzgebung, häufig gegen die civil society, einen Fortschritt im Kampf gegen den Sexismus zu erzielen.“37 Das Wahlrecht für Frauen, das Diskriminierungsverbot und Quoten zur Sicherstellung der Repräsentation von Frauen – mit solchen Maßnahmen kann der Staat nicht nur an dem Projekt einer Überwindung von Geschlechterungerechtigkeit mitwirken, sondern mit Hilfe des ihm exklusiv vorbehaltenen Instrumentes der Gesetzgebung maßgeblich 34 35 36 37

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Ebd., S. 224, meine Hervorhebung. Mouffe 2007, S. 146. Laclau und Mouffe 2006, S. 182. Ebd., S. 223.

dazu beitragen, dass Veränderungen auch gegen verbliebenen Widerstand in der Gesellschaft durchgesetzt werden können. Insbesondere mit Blick auf die Herausforderung für radikaldemokratische AkteurInnen, möglichst starke Koalitionen bilden zu müssen, um in Konflikten um die Gestaltung der sozialen Ordnung zu hegemonialen Kräften werden zu können, erweist sich die Aktivierung staatlicher Machtressourcen als eine wertvolle politische Ressource. Zwar ist die Zivilgesellschaft aufgrund ihrer Pluralität und weitgehenden Offenheit bzw. ihrer Freiheit von formaler Regulierung oft diejenige gesellschaftliche Sphäre, in der sich Kritik an der bestehenden Ordnung entfaltet und Impulse für politische Veränderungen artikuliert werden. Folglich spielt die Zivilgesellschaft eine unbestreitbar zentrale und von staatlichen Institutionen nicht substituierbare Rolle für die radikale Demokratie.38 Allerdings ist die Zivilgesellschaft in Bezug auf Forderungen nach Veränderungen des Status Quo selbst politisch gespalten. Die von Laclau und Mouffe beschriebenen Äquivalenzketten durchziehen die Gesellschaft und markieren keine Grenze zwischen Zivilgesellschaft und Staat. Deshalb werden die politischen Initiativen kritisch agierender Teile der Zivilgesellschaft bessere Aussicht auf Erfolg haben, wenn es ihnen gelingt, Koalitionäre in den staatlichen Institutionen zu finden. Mit anderen Worten: Wenn das entscheidende Moment einer gelingenden radikaldemokratischen Politik, wie Laclau und Mouffe argumentieren, die Bildung politischer Hegemonie ist, schneidet die strikte Ablehnung des Staates radikaldemokratischer Politik eine strategisch bedeutsame und möglicher Weise sogar ausschlaggebende Machtressource ab und droht somit, den Erfolg kritischer politischer Projekte per se zu erschweren. Es erweist sich deshalb als wesentlich, staatliche Institutionen als relevante Arenen politischer Kämpfe in Betracht zu ziehen. Laclau und Mouffe bringen diese Sicht in Hegemonie und radikale Demokratie zum Ausdruck, wenn sie betonen, „daß es […] keine diskursiven Regionen gibt, die das Programm einer radikalen Demokratie a priori als mögliche Kampfbereiche ausschließen sollte. Rechtsinstitutionen, das Erziehungssystem, Arbeitsbeziehungen, die Diskurse des Widerstands marginaler Gruppen konstruieren eigenständige und irreduzible Formen sozialen Protests und tragen dadurch alle zur diskursiven Komplexität und Reichhaltigkeit bei, auf die sich das Programm einer radikalen Demokratie stützen sollte.“39 Diesen Überlegungen ließe sich mit einer zweiten Deutung des Verhältnisses von Staat und radikaler Demokratie Rechnung tragen, die überzeugender als die antistaatliche These ist und mehr oder weniger auch diejenige Sicht zu sein scheint, die Mouffe selbst in ihren jüngeren, auf Hegemonie und radikale Demokratie aufbauenden demokratietheoretischen Schriften vertritt. Dieser Deutung zufolge sind staatliche Institutionen – eben weil hier Kämpfe um politische Machtressourcen stattfinden – zwar regelmäßig wichtige Gegenstände der Praxis radikaler Demokratie, 38 Zur Bedeutung der Zivilgesellschaft für die radikale Demokratie vgl. Martin 2009. 39 Laclau und Mouffe 2006, S. 237.

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können aber über diese sehr basale Einsicht hinaus nicht zu Gegenständen der Reflexion radikaler DemokratietheoretikerInnen gemacht werden. In dieser Deutung kommt erstens das hegemonietheoretische Argument zum Tragen. Zweitens werden die konstitutive Offenheit des Sozialen und die hieraus resultierende Kontingenz der inhaltlichen Stoßrichtung radikaldemokratischer Projekte zum Anlass genommen, das Formulieren von konkreten Empfehlungen für politisches Agieren gegenüber und in staatlichen Institutionen der politischen Praxis zu überlassen. Da Mouffe in ihren Schriften nach Hegemonie und radikale Demokratie zwar betont, dass radikaldemokratische Projekte sich des politischen Kampfes um die staatlichen Institutionen annehmen sollten,40 sie sich aber gleichzeitig konkreteren Aussagen zu der Gestalt oder Rolle bestimmter Institutionen enthält, scheint sie mit dieser Sicht zu sympathisieren. Und die Passung mit den zentralen Thesen der Laclau-Mouffeschen Diskurstheorie lässt sich nicht von der Hand weisen. Es könnte also sein, dass das Verhältnis zwischen radikaler Demokratie und dem Staat genau so verstanden werden sollte: Um der Idee des kontingenten und damit genuin politischen Charakters prinzipiell aller sozialen Beziehungen nicht ihr kritisches Potential zu nehmen, sollten TheoretikerInnen radikaler Demokratie die Wahl von politischen Strategien bezüglich des Umgangs mit staatlichen Institutionen den AkteurInnen radikaler Demokratie überlassen. Die dritte Deutung des Verhältnisses zwischen radikaler Demokratie und dem Staat, die ich vorschlagen möchte, macht sich den normativen Gehalt radikaler Demokratie zu Nutzen. Meine These ist, dass sich unter Bezug auf diesen Gehalt die strikte Arbeitsteilung zwischen einer für die Artikulation von Kritik an staatlichen Institutionen zuständigen radikaldemokratischen Praxis und einer sich dieser Aufgabe enthaltenden radikaldemokratischen Theorie auflösen lässt. Oben wurde betont, dass Laclaus und Mouffes Theorie – auch wenn sie davon ausgeht, dass sich die Form einer guten oder gerechten Ordnung nicht bestimmen lässt – ein distinktes Bild von einer adäquat funktionierenden Demokratie zeichnet. Die radikale Demokratie soll die Offenheit des Sozialen durch eine Ermöglichung und Ausweitung radikaldemokratischer Praxen zum Ausdruck bringen. Weil diese Idee Voraussetzungen für den regelmäßigen Erfolg radikaldemokratischer Politik per se beschreibt und nicht mit spezifischen politischen Inhalten Partei nimmt, können sich radikale DemokratietheoretikerInnen auf diese Idee stützen, um Optionen der Gestaltung staatlicher Institutionen zu sondieren, die der Realisierung radikaler Demokratie allgemein zuträglich sind. Dieser Vorschlag bedarf jedoch einer Konkretisierung und es ist angeraten, hierbei einen naheliegenden Einwand zu berücksichtigen. Dieser lautet: Auch wenn das Plädoyer dafür, radikaldemokratische Praxen kontinuierlich zu ermöglichen und zu erweitern, eine Orientierung für die kritische Evaluierung von po-

40 Mouffe 2009; 2007, S. 169.

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litischen Settings bieten kann, suggeriert der Versuch, hieraus institutionelle Gestaltungsempfehlungen abzuleiten, dass der radikalen Demokratie eine bestimmte Form gegeben werden könnte. Diese Annahme aber konfligiert mit der konstitutiven Offenheit des Sozialen. Stehen nicht deshalb die These Laclaus und Mouffes, dass alle Elemente sozialer Ordnung als potentielle Gegenstände des politischen Streits angenommen werden müssen, und der Versuch, aus dieser Idee selbst privilegierte Maßnahmen der Ordnungsgestaltung abzuleiten, in Widerspruch zueinander? Das wäre in der Tat der Fall, sofern es darum ginge, prinzipiell überlegene oder gar ideale institutionelle Gestaltungsstrategien zu identifizieren – diese kann es aus Sicht der radikalen Demokratietheorie nicht geben. Der an dieser Stelle zentrale Punkt ist allerdings, dass radikalen DemokratietheoretikerInnen bei dem Unterfangen, die normative Idee radikaler Demokratie auf staatliche Institutionen zu beziehen, ein Weg offensteht, der dieses Problem umschifft. Anstatt zu versuchen, genuin radikaldemokratische Institutionen zu identifizieren, können sie bestehende Formen und Funktionsweisen staatlicher Institutionen einer von der normativen Idee radikaler Demokratie geleiteten Kritik unterziehen, um Modifikationen vorzuschlagen, die im Vergleich zum Status Quo Möglichkeiten radikaldemokratischer Praxen stärken und erweitern. Diese Strategie ist mit der These zur konstitutiven Offenheit des Sozialen vereinbar, weil sie nicht voraussetzt, dass es möglich ist, staatliche Institutionen so zu gestalten, dass die Idee radikaler Demokratie ideal oder hinreichend umgesetzt wird. Ihre Ergebnisse beanspruchen nicht, mehr als Optionen einer im Sinne radikaler Demokratie produktiven Veränderung des etablierten institutionellen Settings aufzuzeigen. Aber sie befähigen radikale DemokratietheoretikerInnen dazu, kritisch agierende politische AkteurInnen in ihrer Auseinandersetzung mit staatlichen Institutionen durch die Bereitstellung von praktischen Gestaltungsimpulsen zu begleiten. Um diese zunächst abstrakt formulierten Überlegungen zu veranschaulichen, sollen im folgenden Abschnitt zwei exemplarische Anwendungsfälle in den Blick genommen werden.

3. Reform und Innovation – zwei Anwendungsfälle Ergebnisse einer radikaldemokratischen Kritik staatlicher Institutionen, die zeigen, wie sich Form und Rolle des Staates zugunsten radikaldemokratischer Politik (um)gestalten lassen, können zweierlei Art sein. Zum einen lassen sich existierende staatliche Institutionen so modifizieren, dass ihre Regeln und Funktionsweisen Projekte für Veränderungen der politischen Ordnung stärker befördern als zuvor bzw. geringere Hürden für die Realisierung entsprechender Projekte darstellen als zuvor. Dies sind Maßnahmen der Reform. Zum anderen können neue Institutionen vorgeschlagen werden, die den politischen Prozess so verändern, dass die politische Ord-

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nung offener für radikaldemokratische Politik wird. Dies sind Maßnahmen der Innovation. Im Folgenden sollen beide Möglichkeiten anhand je eines Beispiels illustriert werden. Wie lässt sich die Laclau-Mouffesche Idee radikaldemokratischer Politik für eine Identifizierung von Reformmaßnahmen fruchtbar machen? Da es sinnvoll ist, diesbezügliche Überlegungen anhand einer in demokratischen Staaten fest etablierten Institution zu veranschaulichen, soll hier die Verfassung zu dem Gegenstand einer exemplarischen Antwort gemacht werden. Unabhängig von ihren konkreten Inhalten verkörpert jede Verfassung ein „Programm für die Ausbildung einer höchsten innerstaatlichen Rechtsebene, die Grundlage und Vorgabe für die Organisation und Ausübung politischer Herrschaft sein und den Staat in entsprechender Weise formen und ordnen soll“.41 In diesem Sinne kann die Verfassung als die grundlegende Institution des Staates bezeichnet werden. Sie ‚formt und ordnet‘ den Staat, indem sie erstens die Rechte des Einzelnen in dem politischen Gemeinwesen und zweitens die „Struktur und Organisation des Staates […] einschließlich der politischen Willensbildung“ festlegt.42 Die Verfassung „organisiert, rationalisiert und diszipliniert den politischen Prozess“43, indem sie sowohl Normen definiert, die dem Regierungshandeln Grenzen setzen sollen – grundlegende Rechte wie beispielsweise Rechte auf Religionsfreiheit, freie Meinungsäußerung, gleiche politische Teilhabe oder Eigentum – als auch die Verfahren der politischen Willensbildung festlegt. Aus radikaldemokratischer Sicht sind mindestens zwei Überlegungen für eine Bewertung der Rolle von Verfassungen im politischen System einer Demokratie ausschlaggebend. Die erste ist, dass die Bedeutung von in der Verfassung verankerten Rechten sowie Fragen nach der richtigen Priorisierung bzw. einem adäquaten Austarieren bei Konflikten zwischen diesen Rechten umstritten sind. Selten stellen radikaldemokratische Projekte die in Verfassungen liberaler Demokratien enthaltenen Rechte per se in Frage. Vielmehr rechtfertigen die AkteurInnen radikaldemokratischer Politik ihre Kritik am sozialen und politischen Status Quo oft unter Bezug auf genau diese Rechte und problematisieren damit etablierte Interpretationen dieser Normen. So begründet etwa die feministische Bewegung ihre Forderungen nach Veränderungen rechtlicher, ökonomischer und sozialer Geschlechterverhältnisse als Erfordernisse des Rechts auf Gleichberechtigung bzw. auf gleiche politische und soziale Teilhabe. Forderungen religiöser Gruppen nach Modifikationen von Regeln, die sie in ihrer religiös-kulturellen Praxis beschränken – man denke zum Beispiel an den Streit um religiöse Symbole in öffentlichen Institutionen oder an die Auseinandersetzung über die Zulässigkeit der Beschneidung von Jungen – werden primär mit dem verfassungsrechtlich verbrieften Recht auf freie Religionsausübung begründet. Aus Sicht der Laclau41 Dreier 2010, S. 2867. 42 Ebd., S. 2868. 43 Ebd.

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Mouffeschen Demokratietheorie muss bei der Implementierung einer Verfassung also der Überlegung Rechnung getragen werden, dass jene Normen, die die Ausübung politischer Herrschaft begrenzen sollen, keine klaren Maßstäbe für die Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen politischen Forderungen bieten, sondern in ihrer Bedeutung stets politisch auszuhandeln bleiben. Zweitens kann der Inhalt einer Verfassung – die jeweils spezifischen Sets zu garantierender Rechte und die Verfahren politischer Willensbildung – anderen Gestaltungsoptionen gegenüber nicht als prinzipiell überlegen gelten. Im Lichte des hegemonietheoretischen Argumentes sind konkrete Verfassungsinhalte als die (kontingenten) Ergebnisse vergangener politischer Kämpfe zu verstehen, die in einem bestimmten sozialen und politischen Kontext ausgetragen wurden und dort maßgeblich aufgrund der Konfiguration der gegebenen Machtverhältnisse in die Definition bestimmter Verfassungsnormen mündeten.44 Weil aufgrund der konstitutiven Offenheit des Sozialen auch das höherrangige Recht eines Staates dem Politischen nicht entzogen sein kann, impliziert das Plädoyer Laclaus und Mouffes für eine stete Ermöglichung radikaldemokratischer Praxen, dass sich neue Konflikte um Verfassungsinhalte auch in Veränderungen der Verfassungsnormen niederschlagen können müssen. Diese Erwägungen regen dazu an, ein kritisches Licht auf zwei Charakteristika der Rolle von Verfassungen im politischen System zu werfen und hiervon ausgehend mögliche Pfade einer verfassungspolitischen Reform zu beschreiben. Das ist zum einen die starke Rolle von Gerichten bei der Interpretation der Verfassung. Über das Instrument der verfassungsrechtlichen Prüfung von politischen Entscheidungen ist insbesondere das deutsche Bundesverfassungsgericht immer wieder aktiv gestaltend in die Regulierung tief umstrittener politischer Themen interveniert, beispielsweise im Falle des Schwangerschaftsabbruchs oder des Umgangs mit Religion in der Schule.45 Eine Praxis der verfassungsrechtlichen Prüfung, die auf Entscheidungen über die Gestalt rechtlicher Regelungen hinausläuft, konterkariert die Überlegung, dass die Bedeutung von in der Verfassung verankerten Rechten stets politisch zu verhandeln ist – eine politisch regulierende Aktivität von Gerichten als unparteiliche, Recht lediglich anwendende Institutionen legt nahe, dass sich den Rechten eindeutige Konsequenzen für den Umgang mit politisch umstrittenen Fragen entnehmen ließen. Zum anderen sind bestehende Maßgaben für Verfassungsänderungen kritisch in den Blick zu nehmen. Die bundesdeutsche Regelung, gemäß welcher Verfassungsänderungen einer Zweidrittelmehrheit in beiden Parlamentskammern bedürfen, ist repräsentativ für diesbezügliche Regelungen in parlamentarischen Demokratien. Was im Lichte jener aus den radikaldemokratischen Thesen entwickelten Überlegungen zur Rolle der Verfassung problematisch erscheint, ist nicht oder zu44 Zur historischen Genese der modernen Verfassungen im Kontext der demokratischen Revolutionen vgl. Grimm 1991, insb. S. 41ff. 45 Möllers 2008, S. 95.

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mindest nicht primär die Form dieser Regelung an sich, sondern ihre exklusive Rolle in der Verfassungspolitik. Denn sofern auch die verfassungsrechtlich definierten Strukturen und Verfahren der politischen Willensbildung als potentielle Gegenstände von durch radikaldemokratische Praxen initiierten Konflikten anerkannt werden sollen, erscheint es unplausibel, die institutionellen Grenzen der politischen Räume für Auseinandersetzungen über Verfassungsänderungen entlang jener für die reguläre politische Entscheidungsfindung kodifizierten Strukturen und Verfahren zu ziehen. Auf beide genannten Probleme können radikale DemokratietheoretikerInnen mit konstruktiven Überlegungen antworten. In Bezug auf die Rolle von Gerichten geht es darum, Möglichkeiten der Ausgestaltung einer „schwachen richterlichen Normenkontrolle“46 zu sondieren. Das Ziel hier anzustrebender Arrangements besteht darin, dem politischen Prozess das ‚letzte Wort‘ bei Entscheidungen über strittige Fragen und damit die Interpretationshoheit über die Verfassung zu überlassen.47 Für die Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit an sich lässt sich aus radikaldemokratischer Sicht zumindest ein gewichtiger Grund anführen: In Fällen stark asymmetrischer Machtkonstellationen, in denen politische Ergebnisse eine soziale und politische Exklusion von Minderheiten zu realisieren drohen, kann eine Instanz mit der Kompetenz zur Intervention dazu beitragen, dass basale Voraussetzungen für die Herausbildung kritischer politischer Gegenmacht gewahrt werden. Aber es gibt ein breites Spektrum an Möglichkeiten, die Beziehung zwischen obersten Gerichten und dem politischen Prozess zu gestalten, und aus radikaldemokratischer Sicht erscheinen solche Arrangements fruchtbar, in denen Gerichte zwar politische Entscheidungen verhindern, wenn manifeste Verletzungen grundlegender Rechte drohen, aber die Aufgabe, alternative Entscheidungen zu definieren, an den politischen Prozess zurückspielen. In Bezug auf die Ermöglichung von Verfassungsänderungen legt die radikaldemokratische Perspektive nahe, auch jenseits der etablierten repräsentativen Institutionen der politischen Willensbildung Orte und Verfahren für die Diskussion kritischer Initiativen zu schaffen. Ein Gestaltungsvorschlag im Sinne dieser Idee zielt auf die Einrichtung von verfassunggebenden Versammlungen, die im Falle von gesellschaftlichen Konflikten über die bestehende Verfassung – quasi in Nachahmung des Gründungsmoments der politischen Gemeinschaft – einberufen werden können, um, begleitet von einer möglichst breiten Beteiligung aus der Bevölkerung, Verfassungsänderungen zu diskutieren und gegebenenfalls Entwürfe zu entwickeln, die der WählerInnenschaft dann zur Abstimmung vorgelegt werden können.48 Da sich auf diesem Wege Verfassungsänderungen anstoßen lassen, ohne dass die gewählten Re46 Colón-Rios 2014, S. 145. 47 Ebd. 48 Hutchinson und Colón-Rios 2011, S. 53.

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präsentantInnen des Staates entsprechende Vorhaben initiieren oder beschließen, könnten in ihrer politischen Gestaltungskompetenz nicht beschränkte verfassunggebende Versammlungen die Offenheit des höherrangigen Rechts sicht- und gestaltbar machen. Mit einer solchen verfassungspolitischen Reformmaßnahme, die also anders als die Re-Organisation der Interaktion zwischen Gerichten und politischem Prozess die Ergänzung einer weiteren politischen Institution vorsieht, ist bereits der zweite potentielle Pfad einer radikaldemokratischen Kritik bestehender institutioneller Settings beschritten. Institutionelle Innovationen erweisen sich vor allem dann als fruchtbar, wenn über die Einführung neuer Institutionen eine effektivere Öffnung der politischen Ordnung gegenüber radikaldemokratischen Praxen in Aussicht gestellt werden kann als durch Modifikationen existierender Institutionen. Mindestens eine prinzipielle Diagnose bezüglich der etablierten Organisation staatlicher Regierungspraxis bietet radikalen DemokratietheoretikerInnen einen gewichtigen Grund, neben Reformen auch grundlegendere Möglichkeiten institutioneller Innovation zu diskutieren. In gegenwärtigen liberalen Demokratien wird unter der demokratischen Organisation des Staates im Allgemeinen eine Kombination von repräsentativer Demokratie und bürokratischer Verwaltung verstanden, die die politische Beteiligung der BürgerInnen auf eine Teilnahme an Wahlen reduziert und die Regierungs- und Verwaltungspraxis zunehmend von aktiver demokratischer Partizipation entkoppelt.49 Da das hegemonietheoretische Argument ein Engagement politischer Kämpfe in den und um die staatlichen Institutionen als zentral ausweist, erscheint es aus radikaldemokratischer Perspektive wichtig, einer solchen Entkopplung entgegenzusteuern und Möglichkeiten politischer Einflussnahme auf die staatliche Regierungspraxis sowohl hinsichtlich der Form als auch hinsichtlich der Frequenz zu erweitern. Um zu illustrieren, inwiefern institutionelle Innovationen zu diesem Ziel beitragen können, soll hier skizziert werden, wie die Einrichtung von partizipatorischen Foren – oft als Popular Assemblies bezeichnet – für eine Öffnung der Regierungspraxis gegenüber Projekten für Veränderungen des sozialen und politischen Status Quo sorgen kann. Als Anschauungsbeispiel dient das sogenannte Participatory Budgeting in Porto Alegre, Brasilien. In den 1980er Jahren intensivierte sich in der Bevölkerung des brasilianischen Staates Rio Grande die Kritik an der praktizierten Allokation staatlicher Gelder; zunehmend wurde angeprangert, dass die persönlichen Interessen und Netzwerke der politischen Elite und nicht der öffentliche Bedarf die maßgeblichen Verteilungskriterien waren.50 Als 1988 eine Koalition linker Parteien die Kommunalwahlen in Porto Alegre gewann, führte die neue Regierung das Participatory Budgeting ein, dessen Ziel darin bestand, die herrschenden Klientelstrukturen aufzubrechen und eine 49 Fung und Wright 2001, S. 5f. 50 Ebd., S. 13.

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von den BürgerInnen Porto Alegres gestaltete Haushaltspolitik zu ermöglichen.51 Das Kernelement dieser neuen Politik sind offene Plenarversammlungen in allen städtischen Verwaltungsdistrikten, in denen Angehörige der Stadtverwaltung, Nachbarschaftsvereine und VertreterInnen anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie interessierte BürgerInnen zusammenkommen, um den Haushalt des Vorjahres zu diskutieren, über Themen für die neue Haushaltsplanung abzustimmen und aus ihren Reihen Delegierte für Haushaltsforen und einen städtischen Haushaltsrat zu wählen.52 Diese Gremien erarbeiten dann eine Priorisierung der gewählten Themen für die gesamte Region und entwerfen schließlich einen Haushaltsplan, der zwar dem Bürgermeister vorgelegt werden muss, aber auch im Falle eines Vetos per Zweidrittelmehrheit von dem Haushaltsrat durchgesetzt werden kann.53 Zwei zentrale Indikatoren sprechen dafür, dass das Participatory Budgeting eine im Sinne radikaler Demokratie effektive Öffnung der politischen Ordnung bewirkt hat. Erstens ist der Anteil von TeilnehmerInnen aus sozial benachteiligten und vom traditionellen politischen System oft marginalisierten Gruppen relativ hoch.54 Zweitens haben die Entscheidungen, die in den neuen Institutionen getroffen wurden, eine signifikante Kursänderung in der Haushaltspolitik bewirkt: „[T]he process has led to a redistribution of resources away from prestige projects towards investment in basic infrastructure and services that systematically favour poorer neighbourhoods that had often been neglected by previous administrations“.55 Offensichtlich handelt es sich beim Participatory Budgeting um eine Innovation, die in einem spezifischen politischen Kontext entstanden ist und nicht per se als Blaupause einer radikaldemokratischen Agenda gedeutet werden kann. Aber der Fall zeigt exemplarisch, wie sich Laclaus und Mouffes Plädoyer für eine Pluralisierung politischer Räume in praktische Maßnahmen der Institutionengestaltung übersetzen lässt. Durch die Einführung von partizipatorischen, direktdemokratischen Institutionen kann die Funktionsweise staatlicher Machtausübung so transformiert werden, dass sie eine stärkere Responsivität gegenüber kritischen Perspektiven in der Zivilgesellschaft an den Tag legt.56 Damit wird der politische Erfolg radikaldemokratischer Projekte erleichtert. Ob Transformationen durch institutionelle Neuerungen oder Reformen der etablierten staatlichen Institutionen die effektivere Strategie ausmachen und wie sich Maßnahmen beider Art so miteinander kombinieren lassen, dass die Potentiale beider Strategien bestmöglich verbunden werden, sind Fragen, die nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten konkreter politischer Kontexte beantwortet werden können. Aber radikaldemokratische TheoretikerInnen können 51 52 53 54 55 56

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Ebd. Ebd., S. 14; Smith 2009, S. 36f. Fung und Wright 2001, S. 14. Smith 2009, S. 34. Ebd. Fung und Wright 2001, S. 23.

die Suche nach entsprechenden Antworten konstruktiv begleiten, weil sie über das Rüstzeug verfügen, um ausgehend von einer Analyse des Status Quo staatlicher Ordnungen eine kreative Sondierung von Gestaltungsoptionen zu betreiben, die den kritischen ‚Biss‘ radikaler Demokratietheorie zum Ausdruck bringt.

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Alfred Schäfer Bildung und Humankapital. Zur Interdiskursivität als hegemoniale Strategie staatlicher Steuerungsrhetorik

Vorbemerkung Die Rede von einem staatlich organisierten und verantworteten Schulsystem suggeriert eine Steuerungshoheit und eine Durchsetzungsfähigkeit des Staatsapparats, der letztlich nur an seine eigene Verfasstheit (wie etwa parlamentarische Mehrheitsentscheidungen) gebunden ist. Man kann dann darüber streiten, ob und inwieweit sich äußere Einflüsse in staatlichen Entscheidungen und Instituierungspraktiken niederschlagen oder auch nicht. Ein solcher Streit kann sich etwa um die Frage drehen, ob sich aktuelle Transformationen im staatlichen Schulsystem auf ökonomische Imperative eines globalisierten Kapitalismus zurückführen lassen. Und man kann dann darüber diskutieren, welche Handlungsmöglichkeiten einem solchen Staat noch bleiben oder ob er nicht doch in der Lage ist, gemäß seiner eigenen Funktionslogik hier gegenzusteuern. Eine hegemonietheoretische und radikaldemokratische Perspektive, wie sie von Laclau und Mouffe1 vorgeschlagen wird, geht demgegenüber davon aus, dass staatliche Entscheidungen und Instituierungspraktiken keiner vorab kalkulierbaren Logik und Rationalität folgen. Die hier zu untersuchende Frage ist dann, wie bestimmte Problembestimmungen und Lösungsperspektiven einen hegemonialen Status gewinnen: wie sie, die ja über keine überlegene Begründung und Rationalität verfügen, dennoch mit einer scheinbar unumgänglichen Notwendigkeit ausgestattet werden. Um sich der Beantwortung dieser Frage zu nähern, wird man die Prozesse untersuchen müssen, in denen – auf eine ebenso heterogene wie umstrittene Weise – Entscheidungsnotwendigkeiten und Instituierungspraktiken mit einer zentralen Bedeutsamkeit ausgestattet werden. Ein solcher Prozess hat einen performativen Charakter nicht zuletzt auch in dem Sinne, dass die Einsätze nicht vorab bestimmten Akteuren und ihren Interessen zugerechnet werden können: In einer solchen politischen Auseinandersetzung werden nicht zuletzt auch die möglichen Akteurspositionen neu hervorgebracht. Die Hervorbringung einer zentralen Bedeutsamkeit ist weder an logische Schlussfolgerungen noch an rationale Geltungsansprüche und auch nicht an die Logik sozialer Institutionen gebunden. Diese bilden allenfalls topologische Referenzpunkte in einem Prozess der Erzeugung einer hegemonialen Bedeutsamkeit. Um 1 Vgl. Laclau/Mouffe 2006.

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diesen Prozess selbst zu fassen, hat Laclau (inspiriert von der Psychoanalyse Lacans) das Konzept des ‚leeren Signifikanten‘2 eingeführt: der Hervorbringung einer unabweisbaren Bedeutsamkeit, der keine klare, sondern eine Vielzahl ähnlicher, aber in sich heterogener Bedeutungen entspricht und mit deren Hilfe zugleich ein breiter Bereich unterschiedlich motivierter Akzeptabilitäten generiert wird. In dieser Perspektive wird die vermeintlich klar strukturierte Logik staatlicher Entscheidungen politisiert in dem Sinne, dass der Streit um Bedeutungen und die Durchsetzung hinreichend entleerter Signifikanten, um eine ‚grundlose‘ und dennoch weitgehend als notwendig akzeptierte Sinnbestimmung, um das Verhältnis staatlicher ‚Logik‘ zu zivilgesellschaftlichen oder sozialen ‚Interessen‘, zum Gegenstand der Analyse wird. Nimmt man die angedeuteten Veränderungen im gegenwärtigen Schulsystem in den Blick, so wird man daher die Frage stellen müssen, auf dem Wege welcher diskursiven Verschiebungen in einem (zwischen Pädagogik, Politik und Ökonomie) umstrittenen Feld sich die Hegemonie eines Signifikanten ‚Humankapital‘ durchsetzen konnte. Es ist nicht zuletzt auch die Frage danach, wie es gelungen ist, durchaus konfligierende Perspektiven unter Bezug auf diesen Signifikanten in eine Äquivalenzbeziehung zu bringen, die als solche die Durchsetzung entsprechender Veränderung im Schulsystem akzeptabel macht und gleichzeitig Alternativen (wie etwa die klassische neuhumanistische Bildungstheorie) als nicht mehr bzw. nur in veränderter Form bedeutsam auszugrenzen erlaubt.

1. Das Problem: Die Konstitution eines ‚pragmatischen Steuerungsraums‘ Das öffentliche Schulwesen ist (noch weitgehend) eine staatlich organisierte und geregelte Veranstaltung, die in der Kultushoheit der Bundesländer liegt. In diesem Schulwesen haben sich nun in den letzten beiden Jahrzehnten Veränderungen vollzogen, die nicht selten mit der Durchsetzung neoliberaler bzw. marktorientierter Steuerungsmechanismen in Verbindung gebracht werden. Zu diesen Veränderungen zählen die Einführung von Bildungsstandards und die ihnen entsprechenden Kompetenzmessungen ebenso wie eine Outputorientierung, die sich mit Konzepten der (indirekten) Gestaltung von Lernumgebungen verbindet.3 Diese Gestaltung soll den Rahmen für die individuelle ‚Arbeit an sich selbst‘, die Möglichkeitsbedingung für die optimale Ausschöpfung der individuellen Ressourcen, die Verwirklichung der individuellen Potentiale darstellen. Dabei geht es zugleich immer auch um die Effizienzsteigerung des Bildungssystems und der in ihm erreichten Abschlüsse, die wiederum mit Hilfe international angelegter Vergleichsstudien gemessen und vorangetrieben werden soll. Das Konzept des ‚Humankapitals‘, das 2004 zum ‚Unwort des 2 Vgl. Laclau 2002. 3 Vgl. Brinkmann 2009.

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Jahres‘ gekürt wurde, ist geeignet, diese unterschiedlichen Tendenzen zu bündeln. In seiner gegenwärtigen Variante werden der individuelle und der gesellschaftliche Nutzen einfach zusammengezogen und zugleich ökonomisch enggeführt.4 Die individuelle Ausgestaltung und Erprobung der eigenen Fähigkeiten wird dabei ebenso unter Investitionsgesichtspunkten betrachtet wie die Entscheidungen der Eltern oder die staatlichen Regulierungen des Bildungswesens: Der (ökonomisch definierte) Nutzen muss die Investitionen übersteigen, wenn sich die Investitionen (Anstrengungen, Geldaufwendungen, Regulierungen) gelohnt haben sollen. Die Auszeichnung als ‚Unwort des Jahres‘ verweist dabei zugleich darauf, dass diese ökonomische Perspektive als solche problematisiert wird. Der Signifikant des ‚Humankapitals‘ steht also nicht nur für einen Knotenpunkt, an dem sich Fragen des individuellen Bildungslaufs, der pädagogischen Verantwortung der Eltern und das staatlich zu organisierende ‚Gemeinwohl‘ kreuzen. Er markiert auch ein Feld von (pädagogisch-politischen) Auseinandersetzungen, das wohl mit dem kritischen Verweis auf die neoliberale und marktökonomische Überformung dessen, was einmal ‚humanistische Bildung‘ hieß, nicht zureichend bestimmt ist. Eine solche Profilierung, die neoliberale Ökonomie (und ihr willfahrende politische Steuerungsprozesse) auf der einen und die reine Welt des Pädagogischen auf der anderen Seite einander gegenüberstellt, übergeht die Frage, inwieweit die Neujustierung des Bildungswesens sich Begründungsmustern verdankt, in denen sich ökonomische, pädagogische und organisatorische Rhetoriken kreuzen und dies mit Blick auf unterschiedliche Bezugspunkte, die diese Kreuzungsprozesse in Bewegung halten. Die These, der hier nachgegangen werden soll, lautet, dass es gerade diese Kreuzungen, diese diskursiven Übergänge, diese Uneindeutigkeiten und Übersetzungen sind, die einerseits einen problematischen politischen Raum konstituieren und die andererseits die Perspektive auf eine Steuerung eröffnen, deren Plausibilität und Legitimität sich der rhetorisch erzeugten Problematik verdankt. Damit ist nicht nur gemeint, dass diese Problematik die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit eines steuernden Eingriffs, einer Reform des Schulwesens eröffnet. Zugleich steht die so erzeugte Problematizität auch dafür, dass die zu lösenden Probleme schwierig sind und bleiben: Politische Steuerung bleibt so auf weitere Diskussionen, auf die Produktion wissenschaftlichen Wissens, auf die Logik einer Optimierung angewiesen, die ihre Entscheidungen ebenso einsichtig macht wie in der jeweils konkreten Form als vorläufige kennzeichnet und damit immunisiert. Eine solche These geht davon aus, dass politische Steuerungsakte (Gesetze, Verordnungen, Subventionen, Programme) nicht einfach einer vorab definierten ‚Logik des Politischen‘ folgen. Solche Steuerungsakte müssen ihre Akzeptabilität immer erst herstellen und das geschieht nicht zuletzt durch eine Situierung in sozialen Dis-

4 Vgl. Thomä 2006, S. 307.

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kursen, die in sich und untereinander durchaus heterogen oder auch widersprüchlich sein können. Damit ist nun nicht nur gesagt, dass die politischen Steuerungen ihre Macht und Verbindlichkeit nicht einfach aus sich selbst generieren können. Auch eine ‚Legitimation durch Verfahren‘ wie Gerichtsverhandlungen oder parlamentarische Mehrheitsentscheidungen und Wahlen5 kann im besten Fall die Problematik der Legitimität und Akzeptabilität neutralisieren. Systematisch betrachtet und analytisch auf unterschiedliche hegemoniale Konstellationen bezogen, bleibt jeder Begründungsanspruch des Politischen problematisch. Die Instituierung der sozialen Ordnungen verweist damit auf die Unaufhebbarkeit von Konflikten und sozialen Auseinandersetzungen – und genau darin auf einen Primat des Politischen.6 Darüber hinaus ist mit dem Verweis auf die Einbettung der politischen Steuerung in heterogene soziale Diskurse ein weiteres Problem verbunden. Man könnte dieses Problem vielleicht so formulieren: Nicht nur kann nicht von einer a priori gegebenen politischen Logik ausgegangen werden, sondern es wäre auch verwegen, die Resultate politischer Steuerungsakte als einer systematisch explizierbaren Logik oder Rationalität folgend zu begreifen. Für Laclau wäre es eine „absurde Hypothese“ zu behaupten, „das soziale Terrain sei als logisches strukturiert und widersprüchliche Behauptungen könnten keine soziale Effektivität besitzen“.7 Die Bemühungen um eine diskursive Hervorbringung des Sozialen als einer rationalen, auf politischen Steuerungsakten beruhenden, Logik folgenden Ordnung bilden selbst nur Bestandteile politischer Auseinandersetzungen. Diese Auseinandersetzungen um die behauptete und abgewiesene Rationalität gegebener Instituierungen verweisen auf die Möglichkeit und Notwendigkeit von Verbesserungen, die als solche die geforderte Rationalität immer schon unterminieren. Politische Steuerungsakte, die sich auf diesem Terrain bewegen, laufen Gefahr, in ihren partiellen Einsätzen weniger die Rationalität als die Absurdität des jeweiligen Sozialen zu steigern. Und es ist nicht zuletzt die Macht ‚leerer Signifikanten‘ (wie jene des ‚Humankapitals‘), über die die Differenz von Absurdität und Rationalität, von Grundlosigkeit und Begründung, von Heterogenität und Einheit in der Instituierung des Sozialen gehandhabt wird. Genau dies soll nun im Folgenden – in einer eher groben Skizze – an der Reorganisation des Bildungswesens nachgezeichnet werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass schon die ‚interne‘ pädagogische oder bildungstheoretische Vergewisserung des Bildungswesens, die sich nicht zuletzt gegen eine ‚externe‘ staatliche, ökonomische oder religiöse Determination profiliert hat, im angezeigten Sinne politisch ist. Dies soll in einem ersten Schritt zumindest angedeutet werden. Skizziert wird damit zugleich ein Terrain, das in seinen Abgrenzungsbemühungen die Möglichkeit der Interferenz zu anderen Diskursen eröffnet. Diese können – wie in 5 Vgl. Luhmann 1974. 6 Vgl. Laclau 1999, S. 112. 7 Laclau 2002, S. 29.

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einem zweiten Schritt gezeigt werden soll – an die Umstrittenheit des pädagogischen Terrains anknüpfen, dessen Problematizität verschärfen und Perspektiven anvisieren, die andere Ausgangspunkte für als sinnvoll betrachtete Signifizierungen eröffnen: die andere Signifikanten stark machen, die das hegemoniale Feld neu justieren. Bisherige Positionierungen werden auf die Schwächen ihrer Begründungsoptionen, auf ihre Partikularität zurückgeführt und andere Optionen als Lösungsperspektive vorgeführt, die einen allgemeineren Anspruch erheben kann. Dieser verlangt dann zugleich Entscheidungen – Steuerungsperspektiven, die Reorganisationen unumgänglich erscheinen lassen.

2. Bildungsinstitutionen – ein vermintes Gelände ‚Bildung‘ ist ein Versprechen, das von keiner ‚Bildungsinstitution‘ eingelöst werden kann. Die Humboldt’sche Vision einer freien (und Individualität-konstituierenden) Auseinandersetzung mit einer offenen Mannigfaltigkeit von Gegenständen meinte nicht nur die freie Wahl der Gegenstände, sondern auch die Zurückweisung jeder ‚vernünftigen‘ Regelung der Aneignung.8 Schillers Bildungskonzept favorisierte ein Spiel, das der begrifflichen Bestimmungslogik ebenso entzogen sein sollte wie einer bloßen romantischen Empfindsamkeit.9 Postuliert werden damit metaphysische Bezugspunkte, die eine strategische Funktion haben. Sie sind gegen die Funktionalisierung von Bildungsprozessen gerichtet: gegen eine ökonomische, eine den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen fügsame, der Religion willfahrende, aber auch einem objektivierten wissenschaftlichen Wissen unterworfene Steuerung von Bildungsprozessen.10 Diese werden demgegenüber immer schon als Selbstbildungsprozesse des Individuums konfiguriert. Das aber impliziert zugleich, dass jede institutionelle Formierung solcher Selbstbildungsprozesse als unstatthaft gilt, als Unterwerfung des Individuums unter – wie auch immer definierte – gesellschaftliche Vorgaben. Anders formuliert: Jeder Anspruch, den Bildungsprozess des Individuums steuern zu wollen – und sei er pädagogisch noch so gut gemeint – wird damit grundsätzlich problematisch. Die Signifikanten von ‚Bildung‘ und ‚Erziehung‘ (hier: einer intentionalen Steuerung und Verantwortung individueller Bildungsprozesse) bringen eine endlose Auseinandersetzung um die (aus der Perspektive der Bildung) unmögliche Begründung der pädagogischen (und organisatorischen) Steuerung individueller Entwicklungsprozesse hervor. Diese Matrix der Auseinandersetzung wird produktiv, indem der Signifikant der Bildung gegenüber jeder praktischen Wirklichkeit die Möglich-

8 Vgl. Humboldt 1792/2006. 9 Vgl. Schiller 1795/1974. 10 Vgl. Schäfer 2009, S. 264–296.

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keit einer freien Selbstbildung betont, und indem sich jede pädagogische Ambition in den Paradoxien der Fremdbestimmung der Autonomie verstrickt. Gegen jegliche inhaltliche Indoktrination wie gegen ein Nützlichkeits- bzw. Karrieredenken gleichermaßen gerichtet, steht der mit der (neuhumanistischen) Bildungskategorie verbundene Anspruch jedoch nicht nur gegen die pädagogische Hoffnung auf eine Steuerbarkeit und Verantwortbarkeit des individuellen Aufwachsens, sondern auch gegen jede soziale Selektion im Bildungswesen. Im Namen individueller Selbstbildung wird also gegen das sich im 19. Jahrhundert herausbildende Berechtigungswesen opponiert: also gegen die Bindung von beruflichen Möglichkeiten an Schulabschlüsse, die selbst nicht zuletzt gegen Adels- und Geburtsprivilegien gerichtet war.11 Das Leistungsprinzip, das die liberale Vorstellung einer über sich bestimmenden Person mit sozialer Gerechtigkeit zu koppeln versucht, zeigt sich als mit einer Bildungstheorie nicht kompatibel, die sich selbst wiederum nicht zuletzt einer Akzentuierung dieser liberalen Personvorstellung verdankt. Es ist ein bewertender und quantifizierender Vergleich individueller Anstrengungen, der im Modell der Selektion nach Leistung eine gerechte Produktion sozialer Ungleichheit gewährleisten soll, der jedoch im Rahmen bildungstheoretischer Überlegungen abgelehnt wird.12 Hinter dieser Ablehnung des Leistungsprinzips als einer Institution zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit zwischen Individuen verbirgt sich dabei nicht nur eine Kritik an einer mangelnden Chancengleichheit oder an den immanenten Problemen einer Leistungsbewertung, sondern eher eine grundsätzliche Abgrenzung der individuellen Selbstbildung von deren möglicher sozialer Bedeutung, von deren sozialem Nutzen. Es geht also nicht nur um die für Deutschland in internationalen Vergleichsstudien immer wieder nachgewiesene Reproduktion sozialer (materialer) Ungleichheit durch ein Schulsystem, das auf der Voraussetzung einer formalen Gleichheit operiert und darüber die soziale Ungleichheit als verzerrendes Moment einer fairen und gerechten Selektion ausschließen zu können glaubt. Es geht auch nicht nur um die Problematik einer individualisierenden Zurechnung von ‚Leistung‘, die dann durch den Vergleich wieder in Frage gestellt wird, für den die individuelle Anstrengung nur als objektivierbares Ergebnis zählt.13 Darüber hinaus kritisiert eine bildungstheoretische Perspektive das Leistungsprinzip vor allem dahingehend, dass mit dem in seinem Namen vorgenommenen Vergleich dem Bildungsprozess des Individuums keine Gerechtigkeit widerfahren könne. Man könnte diese Abgrenzung – um die unterschiedlich akzentuierbare Gegenüberstellung von Selbstbildung und pädagogischer Steuerung noch einmal anders zu justieren – auch als eine spezifische Position im und zum Liberalismus markieren. Einerseits hat besonders die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts ihre Wurzeln 11 Vgl. Herdegen 2009. 12 Vgl. Klafki 1974. 13 Vgl. Schäfer 2015.

