Erfahrungsräume der Demokratie: Zum Staatsdenken von Alexis de Tocqueville 3515118357, 9783515118354

Alexis de Tocqueville ist einer der großen Klassiker der politischen Ideengeschichte. Vor allem in den USA und Frankreic

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Table of contents :
EDITORIAL
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
Skadi Siiri Krause:
Der Demokratietheoretiker Tocqueville. Kontexte, Interpretationen und
Neuaneignungen
2. REZEPTIONSGESCHICHTE
Daniel Schulz:
Tocqueville in der Bundesrepublik
Juri Auderset:
Tocqueville und die Demokratie in der Schweiz. Analysen, Rezeptionsfelder
und Aktualisierungen
3. WERKIMMANENTE INTERPRETATIONEN UND EINORDNUNGEN
Skadi Siiri Krause:
Demokratische Repräsentation und Freiheitserfahrung
Dirk Jörke:
Tocquevilles Kritik demokratischer Institutionen und Praktiken
Skadi Siiri Krause:
Eine Gesellschaft von Gleichen. Tocqueville über die Demokratie als
Staats-, Gesellschafts- und Lebensform
Oliver Hidalgo:
Tocqueville und die Frage der Religion in der modernen Demokratie
4. PRAKTISCH-POLITISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN MIT TOCQUEVILLES WERK
Albert W. Dzur:
Bürgerbeteiligung und der Strafvollzugsstaat. Eine kritische Rekonstruktion
von Tocquevilles Betrachtung über Berufsrichter und Jurys in einer Demokratie
David Lewis Schaefer:
Tocqueville und die Anti-Föderalisten über Föderalismus. Lektionen für
heute
Alan S. Kahan:
Tocqueville und das Problem der Armut
Jimena Hurtado:
Alexis de Tocqueville über die unerfüllten Versprechen der demokratischen
Revolution
Ahmet Cavuldak:
Die Übertragung demokratischer Lernprozesse bei Tocqueville – von den
USA über Frankreich bis zur islamischen Welt?
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Erfahrungsräume der Demokratie: Zum Staatsdenken von Alexis de Tocqueville
 3515118357, 9783515118354

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Skadi Siiri Krause (Hg.)

Erfahrungsräume der Demokratie Zum Staatsdenken von Alexis de Tocqueville

33 Staatsdiskurse Franz Steiner Verlag

Skadi Siiri Krause (Hg.) Erfahrungsräume der Demokratie

Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 33

Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Erfurt Norbert Campagna, Luxemburg Paula Diehl, Berlin Michael Hirsch, München Manuel Knoll, Istanbul Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Göttingen Birgit Sauer, Wien Peter Schröder, London

Skadi Siiri Krause (Hg.)

Erfahrungsräume der Demokratie Zum Staatsdenken von Alexis de Tocqueville

Franz Steiner Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-11835-4 (Print) ISBN 978-3-515-11836-1 (E-Book) Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Bosch Druck, Ergolding Printed in Germany

EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt

INHALTSVERZEICHNIS 1. Einleitung ............................................................................................................. 7 Skadi Siiri Krause Der Demokratietheoretiker Tocqueville. Kontexte, Interpretationen und Neuaneignungen ............................................................................................... 9 2. Rezeptionsgeschichte ......................................................................................... 23 Daniel Schulz Tocqueville in der Bundesrepublik ................................................................ 25 Juri Auderset Tocqueville und die Demokratie in der Schweiz. Analysen, Rezeptionsfelder und Aktualisierungen ..................................................................................... 39 3. Werkimmanente Interpretationen und Einordnungen ........................................ 67 Skadi Siiri Krause Demokratische Repräsentation und Freiheitserfahrung ................................. 69 Dirk Jörke Tocquevilles Kritik demokratischer Institutionen und Praktiken................... 87 Skadi Siiri Krause Eine Gesellschaft von Gleichen. Tocqueville über die Demokratie als Staats-, Gesellschafts- und Lebensform ....................................................... 109 Oliver Hidalgo Tocqueville und die Frage der Religion in der modernen Demokratie ........ 125 4. Praktisch-politische Auseinandersetzungen mit Tocquevilles Werk............... 149 Albert W. Dzur Bürgerbeteiligung und der Strafvollzugsstaat. Eine kritische Rekonstruktion von Tocquevilles Betrachtung über Berufsrichter und Jurys in einer Demokratie ............................................................................................................. 151 David Lewis Schaefer Tocqueville und die Anti-Föderalisten über Föderalismus. Lektionen für heute ............................................................................................................. 177 Alan S. Kahan Tocqueville und das Problem der Armut ..................................................... 197

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Inhaltsverzeichnis

Jimena Hurtado Alexis de Tocqueville über die unerfüllten Versprechen der demokratischen Revolution .................................................................................................... 211 Ahmet Cavuldak Die Übertragung demokratischer Lernprozesse bei Tocqueville – von den USA über Frankreich bis zur islamischen Welt? ........................................ 229 5. Autorenverzeichnis .......................................................................................... 257

1. EINLEITUNG

DER DEMOKRATIETHEORETIKER TOCQUEVILLE Kontexte, Interpretationen und Neuaneignungen Das öffentliche und wissenschaftliche Interesse an den Schriften von Alexis de Tocqueville (1805−1859) ist ungebrochen. Davon zeugen bereits die großen Editionsprojekte. In Frankreich erscheinen seit 1951 bei Gallimard die Œuvres Complètes.1 Sie gehen in Inhalt und Exaktheit weit über die bereits im 19. Jahrhundert erschienene Ausgabe der Œuvres complètes dʼAlexis de Tocqueville von Mme. de Tocqueville und die von Gustav de Beaumont allein betriebene Edition der Œuvres et correspondance inédites hinaus.2 Daneben gibt es eine Vielzahl von Einzelveröffentlichungen, insbesondere seines Hauptwerkes De la démocratie en Amérique und seines Spätwerkes L’Ancien Régime et la Révolution, sowie unterschiedliche Editionsprojekte themenspezifischer Schriften. So hat Jacques Vallée Tocquevilles Schriften, die sich explizit auf Kanada beziehen, in einer eigenen Edition zusammengestellt.3 Hierin finden sich sowohl seine noch auf dem Dampfschiff The Superior geschriebene Erzählung Quinze jours dans le désert, Reisenotizen und Briefe als auch seine in Europa entstandenen Arbeiten über die Rebellion des patriotes (1837–1838), Anmerkungen zum Report on the Affairs of British North America von Lord Durham (1839) und zentrale Passagen aus De la démocratie en Amérique. Werkzusammenstellungen gibt es aber auch zu anderen Sachthemen. So erschienen in den letzten Jahren allein mehrere Ausgaben von Tocquevilles Mémoires sur le pauperisme. Hervorzuheben ist ebenso der Band Lettres choisies. Souvenirs, 1814−1859, der von Franҫoise Mélonio und Laurence Guellec herausgegeben wurde und wichtige, sonst auf die verschiedenen Bände der Gallimard-Ausgabe verstreute Briefe Tocquevilles vereinigt, die den Autor als bedeutenden Zeitzeugen präsentieren.4 Doch nicht nur auf dem französischen Buchmarkt ist Tocqueville ein angesagter Autor. In den Vereinigten Staaten sind allein zwischen 2000 und 2006 fünf verschiedene Übersetzungen von Democracy in America erschienen.5 Dazu gehört 1 2

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29 Bände wurden bisher herausgegeben. Œuvres complètes dʼAlexis de Tocqueville, publiées par publiées par Mme. de Tocqueville et Gustave de Beaumont, 9 Bde., Paris: Michel Lévy Frères 1864−1866; Œuvres et Correspondance Inédites d'Alexis de Tocqueville, publiées et précédées d'une notice par Gustave de Beaumont, 2 Bde., Paris: Michel Lévy Frères 1861. Jacques Vallée (Hg.), Tocqueville au Bas-Canada. Écrits datant de 1831 à 1859, datant de son voyage en Amérique et après son retour en Europe, Montréal 1973. Alexis de Tocqueville, Lettres choisies. Souvenirs, 1814−1859, hg. v. Franҫoise Mélonio und Laurence Guellec, Paris: Gallimard 2003. Vgl. Alexis de Tocqueville, Democracy in America, hg. u. übers. von Harvey Mansfield und Delba Winthrop, Chicago: University of Chicago Press 2000; Alexis de Tocqueville, Democracy in America, hg. v. Sanford Kessler, Indianapolis: Hackett Publishing Company 2000;

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auch die historisch-kritische, französisch-englische Parallelausgabe von Eduardo Nolla.6 Diese Ausgabe erfüllt die neuesten akademischen Standards, da sie auch einen Zugang zu jenen Passagen bietet, die Tocqueville für den Druck gestrichen hat, und zudem Querverbindungen zu Entwürfen und Briefen herstellt. Daneben enthält sie die Kommentare zum Manuskript, die Tocqueville unter anderem von seinem Vater Hervé de Tocqueville, seinem Bruder Édouard de Tocqueville sowie von engen Freunden wie Louis de Kergorlay und Gustave de Beaumont erhalten hat. Damit geht diese Ausgabe weit über die Standards der Gallimard-Ausgabe hinaus. Zu nennen sind aber auch englischsprachige Editionsprojekte, wie der von Olivier Zunz herausgegebene Quartband Alexis de Tocqueville and Gustave de Beaumont in America. Their Friendship and Their Travels, der nicht nur Briefe und Reiseaufzeichnungen von Tocqueville, sondern ebenso von Gustave de Beaumont enthält und somit Tocquevilles Weggefährten als eigenständigen Kopf präsentiert. Eine Briefsammlung enthält auch der von Aurelian Craiutu und Jeremy Jennings herausgegebene Band Tocqueville on America after 1840. Letters and Other Writings.7 Die Herausgeber bezeichnen ihn als „dritten Band“ über die amerikanische Demokratie, weil er Beobachtungen und Kommentare enthält, die Tocqueville nach dem zweiten Band bis zu seinem Lebensende mit seinen amerikanischen Briefpartnern austauschte. Er verdeutlicht sehr gut, welche politischen Debatten Tocqueville Zeit seines Lebens interessierten. Dazu gehörten neben der Industrialisierung und der territorialen Erweiterung der USA durch die neuen Mitgliedstaaten auch die fortdauernde Sklaverei, welche er gegenüber seinen amerikanischen Briefpartnern scharf verurteilte. Doch nicht nur Editoren haben sich dem Werk Tocquevilles verschrieben. Vor allem in den USA und Frankreich übt der französische Staatsmann und Demokratietheoretiker einen nachhaltigen Einfluss auf Historiker, Philosophen, Politikwissenschaftler, Soziologen, Theologen und progressive Reformer aus.8 Die Rezeptionsliteratur ist heute so vielfältig, dass sie selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten wurde.9 Auch dieser Band versammelt eine Vielzahl von Perspek-

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Alexis de Tocqueville, Democracy in America, hg. v. Issac Kramnick und Jeff Seliger, New York: Penguin 2003; Alexis de Tocqueville, Democracy in America, hg. v. Olivier Zunz, New York: Library of America 2004. Alexis de Tocqueville, Democracy in America. Historical-Critical Edition of De la démocratie en Amérique, hg. v. Eduardo Nolla, übersetzt aus dem Französischen v. James T. Schleifer, zweisprachige französisch-englische Ausgabe, 4 Bde., Indianapolis: Liberty Fund 2010. Aurelian Craiutu, Jeremy Jennings (Hg. u. Übers.), Tocqueville on America after 1840. Letters and Other Writings, Cambridge: Cambridge University Press 2009. Zu den bekanntesten amerikanischen Interpreten gehören James T. Schleifer, Roger Boesche, Seymour Drescher, John Lukacs, Michael Kammen, Harvey C. Mansfield, Delba Winthrop und Cheryl Welch, deren Werk selbst einen Klassikerstatus erlangten. Auf französischer Seite sind Raymond Aron, der Prix Alexis-de-Tocqueville Inhaber François Furet, Claude Lefort und Louis Dumont sowie aktuelle Interpretationen von Alain Renaut, Gilles Lipovetsky und Pierre Rosanvallon hervorzuheben. Die Tocqueville-Rezeption in den USA hat Matthew Mancini in mehreren Schriften dargelegt. Siehe Matthew Mancini, Alexis de Tocqueville and American Intellectuals. From His Times to

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tiven und Methoden und sie führen keineswegs zu einer einzigen, klaren theoretischen oder politischen Einordnung Tocquevilles. Dennoch haben sie ein gemeinsames Ziel. Was dieser Band in seiner Gesamtheit zeigen will, ist zum Einen, dass Tocqueville auch für die zeitgenössische Demokratietheorie anschlussfähig ist − und das in mehrfacher Hinsicht. Die Demokratie hat im 20. Jahrhundert in Europa und Nordamerika einen enormen Siegeszug angetreten. Als Souverän haben die Bürger die Möglichkeit, sich in die politischen Prozesse einzumischen und ihren Einfluss geltend zu machen, stetig ausgebaut. Längst geben sie sich nicht mehr zufrieden, bei Wahlen, also von Zeit zu Zeit, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Mit Hilfe kollektiver Freiheitsrechte und durch die Schaffung öffentlicher Aufsichtsund Kontrollinstanzen bringen sie sich fortwährend in die öffentlichen Debatten ein. Und doch sind die westlichen Demokratien, wie die jüngsten Debatten zu Postdemokratie und demokratischen Defiziten in der westlichen Welt zeigen, zugegebenermaßen unvollkommen.10 Die Bürger fühlen sich von ihren Repräsentanten im Stich gelassen und wenig souverän. In der Kritik stehen ein bürgerfernes Regierungshandeln und eine undurchsichtige öffentliche Verwaltung, die nicht hinreichend Rechenschaft über ihr Tun ablegt − Phänomene, wie sie bereits Tocqueville beschrieben und für die er Abhilfe gesucht hat. Denn zur „allgemeine Idee“ seines Werkes erklärte er das Ziel, „die Menschen darauf hinzuweisen, was sie tun können, wenn die Möglichkeit dafür besteht, der Tyrannei und Erniedrigung zu entkommen, während sie demokratisch werden“11. Dies aufgreifend erörtert der Band nicht nur Ours, Lanham: Rowman & Littlefield 2006; Matthew Mancini, „Too Many Tocquevilles. The Fable of Tocqueville’s American Reception“, in: Journal of the History of Ideas 69/2 (2008), S. 245−268. In Frankreich wurde sie von Françoise Mélonio in ihrer Doktorarbeit Tocqueville dans la culture française (1991) erstmals grundlegend aufgearbeitet. Sie erschien zwei Jahre später als Buch unter dem Titel Tocqueville et les Français, Paris: Aubier 1993. Serge Audier hat Mélonios Zugang noch in einer soziologischen und philosophischen Perspektive erweitert. Sein Buch Tocqueville retrouvé. Genèse et enjeux du renouveau tocquevillien français hat den großen Vorteil einer stringenten Präsentation von Interpretationen, die von dem Linksliberalen Célestin Bouglé bis zu dem Konservativen Marcel Gauchet reicht. Für den deutschsprachigen Raum liegen verschiedene Aufsätze vor. Vgl. Theodor Eschenburg, „Tocquevilles Wirkung in Deutschland“, in: Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. von Jacob P. Mayer in Gemeinschaft mit Theodor Eschenburg und Hans Zbinden, 2. Aufl., München 1976, S. 879−929; Horst Dippel, „Ein natürlicher Verfechter des Fortschritts: Georg Gottfried Gervinus oder der Historiker als Deuter seiner Zeit. Zur Rezeption von Georg Forster und Alexis de Tocqueville”, in: Georg-Forster-Studien 6 (2001), S. 141−147; Martina Steber, „‘The West‘, Tocqueville and West German Conservatism from the 1950s to the 1970s”, in: Riccardo Bavaj, Martina Steber (Hg.), Germany and ‚The West‘. The History of a Modern Concept, New York, Oxford: Berghahn 2015, S. 230−245. 10 Siehe unter anderem Chantal Mouffe, The Democratic Paradox, London, New York: Verso 2000; Chantal Mouffe, On the Political, London: Routledge 2005 John Keane, The Life and Death of Democracy, London: Routledge 2009; Pierre Rosanvallon, La légitimité démocratique. Impartialité, réflexivité, proximité, Paris, Éditions du Seuil 2010. 11 Alexis de Tocqueville, Democracy in America. Historical-Critical Edition of De la démocratie en Amérique, hg. v. Eduardo Nolla, übersetzt aus dem Französischen v. James T. Schleifer, zweisprachige französisch-englische Ausgabe, 4 Bde., Indianapolis: Liberty Fund 2010, Bd. 1, S. 32, Anm. x