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nicht zuletzt im Liberalismus14: Der Staat hat die individuellen Bildungsprozesse zu gewährleisten, aber nicht zu steuern. Andererseits aber wird dem damit verbundenen negativen Freiheitsbegriff kein gesellschaftlicher Raum zur Seite gestellt, in dem die Individuen ihre Freiheit untereinander und gegeneinander produktiv machen könnten. Es fehlt die Konzeption eines interessengeleiteten homo oeconomicus ebenso wie die damit verbundene Vorstellung einer sozialen Arbeitsteilung und Konkurrenz, die den gesellschaftlichen Fortschritt garantieren soll. Man würde dieses Verhältnis von (klassischem) Liberalismus und Bildungsidee nun allerdings nur einseitig verstehen, wenn man letztere als defizitäre Ausprägung des ersteren betrachten wollte. In der bildungstheoretischen Tradition hält sich demgegenüber das Narrativ, dass in der Bildungsidee jene (metaphysischen) Bezugspunkte der bürgerlichen Befreiung überwintern, die von der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft nivelliert worden seien.15 Beide Perspektiven eröffnen einen diskursiven Raum, in dem unterschiedliche Positionierungen zwischen individueller Freiheit, sozioökonomischer Selbstverantwortung und einer Kritik am bürgerlichen ‚Besitzindividualismus‘16 möglich sind. Ob man die Welt (wie Humboldt) als widerständiges Material der freien individuellen Selbstbildung aufruft oder ob man sie (wie Locke) als Verlängerung des Besitzes an der eigenen Person versteht, immer gelten in diesem Szenario Selbstbestimmung und Selbstverfügung als Voraussetzung wie als Ziel des individuellen Weltverhältnisses. Die Begründungsmuster mögen von naturrechtlichen Setzungen bis hin zu Sakralisierungen einer als problematisch durchschauten Metaphysik reichen, immer wird damit ein ‚unbedingter‘ Anspruch formuliert, den es empirisch erst zu realisieren gilt. Mag man mit Locke das Recht der Individuen postulieren, „über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten erscheint“17, dass der Mensch „ein Eigentum an seiner Person“18 hat, oder mit Humboldt davon ausgehen, dass Individuen zur ‚höchsten und proportionierlichen‘ Ausbildung ihrer je eigenen Kräfte bestimmt sind, so folgen solche Bestimmungen doch immer jener Figur, die Foucault eine ‚empirisch-transzendentale Dublette‘ genannt hat:19 In ihr kreuzen sich eine vorausgesetzte und eine verheißene Wahrheit des Menschen. Dabei markieren empirischtranszendentale Dubletten immer Leerstellen. So schillert die Locke’sche Figur zwischen dem, der sich besitzt und der doch zugleich wohl kaum etwas anderes als dieser Besitz selbst sein kann; auch für die Humboldt’sche Bildungstradition ist eine Figur des Selbstentzugs konstitutiv: In der Selbstüberschreitung verliert sich das Indi-

14 15 16 17 18 19

Vgl. Mill 1974, S. 157. Vgl. Adorno 1962. Vgl. Macpherson 1973. Locke 2007, S. 13. Ebd., S. 30. Vgl. Foucault 1974, S. 384.

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viduum, um sich zu gewinnen – ohne dass damit der Ort des Bildungsgeschehens noch einer (sich bildenden) Instanz zugerechnet werden könnte. Diese knappen Überlegungen mögen genügen, um das Spannungsfeld, aber auch die Überschneidungen anzudeuten, die den überkommenen Bildungsdiskurs mit den Überlegungen zu einer pädagogischen Steuerung und Verantwortung (und damit auch: institutionalisierter Bildung) sowie mit einem liberalen Staatsverständnis verbinden. Es ergibt sich damit ein Raum diskursiver Auseinandersetzungen, in dem figurierte Wirklichkeiten, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Konzepte von Selbstbildung, sozialer Einfügung und Anpassung, Artikulationen im Feld von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, Konzipierungen individueller Ansprüche und gesellschaftlicher Notwendigkeiten, von Legalität und Legitimität aufeinandertreffen – ohne dass es ein rationales Kriterium gäbe, an dem diese Auseinandersetzungen eine von allen Beteiligten akzeptierte Auflösung erfahren könnten. Es ergibt sich eine Problematik des Pädagogischen, die eine Vielfalt möglicher Gesichtspunkte und darauf bezogener Alternativen aufzurufen vermag, ohne dass auf eine vorausgesetzte Grundlage zurückgegriffen werden könnte. Und dennoch konstituiert dieser Raum so etwas wie eine ‚relative Autonomie‘, in die nicht einfach von außen – etwa in Form von Gesetzen, Regelungen oder Direktiven – eingegriffen werden kann. Vielmehr müssen diese, sollen sie als sinnvolle und akzeptable Möglichkeit der Restrukturierung des Feldes und damit auch der dieses bestimmenden Diskurse erscheinen, an Problembestimmungen anknüpfen und diese auf eine bestimmte Weise und zugleich mit offenen Anknüpfungsmöglichkeiten reformulieren. Erst vor diesem Hintergrund ergibt sich die Möglichkeit einer hegemonialen Autorisierung organisatorischer Neuordnungen. Als politische müssen staatliche Steuerungsversuche sich demnach in den diskursiven Auseinandersetzungen der zu regulierenden Felder verorten, Problematisierungen vornehmen, Lösungsperspektiven entwickeln und Akzeptanzbedingungen sichern. Dies ist nicht zuletzt dadurch vorstellbar, dass die diskursive Verfasstheit der sozialen Räume selbst nicht einer einfachen Rationalität folgt, sondern umstritten ist. Und dieser Streit umgreift auch wissenschaftliche Beschreibungs-, Analyse- und Orientierungsversuche, die mithin Teil einer ‚interdiskursiven‘ Auseinandersetzung sind.20 In Interdiskursen verknüpfen sich wissenschaftliche ‚Spezialdiskurse‘ mit alltäglichem Erfahrungswissen, mit narrativ erzeugten Normalitätsvorstellungen, mit programmatischen Setzungen und korrespondierenden Verwirklichungsmythen zu einer politischen Rhetorik. Die Durchsetzung des um den Signifikanten des ‚Humankapitals‘ kreisenden Diskursfeldes lässt sich vielleicht am ehesten an den Einsatzpunkten einer solchen politischen Rhetorik nachzeichnen, indem man Verschiebungen in unterschiedlichen Bereichen des Interdiskurses anzugeben versucht.

20 Vgl. Link 2006.

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3. Strategische Einsatzpunkte einer politischen Steuerungsrhetorik mit Blick auf eine Neujustierung des Bildungswesens Zumindest für eine Theorie der pädagogischen Professionalisierung, die mit dem geisteswissenschaftlichen Primat einer praktischen Theorie, einer Theorie von und für die Praxis, gebrochen hatte, kam die eingangs beschriebene Proklamierung von Bildungsstandards, das Setzen auf einen mess- und vergleichbaren Output, die funktionale Orientierung hin auf (globalisierte) ökonomische Erfordernisse und deren Übereinstimmung mit individuellen Bildungsprozessen im Sinne einer Optimierung der eigenen Ressourcen eher überraschend. Die Professionalisierungstheorie hatte noch in den 1990er Jahren eher eine Differenz von Wissenschaft und Praxis betont; sie hatte ein nicht zu behebendes Technologiedefizit der pädagogischen Programmatiken konstatiert.21 Pädagogisches Handeln erschien hier eher als eines unter Ungewissheit,22 als eine Kunst der Entscheidung, die sich dem Verhältnis von (wissenschaftlich erzeugtem) Wissen und Grundlosigkeit stellt,23 ohne dem Adressaten gerecht werden zu können. Diese breite Diskussion um die unauflösbare Problematik eines unter dem Steuerungs- und Verantwortungsimperativ stehenden pädagogischen Handelns spiegelte sich auch im Niedergang einer dezidiert handlungstheoretisch orientierten Pädagogik: im Bedeutungsverlust des Erziehungsbegriffs.24 Demgegenüber erlebte die Kategorie der Bildung eine erneute – wenn auch nicht unumstrittene – Konjunktur, da mit ihrer Hilfe Probleme im Rahmen des Bildungssystems zwar analysierbar, kaum aber in organisatorische Lösungsperspektiven übersetzt werden konnten. Vor dem Hintergrund eines solchen wissenschaftlichen Diskursfeldes, das weder die organisatorischen noch die praktischen Orientierungserwartungen bedienen konnte, muss die beginnende Umgestaltung des Bildungswesens im Zeichen einer erwartbaren Effizienz zumindest überraschen. Die vom deutschen PISA-Konsortium im Jahr 2001 vorgelegten Ergebnisse einer internationalen Vergleichsstudie (Programme for International Student Assessment) lösten den sogenannten ‚PISA-Schock‘ aus: Man wunderte sich über die im internationalen Vergleich schlechten Leistungen deutscher Schüler in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften und die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das Bildungswesen. Es war nicht zuletzt die Koppelung von Defizitfeststellung und internationalem Vergleich, vor deren Hintergrund diese Ergebnisse zu einem Schock stilisiert wurden. Diese Koppelung führte daher nicht einfach nur zu ‚systeminternen‘ Verbesserungsvorschlägen, sondern der Sachverhalt, dass man im Ländervergleich abgeschlagen im Mittelfeld rangierte, löste eine Suchbewegung 21 22 23 24

Vgl. Luhmann/Schorr 1979. Vgl. Helsper/Hörster/Kade 2003. Vgl. Wimmer 1996. Vgl. Meyer-Drawe 1999, S. 172f.

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aus, die die Schulorganisation in anderen (effektiveren) Ländern beobachtete: Vor diesem Hintergrund wurde die eigene Situation zu einem Problem, dem nicht nur mit pädagogischen, sondern zugleich mit organisatorischen Konzepten beizukommen war. Das Mittel des Vergleichs konstituiert eine Konkurrenzsituation um knappe Güter, die zudem – in weiteren Untersuchungen – in ihrem Erfolg beurteilt und evaluiert werden kann: Ob sich durch den Einsatz von Programmen oder organisatorischen Maßnahmen der Rangplatz des eigenen Landes verbessert oder verschlechtert, wird man sehen. Verbesserungen oder Verschlechterungen verweisen auf Schülerleistungen, die nun aber in ihrem Wert nicht nur individuell zugerechnet werden; man entdeckt das Mittel des Schulvergleichs, um die internationale Konkurrenz zu einem Motor auch schulischer Profilierungen und Anstrengungen zu machen. Die Konkurrenz der Schüler um gute Leistungen wird so mit der Konkurrenz der Schulen um ihren Marktwert, ihren Attraktionswert für ehrgeizige Eltern, verbunden und der Sinn dieser Schulkonkurrenz wird in der Steigerung der Leistungsfähigkeit des deutschen Schulwesens im ‚globalisierten‘ Vergleich gesehen. Dieses Modell verweist nicht zufällig auf eine Analogie zu jenem, in dem Einzelleistungen eine betriebswirtschaftliche und dann (irgendwie auch) eine volkswirtschaftliche Bedeutung haben. Diese Analogie wird gestärkt durch eine Entwicklung, die um die Jahrtausendwende dazu führt, dass eine gezielte Umverteilungspolitik stattfindet, die Reiche und Unternehmen entlastet und starke Einschnitte in den Sozialstaat vornimmt. In der Folge sinken die staatlichen Einnahmen und Investitionen in die Infrastruktur (also auch ins Bildungswesen) nehmen ab. Nicht nur in Deutschland, sondern auch international setzen sich neoliberale Zielvorgaben durch, die von der WTO (Welthandelsorganisation), der Weltbank, dem IWF (Internationaler Währungsfonds) oder auch der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) fast gleichlautend proklamiert werden. „Sie lauten: Durchsetzung privatwirtschaftlicher Steuerungsprinzipien im öffentlichen Sektor, betriebswirtschaftliche Umgestaltung von Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen, Einführung von Markt- und Management-Elementen auf allen Prozessebenen“25. Die Reduktion staatlicher Investitionen in die Infrastruktur etwa des Bildungswesens führt so dazu, dass eine Konkurrenz um die knappen Mittel initiiert wird, bei der man sich (Exzellenz-)Vorteile verschaffen kann, wenn man aus dem Mangel das Optimum erwirtschaftet. Dazu sind wiederum Selbst- und Fremdevaluationen der eigenen Effektivität erforderlich. Die Konkurrenz um Effektivität kann dabei noch durch Vorgaben wie jene eines schnelleren Durchlaufs von Schülern und Studierenden, durch die Straffung von Curricula oder die Erhöhung des Leistungsdrucks auf die Adressaten durch fortlaufende Überprüfung gesteigert werden.

25 Pongratz 2013, S. 114.

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Nun ist eine einfache Übertragung ökonomischer Effizienzkriterien, die einer betriebswirtschaftlichen Logik folgen, nach der mit zunehmend reduzierten Kosten ein höherer Produktausstoß erzielt werden soll, wohl nur schwer vorstellbar – auch wenn deren eine Seite: die Kostenreduktion und der dadurch erhöhte Druck auf die Produzenten durchaus Wirkungen zeitigt. Andererseits scheinen die ‚Gewinne‘ (zumindest meist: sieht man von Exzellenz- oder sonstigen Gratifikationsanreizen ab) allenfalls symbolischer Natur zu sein. Das ‚Produkt‘ besteht in der Arbeitsmarkt-Fähigkeit der Absolvierenden, deren Erfolg von Marktmechanismen abhängt, die diese wiederum nicht beeinflussen können. Diese Arbeitsmarktfähigkeit mag in Kompetenzen operationalisiert und gemessen werden: Sie mag dann dem Betrieb als Ergebnis zugerechnet werden. Zugleich bleibt sie Ergebnis der Anstrengungen der Adressaten. Es ist hier nicht notwendig, die Probleme einer Analogie des staatlichen Schulwesens zu einem Wirtschaftsbetrieb unter neoliberalen Bedingungen weiter zu verfolgen. Sie anzudeuten ist im vorliegenden Zusammenhang vor allem deshalb bedeutsam, weil sich damit eine Lücke zeigt, die überbrückt werden will, soll eine mögliche Akzeptanz dieser organisatorischen Steuerungsmechanismen einsichtig gemacht werden können. Auf den ersten Blick widersprechen solche Optionen den im letzten Abschnitt skizzierten pädagogischen, bildungstheoretischen und liberalen Diskursen. Diese stellten sich als Konfliktfeld dar, in dem sich Anknüpfungspunkte, Übersetzungen und Gegnerschaften kreuzten. Hier soll nun der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich das angedeutete Spannungsfeld von neoliberalen und marktorientierten Imperativen einerseits und einer staatlichen Steuerungsrhetorik, die das Wohl der Individuen unter gesellschaftlichen und weltpolitischen Gesichtspunkten zu verantworten beansprucht, nicht auch durch den Rückgriff auf bzw. das Anknüpfen an pädagogische, bildungstheoretische und (alt-)liberale Diskurse zu plausibilisieren versucht. Hier ist nicht zuletzt auch die Frage nach dem Verhältnis der Signifikanten von ‚Bildung‘ und ‚Humankapital‘ anzusiedeln. Auf den Niedergang bzw. die pedagogical or political incorrectness der Erziehungskategorie wurde schon hingewiesen. Nachdem sich die pädagogisch erzeugte Emanzipation nicht einstellen wollte, nachdem deren (seit Kant bekannte) Paradoxie fremdinduzierter Autonomie deutlich wurde, erschienen das Paternalismusproblem unabweisbar und der Anspruch einer pädagogisch kontrollierten Steuerung und Verantwortung illegitim. Der individuelle Bildungsprozess in seiner Eigendynamik und Unvorhersehbarkeit rückte ins Zentrum und konfrontierte jede pädagogische Ambition mit ihrer unaufhebbaren Kontingenz. Zwischen einem radikalen Konstruktivismus, der den autopoietischen Selbstaufbau des Bewusstseins in den Mittelpunkt stellte, und der phänomenologischen Betonung einer leibgebundenen Erfahrung, die die subjektive Bedeutsamkeit des Gelernten wie dessen dezentrierenden Widerfahrnischarakter für das lernende Individuum betonte, entwickelte sich die didaktische Perspektive einer indirekten Steuerung individueller Lernprozesse. Statt der Ver-

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mittlung nachzuvollziehender Inhalte und vorgegebener Lernwege sollten nun Lernumgebungen arrangiert werden, die eine individuelle Bearbeitung von (gerahmten) Problemstellungen ermöglichen. Die pädagogische Steuerung soll (soweit als möglich) individuelle Lernziele und Lernwege eröffnen. Sie soll (im Rahmen curricularer Vorgaben) Selbstbildungsprozesse initiieren. Das Modell einer indirekten Steuerung und Initiierung von Selbstbildungsprozessen erscheint dabei als Anknüpfung an eine zentrale pädagogische Phantasie. Mit einer indirekten bzw. negativen Erziehung hatte Rousseau in seinem fiktiven Entwurf des Émile26 eine Konstruktion entworfen, in der individuelle Selbstbildungsprozesse und eine pädagogische Verfügungsoption als bruchlose Einheit gedacht werden sollten.27 Dieses Konstrukt, um dessen imaginären Charakter Rousseau immerhin wusste, beruhte auf einer eigentümlichen Verantwortungsverteilung. Auf der einen Seite bildet die effektive, die anreizende und ‚anrufende‘ Gestaltung von Lernumgebungen eine Aufgabe, die in die Verantwortung des Lehrers/Erziehers fällt. Sollten also ‚gelingende‘ Bildungsprozesse nicht zustande kommen, so könnte dies vielleicht durch eine effektivere Gestaltung der Lernumgebung gewährleistet werden. Auf der anderen Seite aber ist der Lernende für seine Lernwege und deren Ergebnisse selbst verantwortlich: Er hat sie gewählt, sich engagiert und bezogen auf die eigene Zielstellung am Gegenstand wie damit auch an sich selbst gearbeitet.28 Die Initiierung individueller Selbstbildungsprozesse über die Gestaltung von Lernumgebungen eröffnet damit ein Spannungsfeld möglicher Verantwortungszuschreibungen. So scheint es leichter zu werden, die Schüler für ihre Lernwege und Lernergebnisse verantwortlich zu machen und sie darüber zu individualisieren; zugleich aber impliziert das nicht notwendig einen Entlastungseffekt für die Verantwortung der Lehrpersonen. Spätestens auf der Ebene des Leistungs- oder gar Schulvergleichs werden diese von der eigenen Verantwortung eingeholt. Und dieser Verantwortungszuschreibung kann man sich umso schwerer entziehen, je indirekter und damit diffuser sie ist: Lernumgebungen hätten immer optimaler arrangiert werden können, um den Output zu optimieren. Der sich auf diese Weise eröffnende Raum von Auseinandersetzungen, die um Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen kreisen werden, verweist darauf, dass es auch bei der Initiierung von Selbstbildungsprozessen um Ergebnisse geht. Zunächst könnte man sagen, dass das Modell fremdinduzierter Bildungsprozesse jener Logik folgt, die Foucault als gouvernementale (und neoliberale) Steuerungsstrategie beschrieben hat.29 Diese ruft zur Arbeit an sich selbst auf: Der Anruf eröffnet einen (problematischen) Raum, zu dem sich die Angerufenen verhalten können und inner26 27 28 29

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Vgl. Rousseau 1963. Vgl. Schäfer 2002. Vgl. Masschelein/Simons 2012, S. 15f. Vgl. Foucault 2004.

halb dessen sie sich damit zugleich positionieren. Die Subjektivierung folgt der Paradoxie von Autonomisierung und Unterwerfung.30 Wenn also gouvernementale Steuerungsprozesse gelingen, dann verwickeln sie das Individuum in eine problemorientierte Arbeit an sich selbst, die einer Steigerungs- und Optimierungslogik folgt. Es lässt sich damit eine Nähe zwischen den selbstinitiierten Selbstbildungsprozessen im Kontext der Schule und den gouvernementalen Perspektiven feststellen, die eine Führung der Selbstführungen auslösen wollen. In eine solche Nähe können sich staatliche Steuerungsrhetoriken einschreiben und eine politische Profilierung gewinnen. Zugleich aber verweisen die Auseinandersetzungen um Verantwortungszuschreibungen darauf, dass die Organisation und didaktische Umsetzung schulischer Lernprozesse nicht einfach jenseits der erzielten Ergebnisse (und damit: von Fragen der Effektivität) zu verhandeln ist. Lebt das neoliberale Modell gouvernementaler Steuerung letztlich davon, dass es die ‚spontane Ordnung‘31 des Marktes ist, die über Erfolg oder Misserfolg, über Effektivität und Ineffektivität entscheidet, so scheint dies hier nicht zu gelten. Fragen der sozialen Gerechtigkeit ebenso wie diejenige, inwieweit man Individuen gerecht geworden ist – also jene Fragen, die neben der Effektivität die Auseinandersetzungen um Verantwortungszuschreibungen strukturieren dürften – stellen sich hier nicht: Der Markt als jene Instanz, die (auch und gerade) keiner politischen Steuerung unterliegen soll, gilt gerade deshalb als ein fundamentales und unhintergehbares Steuerungsmodell, weil sein ‚Urteil‘ eine Komplexität sozialer und individueller Faktoren einzubeziehen erlaubt, die jede individuelle, politische oder moralische Urteilsfähigkeit übersteigt.32 Wenn sich also einerseits eine Nähe zwischen den Vorstellungen einer indirekten Steuerung von Selbstbildungsprozessen und der neoliberalen Gouvernementalität zu ergeben scheint, so verweisen die Streitigkeiten um die Verantwortung andererseits darauf, dass die innerschulische Organisation die Beurteilung ihrer Effektivität nicht einfach einem anonymisierten Markt überlassen kann. Bei aller über Vergleichs- und Evaluationsprogramme implementierten Marktorientierung scheint ihr Output dennoch nicht nur an der Zirkulationssphäre festgemacht werden zu können. Dies ist nun ein möglicher (wenn auch ein strategisch eher schwacher) Einsatzpunkt, um auf traditionelle bildungstheoretische Diskurse zurückzugreifen: Es genügt der Verweis auf das Humankapital, um deutlich zu machen, dass hier unter Marktbedingungen die subjektiven Voraussetzungen für ein Funktionieren des Marktes gestaltet werden sollen. Diese Figur, nach der unter den Funktionsbedingungen des Marktes noch deren Voraussetzungen produziert werden sollen, eröffnet einen politischen Diskurs, der nicht einfach durch den Verweis auf die göttliche Autorität des Marktes stillgestellt werden 30 Vgl. Bröckling 2007, S. 19f. 31 Vgl. Hayek 1991. 32 Vgl. Hayek 2003, S. 231.

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kann. Dies soll im Folgenden an zwei markanten Stellen verdeutlicht werden: an dem für das Leistungsprinzip konstitutiven Verhältnis von Anstrengung und Ergebnis und an einer (in der Theorie des Humankapitals stattfindenden) Verschiebung der liberalen Subjektkonzeption.

3.1. Leistung – zwischen Anstrengung und Ergebnis Das Leistungsprinzip, Stein des Anstoßes für eine am Individuum orientierte Bildungstheorie, steht für den Anspruch, eine hierarchische soziale Positionierung allein aufgrund unterschiedlicher Anstrengungen zu rechtfertigen. Seine Funktionsweise soll die eines sozialen Gerechtigkeitsprinzips sein, in dem Anstrengung und Erfolg in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen.33 Treten Anstrengung und Erfolg auseinander, ist also Erfolg etwa unabhängig von der Anstrengung und führen große Anstrengungen nicht zum Erfolg, wird die Akzeptanz des Leistungsprinzips als Instanz einer gerechten Produktion sozialer Ungleichheit problematisch. Nun war die Verbindung von Anstrengung und Erfolg immer schon prekär: nicht nur deshalb, weil die Voraussetzungen der Leistungserbringung sozial ungleich verteilt sind, weil es schwierig ist, den Anstrengungen des Einzelnen gerecht zu werden, sondern weil diese Anstrengungen in ein abstrahierendes Vergleichsverfahren eingespannt werden, in dem es um Sachadäquanz und vor allem den interindividuellen Vergleich geht, in dem von der Individualität der Anstrengung abgesehen wird. Die Bewertung erfolgt also immer als eine zwischen Ergebnissen, bei der von der Unterschiedlichkeit individueller Anstrengungen abstrahiert wird. Daran hängt nicht zuletzt der Objektivitätsanspruch des Urteils. Wie in der calvinistischen Figur einer unverfügbaren Prädestination oder in jener der Transzendenz des Marktes hängt also hier die Geltung des Urteils davon ab, dass sie von den individuellen Erfahrungen, von Mühen, Anstrengungen oder Regelbefolgungen entkoppelt wird. Das Leistungsprinzip kann als soziales Gerechtigkeitsprinzip nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn die Lücke zwischen Anstrengung und Erfolg aufrechterhalten wird, durch deren Schließung es doch erst gerade legitimiert sein soll: Die Bedingungen seiner Möglichkeit funktionieren so zugleich als Bedingungen seiner Unmöglichkeit.34 Die skizzierten Neujustierungen der schulischen Wissensvermittlung und Outputorientierter Selektion lassen sich nun einerseits unter dem Blickwinkel betrachten, dass mit ihnen die Lücke zwischen Anstrengung und Erfolg bekräftigt wird. Die gouvernementale Steuerung von Selbstbildungs- bzw. Subjektivierungsprozessen scheint gerade von einer Erfolgs- und intersubjektiven Vergleichsperspektive entkoppelt zu sein: Zumindest in der Tendenz soll das lernende Individuum den Be33 Vgl. Neckel/Dröge 2002. 34 Vgl. Schäfer 2015.

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zugspunkt in sich selbst finden. Demgegenüber steht andererseits eine Aufwertung und Betonung des Outputs – eine bewertende Ergebnisorientierung, die nicht mehr danach fragt, ob diese vergleichbar sind oder ob nicht eher die individuellen Problemstellungen und Lernwege zu betonen wären. Diese Ergebnisorientierung wird dabei durch die Standardisierung von Lernzielen ebenso erreicht wie durch die damit in Verbindung stehende Ausdehnung des Vergleichsmaßstabs über Klassen oder Kurse hinaus: Angestrebt wird eine über die einzelne Schule oder Region hinausgehende Vergleichbarkeit von Schulleistungen, die am besten durch zentral vergebene Aufgabenstellungen gewährleistet werden soll. In einer solchen Perspektive wird die individuelle Anstrengung zu einer unerheblichen Voraussetzung des Vergleichs: Sie dient dann eher als nachträglich aufzurufender Erklärungsgrund für das Vorliegen einer bestimmten Position im Leistungsvergleich. Die Brücke für eine solche Zurechnung bildet dabei, dass der Output, die getesteten Lernergebnisse mit Kompetenzen bzw. individuellen Kompetenzgraden verrechnet werden. Kompetenzen bilden dabei nicht einfach Fähigkeiten, sondern (meist psychologisch) operationalisierte Bestimmungen von Fähigkeitsmerkmalen, die als solche quantifiziert und gemessen werden können.35 Kompetenzen sind messtechnisch angelegte Konzepte, mit deren Hilfe das Leistungssubjekt zugleich zerlegt und konstituiert wird. Mit ihrer Zuschreibung werden nicht nur dessen Fähigkeiten, sondern auch seine Möglichkeiten bestimmt: das, was es vor dem Hintergrund dieser Kompetenzen performativ zu erzeugen vermag. Erneut ergibt sich an dieser Stelle eine andere Akzentuierung jenes diskursiven Raumes, der durch die Differenz von Aneignung und Erfolg eröffnet wurde. Die gouvernementale Perspektive auf einen, durch Anreize und Lernumgebungen indirekt veranlassten individuellen Bildungsprozess geht immer schon davon aus, dass sich Individuen in diesen Prozessen als Subjekte performativ erzeugen. In dieser Sichtweise macht es wenig Sinn, einen Primat der Kompetenzen zu unterstellen, von dem her sich dann erwartbare Performanzen ergeben. Die gouvernementale Perspektive geht von der Prozessualität und Offenheit von Subjektivierungsprozessen aus. Das kompetenztheoretische Modell versucht, Voraussetzungen zu identifizieren und diese den Individuen als Bedingungen und Grenzen der eigenen Möglichkeiten zurückzuspiegeln. Die Differenz, die das Leistungsprinzip konstituiert, droht so in eine einfache Opposition oder einen Widerspruch umzuschlagen.

35 Vgl. Gelhard 2010.

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3.2. Humankapital: Eine Verschiebung im liberalen Subjektkonzept Es ist nun ein Konzept wie das des ‚Humankapitals‘, über das ein solcher Widerspruch zumindest prozediert werden kann. Für Thomä ist die Humankapitaltheorie plausibel, weil „sie das menschliche Leben als einen offenen Prozess der Entfaltung von Vermögen, der Entwicklung von Fähigkeiten fasst“.36 In einer solchen Perspektive rückt die Humankapitaltheorie nahe an eine gouvernementale Subjektivierungstheorie oder einen traditionell konzipierten Selbstbildungsprozess. Von Bourdieu her lässt sich einsehen, dass eine solche performative Erzeugung von Vermögen zugleich als eine von ‚Kapital‘ zu verstehen ist.37 ‚Kapital‘ bezeichnet eben nicht einfach ‚Vermögen‘, sondern die Perspektive einer Investition dieser Vermögen unter Konkurrenzbedingungen. Das Konzept des Humankapitals verkoppelt also die Generierung individueller Vermögen in performativen Bildungsprozessen und deren strategische Bedeutsamkeit für die (kompetente) Selbstbehauptung unter Konkurrenzbedingungen. Eine solche Perspektive löst nun die Möglichkeit widersprüchlicher (politischer) Positionierungen hinsichtlich möglicher Steuerungsgesichtspunkte des Bildungssystems nicht auf. Aber sie bietet einen Signifikanten, unter dem beide Gesichtspunkte prozessieren, gegeneinander profiliert und als Einheit behauptet werden können. Ein solcher diskursiver Raum hat nun allerdings – und damit komme ich zur zweiten der oben erwähnten Verschiebungen – Auswirkungen nicht nur für die Auseinandersetzungen um Leistung und Gerechtigkeit, sondern auch für die liberale Personkonzeption. Die Neujustierung des Bildungswesens favorisiert die liberale Personkonzeption ebenso wie sie diese zugleich verabschiedet. Die Rede vom Humankapital verdeckt diese doppelte Bewegung. Wenn man die Perspektive investierender Eltern einnimmt, denen ein längerer Schulbesuch ihres Nachwuchses erforderlich scheint, dann lässt sich der erzielte Ertrag daran messen, welche Abschlüsse und sozialen Positionen ihre Kinder später einnehmen. Das Humankapital ist dann als ein von ihnen erzielter Ertrag zu sehen, der sich in diesen Kindern verkörpert: Das war die Untersuchungsperspektive der Humankapitaltheorie, wie sie Becker entwickelte.38 Eine volkswirtschaftliche Verschiebung dieser Perspektive ergibt sich, wenn man die Investitionen des Staates in das Bildungswesen betrachtet und diese mit dem Stand der Wirtschaftsleistung vergleicht, wobei nationale Entwicklungsdaten oder internationale Vergleiche herangezogen werden können. In beiden Sichtweisen, der elterlichen wie der staatlichen, taucht – wenn auch unterschiedlich akzentuiert – das beschulte Individuum als Wirtschaftsfaktor auf. Dabei scheint es eine ökonomische Logik zu geben, die es gestattet, bewährte von nicht-bewährten Inves36 Vgl. Thomä 2006, S. 315. 37 Vgl. Bourdieu 1976; 1987. 38 Vgl. Becker 1964 sowie ders. 1993.

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titionen zu unterscheiden. Eine ökonomische Rationalität und damit auch die Hoffnung auf eine Subjektivierung als homo oeconomicus geben hier den zentralen Bezugspunkt ab. Eine solche Rationalität bleibt zwar an ungewisse Bedingungen gebunden, unter denen Investitionen stattfinden und irgendwie begründet werden müssen, aber sie geht von der Möglichkeit revidierbarer Entscheidungen und damit einer Optimierung des rationalen Kalküls aus. Dies ändert sich, wenn man die Perspektive eines an der Verbesserung und Optimierung seiner Vermögen arbeitenden Individuums einnimmt. Ein solches Individuum bringt die Vermögen hervor, die es einsetzen kann und die zugleich die Voraussetzungen abgeben, von denen überhaupt ein Einsatz möglich ist. Es ist also nicht mehr klar, ob das Individuum (von welchem Ort auch immer) über seine Vermögen, sein Kapital verfügt oder ob dieses Kapital selbst die Grundlage seiner Entscheidungen bildet. Schon in der liberalen Personkonzeption Lockes war nicht deutlich, wie man sich einen Besitz an seiner Person vorstellen soll, aber es war nicht zuletzt die Vorstellung einer negativen, gegen Bevormundung gerichteten Freiheit, die die Frage nach einer Verfügung über sich selbst in den Hintergrund drängte. Die Verbindung zum homo oeconomicus blieb unproblematisch. Becker konstatiert demgegenüber eine Besonderheit des Humankapitals. Während finanzielle und wirtschaftliche Transaktionen vom Individuum getätigt werden können, ohne dass es selbst zum Teil dieser Prozesse wird, gilt dies für das persongebundene Kapital nicht, „because you cannot separate a person from his or her knowledge, skills, health, or values“.39 Die Frage also, ob eine Person Humankapital ist oder hat, lässt sich kaum entscheiden. Im ersten Fall würde es sich um eine dezentrierte Figur handeln, die ihre Einheit unverfügbaren Prozessen ‚am Markt‘ verdankt; im zweiten Fall könnte man am fiktiven Modell des homo oeconomicus festzuhalten versuchen. Es ist diese Differenz im Konzept des Humankapitals, die nun erneut einen agonalen Raum diskursiver Auseinandersetzungen eröffnet. So kann man ‚ökonomisch‘ argumentieren und auf die Bedeutung messbarer Kompetenzen und verbriefter Qualifikationen für den weiteren Lebensweg hinweisen. Auch wenn diese keine Karrieresicherheit zu bieten vermögen, so bilden sie doch eine conditio sine qua non. Solche Perspektiven postulieren eine am Nutzen orientierte Personfigur hinter dem heterogenen Raum unterschiedlicher Kompetenzen. Zugleich taucht in ihnen die Unverfügbarkeit dieser ‚Person‘ auf: Als Marktteilnehmer vermag diese Person nicht über den Erfolg ihrer Selbstinvestition zu verfügen. Und dennoch muss sie gleichzeitig adressiert und einem Disziplinarregime unterworfen werden, mit dessen Hilfe gesichert werden soll, dass eine bedrohliche Lücke von Lebensführung und kompetenzorientierter Selbstoptimierung verhindert wird. Diese Lücke zu schließen, also letztlich alle Lebensbereiche dem Postulat ökonomischer Verwertbarkeit zu unter-

39 Becker 1993, S. 16.

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werfen, muss als Rationalitätskriterium etabliert werden – auch wenn man sich damit der rational gerade nicht verfügbaren Bewährung am Markt unterwirft. Ein gegenläufiger (in sich ebenfalls heterogener) Raum für Positionierungen wird gerade die Differenz von Gesichtspunkten der Lebensführung und dem Kompetenzerwerb starkmachen. Die Entwicklung von Vermögen in Selbstbildungsprozessen wird dann stärker gegen eine Nutzen- und Erfolgsorientierung profiliert. Solche Positionierungen können einerseits eine Person adressieren, die sich zu den eigenen Möglichkeiten noch einmal (und durchaus: a-rational, d.h. nicht im Sinne dieser Möglichkeiten) verhalten kann. Auf diese Weise wird die Autonomie oder Souveränität eines Subjekts gegenüber sozialen, ökonomischen Herausforderungen oder eigenen Bindungen ins Spiel gebracht. Andererseits sind aber auch Positionierungen möglich, die die Prozessualität der Selbstbildung betonen, die Überschreitung der eigenen Selbstund Weltvergewisserungen – und damit eine dem Bildungsprozess innewohnende Negativität, die ebenfalls auf eine Dezentrierung des sich bildenden Subjekts verweist.

4. Schlussbemerkung Performanz und Kompetenz, Ungewissheit und Effektivität, Selbstbildung zwischen Optimierung und Marktfunktionalität, Anstrengung und Erfolg, Messbarkeit und Sinnbestimmung, Standardisierung und Individualisierung, Selbstverfügung und Selbstentzug, Steuerbarkeit und Eigenlogik – diese und andere Differenzen erzeugen ein heterogenes Feld der Unbestimmtheit. Sie eröffnen einen diskursiven Konfliktraum, in dem wechselnde Positionierungen möglich sind, und der gleichzeitig nach einer notwendigen Steuerung ruft. Der politische Raum einer notwendig umstrittenen und daher letztlich grundlos zu treffenden Entscheidung über die Reformierung des Bildungswesens bedarf eines legitimierenden Signifikanten, in dem das Konfliktfeld in seinen unterschiedlichen Akzentuierungen aufgerufen und zugleich als steuerbar vorgestellt werden kann. Als einen solchen Signifikanten kann man das Konzept des Humankapitals ansehen. In ihm verbinden sich Vorstellungen einer Förderung des sich bildenden Individuums mit dessen gesellschaftlicher Selbstverwertung unter Konkurrenzbedingungen; es steht für eine betriebswirtschaftliche Rhetorik, die aus der Unterfinanzierung des staatlichen Bildungswesens eine Tugend macht, mit deren Hilfe aus knapper werdenden Ressourcen eine größere Effektivität entsteht; und nicht zuletzt bezeichnet die Berufung auf das Humankapital einen Plausibilisierungsanspruch staatlicher Interventionen unter einem ‚Globalisierungsdruck‘, der den Vorrang staatlicher Entscheidungen gegenüber einer international verflochtenen und agierenden Ökonomie systematisch in Frage stellt.

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Das Konzept des Humankapitals – das auch dann einen Bezugspunkt abgibt, wenn seine direkte Artikulation vermieden wird – ist hinreichend ‚leer‘, um diese unterschiedlichen Bereiche als eine aufeinander verweisende Einheit und Unausweichlichkeit aufzurufen. Zugleich erlaubt es Referenzen auf eine traditionelle bildungstheoretische und liberale Rhetorik, auch wenn diese verschoben wird. Es verspricht die Einlösung sozialer Gerechtigkeit, wenn man sich der Rationalität der Kompetenzakkumulation unterwirft: Auch wenn diese Rationalität angesichts der Unverfügbarkeit des Erfolgs irrational erscheinen mag, so erlaubt sie doch zugleich die Erklärung des Misserfolgs. Man hat sich vielleicht nicht hinreichend angestrengt oder andere Prioritäten gesetzt. Dabei erlaubt es die Hegemonie des Signifikanten ‚Humankapital‘, dass nicht nur eine Rationalität staatlicher Steuerungseingriffe trotz aller irrationalen und gar absurden Effekte aufrechterhalten werden kann, sondern auch die Vorstellung, mit dieser Steuerung könne eine soziale Gerechtigkeit und eine volkswirtschaftliche Effektivität ebenso gesteigert werden wie man der Selbstoptimierung des Individuums, gar seiner Selbstverwirklichung Genüge tue. Nun schlägt allerdings die ökonomische Referenz, die der Signifikant des Humankapitals durch alle heterogenen Diskursbereiche und alle Äquivalentsetzungen hindurch aufrechterhält, auch auf eine staatliche Steuerungsrhetorik durch. Sie muss die Wirksamkeit, die Effektivität ihrer Steuerungsmaßnahmen versprechen, ohne sie garantieren zu können. Zu ihrer Autorisierung bedürfen diese selbst einer gouvernementalen Strategie: Ein System von laufenden wechselseitigen, vergleichenden Kontrollen oder auch von Selbstevaluationen am Maßstab der Optimierung wird etabliert. Die Ausweitung wissenschaftlicher Messverfahren wird ebenso gefördert wie Forschungsprogramme, die sich der quantitativen Einstellungs- und Wirkungsforschung verschrieben haben. Neben einer zunehmenden Einbindung auch der Hochschulen in dieses System einer leistungsbezogenen Selbstoptimierung, die über die Einwerbung von Drittmitteln und einen messbaren Output etwa in Form von Veröffentlichungen erzeugt und ebenso gehaltsrelevant wie bedeutsam für die Reputation und Förderung einzelner Hochschulen ist, führt eine solche gezielte Forschungsförderung durchaus auch zu disziplinären Verwerfungen. So hat das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft ein Rahmen-Förderprogramm für eine ‚empirisch fundierte Bildungsforschung‘ aufgelegt – eine Bildungsforschung, die Entscheidungen über die Weiterentwicklung eines effizienzorientierten Bildungswesens begründen soll. Zielvorstellungen wie die einer Evidenzbasierung machen die Runde.40 Aufgelegt werden Programme, die die Ergebnisse der Neurowissenschaften nutzbar machen sollen. So werden im Programm 'Neurowissenschaft – Instruktion – Lernen‘, das vom gleichen Bundesministerium im Jahr 2006 aufgelegt wurde, schon in der Reihung der Konzepte deutlich werdende technologische Erwartungen artiku-

40 Vgl. Bellmann/Müller 2011; Thompson 2014:

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liert. Im von der Europäischen Gemeinschaft ab 2013 geförderten NERRI-Projekt werden Forschung und Marketing jener Psychopharmaka, die Lerneffekte optimieren sollen, verschränkt: NERRI steht für ‚Neuro Enhancement: Responsable Research and Innovation‘. Gefragt waren und sind nicht die problematisierenden Ergebnisse einer qualitativen Forschung, die – ohne den Anspruch auf Repräsentativität – den Konfliktraum der (auch in sich heterogenen) Artikulationen, den pädagogisch-politischen Raum agonaler Verhandlungen um das Richtige aufzeigt. Eine Begründung von staatlichen Entscheidungen verspricht man sich von einer (auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen beruhenden) Wirkungsforschung, die mit hinreichender Sicherheit Verbesserungen und Probleme identifizieren kann. 2012 hat sich dann die ‚Gesellschaft für empirische Bildungsforschung‘ als Organisation jenseits der ‚Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft‘, deren Teil die empirische Bildungsforschung vorher war, gegründet. Ohne die disziplininternen hegemonialen Auseinandersetzungen in der Erziehungswissenschaft oder die Einsätze und Effekte staatlicher Wissenschaftspolitik hier weiter verfolgen zu wollen, wird man dennoch vor dem Hintergrund des politischen Feldes, innerhalb dessen sich staatliche Steuerungsversuche mittels vermeintlicher und immer nur partikulare Aspekte betreffender Eindeutigkeit bewegen, davon ausgehen können, dass die Auseinandersetzungen um das, was schulische Bildung sein soll, kaum enden werden. Steuerungsversuche werden in ihrem Rationalisierungsanspruch immer auf unauflösbare Problematiken und dementsprechend auf ein umstrittenes Feld treffen, in dem niemand über eine definitive Lösung verfügt. Sie werden auf Strategien der Subversion, der Notwehr stoßen, wenn sie Verantwortlichkeiten und Missstände eindeutig glauben, benennen zu können. Solche Eindeutigkeiten lassen sich immer auflösen, verschieben oder anders akzentuieren, weil es kein einheitliches Kriterium für Gelingen und Scheitern gibt. Die politische Auseinandersetzung, in der sich ökonomische, pädagogische, bildungstheoretische, altund neoliberale Positionen zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Gesellschaft und Individuum kreuzen, dreht sich um solche Kriterien und deren hegemoniale Durchsetzung.

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III. Konfigurationen von Staatlichkeit heute

Simon Bohn Rechtspopulismus und radikale Demokratie. Eine Verhältnisbestimmung in Anbetracht der Protestbewegung PEGIDA

Seit Mitte der achtziger Jahre haben sich in zahlreichen westeuropäischen Ländern Parteien ins Umfeld des etablierten Politikbetriebs gemischt, welche in der Regel als rechtspopulistisch bezeichnet werden. Ihre jeweiligen Wahlerfolge sind an Konjunkturen von Protestbewegungen gekoppelt, während ihr gänzliches Verschwinden aus dem Parteiensystem längst nicht mehr erwartet wird. Anders als in anderen europäischen Ländern schien der Aufschwung sogenannter rechtspopulistischer Parteien in Deutschland lange Zeit auszubleiben, ehe mit der Europawahl 2014 die AFD (Alternative für Deutschland) 7,0 % der Wählerschaft für sich gewinnen konnte.1 Begleitet wird der Aufstieg der AFD von einer Protestbewegung, welche die öffentliche Debatte in Deutschland nachhaltig beeinflusst und deren Bedeutung für den politischen Diskurs noch gar nicht abzuschätzen ist. Das Phänomen PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) in Dresden und die zahlreichen ‚–GIDA-Demonstrationen‘ in anderen deutschen Städten brachte zu seinen Spitzenzeiten tausende Bundesbürger gegen eine vermeintliche ‚Islamisierung des christlich-jüdischen Abendlandes‘ auf die Straße.2 Die gegen die PEGIDA-Bewegung schlagende Ablehnung und politische Diskreditierung aus nahezu allen Lagern des etablierten Parteienspektrums schien die Teilnehmer_innen hingegen nicht davon

1 Als Partei der Euro-Skeptiker und mit einer deutlichen Haltung gegen die von ihnen so bezeichnete „Einwanderung in deutsche Sozialsysteme“ zog sie 2014 bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen mit jeweils über 10 % in die Landesparlamente ein. Während sie in den alten Bundesländern eher mäßige Ergebnisse erzielte, zeigte sich spätestens mit der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern 2016, bei der sie mit 20,8 % der Stimmen zweitstärkste Kraft wurde, ihre unübersehbare Position innerhalb des Parteienspektrums. 2 Die AFD versteht sich nach den Aussagen ihres Vizevorsitzenden Alexander Gauland als „natürlichen Verbündeten“ der PEGIDA-Demonstrationen (Gauland 2015). Diese Haltung ist das vorläufige Ergebnis einer längeren Entwicklung, in der sich die Führungsriege der AFD Stück für Stück der PEGIDA-Bewegung angenommen hat. Unter der Führung von Bernd Lucke distanzierte sich die Partei zunächst noch von den ‚Spaziergängen‘. Die Dresdener AFD unterzeichnete noch im November 2014 eine Resolution für mehr Solidarität mit Asylbewerbern und kritisierte die PEGIDA-Parole ‚Wir sind das Volk‘. Mit den internen Kämpfen innerhalb der AFD und der zunehmenden Machtstellung von Gauland und Frauke Petry wurden hingegen die politischen Übereinstimmungen mit Forderungen von PEGIDA-Teilnehmer_innen immer stärker in den Vordergrund gerückt (Geiges u.a. 2015, S. 151ff.).

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abzuhalten, Woche um Woche die politische Bedeutung des Rechtspopulismus in Deutschland unter Beweis zu stellen.3+4 Was dabei im Einzelnen unter Populismus beziehungsweise Rechtspopulismus zu verstehen ist und welche politischen Strömungen unter diesen zu subsummieren sind, ist Bestandteil von öffentlichen wie von wissenschaftlichen Debatten. Rechtspopulisten sind keine schlechthin gegebenen Akteure, sondern Diskurseffekte; ihre jeweilige Bedeutung ist das Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe und ihre Agitationen sind Verknüpfungen unterschiedlicher Positionen. Ereignisse wie die PEGIDADemonstrationen bieten Raum für diverse politische Forderungen und lassen sich nur mit Mühe auf eindeutige politische Ziele festlegen und politisch einordnen. Und auch die Frage nach adäquaten Umgangsweisen mit entsprechenden Phänomenen ist nicht zuletzt vom jeweiligen (theoretischen) Populismusbegriff abhängig. Nach anfänglichem Schweigen hat die Politikwissenschaft die neuen Parteien und rechtspopulistischen Bewegungen spätestens seit Ende der neunziger Jahre im Blickfeld: die Forschung zu Populismus sieht sich inzwischen breit aufgestellt und ist aus dem Feld der Parteiensystemanalyse herausgewachsen, um sich sowohl ideengeschichtlichen wie auch ideologietheoretischen Fragestellungen zu widmen.5 Die meisten politischen Zeitdiagnosen, die den Aufschwung des Rechtspopulismus in Europa zu verstehen versuchen, knüpfen an die Feststellung einer allgemeinen politischen Apathie und eines Bedeutungsverlusts der großen Parteien an. Sie konstatieren das Ende politischer Gegnerschaft im klassischen Sinne, die Dominanz des Indi-

3 Siehe dazu auch Heim 2016; Rehberg u.a. 2016. 4 Die erste PEGIDA-Demonstration fand am 20. Oktober 2014 in Dresden mit schätzungsweise 350 Teilnehmer_innen statt. Zwei Monate später, also am 15. Dezember, versammelten sich bereits 15.000 Menschen in der Elbmetropole (Geiges u.a. 2015, S. 11). Organisiert werden die PEGIDA-Demonstrationen von einem ‚Aktionsbündnis‘, das sich seit dem 14. November 2014 als ein eingetragener Verein organisiert. Ihre politischen Ziele formulierten die Organisator_innen der Demonstration am 10. Dezember 2014 erstmals in gebündelter Form in einem 19 Punkte umfassenden Positionspapier (siehe Pegida-Organisatoren 2014). Dieses Positionspapier wurde zugleich zu einer ‚Verpflichtungserklärung‘ für lokale Ableger der Protestidee, welche von den Dresdener PEGIDA-Organisatoren als GIDA-Gruppen anerkannt werden. Dennoch gerieten einige „anerkannte“ Ableger wie die HAGIDA (Hannover) oder die LEGIDA (Leipzig) zunehmend unter den Verdacht, die bürgerlich-mittige sowie verfassungskonforme Ausrichtung zu verlassen und sich stattdessen zu rechtsextremistischen Kundgebungen zu entwickeln (Geiges u.a. 2015, S. 18ff). Die Verbindungen von Organisator_innen und Redner_innen der PEGIDA-Demonstrationen ins rechte Spektrum wurden schließlich immer deutlicher. Auch Protagonisten wie Jürgen Elsässer und Udo Ulfkotte, die man eher der verschwörungstheoretischen Szene zurechnet, wurden zu wichtigen Figuren der Bewegung. Dass die PEGIDA-Demonstrationen zu solcher Größe anwachsen konnten, scheint deshalb nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sie vorübergehend zu einem Schmelztiegel ganz unterschiedlicher politischer Positionen wurde, ehe die ersten internen Konflikte und daraus resultierende Abspaltungen zu neuen Grenzziehungen und einer damit einhergehenden Verringerung des Mobilisierungspotentials führten. 5 Vgl. etwa Decker 2006.

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vidualismus in der reflexiven Moderne6 oder ein Zeitalter der Postdemokratie.78 Rechtspopulistische Agitationen greifen den Vertrauensverlust in das politische System und seine Fähigkeit, den sich beschleunigenden Wandel im Kapitalismus zu steuern und zwischen einzelnen Interessen auch gegen die Vormachtstellung der Wirtschaft zu vermitteln, auf. Dabei ist keineswegs klar, ob die Wahlerfolge der AFD, die hohen Teilnehmer_innenzahlen auf den Demonstrationen der PEGIDA und der teilweise unverhohlene Schulterschluss mit Positionen der extremen Rechten einen Meinungswandel in der deutschen Bevölkerung anzeigen, oder ob bestehende nationalistische, rassistische und sozialchauvinistische Einstellungen heute durch neue Formen der politischen Kommunikation, der mediale Repräsentation und der Verknüpfung unterschiedlichster, ideologisch wenig gefestigter Meinungen lediglich sichtbarer sind.9+10 Um rechtspopulistische Phänomene besser einordnen zu können, weisen theoretische Konzeptionen und aus ihnen abgeleitete begriffliche Bestimmungen jeweils in eine bestimmte Richtung. In der politikwissenschaftlichen 6 7 8

Vgl. etwa Beck u.a. 1994. Crouch 2008. Die Rede von Postdemokratie, ein Begriff, der zuerst von Jaques Rancière verwendet und später von Colin Crouch näher ausgeführt wurde, enthält eine Diagnose, deren normative Ausrichtung keineswegs klar ist. In klassisch konservativem Gestus kann sie eine Ahnung oder gar ein Bedauern zum Ausdruck bringen, dass zwischenzeitig stabilisierte Formen der politischen Mitbestimmung und der Kontrolle staatlichen Handelns sich nicht länger als tragfähig erweisen. Sie kann aber auch eine Neubestimmung der zentralen Elemente der politischen Theorie einfordern (Hirsch & Voigt 2009). In jedem Fall scheint sie ein Problem zu benennen und die teilweise erschreckenden Tendenzen im System der politischen Teilhabe zu betonen, nämlich, dass die Zahl der Nichtwähler_innen in den meisten europäischen Ländern nahezu bei jeder Wahl steigt und die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den demokratisch legitimierten Möglichkeiten der Einflussnahme auf das politische und wirtschaftliche Zeitgeschehen zuweilen unübersehbar ist. Dabei ist die Wahlbeteiligung vor allem in prekären Bevölkerungsschichten niedrig (Gagné u.a. 2013, S. 13). 9 Vgl. dazu auch Funke 2016. 10 Die angebliche ‚Verwunderung‘, dass bei den entsprechenden Demonstrationen neben bekennenden Rechtsextremen auch ‚normale Bürger_innen‘ aus der Mitte der Gesellschaft marschieren, zeugt dabei von der fehlenden Kenntnisnahme der Forschungsergebnisse über die Verbreitung fremdenfeindlicher, antisemitischer und islamfeindlicher Einstellungen in der Mehrheitsgesellschaft. Dass sie die Basis für fremdenfeindliche Pogrome bilden, hatte man in den frühen 90er Jahren in Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Hoyerswerder bereits beobachtet, in der Zwischenzeit aber aus der öffentlichen Wahrnehmung erfolgreich verdrängt, ehe seit 2014 in Deutschland wieder Asylunterkünfte in Flammen aufgingen und die ‚Normalbevölkerung‘ sich in Antiasylkampagnen zu Demonstrationen vor Flüchtlingsunterkünften einfand. Langzeitstudien, wie jene von Heitmeyer oder die Leipziger Mitte-Studien, haben immer wieder gezeigt, dass menschenverachtende Einstellungen auch bei jenen ‚Durchschnittsbürgern‘ bestehen, die bis vor wenigen Jahren selten auf Demonstrationen präsent oder hörbar gewesen sind, sondern allenfalls innerhalb ihrer angestammten Institutionen, Vereine und geschlossenen sozialen Kreise einen xenophoben Konsens stützten. Interessant sind dabei die Beobachtungen einer Forschungsgruppe um Franz Walter, die in Gesprächen mit Teilnehmer_innen der PEGIDADemonstrationen in Dresden auf die starke Euphorie bezüglich der Möglichkeit öffentlicher politischer Meinungsäußerung aufmerksam wurden, welche gerade von jenen zum Ausdruck gebracht wurde, die bisher noch nie in irgendeiner Form politisch aktiv gewesen waren und den „mutigen“ Schritt auf die Straße als empowerment erlebten (Geiges u.a. 2015).

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Debatte gibt es dabei mindestens zwei idealtypische Deutungsmuster des Populismusbegriffes. Politische Forderungen können danach sowohl aufgrund von inhaltlichen Überschneidungen als populistisch markiert werden, sie können aber auch ihrer Form oder ihrem argumentativen Stil nach als populistische Politiken bestimmt werden. Mit der zunehmenden Rezeption der Schriften von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, allen voran dem längst zum Klassiker avancierten Werk Hegemonie und radikale Demokratie (1991, engl. 1985) hat sich in der politikwissenschaftlichen Debatte zudem eine Perspektive Raum verschafft, welche die jeweils als populistisch markierten Phänomene diskurstheoretisch denkt und in einen Zusammenhang mit Fragen zur Demokratie und zur Idee des Politischen stellt. Der vorliegende Text versucht die Diagnosefähigkeit verschiedener Populismusbegriffe, vor allem aber das Theoriegebäude von Laclau und Mouffe auf das Phänomen PEGIDA und einige auf PEGIDA-Demonstrationen artikulierte politischen Forderungen zu beziehen.11 Im Zentrum der Ausführungen steht die Frage, wodurch die Politiken der PEGIDA-Bewegung als populistisch ausgewiesen werden können. Gezeigt wird, dass durch unterschiedliche Analyseansätze und Populismusbegriffe verschiedene Eigenarten des Phänomens PEGIDA in den Fokus rücken. Ob die Populismustheorie von Laclau und Mouffe dabei geeignet ist, das Besondere der Protestbewegung hervorzuheben und welche politischen Konsequenzen sich ihrem Verständnis von Populismus gemäß für die Praxis radikaler Demokratie ergeben, soll in einem abschließenden Teil kurz diskutiert werden.12 +13

11 Eine Problematik der Anwendung des Begriffsapparats von Laclau und Mouffe auf empirische Gegenstände liegt in der Unterscheidung zwischen dem Politischen, über das sie zu schreiben gedenken, und der Politik, die sie als eine Domäne der Politikwissenschaft verstehen. In der Unterscheidung von Politik und dem Politischen greift Mouffe auf Heidegger zurück, wenn sie das Politische auf einer ontologischen Ebene verorten, wohingegen die konkreten Instanzen des Staates, der politischen Institutionen und Organisationen auf einer ontischen Ebene angesiedelt seien (Mouffe 2007b, S. 15ff.). Bei Mouffe ist das Politische ein „Ort von Macht, Konflikt und Antagonismus“ (Mouffe 2007b, S. 16.), an dem jeweils konkrete Kämpfe ausgetragen und Verfahrensweisen entwickelt werden, wie die Gesellschaft durch die Institutionen der Politik gestaltet werden könne. Die konkreten Phänomene der institutionalisierten Politik kommen bei Laclau und Mouffe hingegen meist zu kurz. Nichtsdestotrotz soll der vorliegende Text eine Übertragung ihres Theoriegebäudes auf gegenwärtige politische Ereignisse versuchen (siehe dazu auch Beiträge in Norval & Stavrakakis 2000). 12 Dass die theoretischen Ansätze von Laclau und Mouffe, die sie ursprünglich als Vorschläge für eine sozialistische Strategie und als post-marxistischen Versuch konzipiert hatten, heute vor allem in der Analyse rechtspopulistischer Bewegungen Bestätigung finden, erscheint dabei wie eine Ironie der Geschichte. 13 Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des vorliegenden Textes stand die Veröffentlichung von Marian Pradellas Cultural Struggle for Hegemony kurz bevor, konnte aber leider nicht mehr in den Bearbeitung des Themas einfließen (siehe Pradella 2016).

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1. Rechtspopulismus inhaltlich bestimmt Jürgen Link hat aus diskursanalytischer Perspektive vorgeschlagen, sich die Verwendungsweise des Markers „Rechtspopulistisch“ in der medialen Berichterstattung näher anzuschauen. Die Konjunktur des Populismusbegriffes in Europa knüpft Link zunächst an den Bedeutungsgewinn neorassistischer Positionen innerhalb der etablierten politischen Strukturen, forciert durch die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich im Jahr 2000 unter Haider, aber auch durch ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern der EU. Die Kodierung vormals vom hegemonialen Diskurs ausgeschlossener Positionen als „rechtspopulistisch“ habe die Funktion gehabt, rassistische, postfaschistische und nationalistische Parteien in das „politische Normalspektrum [zu] inkludieren“.14 Andere Ansätze widmen sich hingegen den politischen Eigenarten, durch die sich populistische Artikulationen in unterschiedlichen politischen Strömungen ähneln. So versucht etwa Karin Priester in ihren Untersuchungen zu politischen Bewegungen im 20. Jahrhundert den Populismusbegriff für bestimmte politische Ziele, genau lokalisierbare soziale Hintergründe und spezifische historische Entwicklungen zu reservieren. In ihrer Verwendung des Begriffes bemühen Populisten – zugespitzt formuliert – eine „Revolte gegen den modernen Staat“.15 Danach zeichneten sich diese weniger durch eine bestimmte Rhetorik oder etwa rassistische Einstellungen, sondern vor allem durch eine Gegnerschaft gegen den „intervenierenden Staat“ und seine „sozialstrukturell steuernden und planenden Technokraten“16 aus. In ihren historischen Studien stellt Priester fest, dass populistische Argumentationen immer dann laut werden, wenn im Zuge von Modernisierungsprozessen Erfahrungen und tradiertes Wissen in Frage gestellt und „aufklärerische Eliten“ auf Basis von abstraktem „Expertenwissen“ ihre „Utopien von Gesellschaftsveränderungen und Weltverbesserung“ durchzusetzen trachten.17+18 Indem Priester das Erstarken populistischer Bewegungen als einen Widerstand gegen Modernisierungsprozesse versteht, lässt sie konservative sowie all jene politischen Akteure zu potentiellen Populisten werden, welche ihre politischen Forderungen als Reaktionen auf eine um sich greifende Verunsicherung verstehen. 14 15 16 17 18

Vgl. Link 2008. Priester 2007, S. 9. Ebd., S. 9. Ebd., S. 20. In Populismus (2007) versucht Priester Anhand von verschiedenen Beispielen sowohl linker als auch nationalistischer und konservativer Strömungen zu zeigen, dass populistische Argumentationen immer die Konfrontation mit dem Staat gesucht haben und macht dabei die Kritik des Staates unter der Hand zum zentralen Argument, um anarchistische, liberale und konservative Bewegungen gleichermaßen als populistisch zu markieren (Priester 2007, S. 46ff.), ein Projekt, das in der Gesamtbilanz jedoch wenig überzeugend ist. Populistische Agitationen richten sich gerade nicht gegen den Staat als solchen, sondern gegen das vorherrschende Establishment.

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Die Protestbewegung im Dunstkreis der PEGIDA-Demonstrationen scheint gegen eben jene Modernisierungsprozesse und die Vormachtstellung „aufklärerischer Eliten“ zu opponieren, wenn sie etwa gegen „Gender Mainstreaming“ oder das „Zulassen von Parallelgesellschaften […] in unserer Mitte“19 mobilisiert. Die Anhänger von PEGIDA geben sich als gewaltlos, betonen ihre Herkunft aus dem „normalen“ bürgerlichen Spektrum und verstehen es als ihre Aufgabe, den Sozialstaat gegen die Bedrohungen einer verfehlten Asylpolitik zu schützen. Befragungen und Beobachtungen von Politikwissenschaftler_innen der TU-Dresden belegen dabei einen nicht unerheblichen Anteil von gut situierten Bürger_innen auf den Demonstrationen von PEGIDA.20 Und auch bezogen auf die Bildungsabschlüsse trifft man bei PEGIDADemonstrant_innen „auf eine solide Mitte mit Realschulabschlüssen, insbesondere aber mit einem beachtlichen Teil von Universitäts- bzw. Fachhochschulabsolventen“.21 Sozialstrukturell sind die Demonstrant_innen also nicht direkt von Armut betroffen, im Gegenteil: die meisten der Befragten zeigen sich mit ihrer aktuellen wirtschaftlichen Situation zufrieden und sind nichtsdestotrotz besorgt, die gegenwärtige Politik könnte ihre gesellschaftlich Stellung gefährden. Abstiegsängste, nicht prekäre Verhältnisse bringen die Demonstrant_innen von PEGIDA auf die Straße. Ihr Misstrauen gilt dabei nahezu dem gesamten politischen Establishment. Laut einer Umfrage vom Januar 2015 misstrauen viele Demonstrant_innen von PEGIDA-Demonstrationen führenden Politiker_innen wie dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel, außerdem der Europäischen Union und öffentlich-rechtlichen Medien.22 Zwar befürworten sie mehrheitlich die Grundidee von Demokratie, nur 5% von ihnen können jedoch die Realität der Demokratie in der Bunderepublik gutheißen.23 Dem Populismusverständnis von Priester folgend würden sich die Teilnehmer_innen der PEGIDA-Demonstrationen also gerade dadurch als Populist_innen ausweisen, dass sie konservative Argumentationen bedienen und gegen einen Staat wettern, der ihnen ‚von oben herab‘ eine ‚Multikulti-Gesellschaft‘ als positive Utopie anpreist, während sie die Bedrohung der „christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur“ und eine unzureichende „Integration ins Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland [sic.]“ zu beobachten meinen.24 Während durch die Populismusdefinition von Priester vor allem die konservativen, antimodernistischen und staatskritischen Tendenzen der PEGIDA-Bewegung in 19 20 21 22 23

Pegida-Organisatoren 2014. Vgl. Vorländer u.a. 2015. Geiges u.a. 2015, S. 64. Vgl. ebd., S. 64. Achtundsiebzig Prozent der PEGIDA-Teilnehmerinnen befürworten die Grundidee von Demokratie. Der bundesdeutsche Durchschnitt liegt diesbezüglich bei 91 %. Im starken Kontrast zu den Teilnehmer_innen der PEGIDA-Demonstrationen zeigen sich im Durchschnitt die Hälfte der Bundesbürger mit der Demokratie und ihrer Funktionsfähigkeit zufrieden (Decker u.a. 2015). 24 Pegida-Organisatoren 2014.

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den Fokus rücken, können für eine inhaltliche Bestimmung von Rechtspopulismus noch weitere Merkmale festgestellt werden. Für die Studie Fragile Mitte – Feindselige Zustände wurde im Sommer 2014 eine telefonische Umfrage unter der deutschen Bevölkerung mit 2000 Teilnehmer_innen ab 16 Jahren durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass Rechtspopulismus in Deutschland im Kern vor allem durch „Fremdenfeindlichkeit, Abwertung von Muslimen, Asylsuchenden, sowie Sinti und Roma, Law-and-Order-Autoritarismus und Demokratiemisstrauen“ bestimmt ist, während Einstellungen wie „Antisemitismus, Homophobie, Sexismus, Nationalismus und Gewalt“ nur Teilweise mit aktuellen Erscheinungsformen von Rechtspopulismus verbunden sind.25 Christoph Butterwegge beschreibt denn auch vier idealtypische Themenfelder rechtspopulistischer Ideologien bzw. Strategien: (1) So würden diese sozialchauvinistisch gegen die Schwächsten der Gesellschaft hetzen und wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Ausgleichsmechanismen in Frage stellen. (2) Weiterhin sei ein Kriminalpopulismus verbreitet, der eine größere Härte der Justiz mit Straffälligen fordere (Law-And-Order-Politik). (3) Zudem äußere sich Rechtspopulismus in einem starken Nationalismus und einer damit einhergehenden Abwertung von Migrant_innen oder etwa ethnischen Minderheiten. (4) Schließlich stelle Rechtspopulismus in der Regel das politische System als solches in Frage26, eine Behauptung, die weiter untern noch einmal etwas genauer untersucht werden soll. Betrachtet man unter dieser inhaltlichen Bestimmung des Rechtspopulismus die 19 Punkte des Positionspapiers des Organisationsteams der PEGIDA-Dresden, so fallen einige Übereinstimmungen direkt ins Auge. So bedient der Punkt 7 mit seiner Forderung nach einer „Aufstockung der Mittel für die Polizei“ sowie der Punkt 9, der sich für eine „Null-Toleranz-Politik gegenüber straffällig gewordenen Asylbewerbern und Migranten“ einsetzt, das Klischee einer Law-And-Order-Politik. Aus Forderungen nach einer „Pflicht zur Integration ins Deutsche Grundgesetz“ oder einer „Ausschöpfung und Umsetzung der Vorhandenen Gesetze zum Thema Asyl und Abschiebung“ kann man m.E. nationalistische Tendenzen ablesen. Eine Kritik wohlfahrtsstaatlicher Ausgleichsmechanismen oder des politischen Systems als solchem finden sich in dem Programm der PEGIDA-Organisator_innen hingegen nicht. Folgt man also den Kriterien Butterwegges, so ist das Positionspapier der PEGIDA also teilweise rechtspopulistisch, zentrale Merkmale rechtspopulistischer Ideologien fehlen darin jedoch. Ein anderes Verständnis von Rechtspopulismus schlägt deshalb Michael Kohlstruck vor. In einer Untersuchung von Stellungnahmen (und zugleich Abgrenzungsversuchen) von NPD-Mitgliedern gegenüber rechtspopulistischen Parteien stellt er einen qualitativen und nicht nur graduellen Unterschied zwischen rechtspopulistischen und rechtsextremen Positionen fest. Während rechtspopulistische Positionen 25 Küpper u.a. 2015, S. 29. 26 Vgl. Butterwegge 2008, S. 43–45.

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‚nur‘ gegen das Establishment gerichtet seien und sich als Gegenstimme gegen eine politische Elite verstünden, im Wesentlichen aber an Regierungsbeteiligungen interessiert seien und keineswegs grundlegende Systemfragen aufwerfen würden, gehe es rechtsextremen Agitationen um eine Fundamentalopposition. Rechtsextreme Parteien sind fundamentaloppositionelle Parteien; ihr erklärtes Ziel ist die Beseitigung einer offenen Gesellschaft, des liberalen Rechtsstaates und der parlamentarischen Demokratie (Anti-System-Parteien). Rechtspopulistische Parteien richten sich gegen das etablierte Parteiensystem, gegen Korruption, gegen intransparente Absprachen im Herrschaftsapparat und gegen die Berufspolitiker bzw. die »politische Klasse« (AntiEstablishment-Parteien).27

Auch wenn sich die Ausführungen von Kohlstruck auf die Unterschiede zwischen rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien beziehen, ermöglicht sein Vorschlag ein präziseres Verständnis rechtspopulistischer Ideologien. Anders als etwa Butterwegges Charakterisierung nahelegt, zeichnen sich rechtspopulistische Argumentationen danach nicht durch eine Fundamentalopposition, sondern durch ihre Kritik am politischen Establishment aus. Den Begriff Rechtspopulismus müsse man Kohlstruck zu Folge deshalb für weniger extreme Positionen reservieren, wenn er meint: Rechtspopulismus als Protest zu verstehen, bedeutet, das Ressentiments und die Wut, die Rechtspopulisten formulieren und teilweise in Wahlergebnisse zu überführen imstande sind, als Gegenstimme zu verstehen; Gegenstimmen setzen keine eigenständige weltanschauliche Konzeption, keine konzeptiven Ideologien voraus; sie kanalisieren lediglich ein verbreitetes Unbehagen. Es ist gerade ein Kennzeichen rechtspopulistischer Parteien, daß sie die in diesem Unbehagen verbundenen ideologischen Fragmente nicht zu einer geschlossenen Weltanschauung zusammenfügen. Aus dieser inneren Abhängigkeit von den abgelehnten Zuständen und Verfasstheiten des politischen Systems sowie seiner Akteure und dem Fehlen einer selbstständigen weltanschaulichen Grundlage mit einer relativ gegnerunabhängigen Programmatik folgt eine inhaltlich viel engere und häufig auch unbestimmtere Zielvorstellung.28

Die Ausführungen Kohlstrucks scheinen sich in Anbetracht der Zusammensetzung des Klientels von PEGIDA-Demonstrationen zu bestätigen. So zeichnet sich das politische Profil der Demonstrationsteilnehmer_innen gerade durch eine relative Heterogenität aus, weswegen die Protestbewegung vom ‚GEZ-Gegner‘ bis zum ‚PutinVersteher‘ ein buntes Potpourri politischer Einstellungen zu mobilisieren vermag.29+30 Gerade diese Fähigkeit des Populismus, unterschiedliche Einzelpositionen äquivalent zu setzen und sie unter einem Banner vereinen zu können, lässt Laclau 27 28 29 30

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Kohlstruck 2008, S. 224. Kohlstruck 2008, S. 224. Vgl. etwa Vorländer u.a. 2015. Dass die PEGIDA-Demonstrationen unter anderem aus der Empörung gegenüber den deutschen Waffenlieferungen an syrische Kurden entstanden sind, ein politischer Anlass, der im

und Mouffe deshalb von der Idee abrücken, diesen vornehmlich inhaltlich zu bestimmen. Stattdessen versuchen sie, Populismus als eine politische Strategie zu begreifen.

2. Rechtspopulismus als politische Strategie Trotz der Vielfalt rechtspopulistischer Akteure und Bewegungen in Europa gibt es immer wieder versuche, einen gemeinsamen ideologischen Kern zu bestimmen. Zahlreiche Autor_innen kommen dabei zu dem Fazit, dass im Zentrum rechtspopulistischen Denkens die Unterscheidung zwischen einem „Volk“ und einer korrupten „Elite“ steht.31 Einer solchen Grundlegung des Populismusverständnisses, die sich letztendlich auf das formale Schema populistischer Politik stützt, folgt auch der Populismusbegriff von Laclau und Mouffe.32 Laclau und Mouffe ordnen konkrete politische Phänomene unter ein Grundverständnis des Politischen, wonach alle politischen Ereignisse Teil eines Kampfes um Bedeutungen und Ausgangspunkt für die permanente Verschiebung diskursiver Aussageformationen sind. Im Kampf um die Deutungsmacht streben diverse kollektive Akteure (nicht nur Klassen) nach Hegemonie, indem sie gemeinsame antagonistische Gegenpole konstituieren. Ein Antagonismus bezeichnet in der ursprünglichen Laclau`schen Theorie ein System, in welchem Differenzen zugunsten einem einzelnen differentiellen Element annulliert werden und eine Äquivalenz zwischen verschiedenen Positionen symbolisch hergestellt wird, die sich nur aufgrund der gemeinsamen Orientierung am Ausgeschlossenen stabilisiert.33+34 Laclau versucht mit der politischen Logik des Antagonismus gegen die essentialistische Fundierung des Marxismus zu argumentieren und die daraus abgeleitete Klassentheorie und den ökonomistischen Determinismus zu verwerfen. Das Politische zeichne sich gerade dadurch aus, dass es Antagonismen entstehen lasse und das Soziale sich dadurch immer wieder neu ordne.35 Das verbindende Element zwischen Mitgliedern einer politischen Formation sei, dass sie einen gemeinsamen Ausschluss erzeugten, nicht, dass sie durch essentielle, vordiskursive Eigenschaften gleich seien. Hegemonie entstehe

31 32 33 34

35

Punkt 15 des Grundsatzprogramms seinen Nachhall findet Pegida-Organisatoren 2014, unterstreicht den politischen Eklektizismus der entsprechenden Protagonisten. Vgl. etwa Rensmann 2006; Mudde 2004. Ansätze, die Populismus als einen Regierungsstil betrachten, gehen meist in die gleiche Richtung (siehe etwa Pfahl-Traughber 1994; Korte 2003; Puhle 2003; Jun 2006). Vgl. auch Marchart 2009. Dass eine solche Konstitution von Identität durch den imaginären Ausschluss, der Antagonismus also im äußersten Falle rein negativ bestimmt ist und im Extremfall im eigentlichen Scheitern der Symbolisierung münden muss, haben Laclau/Mouffe in Hegemonie und radikale Demokratie als „Subversion“ oder die „Grenze des Sozialen“ (Laclau & Mouffe 1991, S. 183ff.) und später „Dislozierung“ genannt (Laclau 1990). Vgl. etwa Laclau 1990, S. 160.

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daher durch die geschickte Bildung politischer Bündnisse und die Etablierung signifizierender Begriffe, welche sich im Prozess des politischen Kampfes zunehmend von Sinn entleerten. Was aber wäre in dieser Diktion des Politischen das Besondere einer populistischen Strategie? Für Laclau ist der Populismusbegriff zunächst von seiner Verwendung in den Medien zur Bezeichnung (und Verunglimpfung) rechter oder linker Positionen zu lösen. Populisten verstehen es – allgemein gesprochen – zahlreiche politische Forderungen („demands“) erfolgreich zu einer „Äquivalenzkette“ zu verknüpfen und sich gegenüber dem etablierten Institutionengefüge als eine antagonistische Konstellation zu behaupten.36 Laclau entwickelt bereits in Politik und Ideologie im Marxismus eine Theorie des Populismus, in der – beeinflusst durch Louis Althusser – Populismus als eine Anrufungspraxis verstanden wird.37+38 So führt er aus, dass dem Begriff der „Klasse“ auf der Ebene der Produktionsweise das „Volk“ auf der allgemeinen Ebene der „politischen und ideologischen Herrschaftsverhältnisse“ entspreche.39 Während sich Klassen durch die ideologische Anrufung unter dem Widerspruch von Kapital und Arbeit konstituieren würden (hier schließt Laclau direkt an Althusser an), würden „popular-demokratische Anrufung[en]“ das Volk als Gegenpol zum „Machtblock“ hervorbringen. Laclau meint, dass sozialistische Diskurse40 deshalb den Klassenkampf und den Kampf des Volkes ideologisch verdichten und ihrerseits jene popular-demokratischen Anrufungen entwickeln sollten, welche man bisher dem Faschismus überlassen habe.41 In dieser Forderung wird deutlich, dass der Populismus-Begriff von Laclau nicht für konkrete Bewegungen oder Ideologien reserviert ist, sondern für alle politischen Artikulationen Anwendung findet, in denen „popular-demokratische Elemente als antagonistische Option gegen die Ideolo36 Vgl. Laclau 2005. 37 Laclau 1981. 38 Sein Hintergedanke scheint dabei zu sein, der „marxistischen Linken eine strategische Empfehlung zu geben, nämlich: Hegemoniefähig wird sie nur, wenn sie nicht nur die numerisch abnehmende Arbeiterklasse anspricht, sondern sich auf eine Dialektik von Volk und Klasse einlässt“ (Priester 2007, S. 39). 39 Laclau 1981, S. 94. 40 Das Diskursive fasst Laclau folgendermaßen: „Unter dem »Diskursiven« verstehe ich nichts, was sich im engeren Sinne auf Texte bezieht, sondern das Ensemble der Phänomene gesellschaftlicher Sinnproduktion, das eine Gesellschaft als solche begründet. Hier geht es nicht darum, das Diskursive als eine Ebene oder Dimension des Sozialen aufzufassen, sondern als gleichbedeutend mit dem Sozialen als solchem (Laclau 1981, S. 176).“ Jon Beasley-Murray hat zu Recht darauf hingewiesen, das eine solche Aufdehnung des Bedeutungsgehalts dem Begriff letztlich jede analytische Schärfe nimmt. Er konstatiert dieses Problem für den gesamten Begriffsapparat von Laclau. Denn schließlich sei für Laclau das Soziale auch durch das Politische konstituiert, welches seinerseits durch hegemoniale Kämpfe geprägt sei, wobei Hegemonie zugleich die Logik des Populismus sei, kurz: Das Theoriegebäude von Laclau ist in sich auf eine geradezu hermetische Weise aufeinander bezogen, während seine Erklärungskraft in Fragen realer Machtkämpfe und institutionell vermittelter Politik eher dürftig ist, so Beasley (vgl. Beasley-Murray 2006). 41 Laclau 1981, S. 95f.; siehe auch Laclau 2006.

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gie des herrschenden Blocks präsentiert werden“.42+43 In seinem 2005 veröffentlichten Buch On populist reason knüpft er an diese Grundidee an: Populismus zeichne sich nicht dadurch aus, dass er irgendwelche Ideologien zum Ausdruck bringe, sondern dadurch, dass er das soziale Feld vereinfache und in zwei getrennte Lager unterteile. Die unterschiedlichsten ideologischen und politischen Positionen würden durch populistische Agitationen gegenüber einem antagonistischen Machtblock, dem „Institutionellen System“44 oder dem „Institutionalisierten »Anderen«“45 vereint [Übersetzung S.B.].46 Bei Laclau ist das „Volk“ jener kollektive Akteur, der „eine Vielzahl von Forderungen um einen Knotenpunkt oder leeren Signifikanten“ herum zu versammeln weiß.47 In On Populist Reason wird das Volk als etwas verstanden, das weder im Begriff der Bevölkerung aufgeht, noch eine bloße Teilmenge dieser darstellt, sondern partikulare Elemente als Allgemeines inszeniert.48 Dieser Populismusdefinition von Laclau folgend überrascht es nicht, wenn Rechtspopulisten mit der Proklamation eines ‚Volkes‘ auf die Straße gehen, im Gegenteil: gerade dadurch, dass auf den Demonstrationen der PEGIDA die Losung ‚Wir sind das Volk‘ eine neue Konjunktur erfährt, rechtfertigt die Bezeichnung der Protestbewegung als populistisch. Die Parole, die in der Hochphase der Montagsdemonstrationen 1989/90 ein zentrales identitätsstiftendes Element bildete und im kollektiven Bewusstsein eng mit den Protesten in Leipzig und dem politischen Umbruch der Wendezeit verknüpft ist, wird seit 2014 wieder bei PEGIDA-Demonstrationen und bei Angriffen auf Asylbe42 Ebd., S. 151. 43 Populistische Agitationen haben in der Populismustheorie von Laclau zur notwendigen Bedingung, popular-demokratische Anrufungen zu formulieren (also für das „Volk“ sprechen zu wollen, eine Überlegung, die er von Gramscis Hegemonietheorie übernimmt), sie müssen sich aber darüber hinaus als „der herrschenden Ideologie antagonistisch gegenüberstehende[r] Komplex“ behaupten (Laclau 1981, S. 151). Für Laclau ist ein Populismus, der lediglich die Ablösung der herrschenden Elite fordert, ohne die Stellung des Staates und die bestehenden Machtverhältnisse in Frage zu stellen, faschistisch (ebd., S. 174), während „die höchste und radikalste Form des Populismus [Hervorhebung i. Orig.]“ die Abschaffung des Staates selbst fordere (ebd., S. 173). Für Laclau wird diese Forderung in jener sozialistischen Strategie artikuliert, die sowohl den Klassenkonflikt als auch den Widerspruch zwischen „Volk“ und „Machtblock“ aufzuheben fordert. Unklar bleibt indes, ob eine „Sozialistische Hegemonie“ (ebd., S. 173) in der Praxis die Abschaffung des Staates oder seine Reartikulation bedeutet. 44 Laclau 2005, S. 73. 45 Ebd., S. 117. 46 Sie halte in der Konsequenz ein „linkspopulistisches“ Pendant bereit, das nur noch bei Gelegenheit durch Parteien oder Personen zu besetzen sei. Für Europa, so die diskursanalytische Diagnose von Link, sei der Populismusbegriff nicht für den Antagonismus zwischen der reichen Elite und dem armen Volk reserviert, sondern immer auf die symmetrisch gedachte „Links-Rechts-Mitte-Extreme-Topik“ bezogen (Link 2008). Link bemerkt deshalb, dass der umfassend angelegte Populismusbegriff von Laclau zu sehr an den kulturellen und geschichtlichen Umständen in Südamerika orientiert und für europäische Gesellschaften nur eingeschränkt brauchbar sei (Link 2008, S. 25). 47 Laclau 2007, S. 36f. 48 Laclau 2005, S. 93ff.; siehe auch Laclau in Butler u.a. 2013.

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werber_innen und Geflüchtete verwendet. Sie gründet in der Idee der Volkssouveränität, die mit dem Passus „Alle Macht geht vom Volke aus […]“ (GG, Art. 20 (2)) auch im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert ist und bereits auf die Weimarer Verfassung von 1919 zurückgeht.49 Zugleich verweist sie auf die Idee, dass diejenigen, die die Parole skandieren, dazu berechtigt seien, für ein Volk zu sprechen, während anderen diese Erlaubnis aberkannt wird. Aber wie wird diese Konstruktion eines Volkes bei PEGIDA-Demonstrationen heute geleistet und wer wird aus dem Kollektivsubjekt ausgeschlossen?50 Am 2. März 2015 trugen Teilnehmer_innen eines Demonstrationszuges von PEGIDADresden ein Banner mit der Aufschrift: WIR-NUR WIR SIND DAS VOLK-UND GEBEN NUN DEN TAKT AN! IHR DORT OBEN-HEUCHLER-LÜGNER-VATERLANDSBETRÜGER UNSER ANFANG MIT PEGIDA LÄUTET EUER ENDE EIN!

Die Aufschrift unterstreicht, dass die Volkszugehörigkeit ein Exklusivrecht ist, das andere explizit ausschließt. An der Parole lässt sich aber auch der feine Unterschied zwischen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus veranschaulichen. Während die Parole ‚Wir sind das Volk‘ gegen Flüchtlinge gerichtet eine rassistische Grenzziehung zwischen Deutsch/Nicht-Deutsch artikuliert und in der Tradition des Schlachtrufs ‚Ausländer raus!‘ den territorialen Ausschluss fordert, richtet sich das oben zitierte Transparent vielmehr gegen die Eliten und versucht, das Volk als politisches Kollektiv neu zu konstituieren. Das Volk ist dabei nicht identisch mit der nominalen Bevölkerung. Stattdessen bezieht sich der Begriff auf ein angebliches Wertekollektiv, das Anspruch auf die politische und kulturelle Hegemonie erhebt. Laclau weist zu Recht darauf hin, dass das im Populismus konstituierte Volk nicht zwangsläufig der vollständigen Verbannung von Minderheiten bedarf. Unabdingbar für die populistische Hegemonie sei hingegen die marginalisierte Stellung der entsprechenden Minderheiten: The ‘other’ opposed is external, not internal, to the community. The ethnic principle establishes from the very outset which elements can enter into the equivalential chain. [...] Minorities can exist within the territory thus defined, but [197] marginality has to be their permanent condition.51

Das Banner scheint zum Ausdruck bringen zu wollen, dass sich ein verfehltes Verständnis des Volkes verbreitet habe, da die Formulierung „Wir-Nur Wir sind das Volk“ unterstellt, es gäbe Ansichten über die Volkszugehörigkeit, die breiter gefasst sind. Damit knüpfen die Demonstrant_innen möglicherweise an eine Debatte an, die 49 Art. 1: „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ 50 Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich teilweise auf einen Vortrag von Hannes Glück unter dem Titel Das unmögliche Volk. Kollektivsubjekte bei Rancière und Laclau (Glück 2016). Das Manuskript wurde dem Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt. 51 Laclau 2005, S. 196f.

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spätestens mit der Rede des Bundespräsidenten Christian Wulff am 03.10.2010 zum Jahrestag der deutschen Einheit in Deutschland ungebrochen ist. Als Wulff damals sagte, „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“52, reagierte er unter Anderem auf die aufgeheizte Diskussion um Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab. Sarrazin beschrieb darin die Zuwanderung aus muslimischen Ländern als Problemszenario53 und avancierte dadurch zur Galionsfigur all jener, die sich um die kulturelle Hegemonie in Deutschland sorgen. Die Formulierung „Wir – Nur Wir sind das Volk“ nimmt diesen Faden auf, indem sie etwas aus dem Volk auszuschließen versucht. Die Demonstrant_innen behaupten ihre Partikularität als Allgemeines, indem sie sich als Volk bezeichnen und sie unterstellen eine innere Homogenität (Äquivalenz), da „nur“ sie das Volk seien. Das Volk, das durch sie repräsentiert werden soll, konstituiert sich durch einen Ausschluss, den die herrschenden Eliten angeblich nicht anerkennen. Im zweiten Satz werden denen ‚da oben‘ deshalb Eigenschaften angehängt, die sie als Vertreter_innen des Volkes disqualifizieren. Die Attribute „Heuchler-Lügner-Vaterlandsbetrüger“ weisen in die gleiche Richtung und unterstellen, dass die bestehenden Eliten vor allem Unwahrheiten verbreiten würden. Die Vormachtstellung der Eliten, so prophezeit es der letzte Satz des Banners, werde durch das Volk, dass mit der PEGIDA-Demonstration seinen Anfang nehme, schließlich gebrochen, d.h. es beseitige die heuchelnden, lügenden und betrügenden Eliten. Zugleich unterstreicht das Banner den Anspruch auf kulturelle und politische Hegemonie, indem es eine völkische Identität durch den Ausschluss des Islam diskursiv zu stabilisieren versucht.54+55

3. Populismus und radikale Demokratie Die Populismustheorie von Laclau und Mouffe zeigt also die politische Strategie des Populismus auf, ohne ihn als konkrete Ideologie zugleich zu diskreditieren. Stattdessen richtet sie ihr Augenmerk darauf, inwiefern es Protestbewegungen und politi52 53 54 55

Wulff 2010. Vgl. Sarrazin 2010. Vgl. dazu auch Yilmaz 2016. Am Positionspapier der PEGIDA und dem von ihm geforderten Umgang mit Asylsuchenden wird dieses Prinzip des Völkischen im Populismus abermals deutlich. So spricht sich der Punkt 1 „für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und politisch oder religiös Verfolgten“ aus und auch die Punkte 3, 5 und 6 folgen einem eher humanistischen Ansatz, wenn sie sich gegen Ghettoisierung, für eine bessere soziale Betreuung von Geflüchteten und für schnellere Asylverfahren aussprechen (Pegida-Organisatoren 2014). Zugleich müssen sich Geflüchtete aber marginalisieren, um bleiben zu dürfen. Die kulturelle Vormachtstellung des Volkes, seiner sogenannten „christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur“ solle geschützt werden, dann habe man auch nichts gegen sich „integrierende Muslime“ (ebd.).