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zentrale Aspekte von Tocquevilles Werk, der die moderne Demokratie stets auf ihre gleichheits- und freiheitsgefährdenden Tendenzen untersucht hat, er zeigt auch die Anschlussfähigkeit seiner Schriften für die aktuellen Reformdebatten, etwa im Strafrecht, der Föderalismusreform oder der Sozialpolitik. Zum anderen möchte der Band zeigen, dass die Antworten, die der französische Reformer bietet, einer reflektierten Aneignung bedürfen. Das hat mehrere Gründe, zu denen die Kontextbindung (1.), die Rezeptionsgeschichte (2.) und die Vielschichtigkeit des tocquevilleschen Werks (3.) gehören. So ist es, um gleich den ersten Punkt aufzugreifen, unzureichend, Tocquevilles Werke als zeitlose Arbeiten, unabhängig vom Kontext ihrer Entstehung, zu betrachten. Tocqueville schrieb in einer konkreten politischen Situation und stets mit bestimmten politischen Absichten. Das gilt nicht nur für die Texte, die im Rahmen politischer Auseinandersetzungen entstanden, etwa seine Schriften zur Gefängnisreform oder seine Berichte über Sozialpolitik, die Abschaffung der Sklaverei oder Frankreichs Algerienpolitik.12 Auch seine „analytischen“ Schriften müssen auf diese Weise gelesen werden. Claude Lefort hat nachgewiesen, dass viele Kapitel seines Hauptwerkes direkte Verweise auf François Guizots Politik sind. Zahlreiche Passagen zielen auf die repressiven Maßnahmen, die der Innenminister Louis-Philippe im Jahre 1835 umzusetzen versuchte, um, wie er behauptete, Aufruhr und die Risiken von Revolution und Anarchie zu bannen. Tocqueville entlarvte die antiliberalen und antidemokratischen Motive der Julimonarchie, ohne ihre Vertreter jedoch direkt zu benennen.13 Leforts Lesart teilen auch die Arbeiten von Sheldon Wolin, Arthur Kaledin, Michael Drolet und Annelien de Dijn, die zeigen, dass der gewaltige Anspruch von Tocquevilles Werk eben nicht nur darin besteht, das Spezifische der amerikanischen Gesellschaft herauszuarbeiten, sondern auch in die aktuellen politischen Debatten in Frankreich einzugreifen.14 12 Mehrere Studien haben sich in den letzten Jahren vor allem mit Tocquevilles Engagement für Algerien auseinandergesetzt. Vgl. u.a. Curtis Stokes, „Tocqueville and the Problem of Racial Inequality”, in: Journal of Negro History 75/1 (1990), S. 1–15; Sheldon Wolin, Tocqueville between Two Worlds. The Making of a Political and Theoretical Life, Princeton: Princeton University Press 2001; August H. Nimtz, Marx, Tocqueville and Race in America. The „absolute democracy” or „defiled republic”, Lanham, MD: Lexington Books 2003; Jennifer Pitts, A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France, Princeton: Princeton University Press 2005; Matthias Bohlender, „Demokratie und Imperium. Tocqueville in Amerika und Algerien“, in: Berliner Journal für Soziologie 4 (2005), S. 523–540; Margaret Kohn, „The Other America. Tocqueville and Beaumont on Race and Slavery”, in: Polity 35/2 (2002), S. 169–193; Laura Janara, „Brothers and Others. Tocqueville and Beaumont, U. S. Genealogy, Democracy, and Racism”, in: Political Theory 32/6 (2004), S. 773–800; Alvin B. Tillery Jr., „Tocqueville as Critical Race Theorist. Whiteness as Property, Interest Convergence and the Limits of Jacksonian Democracy”, in: Political Research Quarterly 62/4 (2009), S. 639–652. 13 Claude Lefort, „Preface“, in: Alexis de Tocquevile, Souvernir, hg. v. Luc Monnier, J.P. Mayer, B.M. Wicks-Boisson, Paris: Gallimard 1999, S. I−L, hier XV−XIX. 14 Sheldon Wolin, Tocqueville between Two Worlds; Arthur Kaledin, Tocqueville and his America. A Darker Horizon, New Haven, Conn.: Yale University Press 2011; Michael Drolet, Tocqueville, Democracy and Social Reform, London: Palgrave 2003. Vgl. auch Aurelian Craiutu, Jeffrey C. Isaac, America through European Eyes. British and French Reflections on

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Zweitens gibt es eine fast zweihundertjährige Rezeptionsgeschichte, die man bei der Deutung von Tocquevilles Werken nicht aus dem Blick verlieren darf, sind Unterschiede in den Epochen und zwischen konservativen und liberalen Interpreten doch erheblich. Eine erste große Rezeptionswelle setzte bereits im 19. Jahrhundert ein. Tocqueville wurde schnell zu einem Klassiker, der von seinen Zeitgenossen mit den größten französischen Theoretikern, insbesondere Montesquieu, verglichen wurde.15 Dieses Lob wurde freilich hauptsächlich von liberalen Autoren ausgesprochen; gleichwohl gehörten zu ihnen die größten Denker der Zeit. So fand John Stuart Mill in Tocquevilles Hauptwerk eine aktuelle Analyse jener demokratischen Probleme, die er selbst analysierte. Seine in der London Review sowie der Edingburgh Review veröffentlichten Artikel über die Arbeit seines französischen Briefpartners zeigen deutlich, warum er von dessen wissenschaftlicher Leistung so begeistert war. Darin unterstreicht er unter anderem, dass Tocquevilles Werk dazu beitragen werde, „der politischen Theorie“ einen „neuen Charakter“ zu verleihen. „Bislang sind Aristokratie und Demokratie hauptsächlich im Großen und Ganzen betrachtet und insgesamt als gut gebilligt oder als schlecht getadelt worden. Aber jetzt ist die Zeit für eine nähere Erkundung und für ein differenzierteres Urteil gekommen. Tocqueville hat als einer der Ersten eine beispielhafte Analyse der Demokratie vorgelegt; hat beispielhaft ihre Eigenschaften und Tendenzen voneinander unterschieden; beispielhaft gezeigt, welche dieser Tendenzen an sich gut ist und welche an sich schlecht; inwieweit jede notwendigerweise mit dem Rest verbunden ist und in welchem Maße Zufall oder Voraussicht jeder von ihnen entgegenwirken oder sie modifizieren können.“16

Ein großer Bewunderer Tocquevilles war auch der aus Preußen stammende Francis Lieber, der von 1860 bis zu seinem Tod am Columbia College, der heutigen Columbia University, den ersten amerikanischen Lehrstuhl für Politikwissenschaften innehatte. Lieber hatte Tocqueville auf seiner Amerikareise kennengelernt und dessen erste Veröffentlichung ins Amerikanische übersetzt.17 In seinen Vorlesungen the New World from the Eigtheenth Century to the Present, Park, PA: Pennsylvania State University Press 2009; Annelien de Dijn, French Political Thought from Montesquieu to Tocqueville. Liberty in a Levelled Society?, Cambridge: Cambridge University Press 2008; Annelien de Dijn, “The Intellectual Origins of Tocqueville’s L’Ancien Régime et la Révolution”, in: Modern Intellectual History 5 (2008), S. 1−25. 15 So heißt es bei John Stuart Mill in einem Artikel der London Review vom 1. Oktober 1835: „Die Denkweise des Autors [des ersten Bandes Über die Demokratie in Amerika] scheint uns, abgesehen davon, dass sie von nüchternerem Charakter ist, unter den großen französischen Schriftstellern Montesquieu am nächsten zu kommen. Das Buch ist von der Art, wie es Montesquieu hätte schreiben können, wenn er seinem Genie praktische Vernunft und die Erkenntnis hinzugefügt hätte, die die Menschheit seitdem aus den Erfahrungen einer Epoche gewonnen hat, in der sie, wie man wohl sagen kann, innerhalb von fünfzig Jahren mehrere Jahrhunderte durchlebt hat.“ John Stuart Mill, „Alexis de Tocqueville über die Demokratie in Amerika“ [1835], in: John Stuart Mill, Ausgewählte Werke, Hamburg: Sven Murmann Verlagsgesellschaft 2016, Bd. 4, S. 89−150, hier 103. 16 John Stuart Mill, „Alexis de Tocqueville über die Demokratie in Amerika“ [1835], S. 89−150, hier 102. 17 Gustave de Beaumont, Alexis de Tocqueville, On the Penitentiary System in the United States: And Its Application in France; with an Appendix on Penal Colonies, and Also, Statistical Notes,

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am Columbia College legte er seinen Studenten immer wieder nahe, dass jeder von ihnen die Werke Tocquevilles kennen und lieben sollte, weil kein Amerikaner bisher ihr Land und seine politische Kultur in trefflicherer Weise beschrieben hätte.18 Damit legte Lieber den Grundstein für eine Rezeptionslinie, durch die Tocquevilles Hauptwerk zusammen mit den Federalist Papers zu den wichtigsten politischen Selbstauslegungstexten Amerikas wurde.19 Auch in Frankreich ernteten Tocquevilles Schriften viel Lob. Als Paul Janet 1861 die von Gustav de Beaumont herausgegebenen Œuvres et Correspondance inédites in der renommierten Revue des Deux Mondes rezensierte, schrieb er über seinen kürzlich verstorbenen Kollegen an der Académie des sciences morales et politiques: „Der originelle Ansatz Tocquevilles besteht darin, dass er die Demokratie als Objekt betrachtet hat, nicht zur Demonstration, sondern als Beobachtungsgegenstand, und obwohl man in seinen Erinnerungen die Namen der größten modernen Publizisten findet, wird man sehen, dass es niemanden gibt, der diese Idee hatte und sie mit der gleichen Absicht verfolgte. Die meisten sind Systematiker und Logiker, die über festgefügte Strukturen reden oder lediglich Argumente anführen: sie verteidigen oder verurteilen Demokratie nach einigen allgemeinen Prinzipien; aber nicht einer hat die Demokratie als eine soziale Tatsache akzeptiert und studiert […]. Montesquieu, der größte politische Beobachter der Neuzeit, hat in Wirklichkeit nur zwei große politische Regierungsformen unterschieden, die Monarchie und die gemischte Regierung. Die Demokratie hat er nur als Historiker in der Antike angesiedelt. Man hat nicht genügend darauf verwiesen, dass er über die antiken Republiken die gleichen Ansichten vertrat wie Mably und Rousseau: was er Republiken nennt, ist nur ein antiker Traum; er hat keine Ahnung von der modernen Demokratie. Es ist Tocqueville, der der erste durchdringende und aufmerksame Beobachter dieser Demokratieform ist.“20

Mit solchen Kommentaren war Tocquevilles Rang als moderner Klassiker früh gesichert. Auch im deutschsprachigen Ausland findet Tocqueville, wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, weitreichende Beachtung. Herausragende Liberale wie Robert Mohl hatten Tocquevilles Werke gründlich studiert. In seiner Encyklopädie der Staatswissenschaften hob er hervor, dass die Vereinigten Staaten rechtlich am besten von Joseph Story dargestellt worden seien, aber in politischer Hinsicht der Analyse Tocquevilles der Vorzug gegeben werden müsste.21 Als während der Pauls-

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translated from the French, with an Introduction, Notes and Additions by Francis Lieber, Philadelphia: Carey, Lea & Blanchard 1833. Francis Lieber, The Ancient and the Modern Teacher of Politics: An Introductory Discourse to a Course of Lectures on the State. Delivered on the 10th of October, 1859, in the Law School of Columbia College, New York: Board of Trustees 1860, S. 29−30. Vgl. Juri Auderset, „Stranger in America. Francis Lieber, Alexis de Tocqueville und die historisch-komparative Hermeneutik der Demokratie im Zeitalter der Revolutionen“, in: Harald Bluhm, Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der modernen Demokratie, Paderborn: Fink Verlag 2016, 205−223. Paul Janet, „Alexis de Tocqueville et la Science politique au XIXe siècle“, in: Revue des Deux Mondes, 2e période, Paris: Année d'édition 1861, Bd. 34, S. 101−133, hier 105. Robert Mohl, Encyklopädie der Staatswissenschaften, Freiburg, Tübingen: I.C.B. Mohr 1872, S. 342.

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kirchenversammlung das amerikanische Modell eingehend diskutiert wurde, beriefen sich viele Liberale auf Tocqueville.22 Die früh einsetzende Kanonisierung durch liberale Autoren darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rezeption ab dem späten 19. Jahrhundert vor allem unter konservativen Vorzeichen stand. Spätestens ab dem Ersten Weltkrieg entdeckten in Europa und den USA liberal-konservative und vor allem konservative Autoren Tocqueville für sich.23 Dabei spielte seine Prophezeiung einer Ost-WestKonfrontation am Ende des ersten Bandes von Über die Demokratie in Amerika, seine Vorhersage eines globalen Konflikts zwischen den künftigen Supermächten Russland (einem autoritären Staat) und den Vereinigten Staaten (als Land der Freiheit), eine nicht unwesentliche Rolle. Viele Interpreten sahen darin ihre eigene politische Gegenwart angemessen beschrieben.24 Auch die Antworten, die Tocqueville anbot, insbesondere seine Verteidigung von Religion, Sitten und lokaler Autonomie, fanden konservative Autoren attraktiv.25 Für sie bot seine Darstellung der Demokratie genügend Beweise, um ihr gegenüber eine skeptische Haltung einzunehmen. Das betraf nicht nur seine Ausführungen über die Gleichheit und die drohende Apathie der Bürger, sondern auch seine Darstellung der Zentralisierungstendenzen und die Aussicht auf eine despotische Autokratie. Die Rezeption gipfelte in einer Gegenüberstellung von Tocquevilles zentralen politischen Leitmotiven: Gleichheit konnte zur Bedrohung von Freiheit werden.26 Viele Autoren des 20. Jahrhunderts erweiterten diese Kritik dahingehend, dass sie die Werte Gleichheit und Freiheit in ein hierarchisches Verhältnis setzten. Der Freiheit gebührte der Vorrang, weil sie verallgemeinerbar war, während die Gleichheit mit Gleichmacherei beziehungsweise einer repressiven Staatsgewalt gleichgesetzt wurde, die, wie man in Osteuropa sah, für ihre Durchsetzung notwendig war. Der Leitgedanke, dass Gleichheit ein Angriff auf die Freiheit sei, der das Kernstück der konservativen Lesart Tocqu-

22 Eckhart G. Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/49. Zum Problem der Übertragung gewachsener Verfassungsformen, Heidelberg: C. Winter 1958; Charlotte A. Lerg, Amerika als Argument: Die deutsche Amerika-Forschung im Vormärz und ihre politische Deutung in der Revolution von 1848/49, Bielefeld: transcript Verlag, 2014. Vgl. auch Robert Mohl, „Entwicklung der Demokratie in Nordamerika und der Schweiz“, in: Kritische Zeitschrift 16 (1844), S. 275−310. 23 Bisher wurde diese mächtige Rezeptionslinie, die in der Tat die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts aufnahm, sie aber an die Bedingungen des 20. Jahrhunderts anpasste und veränderte, weitgehend übersehen. Darauf verwiesen hat zuletzt Martina Steber in ihrem Beitrag „‘The West‘, Tocqueville and West German Conservatism from the 1950s to the 1970s“. 24 Eberhard Kessel, „Das Tocqueville-Problem. Eine Auseinandersetzung mit der neuesten Literatur“, in: Jahrhbuch für Amerikastudien 1 (1956), S. 168−176; Carl J. Burckhardt, „Alexis de Tocqueville“, in: Merkur 8/10 (1954), S. 901−912, hier 903; Bernhard Fabian, Alexis de Tocquevilles Amerikabild, Heidelberg: C. Winter 1957, S. 82, 88. 25 Vgl. dazu auch Alan S. Kahan, Alexis de Tocqueville. Major Conservative and Libertarian Thinkers, New York: Continuum 2010; Jean-Louis Benoît, Tocqueville moraliste, Paris: H. Champion 2004. 26 Vgl. Michael Hereth, dessen Aufsatz „Die Gleichheit als Gegner der Freiheit?“ bereits im Titel darauf hindeutet. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 31/80 (1980), S. 34−41.