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sche Strömungen tatsächlich verstehen, hegemoniefähige Forderungen zu stellen und verhärtete Machtkonstellationen aufzubrechen. Im Anschluss an Mouffe sollen abschließend einige Überlegungen entwickelt werden, in welchem Verhältnis populistische Protestbewegungen zur Idee radikaler Demokratie stehen. In The Democratic Paradox56 aber auch in anderen Arbeiten wie etwa On the Political57oder Agonistics58 arbeitet Mouffe die Konsequenzen für die Praxis der Demokratie heraus, die aus ihrer Konzeption des Politischen resultieren. Wenn der Antagonismus zum Grundprinzip des Politischen gehöre und die grundlegende Möglichkeit der Freund-Feind-Unterscheidung unüberwindbar sei, so bestehe eine demokratische Politik darin, den Antagonismus in einen ‚gezähmten‘ Agonismus zu überführen und die „Wir-Sie-Unterscheidung“ lebendig zu halten, anstatt sie überwinden zu wollen. 59 Mouffe geht davon aus, dass politische Identitäten sich notwendig relational konstituieren und folgerichtig immer von einem „konstitutiven Außerhalb“ abhängen. Anders als Carl Schmitt glaubt sie nicht, dass die Wir-Sie-Beziehung zwangsläufig eine antagonistische Form annehmen müsse. Stattdessen sei es das Ziel demokratischer Politik, den politischen Gegner nicht als Feind zu vernichten, sondern als legitime Konfliktpartei auf der politischen Bühne zu bekämpfen. Mouffe moniert, in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften gäbe es keine wirkliche Alternative mehr.60 Sie stellt fest, dass im Liberalismus politische Konflikte viel zu oft moralisiert und dadurch von der ernsthaften politischen Debatte suspendiert würden.61 Die moralische Dämonisierung rechter Agitationen schließe diese aus dem politischen Konflikt aus und stärke sie dadurch insgeheim. Mouffe setzt sich dagegen für ein Verständnis demokratischer Gesellschaften ein, in dem Antagonismen eine wichtige Stellung einnehmen und in welchem die Artikulation „grundlegende[r] Meinungsverschiedenheiten“ eine Möglichkeit, nicht das zu Überwindende, ist.62 Diesem Verständnis gemäß fordert sie einen „agonistischen Pluralismus“63 und versucht diesen gegenüber liberalen Demokratietheorien in Stellung zu bringen, wenn sie sagt: Im liberalen Szenario werden politische Akteure als rationale Individuen betrachtet, die nur in ihrem Eigeninteresse handeln [Kritik des ökonomistisch verkürzten Blickwinkels] – bestenfalls eingeschränkt durch Moralität [Kritik eines Vorrangs der Ethik im Verständnis des Politischen]. Das von den Leidenschaften gesäuberte Reich der Politik wird als Feld konkurrierender Interessen konzipiert. Weil es die Gegebenheiten des Antago-

56 57 58 59 60 61 62 63

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Mouffe 2000. Mouffe 2011. Mouffe 2013. Vgl. etwa Mouffe 2007b, S. 22. Mouffe 2007a; Mouffe 2007b, S. 10. Mouffe 2007b, S. 97. Vgl. Mouffe 2007a. Ebd., S. 41.

nismus grundsätzlich leugnet, kann auch die Dynamik von dessen möglichen Erscheinungsformen von einem derartigen Ansatz nicht erfasst werden.64

Sie greift damit auch das Modell einer befriedeten Zivilgesellschaft an, wie es von Habermas vorgedacht und in Deutschland zum Vorbild politischer Kommunikation und Partizipation geworden ist. In der Habermas`schen Vision „deliberativer Demokratie“ gehe es darum, soziale Beziehungen möglichst wenig durch Macht und stattdessen auf Basis rationaler Argumente zu konstituieren. Mouffe sieht im liberal-demokratischen Politikverständnis dagegen eine Ursache der Politikverdrossenheit und der wachsenden judikativen Macht, welche vormals politische Fragen durch Gesetze zu klären versuche und das Rechtssystem dazu missbrauche, soziale und gesellschaftliche Beziehungen zu regeln, die eigentlich politisch geregelt werden müssten.65 Während der Bedeutungszuwachs der Judikative nur vordergründig dazu diene, politische Macht zu beschränken, tatsächlich hingegen die Politik als solche schwäche, fordert Mouffe, dass es nicht darum gehen könne, Macht zu eliminieren, sondern „Formen der Macht [zu] schaffen […], die mit demokratischen Werten vereinbar“66 seien. Die Kompromissorientierung der gegenwärtigen Politik verkläre dagegen die eigentliche Natur des politischen Konflikts; Kompromisse, als „vorübergehende Ruhepausen angesichts einer fortdauernden Konfrontation“67, sind im Verständnis von Mouffe nicht das eigentliche Ziel.68 Deshalb argumentiert Mouffe dafür, die Opposition von Links und Rechts in der Politik lebendig zu halten. Sie vermutet, dass das Verschwimmen der Grenzen zwischen linker und rechter Politik dem Siegeszug des Neoliberalismus und einem zu starken Konsensstreben der demokratischen Parteien anzulasten sei. Das erstarken rechtspopulistischer „Anti-Establishment-Parteien“ und der Bedeutungszuwachs „ethnischer, religiöser oder nationalistischer“ Identifikationen liegt für sie in der Schwächung der politischen Alternativen innerhalb des etablierten Parteienspektrums begründet.69 So betont Mouffe auch die Rolle der »Leidenschaften« für die Entstehung politischer Identitäten und die jeweilige Form politischer Kämpfe. Eine Repolitisierung der Bevölkerung, so vermutet sie, bedürfe einer Wiedereinführung politischer Leidenschaft und eine Ab-

64 65 66 67 68

Ebd., S. 42. Ebd., S. 46f. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Das Plädoyer von Mouffe begründet sich dabei nur zum Teil aus ihrem theoretischen Verständnis von Politik als agonistischem Kampfplatz, sondern ist gerade weil sie diese theoretische Idee in der Praxis selten mustergültig verwirklicht sieht, immer auch eine normative Forderung. Dass wissenschaftliche Beschreibung und normative Forderungen bei Laclau wie auch bei Mouffe kaum voneinander zu trennen sind, wird etwa von Priester zu Recht kritisch angemerkt (Priester 2014). 69 Mouffe 2007a, S. 48f.; siehe auch Mouffe 2007b, S. 42ff.

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kehr vom Ideal des politischen Konsens und der Idee streng rationaler Lösungsfindung.70 Bezogen auf die Protestbewegung im Umfeld der PEGIDA und auch gegenüber rechtspopulistischen Parteien erlaubt ein solches Verständnis radikaler Demokratie, diese als politischen Gegner anerkennen zu können ohne dadurch zugleich den politischen Schulterschluss zu bemühen. Die Idee radikaler Demokratie fordert eine Politik, in der möglichst viele Akteure zu legitimen Gegnern werden und die unter dem leeren Signifikanten des „demokratisch-egalitären Imaginären“71 auch politische Randgruppen und Minderheiten an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen teilhaben lässt.72 Zu bekämpfen sind politische Forderungen im Anschluss an Laclau und Mouffe nicht, sobald sie populistisch sind, sondern dort, wo sie das Feld des Politischen einengen und bestimmte Themen aus der demokratischen Debatte auszuschließen versuchen. Dass die PEGIDA spätestens seit Herbst 2015 zunehmend als offen rassistische, flüchtlings- und islamfeindliche Bewegung in Erscheinung tritt, zeigt deshalb die antidemokratischen Tendenzen an, welche dem Rechtspopulismus im Kern anhaften und ihn problemlos ins Rechtsextreme kippen lassen.

Literatur Alternative für Deutschland, 2014: Programm der Alternative für Deutschland (AfD) für die Wahl zum Europäischen Parlament am 25. Mai 2014, Abgerufen von: https://www.alternat ivefuer.de/wp-content/uploads/sites/7/2014/03/Europaprogramm-der-AfD.pdf, (17.11.2016) Beasley-Murray, Jon, 2006: Review of Ernesto Laclau, On Populist Reason, and Franciso Panizza, Populism and the Mirror of Democracy. In: Contemporary Political Theory, 5, S. 362–367. Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott, 1994: Reflexive Modernization. Politics, Tradition and Aesthetics in the Modern Social Order. Stanford. Butler, Judith, 2013 [2000]: Dynamische Konklusionen. In: Kontingenz, Hegemonie, Universalität: aktuelle Dialoge zur Linken. Wien, S. 325–348. Butler, Judith/Laclau, Ernesto/Žižek, Slavoj, 2013 [2000]: Kontingenz, Hegemonie, Universalität: aktuelle Dialoge zur Linken. Wien.

70 Vgl. Mouffe 2007b. 71 Laclau & Mouffe 1991, S. 229. 72 Auf der anderen Seite umfasst die Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe Überlegungen zum Populismus und zur affektiven Aufladung von Politik, welche gegenüber diesem Anspruch in einem interessanten Spannungsverhältnis stehen. Wo etwa Kollektive ihr Hegemoniestreben an die Konstitution eines „Volkes“ knüpfen, eine politische Strategie, die zumindest für Laclau für die Etablierung einer Hegemonie unabdingbar zu sein scheint, wird ihr Gebaren notwendig antidemokratisch. Radikale Demokratie muss deshalb immer zukunftsbezogen und als Inkommensurabel mit ihrer tatsächlichen Verwirklichung gedacht werden (vgl. etwa Butler 2013).

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Joscha Wullweber Staat und Ökonomie als Diskursformationen

Einleitung Ziel des vorliegenden Artikels ist es, einen diskurs- und hegemonietheoretischen Analyserahmen zu skizzieren, der Staat und Ökonomie als Diskursformationen konzeptualisiert. Hierfür wird neben den Arbeiten von Laclau selbst sowohl auf Gramsci als auch auf regulationstheoretische Arbeiten zurückgegriffen. Laclaus theoretischen Überlegungen fußen zu einem nicht unbedeutenden Teil auf den Arbeiten Gramscis. Dessen Hegemoniebegriff bietet eine gute Grundlage für eine diskurstheoretische Hegemonietheorie, da dieser erstens die Bedeutung der Akteure in der Herstellung von Machtverhältnissen hervorhebt, zweitens die Veränderung der Subjekte im hegemonialen Prozess unterstreicht und drittens die Selektivität der sich historisch verstetigten gesellschaftlichen Verhältnisse betont. Stark methodisch vorgehenden Diskursanalysen gerät bisweilen die politische Dimension gesellschaftlicher Strukturierungen aus dem Blick. Mit Gramsci ist es möglich, gesellschaftliche Verstetigungen von einem explizit politischen Standpunkt aus zu betrachten. Eine dekonstruktive Rückbesinnung auf Teile von Gramscis Arbeiten rückt das Ringen um hegemoniale Diskursformationen stärker ins Zentrum der Analyse. Für eine diskurstheoretische Analyse ökonomischer Strukturen bietet sich die Regulationstheorie aus verschiedenen Gründen an. Erstens liefert sie die theoretischen Werkzeuge zur Analyse konkreter, auf profitorientierter und marktwirtschaftlich organisierter – kurz: kapitalistischer – Produktionsweisen. Zweitens begreift sie sozioökonomische Konstellationen als spezifische und prekäre raumzeitliche Stabilisierungen, ist also offen für die Theoretisierung historischer sozio-ökonomischer Veränderungen. Und drittens ist die Regulationstheorie – wie noch zu zeigen ist – durch Dekonstruktion bestimmter essentialistischer Momente mit einer poststrukturalistischen und hegemonietheoretischen Ontologie vereinbar. Der Beitrag beginnt mit der Erläuterung von Gramscis Arbeiten zu Hegemonie, Staat und Gesellschaft. Anschließend erfolgt die Auseinandersetzung mit der Regulationstheorie. Aufbauend auf diesen theoretischen Grundlagen erfolgt in den folgenden Abschnitten der Versuch der Ausarbeitung einer diskurs- und hegemonietheoretischen Konzeptualisierung von Staat, Ökonomie und Gesellschaft.

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Staat Das Ringen um Hegemonie beinhaltet für Gramsci die erfolgreiche Artikulation des Staates, im engen Sinne verstanden als politische Gesellschaft, zusammen mit der Zivilgesellschaft zu einem integralen Staat: „For Gramsci [...] the only universality that society can achieve is a hegemonic universality – a universality contaminated by particularity.“1 Dieser Moment der Universalität ist ein politischer Moment und drückt nicht etwa eine der Gesellschaft zugrunde liegende Essenz aus. In der Theoretisierung des Staates folgt Gramsci Marx, indem er die Zivilgesellschaft und nicht – wie Hegel – den Staat als das Zentrum der sozialen Auseinandersetzungen bzw. historischen Entwicklung versteht: „Es zeigt sich schon hier, daß diese bürgerliche Gesellschaft der wahre Herd und Schauplatz aller Geschichte ist, und wie widersinnig die bisherige, die wirklichen Verhältnisse vernachlässigende Geschichtsauffassung mit ihrer Beschränkung auf hochtönende Haupt- und Staatsaktionen ist.“2 Andererseits ist für Gramsci die Zivilgesellschaft, wie bei Hegel, Teil des Überbaus und nicht, wie bei Marx, ein strukturelles Moment (der Basis). Gramsci kehrt also die klassische marxistische Hierarchie zwischen Staat und Ökonomie um.3 Allerdings nicht dahingehend, dass der Staat nun die Ökonomie determinieren würde. Vielmehr reicht die Übernahme der Staatsmacht nicht aus: Gramsci sieht als wichtigsten Punkt im Ringen um Hegemonie die Transformation die Interessen einer politischen Gruppe in den Staat.4 Während Gramsci den Staat als Herrschaftsinstrument der führenden gesellschaftlichen Gruppe ansieht – und nicht, wie Hegel, als Produkt der Vernunft, als Ratio der Gesellschaft – folgt er gleichzeitig einer hegelianischen Sichtweise von Zivilgesellschaft, indem er diese, im Gegensatz zu Marx, nicht als Teil der Ökonomie sieht.5 Unter Zivilgesellschaft versteht er ein Ensemble von Institutionen, die häufig zur Sphäre des Privaten gezählt werden: Familie, Vereine, Kirche usw. Bei Gramsci existieren daher nicht zwei gesellschaftliche Ebenen (Basis/ Überbau, d.h. die politische Ökonomie und der Staat), sondern drei Dimensionen: Staat, Zivilgesellschaft und Ökonomie. Dies kann bisweilen Verwirrung stiften, denn in einigen Passagen rechnet Gramsci die Zivilgesellschaft zum – nun verdoppelten – Überbau: „Vorläufig lassen sich zwei große superstrukturelle ‚Ebenen‘ festlegen – diejenige, die man die Ebene der ‚Zivilgesellschaft‘ nennen kann [...] und diejenige der ‚politischen Ge1 2 3 4 5

Laclau 2000a, S. 51, Herv.i.O. Marx 1969, S. 36. Vgl. Bobbio 1979, S. 30. Gramsci 1971, S. 52. Marx schreibt in diesem Zusammenhang: „Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen ... in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel [...] unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei“ (Marx 1971, S. 8).

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sellschaft oder des Staates‘.“6 Insbesondere gehen Staat und Zivilgesellschaft fließend ineinander über: Gramsci betont, „daß in den allgemeinen Staatsbegriff Elemente eingehen, die dem Begriff der Zivilgesellschaft zuzuschreiben sind (in dem Sinne könnte man sagen, daß Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft ...).“7 Sowohl Staat als auch Zivilgesellschaft haben bei Gramsci einen politischen Charakter, innerhalb derer Auseinandersetzungen stattfinden. Wichtig ist allerdings, dass die Unterscheidung zwischen Staat und Zivilgesellschaft bei Gramsci nicht auf natürlichen Grenzen basiert, sondern methodisch angeleitet ist.8 Letztlich konstituiert sich die Zivilgesellschaft als politischer Raum, weswegen auch Laclau schlussfolgert: „[T]he construction of the apparatuses of hegemony had to cut across the distinction between public and private.“9 Auf dem Terrain der Ökonomie finden ebenfalls hegemoniale Auseinandersetzungen statt. Ein gefestigtes Ensemble aus Staat, Zivilgesellschaft und Ökonomie nennt Gramsci einen historischen Block.10 Unter Hegemonie versteht Gramsci mehr als ein politisches Bündnis der dominanten Gruppen. Hegemonie ist dann erlangt, wenn eine bestimmte Partikularität – im Sinne einer bestimmten Ideologie11 – universal wird, „bringing about not only a unison of economic and political aims, but also intellectual and moral unity.“12 Das ist nach Gramsci nur möglich, wenn eine soziale Gruppe „becomes aware that one‘s own corporate interests, in their present and future development, transcends the corporate limits of the purely economic class, and can und must become the interests of other subordinate groups too.“13 Das Ringen um Hegemonie „rages not on a corporate but on a ‚universal‘ plane, and thus creating the hegemony of a fundamental social group over a series of subordinate groups.“14 Die hegemoniale Gruppe muss daher die Interessen anderer gesellschaftlicher Gruppen aufnehmen und ein kompromisshaftes Gleichgewicht schaffen, indem bestimmte Konzessionen gemacht werden. Die Geschichte des Staates kann in diesem Licht verstanden werden als „a continuous process of formation and superseding of unstable equilibria [...] between the interests of the fundamental group and those of the subordinate groups – equilibria in which the interests of the dominant group prevail, but only up to a certain point, i.e. stopping short of narrowly corporate economic interests.“15 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Gramsci 1991, S. 1502. Gramsci 1991, S. 783. Vgl. Gramsci 1971, S. 160. Laclau 2000a, S. 51. Vgl. Gramsci 1971, S. 366. Unter Ideologie wird hier allgemein der Versuch der Schließung einer Gesellschaft auf der Basis bestimmter Bedeutungsketten bei gleichzeitiger Nichtanerkennung der Existenz von Alternativen verstanden (vgl. Laclau 1990, S. 92). Gramsci 1971, S. 181. Ebd. Ebd., S. 182. Ebd.

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In diese Form von Hegemonie nicht integrierbare Interessen und Identitäten müssen, notfalls mit Gewalt, unterdrückt oder ausgeschlossen werden. Eine räumlichhistorische Hegemonie ist daher „gepanzert durch Zwang“16, „zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus.“17 Es handelt sich um die Erlangung einer stabilen Situation, in der bestimmte politische Gruppen in der Lage sind, ihre Interessen in einer Art und Weise zu artikulieren, dass die anderen gesellschaftlichen Gruppen diese Interessen als ein Allgemeininteresse ansehen – Hegemonie im Sinne eines aktiven Konsenses der Regierten. Diese Konzeptualisierung von Hegemonie beinhaltet eine Auffassung von Macht, die vor allem auf der Fähigkeit beruht, die Interessen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe als politische, kulturelle und sozio-ökonomische Struktur zu universalisieren: „for though hegemony is ethicalpolitical, it must also be economic.“18 Eine herrschende Gruppe ist hegemonial, wenn ihre Autorität von den anderen sozialen Gruppen anerkannt wird. Eine Hegemonie ist umso stabiler, je mehr sie nicht nur passiv toleriert, sondern auch aktiv unterstützt wird. Interessanterweise findet sich bei Gramsci das Theorem der Katachresis19, das dem später von Foucault entwickelten Begriff der Gouvernementalität ähnelt. Gramsci geht davon aus, dass Subjekte durch ideologische Praxis konstruiert sind und sich durch politische Prozesse verändern. Der hegemoniale Prozess ist demnach keine Auseinandersetzung zwischen feststehenden Identitäten, sondern beinhaltet immer auch die Produktion neuer (kollektiver) Identitäten. Mehr noch: Er ist ein Ringen um die hegemoniale Produktion von Identitäten. Der hegemoniale Kollektivwille steht den Individuen der Gesellschaft nicht gegenüber, im Sinne einer Entfremdung von den eigentlichen Interessen, sondern ist, in diesem historischen Moment, Ausdruck der Interessen zumindest eines großen Teils der Bevölkerung. Bei der expansiven Hegemonie handelt es sich daher nicht um das Wirken einer externen Macht: „Structure ceases to be an external force which crushes man, assimilates him to itself and make him passive.“20 Eine erfolgreich installierte Hegemonie entwickelt vielmehr eine produktive Kraft: „[It] is transformed into a means of freedom, an instrument to create a new ethico-political form and a source of new initiatives.“21 Eine politische Dimension ist demnach konstitutiv für jede soziale Identität.22

16 17 18 19

Gramsci 1991, S. 783. Ebd., S. 1610. Gramsci 1971, S. 161. Katachresis ist eine rhetorische Figur, die sowohl im Sinne einer widersprüchlichen Verbindung verschiedener Elemente zu einer Einheit als auch im Sinne einer extremen emotionalen Veränderung infolge veränderter Lebensumstände verstanden werden kann (vgl. ebd., S. 366f.). 20 Ebd., S. 367. 21 Ebd., S. 367. 22 Vgl. Laclau 2000a, S. 53.

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Ökonomie Die Unterscheidung zwischen Staat, Ökonomie und Gesellschaft basiert nicht auf natürlich gegebenen Grenzen, sondern auf einer Differenzierung, die Resultat soziopolitischer Entwicklungen ist. Gramsci hob diesen Punkt durch den Begriff des integralen Staates hervor, der durch Jessop durch den Begriff der integralen Ökonomie ergänzt wurde. 23 Denn auch die Ökonomie ist keine separate Sphäre, da der integrale Staat „is acting essentially on economic forces, reorganizing and developing the apparatus of economic production, creating a new structure.“24 Insgesamt verschwimmen die Grenzen zwischen Staat, Gesellschaft und Ökonomie, es gibt kein Zentrum und kein Bereich ist a priori den anderen gegenüber privilegiert: „If the state, defined as the ethico-political moment of society, does not constitute an instance within a topography, then it is impossible simply to identify it with the public sphere. If civil society, conceived as a site of private organizations, is itself the locus of ethico-political effects, its relation with the state as a public instance becomes blurred.“25 Die Regulationstheorie, deren Grundsteine vor allem von Aglietta , Boyer und Lipietz gelegt wurden und die u.a. auf der Kritik des strukturellen Marxismus‘ Althussers basiert, hat sich zum Ziel gesetzt, die Veränderungsprozesse der, nach Ansicht der Regulationstheorie, potenziell krisenhaften kapitalistischen Gesellschaften und deren Formen fortwährender Stabilisierungsarbeit zu beschreiben.26 An dieser Stelle wird auf diejenigen Ansätze der Regulationstheorie rekurriert, die von der Grundannahme ausgehen, dass diese Entwicklung analytisch durch eine Abfolge voneinander unterscheidbarer Phasen differenziert werden kann. Allerdings sollten diese nicht als objektive Beschreibungen und auch nicht als stabile, in sich geschlossen Phasen verstanden werden. So führt Görg aus, dass „institutionelle Konfigurationen niemals statisch sind [und] selbst als gültige Orientierungsmuster sozialen Kämpfen immer nur ein kompromißhaft stabilisiertes Terrain vorgeben.“27

23 24 25 26

Jessop 2007, S. 24. Gramsci 1971, S. 247. Laclau 2000a, S. 50. Aglietta 1979; Boyer 1990; Lipietz 1987. Die ursprünglichen Ansätze der Regulationstheorie sind auf vielen Ebenen weiterentwickelt worden. Jessop (2006, S. 13ff.) unterscheidet sieben verschiedene Schulen innerhalb der Regulationstheorie. Ob es sich um eine einheitliche Theorie oder eher um einen Ansatz der Regulation handelt, ist in Anbetracht der thematischen wie konzeptionellen Vielfalt der Publikationen strittig. 27 Görg 1995, S. 631. Wenn Görg (ebd., S. 641) allerdings darauf beharrt, dass sich kapitalistische Verhältnisse vom Konsens und dem Alltagsgewohnheiten der Individuen abgelöst hätten, kann diesem hier nur insofern gefolgt werden, als dass sedimentierte Strukturen erst wieder reaktiviert und damit politisiert werden müssen, um ihren kontingenten und damit veränderbaren Charakter zu offenbaren. Zu einer wirklichen Ablösung kommt es nach dem hier verfolgten theoretischen Ansatz allerdings nicht, denn Strukturen und Institutionen reproduzieren sich allein über das (Alltags-)Handeln der Subjekte.

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Bei der Verwendung der Regulationstheorie muss ein Objektivitätsüberhang der Konzepte vermieden werden. Das bedeutet, dass z.B. der Fordismus nur als Idealtypus und damit als Metapher existiert, und diese Metapher bestimmte empirische sozio-ökonomische Zusammenhänge in einer bestimmten raumzeitlich spezifischen Entwicklung innerhalb eines historischen Kontinuums beschreibt. Das heißt auch, dass es immer beliebig viele Möglichkeiten der Eingrenzung historischer Perioden gibt, denn „there is no one best periodization: appropriate criteria vary with theoretical and practical purpose.“28 Aus diesen Typisierungen können jedoch keine konkreten sozio-ökonomischen Begebenheiten einer bestimmten Ökonomie zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeleitet werden. Für eine hegemonie- und diskurstheoretische Analyse ökonomischer Strukturen ist die Regulationstheorie auch deshalb verwendbar, da sie die Annahmen der klassischen bzw. der neo-klassischen Ökonomie, dafür kritisiert, dass diese meinen, einzelne, transhistorische Mechanismen der ökonomischen Entwicklung identifizieren zu können. Auch wird im Gegensatz zur neo-klassischen Ökonomie nicht davon ausgegangen, dass die ökonomische Sphäre allein über Marktbeziehungen reguliert werden könnte bzw. zum allgemeinen Gleichgewicht tendiert und betont, dass ergänzende Formen der Reproduktion, der Regulation und der Governance benötigt werden. Es werden Sichtweisen abgelehnt, die postulieren, dass der Markt von rationalen, nutzenmaximierenden Individuen, mit gesellschaftlich vorgängigen und stabilen Präferenzen, angetrieben wird und die Ökonomie unabhängig von ihrem politischen, sozialen und kulturellen Kontext analysiert werden könnte: „The study of capitalist regulation, therefore, cannot be the investigation of abstract economic laws. It is the study of the transformation of social relations.“29 In der Regulationstheorie werden Krisen als ein permanenter und inhärenter Bestandteil gesellschaftlicher und insbesondere kapitalistischer Entwicklung gesehen und die Analyse auf die dynamischen Prozesse der Regulation dieser Krisentendenzen gerichtet. Es wird davon ausgegangen, dass der Markt immer schon gesellschaftlich eingebettet ist. Begriffe wie die Ware, das Geld, die Lohnarbeit, das Eigentum an Produktionsmitteln und die Arbeitsorganisation werden jeweils als spezifische gesellschaftliche Formen begriffen.30 Hierbei ist der Prozess der Regulation ein komplexer Zusammenhang von gesellschaftlicher und ökonomischer Struktur, Institutionen, Normen und Wertvorstellungen und beschreibt, wie sich ein bestimmtes soziales Verhältnis ohne steuerndes Zentrum „trotz und wegen seines konfliktorischen und widersprüchlichen Charakters reproduziert.“31 Der Begriff der Regulati-

28 29 30 31

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Jessop/Sum 2006, S. 346. Aglietta 1979, S. 16. Demirović 2003, S. 46. Lipietz 1985a, S. 109, Herv.i.O., Übersetzungsfehler korrigiert.

on beschreibt eine prozessurale Systemveränderung bei gleichzeitigem Systemerhalt.32 Eine gelungene Regulation schafft hegemoniale Strukturen, die wiederum bestimmte Regulationsmuster begünstigen. Die Objekte der Regulation sind also gleichermaßen der Regulation vorgängig und durch (hegemoniale) Formen der Regulation entstanden: „[M]odes of regulation and their objects can be seen as structurally coupled and historically co-evolving and no a priori primacy would (or could) be accorded to one or the other.“33 Der Prozess der Regulation ist demnach immer partiell, temporär und permanent in Bewegung und kann als Gesamtheit als ein mehr oder weniger kongruentes Set an hegemonialen Artikulationsstrategien verstanden werden. Die Regulationstheorie bietet verschiedene Theoreme an, um in der Analyse historisch-spezifischer Formen der Diskursorganisation von der einfachen-abstrakten Ebene hin zur konkreten Analyse komplexer Zusammenhänge zu gelangen.34 Innerhalb der allgemeinen kapitalistischen Produktionsform, die u.a. durch den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Tausch- und Gebrauchswert, durch die Trennung der (direkten) ProduzentInnen vom Eigentum und dem Besitz der Produktionsmittel und dem (Zwang zum) Verkauf der Arbeitskraft charakterisiert ist, wird in der Regulationstheorie historisch zwischen unterschiedlichen Akkumulationsregimen differenziert. Ein Akkumulationsregime beschreibt auf makroökonomischer Ebene eine, über einen gewissen Zeitraum mehr oder weniger kohärente und relativ stabile, sozio-ökonomische Entwicklung. Es handelt sich hierbei um eine historisch-spezifische soziale Organisation der Gesellschaft, in der die Verteilung und Reallokation des gesellschaftlichen Produktes (die ‚Mehrwertproduktion‘) über einen längeren Zeitraum hinweg innerhalb eines bestimmten Entsprechungsverhältnisses zwischen den Veränderungen der Produktionsbedingungen und den Veränderungen in den Bedingungen der EndverbraucherInnen gehalten wird.35 Ein Akkumulationsregime kann z.B. über spezifische technologische Paradigmen beschrieben werden, die bestimmte Produktionsorganisationen beinhalten; über die Einkommensverteilung; über die Geschlechterverhältnisse oder über die spezifischen gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Innerhalb bestimmter Akkumulationsregime können, auf einer (analytisch) konkreteren Ebene, bestimmte Regulationsweisen unterschieden werden. Diese benennen „die Gesamtheit institutioneller Formen, Netze und expliziter oder impliziter Normen, die die Vereinbarkeit von Verhaltensweisen im Rahmen eines Akkumulationsregimes sichern.“36 Jede stabile kapitalistisch organisierte Gesellschaft besteht 32 33 34 35 36

Scherrer 2005, S. 8f. Jessop 1990, S. 311. Vgl. Bertramsen 1991, S. 123ff.; Torfing 1998, S. 114ff. Vgl. Lipietz 1985a, S. 120. Lipietz 1985a, S. 121.

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aus einem Netzwerk aus verschiedenen Institutionen, die die unterschiedlichen und sich zum Teil widersprechenden Interessen miteinander konkurrierender Akteure in einer mit der Kapitalakkumulation vereinbaren Weise aufeinander zu beziehen vermag.37 Hierbei ist die Entwicklung von Regulationsweisen nicht aus den jeweiligen Voraussetzungen des kapitalistischen Verwertungsprozesses zu schlussfolgern. Vielmehr wird die historisch konkrete Regulationsweise von sozialen Bewegungen und Konflikten und den daraus entstehenden Kompromissbildungen bestimmt. Die spezifischen Regulationsweisen sind daher als kontingente Folgen von sozialen Auseinandersetzungen und Kräfteverhältnissen zu sehen. Auf der konkretesten Ebene werden innerhalb von Regulationsweisen wiederum bestimmte Entwicklungsweisen unterschieden. Eine Entwicklungsweise ist hierbei als die hegemoniale Strategie definiert, die ein spezifisches Akkumulationsregime und eine bestimmte Regulationsweise dergestalt zu einem komplexen regulatorischen Regime artikuliert, dass dieses ökonomisches Wachstum und sozialen Zusammenhalt durch konkrete soziale Kompromisse ermöglicht.38 Trotz vieler Vorteile, die die Regulationstheorie für eine Analyse der sozio-ökonomischen Strukturen bietet, muss betont werden, dass die regulationstheoretischen Ansätze einige theoretische Probleme mit sich bringen. So handelt es sich weiterhin vor allem um eine ökonomische Theorie, die in der Tendenz strukturalistisch und ökonomistisch konnotiert ist. Habermann kritisiert daher: „Als geschichtlicher Bewegungsmotor gelten ausschließlich die aus dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit entwickelten Kämpfe um Hegemonie.“39 Allerdings finden sich in der Regulationstheorie Ansätze, die die Kontingenz historischer Entwicklung betonen. Auch Lipietz betont, dass es sich bei stabilen Entwicklungsweisen um eine glückliche Fundsache handelt.40 Gleichwohl wird der Kontingenz häufig nur Raum im Übergang von einem Akkumulationsregime zum nächsten eingeräumt.41 Auch ist die Privilegierung der ökonomischen Sphäre gegenüber anderen gesellschaftlichen Strukturen weit verbreitet. Mit den kritischen Worten von Scherrer ausgedrückt: „Während die sozialen Akteure ihre Geschichte machen, wird der soziale Wandel, im Sinne der Abfolge geschichtlicher Phasen, durch den dem Kapitalismus innewohnenden Antagonismus angetrieben.“42 Aus dem strukturalistischen Bias folgt schließlich eine Tendenz zum Funktionalismus, denn die Regulationstheorie zielt „trotz ihrer grundsätzlichen Überlegungen zu sehr auf die Kohärenz der … Formation“43, womit der Fokus auf die wider37 38 39 40 41 42 43

178

Vgl. Hirsch 1993, S. 196. Vgl. Boyer 1988, S. 76. Habermann 2008, S. 51. Vgl. Lipietz 1987, S. 15. Vgl. Scherrer 1995, S. 473. Scherrer 1995, S. 460. Demirović 2003, S. 55.

sprüchliche und kontingente Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung zugunsten gelingender Reproduktion privilegiert wird. Dadurch schimmert bisweilen die Annahme durch, dass einem Akkumulationsregime oder einer Regulations- oder Entwicklungsweise eine bestimmte Funktion (der Stabilisierung) zukommen würde. Auch liegt der Schwerpunkt der Untersuchungen häufig auf den sich historisch verändernden Verbindungen und Kombinationen institutioneller Formen, weswegen Sichtweisen begünstigt werden, die Krisen vor allem als den Institutionen inhärente Fehlfunktionen bzw. Fehlanpassungen zu sehen. Damit gerät aus dem Blick, dass diese Institutionen selbst das kontingente Produkt hegemonialer Auseinandersetzungen sind. Ein Akkumulationsregime hat also nicht eine bestimmte Funktion, sondern stellt eine analytische Beschreibung empirischer Begebenheiten dar, deren absolute Kohärenz nur in der Abstraktion gefunden werden kann, die in der Empirie bestenfalls in der Tendenz existiert. Es muss also funktionalistischen Tendenzen innerhalb der Regulationstheorie begegnet und die „Destruktion der vermeintlichen Funktionalität eines Zusammenhangs“44 verfolgt werden, denn die „Funktionen [...] bilden sich historisch konkret erst durch Auseinandersetzungen hindurch aus.“45 Es muss also unterschieden werden zwischen einem Ansatz, der die Anwesenheit von sozialen Systemen aus der Notwendigkeit ihrer Existenz zur Übernahme bestimmter Funktionen erklärt (und damit funktional ableitet), und einem Ansatz, der die kontingente – also die nicht notwendige und zugleich nicht zufällige – Entwicklung der Gesellschaft und ökonomischer Strukturen betont und dementsprechend davon ausgeht, dass kongruente Institutionen und soziale Gebilde nicht aus einer bestimmten Funktion heraus ableitbar sind. Anders ausgedrückt: Es ist ein Unterschied zu sagen, der Staat ist dafür da, bestimmte Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten (funktionalistisch) als zu sagen, im Staat haben sich über historisch kontingente hegemoniale Auseinandersetzungen verschiedene Machtverhältnisse eingeschrieben (hegemonietheoretisch). Gesellschaftliche Auseinandersetzungen können zu kontingenten, partiellen und prekären Strukturierungen des Sozialen führen, die mehr oder weniger kongruent verschiedene gesellschaftliche Institutionen miteinander in Verbindung bringen (artikulieren). Eine glückliche Fundsache kann also durchaus bestimmte (Aus-)Wirkungen haben (z.B eine relative Stabilisierung bestimmter gesellschaftlicher Bereiche). Sie ist aber aus keiner funktionalen Anforderung heraus entstanden, auch wenn sie sich ex-post vielleicht als ‚funktional‘ erweisen könnte. Problematisch ist weiterhin, dass innerhalb der Regulationstheorie ein starker Realismus vorherrscht. Es wird davon ausgegangen, dass es eine Realität als solche gibt, der bestimmte Bedeutungen innewohnen würden, die, auch wenn sie sich im Sozialen brechen, doch unabhängig von diskursiver und damit sozialer und gesell44 Görg 1995, S. 639. 45 Brand/Görg/Wissen 2007, S. 224.

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schaftlicher Vermittlung existieren. Diese Vorstellung einer dem sozialen Raum vorgängigen Bedeutung ist aus diskurstheoretischer Sicht nicht haltbar. Hiernach handelt es sich um Varianten eines Essentialismus, da die Form der Dinge auf ihre Substanz reduziert und gleichzeitig davon ausgegangen wird, dass es einen direkten kognitiven Zugang zu der Natur der Dinge gäbe. Die Regulationstheorie ist aber, so die hier vertretene These, nicht auf diese Form des Idealismus‘ angewiesen. Auch innerhalb der Regulationstheorie wird an einigen Stellen betont, dass die Distanz zwischen Diskurs und physischen Objekt, zwischen den Bedeutungszuschreibungen (der Form) und der bloßen Existenz, nicht aufgelöst werden kann.46 Es wird hier also davon ausgegangen, dass die Kategorien der Regulationstheorie keine Realobjekte beschreiben, sondern analytische Kategorien von spezifisch und hegemonial sedimentierten Formen einer Diskursformation darstellen, und dass „die Tendenz, sich auf die interne Logik eines geschlossenen begrifflichen Modells zu berufen und dann dieses Modell zum (begrifflichen) Wesen des Realen zu transformieren“47 korrigiert werden kann.48

Diskurs und Hegemonie Gramscis Hegemoniebegriff und die Regulationstheorie bieten nun eine gute Grundlage für einen diskurs- und hegemonietheoretischen Analyserahmen sozio-ökonomischer Strukturen. Die Hegemonietheorie von Laclau beruht auf der Betonung der Bedeutung von Diskursen für die Konstituierung eines politischen Feldes und für die Konstruktion von Subjekten. Ein Diskurs ist hier eine in sich differenzierte, aus Artikulationen entstandene Gesamtheit relationaler Momente, die zur Stabilisierung eines bestimmten Handlungs- und Wahrheitshorizonts führt. Diskurse sind jedoch kein Abbild der Realität, sondern stellen diese permanent her. Mit dem Hegemoniebegriff wird die spezifische Strukturierungslogik, die die Handlungen der Subjekte – nicht als ahistorisches Prinzip, sondern in der historisch und räumlich spezifischen Konstellation vor allem der heutigen demokratischen Industriestaaten – anleitet, beschrieben. Gleichzeitig betont Laclau die Kontingenz gesellschaftlicher Prozesse. Der Diskursbegriff von Laclau umfasst alle sozialen und daher auch ökonomische Phänomene. Diskurse sind nicht auf einen bestimmten Teil von sozialen Praktiken beschränkt, sondern verfassen das Politische und das Soziale als Gesamtheit. Ein entsprechender Gesellschaftsbegriff benennt eine spezifische Ansammlung von Dis46 Vgl. Lipietz 1985b, S. 19. 47 Scherrer 1995, S. 467. 48 Die Regulationstheorie wurde von Anfang an auch als theoretisches Projekt verstanden. So betont auch Aglietta (1979, S. 310): Die Regulationstheorie „must be open, i.e., susceptible to continued elaboration; which means not only additions and refinements, but ruptures in the theory which must be made possible by the problematic adopted.“.

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kursen mit räumlich und zeitlich spezifischen Formen von verstetigten Diskursformationen, die als Gesamtheit eine relative Geschlossenheit einer Gemeinschaft suggerieren. Das Feld des Diskursiven entspricht daher dem „Ensemble gesellschaftlicher Sinnproduktion, das eine Gesellschaft als solche begründet.“49 Auf der ontologischen Ebene sollte die Vorstellung einer in sich geschlossenen Gesellschaft sowie die Hoffnung einer mit sich versöhnten Gesellschaft verworfen werden. Bereits Marx führte mit dem Antagonismusbegriff die Vorstellung einer grundlegenden Spaltung der Gesellschaft ein, reduzierte diese Spaltung allerdings auf einen Klassen-Antagonismus und hoffte auf die Möglichkeit einer Überwindung dieser Spaltung. Laclau spricht von der Unmöglichkeit von Gesellschaft, um jedoch zugleich zu betonen: „[A]lthough the fullness and universality of society is unachievable, its need does not disappear: it will always show itself through the presence of its absence.“50 Politik wird demnach als Auseinandersetzung um Formen hegemonialer Stabilisierungen verstanden. Die Unterscheidung zwischen politischen und institutionalisierten Bereichen einer Gesellschaft ist hierbei nicht objektiv gegeben, sondern Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die bestimmen, was als politisch bzw. was als unpolitisch anzusehen ist. Daraus folgt, dass die soziale Struktur einer Gesellschaft keine natürliche ist, sondern Resultat historisch vorgängiger hegemonialer Auseinandersetzungen. Daher wird „Hegemonie als die zentrale Kategorie politischer Analyse“51 verstanden. Aus dem Postulat des Primats des Politischen wird schließlich abgeleitet, dass Hegemonie bzw. hegemoniale Auseinandersetzungen das grundlegende gesellschaftliche Organisationsprinzip darstellen. Gramsci fasst Hegemonie als ein bestimmtes Verhältnis von Partikularität und Universalität: Eine Voraussetzung zur Erlangung von Hegemonie ist, dass es bestimmten gesellschaftlichen Kräften gelingt, ihre partikularen politischen Projekte als universelles gesellschaftliches Projekt zu artikulieren. In dem partikularen Projekt muss also die Möglichkeit der Universalisierung gegeben sein. Damit das hegemoniale Projekt zu einer hegemonialen sozialen Struktur wird müssen sich konkrete Subjekte diesem hegemonialen Projekt anschließen und ihre Handlungen, zumindest in der Tendenz, danach ausrichten. Eine Universalität, im Sinne eines imaginären Gemeinwohl einer Gesellschaft, ist also ein leerer „Ort“. Da es sich um eine imaginäre Universalität handelt, kann diese auch nicht durch eine konkrete Gesellschaft erreicht werden, auch wenn eine Gesellschaft, um sich überhaupt als Gemein-schaft zu verstehen nach diesem imaginären Allgemeinen strebt: „There is always going to be a gap between the content which at some point incarnates society's aspiration to fullness (the ontic content), and this fullness as such, which has no content of its

49 Laclau 1979, S. 176. 50 Laclau 1996a, S. 53. 51 Laclau 1998, S. 259.

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own (the ontological part).“52 Doch auch wenn das Gemeinwohl im Kommen ist und nicht vollständig realisiert werden kann, ist es möglich, dieses durch verschiedene Artikulationen zu symbolisieren. Wenn es sich bei einer Universalität also um eine imaginäre Universität handelt, bedeutet das auch, dass nur über die strategische Artikulation verschiedener partikularer Interessen ein Gemeinwohl bzw. ein Allgemeininteresse zustande kommt.53 Andersherum formuliert: Nur weil die Universalität einen leeren Ort darstellt, kann diese durch hegemoniale Auseinandersetzungen gefüllt werden.

Diskursive Ökonomie Der Kern einer diskurstheoretischen Perspektive auf die Ökonomie liegt nun in der Betonung der Ökonomie als Diskursformation und damit als Form und nicht als objektive Realität. Anders ausgedrückt: Die Ökonomie besitzt kein Wesen (im Sinne von Dasein/ physischer Substanz), das sich direkt vermitteln würde, sondern artikuliert sich ausschließlich in konkreten Erscheinungen, die es zu analysieren gilt (im Sinne von Sein/ Form). Diese (sozialen) Formen enthalten, reproduzieren und konstituieren allgemeine Wahrnehmungs- und Verhaltensorientierungen einer bestimmten Gesellschaft, was auch heißt, „dass das Kapital als soziales Verhältnis nicht vor seiner Regulation existiert, sondern dass in der Regulation und durch sie dem Kapital erst Form [...] verliehen wird.“54 Die Ökonomie als Form (einer Diskursformation) zu theoretisieren betont weiterhin deren Relationalität. Auch Marx hob hervor, dass das Kapital als soziale Beziehung zu verstehen sei, indem er ausführte, „daß das Eigentum an Geld, Lebensmitteln, Maschinen und andren Produktionsmitteln einen Menschen noch nicht zum Kapitalisten stempelt, wenn die Ergänzung fehlt, der Lohnarbeiter, der andre Mensch, der sich selbst freiwillig zu verkaufen gezwungen ist.“55 Er betonte, „daß das Kapital nicht eine Sache ist, sondern ein durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen.“56 Gibson-Graham heben hervor: „Thus a capitalist site (a firm, industry, or economy) or a capitalist practice (exploitation of wage labor, distribution of surplus value) cannot appear as the concrete embodiment of an abstract capitalist essence. It has no invariant ‚inside’ but is constituted by its continually changing and contradictory ‘outsides’.”57 Nach Aglietta ist die Ökonomie

52 53 54 55 56 57

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Laclau 2000b, S. 196. Vgl. hierzu auch Jessop 2007, S. 11. Jessop 2003, S. 90. Marx 2001, S. 793. Ebd. Gibson-Graham 2006, S. 15f.

„solely a methodological demarcation within the domain of social relation.“58 Die Ökonomie kann daher als ein hegemonial separiertes und mehr oder weniger stabilisiertes Ensemble sozialer Beziehungen verstanden werden, das sich überwiegend über signifizierende Objekte (Waren), seien sie nun materieller oder immaterieller ‚Natur‘, ausdrückt. Bei der Ökonomie handelt es sich um eines von vielen – wie z.B. patriarchalen, rassistischen, religiösen u.a. – gesellschaftlichen Organisationsprinzipien. Keine dieser Formen gesellschaftlicher Organisation ist a priori wichtiger oder dominanter als die anderen. Es wird hier vielmehr davon ausgegangen, dass in einer spezifischen Gesellschaft eine Vielzahl dieser Prinzipien vorhanden sind und sich gegenseitig bedingen: „[T]he social relation we call capitalist are far from exhausting the complex of practices which make up all actually existing societies. In fact, other social relations or practices are the very condition of existence [...] of capitalist relations.“59 Auch die Wirtschaftswissenschaften untersuchen und beschreiben nicht nur ökonomische Phänomene und Prozesse, sondern gestalten und erschaffen diese.60 Mathematische Gleichungen, ökonomische Modelle und Finanzkalkulationstechniken haben demnach nicht einfach einen beschreibenden Charakter, sondern konstituieren die Ökonomie maßgeblich mit.61 Aus der Konzeptualisierung der Ökonomie als Form folgt, in Übereinstimmung mit regulationstheoretischen Annahmen, dass es nicht die Ökonomie als solche gibt, sondern nur konkrete, historisch-spezifische Formen der Ökonomie, verstanden als spezifische Organisation eines Diskursraums, ‚vorzufinden‘ sind. Verschiedene Formen ökonomischer Diskursformationen konkurrieren miteinander: „Perhaps the totality of the economic could be seen as a site of multiple forms of economy whose relations to each other are only ever partially fixed and always under subversion. It would be possible, then, to see contemporary discourses of capitalist hegemony as enacting a violence upon other forms of economy, requiring their subordination as a condition of capitalist dominance.“62 Diese konkreten Formen entstehen weder zufällig noch aus einer bestimmten, systemimmanenten Notwendigkeit heraus, sondern sind das kontingente Resultat historisch vorgängiger hegemonialer Auseinandersetzungen. Hieraus folgt schließlich die Betonung der (alltäglichen) Handlungen, die, durch permanente Iteration, diese konkrete Form tagtäglich reproduzieren, verschieben und dislozieren.