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evilles wurde, wendete sich gegen die Vorstellung von Demokratie als Gesellschaftsform, die von den liberalen Autoren des 19. Jahrhunderts noch gewürdigt wurde. Die Aneignung Tocquevilles durch konservative Autoren darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch links-liberale Autoren den französischen Autor für sich entdeckten. Zu ihnen zählten nach dem Zweiten Weltkrieg Harold J. Laski, der 1935 von Köln über die Schweiz in die USA emigrierte Soziologe Albert Salomon und der ebenfalls aus Deutschland geflohene Jacob Peter Mayer. Letzterer hat wie kein anderer die Edition von Tocquevilles Schriften in französischer, englischer und deutscher Sprache vorangetrieben und sie zu einem internationalen Projekt gemacht, in dem ab den 1940er bis in die späten 1960er Jahre alle maßgeblichen Tocqueville-Forscher beteiligt waren.27 1948 gab er erstmals Tocquevilles Erinnerungen heraus und begann ab 1951 seine kompletten Werke auf Französisch zu editieren.28 Er bearbeitete mehrere Auflagen von L‘Ancien Regime et la Revolution und De la Démocratie en Amérique, für deren Übersetzung ins Englische und Deutsche er ebenfalls sorgte. Tocqueville wurde für ihn entscheidend, weil anhand seiner Werke sowohl die Forderungen nach einer fortschreitenden Demokratisierung beschrieben, als auch die notwendige Besinnung auf grundlegende Freiheitsrechte belegt werden konnte.29 Drittens gilt es, sich der Vielschichtigkeit von Tocquevilles Werk bewusst zu werden. Wie Benoît und Audier überzeugend gezeigt haben, waren die meisten Tocqueville-Leser selektiv und einige sogar bewusst einseitig in ihrer Darstellung. Zudem wird heute immer deutlicher, dass der spezifische Liberalismus, den Tocqueville verteidigte, und den er selbst als einen Liberalismus anderer Art beschrieb,30 nur bedingt mit den konservativen, liberal-konservativen oder gar marxistischen Kategorien des 19. und 20. Jahrhunderts zu fassen ist. Tatsächlich müsste

27 Juri Auderset geht in seinem Beitrag auf die Verbindung zwischen Mayer und Hans Zbinden ein. Mir liegt zudem ein bisher nicht veröffentlichter Aufsatz von ihm zu den ideen- und diskursgeschichtlichen Kontexten dieser Zusammenarbeit vor, in denen die deutsche TocquevilleÜbersetzung angeregt und umgesetzt wurde. 28 Alexis de Tocqueville, Œuvres, papiers et correspondances, texte établi, annoté et préface par A. Jardin, Paris: Gallimard 1951. 29 Vgl. Jacob Peter Mayer, Prophet of the Mass Age: A Study of Alexis de Tocqueville, London: J. M. Dent and sons Limited, 1939. Dieses Werk wurde später ins Deutsche, Spanische und Finnische übersetzt und für den amerikanischen Markt im Jahre 1960 neu überarbeitet. Mayer schrieb auch ein kurzes Buch über Max Weber und die deutsche Politik und eine Studie über das französische politische Denken von der Französischen Revolution bis zur 5. Republik, welche 1961 seine dritte Auflage erreichte. Darüber hinaus publizierte Mayer über die Soziologie des Kinos. Vgl. Jacob Peter Mayer, Max Weber and German Politics: A Study in Political Sociology, London: Faber & Faber, 1944; Jacob Peter Mayer, Political Thought in France from the Revolution to the Fifth Republic, New York: Routledge & Kegan Paul 1961; Jacob Peter Mayer, Sociology of film; studies and documents, New York: J. S. Ozer 1946; Jacob Peter Mayer, British Cinemas and Their Audiences, New York: Arno Press 1948. 30 Tocqueville an Eugene Stoffels, 24. Juli 1836, in: Alexis de Tocqueville, Œuvres et correspondance inédites, hg. v. Gustave de Beaumont, Paris: Michel Lévy frères 1861, Bd. 1, S. 433.

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man ihn heute als Demokraten bezeichnen, denn er war der erste, der die Demokratie als Staats-, Gesellschafts- und Lebensform beschrieben und verteidigt hat. Tocquevilles analytischer Ansatz, die Demokratie als eine dynamische Gesellschaftsform zu begreifen, in der das System der Volkssouveränität nicht von der Demokratie als Form einer Gesellschaft der Gleichen getrennt werden darf, hat in jüngster Zeit eine Debatte über die Anschlussfähigkeit seines Werkes im 21. Jahrhundert ausgelöst.31 Sie hat gezeigt, dass sich heutige Interpreten mit gutem Gewissen auf Tocqueville berufen können, wenn sie die moderne Demokratie als einen dynamischen Prozess beschreiben, denn dieser war der festen Überzeugung, dass die Entwicklung der Demokratie längst noch nicht abgeschlossen ist und dass weitere Wellen der Demokratisierung in Bezug auf den Staat und die Verwaltung unvermeidlich sind. In diesem Sinne hat Tocqueville auch stets abstrakte, lehrbuchartige Vorstellungen von Demokratie abgelehnt. Ihn interessierten stattdessen die praktisch-politischen Zusammenhänge und Erfahrungsräume, die den Kern seiner Arbeit bilden, in der Verfassungstheorie, Systemanalyse, politische Kulturforschung und Moralphilosophie verbunden sind. Auch die Aporien der Demokratie, die Tocqueville benannte, waren für ihn keine abstrakten Konstrukte, sondern er interpretierte sie als treibende Kräfte, welche die Dynamik der weiteren Entwicklung der modernen Demokratie bestimmen. Nur die Reflexionen der gesellschaftlichen Entwicklung und Erfahrungen mit der Demokratie erhöhten für ihn die Chancen, Fehlentwicklungen der Vergangenheit und mögliche Gefahren in der Zukunft benennen und Alternativen aufzeigen zu können. ZUM AUFBAU DES BANDES Der Band gliedert sich in drei große Abschnitte. Der erste dient der Aufarbeitung der Tocqueville-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Das Studium dieser Geschichte hilft heute vor allem dabei, sich daran zu erinnern, welche Motive und Absichten dahinter standen, sich auf den französischen Demokratietheoretiker zu beziehen. Daniel Schulz erläutert in seinem Beitrag „Tocqueville in der Bundesrepublik“ die zaghafte, aber dennoch wirkmächtige Tocqueville-Renaissance nach 1945, die an Interpreten wie Robert v. Mohl, Karl v. Rotteck, Carl Theodor Welcker, Friedrich Christoph Dahlmann, Heinrich v. Treitschke, und Wilhelm Dilthey anschließen konnte. Das Zusammenspiel von konstitutioneller Institutionentheorie und soziomoralischen Dispositionen, wie es Tocqueville entwarf, lieferte Anknüpfungspunkte für den Entwurf einer neuen politischen Wissenschaft, der sich die Vertreter des Faches in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verschrieben. Unter Rekurs auf Ernst Fraenkel, Ralf Dahrendorf, Carlo Schmid, Iring 31 Siehe dazu Jon Elster, Alexis de Tocqueville. The First Social Scientist, Cambridge: Cambridge University Press, 2009; Review Symposium: „The Social Science of Democracy? A Discussion of Alexis de Tocqueville. The First Social Scientist by Jon Elster“, in: Perspectives on Politics 9/2 (2011), S. 363−381; Ralf Geenens, Annelien de Dijn (Hg.) Reading Tocqueville. From Oracle to Actor, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007; Harald Bluhm, Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der modernen Demokratie, Paderborn: Fink Verlag 2016.

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Fetscher, Wilhelm Hennis und Claus Offe erläutert Schulz, wie pluralistische Formen zivilgesellschaftlicher Partizipation tocquevillescher Provenienz aufgegriffen und als immanentes Erfordernis repräsentativer Demokratie gedacht wurden. Juri Auderset zeigt in seinem Beitrag, welche Rolle Tocqueville in den schweizerischen Geistes- und Sozialwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert spielte. Er weist nach, dass sich die Rezeption neben dem Revolutionshistoriker und Kulturkritiker vor allem auf einen Autor konzentrierte, an dem sich das demokratische und föderale Selbstverständnis der Schweizer Eidgenossenschaft messen ließ. Ein besonderes Augenmerk widmet Auderset dem einst an der Genfer Akademie lehrenden Historiker und Ökonomen Pellegrino Rossi, dem Basler Historiker Jacob Burckhardt, dem einst in Genf lehrenden Ökonomen William E. Rappard, dem Genfer Rechtswissenschaftler Alfred Dufour, dem Züricher Philosophen und Politikwissenschaftler Hans Barth sowie dem Berner Kultursoziologen Hans Zbinden. Letzterer regte Anfang der 1950er Jahre, parallel zur Gallimard-Werkausgabe, eine deutsche Neuübersetzung von Tocquevilles Hauptwerk an, die er schließlich zusammen mit Jacob Peter Mayer und Theodor Eschenburg realisierte. Abgesehen von der 1836 von Friedrich August Rüder besorgten ersten deutschen Übersetzung gab es bis in die 1950er Jahre keine vollständige Ausgabe von Tocquevilles Hauptwerk in deutscher Sprache. Eine Übersetzung des 1840 erschienenden zweiten Bandes wurde erst durch die Edition von Jacob Peter Mayer realisiert. Seine Übersetzung ist bis heute die einzige vollständige deutsche Übertragung der beiden Bände von De la démocratie en Amérique. Der zweite Abschnitt des Bandes ist der werkimmanenten Tocqueville-Interpretation gewidmet. Im Zentrum stehen so zentrale Begriffe wie Demokratie, Volkssouveränität, Repräsentation, Freiheit und Gleichheit. Der Beitrag „Demokratische Repräsentation und Freiheitserfahrung“ hinterfragt das Verständnis von Volkssouveränität, wie es Tocqueville in Bezug auf die amerikanische und französische Debatte seiner Zeit entwickelte. Er zeigt, dass Repräsentation für Tocqueville nicht bedeutet, an Stelle von jemandem zu handeln, sondern die Bürger in die Kommunikation, Entscheidungsfindung und -umsetzung auf den verschiedenen Ebenen des Staates einzubeziehen und die gesellschaftlichen Organisationsformen zu stärken. Dirk Jörke beleuchtet in seinem Beitrag konkrete Institutionen und Praktiken, anhand derer Tocqueville in Über die Demokratie in Amerika das politische Leben in den USA beschrieb. Dabei konzentriert er sich auf die Darstellung von Parteien und Berufspolitiker, die Schilderung politischer Versammlungen, die Illustration der Abläufe in demokratischen Wahlen und nicht zuletzt die Kritik der Praxis des Geschworenengerichts. Jörke geht dabei auch den geäußerten Zweifeln und der Skepsis Tocquevilles gegenüberüber den demokratischen Prozessen nach. Seine These ist, dass Tocqueville nicht nur ein Analytiker, sondern vor allem ein Kritiker der Demokratie gewesen ist, wie die gründliche Lektüre von Tocquevilles Schilderungen der konkreten demokratischen Praxis zeige. Der Beitrag „Eine Gesellschaft von Gleichen“ erörtert Tocquevilles komplexes Verständnis von Demokratie, nämlich als Staats- und Regierungsform auf der einen und als Gesellschafts- und Lebensform auf der anderen Seite. War in den 1830er

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Jahren unter den Liberalen die Demokratie als Gesellschaftsform, im Sinne eines Abbaus von Privilegien und sozialen Hierarchien, ein anerkanntes Theorem, so wurde sie als Staatsform, der Einbeziehung der Bürger in die politischen Entscheidungsprozesse, heftig bekämpft, galt sie doch als eine Form der Anarchie, die mit den schlimmsten Auswüchsen der Französischen Revolution gleichgesetzt wurde. Wie der Beitrag zeigt, versuchte Tocqueville anhand des amerikanischen Beispiels zu belegen, dass die Demokratie als Staats- und Regierungsform in beständige Bahnen zu lenken war, wenn man kollektive Freiheitsrechte stärkte. Damit verknüpfte er die politischen Forderungen seiner Zeit (Meinungs- und Pressefreiheit sowie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) mit einer theoretischen Begründung individueller und kollektiver Freiheitsrechte, die er als unabdingbar für die Stärkung und Stabilisierung der Demokratie hielt. Oliver Hidalgo legt in „Tocqueville und die Frage der Religion in der modernen Demokratie“ dar, dass Tocqueville Demokratie und Religion versöhnen wollte, denn die Religion als soziales Band sowie als Quelle der Moral ist für ihn in einer egalitären Gesellschaft, die zum Individualismus neigt, unverzichtbar. Und dennoch drängte Tocqueville darauf, die religiösen Akteure von den direkten Schaltzentralen der politischen Macht fernzuhalten, das heißt Staat und Kirche klar zu trennen. Diese Trennung ist in der Deutung Hidalgos das Vehikel, mit dem sich die Hierarchie des Katholizismus in der egalitären Gesellschaft aufrechterhalten lässt. Indem die katholische Kirche auf einen direkten Machtzugriff verzichtet und sich stattdessen auf die mittelbare sittliche Führung der Gläubigen beschränkt, kann sie ein Gegengewicht zu den Tendenzen der Demokratie bilden, ohne mit ihr selbst in Widerspruch zu geraten. Der dritte Abschnitt vereint Texte, die zeigen, welche Rolle Tocqueville in wissenschaftlichen Debatten und praktisch-politischen Auseinandersetzungen noch heute spielt. Er gibt dabei auch einen Einblick in den thematischen Reichtum seiner Schriften. Die vertretenen Autoren vereint gewollt keine politische Haltung, weil es auch darum geht zu zeigen, dass Tocquevilles Arbeiten für verschiedene politische Lager und wissenschaftliche Ansatzpunkte Anknüpfungsmöglichkeiten liefern. Albert W. Dzur greift in seinem Text „Bürgerbeteiligung und der Strafvollzugsstaat“ Tocquevilles Betrachtungen über Berufsrichter und Jurys in Amerika auf, um für die Wiedereinführung der Jury im Strafjustizsystem zu werben. Für Dzur geht es nicht nur darum, einen Strafvollzug in den USA zu kritisieren, der durch soziale und rassische Disparitäten gekennzeichnet ist, sondern auch darum, für eine stärkere Verantwortung der Bürger durch ihre Einbeziehung in die Judikative einzutreten. Dafür nutzt er Tocquevilles Interpretation der Jury als kritische und zwischen Strafrecht und öffentlicher Meinung moderierenden Institution, um gleichsam für eine neue „Kultur des Legalismus“ zu werben. David Lewis Schaefer kritisiert in seinem Beitrag über den amerikanischen Föderalismus eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Union und einzelstaatlichen Kompetenzen in den USA. Als Gründe dafür nennt er verfassungsrechtliche, institutionelle und politisch-kulturelle Änderungen, die den Einflussbereich der Bundesbehörden in den letzten 150 Jahren erhöht haben. Tocquevilles Argumente für eine administrative Dezentralisierung nutzt er dabei, um sich gegen den Ausbau

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der Reichweite von Bundeshaushalten und für einen wettbewerbsorientierten Föderalismus auszusprechen. Schaefer schließt seinen Beitrag mit Überlegungen dazu, inwieweit die amerikanischen Erfahrungen mit dem Föderalismus auch für die Europäer von Nutzen sein könnten. Zwei Beiträge greifen das Thema der Armut in der Demokratie auf, allerdings aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Alan S. Kahan zeigt, dass wirtschaftliche und soziale Fragen zu Unrecht bei der Rezeption von Tocqueville vernachlässigt werden. Sehr früh suchte der Autor nach Abhilfen für die Auswirkungen des Pauperismus. Dabei unterschied er zwischen rechtlichen Ansprüchen, privater Wohltätigkeit und staatlichen Hilfsprogrammen, etwa bei der Absicherung schulischer Bildung, Gesundheits- und Altersvorsorge oder bei ungewöhnlichen Umständen wie Naturkatastrophen. Während er private Wohltätigkeit für unzureichend erklärte und rechtliche Ansprüche (etwa auf Arbeit) ablehnte, weil sie die Funktionen des Staates überzogen, sprach er sich doch deutlich für Regierungsinvestitionen in Bildung und soziale Sicherungsnetze aus, weil er sah, dass soziale Ungleichheit zu einer Bedrohung der demokratischen Gesellschaft in Bezug auf die Freiheit werden konnte. Damit widerspricht Kahan jenen Interpreten, die staatliche Verantwortung im sozialen Bereich mit Verweis auf Tocqueville bis heute zurückzuweisen. Jimena Hurtado macht in ihrem Beitrag „Alexis de Tocqueville über die unerfüllten Versprechen der demokratischen Revolution“ deutlich, dass das Problem der Armut nach wie vor eine der großen Herausforderungen in der Demokratie darstellt. Dabei sei es unerheblich, ob Armut zu einer Frage von Leben und Tod werde, wie noch zu Tocquevilles Zeiten, oder ob sie lediglich dazu beitrage, die Partizipation und Integration der Bürger in das Gemeinschaftsleben zu verhindern. Armut bedeute, von den Leistungen und Versprechen der Demokratie ausgeschlossen zu sein. Sie sei eine unmittelbare Bedrohung für die formale Gleichheit der Bürger und ihre Freiheit, weil sie Chancen und Möglichkeiten der sozialen Teilhabe einschränke. Hurtados Intention ist es zu zeigen, dass die Staatsbürgerschaft Voraussetzungen fordert, die über die formalen Rechte und institutionellen Freiheiten, wie sie die Liberalen des 19. Jahrhunderts einklagten, hinausgehen. Der abschließende Beitrag thematisiert, inwieweit demokratische Praktiken auch auf andere Gesellschaften übertragbar sind. Dahinter steckt nicht nur die Frage, was Tocqueville mit seinem Werk beabsichtigte, ob es eine Kritik der französischen Gesellschaft und Politik war, ob er Beispiele und Modelle für eine neue Politik in seinem Land liefern wollte oder ob er einfach die Vielfältigkeit demokratischer Wege und ihre Fehlentwicklungen kritisierte. Ahmet Cavuldak fragt auch nach den bestimmenden Faktoren der amerikanischen Demokratie und den Möglichkeiten der Übertragbarkeit demokratischer Lernprozesse auf Gesellschaften mit ganz anderen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Hintergründen.

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EDITORISCHE HINWEISE Der Band vereinigt Autoren, die aus dem deutschen, englischen, französischen und spanischen Sprachraum kommen. Deshalb war es unmöglich, sich auf die gleichen Werkausgaben zu beziehen, zumal es in Frankreich und den USA eine Unmenge an Editionen und Übersetzungen gibt und die Interpreten unterschiedliche Ausgaben und Übersetzungen bevorzugten. Alle bibliographischen Angaben wurden deshalb in den einzelnen Texten vollständig angeführt und so auf eine Gesamtbibliographie verzichtet. Dennoch wurde darauf geachtet, Tocqueville-Zitate mit den bei Gallimard erschienenen Œuvres Complètes sowie der deutschsprachigen Ausgabe von Über die Demokratie in Amerika, die von Jacob P. Mayer in Gemeinschaft mit Theodor Eschenburg und Hans Zbinden herausgegeben wurde, abzugleichen. Tocqueville-Zitate, die nicht einer deutschen Übersetzung entnommen werden konnten, wurden von den Autoren selbst ins Deutsche übertragen. Wo diese Aufgabe von der Herausgeberin übernommen wurde, ist dies markiert. Dies betrifft selbstverständlich nicht die Beiträge, die übersetzt werden mussten. Hier wird die Übertragung ins Deutsche am Ende des Textes erwähnt. Um keine Verwirrung bei den Titeln der Werke zu stiften, wird im Allgemeinen auf den Originaltitel zurückgegriffen, es sei denn, dem Text liegt eine Übersetzung zugrunde. Rüdiger Voigt danke ich für die Möglichkeit, diesen Band in der Reihe Staatsdiskurse des Franz Steiner Verlages zu veröffentlichen. Mein Dank gilt auch Sarah Schäfer, die bei der Realisierung des Satzes geholfen hat. Danken möchte ich an dieser Stelle nicht zuletzt allen Autoren. Während der Entstehung der verschiedenen Texte gab es einen regen Austausch. Auf diese Weise konnte nicht nur die neueste Literatur eingearbeitet werden, die Texte nehmen auch untereinander Bezug und ergänzen sich so auf wunderbare Weise. Zudem ist die politische Lesart der in diesem Band versammelten Text ganz im Sinne Tocquevilles, der sich nicht nur als Theoretiker, sondern immer auch als Politiker und Reformer gesehen hat. Dabei war er sich der verschiedenen Möglichkeiten, sein Werk zu lesen, bewusst. In einem Brief, den Tocqueville an Henry Reeve schrieb, drückte er es so aus: „Unabhängig von dem ersthaften Interesse, das ich an den Urteilen hege, die man über mich fällt, freue ich mich über die verschiedenen Auslegungen, die man mir je nach den politischen Leidenschaften desjenigen gibt, der mich zitiert. Es ist eine Sammlung von Porträts, die ich gerne vereine.“32 Ein Zuschneiden des Werkes dieses Autors auf eine Lesart würde ihm weder gerecht werden noch weitere Debatten anregen. Doch genau dies ist die Absicht dieses Bandes. Bruxelles, April 2017

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32 Brief Tocquevilles an Reeve, 22. März 1837, in: Alexis de Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville avec Henry Reeve et John Stuart Mill, Œuvres complètes, Bd. VI/1, S. 37−38.

2. REZEPTIONSGESCHICHTE

TOCQUEVILLE IN DER BUNDESREPUBLIK Daniel Schulz 1. EINLEITUNG Für die bundesrepublikanische Demokratietheorie nach 1945 hat der liberale Konstitutionalismus in seiner angelsächsischen und amerikanischen Ausprägung – und in sehr viel geringerem Maße die eigenen Traditionszusammenhänge des Frühliberalismus und der Paulskirche – eine dominante Rolle gespielt. Gleichwohl läuft doch auch ein Bezug zum französischen Ordnungsdiskurs wie ein roter Faden durch die Theoriediskussionen dieser zweiten Jahrhunderthälfte. Eine besondere, bislang noch kaum gewürdigte Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Werk Alexis de Tocquevilles und seine Rezeption in der Bundesrepublik. Während Tocquevilles Rolle als ideengeschichtlicher Referenzautor für den amerikanischen Demokratiediskurs durch zahlreiche Arbeiten belegt1 und sein Werk inzwischen auch wieder für die französische Debatte von grundsätzlicher Relevanz ist,2 so bleibt seine Bedeutung für die deutsche Demokratiediskussion bislang ohne größere Beachtung. 3

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Siehe nur anstelle Vieler die Beiträge in Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge Companion to Tocqueville, Cambridge: Cambridge University Press 2006; außerdem Sheldon Wolin, Tocqueville Between Two Worlds. The Making of a Political and Theoretical Life, Princeton: Princeton University Press 2001. Vgl. das klassische Kapitel in Raymond Aron, Les étappes de la pensée sociologique, Paris: Gallimard 1967, S. 221−272, sowie seine demokratietheoretische Pointierung in der früheren Vorlesung an der ENA 1952, die Tocqueville als Zentralreferenz für die Definition des Demokratiebegriffs heranzieht: Raymond Aron, Introduction à la philosophie politique. Démocratie et révolution, Paris: Gallimard 1997, S. 35ff; demokratietheoretisch außerdem Pierre Manent, Tocqueville et la nature de la démocratie, Paris: Gallimard 1982; Claude Lefort, „Tocqueville: démocratie et art d’écrire“, in: Claude Lefort, Écrire. A l’epreuve du politique, Paris: CalmannLévy 1992, S. 55−90; Marcel Gauchet, „Tocqueville, l’Amérique et nous. Sur la genèse des sociétés démocratiques“, in: Marcel Gauchet, La condition politique, Paris: Gallimard 2005, S. 305−404; zur generellen Tocqueville-Rezeption in Frankreich vgl. Françoise Mélonio, Tocqueville et les Français, Paris: Aubier 1993 und Serge Audier, Tocqueville retrouvé. Genèse et enjeux du renouveau tocquevillien français, Paris: Vrin 2004. Zu den wenigen neueren Arbeiten vgl. Claus Offe, Selbstbetrachtung aus der Ferne, Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag 2004, Oliver Hidalgo, Unbehagliche Moderne. Tocqueville und die Frage der Religion in der Politik, Frankfurt/M, New York: Campus Verlag 2006, und jetzt Harald Bluhm, Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn: Wilhelm Fink 2016.

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Ist Rousseaus Rolle – respektive als Gegenpol repräsentativer Ordnungsvorstellungen oder als Stichwortgeber der radikaldemokratischen Partizipationsansprüche4 – durchaus geläufig, so bedarf es eines genaueren Blickes, um die Bedeutung Tocquevilles herauszuarbeiten. Der folgende Beitrag will diese Bedeutung anhand einiger exemplarischer Referenzen dokumentieren. Sie zeigen, dass Tocqueville schon recht früh in den fünfziger und sechziger Jahren als ideenpolitische Alternative zu Rousseau und der radikalen Aufklärung empfohlen wird. Für ein angemessenes analytisches und normatives Verständnis der modernen, repräsentativ verfassten demokratischen Ordnung erscheint der differenzierte Ansatz Tocquevilles vielversprechender als der systematisch-normative Rigorismus anderer Autoren – seien es Rousseau, Kant, Hegel oder Marx –, die in der deutschen Tradition politischer Philosophie eine so raumgreifende Rolle einnehmen. Tocquevilles Blick auf die Kontextbedingungen erfolgreicher Demokratisierung von Politik und Gesellschaft erweist sich so gerade vor den Ausgangsbedingungen der jungen Bundesrepublik als besonders attraktiv, erscheint doch der zugleich pragmatische und historisch ausgewiesene Blick auf die Fragen des Politischen offener und damit kompatibler mit dem Erkenntnisinteresse einer Gesellschaft, der es nicht so sehr um die Begründung der Demokratie im philosophischen An und für Sich zu tun ist, als vielmehr um die Frage, welche Bedingungen denn konkret für ein Gelingen oder ein Scheitern des demokratischen Verfassungsstaates verantwortlich gemacht werden können. Tocqueville stellt damit nicht nur eine Alternative zu den radikal-normativen Ansätzen der kritischen politischen Philosophie und Sozialtheorie dar, sondern unterscheidet sich auch maßgeblich von den szientifisch-technokratischen Perspektiven der empirischen Sozialwissenschaft, die mit ihrer Distanz zu normativen Problemen und historischen Kontexten den Sinn- und Orientierungsbedarf der neu begründeten Demokratie Westdeutschlands kaum zu befriedigen vermag. Die folgende Skizze nimmt sich daher der Rezeption Tocquevilles im Diskurs der jungen Politikwissenschaft an, die ihn auf vielfältige Weise zum Gewährsmann einer gelingenden Demokratisierung erkoren hat. Beginnend mit der editorischen Grundlagenarbeit von Siegfried Landshut und Theodor Eschenburg kann vor allem an der Pluralismustheorie von Ernst Fraenkel gezeigt werden, welche ideenpolitisch zentrale Bedeutung für ihn der Ansatz Tocquevilles besitzt, um mit der neojakobinischen Demokratievorstellung eines Carl Schmitt zu brechen. Auch bei Ralf Dahrendorf wird Tocqueville zum Ideengeber für eine pluralistische, am konstitutionell eingehegten Konflikt orientierte demokratische Zivilgesellschaft, die nicht durch ein starkes Einheitsbild der Nation, sondern durch ihre vielfältigen Assoziationen verfasst wird. Nicht Hegel, Marx oder Rousseau, sondern Tocqueville er4

Zur deutschen Rousseaudeutung vor allem mit Blick auf das 18., 19. und frühe 20. Jahrhundert die Beiträge in Herbert Jaumann (Hg.), Rousseau in Deutschland. Neue Beträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin, New York: de Gruyter 1995. Zur neueren Rezeption Reinhard Bach, Reinhard L’Aminot (Hg.), Rousseau et l’Allemagne à l’époque contemporaine (De Cassirer à Jünger et Hentig) – Actes du Colloque international de l’Université de Greifswald (23−25 avril 2009), Montmorency: SIAM−JJR 2010.