58 59 60 61 62

Aglietta 1979, S. 16. Lipietz 1985b, S. 19. Callon 1998; Callon/Millo/Muniesa 2007. Vgl. Wullweber 2015a. Gibson-Graham 2006, S. 12.

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Diskursiver Staat Ausgangspunkt einer Analyse des Staates ist die bereits oben diskutierte Annahme, dass es den Staat an und für sich nicht gibt: „[T]he state is not a homogeneous medium [...] but an uneven set of branches and functions, only relatively integrated by the hegemonic practices which take place within it.“63 Startpunkt einer solchen Analyse des Staates ist weiterhin ein konsequenter Relationismus: „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn.“64 Ein bestimmter Staat ist demnach Ausdruck eines spezifischen (sozialen bzw. gesellschaftlichen) Verhältnisses, was wiederum beinhaltet, von einem Primat des Gesellschaftlichen bzw. des Politischen auszugehen. Den Staat als Diskursformation zu konzeptualisieren bedeutet weiterhin wie oben ausgeführt wurde, von bestimmten, der Gesellschaft vorgängigen Funktionen oder Aufgaben eines Staates abzusehen. So wird von Poulantzas argumentiert, dass dem Staat die Funktion sozialer Kohäsion einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft zukommt. Er habe die Funktion, „Kohäsionsfaktor der verschiedenen Ebenen einer Gesellschaftsformation zu sein.“65 Wenngleich ein Funktionalismus mit der Forderung nach strikter Relationalität kompatibel ist, weil auch beim Funktionalismus von einem relationalen sozialen Gefüge ausgegangen wird, sind in diesem Fall die Relationen der Funktion untergeordnet, sie sind zweckbestimmt. Diese teleologische Herangehensweise führt durch die Hintertür die strukturalistische Vorstellung ein, dass der sozialen Strukturierung von Gesellschaft eine Zweckgerichtetheit inhärent wäre, die dem Handeln der Subjekte vorgängig und transzendent ist.66 Auf diese Weise wird die Konzeption des Staates enthistorisiert. Hieraus folgt für die Theoretisierung des Staates, nicht eine allgemeine Struktur des Staates herausarbeiten zu wollen, sondern davon auszugehen, dass das, was als der Staat angesehen wird, ständig verhandelt wird und daher permanent Veränderungen unterworfen ist. Es geht um die historische Verortung der spezifischen diskursiven Form des Staates und um die Frage, welche Strategien, Interessen und Deutungen sich historisch hegemonial durchgesetzt haben. Es kann daher „weder eine allgemeine Theorie der Ökonomie [...] noch eine ‚allgemeine Theorie‘ [...] des Staates [...] mit einem ebenfalls unveränderlichen theoretischen Gegenstand geben.“67 Zugleich wurde oben diskutiert, dass sich eine spezifische Diskursformation weder notwendigerweise entwickelt oder dialektisch ableitet, noch die Organisation von Diskursen zufällig abläuft. Vielmehr wurde betont, dass sich eine Diskursformation kontingent aus den 63 64 65 66 67

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Laclau/Mouffe 1985, S. 180. Marx 1953, S. 189. Poulantzas 1975, S. 43. Laclau 2005, S. 68. Poulantzas 2002, S. 48.

vorgängigen Auseinandersetzungen entwickelt, sich diese Auseinandersetzungen also in die Diskursformation einschreiben, sie aber nicht determinieren. Eine spezifische Diskursformation eines Staates ist also keine neutrale Struktur, sondern besteht aus einer, aus vorgängigen Auseinandersetzungen entstandenen, sedimentierten Struktur, die wiederum selektiv innerhalb der Gesellschaft – allein über die Subjekte, die diese Struktur durch ihre täglichen Handlungen reproduzieren – wirkt und gleichzeitig den Ort bestimmter Strategien darstellt. Das heißt auch, den Staat „als strategisches Feld und strategischen Prozess zu fassen, in dem sich Machtknoten und Machtnetze kreuzen, die sich sowohl verbinden als auch Widersprüche und Abstufungen zeigen.“68 Es kann dementsprechend konstatiert werden, dass die Diskursformation des Staates aus Institutionen besteht, verstanden als auf Dauer gestellte, relative stabile und also sedimentierte Handlungsabfolgen und Routinisierungen, die die historisch vorgängigen Kräfteverhältnisse in gewissem Umfang reflektieren. Poulantzas bezeichnet den Staat daher auch als eine materielle Verdichtung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen.69 Das bedeutet, dass die Diskursformation des Staates, ähnlich wie andere Diskursformationen, selektiv auf den Handlungsspielraum, bzw. noch allgemeiner, auf die Artikulationen der Akteure einwirkt und einige Artikulationen, z.B. in Form von hegemonialen Projekten, privilegiert und andere benachteiligt und demnach nicht für alle sozialen Kräfte und Absichten gleichermaßen zugänglich ist. Neben diesen allgemeinen Merkmalen ist der Staat sicherlich eine sehr spezifische Diskursformation. So hat sich im Staat die Anwendung von Gewalt, bzw. weberianisch ausgedrückt, das Monopol physischen Zwangs, als legitimes Mittel einer größtenteils „subjektlosen Gewalt“70 durchgesetzt. Walter Benjamin zeigte auf, dass sowohl die historische Rechtsetzung als auch die Rechtserhaltung gewaltförmige Akte beinhaltet(e).71 Auch Derrida führt aus: „[E]s gibt […] kein Gesetz ohne Anwendbarkeit und keine Anwendbarkeit oder ‚enforceability‘ des Gesetzes ohne Gewalt mag diese Gewalt unmittelbare Gewalt sein oder nicht, mag sie physische oder symbolische, äußere oder innere, zwingende oder regulative Gewalt sein, brutal oder auf subtile Weise diskursiv und hermeneutisch usw.“72 Hat sich historisch also eine bestimmte Form des Staates durchgesetzt, innerhalb derer bestimmte Akteure und Institutionen legitimiert sind, Zwangsmittel einzusetzen – bis hin zu offener Gewalt und dem Führen von Kriegen. Weiterhin kommt dem Staat als Rechtsstaat eine besondere Bedeutung zu, indem staatliche Organe Recht setzen können, das für alle anerkannten Subjekte eines Staates gilt.

68 69 70 71 72

Ebd., S. 167. Ebd., S. 154ff. Gerstenberger 1990. Benjamin/Marcuse 2006, S. 29ff. Derrida 1991, S. 12.

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Hier ist vor allem der Aspekt von Bedeutung, dass sich im Staat – genauer: im westlich-säkularen bürgerlich-demokratischen Staat – historisch eine spezifische Verbindung zum Allgemeinen eingeschrieben wurde.73 So hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass der Staat eine spezifische Beziehung zum gesellschaftlichen Allgemeinen hat, indem er einen privilegierten Ort darstellt, an dem das Gemeinwohl der innerhalb dieses Staates lebenden BürgerInnen formuliert wird. Dem Staat bzw. den staatlichen Institutionen und Organisationen kommt auf diese Weise die gesellschaftlich akzeptierte Aufgabe zu, allgemein verbindliche Entscheidungen im Namen eines (imaginierten) Allgemeininteresses bzw -willens zu definieren und durchzusetzen. Dadurch, dass sich historisch diese spezifische Verbindung zwischen dem Staat und dem Gemeinwohl herausschälte, wird dem Staat ein weiteres Merkmal zuteil, das oben bereits angedeutet wurde: Er wirkt als Kohäsionsfaktor auf die Gesellschaft zurück. Wohlgemerkt übt jede Diskursformation eine stabilisierende Wirkung auf das soziale Gefüge einer Gesellschaft aus. Doch manche Diskursformationen haben insofern eine besondere Form der Stabilisierung inne, als dass sich in ihnen historisch eine besondere Verbindung zum Allgemeinen eingeschrieben hat (ähnlich z.B. auch in der Religion). Diese besondere Verbindung zum Allgemeinen wirkt zusätzlich stabilisierend, weil das Allgemeine in Form eines gesellschaftlich akzeptierten Gemeinwohls die Ziele einer Gesellschaft repräsentiert. Da das Gemeinwohl einer Gesellschaft nicht fixiert ist, versuchen verschiedene gesellschaftliche Kräfte dieses hegemonial, im Sinne einer Verallgemeinerung ihrer Interessen und Wertvorstellungen, zu füllen. Diese hegemonialen Auseinandersetzungen können zu äußerst unterschiedlichen Organisationsformen des Staates führen. Bezogen auf die westlichen Demokratien kommt hinzu, dass diese besondere Verbindung zum Allgemeinen im Staat nicht nur einen privilegierten Ort findet, sondern auch rechtlich, gewaltförmig, monetär (Steuern) und materiell (verstanden im engeren Sinne als physische Substanz, z.B. in Form von Gebäuden, Infrastruktur, Grenzzäune etc.) abgesichert wird, wobei die Formen der Absicherungen selbst wieder aus vorgängigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen resultieren. Zudem wirkt die staatliche Diskursformation auf besondere Weise in andere gesellschaftliche Bereiche hinein, indem z.B. das Privateigentum rechtlich und, wenn nötig, auch gewaltförmig geschützt wird. Für die verschiedenen Interessengruppen innerhalb eines demokratischen Staates folgt daraus, dass bestimmten, demokratisch legitimierten Akteuren, wie Parteien, eine spezielle Rolle zukommt. Allerdings beziehen sich alle politischen Gruppen, auch außerhalb des Parteiensystems, notwendigerweise in irgendeiner Form auf das gesellschaftliche Allgemeine.74 Die Diskursformation eines Staates stellt daher ein privilegiertes Terrain dar, auf dem verschiedene gesellschaftliche Kräfte darum ringen, die Leerstelle des Allgemeinen mit ihren jeweiligen 73 Vgl. Wullweber 2015b. 74 Vgl. Laclau 1996b.

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hegemonialen Projekten und mit verschiedenen Leeren Signifikanten zu besetzen. Die Diskursformation des Staates befindet sich in der paradoxen Situation, auf der einen Seite eine Diskursformation von vielen zu sein, auf der anderen Seite aber in einer besonderen Verbindung zum Allgemeinen zu stehen, indem dem Staat eine privilegierte Rolle für die soziale Kohäsion einer Gemeinschaft übertragen wird. Diesen Abschnitt abschließend soll noch kurz auf verschiedene Kritikpunkte eingegangen werden. Zu anhaltender Konfusion führt das Postulat der diskursiven Verfasstheit des Sozialen und Politischen bzw. der diskursiven Vermittlung von Realität. Die Reaktionen hierauf sind häufig von Unverständnis geprägt. Es soll hier daher nochmals betont werden, dass aus dem diskursiven Charakter von Realität nicht folgt, dass diese keine Auswirkungen hätte. Vielmehr ist damit gemeint, dass diesen Auswirkungen erst eine Bedeutung innerhalb eines diskursiven Kontextes zukommt. Ein weiteres Missverständnis ist, dass der diskursive Charakter der Realität implizieren würde, dass diese beliebig gestaltbar wäre. Auch wenn richtig ist, dass keine Bedeutung für immer fixiert werden kann, sind doch der Gestaltbarkeit Grenzen gesetzt. Denn welche Artikulationen und Diskurse sich historisch durchsetzen, resultiert aus einer Vielzahl von gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Diese finden wiederum vor dem Hintergrund einer immer schon selektiven Diskursformation statt, die in unterschiedlichen Ausmaßen verstetigt und daher nicht einfach zu verändern sind. Dieser Umstand wird diskurstheoretisch mit dem Begriff der Kontingenz gefasst, der nicht mit dem Begriff des Zufalls verwechselt werden darf. Eine Realität mag also unabhängig vom Bewusstsein existieren, aber diese Realität erlangt erst innerhalb eines diskursiven Kontextes eine bestimmte Bedeutung. Schließlich werden häufig materielle Verhältnisse den diskursiven Verhältnissen entgegen gestellt.75 Diese Unterscheidung ist aus diskurstheoretischer Sicht nicht sinnvoll. Da gesellschaftliche Verhältnisse in aller Regel nicht mit Substanz angefüllt sind (außer wenn damit der Bau von Gebäuden, Grenzzäunen etc. gemeint ist), benennt der Begriff der Materialität metaphorisch die Verstetigung von gesellschaftlichen Verhältnissen, also eine gewisse zeitliche bzw. historische Konstanz. Da sich Beziehungen über Handlungen konstituieren, bedeutet historische Konstanz vor allem, dass es Handlungen gibt, die sich über einen bestimmten historischen Zeitraum hinweg in relativ ähnlicher Weise wiederholen – und doch immer eine irreduzible Differenz zwischen jeder Wiederholung existiert. Der Begriff der materiellen Verhältnisse benennt - als Metapher - also eine gewisse Verstetigung von Handlungen. Genau diese Verstetigung und damit Stabilisierung beinhaltet aber der Diskursbegriff, weswegen materielle Verhältnisse immer diskursive Verhältnisse sind.76 Letzteres bedeutet weder,

75 Vgl. z.B. Jessop 2002, S. 7. 76 Zugleich suggeriert der Ausdruck der materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen (vgl. Poulantzas 2002, S. 159), dass es auch eine immaterielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen

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dass es keine Materialität gäbe, noch, dass sich diskursive Verhältnisse nicht materialisieren könnten. Diese Kritik zeigt leider, dass einer der zentralsten Punkte von Laclau nicht verstanden wurde. Gerade durch die Kritik an der Vorstellung eines nicht-kontingenten Klassenbewusstseins und eines privilegierten (Klassen-)Subjekts weitet Laclau den Raum des Politischen immens aus und eröffnen neue Spielräume für das politische Handeln. Das bedeutet wiederum nicht, dass Hierarchien und Machtverhältnisse innerhalb von Gesellschaften übergangen würden: „Mit dem Dezentrieren von Klasse wird es möglich zu sagen, daß Klasse in manchen Kontexten in Begriffen von ‚Rasse‘ oder in anderen in Begriffen von Sexualität gelebt werden mag.“77 Aus Emanzipation im Singular werden bei Laclau Emanzipationen im Plural78, die gerade durch die Unerreichbarkeit ihrer vollkommenen Umsetzung die Möglichkeit von Politik eröffnen: „Die durch die Unmöglichkeit von ‚Emanzipation‘ eröffneten Möglichkeiten werden paradoxerweise von der immer fortgesetzten Annahme ihrer Unmöglichkeit abhängen.“79

Schluss Auf Gramsci zurückgehend wurde im vorliegenden Beitrag die politische Dimension des diskurstheoretischen Hegemoniebegriffs stark gemacht. Eine poststrukturalistische Hegemonietheorie ist demzufolge eine Gesellschaftstheorie, die von einer permanenten antagonistischen Spaltungen der Gesellschaft ausgeht. Mit dem Begriff der Hegemonie sollen gesellschaftliche Stabilisierungsprozesse erklärt werden. Demnach basiert jede Gesellschaft auf Routinisierungen und Verstetigungen von Handlungen. Genau, wie Kommunikation nur stattfinden kann, wenn bestimmte Bedeutungen von Begriffen temporär fixiert sind, kann eine Gesellschaft nur funktionieren, wenn bestimmte soziale, alltägliche Vorgehensweisen von der Mehrzahl der Menschen geteilt und reproduziert werden. Doch welche Handlungen alltäglich werden, welche Organisierung von Gesellschaft sich gegenüber anderen durchsetzt, ist niemals beliebig, sondern immer historisch kontingent und umkämpft. Politische Handlungen finden infolgedessen immer vor dem Hintergrund sedimentierter sozialer Praxen statt, die selektiv auf das Feld des Politischen wirken. Von diesen Überlegeben könnte. Wenn aber, wie gerade gezeigt, das Materielle in diesem Zusammenhang nur metaphorisch als Konstanz von Beziehungen verstanden werden kann, stellt sich die Frage, was dann mit immateriell gemeint sein könnte. Hierauf gibt es keine sinnvolle Antwort, wenn wieder nicht mehr als der Bau von Gebäuden etc. gemeint ist. Denn Beziehungen sind immateriell, daher substanzlos. Entweder schleicht sich also doch wieder ein Essentialismus ein oder es handelt sich bei dem Begriff der materiellen Verdichtung schlicht um eine Tautologie. 77 Smith 1998, S. 226. 78 Vgl. Laclau 1996c. 79 Butler 1998, S. 219.

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gungen ausgehend, stand die spezifische Strukturierungslogik im Zentrum des Beitrags, die die Handlungen der Subjekte nicht als transzendentes Prinzip, sondern in der historisch und räumlich spezifischen Konstellation vor allem der heutigen demokratischen Industriestaaten zu beschreiben sucht. Diese Logik des Politischen, die nur in der praktischen Anwendung existiert und damit auch ständigen Veränderungen unterworfen ist, wird durch den Begriff der Hegemonie zum Ausdruck gebracht. Die Rückbindung diskursanalytischer Ansätze an eine als Hegemonietheorie verstandene Gesellschaftstheorie könnte deren kritische Herangehensweise schärfen, indem der Kontext der jeweils konkreten Diskursanalyse wieder verstärkt als machtförmige und umkämpfte Strukturierung von Gesellschaft verstanden wird, der, wenn er in die Analyse mit einbezogen wird, unweigerlich Auswirkungen auf die Interpretation des Gegenstands hat.

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Susanne-Verena Schwarz Agonistische Öffentlichkeiten bei Chantal Mouffe: Zwischen lebendiger Demokratie und Populismus

Als Herausforderung in der Ideengeschichte von Öffentlichkeit nimmt das Modell der „agonistischen Öffentlichkeit“ des radikalpluralistischen Demokratieentwurfs von Chantal Mouffe eine markante Position ein.1 Aufbauend auf ihrem gemeinsam mit Ernesto Laclau verfassten Hauptwerk „Hegemonie und radikale Demokratie“ entwickelt Mouffe ein Demokratiekonzept, das die Anerkennung der konfliktorischen Dimension als Institutionsmodus jeder Gesellschaftsordnung einfordert und den Erhalt von Pluralismus, Kämpfen um Macht und Antagonismen ins Zentrum demokratischer Öffentlichkeiten2 rückt. Aktuelle Erscheinungsformen demokratischer Öffentlichkeit hingegen interpretiert Mouffe als Ursachen für die gegenwärtigen Krisen westlicher Demokratien, in denen rechte Gruppierungen und fundamentalistische Strömungen im Aufschwung sind, während die Demokratie ihr Gesicht verliert. Der hier vorgestellte Ansatz ist mit Blick auf drängende Fragen der Gegenwart von hoher Relevanz und eröffnet spannende – weiterführende wie kontroverse – Perspektiven, die auch staatstheoretisch bedeutsam sind. Je nach Krisendeutung ist die Gegenwart eine Zeit, in der das Fundament westlicher Demokratien auf seine Haltbarkeit getestet wird, oder in der die „Krise internationaler Gerechtigkeit“3 auf Grund wirtschaftlicher Ausbeutung mehr zu Tage tritt als je zuvor – in der aber in jedem Fall das Versprechen einer pluralistischen Gesellschaft als wichtiges Merk-

1 Allerdings zählen Mouffes Demokratiemodell und agonistisches Öffentlichkeitskonzept nicht zum Mainstream aktueller Demokratietheorien. Ihr Ansatz wird bei der Besprechung von Autor_innen zu Demokratietheorien der Gegenwart in Standardwerken mitunter nicht berücksichtigt (vgl. Massing/Breit 2006; Schmidt 2008); beachtet wird Mouffe dagegen in poststrukturalistisch und radikaldemokratisch orientierten Sammelbänden, wie in Flügel/Heil/Hetzel 2004). Dennoch werden nicht selten vereinzelte Veröffentlichungen von Chantal Mouffe publiziert, wie zum Beispiel seitens der Bundeszentrale für politische Bildung: „Essay über Entpolitisierung“ (Mouffe 2010) und jüngst „Agonistik: Die Welt politisch denken“ (vgl. Mouffe 2015). Auch in jüngere Werke zu Öffentlichkeitskonzepten findet sie Eingang, wie in den Sammelband „The Idea of the Public Sphere“ (Gripsrud et al. 2010). 2 Mouffe selbst benutzt nicht den Plural von Öffentlichkeit, dies ist eine Hervorhebung und Verdeutlichung der Autorin an dieser Stelle, da durch den Plural sowohl der antiessenzialistische Ansatz von Mouffe erkennbar wird, wie auch eine multiple Verortung der politischen Arenen, die sich in einer Gesellschaft eben nicht nur entlang einer Parteienlandschaft, sondern auch außerhalb politischer Institutionen formieren. 3 Diese Definition geht zurück auf ein Gespräch mit meinem Kollegen Götz Kolle, dessen Perspektive ich hier unterstützen möchte.

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mal der Moderne aktiv geschützt werden sollte. Dieses Ziel setzt sich Chantal Mouffe. Im vorliegenden Artikel wird das Konzept der agonistischen Öffentlichkeit von Mouffe in mehreren Schritten vorgestellt: Zunächst wird überblickshaft Mouffes Theorieansatz verortet und der Ausgangspunkt des agonistischen Öffentlichkeitskonzepts dargelegt. Im Mittelpunkt stehen darauf folgend die Zielsetzungen des Modells, die in den Kontext aktueller Beispiele gesetzt und auf mögliche staatstheoretische Implikationen kritisch und weiterführend beleuchtet werden. In einem abschließenden Fazit, werden die Kernpunkte in ihren Herausforderungen zusammengefasst und bleibende Leerstellen betrachtet. Wenngleich die gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisen nicht leicht zu deuten und erst recht nicht einfach zu lösen sind, werde ich dennoch versuchen, Empfehlungen für die Öffentlichkeit einer pluralistischen Demokratie herauszuarbeiten. Im Feld der Demokratietheorien nimmt Mouffe eine Gegenposition zu deliberativen4 und rationalistischen Ansätzen ein, deren Konsensorientierung und fixierte Gerechtigkeitsvorstellung sie als Fallen für das eigentlich stets als beweglich erkenntlich zu machende Politische ansieht. Dagegen hält sie ihr dissensorientiertes Demokratiemodell, in dem die agonistische Auseinandersetzung zwischen Gegner_innen in der politischen Arena im Zentrum steht, die nie einen letzten Grund5 findet, sondern den Kampf um unterschiedliche Interpretationen von Demokratien stets aufrecht erhält. Eine endgültige Legitimierung einer einzigen Interpretation von Demokratie bleibt in diesem Sinne außen vor, doch wird als Orientierung eine pluralistische Einrahmung vorgeschlagen. Anstelle von Konzepten „idealer Kommunikation“ (Jürgen Habermas) oder „fairer Kooperationsbedingungen“ (John Rawls) zentriert sich das Demokratie- und Öffentlichkeitsmodell bei Mouffe um die Anerkennung der Kerndimension jeder Gesellschaft: das Politische. In einem Primat des Politischen sieht sie das „Moderne“6

4 Zu deliberativen Demokratietheorien gehören die Ansätze von Jürgen Habermas, Seyla Benhabib, Hannah Arendt, John Rawls u. v. a. Neben unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ist ihnen gemein, dass demokratische Verfahrensweisen durch öffentliche Diskurse gewährleistet werden können. Mouffe kritisiert insbesondere an Rawls wie auch an Habermas und Arendt, dass sie das Politische auf Verfahren der Argumentation reduzieren. 5 Mit dem „letzten Grund“ wird hier angespielt auf die Auflösung letzter Sicherheiten in der Spätmoderne. Mouffe bezieht sich in diesem Sinne mitunter auf Claude Lefort: „In my view, the important point is that democracy is instituted and sustained by the dissolution of the markers of certainty. It inaugurates a history in which people experience a fundamental indeterminacy as to the basis of power, law and knowledge, and so to the basis of relations betwee[n] self and other, at every level of social life (at every level where division, and especially the division between those who held power and those who were subject to them, could once be articulated as a result of belief in the nature of things or in a supernatural principle).“ (Lefort 1988, S. 19); vgl. Mouffe 2000, S. 1–2; Laclau/Mouffe 2006, 186–187. 6 Mouffe relativiert diesen Punkt in jüngeren Werken und rückt den hier zum Ausdruck kommenden Universalitätsanspruch zurecht: „Mir ist bewusst geworden, dass ich damit meiner Behaup-

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aktueller Gesellschaften und verbindet dieses Konzept mit einer pluralistischen demokratischen Öffentlichkeit. In der Kommunitarismus/Liberalismus-Debatte nimmt Mouffe wiederum eine Zwischenposition ein, indem sie den liberalen Wert der Freiheit als Grundlage eines radikalen Pluralismus hochhält und dennoch ein gemeinschaftsbetonendes „Wir“ von Demokratinnen und Demokraten anbietet. Dieser Entwurf im konstitutiven Paradox zwischen Freiheit und Gleichheit ist für ihr Modell einer agonistischen Öffentlichkeit zentral. Mouffes Öffentlichkeitskonzept erhält im agonalen Demokratieentwurf eine weitreichende Dimension, die gesellschaftliche Räume politisiert und sich selbst daher nicht endgültig verorten lässt. 7 Für Mouffe bindet sich Öffentlichkeit an Dissens und an ein Modell agonistischer Konfrontation. Vorherrschende konsensorientierte Demokratiemodelle macht sie mit verantwortlich für die gegenwärtige Krise westlicher Demokratien. Ihr Krisenverständnis bildet den Ausgangspunkt ihres Konzepts und wird im Folgenden skizziert. Mouffe entwirft ihr Modell der agonistischen Öffentlichkeit vor dem Hintergrund gegenwärtiger „Legitimitätskrise[n] westlicher Demokratien“8. Ihre Diagnose ist dabei eindeutig: Als Hauptgrund für diese Entwicklung identifiziert sie eine Schwächung der Öffentlichkeit, die zugleich von einer Entfremdung der Bürger von den demokratischen Institutionen zeugt. Seit dem Systemzusammenbruch des Kommunismus habe die Demokratie ihren politischen Gegner verloren: Nun stehe sie in der politischen Arena allein dar und erscheine als ebenso alternativlos wie der mittlerweile mit ihr assoziierte Neoliberalismus. Das Gesellschaftsbild westlicher Demokratien spalte sich seitdem in zwei Szenarien: auf der einen Seite steht die Diagnose, endlich auf dem höchsten Niveau gesellschaftlicher Entwicklung angekommen zu sein, auf der anderen Seite Politikverdrossenheit und eine ihrer Vitalität beraubte und durch Nationalismus und Terrorismus gefährdete Demokratie. In dieser zum politikleeren Raum mutierten gesellschaftlichen Öffentlichkeit, verkörpert Demokratie einen „Politiktypus“9 „jenseits von Links und Rechts”, geprietung vom kontextualistischen Charakter der liberalen Demokratie widerspreche, wonach diese kein fortgeschrittenes Stadium in der Entwicklung der Rationalität oder Moralität darstellt.“ (Mouffe 2015, 16) Schließlich zeige sich diese westliche Liberalismuskultur als von dem Freiheitskonzept des Individuums dominiert, wogegen im „Fernen Osten, von Indien bis China, ‚Harmonie‘“ (Ebd., 61) das zentrale Begriffskonzept ausmache. Letztlich ist die These von der Demokratie als Errungenschaft der westlichen Moderne nur eine „scharfe rhetorische Waffe, mit der liberale Demokratietheoretiker lange deren überlegenere Rationalität und universelle Gültigkeit begründet haben“ (Ebd., 66). Mit ihrem Konzept einer multipolaren Weltordnung versucht Mouffe, ein offeneres, nicht-imperialistisches Konzept von Gesellschaftsordnung zu entwickeln. 7 Der hierfür relevante Raum- und Zeitbegriff von Ernesto Laclau kann an dieser Stelle nicht näher thematisiert werden. 8 Mouffe 2008a, S. 87. 9 Ebd., S. 23.

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sen als sogenannter „dritter Weg”, bei dem die Sozialdemokraten, wie auch die der Globalisierung machtlos unterworfenen Linken Zuflucht suchen. Der mit kosmopolitischen Visionen ausgestattete „Konsens des Zentrums“ wird, bis auf einige rechtsextreme Parteien, welche sich ihm mit populistischen Forderungen entgegenstellen, von allen Akteuren akzeptiert. Hierzu kommen Anschläge von Terroristen, die sich jedoch durch ihre Gewaltakte als politisch gleichberechtigte Gegner disqualifizieren und als Feinde der Demokratie im Außen bleiben. Im vorherrschenden Diskurs der Demokratietheorie scheint das „Ende des Modells von Gegnerschaft in der Politik“10+11 eingetreten zu sein.12 Diese Tendenz zu einer scheinbar unipolaren Inszenierung und Kultivierung von Öffentlichkeit sieht Mouffe als Gefährdung für die Demokratie an und begreift sie als Folge mehrerer sich wechselseitig verstärkender Entwicklungen: (1) Die langjährige Vorherrschaft des Neoliberalismus, mit dem Effekt der Vernachlässigung nationaler Souveränität; (2) eine in den Demokratietheorien vorherrschende Überbetonung von Konsens, wie insbesondere in deliberativen Demokratiemodellen; (3) die Unfähigkeit dominierender rationalistischer Demokratietheorien, kollektive Identifizierungen zu verstehen, die für gelingende Politik und Öffentlichkeiten entscheidend sind, (4) das verstärkte Austragen von eigentlich politischen Konflikten in moralischen Registern von Gut und Böse, die (5) letztlich auf einer Kultivierung deterministischer Demokratieverständnisse beruhen, welche die konfliktorische Dimension jeder Sozialität negiert. Diese Entwicklungen münden in einer Aushöhlung des Pluralismus, der – Mouffe zufolge – das eigentliche Wahrzeichen moderner Demokratien darstellen sollte. Daher versäume es der gegenwärtige Kurs politischer Theorie und Politik, Bürger_innen unterschiedliche legitime politische Identifikationen anzubieten und schaffe einen Nährboden für fundamentalistische Identifikationen. Als originäres Moment der aktuellen Krise konstatiert Mouffe demnach ein Demokratiedefizit.13 Hieran anschließend sieht Mouffe die Gestaltung demokratischer Öffentlichkeiten als zentrale Aufgabenstellung gegenwärtiger Politik. Sie entwickelt ein agonistisches Öffentlichkeitskonzept, das auf „zwei Grundbedingungen fußt, der Notwendigkeit des Politischen und der Unmöglichkeit einer Welt ohne Antagonismen“14. Ihre Theorie bricht mit dem traditionellen Verständnis von Demokratie als „Abwesenheit von Macht“. Zur „conditio humana“ wird eine Anthropologie des Politi-

10 Mouffe 2002b, S. 101. 11 Dieses Phänomen finde laut Mouffe seine Ursprünge in der Französischen Revolution, wie auch in einer mit dem Erstarken der Mittelschicht einhergehenden Illusion eines schrankenlosen Konsenses (Mouffe 1995, 498). 12 Dieser Abschnitt basiert auf Schwarz 2009, S. 15f. 13 Vgl. unter anderem Mouffe 2008a, S. 21. 14 Schwarz 2009, S. 63.

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schen, die eine Anerkennung von Gegensätzlichkeiten15 als konstante konfliktuelle Dimension jedweder Konstitution von Gesellschaft einfordert. Die aus Hegemonie und radikale Demokratie stammenden Grundbegriffe der Hegemonie, des Antagonismus, der Logik der Differenz und der Äquivalenzkette finden in diesem Konzept ihren Platz, können an dieser Stelle jedoch nur skizzenhaft erläutert werden. Mouffes Ziel ist es, ein Gegenmodell zum vorherrschenden liberalen Diskurs in der politischen Theorie anzubieten, indem sie sich einer Radikalisierung der pluralistischen Demokratie verschreibt und mit ihrem agonistischen Öffentlichkeitsmodell die Idee kollektiver Identitäten im „demokratischen design“ zurückerobern will.

1. Zielsetzungen agonistischer Öffentlichkeit: Die Besonderheit des agonistischen Demokratiemodells von Mouffe wird vor allem vor dem Hintergrund ihrer Kritik an deliberativen und rationalistischen Demokratieverständnissen sichtbar. Auch wenn Mouffe ihren eigenen agonistischen Ansatz in der permanenten Auseinandersetzung mit konkurrierenden Vorstellungen von Demokratie entwickelt, soll im Folgenden ihr agonistische Öffentlichkeitsmodell an sich vorgestellt werden. Orientiert an Mouffes Theorie werden vier zentrale Zielsetzungen für agonistische Öffentlichkeiten skizziert.

1.1 Spielräume für eine demokratische „Jouissance“ Während Mouffe das vorherrschende rationalistische Paradigma für unfähig hält, adäquate Antworten auf gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen anzubieten und es dafür verantwortlich macht, die existierende Krise weiter zu verschärfen, schlägt sie vor, die affektive Dimension von Politik anzuerkennen und für demokratische Politik nutzbar zu machen. Sie bringt die Rolle der in der politischen Theorie zu Unrecht vernachlässigten menschlichen Leidenschaften, die sich aller Rationalität entziehen, mit dem Begriff „patio“ ins Spiel. Die Perspektive der klassischen Psychoanalyse aufgreifend, von der aus eine Trennung zwischen „ratio“ und „patio“ unhaltbar erscheint, wird eine „innere Gespaltenheit von Identitäten wie die menschliche Tendenz zu Aggression“16 mit ge-

15 Der Begriff Antagonismus ist hier übersetzt mit „Gegensätzlichkeit“ mit Bezugnahme auf folgende Definition: „(< 18. Jh.). Neoklassische Neubildung zu gr. antagōnizesthai ‚gegen jmd. Kämpfen‘, zu gr. Agōnizesthai ‚kämpfen‘ und gr. anti-, Nomen agentis: Antagonist. Weiter zu gr. agṓn ‚Kampf, Wettkampf, Versammlung‘, zu gr. ágeín ‚treiben, führen; schreiten, ziehen, gehen‘.“ (Kluge et al., 1999, S. 43). 16 Schwarz 2009, S. 45.

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dacht.17 Die Relevanz des Umgangs mit der Machtdimension im Gesellschaftlichen und der Rolle von Antagonismen wird damit abermals unterstrichen. Für das dezentrierte Subjekt – als Ort des Mangels – wird das Streben nach Ganzheit, als das, was „jouissance“18 verschafft,19 zum Movens für hegemoniales Streben. Wir/Sie-Konstitutionen werden in das Zentrum der agonistischen Arena gerückt, und so werden auch leidenschaftliche politische Gruppierungen, wie etwa beim Demonstrieren in einer Masse, als libidinöse Besetzung kollektiver Identitäten verständlich gemacht.20 Mit deutlich pluralistisch orientierten Argumenten macht Mouffe in diesem Kontext nicht Halt vor dem Begriff des Populismus, im Gegenteil: „Populism is a necessity“21. Sie verortet diesen Begriff allerdings in einem pluralistisch-demokratischen Szenario. Sie nennt zwei sich gegenüberstehende Leidenschaften, die der „Hoffnung“ pluralistischer Demokratinnen auf der einen Seite und der „Angst“ auf der anderen: „If you leave the affective dimension to right-wing populists, there is no way to fight against them. Not only has the affective dimension to be acknowledged, but it also has to be recognized that this affective dimension can be shaped in a much more progressive way. The two main passions in politics are fear and hope. The right-wing populists use fear – that is why they are fighting against immigrants. And it’s important for left-wing populists to mobilize the passion of hope: to show that there is an alternative to the current situation with the growing gap between rich and poor and the destruction of the welfare state. Right-wing populist are very much aware of the importance of using this affective dimension. It is crucial for the Left to acknowledge it and to intervene, to mobilize and to foster affect in order to create collective forms of identification that could deepen democracy.“22

Mit der Hervorhebung der Rolle der patio – in Form einer „passion of hope“ – wäre ein Kampf gegen den Rechtsextremismus23 denkbar, der dem mobilisierenden Potenzial des Populismus nicht abschwört. Die Öffentlichkeit soll dazu dienen, politi17 Vgl. Mouffe 2007, S. 36–41: In „Freud und die Identifikation“ greift Mouffe die Rolle des Unbewussten und die Dichotomie von Todes- und Lebenstrieb auf und wendet sie gegen rationalistische Subjektkonzeptionen. 18 Das „Genießen“ im Sinne Jaques Lacans grenzt sich dadurch vom bewussten Begehren ab, dass es eine einfache triebgesteuerte Befriedigung umfasst, die keinem höheren Sinn folgt als sich selbst. Dem Realen verhaftet, verbleibt dieses Streben nach einem Zustand eigener Ganzheit jedoch stets brüchig. 19 Freuds Psychoanalyse und die Subjekttheorie von Jaques Lacan wie deren Weiterführungen durch Slavoj Žižek und Yannis Stavrakakis stellen für Mouffes Theorie des Politischen zentrale Einflüsse dar und untermauern ihre Kritik an rationalistischen Demokratietheorien; vgl. u.a. Mouffe 2007, S. 38f. 20 Dieser Satz basiert auf Schwarz 2009, S. 45. 21 Mit diesem Anliegen geht Mouffe insbesondere auf mögliche Strategien für die Linke ein, vgl. Mouffe 2014. 22 Ebd. 23 Letztlich dient Mouffe das Beispiel des rechten Populismus zur Verdeutlichung der Anwesenheit der patio, in jeder politischen Formation.

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sche Leidenschaften zu mobilisieren und legitime Kanäle dafür zu sichern, in Form eines „democratic outlet“: Ausdrucksmöglichkeiten im öffentlichen Raum für widerstreitende Sinnformulierungen müssen gefördert werden. Zur Hauptaufgabe einer agonistischen demokratischen Öffentlichkeit wird hiermit das Bilden von politischen Identitäten in einem leidenschaftlichen, zugleich aber demokratischen Design: Das Dach der agonistischen Öffentlichkeitsarena soll viele unterschiedliche „Wirʼs“ in ihrem Streit beherbergen und unterschiedliche Identifikationsflächen anbieten, eine sichere Spielfläche für Leidenschaften.24 Im Spiegel der aktuellen „Wiederkehr der Autokraten“25 zeichnen sich zentrale Aufgaben hinsichtlich der von Mouffe betonten Rolle der „jouissance“ ab, die vor allem darin bestehen, legitime Austragungskanäle für politische Positionen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu schaffen. Der Demonstrations-Sonntag in Köln am 31. Juli 2016, der unter dem Zeichen des Militärputsches in der Türkei stand, soll hier als Möglichkeit einer Konkretisierung herangezogen werden. Trotz der Debatten im Vorfeld zu der Legitimität einer Pro-Erdogan-Demo, die eine Unterstützung eines diktatorischen Regimes auf demokratischem Boden genehmigte,26 fand fast alles wie geplant statt: Nahezu zeitgleich fanden an unterschiedlichen, doch benachbarten Veranstaltungsorten fünf Gegendemonstrationen und -kundgebungen statt: Linksrheinisch erhielten Köln gegen Rechts und parteinahe Jugendinitiativen unter dem Titel Für Demokratie und Menschenrechte in der Türkei einen Versammlungsplatz, während rechtsrheinisch Pro NRW und die Union Europäisch-Türkischer Demokraten, wie die mit 20 Teilnehmenden kleinste links gerichtete türkische Kundgebung, ihre Veranstaltungen abhalten konnten. Der mit großer Spannung erwartete Demonstrationssonntag verlief trotz dieser 5 Kundgebungen „friedlich“, wobei das Polizeiaufgebot entsprechend groß war und der Pro NRW Demonstrationszug aufgrund der Gewaltbereitschaft der Demonstranten letztlich aufgelöst wurde.27 Die eigentlich geplante Kundgebung der Kurdischen Gemeinde Deutschlands wurde jedoch kurzfristig abgesagt, um „die Erdogan-Anhänger nicht auf[zu]werten, zum zweiten befürchte man gewalttätige Auseinandersetzungen“28. Ist dies nun eine agonistische Öffentlichkeit, die einen „outlet“ für gesellschaftliche „jouissance“ im demokratischen design organisiert?

24 Zudem muss die Aufgabe gelöst werden, das „Demokrat_innen“ als starke „Wir“-Formation ein Gegenüber der „Nicht-Demokraten“ benötigen. Ansatzpunkte, die Mouffe dafür liefert, zeichnen sich als Strategie für die Linke ab, in der der Neoliberalismus hier als gemeinschaftsstiftendes Gegenüber dienen könne. 25 Hier mit Bezug auf das Aufstreben nationalistischer Politiker_innen in Russland, Türkei, Italien, Polen, Dänemark, England, USA und Ungarn, vgl. Ulrich 2016, S. 1. 26 Vgl. Breitenbach/Semenova 2016. 27 Kölner Stadt Anzeiger, 2016b; detailliert dazu Meyer/Akyüz/Gätke/Kreckel 2016. 28 Kölner Stadt Anzeiger, 2016a.

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Zunächst scheint dieser Demo-Sonntag in Köln vielen widerstreitenden „Wirʼs“ in ein und demselben städtischen Szenario Räume zuzusichern, die sie als Kanäle für ihre politische „jouissance“ nutzen dürfen. Dem Gegeneinander wird Spielraum gegeben, eine direkte Konfrontation wird allerdings nicht initiiert. Das „Fazit“ des Tages war, dass die Situation „emotional aufgeheizt“29 war. Patio und Polizisten schienen sich die Waage zu halten. Ohne Gewaltausschreitungen kann dieses Beispiel in gewisser Hinsicht als „demokratischer Outlet“ gesehen werden. Dennoch erlaubte das Szenario keinen sicheren Auftritt der Kurdischen Gemeinde Deutschlands, die eine deutlich scharfe Stimme gegen die Pro-Erdogan-Demo richtete. Dies wiederum lässt fragen, ob hier alle Kontrahent_innen gleichermaßen zugelassen waren. Die kurdische Seite musste sich mit der „jouissance“ einer distanzierenden Pressemitteilung zufrieden geben. Abbildung 1: Kölner Stadtanzeiger

Weiterhin ist fraglich, ob es an diesem Sonntag gelungen ist, offensichtliche Antagonismen durch dieses Gegeneinander unter dem Augenschein der Öffentlichkeit, in Agonismen zu transformieren. Dieser Aspekt, der gewünschte Effekt ausgelebten Widerstreits für eine pluralistische Koexistenz, ist letztlich das Ziel der „jouissance“-Arena.

29 Ebd.

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Weiterführende Fragen zur Einbettung der Rolle der „jouissance“ wären: Wie kann eine Stadt Räume für einen agonistischen Outlet schaffen? Wie kann der Zugang von Minderheiten gesichert werden? Welche Interaktionsformen verlangt eine agonistische Konfrontation? Ab wann disqualifzieren sich Agonist_innen als Antagonist_innen? Unabhängig von diesen hier unbeantwortbaren Fragen lässt sich feststellen, dass sich über das Kölner Szenario kein klares „demokratisches Wir“ unter Agonist_innen legen lässt. Letztlich lockte der Sonntag auch Antagonist_innen auf die Spielfläche und die Angst vor Gewalt war mitunter so gegenwärtig, dass potenzielle Agonist_innen, wie die Kurd_innen, die politische Szene nicht betraten. Mouffes Ziel wäre es dagegen, ein demokratisches „Wir“ von Agonist_innen zu schaffen, das den Radius der „Wir“-Formation vergrößert, indem es unterschiedliche demokratische Kämpfe im Gegeneinander zusammenbringt. Der „jouissance“ im Gegeneinander wird ein institutionalisierter Rahmen gegeben. Als passenden Angelpunkt unterschiedlicher agonistischer Identifikationsflächen sieht Mouffe die Betonung von zwei Prinzipien, des demokratischen Prinzips der Gleichheit und des liberalen Prinzips der Freiheit, welche das sozioethische Band bilden, das neben der „jouissance“ die Agent_innen in der Arena zusammenhält.

1.2 Das „ethisch-politische Band“ für ein pluralistisches Wir Die Zwischenposition, die Mouffe in der politischen Theorie einnimmt, wird mit dem Konzept des „ethisch-politischen Bands“ deutlich: Sie folgt sowohl der liberalen Betonung individueller Freiheiten und Rechte, wie einer republikanisch-kommunitaristischen Tradition staatsbürgerlicher Tätigkeiten und der Idee von Gemeinschaften.30 Als pluralistisch ausgerichtete Demokratietheoretikerin sucht Mouffe nach einem einheitsstiftenden Moment unterschiedlicher Wir-Gruppen einer Gesellschaft und findet dieses in zwei Prinzipien: im demokratischen Prinzip der Gleichheit und im liberalen Prinzip individueller Freiheit. Diese Prinzipien binden die agonistische Arena zusammen, da sie als weit interpretierbare leere Signifikanten die politischen Akteur_innen zu einer konkreten Artikulation und Interpretation aufrufen können. Gemeinsam teilen die Akteur_innen die Ideen – nicht aber deren Interpretation. Die Interpretation der Bedeutungen von Freiheit und Gleichheit sowie die jeweilige Art und Weise ihrer Anwendung auf soziale Verhältnisse und Institutionen bleibt umstritten.31+32 So gelingt es diesem Konzept,

30 Vgl. auch Schwarz 2009, S .70. 31 Mouffe 2008a, S. 44, S. 203. 32 Dieser Satz basiert auf Schwarz 2009, S. 69.

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die Spannung zwischen dem Universalen und dem Partikularen33 in einer offenen Austragung zu fixieren. Der Reduktion eines allgemeinen Prinzips auf eine bestimmte substanzielle Interpretation wird vorgebeugt und stattdessen zu einer Vielzahl widerstreitender Sinnformulierungen eingeladen. Die liberal-demokratischen Prinzipien „Freiheit und Gleichheit“ dienen hier als größtmöglicher Radius verschiedener „Wirʼs“, als „kollektives Artikulationsprinzip“. Sie dienen als Band für eine „moderne“ politische „Gemeinde“34, die durch die „gemeinsame Identifikation“ eine „commonality“35 entwickelt36, aber zugleich in nur „abstrakter Gemeinsamkeit“37 verbleibt, welche sich aus widerstreitenden Perspektiven auf allgemeinen Prinzipien ergibt. Diese Gemeinsamkeit wird allerdings mit der Aufforderung der Kontextualisierung eines Prinzips verbunden, das wiederum eine aktive staatsbürgerliche Teilhabe der Akteur_innen einfordert. Das technische Verständnis liberaler Ansätze, die den Bürger über die passive Kategorie eines Rechtsstatus definieren, wird abgelehnt. Das ethisch-politische Band kann als „Stoff“ dienen, „aus dem demokratische Politik gemacht ist“, indem „diverse Formen staatsbürgerlicher Identifikation“38 über dieses Band angeboten werden. Mouffe skizziert mit diesem kollektiven Artikulationsprinzip ein Modell, das die „Singularität“ der Entscheidung nicht mit der „Universalität der Regel“39 verwechseln möchte. Schließlich darf das Imaginäre (die Ebene des Individuellen, der über ein Selbstbild vermittelte Selbstbezug) nie vom Symbolischen (der Ebene kollektiv geteilter Bedeutungen und Verbindlichkeiten) verschüttet werden. Die Logik der Differenz erhält ihren Platz und wird neben der Logik der Äquivalenz40 in ein stetes Spannungsverhältnis überführt. Mit dieser theoretischen Intervention, reartikuliert Mouffe den Begriff der liberalen Demokratie „in Begriffen des ‚agonistischen Pluralismus‘“41 und stellt das der Demokratie innewohnende Paradoxon dieser zwei unvereinbaren Logiken42 in den Vordergrund, das als notwendige „konstitutive Span33 Vgl. hierzu Schwarz 2009, S. 86–103. 34 Skeptisch gegenüber einer gemeinsamen substanzialistischen Konzeption des Guten lehnt Mouffe den zu einseitig kommunitaristisch gefärbten Begriff der Gemeinschaft ab. Weitere Ausführungen zum Gemeinschaftskonzept übernimmt sie von Michael Oakeshott’s Konzept der societas, vgl. Schwarz 2009, S. 91ff. 35 Vgl. Mouffe 2005a, S. 60–73. 36 Vgl. Mouffe 1991, S. 83. 37 Schwarz 2009, S. 69f. 38 Mouffe 2002, S. 104. 39 Laclau 1999, S. 124. 40 Mouffe verdeutlicht die Logik der Äquivalenz anhand von religiösen Diskursen im Christentum, die letztlich eine Ausdehnung des Gleichheitsprinzips ermöglichten. Der Gedanke „alle Menschen sind vor Gott gleich“, vertiefte die Aufklärung in dem dieser auf die öffentliche Sphäre in Form der Staatsbürgerschaft übertragen wurde. Mit den sozialistischen Diskursen im 19. Jahrhundert erreichte die Ausdehnung der Gleichheitseffekte die ökonomischen Verhältnisse. 41 Mouffe 2008a, S. 26. 42 Vgl. Mouffe 2010, S. 9.

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nung“43 dem Erhalt einer pluralistischen Demokratie dient:44 Die liberale Idee der Freiheit, aus welcher der universale Rechtsschutz des Individuums, Gewaltentrennung, die Unterscheidung in öffentliche und private Sphäre, die Trennung von Kirche und Staat, wie der Pluralismus entstand, nimmt auf die Menschheit Bezug.45 Als universell-abstraktes Freiheitskonzept liefert es eine Grundlage dafür, unzählige Formen gesellschaftlich definierter Exklusionen kritisch herauszufordern. Die demokratische Idee der Gleichheit dagegen, welche Volkssouveränität, im Sinne einer „Identität zwischen Regierenden und Regierten“46 und das gleiche Recht aller Bürger_innen47 herzustellen suchte, verlangt die konkrete Definition von Gemeinschaft: „Demokratische Logiken [fordern] immer das Ziehen einer Grenze zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘, zwischen jenen, die zum ‚Demos‘ gehören, und jenen, die außerhalb sind.“48 In diesem Sinne implizieren demokratische Logiken ein „Moment der Schließung“49 – auf Grund der von der Inklusion geforderten Exklusion. Die demokratische Gleichheitskonzeption mit ihrem „Korrelat der Ungleichheit“50 ist „politisch“, da sie auf der „Möglichkeit einer Unterscheidung“51 basiert. Erst diese Unterscheidung gewährte den Bürger_innen eine Grundlage zur konkreten Ausübung ihrer Rechte.52+53 Die existierende Spannung zwischen diesen zwei Prinzipien sollte laut Mouffe in der agonistischen Öffentlichkeit nicht als lösbar betrachtet, sondern erkennbar und aufrechterhalten werden. Denn ihre Beziehung sei sowohl von gegenseitiger Dependenz gezeichnet, wie auch von Autonomie: „Both perfect liberty and perfect equality become impossible. But this is the very condition of possibility for a pluralist form of human coexistence in which rights can exist and be exercised, in which freedom and equality can somehow manage to coexist.”54

Nur „irgendwie“ vermögen es die Prinzipien „gemeinsam zu existieren“, – sie können in dem Sinne nicht verhandelt werden, sondern „verunreinigen“ sich, sobald sie

43 Mouffe 2008a, S. 22. 44 Hier mit Rückgriff auf Macphersons Analysen zur Begrifflichkeit der „liberalen Demokratie“, so wie auf Schmitt, der die Weimarer Republik als Beispiel für einen „Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie“ sieh. Während Schmitt aus dem grundlegenden Widerspruch dieser zwei Prinzipien die Nicht-Existenzfähigkeit der Mischform liberaler Demokratie ableitet, räumt Mouffe diesem als Ort des Paradoxons einen konstitutiven Platz ein, vgl. Schwarz 2009, S. 87ff. 45 Vgl. Mouffe 2008a, S. 20, 21, 34. 46 Ebd., S. 20. 47 Ebd., S. 23. 48 Ebd., S. 21. 49 Ebd., S. 56. 50 Ebd., S. 52. 51 Ebd. 52 Vgl. ebd., S. 54–57. 53 Die letzten beiden Abschnitte basieren zu Teilen auf Schwarz 2009, S. 87. 54 Mouffe 2000, S. 10f.

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aufeinandertreffen55. Ihre Spannung kann nur „vorübergehend […] stabilisiert“ werden, wobei hierfür ein Prinzip stets Überhand gewinnt, bzw. Hegemonie erreicht.56 Für die Umsetzung einer agonistischen Öffentlichkeit müsste das demokratische Gleichheitsprinzip wieder eine stärkere Aufwertung erfahren, da die gegenwärtige Vorherrschaft des Neoliberalismus diese mit einer Überbetonung des liberalen Prinzips kennzeichne. Wie sich dies konkretisieren ließe, verdeutlicht Mouffe allerdings eher in späteren Werken.57 Das theoretische Konzept des ethisch-politischen Bandes möchte Raum für die libidinöse Identifizierung in Gruppen und somit Raum für Konflikt gewähren, als die „radikalste Ressource [um] eine große Bandbreite von Unterordnungsverhältnissen herauszufordern“58. Hierfür spannt sich die agonistische Öffentlichkeit entlang ihrer radikalsten Grundsätze59, um viele legitime Wege für eine Opposition unterschiedlicher „Wirʼs“ anzubieten: „Auf dem Spiel steht die Legitimation von Konflikt und Teilung, das Auftreten individueller Freiheit und die Annahme gleicher Freiheit für alle.“60 Hierzu bedarf es einer „agonistischen Gemeinsamkeit“ der Bürger_innen, die sich von einer „organic unity“61 eines nationalen Wir’s abhebt, eher im Sinne einer „some kind of meta-identity“62, ohne das „Gemeinwesen [the common]“, auf fixierte Inhalte festzulegen – „a more political bond“63. Ein Band eines konfliktuellen Konsenses, gegen „die Entstehung eines homogenen Demos“64. Gefragt ist also die Aktivität von politischen Akteur_innen, die die Sinngebungen von Freiheit und Gleichheit weiterschreiben. Wie genau könnte solch ein kollektives Artikulationsprinzip angewandt werden? Und welchen Aufgaben müsste die agonistische Öffentlichkeit dafür nachkommen? In ihren späteren Werken nimmt Mouffe verstärkt Bezug auf die Europäische Union, die ihrer Ansicht nach zwar gegenwärtig unter einer Überbetonung einer rein wirtschaftlichen Gemeinschaft leide, deren Rahmenbedingungen aber sinnvoll sind, um weitere Identifikationsaspekte einer kulturellen und politischen Gemeinde aufzunehmen. Zur detaillierteren Weiterführung bezieht sie sich mit Kalypso Nicolaïdis auf den europäischen Rahmen einer „Demoi-kratie“ unterschiedlicher Nationen und Regionen, die sich als „a community of shared projects“65 um die Verfolgung von politischen Zielsetzungen im Umweltschutz, in der Armutsbekämpfung und für wirt55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65

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Vgl. Mouffe 2000, S. 10. Mouffe 2008a, S. 22. Vgl. Mouffe 2015. Mouffe 2008a, S. 35. Vgl. Mouffe 1992 S. 1f. Mouffe 2008a, S. 34. Mouffe 1992, S. 5. White 2010, S. 105. Ebd., S. 104. Mouffe 2015, S. 86. White 2010, S. 113; Mouffe 2015, S. 92ff; Kalypso 2004.

schaftliche Integration einsetzen. Für mögliche Verhandlungsebenen für EU-Bürger_innen greift sie auf James Tully66 zurück, dessen Ansatz ebenfalls von einem konfliktuellen Konsens ausgeht, was als „Vorbedingung“67 für die agonistische Konfrontation gelten könne, ohne dass bestimmten Verfahren dabei ein „meta-demokratische[r] Status“68 eingeräumt wird. Charakterisiert wird die Vorstellung des „Gemeinsamen“ weiter mit Jonathan White, der für eine „aktive Einbeziehung der Bürger in die Suche nach Lösungen für wichtige gemeinsame Probleme“69 den „politische Wettstreit“ 70 vorsieht. Zudem teilt Mouffe die These von Massimo Cacciari, nach der der Staat aktuell durch mikronationale und supranationale Bewegungen vor einer Zerreißprobe steht71, die mit einem „Föderalismus von unten“ bestanden werden kann. Hierfür müssen neben nationalen Identitäten auch regionale, wie in Grenzregionen und Städten berücksichtigt und entsprechende politische Kanäle geschaffen werden. Demnach sollen politische identitäre Einheiten erhalten und geschaffen werden, ohne diese auf Nationalität zu verkürzen, sondern indem diese in neuen „Vielheiten“ pluralisiert werden. Die Spannung zwischen diesen Polen, soll, wie etwa die zwischen Supranationalem und Nationalem, offener ausgetragen werden. Anhand von zwei Beispielen für konkrete gesellschaftliche Kämpfe für Freiheit und Gleichheit soll das „ethisch-politische Band“ mit Blick auf die Aufgaben einer agonistischen Öffentlichkeit nun näher besprochen werden. Ein „Hamburger Schwulenpaar erringt wegweisenden Sieg vor EU-Gericht“72 –, diese Nachricht gibt der Öffentlichkeit bekannt, dass eine Minderheit ihr Recht auf Freiheit und Gleichbehandlung auf einer supranationalen Ebene einklagen kann. In diesem Fall war die Klage gegen eine steuerliche Ungleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Eheleute in Bezug auf die Altersversorgung erfolgreich. Dies schuf 2011 einen Präzedenzfall, der auf weitere steuerliche Diskriminierungen auf Grund nicht-mehrheitlicher sexueller Orientierung übertragbar wurde. Allerdings begeben sich Personen, die mit ihrer Auslegung der Prinzipien von Freiheit und Gleichbehandlung73 für eine Veränderung des status quo streiten, mitunter auf einen steilen Weg. Ernst Hermann Maier, der sich als „Rinderrebell“74 oder mit dem Titel „Ein Bauer tanzt aus der Reihe“75 in einem 13 Jahre währenden 66 James Tully unterscheidet zwischen zwei Verhandlungsarten, bei der ersten, „steht das Ziel im Mittelpunkt, vorherrschende Normen infrage zu stellen und zu verändern, zur anderen kommt es, wenn mehrere Mitglieder der Gemeinschaft dieselben Normen teilen, aber in Übereinstimmung mit diesen unterschiedlich handeln.“ Mouffe 2015, S. 94; vgl. Tully 2007. 67 Mouffe 2015, S. 92. 68 Ebd., S. 94. 69 Ebd., S. 93. 70 Ebd., S. 94. 71 Ebd., S. 88. 72 Vgl. Hinrichs/Meyer-Wellmann 2011. 73 Vgl hierzu Schwarz 2009, S. 105f. 74 Rinderrebell 2013. 75 Ramme 2015.

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Rechtsstreit behauptete, setzte sich über EU-Richtlinien hinweg und tötet seine Rinder persönlich, anstatt, wie gesetzlich vorgeschrieben, im Schlachthof.76 Die auf ökonomische Effektivität ausgelegte suprantionale Gesetzgebung der EU schien zunächst im Vergleich zu Initiativen gegen Massenschlachtungen unzerrüttbar: „Bauer Maiers Schlachtmethode ist zwar schonend, aber gemessen an den strengen EURichtlinien, außergesetzlich.“77 Sein politischer Aktivismus zog das Ausbleiben von EU-Subventionen nach sich, was ihm ohne die zahlreichen Spenden von Sympathisanten, den Ruin seines Hofes beschert hätte. Seine Hartnäckigkeit bildete alles andere als den Normalfall ab und „irritierte“ das Regierungspräsidium: „Es ist recht ungewöhnlich, dass innerhalb der Verwaltung eine Anweisung nicht ausgeführt wird[...][.] Wir überlegen, wie wir den rechtskonformen Zustand wiederherstellen können.“78 Wenden sich Bürger_innen mit ihren politischen Begehren an die Landesebene, zeigt sich diese meist ohnmächtig und verweist auf die Brüsseler Richtlinien, wie in diesem Fall der Landwirtschaftsminister: „Herr Maier ich kann ihre Rechtsauffassung nicht teilen, Brüssel teilt sie nicht, Berlin teilt sie nicht, [...] es tut mir wirklich leid [...], die rechtliche Lage ist wie beschrieben und es lässt dem Regierungspräsidium hier keine andere Möglichkeit als auf Umsetzung der EU-rechtlich vorgeschriebenen Handlungen zu drängen. Das ist die Rechtssituation, sie haben hier eine andere Interpretation aus ihrer persönlichen Situation heraus, aber ich kann ihnen hier leider nur die Nachricht bringen.“ 79

Mit über 70 Jahren erhielt Herr Maier am Ende die Erlaubnis, zu schlachten wie er wollte, und schuf ebenfalls einen Präzedenzfall. Er ebnete den Weg für weitere nicht gewinnorientierte landwirtschaftliche Unternehmen: „Unter Einhaltung strenger Regeln darf auf Weiden nun geschlachtet werden, so wie es Maier tut.“80 Alle Landwirte, die das Verfahren anwenden wollen, konnten sich also bislang auf dieses Urteil berufen.81 Nicht selten scheint man sich auf Landesebene der supranationale Gesetzgebung zu ergeben und unter Berufung etwa auf die EU individuelle Initiativen zu unterdrücken. Mouffe macht deutlich, dass diese mitunter anstrengenden „(Dis-)Artikulationen“, die sich entlang der liberal-demokratischen Prinzipien in einer Gemeinschaft entfachen können, von zentraler Bedeutung dafür sind, die gegenwärtige Krise zu 76 Zum Hintergrund: „Dass alles kam, wie es kam, lag letztlich an Axel. 1986 war das. Der Bulle, ein Urahn von Germann, wollte partout nicht in den Schlachthoftransporter steigen. Drei Mann, zwei Stunden – vergebens. Notgedrungen erschossen sie den Bullen auf der Weide. Bei Ernst Hermann Maier hinterließ der Kampf Spuren: Er setzte sich in den Kopf, künftig all seinen Rindern den Viehtransport zu ersparen. Und er nahm sich an Axels Starrsinnigkeit ein Beispiel.“ (Wanzeck 2013). 77 Ramme 2015. 78 Wanzeck 2013. 79 YouTube-Video der Pressediskussion, Rinderrebell 2013. Zitiert von der Autorin. 80 Ramme 2015. 81 Trampenau 2011, S. 148.

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bestehen. Denn, „Stimmen halten die Demokratie in Atem“.82 Hier zahlt sich das Terrain der „Unbestimmbarkeit“ aus, mit dem sich eine Demokratie als Demokratie erst auszeichnet,83 da es einen Boden für ihre Bestimmbarkeit ebnet. Es schafft Resonanzräume für „I have a dream…“-Stimmen mit ihren Kämpfen für Freiheit und Gleichheit. Somit ist die Öffentlichkeit damit beauftragt, die Rolle der leeren Signifikanten von Freiheit und Gleichheit ins Zentrum der Debatte zu rücken. Ihre spannungsgeladenen, nie universell gültigen Auflösungen müssen erkennbar werden. Dies soll die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne von Gramsci „zum Tanzen“ bringen und die Zivilgesellschaft zu ihrer staatsbürgerlichen Teilhabe einladen. Während die zwei genannten Beispiele nicht nur auf die Aktivität Einzelner sondern auch auf die legitime Macht des Europäischen Gerichtshofes zurückgreifen, erwähnt Mouffe selten rechtliche Maßnahmen, die das kollektive Band zum Tragen zu bringen. In kommunitaristischer Tradition folgt Mouffe dem Bild der partizipativen Bürger_in. Sicherlich können Rechte ohne ihre Interpretation nicht zum Leben erweckt werden, doch verlangt dieser aktivistische Anspruch in der Konsequenz eine konkretere Hinwendung zur Gestaltung von Institutionen. Schließlich fordert Mouffe die Loyalität gegenüber dem Staat wie die Auseinandersetzung mit Institutionen, die sie in revolutionszentrierten Ansätzen vermisst84, auch wenn letztlich das offene Ende des Moments der Artikulation politischer Akteure überwiegt. Gerade das divergierende Zusammenspiel von nationalen und supranationalen Gerichtshöfen kann, wie in den genannten Beispielen, einen mobilisierenden Effekt für die Zivilgesellschaft bewirken. Im besten Fall werden auf beiden Ebenen die leeren Signifikanten „Freiheit“ und „Gleichheit“ gesichert und zu deren Artikulation aufgerufen, so dass sich unterschiedliche Muster gegenseitig verwirren können. Das der EuGh diese Rolle bereits zum Teil auch eingenommen hat, zeigt Rachel Cichowski: „The Court´s supremacy and direct effect doctrines provided a new opportunity for ordinary citizens to invoke EU law before their own national courts.“85 Jenseits der Debatte um das Demokratiedefizit der EU86, soll hier konstatiert werden, dass dieser institutionelle Rahmen im besten Falle für „bürger_innennahe“ agonistische Öffentlichkeit, genutzt werden könnte. So zeigt Cichowski87, dass der oft als undemokratisch kritisierte „distance issue“88 des EUGH, doch auch von Vorteil sein kann und durch Rechtsstreite einzelner Akteur_innen zunehmend durchbrochen wird.

82 83 84 85 86 87 88

Schwarz 2009, S. 70. Vgl. Lefort 1988, S. 16. Mouffe 2015, S. 113. Cichowski 2007, S. 259. Vgl. ebd., S. 258. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 258f.

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Nicht-majoritäts-orientierte Verfahren können so einen unersetzlichen und zentralen Beitrag zur Pflege einer Radikalisierung der liberal-demokratischen Prinzipien und gegen die Diskriminierung von Minderheiten leisten. Denn die Mehrheit besteht nicht aus Pionieren. Dafür ist allerdings eine Stärkung der Interaktion zwischen der Zivilgesellschaft und Gerichten die Voraussetzung, die entsprechende Rahmenbedingungen erfordern. Da schließlich nicht jede_r Bürger_in ein Herr Maier ist, sollte der Zugang zu der agonistischen „Arena“, die in diesem Fall rechtliche Institutionen mit einschließt, niederschwelliger und die hierarchische Struktur zwischen nationaler und supranationaler Gesetzgebung nicht als „unumstößlich“ gestaltet werden. Ansonsten bliebe das „ethisch-politische“ Band abhängig von einer Handvoll „unnormaler“ Pioniere. Ähnlich beschreibt Cichowsky die gegenwärtigen Entwicklungen von transnationalen Gerichtsprozessen: „While the vast majority of EU citizens are not directly involved, but instead rely on the work of these transnational activists, this mobilization over time can begin to make EU politics more reachable to the ordinary citizen.”89 Letztlich wird allerdings hier, – wie auch in dem Ansatz von Mouffe –, die „Erreichbarkeit“ der politischen Arena dem Einzelnen oder politischen Gruppierungen überlassen. Eine Pluralisierung der politischen Arenen im Sinne von Mouffe, müsste eine niederschwelligere Re-Organisation der entsprechenden Institutionen mit sich ziehen, die den Zugang zu Gerichten erheblich erleichtern würde. Sicherlich ist nie anzunehmen, dass es einen Zustand gibt, der dazu führt, dass „alle“ gleichermaßen politische Aktivität zeigen. Doch krankt meines Erachtens der aktivistische Ansatz von Mouffe daran, dass die strukturelle Seite zu wenig Beleuchtung findet, während der Zustand aktiv streitender Bürger_innen für ein pluralistisches Wir der agonistischen commonality in seiner Realisierbarkeit nicht angemessen problematisiert wird. Mouffe kritisiert zwar, dass „die EU nicht aus Bürgern, sondern aus Konsumenten“90 besteht, doch liefert sie keine weiteren konkreten Hilfestellungen, wie hier eine agonistische Öffentlichkeit entstehen könnte. Fest steht, dass politische „Arenen“ benötigt werden. Doch brauchen diese neben einem Raum auch gewisse Zeitfenster, in denen sich ein Wir konstituieren kann. Der in der westlichen Kultur verankerte Besitzindividualismus schwächt die Verantwortungsübernahme im Gesellschaftlichen und die vereinzelten, uneinheitlichen Arbeitsstrukturen der Bürger_innen könnten letztlich einen gemeinschaftlichen Gang in die Arena erschweren. Möglich wäre zum Beispiel, einen Tag in der Woche für alle Angehörigen einer politischen (regionalen oder lokalen) Einheit festzulegen, der für die agonistische Arena reserviert ist und auch als Teil der Lohnarbeit anerkannt werden könnte. Sicherlich scheint es in der gegenwärtigen Kultur nicht von heute auf Morgen realisierbar, dass zum Beispiel jeder erste Montag im Quartal oder ein Monat im Jahr zur (Re-)Artiku89 Ebd., S. 259. 90 Mouffe 2015, S. 97.

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lation der liberal-demokratischen Prinzipien freigehalten würde, aber für die Realisierbarkeit eines solchen ethisch-politischen Bandes wäre dies ein entscheidender Schritt. Neben Maßnahmen, die den Zugang zum EuGh leichter machen, müsste im Sinne von Mouffe die Rolle nationaler und regionaler Einheiten aufgewertet werden, um den in einer Art gesetzlichen „Mischlösung“91 liegenden pluralistischen Gewinn zu stärken. Schließlich erscheint es gegenwärtig fraglich, weshalb nationale Urteile nicht im gleichen Maße zu Präzedenzfällen werden können. Gerade die Vielschichtigkeit verschiedener Gerichte kann hier die Chance bieten, Äquivalenzketten zu intensivieren. Eine agonistische Öffentlichkeit könnte eine zentrale Rolle dabei spielen, die Eintrittsschwellen abzubauen, die Bürger_innen daran hindern, vor dem Europäischen Gerichtshof ihre konkrete Freiheits- und Gleichheitsinterpretation zu artikulieren. Sie hat die Aufgabe, die Prinzipien Freiheit und Gleichheit in ihrer Offenheit und Kontroversität in den Mittelpunkt zu stellen und zu Interpretationen einzuladen. Zudem kann die Betonung von sich kontrastierenden Gerichtsurteilen, die „Bestimmbarkeit“ demokratischer Gesellschaften verdeutlichen. In dieser Reformulierung der liberalen Demokratie „in Begriffen des ‚agonistischen Pluralismus‘“92, erhalten Paradoxien und Unreinheiten einen festen Platz. Die Realisierung einer pluralistischen Demokratie wird aus dieser Perspektive nicht in Aussicht gestellt,93 aber das Terrain der Unbestimmbarkeit in seiner Erkennbarkeit gesichert, um einem gesellschaftlichen Pluralismus die größtmögliche Spielfläche zu gewährleisten.94 Entgegen neoliberaler „Einheitskultur“95, die suggeriert, „dass Dinge nur so sein können, wie sie sind“96 soll „liberale Demokratie“ eine Vielfalt hegemonialer Projekte herausfordern und einen neuen Entwurf für eine demokratische politische Öffentlichkeit wagen.

1.3 Ständige Gegenartikulationen und Veränderungen öffentlicher Institutionen Was sind die Themen einer agonistischen Öffentlichkeit? Wenn eine agonistische Öffentlichkeit Fuß fasst und sich ein Band zwischen unterschiedlichen Wir’s etabliert, was steht auf dem Spiel? 91 Ebd., S. 88. 92 Mouffe 2008a, S. 26. 93 „Wer glaubt, pluralistische Demokratie könne je perfekt realisiert werden, transformiert sie in ein sich selbst widerlegendes Ideal, da die Bedingung der Möglichkeit einer pluralistischen Demokratie zugleich die Bedingung der Unmöglichkeit ihrer perfekten Implementierung ist. Aus diesem Grund ist es wichtig, ihre paradoxe Natur anzuerkennen.“ (Mouffe 2008a, S. 31f.) 94 Vgl. Mouffe 1992, S. 13. 95 Mouffe 1988, S. 93. 96 Vgl. Miessen 2007, S .8.

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Ausgehend von liberal-demokratischen Prinzipien können die spannungsgeladenen Trennlinien von „Privat/Öffentlich“, die Grenzen zwischen „Wir/Sie“, die Bestimmungskriterien von EU-Bürger_in und Nicht-EU-Bürger_in, wie auch die Machtzuteilungen zwischen supranationaler versus nationaler Gesetzgebung, stets herausgefordert und neu artikuliert werden. Diskurse über unterschiedliche mögliche Gesellschaften, andere Formulierungen von „Wirʼs“, müssen diese politischen Grenzziehungen zur Debatte stellen. Werden die existierenden Widersprüche und Paradoxien – zum Beispiel zwischen dem Nationalen und Globalen – zugunsten einer „wahren“ Version der Europäischen Union weiterhin ignoriert, so Mouffe, gefährde dies im direkten Umkehrschluss den „Fortbestand des europäischen Projekts“97. Werden andere Sinnartikulationen von vornherein ausgeschlossen, so erscheint der Bedeutungshorizont der EU so eng determiniert zu sein, dass anstelle eines Kampfes um legitime Reformen und Umwandlungen nur „der Ausstieg als die einzig verbleibende Lösung“98 bleibt.99 Diese These erhält durch den aktuellen Austritt Großbritanniens aus der EU konkrete Brisanz. Mouffe unterstreicht, dass neben dem existierenden Repräsentationsdefizit vor allem „die einseitig auf Sparmaßnahmen setzende Reaktion der EU“100 in der Finanzkrise abermals die Lage verschärfe. Letztlich werde hier eine Identifikation der Mitgliedstaaten mit der EU unmöglich gemacht, eine Identifikation, die genügend Spielraum ließe für nationale Souveränität und dennoch das „Wir“ eines demokratischen Europas anstrebe. Insofern sollte die Perspektive für eine pluralistische „Demoi-kratie“101 verfolgt werden, die viele unterschiedliche Wirʼs beherbergt und auf diese Weise ein starkes demokratisches „Wir“ zu stabilisieren vermag. Institutionen müssen sich also offener für Veränderungen zeigen. Sie bilden letztlich die konkreten Spielflächen für die Interpretationskämpfe im ethisch-politischen Band.102 Hier ein Beispiel aktueller politischer Artikulationen von Privat versus Öffentlich im Zusammenspiel des Gleichheitsprinzips: Ein im Oktober 2016 ratifizierte Gesetzesentwurf verpflichtet Arbeitsplatzgeber_innen mit mehr als 200 Beschäftigten zur Lohnauskunft. Stellenausschreibungen sollen zudem Hinweise auf das zu erwartende Mindestentgelt enthalten und Unternehmen mit über 500 Mitarbeiter_innen werden zu regelmäßiger Berichterstattung zur Lohngleichheit verpflichtet. In diesem Vorschlag rückt die Gehaltsfrage einen Schritt weiter von der Privatsache in die Ma-

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Mouffe 2015, S. 96. Ebd. Denn: „Sie sind überzeugt, dass die Ursache für unser derzeitiges Dilemma im europäischen Projekt liegt, und befürchten, dass mehr europäische Integration nur auf die Stärkung der neoliberalen Hegemonie hinauslaufen kann.“ (Mouffe 2015, S. 96). 100 Mouffe 2015, S. 97. 101 Vgl. Kalypso 2004. 102 Nähere Vorschläge finden sich dazu in diesem Buch in dem Beitrag von Manon Westphal.

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nege öffentlicher Diskussion. Sie wird anfechtbarer, da sie sichtbarer wird. Zu Recht fürchten daher Unternehmen, dass das Gesetz „Unfrieden in die Betriebe“ bringen werde und „ein Klima des Misstrauens und Ausforschens schaffen“103 könne. Wahrscheinlich ist dies auch das Ziel. Gerade Deutschland liegt mit einem Gender Pay Gap von 21% im Jahre 2015 als „eines der Schlusslichter in der Europäischen Union“104 weit entfernt von einer Lohngerechtigkeit. Unterschriftensammlungen und politische Aktionen von politischen Gruppierungen, wie vom Deutschen Gewerkschaftsbund-Frauen und dem Deutschen Frauenrat forderten somit ein Gesetz für mehr Lohngerechtigkeit von Frauen und Männern. Gehaltsunterschiede sollte nicht länger in den Bereich des Privaten verbannt und dort gleichsam versteckt werden. Hierzu müssen jedoch die politischen Unterscheidungen zwischen „Privat“ und „Öffentlich“ neu diskutiert werden. Als allgemeine Kursrichtung für institutionelle Umwälzungen sieht Mouffe, wie erwähnt, eine verstärkte Einbindung der wachsenden regionalen und nationalen Bewegungen, die sie in erster Linie als Entgegnungen zum neoliberalen Kurs der EU interpretiert. Sie konstatiert, dass angesichts der gegenwärtigen Dominanz des liberalen Prinzips im EU-Projekt Einwände gegen die „Ideologie des Freihandels“105 zu schnell und zu Unrecht aus der demokratischen Arena verwiesen werden, was zu einer Verstärkung nationaler wie internationaler Ungerechtigkeiten führt. Zur Stabilisation der nationalen wie internationalen politischen Situation sollten stattdessen die kritischen Stimmen zur Debatte eingeladen werden. Die Linke müsse nun eine „post“-sozialdemokratische Version anbieten, die diesem einseitigen Kurs eine „Form des europäischen Protektionismus“106 entgegensetzt, und in einem „multipolaren“ Ansatz eine Gemeinde unterschiedlicher Projekte auffängt.107 Zu den Ausführungen von Mouffe passen die gegenwärtigen Demonstrationen gegen die Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada, gegen die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) und die Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA). Augenscheinlich vermag es dieser Anlass, Bürger_innen zu Agonist_innen werden zu lassen und zu einer der „größten Demos seit dem Mauerfall“108 mit 250.000 Menschen in Berlin zu mobilisieren. In der medialen Öffentlichkeit ist bekannt, dass TTIP eine „Rekordzahl von Gegnern auf die Straße“109

103 104 105 106 107

Niesen/Töpper 2016. Destatis 2016. Mouffe 2015, S. 100. Mouffe 2015, S. 99. „Die Welt ist kein Universum, sondern ein Pluriversum, und das westliche Modell stellt nur eine mögliche politische Lebensform unter mehreren dar.“ Mouffe 2015, S. 103. 108 Dies formulierte die Berlin Online 2016; nicht zu übersehen sind 450.000 Menschen in Hamburg am 13.12.1992 gegen Fremdenhass, vgl. Zeit Online 2016; der Protest gegen den IrakKrieg am 16.02.2003 mit 500.000 Menschen, vgl. Frankfurter Allgemeine 2003, etc. 109 Vgl. Zeit Online 2016a.

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bringt; deutschlandweit110 werden zahlreiche Veranstaltungen von Umwelt- und Verbraucherschützern, Sozialverbänden, Gewerkschaften wie auch Privatleuten organisiert. Angesichts dieser – aller beschworenen Politikverdrossenheit zum Trotz existierenden – agonistischen Öffentlichkeiten von sich gruppierenden demokratischen Gegner_innen, ist es nach wie vor fraglich, inwieweit dieser ernste international-nationale Widerstreit zugunsten einer nationalstaatlichen Souveränität und damit zugunsten demokratischer Repräsentationsverpflichtungen politischer Institutionen gegenüber Bürger_innen ausgehen wird. Worauf soll das demokratische Lebensgefühl bauen können, wenn diese lokalen politischen Bewegungen ohne zu Zögern internationalen Wirtschaftsinteressen geopfert werden? Für diese Stimmen bildet Wallonien als einzige Gegnerin des Abkommens keine „gefährliche Bedrohung für die EUHandlungsfähigkeit“111. Wenn bestimmten Medien für Neoliberalismus-Gegner_innen nur noch das Wort „Fundamentalisten“112 einfällt, sollte die politische Markierung zwischen Neoliberaler Ökonomie versus Ordoliberaler Ökonomie wieder ans Licht kommen. Erst wenn hier zu einer Debatte eingeladen wird, in der unterschiedliche politische Lösungen als legitime Alternativen in Frage kommen, kann der monolithische Pseudodiskurs der EU – ähnlich einer „Pseudo-Öffentlichkeit“113 – aufgelöst werden. Für viele sind die „Fundamentalisten der Wallonie“114 daher ganz im Gegenteil diejenigen, die den „Weg […] für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger“115 freimachen. Wird dieser politische Interessenskonflikt nicht als solcher in der Öffentlichkeit legitimiert, werden TTIP und CETA zu einem weiteren Symbol der Aushöhlung nationaler Souveränität angesichts mächtigerer Gegner aus der internationalen Wirtschaft. Eine agonistische Öffentlichkeit im Sinne von Mouffe scheint in der Gegenwart nicht praktiziert zu werden. Anstatt zur imaginären Einheit der EU zu drängen, in der für Handlungsfähigkeit und politische Stabilität die wirtschaftliche Globalisierung als einzig akzeptable Bedingung vorausgesetzt wird, sollten politische Gegnerschaften mit unterschiedlichen Positionen anerkannt werden. Insbesondere ist es fraglich, inwieweit ein „Überhören“ liberalismuskritischer Stimmen wiederum Rechtspopulisten Aufwind verschafft, die sich in diesem Kritikfeld mit rechtsextremen Ideologien einnisten und den größeren Teil der Presse damit besetzen. Wird 110 Laut Veranstalter fanden unter anderem erst am 17.09.2016 weitere sieben Demonstrationen in deutschen Großstädten statt, mit insgesamt 320.000 Demonstrierenden, vgl. dazu TTIP-Demo-Büro 2016. 111 Weingärtner 2016. 112 Vgl. hierzu Moring 2016. 113 Diesen Begriff verwendet unter anderem Carl Schmitt in seinem 1938 erschienenen Buch Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes als Abrechnung mit dem NS-Regime und dessen „Pseudo-Öffentlichkeit“; vgl. Burkhardt 2013, S. 26. 114 Vgl. ebd. 115 Vgl. Strasser 2016.

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hier fälschlicher Weise der gegenwärtige Diskurs auf Neoliberalismus versus Rechtspopulismus reduziert, erfährt die Debatte eine gefährliche Vereinfachung. Daher müssen scheinbar unanfechtbare Diagnosen, die dualistische Moralszenarien entwerfen, wie der Slogan „Populismus bremst das Wachstum“116, auf ihre impliziten politischen Gehalte hin befragt werden. Implizite Hegemonien unterschiedlicher Wachstumsdefinitionen, wie etwa qualitatives versus quantitatives Wachstum und unterschiedliche Marktwirtschaftsformen müssen auf institutioneller Ebene einen ernsthaften Platz in der Debatte erhalten. Mouffe macht deutlich, dass die gegenwärtige Tendenz der Moralisierung von Diskursen durch eine agonistische Öffentlichkeit aufgebrochen werden muss, da sich ansonsten zunehmend unauflösbare Antagonismen bilden. Den „Return of the political“ gilt es in strukturelle Bahnen zu lenken und nicht in Form von Antagonismen von der politischen Bühne zu verbannen. Werden die gegenwärtig schwelenden Konflikte zwischen mikroregional und supranational gegenläufigen Interessen durch die Hegemonie supranationaler Wirtschaftsakteure in ihrem Ausgang vorprogrammiert, führt das zu einer Verdrängung agonistischer Debatten. Laut Mouffe schafft dies einen Demokratieabbau und wird zu einem Nährboden für Antagonismen. Für eine agonistische Öffentlichkeit gilt es demnach, die Artikulationen von internationaler/nationaler Gesetzgebung in ihrer Konflikthaftigkeit zu betonen und nationale Stellungen in ihrem politischen Debattenrecht zu stärken. Die Öffentlichkeit erhält die Aufgabe, institutionelle Gegebenheiten nie als endgültig fixiert zu betrachten und die unterschiedlichen Perspektiven, mit den für sie konstitutiven Trennlinien von privat/öffentlich, national/transnational etc., stets aufs Neue aufzuweichen. Zudem muss Öffentlichkeit darauf zielen, die „Europäische Gemeinde“ in Form eines offeneren „soziopolitisches Projekt[s]“117 zu stärken, das eine „Vielzahl von Interessengruppen“ beherbergt. Werden wieder mehr Stimmen „zugelassen“, sinkt das institutionell verankerte Demokratie- und Repräsentationsdefizit, das durch einen Mangel an wahrhaftigen Alternativen entstanden ist. Doch wer kämpft in der Arena gegen wen? Und wie?

1.4 Aufruf zum Kampf unter Agonist_innen als legitime Widersacher_innen Mouffe möchte mit ihrem Ansatz einen „theoretische[n] Rahmen“118 für eine Öffentlichkeit bieten, in der Feind_innen zu Gegner_innen werden. Zur Sicherung des Moments von Konflikt und somit von Pluralismus, wird der Begriff der „Gegnerin“ die „zentrale Kategorie demokratischer Politik“119. Doch was bedeutet hier Öffent116 117 118 119

Huverscheidt 2016. Vgl. ebd. Mouffe 2008a, S. 27. Mouffe 2002b, S. 105.

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lichkeit? Meint sie eine persönliche Einstellung? Eine agonistische Perspektive, in der die Welt verstanden werden soll? Letztlich geht es um einen Beziehungsmodus, den Mouffe für die von ihr anvisierten Formen demokratischen Zusammenlebens impliziert. Entgegen einer Austragung des Politischen in moralischen Registern, wird eine offene Austragung des Politischen vorgeschlagen, als ein Kampf um unterschiedliche legitime Projekte. Gelöst werden können Konflikte nur pragmatisch und deren Ergebnisse sollten nie in ihrer Legitimierung universalisiert und in Stein gemeisselt werden. Hierzu schlägt Mouffe die Katgeorie „Gegner_in“ vor, die sich von dem ökonomisch gefärbten Begriff der „Konkurrent_in“ abheben soll.120 Während das hier als Grundskizze genutzte Schmittsche Freund/Feind-Modell die antagonistische Dimension betont,121 denkt Mouffe dessen Transformation in einen Agonismus weiter, womit es nicht bei sich gegenseitig auslöschenden „Feind_innen“ verbleibt, sondern eine Gleichzeitigkeit von mit- und gegeneinander kämpfenden Gegner_innen impliziert. Insbesondere der von Mouffe genutzte englische Begriff „adversary“ ist hier ethymologisch interessant, da in dem Verb advertere zwei gegenstrebige Bewegungen einer Konfrontation in paradoxer Weise kombiniert sind: Ein Entgegenwenden schließt ein Zuwenden mit ein. Diese Spannung kennzeichnet die agonistische „Beziehung“122: Gegner zeichnen sich untereinander sowohl durch Widersprüchlichkeiten aus, als auch durch Gemeinsamkeiten. Das gemeinsame Einverständnis über die liberal-demokratischen Prinzipien, bieten den „certain amount of consensus“123, der notwendig ist für den Zutritt zum „privileged terrain of agonistic confrontation among adversaries“124. Die widerstreitenden Auslegungen der Prinzipien wiederum schaffen ernstzunehmenden Streit, der Gewinner_innen und Verlierer_innen fordert. Konsens wird in dem Sinne nicht ausgeschlossen, aber eben lediglich als „a possible achievement rather than a presupposition“125 angesehen. Das Ziel des agonistischen Beziehungsmodus besteht in einem Verhältnis von „friendly enemies“126, indem eine Kontrahent_in als „legitimate enemy“127 respektiert und „in einer gewissen Hinsicht als gleichberechtigt angesehen wird“128, sprich ein Recht auf Verteidigung hat. Der Opponent wird zu einer Person, „mit dem wir die Loyalität gegenüber den demokratischen Prinzipien von ‚Freiheit und Gleichheit 120 Mouffe 2008a, S. 103. 121 Mouffe dekonstruiert und reartikuliert hier als Basis das Freund/Feind-Modell von Carl Schmitt; vgl. hierzu Schwarz 2009, S. 45f. 122 Mouffe selbst verwendet den Beziehungsbegriff nur selten. Allerdings bringt eben dieser den implizit hohen Anspruch des agonistischen Ansatzes zum Ausdruck. 123 Mouffe 2008a, S. 103. 124 Ebd. 125 White 2010, S. 113. 126 Mouffe 2010, S. 13. 127 Mouffe 2004, S. 46. 128 Angus 2008, S. 25.

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für alle‘ teilen, obwohl wir bezüglich ihrer Interpretation nicht übereinstimmen.“129 Die politische Gemeinde identifiziert sich mit dem „ethisch-politischen Band“ der Prinzipien Freiheit und Gleichheit, die an sich ein ebenso paradoxes Spannungsverhältnis illustrieren, wie das der agonistischen Arena einer pluralistischen Demokratie, in der das „mixed-game” stattfinden kann, „that is, in part collaborative and in part conflictual“130. Der agonistischen Öffentlichkeit fällt die Aufgabe zu, als „demokratisches Ventil“ zu fungieren, als Raum der „jouissance“, in dem die „agonistische Konfrontation“ Antagonismen zu entschärfen vermag. Auffallend ist, dass Mouffe diese oberste Zielsetzung nie als völlig realisiert begreift. Die Anerkennung des „rauhen Bodens“ scheint als unzerrüttbarer Bestandteil eine agonale Politik zu Bescheidenheit anzuhalten: Antagonismen können lediglich „gezähmt“, „sublimiert“131 oder „entwaffnet“132 werden. Anstatt sie mittels Eliminierung aufzulösen, sucht agonistische Politik nach Möglichkeiten der Anerkennung und Transformation von Antagonismen. Auf den hohen Anspruch, den Mouffe mit dem „agonistischen Habitus“ verbindet, soll an dieser Stelle detaillierter eingegangen werden. Mouffe möchte ein Bild von Bürger_innen entwerfen, das mehr umfasst als einen bloßen Rechtsstatus und das über die Passivität des Regiertwerdens hinausgeht. Doch was wird für eine agonistische Verbindung unter Aktivist_innen vorausgesetzt? Geht Mouffe nicht soweit, dass sie das Bewusstsein für einen pluralistisch-demokratischen Beziehungsmodus von Bürger_innen implizit einfordert? Ohne diesen Modus scheitert die Arena kläglich. Was wird hier vorausgesetzt? Sie fordert die Anerkennung einer radikalen Negativität. Mouffe fordert mehr als eine Akzeptanz von Unterschieden und ein Predigen kosmopolitischer Einheitsperspektiven. Die nun „modernen“ und „reifen“ Bürger_innen praktizieren einen neuen Umgang mit anderen „Wirʼs“: „Its acceptance of the other does not merely consist in tolerating differences, but in positively celebrating them because it acknowledges that, without alterity and otherness, no identity could ever assert itself.“133 „Wir“ – sofern wir pluralistische Demokrat_innen sein wollen – haben die Aufgabe, andere Wirʼs in ihrer Ungleichheit zu feiern, da sie uns in unserer Identität bestärken. Zumindest solange diese Wirʼs demokratische „Wirʼs“ bleiben. Dieser Umgang mit Differenz, der sich nicht mit dem Wort Toleranz zufrieden gibt, steht im Zeichen einer aktiven Auseinandersetzung mit sich selbst. „Agonismus“

129 130 131 132 133

Mouffe 2002b, S. 105. Mouffe 2004, S. 47. Mouffe 2008a, S. 139, Fn 105. Vgl. Mouffe 2007, S. 38. Mouffe 2004, S. 48f.