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scheint so auch bei Carlo Schmid und Iring Fetscher als Autor, der für das Verständnis des demokratischen Verfassungsstaats zentral ist. Wilhelm Hennis schließlich knüpft an Tocquevilles Idee einer neuen politischen Wissenschaft an, um mit der Verbindung normativer und empirischer Fragen einen Konterpunkt gegen den sozialwissenschaftlichen Positivismus zu setzen, verbindet dies aber zugleich mit Skepsis gegenüber einem sozial erweiterten Demokratiebegriff. Dies führt abschließend zu der Frage, warum Tocquevilles Demokratieverständnis in der bundesrepublikanischen Demokratietheorie bislang eine nur randständige Bedeutung besaß. 2. EDITORISCHE GRUNDLEGUNG Die politik- und demokratietheoretische Diskussion im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik war von einer zaghaften, aber dennoch bedeutsamen Tocqueville-Renaissance geprägt, die durch einen Blick auf die deutsche Publikationsgeschichte des Amerikabuches augenfällig wird: Die erste deutsche Ausgabe des ersten Bandes erscheint 1836 – und erstaunlicherweise schien es dabei für lange Zeit zu bleiben.5 Trotz der beträchtlichen Wirkung auf den deutschen Liberalismus im Vormärz setzt in der zweiten Jahrhunderthälfte eine langsame Abkehr von Tocqueville ein, die bis in die unmittelbare Nachkriegszeit des zwanzigsten Jahrhunderts hinein andauert und zu einer nahezu vollkommenen Verdrängung aus der deutschen Geschichte des politischen Denkens führte. Siegfried Landshut konnte so eine von ihm herausgegebene erste Auswahlausgabe in den fünfziger Jahren mit der Bemerkung einleiten, das Werk Tocquevilles sei Lesern in deutscher Sprache nicht zugänglich, alte Übersetzungen oder selbst französische Ausgaben fänden sich auch in den Universitätsbibliotheken nicht mehr: „Es hieße, einen längeren Kommentar zur Verkümmerung der politischen Wissenschaft, eine Art geistiger Erblindung gegenüber dem ganzen Bereich des Politischen in Deutschland nach der Mitte des 19. Jahrhunderts schreiben, wollte man die Gründe dieser eigenartigen Interesselosigkeit darzulegen versuchen.“6 Dieser „längere Kommentar“ wurde erst einige Jahre später tatsächlich verfasst: Minutiös rekonstruiert die Einleitung der ersten vollständigen deutschen Ausgabe des Amerikabuches dessen Rezeption vor und nach 1848 bis hin zur Jahrhundertwende und darüber hinaus bei Robert v. Mohl, im Staatslexikon von Karl v.

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Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Nordamerika. Bd. 1: Mit einem Anhange enthaltend die Verfassung der vereinigten Staaten, und die Verfassung des Staates von Newyork. Bd. 2: Mit einem Anhange aus „Marie ou l'esclavage aux états unis, tableau de moeurs américaines“ par Gustave de Beaumont. Aus dem frz. übersetzt von Friedrich August Rüdiger = Übersetzer des ersten Bandes, Leipzig: Eduard Kummer 1836. Alexis de Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart: Alfred Kröner 1954, S. xii; 2., erweiterte Aufl. Köln-Opladen: Westdeutscher Verlag 1967. Weitere Auswahlausgaben erschienen 1955, 1956 und 1985.

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Rotteck und Carl Theodor Welcker, bei Friedrich Christoph Dahlmann und schließlich Heinrich v. Treitschke, Carl Jacob Burckhardt und Wilhelm Dilthey. 7 Die solchermaßen skizzierte Rezeptionsgeschichte Tocquevilles entwirft ein plastisches Relief der verpassten Chancen liberal-demokratischen Denkens: Nach 1848 dominierte nur noch die Interpretation, in Tocqueville einen konservativ-liberalen Kritiker der Demokratie zu sehen, wie anhand der Ablehnung der egalitären Gesellschaft bei Burckhardt und bei Treitschke gezeigt wird. Nach 1900 hat jedoch Tocqueville in Deutschland dann außer bei Dilthey keinen nennenswerten Einfluss mehr. Insgesamt fehlt es nach Eschenburgs Einschätzung in der politischen Tradition politischen Denkens nach der Jahrhundertwende an Verständnis für die Analytik der institutionellen und soziomoralischen Faktoren, die in den Augen Tocquevilles eine Spannungsbalance, einen Ausgleich von Demokratie und Liberalismus in den USA hervorgebracht haben. Auch die völlige Abwesenheit einer solchen tocquevillschen Einsicht in der Verfassungsdiskussion von Weimar ist für Eschenburg symptomatisch für die Defizite der eigenen Reflexionskultur. Erst 1935 erschien erneut eine Auswahlübersetzung, in der Albert Salomon mit Tocqueville über das Verhältnis von Autorität und Freiheit nachdachte – von hier aus führt eine direkte Rezeptionslinie zu Theodor Heuss, der das Werk in der Zeitschrift „Die Hilfe“ besprach.8 Aber erst nach dem Krieg und „nach Auflösung der feudalen und gesellschaftshierarchischen Struktur“ war der Weg für eine Tocqueville-Renaissance in Deutschland frei.9 Eschenburg, der dieser Rezeption mit der Edition des Amerika-Buches maßgeblich den Weg bereitet hat, liest dabei Tocqueville als liberaldemokratischen Denker, nicht als Prophet und Warner des Massenzeitalters, wie es nach der Pariser Kommune zur vorherrschenden Interpretation in Deutschland wurde. Er betont vor allem die institutionellen Voraussetzungen freiheitlicher Ordnung, wie die kommunale Autonomie und die soziokulturelle Balance in einer individuellen Erwerbsgesellschaft, die an die Stelle vormoderner Wirtschafts- und Eigentumsstrukturen getreten ist. Eschenburg zufolge lehrt uns die Lektüre Tocquevilles, dass die republikanischen Strukturen wie Kleinräumigkeit, Teilhabe und soziomoralischer Diskurs 7

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Theodor Eschenburg: Tocquevilles Wirkung in Deutschland, in: Alexis de Tocqueville, Werke und Briefe, Bd. 1: Über die Demokratie in Amerika. Vollständige Ausgabe. Aufgrund der französischen historisch-kritischen Ausgabe herausgegeben von Jacob P. Mayer in Gemeinschaft mit Theodor Eschenburg und Hans Zbinden. Aus dem Französischen übertragen von Hans Zbinden, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1959/1962, Neuauflage München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1976, S. 879−929. Neuere Forschungen haben eine unwahrscheinliche Pointe der bundesrepublikanischen Ideengeschichte zutage gefördert: Demnach muss davon ausgegangen werden, dass der Text der Einleitung von 1959 weitgehend auf einer Arbeit von Johannes Agnoli beruht, der von Eschenburg zwei Jahre zuvor promoviert wurde (Rainer Eisfeld: Zwischen Abwehrreaktion und kritischer Distanz, in: Rainer Eisfeld, Mitgemacht: Theodor Eschenburgs Beteiligung an „Arisierungen“ im Nationalsozialismus, Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 15−107, hier S. 103f.). Für den Hinweis auf die Autorschaft Agnolis danke ich Skadi Krause und Juri Auderset. Albert Salomon, A. de Tocqueville, Autorität und Freiheit. Schriften, Reden und Briefe. Zürich: Rascher 1935 (vgl. Theodor Eschenburg, Über Autorität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 928). Eschenburg, Über Autorität, S. 929.

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keineswegs obsolet geworden sind, sondern in der modernen Demokratie weiter leben. Welche unterschiedlichen Schwerpunkte bei der Rezeption gesetzt wurden, wird durch den Kontrast der kommentierenden Einleitungen von Eschenburg und Landshut deutlich. Wo Eschenburg den Theoretiker einer liberal-republikanischen Ordnung des Politischen liest, unterstreicht Landshut die gesellschaftspolitische Frage der „égalité des conditions“, die Tocqueville besonders im zweiten Band analysiert hatte. Landshut versteht Demokratie daher mit Tocqueville als Gesamtzusammenhang von politischer Verfassung und gesellschaftlicher Gliederung.10 Kaum Aufmerksamkeit widmet er dagegen der für Tocqueville so bedeutenden Möglichkeit der Freiheit durch politisch-institutionelle Faktoren – Kommunen, bürgerliche Assoziationen, Föderalismus und Rechtsgeist: „Es ist hier nicht der Ort zu fragen, ob solche Vereinigungen – Tocqueville spricht von politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Vereinigungen – die ihnen zugedachte Rolle in einer Gesellschaft zu spielen vermögen, in der nur noch die Organisation partikularer materieller Interessen Bedeutung zu gewinnen vermag, also das, was wir heute pressure groups nennen.“ Tocquevilles republikanisches Erbe – die Frage nach den institutionellen Möglichkeitsbedingungen bürgerlicher Tugend – verfällt bei Landshut dabei zu einem rückwärtsgewandten Restbestand ohne Relevanz für die Fragen moderner politischer Ordnungen. Schon das Schlusskapitel des Werkes lasse daher „ahnen, wie sehr Tocqueville sich dabei selbst gut zu spricht“11. Damit jedoch schlägt die Rezeption bei Landshut eine vornehmlich politiksoziologische Richtung ein. Die tocquevillesche Synthese von Liberalismus und Republikanismus – die Frage nach der Beziehung von soziomoralischer und institutioneller Struktur – gerät so aber auf das ideengeschichtliche Abstellgleis. Für die politische Ordnungsdiskussion der Bundesrepublik stellte sich Eschenburgs Lesart trotz aller Verdienste von Landshuts Pionierarbeit als ungleich wichtiger heraus. Ein Verständnis für das Zusammenspiel von institutionellen Faktoren und soziomoralischen Dispositionen schien gerade für die post-totalitäre Bundesrepublik von großer Bedeutung, konnte doch nach der Erfahrung des Nationalsozialismus ein freiheitliches Gemeinwesen kaum auf einer faktisch existierenden liberal-demokratischen Sittlichkeit aufbauen.12 Die Suche nach den Voraussetzungen 10 Siegfried Landshut: „Einleitung“, in: Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit, Stuttgart: Kröner 1954, S. ix−xxxii, hier xviii; Mit diesem methodischen Ansatz eines weiten, auch soziologisch angereicherten Verfassungsbegriffs ist auch Eschenburg weitgehend einverstanden: vgl. schon früh Theodor Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart: C. E. Schwab 1956. Mit ähnlich weitem, soziomoralischen Verfassungsverständnis auch Dolf Sternberger, Lebende Verfassung. Studien über Koalition und Opposition, Meisenheim am Glan, Verlag Anton Hain K.G. 1956. Kritisch zum späteren, daraus resultierenden Missverständnis von Politik als Verfassungsvollzug Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem 1968, in: Wilhelm Hennis, Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 1: Regieren im modernen Staat, Tübingen: Mohr Siebeck 1999, S. 183−213. 11 Beide Zitate: Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit, S. xxix. 12 Wie sehr sich diese historische Konstellation in Eschenburgs Biographie selbst spiegelt, zeigt die Debatte um seine mutmaßlichen Verstrickungen im NS-Regime. Rainer Eisfeld, „Theodor

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einer liberal-demokratischen politischen Praxis bezog sich daher gerade auch auf den angemessenen Gebrauch der konstitutionellen Institutionen.13 3. MIT TOCQUEVILLE GEGEN ROUSSEAU Im Lichte dieser vorsichtigen Tocqueville-Renaissance gewinnt auch die prominente Schmitt-Kritik von Ernst Fraenkel eine neue Dimension: Fraenkel hatte in seinen Aufsätzen „Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat“ (1958) und „Deutschland und die westlichen Demokratien“ (1960)14 die Pluralismus- und die Parlamentskritik Schmitts in eine direkte Kontinuitätslinie zum französischen Republikanismus und insbesondere zu Rousseau gestellt.15 Gegen Schmitt hatte Fraenkel versucht, aus der historischen Entwicklung des modernen Parlamentarismus ein realistisches Verständnis zu gewinnen, das die von Schmitt evozierten Spannungen zwischen parlamentarischem Ideal und politischer Wirklichkeit nicht als Pathologien diagnostiziert, sondern vielmehr als Ausdruck und Garanten einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft versteht. Fraenkel stellte dabei gegen die tief verwurzelte apriorische, substanzielle Gemeinwohlvorstellung die institutionelle Prozesshaftigkeit der politischen Willensbildung, die in einem heterogenen, lediglich von einem Grundkonsens integrierten Gemeinwesen allein das Gemeinwohl – wenngleich nur aposteriori – hervorbringen kann. Diese liberale und prozedurale Entmystifizierung der volonté générale legitimiert dabei ausdrücklich die im Rousseauschen Paradigma so geschmähte Repräsentation von Partikularinteressen, die auch Schmitt als Widerspruch zum demokratietheoretischen Idealbild dargestellt hatte.16 Fraenkel dagegen rehabilitiert die Artikulation gesellschaftlicher Interessen ebenso wie deren politische Repräsentation – und damit auch den Interessenkonflikt und die notwendigen Aushandlungs- und Kompromissbildungsprozesse der politischen Willens- und Entscheidungsfindung.

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Eschenburg: Übrigens vergaß er noch zu erwähnen...Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59/1 (2011), S. 27−44. So erklärt sich auch das gegen das Primat des Gesellschaftlichen und des Plebiszitären gerichtete Bemühen um das angemessene Verständnis von Repräsentation, Parlament und Regierung, beispielsweise bei Wilhelm Hennis, „Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie“, in: Hennis, Regieren im modernen Staat, S. 226−273; Wilhelm Hennis, „Regierbarkeit. – Zur Begründung einer Fragestellung“, in: Hennis, Regieren im modernen Staat, S. 274−286. Ernst Fraenkel, „Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat“, in: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1991, S. 153−203. „Der Apostel des Anti-Pluralismus ist Jean Jacques Rousseau. [...] [Schmitts] Antipluralismus ist echter Jean Jacques Rousseau.“ Ernst Fraenkel, „Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie“, in: Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 297−325, hier 307. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1926; Carl Schmitt, Verfassungslehre [1928], Berlin: Duncker & Humblot 1989.