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wird somit zur „Konstruktion einer anderen Beziehungsform“134 und soll einen entscheidenden Beitrag „für eine reifere Demokratie“135 leisten.136 Hier lassen sich mindestens zwei aktuelle Fragestellungen vorbringen: •



Wie kann sich ein „Feiern von Differenz“, als dankbares Bewusstsein für das Versichern der eigenen Identität, – also eine agonistische Bürger_innenkultur – stärken lassen? Was ist mit rechtsextrem ausgerichteten Bürgerbewegungen und parteipolitischen Strömungen, wie PEGIDA und AFD, die demokratische Verfahren nutzen, um pluralistische Gesellschaften zu bekämpfen? Wo verlaufen hier die Grenzen zwischen Antagonismus und Agonismus?

Schließlich ist das agonistische Demokratiemodell eines, das die menschlichen Abgründe und Paradoxien nicht übertüncht und dennoch versucht, radikale Antagonismen zu bändigen. Doch wie lässt es sich in die Praxis umsetzen?

1.5 Zum agonistischen Habitus – Ein herausfordernder Beziehungsmodus137 Zur Kultivierung eines agonistischen Habitus nennt Mouffe lediglich am Rande in einem Interview 2001 eine Hilfestellung, die die Perspektive „einfacher Differenz“138 fördern könne: „One way of doing this is to multiply Us–Them relationships in order to ´divide` passions. So, for instance, if, in a group of three people, A, B, C, A and B are in Us–Them relationship because of their different religious affiliations, and B and C are in another Us–Them relationship because of their political affiliation, and A and C are yet another one on the basis of the language they speak, and so on, it is less likely that antagonisms will emerge. Because the best condition for the emergence of antagonism, of a friendenemy relationship, is when the Us and the Them are determined in such a way that the Us is ethnically, religiously and linguistically homogeneous, and the Them is different in all these aspects.”139

Dieser knappen, doch äußerst gehaltvollen Skizze, die sicherlich den Titel „Das kleine ABC der Anti-Diskriminierung“ verdient hätte, lassen sich mindestens zwei Aspekte ablesen.

134 Mouffe nennt diese interessanterweise eine „dritte Beziehungsform“ (Mouffe 2007, S. 29), wenngleich sie Konzepte des sogenannten Dritten Weges als unpolitisch kritisiert. 135 Mouffe 2007, S. 85. 136 Trotz ihrer Kritik an Francis Fukuyama scheint selbst Mouffe nicht völlig frei von dem Denken in Entwicklungsstufen zu sein. 137 Dieser Abschnitt beruht auf Schwarz 2009, S. 72–75. 138 Vgl. Mouffe 1994, S. 108. 139 Mouffe 2001b, S. 12.

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Zum einen scheint das Konzept agonistischer Konfrontation Räume zu benötigen, in unterschiedliche demokratische Wirʼs übergreifende „Ähnlichkeiten“ finden können, ohne völlige Gleichheit zu kultivieren. Hierfür müssten allerdings Begegnungsräume geschaffen werden, die heterogene Gruppen in Austausch bringen. Neben den „Ähnlichkeiten“, die Mouffe hier zum Aufbrechen verkrusteter „Wir/Sie“-Formulierungen vorschlägt, betont sie noch stärker die „integrative Funktion von Konflikt“. Dies erinnert an die Kontakthypothese140, die sich den Abbau von Vorurteilen durch Begegnungen zum Ziel setzt. Zum anderen benötigt eine agonistische Öffentlichkeit Agonist_innen, die sich gegenseitig als solche anerkennen und für ihre politischen Ziele anhand ihrer Artikulationen von Freiheit und Gleichheit eintreten und kämpfen, obgleich unentschieden ist, ob sie die Arena als Verliererinnen oder Gewinnerinnen verlassen. Sie begnügen sich damit zu wissen, dass die Arena für sie offen bleibt und sie gegebenenfalls erneut antreten können, ohne dass es je eine endgültige Zuordnung zur Verlierer- oder Gewinnerseite geben könnte. Soll sich eine agonistische Öffentlichkeit etablieren, müssen die dem Zwischenmenschlichen innewohnenden Herausforderungen explizit gemacht und dieser agonistische Umgang im Mit- und Gegeneinander genauer betrachtet werden. Auf den ersten Blick fallen mindestens drei Herausforderungen auf: Wenn in Mouffes Sprache die Rede davon ist, „Leidenschaften zu teilen“ (s.o.), bedeutet dies unweigerlich, dass die eigene „jouissance“ auf gewisse Weise „zer-“teilt wird. Schließlich wird einem nach Einheit strebenden Wir zwar Spielraum gegeben, doch fortwährend der totalitäre Anspruch geraubt. Wenn „essentialistische“ Gruppenidentifikationen auf diese Weise unbefriedigt bleiben, ist die Frage, ob die politischen Agent_innen noch genügend „jouissance“ erfahren, um an einer agonistischen Kultur weiterhin teilnehmen zu wollen. Zudem wird die Akzeptanz von ständig veränderbaren politischen Entscheidungen und dem Fehlen ultimativer Lösungen erwartet. Diese Bereitschaft und Fähigkeiten setzen bereits eine hohe Frustrations- und Ambiguitätstoleranz voraus. Nicht zuletzt baut die agonistische Arena zudem auf der Kernfähigkeit auf, für die eigene politische Position überhaupt einzutreten. Auch der Modus „einfacher Differenz“ erscheint nicht als leichtes Unterfangen. Wie Gerry Stoker zu Recht formuliert, beruht die Anerkennung anderer politischer Positionen – ganz zu schweigen von der Mouffschen Perspektive feierlicher Dankbarkeit – , auf einer aufs Äußerste herausfordernden Fertigkeit: „that hardest of human skills: listening carefully to the opinions of others and their expression of their interests“141. Aus systemischer Sicht kommt der agonistische Beziehungsmodus, den Mouffe als Reformulierung oder Transformation der Wir/Sie-Kategorie, vom Antagonismus in einen Agonismus 140 Vgl. Aronson/Wilson/Akert 2004, S. 517–523. 141 Stoker 2006, S. 10–11.

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theoretisiert, einem „Reframing“ gleich, für eine reflektierte Praxis des Miteinanders.142 Im Sinne des skizzierten ABCʼs der Anti-Diskriminierung, könnten bestehende „Wirʼs“ aufgebrochen und multipliziert werden, in dem gesellschaftliche Begegnungsräume für politisch divergierende Gruppen, gruppen-übergreifend re-organisiert werden. Zum Beispiel in Form milieu-, generationen-, genderübergreifender Lern- und Arbeitsräume sowie Kommunikationsangebote. In derart heterogenisierten Lernräumen könnten potenzielle Gegner_innen neue Gemeinsamkeiten kennenlernen. Die lebendige politische Öffentlichkeitskultur einer agonistischen Demokratie als Lebensform stellt hohe Ansprüche an deren Bürger_innen. Sie adressiert damit viele Aufgaben an das Feld der politischen Bildung, quasi einen ganzen Lernkatalog. Gegen die den heutigen Bildungssektor dominierende Tendenz, wirtschaftlich nutzbare Kompetenzen zu vermitteln, sind hier Ansätze zur Förderung eines agonistischen Habitus gefragt.

2. Fazit: Empfehlungen für agonistische Öffentlichkeiten Die hier aus den Zielsetzungen agonistischer Öffentlichkeiten entwickelten möglichen Ideen und Konsequenzen, lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) Nach dem Vorbild des „Demo-Sonntags“ in Köln 2016 können politische Arenen geschaffen werden, die auch gefährdeten Stimmen von Minderheiten Möglichkeiten sichern, öffentlich das Wort zu ergreifen. Die agonistische Arena lädt zu divergierenden „Wir/Sie“-Formationen ein. Zu überlegen ist, inwieweit interaktive Szenarien einen „outlet“ politischen Widerstreits intensivieren könnten. Denkbar sind lokal oder regional organisierte „outlet“-Räume, die in kleinem Rahmen politische Positionen bürger_innennah erfahrbar machen. Politische Leidenschaften sollten auf diese Weise mit ihren Forderungen öffentlich anerkannt und herausgefordert werden. Um die affektive Dimension aufzuwerten, könnten künstlerische Aktionen hier integriert werden, wie etwa Theater. Räume für eine Art pluralistisch gelebten Populismus müssten entsprechend designt werden. Ihr Ziel besteht darin, zur Entwicklung eines stabilen demokratischen „Wirʼs“ beizutragen. b) Als Grenze und Stoff der politischen Arena kreisen die Kämpfe innerhalb des ethisch-politischen Bands der Prinzipien Freiheit und Gleichheit um deren jeweilige Interpretation. Demzufolge werden diese beiden Prinzipien in ihrer Offen142 Daher rückt der agonistische Ansatz nahe zu dem von William Connolly geforderten „agonistischen Ethos“.

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heit betont und es wird zu widerstreitenden Interpretationen aufgerufen. Durch vereinfachte Zugänge für Bürger_innen zu inter- und nationalen Gerichtshöfen, wie eine Re-Balancierung von supranationaler versus nationaler Gesetzgebung, könnten Demokratiedefizite abgebaut werden. c) Öffentliche Institutionen betonen die für sie konstitutiven politischen Markierungslinien, wie z.B. Privat versus Öffentlich. Sie zeigen sich für soziale Bewegungen empfänglicher und multiplizieren somit agonistische Öffentlichkeiten. Im Ergebnis entwickeln sich egalitärere Institutionen. d) Agonist_innen definieren sich durch ihren gegenseitigen Respekt als politische Gegner_innen mit widerstreitenden Positionen. Neben diesen Ableitungen und Weiterentwicklungen des Modells agonistischer Öffentlichkeit, werden jedoch auch Leerstellen offensichtlich, auf die abschließend in Form von drei weiteren Empfehlungen eingegangen werden soll:

2.1 Die Aufgaben politischer Bildung Mouffes grundlegender Ansatz aus der Perspektive radikaler Negativität, Differenzen als identitätsstiftende Notwendigkeiten wertzuschätzen, verlangt weitaus mehr als eine gute Theorie: Gefragt ist eine Art „agonistischer Habitus“. Für gesellschaftliche Veränderungen könnten zum Beispiel verstärkt Interaktionsräume für heterogene Gruppen geschaffen werden, damit Chancen für gemeinschaftsstiftende Identifikationen gegeben werden. Zudem könnte politische Bildung bzw. eine „agonistische“ Demokratiepädagogik in Schulen, Firmen, öffentlichen Behörden und Institutionen Einzug finden. Auf diesem Wege könnten sich politische Öffentlichkeiten multiplizieren und die Identifizierung mit lokalen und kommunalen politischen Einheiten gefördert werden. Die politische Bildung müsste Wege liefern, die Bürger_innen einen Verantwortungsraum jenseits ihrer Konsumentenrolle eröffnet. Das Politische sollte vom rein Privaten wieder stärker an gesellschaftliche Öffentlichkeiten angeschlossen werden. Diese Zielsetzungen einer politischen „agonistischen“ Bildung müssten umfassend erörtert und gefördert werden.

2.2 Die journalistische Verantwortung zur agonistischen Sprachlichkeit Erstaunlicherweise geht Mouffe in ihrem Öffentlichkeitskonzept nie detailliert auf die Rolle der öffentlichen Medien, der vierten Gewalt, ein. Für die Konzeption einer agonistischen Arena sollte dies keine Leerstelle bleiben, sondern die besondere Position der Medien im Herstellungsprozess eines „common sense“ hervorgehoben wer219

den. Aus radikaldemokratischer Perspektive ist es von großer Brisanz, wie Sprachspiele und Symboliken in den Medien praktiziert werden, – die Rolle der Artikulationen: Sind sie primär ökonomisch oder politisch informiert? Leben Bürger_innen in ihren eigenen „Echokammern“ dank sozial-digitaler Medien und verpassen die agonistische Debatte? Wie werden Wir/Sie-Beziehungen medial repräsentiert? Wie werden politische Entscheidungen dargestellt, als universalistische Geltungsansprüche oder agonistische Pragmatik? Welches konstitutive Außen wird wie für die nationale Identitätskonstruktion genutzt? Werden Exklusionen deutlich genannt oder versteckt? Ist der Diskurs moralisiert eingeengt oder findet sich eine Vielzahl an politisch unterschiedlich anerkannten Positionen? Für eine agonistische Arena im hier beschriebenen liberal-pluralistischen Sinne sind diese Fragen von Bedeutung, da von ihren Antworten abhängt, wer zur agonistischen Konfrontation „ein-“ oder „ausgeladen“ wird, ob überhaupt agonistische Arenen im Gesellschaftlichen existieren und wie sie gepflegt werden können. Sprachspiele und Praktiken, die als Horizont das denkbar Mögliche zeichnen, geraten in den Vordergrund. Schließlich fordert Mouffe: „Indem die jeweiligen Praktiken und Sprachspiele von Politik – also das Politische – betont werden und ihre Legitimität allein in pragmatischen Ansprüchen gründet, soll die rein konstruierte und somit hegemoniale Natur sozialer Verhältnisse ans Licht treten.“143 Es geht um die Sicherung steter Einblicke in Widerstreit, in Prozesse des Werdens hinter den sedimentierten Strukturen, die Dekonstruktion und Neuerfindung. Im besten Fall wird in der agonistischen Öffentlichkeit eine Art agonistische Artikulation praktiziert, die bereits in der Berichterstattung eine radikale Negativität verankert. Mit dieser radikalen Sicht schmelzen schließlich sämtliche als vermeintliche Essenzen formulierten Identitäten und fließen zurück ins Meer des Hinterfragbaren. Allein dies würde im gegenwärtigen Diskurs über „Bürgerinnen/Geflüchtete“ oder „nicht akzeptierte Geflüchtete/akzeptierte Geflüchtete“ einen anderen Jargon erfordern, wenn es um „nationale Identitäten“ geht. Gesellschaftliche Herausforderungen werden nicht „einfach“ gebrandmarkt, wie etwa durch einen Terminus „Flüchtlingskrise“, sondern unterschiedliche Perspektiven wie „Krise internationaler Gerechtigkeit“ etc. angeboten. Politische „Spielergebnisse“ werden in ihrer Offenheit, ihrem Dissens und in ihren notwendigen Exklusionseffekten unterstrichen. Gelingt es einer politischen Öffentlichkeit, die hegemoniale Natur gesellschaftlicher Verhältnisse zu betonen, so kann laut Mouffe „die in demokratischen Gesellschaften immer existierende Verführung, deren Grenzen zu naturalisieren und ihre Identitäten zu essentialisieren, unterlaufen“144 werden. Für eine stabile pluralistischliberale Demokratie sieht sie dies als größte Herausforderung.

143 Schwarz 2009, S. 67. 144 Mouffe 2008a, S. 106.

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Eine Möglichkeit, agonistische Artikulation in den Medien zu stärken, wäre die Betonung von „leeren Signifikanten“145. Als abschließendes Beispiel soll der leere Signifikant „Deutsche Frau“ betrachtet werden, der in gegenwärtigen antagonistischen Diskursen zu Wir/Sie-Grenzziehungen von „Bürger_innen/Nicht-Bürger_innen“ spannende Perspektiven liefern kann. Wenn die radikale Unmöglichkeit, Signifikanten essenzialistisch zu definieren, sprich deren stete Nicht-Determiniertheit, betont wird, können durch stete Artikulation und Gegenartikulation Freiheits- und Gleichheitskämpfe, sprich Äquivalenzketten, gefördert werden. Die medialen Reaktionen auf die Silvesternacht 2016 in Köln verhalfen im Nachklang letztlich dazu, „eine neue Dimension des Hasses“146 gegenüber einer vage definierten „Migranten“-Gruppe, überwiegend neu eingereisten Asylbewerbern, zu etablieren, die die Welt erreichte. Schließlich stand fest: „Sylvester-Täter kamen mit der Flüchtlingswelle ins Land“147. Sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen, – hier im Kontext der weltweit verbreiteten „Rape-Culture“ –, wurde somit in erster Linie als „nicht-deutsches Phänomen“ markiert. Diese essenzialistische Verengung behindert letztlich das Ausdehnen von Äquivalenzketten hinsichtlich des Kampfes gegen Gewalt an Frauen. Herausforderndere Beiträge, bzw. Gegenartikulationen, fanden sich dagegen überwiegend auf Nebenschauplätzen in den sozialen Medien. So spricht sich zum Beispiel eine deutsche Frau gegen sexualisierte Gewalt an Frauen aus:148 „Deutschland 2016 und ich habe Angst sobald es dunkel wird [...]. Gewalt gegen Frauen ist ein deutsches Problem, an deutschen Orten, in deutschen Städten, in deutschen Universitäten […]“. Unter Bezugnahme auf die Silvesternacht, werden weitere Bereiche der Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen aufgewiesen, hier durch Nemi El-Hassan149 im Datteltäter-Video auf YouTube. Was ihr gelingt, ist eine subtile Gegenartikulation in zweifacher Hinsicht: Zum einen bietet das Benennen von Gewalt gegenüber Frauen als „deutsches Problem“ eine Gegenartikulation zu den in Massenmedien mehrheitlich gefundenen Adressaten, sprich nordafrikanischen Männern. Die essenzialistische Begrenzung auf eindeutig klassifizierte Personengruppen wird hier aufgehoben, bzw. anstatt als „nicht-deutsch“ als „deutsch“ reartikuliert. Anstatt allerdings bei national-essenzialistischen Determinierungen zu verbleiben, werden politische Forderungen von Frauen hörbar. Während in diesem Beitrag folglich das eigentliche Thema der Diskriminierung von Frauen behandelt wird, erschien in den Massenmedien die Anzahl der Beiträge, die sich ausschließlich der Festschreibung der Täter widmeten, weitaus höher zu liegen. Zum anderen artikuliert dieser Beitrag das „Wir = deutsche Frauen“ als anti-rassistische Artikulation, 145 Laclau 2002, S. 65–78. 146 Kommentar des Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, in Zeit Online 2016b. 147 Quadbeck 2016. 148 Datteltäter 2016; Datteltäter verstehen sich als Satirekalifat. 149 Autorin des Berliner Tagesspiegel.

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ein weiterer Schachzug gegen hetzerische Diskurse. Dies gelingt, da die Künstlerin als deutsche Frau mit Kopftuch visuell die Kategorie „deutsch“ mit markiert. In zweifacher Hinsicht bietet dieser Beitrag daher zentrale Allokationen und eine Gegenartikulation zu dem Mainstream medialer Reaktionen auf Silvester 2016, der vornehmlich rechten Gruppierungen zu einem Aufschwung verhalf. Die von der Kölner Polizei im Folgejahr der Sylvesternacht zu Recht als rassistisch kritisierte Terminologie „Nafri“ wäre aus dieser Sicht nicht hilfreich. Im Kontext einer agonistischen Öffentlichkeit sind „alokalisierende“ Beiträge von zentraler Relevanz, da sie Äquivalenzketten begünstigen. Konkret veräußert das Datteltäter-Video eine Äquivalenzkette, die durch eine Freiheitsartikulation einer muslimischen deutschen Frau, den Kampf gegen sexualisierte Gewalt subtil mit der des Rassismus verbindet. Ähnlich die Kampagne „#ausnahmslos. Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall.“150 Deren Initiator_innen „kritisieren, dass mit dem geplanten Gesetzentwurf zur Änderung des Sexualstrafrechts auch eine Verschärfung des Aufenthaltsgesetzes und die Forderung nach einem kollektiven Straftatbestand für Gruppen einher geht.“ Minderheiten bzw. Benachteiligte werden demnach nicht gegeneinander ausgespielt, sondern anhand des ethisch-politischen Bandes miteinander verknüpft.151 Es entsteht ein breiteres demokratisches „Wir“. Neben der Ausdehnung der Gruppe der Betroffenen und der Täter sollte das Thema Gewalt in unterschiedlichen Bereichen und Dimensionen aufgegriffen werden, auch in normalisierten Bereichen des Alltags, wie zum Beispiel sexistischer Werbung. Als ökonomisch-politische „Öffentlichkeit“ sollte Werbung für ein Öffentlichkeitskonzept nicht außen vor bleiben. Anti-essenzialistische Beiträge öffentlich zu stärken, bekämpft im besten Fall den gegenwärtig gefährlichen Trend eines neuen Nationalismus. Durch die politischen Mittel der Prinzipien Freiheit und Gleichheit können zudem politische Forderungen quasi extrahiert und ihrer anti-pluralistisch gefärbten Determinierungen entkleidet werden. Dennoch ist fraglich, was geschieht, wenn sich trotz scheinbar deutlicher Allokationen Antagonismen verschärfen. Zum Beispiel benutzte PEGIDA den leeren Signifikanten der „Deutschen Frau“, indem sie eine der berühmtesten, Merkel, auf ihrem Demonstrationsplakat mit Kopftuch darstellt. Damit suchten sie diese als „Nicht-Deutsche“-Verräterin zu karikieren und unter der Landesflagge mit einem „Hier ist das Volk“ eine anti-pluralistische Linie zu ziehen. Dass allein das Bild von Merkel mit Kopftuch als visueller Vorstellungshorizont von der tatsächlichen Möglichkeitsperspektive und Offenheit der Signifikanten erzählt, wird schlichtweg übersehen. Eine Garantie des pluralisierenden Effekts anti-essenzialistischer Artikulationen scheint sich in diesem Moment, trotz aller Paradoxie, aufzulösen. Während die 150 ausnahmslos 2016. 151 Der im Dezember 2016 thematisierte Anstieg homophober Straftaten könnte mit diesen Kampagnen ebenfalls eine Schnittfläche finden.

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agonistische Öffentlichkeit Stimmen stärken möchte, die durch Äquivalenzketten das nationale „Wir“ pluralistisch erweitern, verengen sich anti-pluralistische Diskurse auf stereotype Verallgemeinerungen zur antagonistischen Abgrenzung der Anderen. Eine Herausforderung ist demnach die journalistische Gestaltung des äußeren notwendigen „Sieʼs“, insbesondere in der gegenwärtigen „Zwangshysterisierung“152 westlicher Demokratien. Nicht selten werden Antagonismen geschürt, wie mitunter im Kontext der internationalen Terrorgefahr in westlichen Industriestaaten: Wenn am 23. Juli 2016, dem Datum des Amoklaufs eines überzeugt deutschen Jugendlichen in München, der Pariser Eiffelturm in Deutschlandfarben leuchtet und Bilder unter dem Motto „Je suis Munich“153 kursieren und in New York die Yankee-Baseball-Spieler eine Gedenkminute einlegen154, wird durch eine gefährliche Verallgemeinerung zuallererst der internationale Aufruf zum Feindbild islamistischer Terroristen bedient. Dass der 18-jährige Täter eher in der Linie des Attentäters Anders Nehrig Breivik und dem Jungen aus Winnenden stand, entging nicht nur den Dunkelkammern der „Echoräume“ sozialer Medien.155 Die verzerrenden Homogenisierungen zugunsten einer als einheitlich definierten „Terroristengruppe“ im Außen zur Stabilisierung des nationalen „Wir“, die hier in der internationalen Presse um sich griffen, dienten in ihrer Konsequenz eher Rechtsradikalen, die weitere Nahrung für ihre Suche nach vereinfachten Feindbildern benötigen. Eine agonistische Öffentlichkeit kann sicherlich nicht auf die Artikulation eines feindlichen Gegenübers verzichten, sie benötigt ebenso die „Bösen Nicht-Demokraten“ zur Stabilisierung des eigenen „Wir, die guten Demokrat_innen“. Doch verbleibt die ständige Aufgabe, essentialistische Reduktionen aufzuweichen. Feinde müssen in die agonistische Arena eingeladen werden, solange sie dort zu Gegner_innen mit unterschiedlichen politischen Positionen werden. Ist eine Agonisierung von Antagonismen in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft nicht mehr möglich, müssen anti-pluralistische Akteur_innen aus der Arena verwiesen werden. In einer agonistischen, pluralistischen Öffentlichkeit sorgen Medien für stete Allokationen essentialistischer Artikulationen und betonen die Rolle von „Leeren Signifikanten“ für Äquivalenzketten. Sie sind eine zentrale Öffentlichkeit, in der das Politische zum Vorschein kommt, um die existierenden politischen Alternativen zum Vorschein zu bringen. 152 Schrader 2016. 153 Hier mit dem deutlichen Bezug auf „Je suis Charlie“, der Slogan, der nach dem Terroranschlag auf das Pariser Büro der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 Solidarität mit den Opfern zum Ausdruck brachte. 154 Vgl. Hickmann 2016, S. 5. 155 Als Reaktionen auf die Tat setzte sich der Begriff des „Terrors“ mit 58237 Tweets gegenüber dem Begriff „Amok“ mit 2978 Tweets durch, was dazu führte, dass „aus dem Münchner Amoklauf ein Terroranschlag mit 67 Zielen wurde“ (Backes et al. 2016), wie eine Rekonstruktion der Süddeutschen Zeitung aufweist.

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2.3 Das Politische der Ökonomie zur Debatte stellen Als gegenwärtig eingeengter Diskurs, sollten insbesondere in der Wirtschaftspolitik alternative Ansätze zur Debatte stehen. Wenn Mouffe auf das Erstarken des Rechtspopulismus eingeht, will sie damit nicht sagen, dass der Rechtspopulismus bereits gewonnen hätte, sondern will das Versagen des neoliberalen Modells betonen, das zur Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten und internationalen Ungerechtigkeiten geführt hat, die langfristig unhaltbar sind und extremistische Identifikationen nähren. Das auf der „Ausbeutung nichtwestlicher Gesellschaften“ bauende „hohe Niveau hochentwickelter Industriestaaten“ würde heute einzubrechen drohen, was viele Parteien letztlich verdrängen.156 Daher vermieden Parteien den hier eigentlich zu Grunde liegenden politischen Diskurs: „Will man das Problem […] politisch angehen, so darf man nicht nur Maßnahmen zur Abmilderung der negativen Auswirkungen unseres heutigen konsumistischen Modells vorschlagen; man muss dessen Grundannahmen infrage stellen.“157 Aus diesem Blickwinkel muss eine agonistische Öffentlichkeit das Politische des Ökonomischen wieder stärker ans Licht bringen und die Anerkennung von Alternativen zu dem Einheitskurs der wirtschaftlichen Ordnung sichern. Die als unpolitisch und „machtfrei“ etablierte Marktwirtschaft, das Bild, das seit der Finanzkrise und Bewegungen wie der Occupy-Bewegung öffentlich hinterfragt wird, muss verstärkt zur Debatte gestellt werden. Wie etwa 2011 durch den Künstler Geoffrey Raymond mit dem Plakat „Corzine Agonistes“, zur Kritik an der Wall Street. Oder dem erfolgreichen Film „I, Daniel Blake“ von Ken Loach, der als kritische Perspektive auf den in England praktizierten Neoliberalismus in deutschen Nachrichten für Diskussionen sorgte. Scheint im Bereich der Marktwirtschaft der politische Spielraum so verengt, dass „nur“ künstlerische Aktionen bleiben? Wenn Mouffe eine Multiplizierung von Räumen der Öffentlichkeiten vorschlägt, sollte die ökonomische dabei eine zentrale Rolle einnehmen. Demokratische Verantwortungs- und Betroffenheitsprinzipien, Kategorien von Staatlich/Nicht-Staatlich, die Rolle der Bürger_in/Konsument_in können neu verhandelt werden. Was auf dem Spiel steht ist, ökonomische Ungleichheiten wieder anfechtbarer zu machen, um so Äquivalenzketten auszuweiten. Nicht zuletzt birgt der Ansatz agonistischer Öffentlichkeiten daher eine Chance, rechtspopulistische Diskurse aufzubrechen, indem hier vorgebrachte politischen Positionen von Arbeiterinteressen an wirtschaftlicher Sicherheit ernst genommen wer-

156 Mouffe 2015, S. 102. 157 Ebd., S. 103.

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den können, während ihr rechtsextremistischer Gehalt außen vor bleibt und somit im besten Fall eine weitere Äquivalenzkette gestaltet wird.

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Stefanie Wöhl Demokratie vs. multiple Krisen – Eine hegemonietheoretische Perspektive auf die Europäische Union

Chantal Mouffe hat in Agonistik. Die Welt politisch denken1 ihr agonistisches Verständnis des Politischen detaillierter auf Prozesse der globalen Weltordnung und auf die Europäische Union hin ausformuliert. Sie versucht hier, ihre radikaldemokratische Konzeptionen und ihre Theoretisierung von Antagonismen in Agonismen auch für konkrete politische Prozesse weiter zu entwickeln. Dabei geht sie von dem mit Ernesto Laclau in Hegemonie und radikale Demokratie2 bereits ausformulierten Konzept des konstitutiven Außen innerhalb von Äquivalenzketten insofern näher ein, als dass sie versucht, die westliche Form der Demokratie Universalismus-kritisch zu befragen und das europäische Projekt in diesem Kontext zu verorten. Spezifischer ist es ihr ein Anliegen, das demokratische Projekt in Europa nicht den rechten Populisten zu überlassen oder dem Neoliberalismus zu opfern, sondern sich Gedanken über eine Neuordnung der politischen Struktur der Europäischen Union zu machen. Sie greift dabei auf verschiedene Vorschläge zurück, die in den letzten Jahren vor allem hinsichtlich eines föderalen Europas gemacht wurden, und bettet ihr agonistisches Politikverständnis, das in diesem Sammelband bereits ausführlich vorgestellt wurde, in diese Konzepte ein. Welche Kritik an sozialen Bewegungen, hinsichtlich ihrer mangelnden Bereitschaft, die Macht im Staat zu übernehmen, Mouffe dabei betont, möchte ich im Folgenden näher vorstellen, um die Rolle der Zivilgesellschaft im Ringen um Hegemonie hervorzuheben, der auch bei Mouffe eine wesentliche Bedeutung zukommt. Anschließend an zusammenfassende Erläuterungen hinsichtlich ihres agonalen Demokratiekonzepts in einer multipolaren Weltordnung, werde ich, selbst mit der hegemonietheoretischen Europaforschung argumentierend, diese Debatte der kritischen Europaforschung mit Mouffe’s noch relativ abstrakt gehaltenen Politikvorschlägen gegenlesen. Angesichts des derzeitigen konflikthaften Zustandes der Europäischen Union und ihrer multiplen, mitverursachten Krisen, ist eine Neuausrichtung des europäischen Projektes drängender denn je. Deshalb scheint es mir notwendig, über die Bildung von gegenhegemonialen Äquivalenzketten innerhalb der Europäischen Union, wie auch Mouffe es vorschlägt, so konkret wie möglich zu diskutieren. Dies

1 Mouffe 2014. 2 Laclau/Mouffe 1991.

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haben in den letzten Jahren vor allem hegemonie- und staatstheoretische Forschungsprojekte in der kritischen Europaforschung getan. Diese Debatte an die hegemonietheoretischen Vorschläge von Mouffe rückzubinden, kann daher ein durchaus produktives, nicht nur theoretisches, Unterfangen sein.

Europa in einer multipolaren Weltordnung In ihrer bereits mehrfach ausformulierten Kritik am liberalen kosmopolitischen Demokratieverständnis betont Mouffe, dass es um eine multiplurale Version der Demokratie im nicht westlichen Sinne gehen muss. Sie kritisiert dabei die westlich als „modern“ eingestufte Form der liberalen Demokratie, die auf Individualismus und Freiheitsrechten sowie einer derzeitigen neoliberalen Wirtschaftsordnung innerhalb der Europäischen Union besteht. Die im westlichen Universalismus verankerte Idee des Vertragsindividualismus, wie sie schon bei Hobbes angedacht wurde, könne nicht auf alle Weltregionen übertragen werden, schon gar nicht auf solche, wo nicht das individuelle Subjekt, sondern die Gemeinschaft im Fokus der politischen Ordnung stehe.3 Andere Weltregionen, die z.B. ein an die Scharia angelehntes Rechtskonzept vertreten, in der das Volk nicht oberste Instanz, sondern ausführendes Organ der göttlichen Ordnung ist, stehen dabei im Kontrast zu weiteren religiös inspirierten Konzepten wie dem Taoismus oder Konfuzianismus, die auf eine weltkirchliche institutionelle Verankerung verzichten. Demgegenüber stehen kosmopolitische Vorstellungen, die die westliche Idee der liberalen Demokratie als eine universell gültige Verallgemeinerbare verstehen. Von diesen Vorstellungen müsse man sich verabschieden so Mouffe, da es in einem agonistischem Politikverständnis nicht darum gehe, die westliche Form des Universalismuskonzepts zu verallgemeinern, sondern möglichst regional verankerte institutionelle politische Formen zu bilden, die jedoch den kulturellen Eigenheiten wie eben angedeutet gerecht werden. So kann z.B. die repräsentative Demokratie eine unangemessene politische Form sein, wenn in primordialen Gesellschaften mit Stammeskulturellen gerade die Gruppenbezogenheit und die Einbindung aller in ein politische System notwendig ist, um einen konflikthaften Konsens überhaupt dauerhaft zu ermöglichen.4 Eine weitere Komponente gesellschaftlicher Institutionalisierung ist die Frage des Säkularismus, denn auch in westlichen Gesellschaften wie der USA ist dieser nicht so ausgeprägt wie z.B. in Europa. Mouffe dagegen argumentiert, dass es immer hegemoniale Ordnungen und politische Systeme geben wird, die mit weiteren politischen Systemen jenseits ihres eigenen, seien sie demokratisch oder nicht, konkurrieren werden. Deshalb plädiert sie dafür, je nach Weltregion das spezifische vorherr3 Mouffe 2014, S. 61ff. 4 Ebd., S. 70.

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schende kulturelle oder religiöse Verständnis nicht mit der liberalen Form der Demokratie zu vereinheitlichen, sondern darauf zu achten, inwiefern Mehrparteiensysteme auch schädlich für den nationalen Zusammenhalt sein können. Allparteienregierungen könnten in afrikanischen Ländern z.T. besser geeignet sein, die Vielfalt der „Ethnien, Sprachen, Gebräuchen und Kulturen“5 miteinander kommunizieren zu lassen. Andererseits ist es Mouffe ein Anliegen zu betonen, dass sie als westliche Politikwissenschaftlerin unter anderen nicht über die Demokratieform anderer Länder zu urteilen oder zu entscheiden habe, sondern dass es ihre Aufgabe sei, die westliche Form der liberalen Demokratie als einzig mögliche zu kritisieren.6 Stattdessen gehe es darum, die Welt als Pluriversum zu verstehen, und nicht das Mehrparteiensystem, freie Marktwirtschaft und ein europäisches individualistisches Konzept der Menschenrechte weltweit zu propagieren. Mouffe bezieht sich dabei auf Lévi-Strauss, der die Identität einer Kultur nicht als essentielle Eigenschaft versteht, sondern als Divergenz. Divergenz erzeuge im Vergleich zum Unterschied ein Spannungsfeld Divergenz gegenüber Unterschied zu spezifizieren. So betont dann auch Mouffe, dass Divergenzen „der Ursprung von Konflikten sein können, aber nicht in einem ‚Kampf der Kulturen’ münden müssen“.7 Ihr Vorschlag ist der eines multipolaren institutionellen Rahmens, der Platz für agonistische Auseinandersetzungen lässt. Dieses „agonistische Aufeinandertreffen ist eine Konfrontation, deren Ziel weder die Auslöschung noch die Assimilierung des Anderen ist, und in der die Spannungen zwischen den verschiedenen Ansätzen zur Förderung jenes Pluralismus beitragen, der eine multipolare Welt charakterisiert“.8

Welche institutionelle Form für Europa und die Europäische Union? Mouffes Verhältnis zu staatlichen Institutionen steht im Kontext der vorherigen Überlegungen klar in einer Position der Auseinandersetzung mit jenen Institutionen im Staat, die von progressiven zivilgesellschaftlichen Kräften beeinflusst werden können. Positive Beispiele für eine produktive Auseinandersetzung mit und im Staat sind für Mouffe diverse lateinamerikanische Regierungen. Mouffe plädiert daher auch für eine Radikalisierung bestehender liberaler demokratischer Institutionen.9 In Abgrenzung von und Kritik an post-operaistischen Ansätzen, oder dem Konzept der Multitude von Negri und Hardt, sieht Mouffe bei aller Problematik mit den real existierenden liberalen demokratischen Institutionen doch auch ihre Notwendigkeit. Sie 5 6 7 8 9

Ebd. Vgl. Ebd., S. 71. Ebd., S. 73. Ebd. Ebd., S. 177.

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begründet dies damit, dass jegliche Identifikation über Repräsentation stattfindet, es also kein Subjekt jenseits der Repräsentation gäbe. „Das fängt [...] damit an, dass Identitäten niemals etwas von vornherein Gegebenes darstellen, sondern immer durch diskursive Konstruktion produziert werden; dieser Konstruktionsprozess ist ein Repräsentationsprozess.“10 Auch das präsentische Demokratiekonzept von Isabell Lorey findet Mouffe’s Kritik, da Bewegungen wie Occupy oder die spanischen Indignados für Mouffe mit ihrer Staatskritik in die Nähe von neoliberalen Diskursen rutschen, die den Staat negieren. Das horizontale Konzept einer präsentischen Demokratie, wie Lorey es aus den genannten Bewegungen heraus konzipiert, ist für Mouffe so nicht möglich, denn die Heterogenität vor allem der Indignados M-15 Bewegung führe nicht dazu, dass systemische Entscheidungen, die aus ihrer Sicht notwendig seien, getroffen werden könnten.11 Genauso skeptisch ist Mouffe gegenüber der Vorstellung, dass alle AkteurInnen dieser Bewegungen ein Modell jenseits der repräsentativen Demokratie zum Ziel hätten; und genauso wenig sieht Mouffe in der präsentischen und horizontalen Form der Demokratie die Möglichkeit, daraus „das Rückkrat des progressiven Kampfes“ zu bilden. Sie argumentiert, dass es vielmehr der institutionellen „Bahnen“12 bedürfe, um die „Schlüsselinstitutionen“13 des Neoliberalismus zu hinterfragen. Wie dies spezifischer geschehen soll, bleibt Mouffe jenseits ihrer demokratietheoretischen Vorschläge zur Bildung von Äquivalenzketten im Kampf um Hegemonie im hegemonialen Block an der Macht jedoch selbst schuldig. Verweise von Mouffe auf die Erfolge lateinamerikanischer Regierungen wie in Venezuela und Brasilien sind aus heutiger Sicht ebenso in institutionalisierte Elitenpolitik eingebunden wie sie seit langem in Europa präsent sind, auch wenn sie sozialpolitische Erfolge zugunsten ärmerer Bevölkerungsschichten vorweisen. Mouffe problematisiert zudem an den bisherigen kapitalismuskritischen Bewegungen, dass diese wie z.B. Occupy Wall Street diskursiv in einem moralischen Argument stecken bleiben würden, wenn sie ihre Reichtumskritik in Formulierungen wie den „Wir sind die 99 Prozent“ formulieren. Mangele es diesem Slogan doch „an Bewußtsein bezüglich der in der Gesellschaft bestehenden Antagonismen“14, zumal bestehende institutionelle Machtverhältnisse durch den Slogan zwar thematisiert, aber nicht verändert worden sind. Für Mouffe bleibt daher klar, dass sich kritische Bewegungen in den Kampf mit den staatlichen Institutionen begeben müssen um die Kontrolle über ebendiese zu übernehmen, so wie es Podemos in Spanien derzeit versucht zu tun. Eine Linke, die eine Alternative zu den Mitte-Links Parteien anbieten kann, sei hierfür eine Lösung. Nur im Ringen um die politisch institutionalisierte 10 11 12 13 14

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Ebd., S. 185 Kursiv i.O. Ebd., S. 170. Ebd., S. 171. Ebd., S. 172. Ebd., S. 173.

Hegemonie bleibe es möglich, die Allgegenwart der Macht als konstitutiven Bestandteil des Sozialen zu begreifen und in einer pluralistischen Gesellschaft möglichst radikal demokratische Institutionen zu errichten. Mouffes Kritik an den aus den Krisenjahren entstandenen sozialen Bewegungen wie Occupy Wall Street oder der Indignados übersieht jedoch auch, dass es einerseits länderspezifische Unterschiede und Folgen dieser Bewegungen gab und dass gerade in Spanien diese Bewegungen sich in den Stadtteilen so organisiert haben, wie Gramsci es bereits damals forderte, um eine breitere Basis für zukünftige politische Entwicklungen aufzubauen. Mögen diese Bewegungen zwar vorerst keine direkten institutionellen Erfolge erzielt haben, so sind viele der damals politisierten oder bereits Aktiven gerade in ihren Stadtteilen präsent, um gegen konkrete politische und soziale Missstände zu mobilisieren. Allein in Spanien hat sich die Plattform der Hypothekenbetroffenen überregional gegründet, und hat schließlich auch aus diesen Bewegungen stammende Bürgermeisterinnen in Madrid und Barcelona stellen können. Diese kleinen institutionellen Erfolge sollten langfristig auch nicht unterschätzt werden. Sie zeigen einerseits, dass es z.B. Podemos, die sich ja direkt auf Laclau und Mouffe’s Hegemoniekonzept beziehen, gelungen ist, im bis dahin zwischen den beiden Parteien der Sozialisten und Partido Popular aufgeteilten Regierungssystem Spaniens, den nationalen Konsens auszuhebeln und infrage zu stellen, der bisher dazu führte, dass diese beiden Parteien ihre Austeritätspolitik umsetzen konnten. Leider blieb das Anschauungsmodell, das Mouffe 2014 in Agonistik als Beispiel anführte, im hegemonialen Ringen im Kampf um Hegemonie erfolglos, hatte es doch SYRIZA in Griechenland gleich mit den mächtigsten Institutionen aufgenommen, der ehemals so genannten Troika aus Weltbank, IWF und Europäischer Kommission. Dass hier ein Scheitern radikaler institutioneller Politik angesichts der Übermacht des politischen Gegners fast vorprogrammiert war, schwächt natürlich nicht den Versuch und die Begründung, radikale Politik, zumal in der entscheidenden Phase durch Volksreferenden bestätigt, ans Volk direkt legitimatorisch und institutionell rückzubinden. Die schwierige öffentlich-diskursive und politisch-ökonomische Lage, in der Griechenland zu Beginn des Jahres 2015 stand, und in der sie sich nicht gegen die „Institutionen“ durchsetzen konnte, heißt auch, dass es einerseits viel breitere öffentlicher Bündnisse gegen jene Form von europäischer Austeritätspolitik und der neuen Economic Governance in der EU15 braucht, die hegemoniale Akteure im Diskurs als auch politisch-ökonomisch durchgesetzt haben. Denn die Machtverschiebungen zur Exekutive16, also zur Europäischen Kommission und dem Rat, durch den Fiskalvertrag und weitere Richtlinien seit 2011, zeigen deutlich, dass sowohl die nationalen Parlamente in Budgetfragen eingehegt worden sind und 15 Oberndorfer 2016. 16 Wöhl 2016a.

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sich ein neuer „autoritärer Konstitutionalismus“17 auf supranationaler Ebene herausgebildet hat. Andererseits bestehen im Feld der europäischen Kräftekonstellationen genügend Ansatzpunkte für Kritik und gegenhegemoniale Interventionen. Ist doch auch der institutionelle „europäische Staatsapparateensemble“-Komplex18 nicht so einheitlich gestaltet, dass nicht auch Brüche in ihm zu erzeugen möglich wären. Auf diese Konstellation möchte ich im Folgenden näher eingehen, um aufzuzeigen, wie in der kritischen Europaforschung Risse im hegemonialen Block an der Macht gedacht werden (können) und welche Rolle hier das Konzept der politischen Äquivalenzketten spielen könnte.