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In seinem Einleitungsreferat zum Kongreß der politischen Bildung in Bonn fasst er 1966 diese Position zusammen und stellt zugleich seine ideenpolitischen Referenzpunkte klar: „Das Wort ‚pluralistisch’ hat in Deutschland einen schlechten Klang, seitdem Carl Schmitt in der pluralistischen Struktur der Weimarer Republik eine der Ursachen ihres Verfalls erblickt hat. Pluralismus ist ein echt politischer Begriff, weil er ein polemischer Begriff ist. In der Gegenwart steht der Begriff des Pluralismus im polemischen Gegensatz zum Totalitarismus. Stets aber stellte eine pluralistische Demokratie das Gegenteil einer Demokratie Rousseauscher Observanz dar. ... Eine politische Bildung, die sich nicht in einer phrasenhaften Bejahung oder Verdammung des Pluralismus verlieren will, muss an Tocqueville anknüpfen.“17 Die herausragende Bedeutung Tocquevilles für die liberale Demokratietheorie unterstrich Fraenkel auch schon in seinem Aufsatz „Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie“ (1964): „Die Rehabilitierung der Demokratie ist in Europa an den Namen Alexis de Tocqueville geknüpft. Der europäische demokratische Pluralismus geht nicht auf politische Theorien zurück, die ihn als Ideal erfanden; er beruht vielmehr auf politischen Beobachtungen, die ihn als Realität entdeckten. Seine Geburtsstunde fällt mit der in den Jahren 1835 und 1840 erfolgten Veröffentlichung des großen Buches zusammen, in dem Tocqueville aufzeigte, dass bereits damals ‚La démocratie en Amérique’ eine pluralistische Demokratie gewesen ist. Obwohl Wilhelm Dilthey Tocqueville als den größten abendländischen Denker seit Aristoteles und Machiavelli bezeichnet hat, ist er in der deutschen Staats- und Politikwissenschaft nur relativ wenig beachtet worden. Auch die vor etwa drei Jahrzehnten einsetzende Tocqueville Renaissance ist fast spurlos an Deutschland vorbeigegangen.“18 Für Fraenkel bedeutet die Rezeption Tocquevilles daher ein ideengeschichtliches Antidot gegen die demokratietheoretische Dominanz von Einheitsbegriffen wie Volk, Nation oder Staat, die sich in unterschiedlicher Weise gegen die Offenheit einer (sozial-)liberal-demokratischen Bürgergesellschaft zu stellen schienen.19

17 Ernst Fraenkel, „Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie“, in: Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 261−276, hier 274. 18 Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 322−323. 19 Der Topos der „offenen Gesellschaft“ wurde bereits 1945 im Namen eines anti-totalitären, radikal-individualistischen Liberalismus popularisiert. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde [1945], Tübingen: Mohr Siebeck 2003. Fraenkels Pluralismus setzt dagegen sehr viel mehr an den sozialen Gruppen an – ganz in der Tradition Tocquevilles, der die Frage nach den sozialen „Ligaturen“ (Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart: Dt. Verl. 1994, S. 41), nach den sozialintegrativen Bindungen auch in der liberalen Gesellschaft stellte. Zum Werk Fraenkels vgl. Hubert Buchstein (Hg.), Vom Sozialismus zum Pluralismus. Beiträge zu Werk und Leben Ernst Fraenkels, Baden-Baden: Nomos 2000; Hubertus Buchstein, Demokratiepolitik: Theoriebiographische Studien zu deutschen Nachkriegspolitologen, Baden-Baden: Nomos 2011; Hubertus Buchstein, Politikwissenschaft und Demokratie. Wissenschaftskonzeptionen und Demokratietheorie sozialdemokratischer Nachkriegspolitologen in Berlin, Baden-Baden: Nomos 1992; zu den politischen Topoi zwi-

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4. DIE VERFASSTE FREIHEIT KONFLIKTIVER GESELLSCHAFTEN Ganz ähnlich stellt sich die Rezeptionsachse bei Ralf Dahrendorf in seiner für die Liberalisierung der bundesrepublikanischen Selbstbeschreibung so wichtigen Studie zur „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ dar.20 Das Rousseausche Verständnis eines direkten und unmittelbaren einheitlichen Volkswillens erscheint als Quelle illiberaler Demokratievorstellungen. Während in der deutschen Ideengeschichte nach Dahrendorf Rousseau von Hegel als „Mitstreiter illiberalen Denkens begrüßt“ wurde und diese Allianz eine fatale Langzeitwirkung für das Missverständnis moderner demokratischer Ordnung bewirkte, welches noch im Godesberger Programm der Sozialdemokratie widerhallt,21 so bildet der Name Alexis de Tocquevilles nicht nur den buchstäblichen Auftakt des Werkes,22 sondern Dahrendorf schließt mit seiner Suche nach einer „sozial begründeten Verfassung der Freiheit“23 auch unmittelbar an dessen Fragestellung nach den Möglichkeitsbedingungen liberaler Demokratie an.24 Seine durchaus normativ geleitete Analyse ist also ebenso wenig wie Fraenkel an einer philosophisch-apriorisch deduzierten Idee der Demokratie an sich interessiert, sondern zeigt in der sozialgeschichtlichen Wirklichkeit die soziomoralischen Geltungsbedingungen auf, die eine dauerhaft stabile Demokratie erst möglich machen – ein Zusammenspiel von sozialer und politischer Verfassung also, die auch für Tocqueville die amerikanische Demokratie erst zu einer Ordnung des Gemeinwesens verstetigt hat. Wie Fraenkel kommt es Dahrendorf dabei insbesondere auf die Fähigkeit der Demokratie an, politischen Konflikten durch institutionelle Formen eine rational-pragmatische Gestalt zu verleihen und damit den Ort des Politischen vom radikalen Ausnahmezustand in den institutionellen Normalzustand der Republik zu verlagern. 5. ANALYTIKER DER MODERNEN MASSENDEMOKRATIE Vom Versuch einer liberalen Neugründung der demokratischen Ordnung durch eine ideengeschichtliche Revision zeugt auch Carlo Schmids Ausgabe der Reden Robespierres. Schmid zieht dabei die Linie des antiliberalen Rousseauismus zu den

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schen Nachkriegszeit und Gründung der Bundesrepublik außerdem Michael Th. Greven, Politisches Denken in Deutschland nach 1945. Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Opladen: Farmington Hills 2007. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965; zu diesem „Grundbuch des westdeutschen Identitätswandels“ siehe Ulrich Herbert, „Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze“, in: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945−1980, Göttingen: Wallstein Verlag 2002, S. 7−49, hier 30. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 211, 218. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 7. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 322−323. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 23, 35; der zweite wichtige Name in diesem Zusammenhang ist – nicht nur bei Dahrendorf – Montesquieu.

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modernen Freiheitsbedrohungen durch autoritäre Staatlichkeit.25 Seine Einleitung der Reden Robespierres ist im Grunde eine ausführliche liberale Rousseau-Kritik: Die Französische Revolution wurde zunächst vom „humanitären Liberalismus“ eines Condorcet und Voltaire bestimmt, aber: „Es war die Lehre Rousseaus, in deren Zeichen – nach ihrem liberalen, ‚philosophischen’ Anfang – die Revolution weiterschritt, um schließlich zur rasenden Furie zu werden“.26 Demokratie wurde bei Rousseau zur sittlichen Einheit des Bürgers mit dem Staat. Gehorsam gegenüber dem Staatsgesetz wird zum Gehorsam gegenüber der Vernunft stilisiert. Dieses „’kantische’ Element vor Kant“27 habe der Demokratie ein „fast religiöses Pathos“ gegeben, war aber politisch fatal: „ein politischer Begriff wurde zu einem moralischen Begriff verabsolutiert und damit blind für alles, was in Geschichte und Politik unlogisch erscheint, für die Einordnung in ein moralisches System nicht taugt“.28 Robespierre stellt nun als politische Figur die Konsequenz des rousseauschen Demokratiebegriffs dar: „Die Erzeugung der volonté générale ist letztlich ein mystischer Vorgang, der Inspiration der Pfingstgemeinde durch den Heiligen Geist vergleichbar, ‚sie weiß sich selbst’, und zu Zeiten kann sie in einer einzigen Person manifest werden. Robespierre hat in einer seiner Konventsreden sich selber als Inkarnation der volonté générale bezeichnet!“.29 Dieser der politischen Repräsentation entgegengesetzte Inkarnationsgedanke ist es, der für Schmid die Erbschaft des Rousseauschen Demokratiemodells und der Französischen Revolution in ihrer jakobinischen Ausprägung problematisch werden lässt. Es ist daher auch kaum verwunderlich, wenn selbst das ideengeschichtliche Standartwerk der sechziger Jahre zur politischen Philosophie Rousseaus aus der Feder von Iring Fetscher der normativen Relevanz des Contrat Social für die demokratietheoretischen Debatten der Gegenwart eine Absage erteilte. Obwohl hier doch die vermeintliche Distanz der revolutionären Radikalen zu Rousseaus Position herausgehoben wird, um ihn gegen den von Talmon erhobenen – durch seine ahistorische Perspektive gleichwohl überzogenen – Totalitarismusvorwurf zu schützen,30 sieht Fetscher keine Möglichkeit einer direkten Analogie von Rousseaus Begriffen und der Demokratie der Gegenwart: „Rousseaus Intention stand noch völlig im Banne des klassischen Polisideals, das er, lediglich geringfügig modifiziert, in seinen kleinbürgerlichen Republiken wiederauferstehen sah. Der erste Theoretiker der modernen Massendemokratie ist Alexis de Tocqueville gewesen.“31

25 Carlo Schmid, „Einleitung“, in: Maximilien Robespierre, Ausgewählte Texte, deutsch von Manfred Unruh, Hamburg: Merlin Verlag, S. 9−36. 26 Schmid, „Einleitung“, S. 12. 27 Schmid, „Einleitung“, S. 13. 28 Schmid, „Einleitung“, S. 14. 29 Schmid, „Einleitung“, S. 17f. 30 Jacob L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln: Opladen 1961. 31 Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie [1960], Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1999, S. 255.

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6. EINE NEUE POLITISCHE WISSENSCHAFT Der Rekurs auf Tocqueville zeigt sich schließlich auch dort, wo explizit gegen den von Leo Strauss und Erik Voegelin unternommenen Versuch einer „Neuen Wissenschaft der Politik“ allein auf Grundlage der klassisch-antiken und der angelsächsischen Denktraditionen opponiert wird. So knüpfte Wilhelm Hennis auch an das genuin politische Ordnungsdenken der kontinentaleuropäischen Tradition an und nennt explizit Tocquevilles neue politische Wissenschaft als Vorbild.32 Die Arbeiten von Wilhelm Hennis bilden daher einen elementaren Teil der Tocqueville-Renaissance in der deutschen Politikwissenschaft nach 1945. Wenngleich sein zentraler Tocqueville-Aufsatz erst 1982 erscheint, so stehen die Themen, die Fragen und auch die Antworten von Hennis auf die politischen Ordnungsfragen der Demokratie im Geiste derjenigen Tradition von politischer Wissenschaft, als deren wichtigster Vertreter im neunzehnten Jahrhundert Tocqueville von Hennis eingestuft wird. Die zentralen Themen Tocquevilles – die Bindungen zwischen den Bürgern, der Bürgergeist, das politische Vertrauen, die Leidenschaften jenseits des bloßen Interesses – sind auch für Hennis von grundlegender Bedeutung, weisen sie doch den Weg jenseits einer szientifisch-positivistisch geprägten Sozialwissenschaft, die nach naturwissenschaftlichem Vorbild auf der Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und dem Vorrang quantifizierbarer Daten die qualitativ sinnvolle Beurteilung politischer Ordnungsfragen zu vergessen droht.33 Tocqueville steht somit in einer Reihe mit den Klassikern der politischen Wissenschaft, die als eine praktische Disziplin „Erkenntnis nicht um ihrer selbst willen, sondern um des rechten Handelns willen“34 sucht: Thukydides, Aristoteles, Machiavelli, Montesquieu, Rousseau – und Weber, dem für Hennis sozialwissenschaftlich verkannten, vorläufig letzten Glied dieser denkwürdigen Reihe.35 Tocqueville ist methodisch für Hennis so wichtig, weil er sich an der Frage der erfahrungsgebundenen, politischen Urteilskraft orientiert, die nicht philosophisch-abstrakt auf der Suche nach ewigen Prinzipien ist, sondern die politischen Institutionen der Demokratie im Lichte ihrer Angemessenheit für ein freies Gemeinwesen beurteilt. Damit geht es ihm ähnlich wie Rousseau um die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Bürger, also um die Bedeutung der politischen Existenz für ein gelingendes und gutes menschliches Leben. Die Frage

32 Wilhelm Hennis, „Tocquevilles ‚Neue politische Wissenschaft’“ [1982], in: Wilhelm Hennis, Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 2: Politikwissenschaft und politisches Denken, Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2000, S. 297−330. 33 Zu Hennis vgl. jetzt die Beiträge in Andreas Anter (Hg.), Wilhelm Hennis’ Politische Wissenschaft. Fragestellungen und Diagnosen, Tübingen: Mohr Siebeck 2013; biographisch und zeitgeschichtlich zudem Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München: C.H.Beck 2008. 34 So die aristotelische Formulierung Hennis, „Tocquevilles ‚Neue politische Wissenschaft’“, S. 301. 35 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werkes, Tübingen: Mohr Siebeck 1987; Wilhelm Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werkes, Tübingen: Mohr Siebeck 1996.

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nach den konkreten Möglichkeitsbedingungen einer Ordnung, die das Zusammengehen von Menschen als freie Bürger in einem geteilten Gemeinwesen erlauben, war nach Hennis die für Tocqueville maßgebliche. Als Schüler Rudolf Smends war Hennis die Frage nach der politischen Integration des modernen Gemeinwesens als eine Leitfrage moderner Politikwissenschaft vertraut:36 Tocquevilles Analyse der vielfältigen Bindungen in der zeitgenössischen egalitären und individualistischen Demokratie bietet für Hennis daher eine Antwort auf die Herausforderung des republikanischen Freiheitsgedankens durch die liberale, atomistische Gesellschaft. Freiheit nach Tocqueville „vereinigt die Menschen, sie ist nicht die des sich in seinen Privatraum zurückziehenden einzelnen.“37 Der „eigentliche Gegenstand der politischen Wissenschaft, ihre systematische Mitte“ liegt daher für Hennis in der Frage: „Was bringt die Menschen zusammen, was treibt sie auseinander?“.38 Die moderne Antwort nach Hobbes und der Aufklärung lautet: das Interesse. Tocqueville aber liefert eine sehr viel komplexere Assoziations-Lehre, die für Hennis direkt an Rousseau anschließt: „Nur auf Ideen, Leidenschaften, Gefühle, die die Menschen immer und sei es im Haß aufeinander verbindet, sind dauerhafte Verbindungen zu gründen. ... Dass die Menschen im Staat durch Gedanken, gemeinsame Anschauungen verbunden sein müssen, dass nicht Interessen, sondern Gefühle und Anschauungen den sozialen Kitt abgeben, dass nur sie das Alleinsein, die Auflösung der Kette verhindern, das ist das durchgängige Thema von Tocquevilles eigentlichem theoretischem Werk, dem zweiten Band des Amerikabuches“.39 Hennis sieht den Staat als weiteste Assoziation, die den Menschen aus seiner Vereinzelung befreien kann: „Es ist Sache des Gesetzgebers, der ‚Lenker der Gesellschaft’, alle Anknüpfungen im gegebenen sozialen Band zu nützen, zu fördern, oder auch ‚künstlich’ neu einzurichten, die mitmenschlichen Anbindungen zu fördern“.40 Damit besteht für Hennis trotz aller „Anknüpfung im Gegebenen“ ein Integrationsprimat bei den staatlichen Institutionen, die den eigentlichen Raum der öffentlichen Verbindung stellen. Auch wenn dieser Institutionalismus immer die Bürger in den Mittelpunkt stellt und man Hennis gewiss nicht den Vorwurf des Etatismus machen kann, so liegt gerade in diesem staatlichen Apriori eine grundlegende Differenz zu jenen Anknüpfungen an die französisch-republikanische Tradition durch die bundesrepublikanische Linke. An den Begriffen der Demokratie und der Legitimität hat sich so auch ein Disput entzündet, in dem Hennis die institutionelle Dimension

36 Vgl. Rudolf Smend, „Verfassung und Verfassungsrecht“, in: Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin: Duncker und Humblot 1955, S. 119−276; zu Smends Integrationslehre Hans Vorländer, „Integration durch Verfassung? Die symbolische Bedeutung der Verfassung im politischen Integrationsprozess“, in: Hans Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 9−40, S. 13ff. 37 Hennis, „Tocquevilles ‚Neue politische Wissenschaft’“, S. 313. 38 Hennis, „Tocquevilles ‚Neue politische Wissenschaft’“, S. 322 39 Hennis, „Tocquevilles ‚Neue politische Wissenschaft’“, S. 322−323. 40 Hennis, „Tocquevilles ‚Neue politische Wissenschaft’“, S. 318.

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dieser Konzepte gegen eine gesellschaftheoretisch argumentierende, tendenziell antiinstitutionelle Perspektive durchaus leidenschaftlich verteidigte.41 Auch hier beruft sich Hennis auf Tocqueville, wenn er die „Demokratisierung“ als „die universalste gesellschaftspolitische Forderung unserer Zeit“ einer kritischen Lesart unterzieht:42 Wenn Demokratie als „grundsätzliches Prinzip des ganzen gesellschaftlichen Lebens“43 begriffen wird, so geht nach Hennis die politische Dimension von Demokratie als Herrschaftsform verloren und führt zu missverständlichen Erwartungen: „Auch wenn Tocqueville in der Tradition der Methoden Montesquieus überall die Zusammenhänge von Lebensweisen (Sitten), gesellschaftlichen Maßstäben und politisch institutionalisierter Ordnung aufdeckt, so begegnen wir bei ihm doch nirgendwo der Forderung, aus den politischen, der Verfassungsordnung zugrunde liegenden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit folgten systemnotwendige Konsequenzen für alle sonstigen Lebensordnungen“.44 Hennis warnt dagegen vor der Idee, ein „einziges Prinzip, das für die politische Ämterordnung und den auf sie hinzielenden Bereich der politischen Willensbildung im engeren Sinne grundlegend ist“, auch für das Gemeinwesen als Ganzes als normativen Maßstab anzusetzen45 – denn damit sieht er auch die für das Politische und auch die politische Freiheit konstitutive Grenzziehung zwischen Privat und Öffentlich aufgehoben, die in der republikanischen Tradition als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Mischverfassung öffentlicher Freiheit eine so gewichtige Bedeutung hatte und auch für den Liberalismus für die Wahrung individueller Freiheitsrechte grundlegend ist. Wenn also Demokratie vom Staat auf die Gesamtgesellschaft übertragen werde, dann führt dies zu einer quasitotalitären Aufspreizung eines Prinzips, welches entgegen der damit verbundenen Absicht gerade zu einer Zerstörung der freiheitlichen Verfassung führen kann: Es „werden mit dem Begriff der Demokratisierung von Sozialtatbeständen Hoffnungen geweckt, die unerfüllbar sind. Die Erwartungen, die mit diesem Begriff verbunden sind, sind nicht einlösbar. Da illusionäre Erwartungen nicht eingelöst werden können, könnte am Ende auch dieser illusionären Erwartung hier wie immer nur stehen: die Agonie der Freiheit“.46 7. AUSBLICK In der demokratietheoretischen Diskussion der bundesrepublikanischen Politikwissenschaften hat der Name Tocqueville trotz der hier skizzierten Rezeption nur sehr eingeschränkte Wirkung entfaltet. In den sechziger und siebziger Jahren wurde 41 Zur Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und Claus Offe insbesondere Wilhelm Hennis, „Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft“ [1975/76], in: Hennis, Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 2, S. 250−296. 42 Hennis, „Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs“ 1970, in: Hennis, Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 2, S. 195. 43 Hennis, Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 2, S. 196. 44 Hennis, Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 2, S. 197. 45 Hennis, Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 2, S. 199. 46 Hennis, Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 2, S. 227.

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diese Debatte lange Zeit von der Unterscheidung zwischen formaler und materialer Demokratie geprägt, in der kaum verhohlen das Echo der Rousseauschen Repräsentations- und Vermittlungsfeindschaft Anklang.47 Der Demokratiebegriff wurde hier normativ zu einem Emanzipationshorizont der Gesamtgesellschaft überhöht, der die bei Tocqueville analysierten institutionellen und soziokulturellen Voraussetzungen einer politischen Ordnung der Freiheit schnell in den Hintergrund treten ließen. Gerade die konstitutionellen Aspekte der Demokratie wurden vorschnell zur Freiheitsbeschränkung einer wahren, material entfalteten Demokratie abgestempelt und auch das bei Tocqueville herausgearbeitete Verhältnis von aristokratischen und demokratischen Elementen in der republikanischen Mischverfassung wurde lediglich als Vorläufer der neuen Elitentheorien gedeutet.48 Gleichwohl lassen sich aber auch in der kritischen Demokratietheorie Impulse erkennen, die Tocquevilles Demokratiebegriff positiv aufgreifen, ohne ihn freilich offensiv als ideenpolitischen Paten zu vereinnahmen: So entwickelte Claus Offe theoretische Modelle von demokratischen Gegenmacht-Positionen, die bei aller verbleibenden Skepsis gegenüber einer bloßen Reform politisch-institutioneller Strukturen Demokratie auch von den Fragen ihrer Verfasstheit her gedacht haben: Sowohl das „neighborhood government“ als neuen, kleinräumigen Typ von dezentralisierenden Gebietskörperschaften, als auch Bürgerinitiativen, die Kampagnen von Bürger- und Verbraucheranwälten nach dem Vorbild von Ralph Nader in den USA, den Ombudsmann sowie das Modell des Bürgerforums tauchen hier auf.49 Damit aber öffnet sich die unerwartete Perspektive auf die pragmatischen, zivilgesellschaftlich verfassten Partizipationsformen tocquevillscher Provinienz, die – ohne dass dieses Spannungsverhältnis hier schon explizit in Offes Demokratiebegriff reflektiert würde – den von Rousseau über Marx übernommenen Demokratiebegriff institutionell-prozedural vermitteln und damit seiner Unmittelbarkeits- und Einheitsfiktionen berauben. Die theoretischen Konsequenzen dieses langen Abschieds von Rousseau sollten jedoch erst Ende der achtziger Jahre gezogen werden50 – und auch da nur halbherzig, da die pluralistischen Formen zivilgesellschaftlicher Partizipation auch hier immer noch im Gegensatz zur repräsentativen Demo-

47 Vgl. Daniel Schulz, Krise des Republikanismus, Baden-Baden: Nomos Verlag 2015, S. 200ff. 48 „Demokratie wird nicht länger durch den Inhalt einer Lebensform bestimmt, welche die verallgemeinerungsfähigen Interessen aller Einzelnen zur Geltung bringt; sie gilt nur noch als Methode der Auswahl von Führern und Führungsgarnituren“. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1973, S. 169−170. 49 Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 140ff. 50 Dass es sich bei der Fokussierung auf die radikaldemokratische Seite Rousseaus ohnehin immer um eine einseitige Rezeption handelte, zeigen – neben der wichtigen Monographie von Iring Fetscher 1960 – die editorischen Kontrapunkte aus den siebziger und achtziger Jahren. Die beiden wichtigsten davon sind Rousseau 1978 (enthält u.a. die Träumereien eines einsamen Spaziergängers, die Briefe vom Berge oder Rousseau richtet Jean-Jacques), sowie Heinrich Meier, der mit der kommentierten Edition des Diskurses über die Ungleichheit bei Wilhelm Hennis in Freiburg promoviert wurde. Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit/Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Texts, Hg., übers. u. kommentiert v. Heinrich Meier, Paderborn: UTB 1984.

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kratie und nicht als deren immanente Erfordernis gedacht wurden. Während Tocqueville so in ausgewogenen politikwissenschaftlichen Darstellungen der Demokratietheorie immerhin zu einem der zentralen ideengeschichtlichen „Vorläufer moderner Demokratietheorien“ anerkannt wird,51 so bleibt er in der deutschen Diskussion doch weiterhin im Schatten der großen Systemdenker. Es dominieren philosophisch-normative Fragestellungen oder, in der empirischen Demokratieforschung, weitgehend ahistorisch verfahrende Systematisierungsansätze, die mit der Tocquevilleschen Vorgehensweise des historisch sensibilisierten, vergleichendkomplexen Sinnverstehens kaum kompatibel sind.52

51 Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, Opladen: Leske und Budrich 1997, S. 80ff. 52 Vgl. gegen die Interpretation Jon Elsters gerichtet Aurelian Craiutu, „Tocquevilles neue politische Wissenschaft wiederentdecken. Einige Lektionen für zeitgenössische Sozialwissenschaftler“, in: Bluhm/Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville, S. 33−52.

TOCQUEVILLE UND DIE DEMOKRATIE IN DER SCHWEIZ Analysen, Rezeptionsfelder und Aktualisierungen1 Juri Auderset 1. EINLEITUNG 1979 veröffentliche der deutsche Begriffshistoriker Reinhart Koselleck in einer Festschrift zum zweihundertjährigen Bestehen der Neuen Zürcher Zeitung einen Aufsatz zu „liberalem Geschichtsdenken“. Nachdem Koselleck ausgewogen die historiografischen Errungenschaften und Unzulänglichkeiten der liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts umriss und die These verfocht, dass es die geschichtsphilosophische Bindung an den Begriff des Fortschritts gewesen sei, welche den „wissenschaftlichen Erkenntnishorizont“ liberalen Geschichtsdenkens „einschnürte“, so führten ihn die Fragen nach den „theoretischen Leistungen des liberalen Geschichtsdenkens“ und nach den „gegenwartsübergreifenden Bewegungen, nach den langfristig wirkenden Bedingungen möglicher Geschichte“ unmittelbar zu Alexis de Tocqueville. Anders als viele seiner Zeitgenossen habe Tocqueville auf den Begriff des Fortschritts verzichtet. Diese Weigerung ließ ihn seine Gegenwart als offene „Übergangszeit“ fassen, „deren Probleme er schärfer sah, weil er sie nicht progressiv interpretierte“, was auch für seine „Prognosen für die moderne Demokratie“ galt. Insofern lag für Koselleck die eigentliche intellektuelle Leistung Tocquevilles darin, „dass er die interessengesteuerte Fortschrittsdogmatik hinter sich gelassen hatte, um eine Theorie der modernen Geschichte zu entfalten, die der Komplexität unserer Neuzeit Rechnung trug.“ Dieses von Tocqueville verkörperte „Gebot zur Theorie, die den geschichtlichen Bewegungsstrukturen der Moderne gerecht werden kann“, seine „Hypothesen, die den nachfolgenden Prozess der Demokratisierung weiterhin empirisch überprüfbar machten“, legten auch das Fundament dafür, dass sich „im Ablauf der Geschichte zugleich Gegner und Vorkämpfer der modernen Massendemokratie“ auf ihn beriefen, so Koselleck.2 1 2

Ich danke Urs Germann (Bern), Skadi Krause (Brüssel), Peter Moser (Bern), Philipp Müller (Hamburg), Stephan Scheuzger (Bern) und Siegfried Weichlein (Fribourg) für Hinweise und kritische Kommentare zu früheren Versionen dieses Textes. Reinhart Koselleck, „Liberales Geschichtsdenken“, in: Willy Linder, Hanno Helbling, Hugo Bütler (Hg.), Liberalismus – nach wie vor. Grundgedanken und Zukunftsfragen, Zürich: Buchverlag der Neuen Zürcher Zeitung 1979, S. 29–51, hier 46–47. Wiederabgedruckt in: Reinhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Carsten Dutt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2014, S. 198–227. Zu Kosellecks Beschäftigung mit Prophetie und Prognostik mit expliziten Referenzen zu Tocqueville vgl. auch

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Dass im einleitenden Abschnitt dieses Aufsatzes einem deutschen Historiker das Wort gegeben wird, der anlässlich des zweihundertjährigen Bestehens einer schweizerischen Zeitung über den französischen Autor Alexis de Tocqueville und sein „liberales Geschichtsdenken“ schrieb, ist in mehrerer Hinsicht für die Rezeptionsgeschichte Tocquevilles in der Schweiz charakteristisch. Erstens waren die Auseinandersetzungen mit Tocqueville in der Schweiz eng in geistes- und intellektuellengeschichtliche Strömungen in den benachbarten Gesellschaften eingebunden und weisen deshalb einen ausgesprochen transnationalen Charakter auf. Wie bereits die zeitgenössische Rezeption Tocquevilles ein transnationaler intellektueller Akt war, ist auch die nachfolgende Beschäftigung mit der Analyse und Interpretation seines Werks in grenzübergreifende Rezeptionsstrukturen und Debattenverläufe eingebettet. Vice versa sind die helvetischen Rezeptionsund Aneignungsformen auch an situative politische, kulturelle und gesellschaftliche Bedingungsnetze sowie an bestimmte „epistemische Kulturen“ gebunden,3 die die Auseinandersetzung mit Tocqueville in konkreten historischen Kontexten und Konstellationen prägten und insofern auch vor dem Hintergrund der Partikularitäten in der schweizerischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu betrachten sind.4 Zweitens weist Koselleck auf die verschiedenen Rollen hin, welche Tocqueville auch in den schweizerischen Geistes- und Sozialwissenschaften zugeschrieben wurden:5 Als zurückblickender Historiker, der seine zum Zeitalter der Revolutionen gewordene Zeitgeschichte scharf beobachtete; als vorausschauender Prognostiker, der die sozialen, kulturellen und politischen Konsequenzen von Industrialisierung und Massendemokratie zu antizipieren versuchte; als gegenwartsorientierter und zuweilen pessimistisch-melancholischer Kulturkritiker, an dessen Erkenntnissen

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Reinhart Koselleck, „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“, in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1989, S. 38–66; Reinhart Koselleck, „Geschichtliche Prognose in Lorenz v. Steins Schrift zur preußischen Verfassung“, in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1989, S. 87–104. Vgl. Karin Knorr Cetina, „Epistemic Cultures. Forms of Reason in Science”, in: History of Political Economy 23 (1991), S. 105–122. Vgl. Pierre-Yves Saunier, „Circulations, connexions et espaces transnationaux”, in: Genèses 57 (2004), S. 110–126; Patricia Clavin, „Defining Transnationalism”, in: Contemporary European History 14 (2005), S. 421–439; Akira Iriye, Pierre-Yves Saunier (Hg.), The Palgrave Dictionary of Transnational History, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009. Für einen Überblick auf die Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert vgl. Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München: C. H. Beck 2015. Vgl. zu dieser Rollenvielfalt auch Robert Nisbet, „Many Tocquevilles“, in: The American Scholar 46 (1977), S. 59–75; Harald Bluhm, Skadi Krause, „Viele Tocquevilles? – Neuere Interpretationen eines Klassikers“, in: Berliner Journal für Soziologie 4 (2005), S. 551–562; Matthew J. Mancini, „Too Many Tocquevilles. The Fable of Tocqueville’s American Reception”, in: Journal of the History of Ideas 69/2 (2008), S. 245–268.