Das europäische „Staatsapparateensemble“ In der kritischen, hegemonietheoretisch von Gramsci inspirierten Europaforschung gibt es seit vielen Jahren Vorschläge, wie die Europäische Union zu verstehen ist.19 Dabei ist relevant, dass sich diese Ansätze einerseits auf Gramsci20 beziehen, um die Wechselwirkungen zwischen Zivilgesellschaft und dem Staat im engeren Sinne ädequat erfasssen zu können. Versteht man den Staat und seine Apparate als soziale und politische Felder, in denen gesellschaftliche Antagonismen ausgetragen werden, und der Staat die Verdichtung dieser Auseinandersetzungsprozesse im Ringen um Hegemonie ist, dann kann auch erklärt werden, welche AkteurInnen im hegemonialen Block an der Macht ihre hegemoniale Position versuchen abzusichern und andere Positionen desintegrieren und spalten wollen. Für die europäische Ebene haben die Forscher_innen der Gruppe Staatsprojekt Europa dabei den Begriff des „europäischen Staatsapparateensemble“21 in Anlehnung an Nicos Poulantzas geprägt. Ihnen geht es mit dieser Begrifflichkeit darum, dass es eine Vielzahl institutioneller AkteurInnen auf nationaler und supranationaler Ebene gibt, die dieses Ensemble von Staatsapparaten bilden. Andererseits ist es wichtig in diesem Kontext auch noch einmal das Konzept der Zivilgesellschaft und die Rolle der Intellektuellen speziell zu fokussieren, um zu verstehen, wie die herrschenden Klassen ihre Vormachtstellung absichern: nämlich über die Konsenserzeugung in der jeweiligen Zivilgesellschaft der Mitgliedsstaaten, in der eine Befriedung von sozialen und politischen Antagonismen hergestellt werden muss, um soziale Kohäsion zu garantieren.

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Oberndorfer 2016. Forschungsgruppe ‚Staatsprojekt Europa‘ 2012. Bieling/Deppe 1996; Bieling/Steinhilber 2001a; Gill/Cutler 2014. Gramsci 1991. Forschungsgruppe ‚Staatsprojekt Europa‘ 2012.

Für diese Konsenserzeugung braucht es, wie Gramsci betonte, organische Intellektuelle, die Konsenserzeugung über verschiedene öffentliche Medien, Diskurse und in politischen Institutionen stabilisieren. Die professionellen Intellektuellen organisieren diese (Ein-)Teilung von körperlicher und intellektueller Arbeit, eignen sich intellektuelle Fähigkeiten an und monopolisieren sie. Somit wirken sie auch an der Aufrechterhaltung des spontanen Konsenses fort, die den subalternen Klassenpositionen die Einsicht vermittelt, sie wären nicht befähigt, an der Konsens bestimmenden Kompetenz der professionellen Intellektuellen teilzuhaben. Dieser Konsens muss jedoch immer wieder erneuert werden, und daher muss die herrschende politische Gruppe zugleich auch immer führend bleiben, um ihre Herrschaft zu sichern.22 In der politischen Gesellschaft kämpfen verschiedene organische Intellektuelle um konkurrierende gesellschaftliche Deutungsmuster und Meinungsführerschaft; dabei gibt es auch gegenhegemoniale intellektuelle Kräfte, die versuchen, dem hegemonialen Konsens alternative Lebensformen und Projekte entgegenzustellen. Der gesellschaftliche und politische Konsens muss jedoch immer wieder erneuert werden, und daher muss die herrschende Gruppe zugleich auch immer führend bleiben, um ihre Herrschaft zu sichern. Der Staat und seine verschiedenen Apparate nehmen dabei nicht unbedingt eine einheitliche Position ein, sondern auch hier kann es zu Konflikten und Widersprüchen zwischen den einzelnen Staatsapparaten kommen. Um politische Kohäsion aufrecht zu erhalten, ist es jedoch wichtig, bestimmte Staatsprojekte23 zu lancieren, die die politische und ökonomische Stabilität erhalten und Kohäsion erzeugen. Politische und ökonomische Stabilität und Kohärenz zu erzeugen ist daher auch eines der Merkmale des europäischen politischen Projektes, obwohl es hier keine einheitliche europäische Zivilgesellschaft gibt.24 In der Europäischen Union kann man dabei von einer neuen skalaren Konfiguration sprechen. „Die Europäische Union kann als ein neues ‚Staatsprojekt Europa’ verstanden werden. (Es) zielt darauf, eine neue, stabile Konfiguration von kommunalen, regionalen, nationalen und europäischen (und internationalen) Institutionen und Staatsapparaten herzustellen“.25 Bis zum Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 war die europäische wettbewerbsstaatliche Integrationsweise relativ abgesichert, da man trotz aller Disparitäten eine noch stärkere wirtschaftspolitische Integration, zuletzt durch den Euro, intendierte. Die unterschiedlichen Mitgliedsstaaten waren darauf bedacht, sich Vorteile über einen gemeinsamen Binnenmarkt zu verschaffen, und so galt es, trotz aller Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung einzelner Länder, gemeinsame wirtschaftspolitische Ziele wie freien Waren-, Finanz-, Dienstleistungs- und Personenverkehr über eine gemeinsame Wett22 23 24 25

Demirovic 1997. Bezogen auf die Europäische Union siehe Wöhl 2007. Jessop 1990. Forschungsgruppe ‚Staatsprojekt Europa’ 2012. Georgi/Kannankulam 2012, S. 4.

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bewerbspolitik zu forcieren und Handelshemmnisse abzubauen. Dabei war es nicht vorrangig, dass dies größtenteils ein Elitenprojekt war, das von der Europäischen Kommission und einzelnen Regierungen forciert wurde: Im Speziellen von Deutschland, das einen stabilen Euro in Anlehnung an die D-Mark wünschte, um seine Exportwirtschaft stabil zu halten.26 Dass dieser Elitenkonsens nicht über eine europäische Zivilgesellschaft abgesichert wurde, zeigte sich spätestens seit 2008, wo dieses wirtschaftspolitische Integrationsprojekt massiv gefährdet wurde aufgrund der einsetzenden Finanz- und Wirtschaftskrise, massiver Staatsverschuldungen in der Folge und dem Ringen um eine politische Lösung zwischen den Mitgliedsstaaten, die erst neu ausverhandelt werden musste. Die neue politische Situation im Kampf um Hegemonie innerhalb der Europäischen Union und zwischen ihren eigenen Staatsapparaten aber auch gegenüber den Mitgliedsstaaten und zwischen diesen, lässt sich seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 daher sehr gut im Detail beobachten. Denn das seit den 1980er Jahren bestehende neoliberale Thatcherische Theorem „There is no Alternative“ zu der kapitalistischen Produktionsweise und Lebensführung wurde durch den Ausbruch einer der größten Krisen im Kapitalismus im Zentrum Europas nun auch für viele Europäische UnionsbürgerInnen erfahrbar und seine hegemoniale und diskursive Vormachtstellung brüchig. Einzelne Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind mit schweren Staatsschulden belastet, und mussten sich von anderen Mitgliedsstaaten über die sogenannten Europäischen Rettungsschirme wie den EMS und ESFS Geld leihen, um den Staatsbankrott zu vermeiden. Die unterschiedlichen Positionen, die dabei verschiedene Länder wie z.B. Deutschland gegenüber Griechenland im Besonderen und im Zuge der Troika Verhandlungen im europäischen Staatsapparateensemble gespielt haben, verdeutlichen, dass es keinen europaweiten hegemonialen Konsens im europäischen Staatsapparateensemble gibt. Und dass es zudem keine europäische Zivilgesellschaft gibt, die diesen Konsens stabilisiert hätte. Im Gegenteil: Durch die umgesetzten Austeritätsmaßnahmen wurden Gegenbewegungen in einzelnen Mitgliedsstaaten umso stärker, je massiver Sparmaßnahmen auf der supranationalen Ebene ausverhandelt wurden, ohne die jeweilige Bevölkerung einzubinden wie z.B. in Griechenland vor der Regierung SYRIZA 2014, aber auch in Spanien, wo die sozialdemokratische Regierung bis 2011 massiv Sparmaßnahmen und Einschnitte in der öffentlichen Verwaltung vornahm, die konservative Partido Popular dies autoritär fortsetze und es bis Herbst 2016 trotz Auflösung des Parlaments 2015 und Neuwahlen 2016 keine neue Regierung gab.27

26 Wöhl 2007. 27 Wöhl 2016a.

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Aktuell wird die Brüchigkeit des europäischen politischen (Staats-)Projektes zudem besonders in der Flüchtlingsfrage und der Weigerung einzelner Mitgliedsstaaten, diese aufzunehmen oder Kontingente zu vereinbaren, besonders deutlich. Die europäische wirtschaftspolitische Integrationsweise und die europäischen Staatsapparate sind sowohl intern innerhalb der EU-Institutionen, wie zwischen Kommission, Europäischem Parlament und Europäischem Ministerrat, als auch durch die unterschiedlichen politischen Positionen der Mitgliedsstaaten, in dieser Frage fragmentierter denn je zuvor. Dies liegt auch daran, dass es mittlerweile kein gemeinsames ‚hegemoniales Projekt’ mehr gibt. Also ein Projekt, das von einer europäischen Zivilgesellschaft im breiten Konsens mitgetragen werden würde, wie es das Binnenmarktprojekt vor Ausbruch der Finanzkrise zum größten Teil noch war, trotz jeweiliger Kritik durch Volksreferenden in Frankreich, Irland und Tschechien, die über die neue europäische Verfassung vor 2009 abgehalten wurden. Ein solches hegemoniales Projekt gibt es m.E. nicht mehr innerhalb der Europäischen Union, und daher sind auch die Fragmentierungen und Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten in wirtschafts- und migrationspolitischen Fragen nicht einfach zu überwinden. Hegemoniale Projekte umfassen zudem nicht nur die strukturelle Seite sozialer und politischer Transformationen, sondern bewirken auch auf affektiver Subjektebene eine breite Zustimmung zu Veränderungen durch diskursive Interessenartikulation verschiedener europäischer Eliten.28 Der diskursive wettbewerbspolitische Konsens, der unter Neutralisierung und Desartikulation gesellschaftlich strukturell bestehender Antagonismen auf supranationaler Ebene als Eliteprojekt immer noch hergestellt wird, versucht die Durchsetzung und Verschärfung marktkonformer Projekte noch zu garantieren. Aber die aktuellen Probleme jenseits der Schaffung eines noch stärkeren hegemonialen neoliberalen Marktprojektes, das weitgehende Einschnitte in das Arbeitsrecht einzelner Mitgliedsstaaten machen würde z.B über die neuen ‚Pakte für Wettbewerbsfähigkeit’29 bedeutet, dass es momentan eher zu einer Rückbesinnung auf den Nationalstaat kommt. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien sich vermehrter Popularität erfreuen, und in einigen Ländern wie Ungarn, Schweden und Polen sogar die Regierung (mit-)bilden und in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Österreich starke Wählerzugewinne haben.30 Auch hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Vorgehensweise gab es seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise unterschiedliche Standpunkte einzelner Interessengruppen und Mitgliedsstaaten, sodass auch hier unklar ist, ob sich eher ordoliberale oder orthodox/autoritär-neoliberale Positionen durchsetzen werden, wie ich im folgenden Abschnitt näher erläutern möchte. 28 Apeldoorn 2003. 29 Oberndorfer 2016. 30 Vgl. Wöhl 2016a.

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Wie kann also ein europäisches progressives Hegemonieprojekt aussehen, das ein Gegenprojekt zur neoliberalen Konfiguration der EU darstellt? Das nicht permanente Austerität via nationaler Schuldenbremsen und die Auflockerung von Arbeitsrechten zuungunsten von ArbeitnehmerInnen forciert? Hans-Jürgen Bieling und Jochen Steinhilber haben in ihrer Analyse von hegemonialen Projekten in der EU Anfang der 2000er Jahre theoretisch reflektiert, wie Hegemonie im europäischen Integrationsprozess zu erfassen wäre. Deswegen möchte ich im folgenden Abschnitt auf das Konzept der hegemonialen Projekte und Hegemonieprojekte, wie sie die Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ im Unterschied dazu ausgearbeitet hat, näher eingehen und die verschiedenen Fraktionen im wirtschaftspolitischen Lager anhand einer Systematisierung von John Kannankulam und Fabian Georgi ausführlicher erläutern. Dies würde auch sehr konkrete Anschlüsse für Mouffe’s Forderung von Äquivalenzketten im Ringen um eine demokratische Erneuerung der Europäischen Union bieten.

„Hegemoniale Projekte“ und „Hegemonieprojekte“ Hegemonie wird im europäischen Integrationsprozess von Hans-Jürgen Bieling und Jochen Steinhilber auf drei Ebenen konstatiert: Erstens auf der Ebene des historischen Blocks, der bei Gramsci als ein Zeitraum bzw. historische Konstellation beschrieben wird, in der es eine relativ stabile Übereinstimmung der verschiedenen institutionellen Akteure und der Sozialpartner gibt. In dieser Phase reproduziert sich die Gesellschaftsformation unter relativ kohärenten Bedingungen und einer bestimmten Produktionsweise. Die Phase des Fordismus nach dem Zweiten Weltkrieg kann als historischer Block bezeichnet werden, da Massenproduktion und -konsum sowie ein stabiler wohlfahrtsstaatlicher Kompromiss die Produktivität und das Wirtschaftswachstum förderten.31 Zweitens spielen die sozialen und politischen Kräfte eine Rolle in der Ausbildung eines hegemonialen Blocks an der Macht. Die unterschiedlichen Akteure, die das politische Klima bestimmen und unterschiedliche Interessen artikulieren, müssen dabei Kompromisse eingehen, um erfolgreich handeln zu können. Die jeweiligen Intellektuellen der unterschiedlichen Kräfte artikulieren dabei in der politischen Öffentlichkeit ihre Weltsicht, um die politische und ideologische Führung zu organisieren. Sie haben so maßgeblichen Einfluss auf die Formierung eines historischen Blocks, indem sie selbst an der aktiven Herstellung hegemonialer Blöcke in Form von Allianzen beteiligt sind. Die dritte Ebene zur Herstellung eines historischen Blocks erfasst die hegemonialen Projekte selbst, die konkret definiert sind. Sie werden von Bieling und Steinhil-

31 Bieling/Steinhilber 2001b.

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ber als politische Projekte beschrieben, die „als Moment der institutionalisierten (Klassen-)Kompromisse den ‚historischen’ und ‚hegemonialen Block’ dynamisch stabilisieren bzw. transformieren.“32 Diese politischen Projekte bündeln die Interessen hegemonialer Akteure und können sie als Lösungsstrategien für die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Probleme darstellen. Zugleich stützen sie sich nicht allein auf materielle Interessen und rationale Strategien verschiedener Akteure, sondern es gelingt ihnen, einen sozialen Mythos herzustellen, der auch auf subjektiver Seite wirkt: kulturelle Vorstellungen, Lebensweisen und Gefühle der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure werden so angesprochen. Insofern wirken Diskurse Konsens bildend, wenn es ihnen gelingt, sich nicht nur als Interesse einer bestimmten Person oder Gruppe darzustellen, sondern als Allgemeininteresse. Die hegemoniale Artikulation von Diskursen, die Sinn stiftend sind, können so auch antagonistische Interessen neutralisieren. Dies geschieht auf der suprastaatlichen Ebene der Europäischen Union durch die Vorgabe von Eliten, die ihre Positionen zumeist in einem nationalen Rahmen absichern müssen. In einem Dreischritt von neoliberaler Interessenartikulation, Konsolidierung der Strategie unter Einbindung der Gegenpositionen und der Verallgemeinerung jener Positionen zu einer politischen Notwendigkeit und einem gesellschaftlichen Konsens konnten neoliberale Restrukturierungen in der Europäischen Union bis Mitte der 2000er Jahre auf mehreren Ebenen stattfinden: Privatisierung der Sozialsysteme und die Öffnung der nationalen Märkte zu einem gemeinsamen europäischen Binnenmarkt im Bereich der Güter-, Kapital-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte, die einer Logik der kompetitiven Deregulierung folgten, während monetaristische Politiken weitaus restriktiver reguliert wurden. Die Kernelemente dieser neoliberalen Projekte sind eine rigide Sparpolitik der Mitgliedsstaaten, weniger Staatsinterventionen, eine angebotspolitische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sowie die Konsolidierung und Förderung der europäischen Finanzmärkte, die mit einer Teilprivatisierung der Rentensysteme einhergingen.33 Inwieweit hierdurch ein europäisches Finanzregime forciert wurde, macht vor allem die Entwicklung der Europäischen Union in bestimmten Kernprojekten deutlich, die insgesamt den Integrationsprozess hegemonial dominierten. Im Binnenmarktprojekt wurden verbesserte Wettbewerbsbedingungen für transnationale Konzerne durch die Beseitigung nicht-tarifärer Handelshemmnisse geschaffen und die „gegenseitige Anerkennung nationaler Normen und Standards zum vorherrschenden Prinzip des europäischen Integrationsmodus“.34 Hans-Jürgen Bieling und Jochen Steinhilber haben daher ökonomische Kernprojekte als hegemoniale Projekte identifiziert, die die Markt- und Währungsintegration forcierten, den gemeinsamen Binnenmarkt 32 Ebd., S. 106. 33 Beckmann 2007. 34 Bieling/Steinhilber 2001b, S. 113.

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stärkten und seit 1998 auch die Finanzmärkte europäisch harmonisierten. Neben dem politischen und ökonomischen Erweiterungsprozess nach Süd- und Osteuropa war eine Angleichung der Waren-, Kapital- und Kreditverhältnisse notwendig, um ein auf den europäischen Kapitalismus gestütztes Akkumulationsregime zu schaffen, das gegenüber den USA und China auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig ist.35 Dass das hegemoniale Binnenmarktprojekt eben durch die multiplen Krisenerfahrungen seit 2008 massiv herausgefordert worden ist und es zur Absicherung desselben zu Interventionen durch neue Formen von Economic Governance seit 2010 gekommen ist, zeigen die neuen Verordnungen und Richtlinien, die im Rahmen des sogenannten „Sixpacks“, Two-Packs und des Fiskalvertrages nun rechtsgültig sind.36 Diese stützen die Wettbewerbspolitik, indem sie noch strengere Fiskalregeln und eine unbedingte Einhaltung des strukturellen Defizits nun quasi auf Verfassungsrang der Mitgliedsstaaten festschreiben. Dies war nur möglich durch die Umgehung von europäischen Verträgen.37 Die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Staatsprojekt Europa“ zeigen zudem, wie seit 2008 die verschiedenen Fraktionen und AkteurInnen auf nationaler und supranationaler Ebene um verschiedene „Hegemonieprojekte“ ringen. Wie John Kannankulam und Fabian Georgi schreiben sind „Hegemonieprojekte“ in der gegenwärtigen Krisenkonstellation in verschiedenen, konfligierenden „Akteurs- und Kräftekonstellationen“ ebensolche, die “gesellschaftliche Projekte [...] bündeln“.38 Hegemoniale Projekte sind von gesellschaftlichen Hegemonieprojekten zu unterscheiden „welche zwar eine Hegemonie anstreben, diese jedoch (noch) nicht erreicht haben. Nicht jedes Projekt, das versucht, die Partikularinteressen seiner führenden Fraktion zu verallgemeinern, wird hegemonial.“39 Georgi und Kannankulam unterscheiden daher in der aktuellen Konstellation fünf verschiedene Hegemonieprojekte, die um Deutungshoheit innerhalb der Europäischen Union seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 ringen: 1.) eine orthodox-neoliberale Fraktion die im Bündnis mit dem 2.) national-konservativen Projekt, das eine stark nationale orthodox-monetaristische, ordo-liberale Wirtschaftstheorie vertritt, eine gemeinsame Verbindung in den nördlichen Mitgliedsstaaten Deutschland, Österreich, Finnland und den Niederlanden einginge. Hier verbinden sich Teile des Mittelstandes und konservative Kleinunternehmer im Diskurs mit geldwertstabilitätsorientierten Teilen der Gesellschaft, vor allem in Deutschland, die auch Medien, Teile der Bevölkerung und der Wissenschaft umfassen und stark national und wertkonservativ orientiert sind.40 Prominent vertreten in Deutschland z.B. durch Hans-Werner Sinn, CSU und FDP, die eine 35 36 37 38 39 40

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Beckmann/Bieling/Deppe 2003. Wöhl 2016b. Oberndorfer2016. Georgi und Kannankulam 2012, S. 6. Ebd. Ebd., S. 9.

Transfer- und Fiskalunion, aber auch Bankenrettungen strikt ablehnen. 3.) Ein proeuropäisches autoritär-neoliberales Hegemonieprojekt, das die „Rettung des Euro um fast jeden Preis“41 anstrebe. Hierzu zählen Business Europe, der European Round Table of Industrialists, transnationale Konzerne und vor allem die deutschen exportorientierten Wirtschaftszweige, die die neoliberale Integration noch vertiefen wollen. Sie strebten eine „Radikalisierung neoliberaler Reformen auf dem Arbeitsmarkt, im Sozialstaat und eine allgemeine Deregulierung vor allem in Südeuropa“42 an. Autoritär nennen Georgi und Kannankulam dieses neoliberale Bündnis, da sie über exekutive Maßnahmen wie den Fiskalvertrag und die neuen Richtlinien und Verordnungen zur Economic Governance demokratiepolitische Akteure bedeutungslos werden lassen wollen. Zugleich setzt sich diese Bündnisfraktion im Gegensatz zur vorherigen Fraktion für Eurobonds und Bankenunion ein und will durch Sanktionen weitere Privatisierungsprozesse vorantreiben. Dies wäre allerdings nur über eine Vertragsveränderung der europäischen Verträge möglich. 4.) Eine neoliberale Reregulierungsfraktion bestehend aus Flügeln der Sozialdemokraten und Grünen, die u.a. eine stärkere Re-regulierung des Banken- und Finanzsektors fordern, Finanztransaktionssteuern wollen, und somit eine „moderate Richtungsveränderung“ mit einer europäischen Wirtschaftsregierung anstreben, um neoliberale Strukturreformen einzuleiten, die sie ursprünglich selbst mit zu verantworten haben.43 Hierzu zählen die französische Regierung unter Hollande, die deutsche Sozialdemokratie und die Grünen, die den Fiskalvertrag unterstützten. Schließlich gibt es noch ein letztes 5.) Hegemonieprojekt, das linksliberale-alternative Hegemonieprojekt, zu dem anti-rassistische, feministische, ökologische, und Minderheitenrespektierende Gruppen zählen, die aus dem urbanen Spektrum der gebildeten Schichten stammen und die Europäische Union nicht in erster Linie als Wirtschaftsprojekt verstehen.44 Diese grobe heuristische Einteilung, die unter der derzeitigen polit-ökonomischen Lage nochmals zu schärfen wäre, zeigt sehr anschaulich, inwiefern verschiedene gesellschaftliche Fraktionen und organische Intellektuelle innerhalb der Europäischen Union um die Durchsetzung ihrer Interessen ringen. Zugleich spielt auch der institutionelle Apparat der EU selbst, namentlich die Kommission, der ECOFIN-Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der jeweiligen Mitgliedsstaaten und der Europäische Gerichtshof eine wesentliche Rolle in der Ausarbeitung oder Einhaltung konkreter wirtschaftspolitischer Zielvorgaben. Wie lässt sich dies nun mit Mouffe’s Vorschlag eines föderal konzipierten Europas verbinden und konkretisieren?

41 42 43 44

Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd., S. 8; Siehe auch Forschungsgruppe ‚Staatsprojekt Europa’ 2012.

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Chantal Mouffes Vorschlag einer föderalen Europäischen Union Um ein Scheitern des europäischen Projektes zu vermeiden, schlägt Mouffe vor, die Frage der kollektiven Identität wieder aufzugreifen. Sie möchte das Verständnis von Identifikationsprozessen vor allem mit der „affektiven Dimension“45 und den Leidenschaften als Movens (politischen) Handelns berücksichtigen, und eben nicht dem Habermaschen Modell der kommunikativen Rationalität und Diskursethik folgen. Denn für Mouffe sind Affekte und Leidenschaften eine entscheidende Dimension in subjektiver und kollektiver Identitätsfindung. Da der Integrationsprozess vor allem über das wirtschaftliche Projekt ein kollektives „Wir“ herstellte seit Beginn an, müssten nun „alle Versuche“ eingestellt werden, „ein homogenes, postnationales ‚Wir’ zu konstruieren“.46 In diesem Zusammenhang könne dann auch eine föderale Union entstehen, in der die „Einheit in der Vielfalt“47 fortbestehen könne und der Nationalstaat als solcher weiterhin existiere. Im Anschluss an Kalypso Nicolaidis sollte ein Regierungsmodell mit vielen Zentren entstehen, mit geteilten Identitäten und keinem einheitlichem Demos. Gleichzeitig sollte eine „Gemeinschaft der Projekte“ 48 anvisiert werden, in der es viele Zentren gebe und im Anschluss an Robert Menasse einzelne Regionen eine wichtige Rolle spielen könnten. Dies vor allem deswegen, um nicht ein Elitenprojekt einzelner nationalstaatlicher Akteure weiter zu forcieren. Anders als Menasse schlägt Mouffe im Anschluss an Massimo Cacciari jedoch vor einen ‚Föderalismus von unten’49 zu kreieren, der dem Nationalstaat und den Regionen eine jeweils mehr gleichwertige Bedeutung zukommen lässt. Gleichzeitig könnte dann im agonistischem Demokratiemodell die EU eine „Gemeinschaft der Projekte“50 darstellen, in der die BürgerInnen das „Gemeinsame als Vielfalt von Problemen und wichtigen Angelegenheiten begreifen“, dann „können wir uns eine Vielzahl von Interessengruppen vorstellen und den Boden für ein breites Spektrum an Wir/Sie-Unterscheidungen bereiten“.51 Dabei sollten für Mouffe im Anschluss an James Tully Verfahren „ebenfalls Gegenstand der Debatte“52 sein, um unter den europäischen BürgerInnen „agonistische Auseinandersetzungen“53 zu lancieren, und BürgerInnen nicht in ihrem derzeitigen KonsumentInnenstatus zu belassen. Für Mouffe ginge es dabei um die „Ausarbeitung eines soziopolitischen Projektes“,54 das eine Alternative zum Neoliberalismus darstellt. Die politische Vision, die Mouf45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

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Mouffe 2014, S. 80. Ebd. Ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Ebd., S. 93. Ebd. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95. Ebd., S. 97.

fe vorschwebt, ist wie viele andere diejenige, sich vom angelsächsischen Kapitalismusmodell zu verabschieden und ein politisches Projekt zu forcieren, das soziale, ökologische und politische Fragen verschränkt.55 Die Ideologie des Freihandels müsse entlarvt werden und aus regionaler Perspektive angegangen werden.56 Gleichzeitig müsste auch in den Ländern Europas ein gesellschaftlicher Wandel stattfinden, der den Konsum eindämmt und die bisherige Wachstumsstrategie infrage stellt. In diesem würden dann die EU und das westliche Modell nur eine Rolle von vielen global einnehmen und als regionaler „Pol in einer multipolaren Welt“57 aktiv sein. Diese theoretischen und politischen Überlegungen Mouffes sind anschlussfähig an die hegemonietheoretische Europaforschung und könnten auf einer demokratietheoretischen Ebene dazu führen, dass es zu einer Bündelung von Interessen kommen könnte und somit auch die derzeitige institutionelle Struktur der EU so verändert würde, dass es keine Machtkonzentration auf supranationaler Ebene in Form der Kommission und dem Rat mehr gäbe. Aber auch hierfür bräuchte es ein Mobilisierungspotential, das aktiv diesen institutionellen Umbau der EU politisiert. Wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich wurde, hat aber gerade die bisherige Komplexität der institutionellen Prozesse und eine Form von Expertentum dazu geführt, dass viele BürgerInnen sich nicht mit der Heterogenität des Staatsapparateensembles auseinandersetzen können oder wollen. Soziale Bewegungen und linksalternative Parteien und Projekte haben bisher entweder nur leicht diskursive Verschiebungen vornehmen können, trotz bestehender Erfolge der bereits genannten Bewegungen. Oder sind durch exekutiv orientierte Maßnahmen der Regierungen, etwa in Spanien oder Frankreich durch die Einschränkung der Demonstrationsfreiheit, in sozialpolitischen Fragen autoritär eingehegt worden.58 Aufgrund der konkurrierenden Hegemonieprojekte wie oben beschrieben, stellt sich die Frage, welche Fraktion sich in Zukunft eher durchsetzen wird. Die Diskurshoheit lag im Jahr 2015 sicherlich eher bei der orthodox-neoliberalen Fraktion, die durch die ordo-liberale Position stark infrage gestellt wurde. Die institutionellen Akteure von EZB und Kommission haben ihre wirtschaftspolitische Linie gemeinsam mit den Kernländern wie Deutschland gegenüber Griechenland weiter durchgesetzt, und es ist fraglich wie eine Anti-Austeritätspolitik Hegemonie erlangen könnte in den derzeit bestehenden politischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnissen, die zudem nun konstitutionell über den Fiskalvertrag abgesichert sind. Hier bräuchte es eine breite Form von politischen Äquivalenzketten zwischen verschiedenen AkteurInnen, auch bestehend aus Parteien wie Podemos in Spanien oder andere Austeritätskritische Parteien, die portugiesische und griechische Linke, die im Bündnis mit 55 56 57 58

Ebd., S. 99. Ebd., S. 100. Ebd., S. 104. Oberndorfer 2016.

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diversen Linksprojekten, wie sie derzeit entstanden sind, u.a. Diem 25, Blockupy, die Plattform der Hypothekenbetroffenen in Spanien, um eine andere Vision Europas gemeinsam zu fokussieren. Aber auch diese diversen Bündnis-Lager vertreten keine einheitliche Position, z.B. in der Frage des Euros, und so wird es, angesichts der Rechtspopulisten und -radikalen eine große Herausforderung, dass die Europäische Union in ein föderales Institutionenensemble, wie es Mouffe vorschwebt, transformiert werden könnte.

Fazit Eine hegemonietheoretische und föderale Perspektive auf die Europäische Union, wie Mouffe sie unter anderen entwickelt hat, die ein Institutionenverständnis hat, das aktiv die Rolle der Zivilgesellschaft einbezieht, und die verschiedenen hegemonialen Fraktionen im Ringen um Hegemonie analysiert, kann zu einem differenzierten Bild der EU-Institutionen und der wirtschaftspolitischen Kräfteverhältnisse beitragen. Hier gibt es Ansatz- und Interventionsmöglichkeiten, um Äquivalenzketten zwischen konkreten institutionellen und nicht-institutionellen AkteurInnen zu bilden, die, wie oben dargestellt, versuchen müssten im Ringen um eine visionäre Position der Europäischen Union in der globalen Weltordnung eine neue Wirtschaftsund Sozialpolitik zu ermöglichen. Dass dies in einer agonistischen Auseinandersetzung möglich sein kann, ist vorstellbar. Sicherlich ist es Mouffe zudem zu verdanken, dass die Dimensionen der symbolischen diskursiven Ordnung und der Affekte in diesem demokratietheoretischem Konzept mitberücksichtigt werden können, die in den wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre, man denke an die Visualisierung vor allem geschlechtsspezifischer Symbole,59 bildhaft in den medialen Vordergrund gerückt sind: Der Eifelturm wurde als schlaffer Phallus dargestellt, Angela Merkel als Adolf Hitler, die griechische Venus in die griechische Flagge verwickelt in Bettlerinnenpose oder mit Stinkefinger usw.60 Dementsprechend wäre es umso notwendiger, die geschlechtsspezifischen und intersektionellen Effekte der umgesetzten Austeritätspolitik nicht nur in ihren Auswirkungen zu analysieren, sondern auch an das produktive Potential, das daraus als politische Mobilisierung in Griechenland, Spanien und anderen Ländern entstanden ist, anzuknüpfen. Denn die Effekte der Krise haben vor allem die Privathaushalte zu spüren bekommen, und somit auch die neoliberale Ideologie des individuellen Erfolges bei bester Ausbildung deutlich konterkariert,

59 Griffin 2016. 60 Agathangelou 2016, S. 214.

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wie in Spanien, Irland, Griechenland und Südosteuropa für junge Menschen besonders deutlich wurde.61 Die rassistischen und geschlechtsspezifischen Konstruktionen und deren ökonomischen Effekte wurden im wirtschaftspolitischen Krisendiskurs in den letzten Jahren bereits aufgearbeitet. Nun gilt es, diese Forschungsergebnisse zusammenzuführen, um aufzuzeigen, wie und an welchen institutionellen Mechanismen gegenhegemoniale Diskurse und Praktiken möglich sind. Nur dann könnte die agonistische Demokratietheorie auch innerhalb der Europäischen Union in die politische Praxis umgesetzt werden.

Literatur Agathangelou, Anna M., 2016: Global Raciality of Capitalism and „Primitive“ Accumulation: (Un)Making the Death Limit? In: Jacqui True/Aida A. Hozic (eds.), Scandalous Economics. Gender and the Politics of Financial Crises. Oxford, S. 205–230. Apeldoorn, Bastiaan van, 2003: European unemployment and transnational capitalist class strategy: the rise of the neo-liberal competetiveness discourse. In: Henk Overbeek (ed.), The Political Economy of European Employment. European integration and the transnationalization of the (un)employment question. London; New York. S. 113–134. Beckmann, Martin, 2007: Das Finanzkapital in der Transformation der europäischen Ökonomie. Münster. Beckmann, Martin/Bieling, Hans-Jürgen/Deppe, Frank (Hg.), 2003: Euro-Kapitalismus und globale politische Ökonomie. Hamburg. Bieling, Hans-Jürgen/Deppe, Frank, 2006: Gramscianismus in der Internationalen Politischen Ökonomie. Eine Problemskizze. In: Das Argument 217, S. 729–740. Bieling, Hans-Jürgen/Steinhilber, Jochen (Hg.), 2001a: Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie. Münster. Bieling, Hans-Jürgen/Steinhilber, Jochen, 2001b: Hegemoniale Projekte im Prozess der europäischen Integration. In: Dies. (Hg.), a.a.O., S. 102–130. Bruff, Ian/Wöhl, Stefanie, 2016: Constitutionalizing Austerity, Disciplining the Household. Masculine Norms of Competetiveness and the Crisis of Social Reproduction in the Eurozone. In: Jacqui True/Aida A. Hozic (eds.), Scandalous Economics. Gender and the Politics of Financial Crises. Oxford, S. 92–108. Demirovic, Alex, 1997: Demokratie und Herrschaft. Aspekte Kritischer Gesellschaftstheorie. Münster. Forschungsgruppe ‚Staatsprojekt Europa’ (Hg.), 2012: Die EU in der Krise. Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem Frühling. Münster. Georgi, Fabian/Kannankulam, John, 2012: Das Staatsprojekt Europa in der Krise. Die EU zwischen autoritärer Verhärtung und linken Alternativen. Unter: www.rosalux-europa.info, download am 14.10.2015. 61 Bruff/Wöhl 2016.

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Gill, Stephen, 1998: European Governance and New Constitutionalism: EMU and alternatives to disciplinary neo-liberalism in Europe. In: New Political Economy 3(1), S. 5–27. Gill, Stephen/Cutler, Anne C. (eds.), 2014: New Constitutionalism and World Order. Cambridge. Gramsci, Antonio, 1991: Gefängnishefte. Hamburg, Kritische Gesamtausgabe Hg. von Wolfgang Fritz Haug. Griffin, Penny, 2016: Gender, Finance, and Embodiments of Crisis. In: In: Jacqui True/Aida A. Hozic (eds.), Scandalous Economics. Gender and the Politics of Financial Crises. Oxford, S. 179–201. Jessop, Bob, 1990: State Theory. Putting Capitalist States in their Place. Cambridge/Oxford.

Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, 1991: Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien, Hrsg. Von Michael Hintz und Gerd Vorwallner. Mouffe, Chantal, 2014: Agonistik. Die Welt politisch denken. Frankfurt a.M. Oberndorfer, Lukas, 2016: Der neue Konstitutionalismus in der Europäischen Union und seine autoritäre Re-Konfiguration. In: Hans-Jürgen Bieling/Martin Große Hüttmann (Hg.), Europäische Staatlichkeit. Zwischen Krise und Integration. Wiesbaden, S. 177–200. Wöhl, Stefanie, 2007: Mainstreaming Gender? Widersprüche europäischer und nationalstaatlicher Geschlechterpolitik. Königstein/Taunus. Wöhl, Stefanie, 2016a: Machtverschiebungen zur Exekutive. Demokratie in Zeiten multipler Krisen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, APuZ 40-42/2016, S. 42–46. Wöhl, Stefanie, 2016b: Gendering Governmentality and European Integration Theory. In: Gabriele Abels /Heather MacRae (eds.): Gendering European Integration Theory. Engaging new Dialogues. Opladen, S. 237–255.

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Verzeichnis der Beitragenden

Simon Bohn, Dr. phil., hat Soziologie, Philosophie und Sprachwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie der Universität Basel studiert und sich bei Stephan Lessenich und Hartmut Rosa promoviert. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Subjekttheorie, der Kultursoziologie und der Diskurs- und Metaphernanalyse. Er lebt und arbeitet in Leipzig. Veröffentlichungen u.a.: Die Ordnung des Selbst. Subjektivierung im Kontext von Krise und psychosozialer Beratung, Bielefeld 2017. Felix Breuning, M.A., Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Derzeit arbeitet er an einem Promotionsprojekt zur politischen Theorie des Linkspopulismus. Ingo Elbe, Privatdozent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte sind Marx und Marxrezeption, Kritische Theorie, Politische Philosophie, Antisemitismus- und Faschismustheorien. Bücher: Paradigmen anonymer Herrschaft. Politische Philosophie von Hobbes bis Arendt, Würzburg 2015; Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik, 2. Aufl., Berlin 2010. Mitherausgeber der Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie, Berlin 2014ff. Letzte Veröffentlichung: Habermas’s Critique of the Production Paradigm. In: Gabriel Ricci (Hg.), The Persistence of Critical Theory, Culture & Civilization Vol 8/2016. Andreas Hetzel, Professor für Sozialphilosophie an der Universität Hildesheim; er ist Mitherausgeber der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie sowie der Buchreihe Zeitgenössische Diskurse des Politischen. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur, Würzburg 2001, und Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld 2011. Liza Mattutat, M.A., studierte Germanistik und Philosophie an der TU Darmstadt. Anschließend war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Nachwuchsforschungsgruppe Jenseits einer Politik des Strafens an der Universität Kassel. Seit 2016 ist sie Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs Kulturen der Kritik an der Leuphana Universität Lüneburg.

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Ingo Pohn-Lauggas, Dr. phil., Literatur- und Kulturwissenschaftler, leitet die Koordinationsstelle Kulturwissenschaften/Cultural Studies an der Universität Wien; er ist Redaktionsmitglied bei Das Argument - Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften und der Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Er ist Herausgeber von Gramscis Schriften zur Literatur und Kultur (2012) und Mitherausgeber von Bd. 5 der Ausgewählten Schriften Stuart Halls (Populismus – Hegemonie – Globalisierung, 2014). Monographie: Hegemonie, Kunst und Literatur. Ästhetik und Politik bei Gramsci und Williams (2013). Anja Rüdiger, promovierte an der Christian-Albrechts-Universitat zu Kiel zum Thema postmarxistische Demokratietheorie. Sie veröffentlichte ihre Dissertation Dekonstruktion und Demokratisierung: Emanzipatorische Politiktheorie im Kontext der Postmoderne 1996 bei Leske + Budrich. Seitdem hat sie mit britischen und amerikanischen Forschungsinstituten sowie in sozialen Bewegungen gearbeitet, zuletzt als Programmdirektorin bei der National Economic and Social Rights Initiative in New York City. Zuvor leitete sie die Forschungsabteilung des britischen Refugee Council sowie das UK Secretariat der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Im Rahmen von Beratungsaufträgen arbeitete sie unter anderem für das Centre on Migration, Policy and Society an der University of Oxford sowie das Institute for Public Policy Research, und war Mitglied der Task Force on Democracy, Economic Security, and Social Justice in a Volatile World der American Political Science Association. Neben Veröffentlichungen zur poststrukturalistischen Politiktheorie hat sie über soziale Bewegungen, Gleichheits- und Gerechtigkeitskonzepte, Gesundheitspolitik, Einwanderung- und Bürgerschaftspolitik publiziert. Veröffentlichungen u.a.: „Human Rights and the Political Economy of Universal Health Care”. In: Health and Human Rights Journal, Vol. 18, 2, 2016, 67-78; „From Private Profits to Public Goods? A Human Rights Assessment of Health Care Reform“. In: M. Major (Hg.), Where Do We Go from Here: American Democracy and the Renewal of the Radical Imagination, Maryland 2010; „Cultures of Equality, Traditions of (Be)longing”. In: Christophe Bertossi (Hg.), European Anti-discrimination and the Politics of Citizenship, New York 2006. Alfred Schäfer, Professor für Systematische Erziehungswissenschaft an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Er arbeitet zu Fragen der Bildungs- und Erziehungsphilosophie, darunter insbesondere zum Konstitutionsproblem des Pädagogischen, sowie zu Theorie und Empirie einer kulturwissenschaftlichen Bildungsforschung. Buchpublikationen u.a.: Einführung in die Erziehungsphilosophie, Weinheim 2005; Irritierende Fremdheit. Bildungsforschung als Diskursanalyse, Pader-

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born 2011; Das Versprechen der Bildung, Paderborn 2011; 1968 – Die Aura des Widerstands, Paderborn 2014. Susanne-Verena Schwarz, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen und Promovendin am Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität Hannover. Seit 2005 ist sie als Bildungsreferentin und -planerin im Feld der Demokratiepädagogik tätig (Betzavta-Seminare, Planspiel Die Beste Aller Welten, EU Projekt Out-Side-In: Inclusive Education with Refugees, Arbeitsblattreihe Hautnah (bpb) etc). Nach ihrem Diplom-Abschluss an der humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln (Erziehungswissenschaft, Sozialwissenschaften, Musik) forscht sie in ihrer Dissertation zu Diskursen der Demokratietheorie im Feld der politischen Bildung. Ihre Diplomarbeit zum Bildungskonzept Betzavta und dem agonalen Demokratiemodell von Chantal Mouffe ist zugänglich unter: http://www.uni-koe ln.de/hf/konstrukt/texte/diplom/index.html Manon Westphal, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Demokratietheorie, agonale Demokratie und politische Herausforderungen normativer Pluralität. Aktuelle Projekte befassen sich mit politischen Kompromissen und Modus-Vivendi-Arrangements. Publikationen u.a.: „Jenseits des Konsens-Ideals: Deliberation in der agonalen Demokratie“. In: Rainer Schmalz-Bruns/Claudia Landwehr (Hg.), Deliberative Demokratie in der Diskussion. Herausforderungen, Bewährungsproben, Kritik, Baden-Baden 2014, 305-337; „Antagonismus auf der Animal Farm. Chantal Mouffes Hegemonietheorie veranschaulicht an der Verfilmung des Klassikers von George Orwell“. In: Ulrich Hamenstädt (Hg.), Politische Theorie im Film. Wiesbaden 2016, 253-275. Stefanie Wöhl, Politikwissenschaftlerin, ist Professorin an der Fachhochschule des BFI Wien. Sie leitet dort das Stadt Wien Kompetenzteam für European and International Studies im Studiengang Europäische Wirtschaft und Unternehmensführung. Sie ist Mitherausgeberin von momentum quarterly – Zeitschrift für sozialen Fortschritt. Forschungsschwerpunkte: Staats- und Demokratietheorie, Europäische Integration, Internationale Politische Ökonomie, Geschlechterforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: The Gender Dynamics of Financialization and Austerity in the European Union - The Irish Case, In: Kantola, Johanna/Lombardo, Emmanuela (eds.) 2017: Gender, Politics, and the Crisis in Europe. Politics, Institutions and Intersectionality, Basingstoke: Palgrave-Macmillan, pp. 139-160; Nancy Fraser, In: Voigt, Rüdiger (Hg.) 2016: Staatsdenken. Zum Stand der Staatstheorie heute, Baden-Baden: Nomos, S. 375 – 378; Ludwig, Gundula/Sauer, Birgit/ Wöhl, Ste-

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fanie (Hg.) 2009. Staat und Geschlecht. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen feministischer Staatstheorie. Baden-Baden. Joscha Wullweber, Dr. phil., Akademischer Rat am Fachgebiet Globalisierung und Politik der Universität Kassel. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Global Finance/ Finanzmärkte; Theorien und Methoden der Internationale Politik/ Internationalen Politischen Ökonomie; Hegemonie- und Diskurstheorien; Wirtschaftspolitik; Technologie- und Innovationspolitik. Ausgewählte Veröffentlichungen: „Leviathan vs. selbstregulierende Märkte? Die globale Finanzkrise und die Governance von Finanzmarktliquidität“. In: Politische Vierteljahresschrift, Heft 1 2017; „Performative Global Finance: Bridging Micro and Macro Approaches with a Stratified Perspective“. In: New Political Economy, 2016; „Global Politics and Empty Signifiers: The political construction of high-technology“. In: Critical Policy Studies, 2015; „Heuristik statt politische Theorie: Eine postpositivistische Kritik des Rational-ChoiceAnsatzes“. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2014; Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven, Bielefeld 2012 (hg. mit Iris Dudzek und Caren Kunze).

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