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und Befürchtungen über die Dynamiken des neuzeitlichen Demokratisierungsprozesses sich auch das demokratische, liberal-republikanische und föderale Selbstverständnis des helvetischen Kleinstaats immer wieder aufs Neue vermessen ließ. Und drittens schließlich gehört es, wie Koselleck zurecht hervorhebt, zu den hervorstechenden Eigenschaften des Tocqueville‘schen Werks, dass die von ihm aufgestellten Hypothesen über die Erfahrungen der Moderne eine gesellschafts- und geschichtstheoretische Qualität aufweisen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Kontexten in der neuzeitlichen Geschichte der Schweiz für die Deutung und intellektuelle Verarbeitung spezifischer Gegenwartserfahrungen resonant waren. In dieser Perspektive geht es also nicht nur darum, die Präsenz Tocquevilles in den schweizerischen Geistes- und Sozialwissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts nachzuweisen, sondern auch danach zu fragen, weshalb er zu welchen Zeiten, in welchen Kontexten und in welchen „Diskursgemeinschaften“ eine intellektuelle Faszinationskraft zu entwickeln vermochte, die zuweilen auch wieder erodierte.6 Vergleichbar mit anderen Rezeptionskontexten konzentrierte sich die intellektuelle Beschäftigung mit Tocqueville in der Schweiz auf die Hauptwerke De la démocratie en Amérique, L’Ancien Régime et la Révolution, die Souvenirs sowie auf seine Korrespondenz.7 Eine besondere Aufmerksamkeit erhielt die zeitgenössische Auseinandersetzung Tocquevilles mit den Verhältnissen in der Schweiz, welche sich in den verstreuten komparativen Beobachtungen in De la démocratie en Amérique und in seinem Briefwechsel bereits ankündigte, dann aber vor allem in seinem erstmals 1848, bezeichnenderweise im Anhang zur 12. Auflage des Amerikabuches veröffentlichten Rapport à l’Académie des sciences morales et politiques sur le livre de M. Cherbuliez, intitulé la Démocratie en Suisse und dem erstmals 1865 erschienenen Text Voyage en Suisse verdichtete. In systematisierender Absicht lässt 6 7

Zum Begriff der Diskursgemeinschaft und seiner Problematisierung vgl. Dominick LaCapra, „Rethinking Intellectual History and Reading Texts“, in: History & Theory 19 (1980), S. 245– 276, hier 264–266. Vgl. etwa für Deutschland den Beitrag von Daniel Schulz in diesem Band sowie Theodor Eschenburg, „Tocquevilles Wirkung in Deutschland“, in: Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 879–929. In der Zwischenzeit ist indessen fraglich geworden, wieviel Eschenburg tatsächlich in diesem Text steckt und wieviel eher von seinem Mitarbeiter Johannes Agnoli stammt, vgl. hierzu Rainer Eisfeld, „Zwischen Abwehrreaktion und kritischer Distanz“, in: Rainer Eisfeld (Hg.), Mitgemacht. Theodor Eschenburgs Beteiligung an „Arisierungen“ im Nationalsozialismus, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2016, S. 15–107, hier 104. Für eine Bestandsaufnahme der aktuellen deutschsprachigen Tocqueville-Forschung vgl. Harald Bluhm, Skadi Krause (Hg.), Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn 2016. Für Frankreich vgl. Françoise Mélonio, Tocqueville et les Français, Paris: Aubier 1993; Serge Audier, Tocqueville retrouvé. Genèse et enjeux du renouveau tocquevillien français, Paris: Vrin/EHESS 2004. Für Nordamerika vgl. James T. Kloppenburg, „Life Everlasting. Tocqueville in America“, in: James T. Kloppenburg, The Virtues of Liberalism, Oxford: Oxford University Press 1998, S. 71–81; Oliver Zunz, „Tocqueville and the Americans. Democracy in America as Read in Nineteenth-Century America”, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge Companion to Tocqueville, Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 359–396; Matthew J. Mancini, Alexis de Tocqueville and American Intellectuals. From His Times to Ours, Lanham: Rowman & Littlefield 2006.

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sich die Tocqueville-Rezeption in der Schweiz entlang von vier sich teilweise überlappenden Diskursfeldern strukturieren, die auch den nachfolgenden Ausführungen ihre Gliederung geben:8 Zunächst eine insbesondere durch Jacob Burckhardts Vorlesungen zum Revolutionszeitalter angetriebene Beschäftigung mit Tocquevilles Argumentation in L’Ancien Régime et la Révolution; dann eine auf Tocquevilles Beziehungen zur Schweiz fokussierende Befassung mit dessen Wahrnehmung und Deutung der helvetischen Verhältnisse im Vorfeld und während der Revolution von 1848; ferner eine auf Tocquevilles komparativer Perspektive aufbauende, rechtswissenschaftlich und verfassungshistorisch geprägte Auseinandersetzung mit den föderal-republikanischen Institutionsarrangements der beiden modernen Bundesstaaten in Nordamerika und der Schweiz; schließlich eine im mittleren Drittel des 20. Jahrhunderts angesichts des Aufstiegs der europäischen Diktaturen einsetzende Thematisierung von Tocqueville als intellektuelle Orientierungsfigur eines erneuerten, antitotalitär begründeten Liberalismus. 2. L’ANCIEN RÉGIME ET LA RÉVOLUTION, JACOB BURCKHARDT UND DIE PATHOLOGIEN DES REVOLUTIONSZEITALTERS „Im Augenblick, da Tocqueville die Feder niedergelegt hat, nahm Burckhardt sie auf, um seine eigene Vorlesung über das Zeitalter der Revolution auszuarbeiten.“9 So formulierte der Basler Historiker und Burckhardt-Biograf Werner Kaegi den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Tocquevilles L’Ancien Régime et la Révolution und Burckhardts Vorlesungen über die Geschichte des Revolutionszeitalters. Dass der liberal-konservative Basler Historiker Burckhardt in Tocquevilles Spätwerk eine zentrale Inspiration für seine Darstellung des Revolutionszeitalters gefunden hat, ist auch von der jüngeren, insbesondere mit der Neuedition der Werke

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Eine solche Systematisierung hat gleichwohl den Nachteil, dass manche Forschungsakzente zu Tocqueville nicht berücksichtigt werden können. Um das thematische Spektrum der schweizerischen Tocqueville-Forschung zumindest ansatzweise anzudeuten, sei deshalb an dieser Stelle exemplarisch auf einige Arbeiten schweizerischer Autoren und Autorinnen hingewiesen, die interessante Einzelaspekte in Tocquevilles Werk beleuchten, die im Folgenden nicht weiter berücksichtigt werden können: Urs Bitterli, „Tocqueville und die Indianer“, in: Thomas Beck, Horst Gründer u.a. (Hg.), Überseegeschichte. Beiträge der jüngeren Forschung, Stuttgart: Steiner 1999, S. 87–97; Markus Freitag, „Beyond Tocqueville: The Origins of Social Capital in Switzerland“, in: European Sociological Review 19 (2003), S. 217–232; Bettina Heintz, „Portrait for a Lady. Henry James und Alexis de Tocqueville zur Ordnung der Klassen und Geschlechter“, in: Caroline Arni u.a. (Hg.), Der Eigensinn des Materials. Erkundungen sozialer Wirklichkeit. Festschrift für Claudia Honegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. Main: Stroemfeld 2007, S. 49–70; Jean-Pierre Aguet, „Tocqueville: démocratie, armée et guerre“, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 45 (1995), S. 371–397; Alexis Keller, Art. „Tocqueville“, in: Dictionnaire Montesquieu, 2013, URL: http://dictionnaire-montesquieu.ens-lyon.fr/fr/article/1377636456/fr/ (letzter Aufruf: 16.04.2017). Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie, Bd. 5, Basel, Stuttgart: Kaegi 1973, S. 256.

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Burckhardts angeregten Forschung bestätigt worden.10 Ähnlich wie Tocqueville betrachtete auch Burckhardt seine Gegenwart als tiefgreifend von jenen „bewegenden geschichtlichen Mächten“ geprägt, welche zwar in den vorrevolutionären Strukturen angelegt gewesen seien, aber erst durch die Französische Revolution in ihrer ganzen Dynamik und Beschleunigung freigesetzt wurden: Es sei „ein und derselbe Sturm“, so heißt es im Vorlesungsmanuskript Burckhardts in einer Ausprägung der auch bei Tocqueville zentralen Meeres- und Marinemetaphern, „welcher seit 1789 die Menschheit faßte“ und „auch uns weiterträgt.“11 Die Metaphorik ist nicht zufällig. Wie Wolfgang Hardtwig argumentiert hat, verweist diese maritim-katastrofische Metaphernsprache auf den mit der Französischen Revolution ausgeweiteten Erfahrungsraum einer „neuzeitlich bewegten“, in die Zukunft geöffneten und damit auch kontingenten Geschichte.12 Das damit latent gewordene Krisenbewusstsein der Gegenwart, das in der Schweiz durch die Revolutions- und Bürgerkriegserfahrungen von 1830 und 1848 sowie durch die Herausbildung einer industriellen Klassengesellschaft mit der ihr inhärenten sozioökonomischen und politischen Konfliktlagen zuweilen manifest wurde, nötigte gleichsam zur Vergegenwärtigung der revolutionären Vergangenheit; das Revolutionszeitalter ist somit sowohl bei Tocqueville als auch bei Burckhardt nicht nur Gegenstand der Analyse, sondern auch epistemische Voraussetzung für Geschichts- und Gegenwartserkenntnis: das Bewusstsein in der krisenhaften historischen Bewegung des Revolutionszeitalters zu leben, verweist auf die „unausweichliche Bedingtheit der Betrachtung durch die eigene Zeit“.13 Oder wie es Burckhardt selbst in Fortsetzung seiner nautischen Metaphorik formulierte:

10 Vgl. Philipp Müller, „Revolution als Geschichte. Jacob Burckhardts Vorlesung zum Revolutionszeitalter“, in: Urs Breitenstein u.a. (Hg.), „Unerschöpflichkeit der Quellen“. Burckhardt neu ediert – Burckhardt neu entdeckt, Basel: Schwabe; München: C.H. Beck 2007, S. 137– 153. Zu Tocqueville und Burckhardt vgl. auch Alan S. Kahan, Aristocratic Liberalism. The Social and Political Thought of Jacob Burckhardt, John Stuart Mill, and Alexis de Tocqueville, New York: Oxford University Press 1992; Maurizio Ghelardi, „Kultur-Nachsommer-Gefühl: Burckhardt und Tocqueville”, in: Breitenstein u.a. (Hg.), „Unerschöpflichkeit der Quellen“, S. 61–74. 11 Jacob Burckhardt, Geschichte des Revolutionszeitalters, Jacob Burckhardt Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Wolfgang Hardtwig, Simon Kießling, Bernd Klesmann, Philipp Müller und Ernst Ziegler, München: C. H. Beck 2009, Bd. 28, S. 15. Zu Tocquevilles Ancien Régime vgl. Robert T. Gennett Jr., Tocqueville Unveiled. The Historian and his Sources for The old regime and the revolution, Chicago: University of Chicago Press 2003; Robert T. Gennett. Jr., „The Shifting Puzzles of Tocqueville’s The Old Regime and the Revolution”, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge Companion to Tocqueville, Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 188–215; Annelien de Dijn, „The Intellectual Origins of Tocqueville’s L’Ancien Régime et la Révolution”, in: Modern Intellectual History 5 (2008), S. 1–25. 12 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974, S. 25–44. Allgemein hierzu: Reinhart Koselleck, „Art. Geschichte, Historie”, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta 1975, Bd. 2, S. 593–717. 13 Müller, „Revolution als Geschichte“, S. 139.

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Juri Auderset „Sobald wir uns die Augen ausreiben, bemerken wir freilich, daß wir auf einem mehr oder weniger gebrechlichen Schiff auf einer der Millionen Wogen dahintreiben, welche durch die Revolution in Bewegung gesetzt worden sind – Wir sind diese Woge selbst. Die objective Erkenntniß wird uns nicht leicht gemacht.“14

Die Beschäftigung mit dem Revolutionszeitalter formierte bei Tocqueville ein Bewusstsein für die temporale Komplexität von Geschichte. Bei allen Momenten der revolutionären Diskontinuität und bei allen Brucherfahrungen band Tocqueville das Revolutionsgeschehen auch an Kontinuitätsstrukturen langer Dauer. So gehört es seit Tocquevilles Interpretation zum Kanon der Revolutionsdeutungen, dass die Zentralisierungsbestrebungen der Revolution in einer Kontinuitätslinie mit der vorrevolutionären Machtkonzentration der französischen Monarchie standen und diese damit den Boden für die Revolution selbst bestellt hatte.15 Die von Tocqueville ausgearbeitete Dialektik zwischen einer zu absoluter Staatsgewalt neigenden administrativen und politischen Zentralisierung einerseits, einer Tendenz zu gesellschaftlicher Vereinheitlichung und Uniformität andererseits, rückte auch Burckhardt mit explizitem Verweis auf Tocqueville ins Zentrum seiner Revolutionsvorlesung: „Diese Centralisation ging in der Revolution nicht unter, weil sie selber deren Anfang und Essenz war. Von oben ist schon so Vieles nivellirt und von unten erwartet man von noch größerer Gleichmachung alles Heil.“16

Schärfer vielleicht noch als Tocqueville zog Burckhardt daraus den Schluss, dass der Staat und die Gesellschaft im 19. Jahrhundert in ein spannungsreiches Oppositionsverhältnis geraten seien, das das wechselseitige Hochschaukeln von Demokratie und Tyrannei beschleunigte und damit die Herrschaftsform eines modernen, plebiszitär legitimierten Cäsarismus begünstigte.17 Diese Befürchtungen vor den potenziellen Pathologien der neuzeitlichen Entwicklungsgeschichte äußerten sich indes nicht nur in der historischen Analyse, sondern auch in der Betrachtung des zeitgenössischen politischen und sozioökonomischen Wandels. Burckhardt lehnte sich insofern nicht nur an Tocquevilles historiografische Deutungsmuster des Revolutionszeitalters an, sondern teilte mit ihm auch die Skepsis gegenüber der optimistischen und selbstbewussten Fortschrittsgläubigkeit vieler seiner Zeitgenossen. Das Revolutionszeitalter entpuppte sich in dieser Sichtweise auch als ein technisch-industrielles Zeitalter, in welchem Kapitalismus und industrielle Revolution das Sozialgefüge umwälzten, Lebens- und Arbeitsverhältnisse grundlegend transformierten und neue soziale und politische Konfliktlinien aufrissen. Es waren diese Gegenwartserfahrungen des mittleren 19. Jahrhunderts, welche Tocqueville zunächst in seinem Mémoire sur le paupérisme von 1835 und im zweiten Band der Démocratie en Amérique reflektierte und welche Burck-

14 Burckhardt, Geschichte des Revolutionszeitalters, S. 11. Hervorhebungen im Original. 15 Vgl. Martin Nissen, „Alexis de Tocqueville – Der alte Staat und die Revolution“, in: Erich Pelzer (Hg.), Revolution und Klio. Die Hauptwerke zur Französischen Revolution, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 80–98. 16 Burckhardt, Geschichte des Revolutionszeitalters, S. 49. 17 Vgl. Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt, S. 279–281.

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hardt mit zahllosen kulturkritischen Passagen in seiner Korrespondenz verarbeitete.18 Auch in seinen Vorlesungen zum Revolutionszeitalter sprach Burckhardt von der „zunehmenden Industrialisierung der Welt“, von der Konzentration von Kapital zur Gründung und von Menschen zum Betreiben von Fabriken, von der „Maschinenarbeit“ sowie von der Beschleunigung des global ausgeweiteten, von Eisenbahnen, Dampfschiffen und Telegraphen ermöglichten Warenverkehrs im Industriekapitalismus.19 Die Entfesselung der industriekapitalistischen Transformationskräfte zog in Burckhardts Sichtweise auch das Denken und die Mentalität in einen Sog von Materialismus, Nützlichkeit, Konformismus, Nivellierung und Mediokrität. Seine 1890 geäußerte Befürchtung, dass „der entsetzliche Capitalismus von oben und das begehrliche Treiben von unten wie zwei Schnellzüge auf demselben Geleise gegen einander prallen“ werden,20 verband sich mit der kulturpessimistischen Einschätzung, dass die ebenso von Demokratisierung wie Industrialisierung imprägnierte Kulturerfahrung der Moderne vor allen Dingen darin bestand, dass sie – in den Worten Lionel Gossmans – „Originalität abschliff, unabhängiges Verhalten entmutigte und alles der herrschenden Meinung des Augenblicks unterwarf“. 21 Es waren diese Befürchtungen eines intellektuellen Konformismus und einer geistigen Uniformität, die die „innere Nähe der Gegenwartskritik Burckhardts und Tocquevilles“ illustriert.22 Auch wenn Burckhardt in den intellektuellen Strömungen seiner Zeit ein „unzeitgemäßer“ Außenseiter war, hinterließ seine Auseinandersetzung mit Tocqueville doch auch Spuren, welche die nachfolgende helvetische Rezeption strukturierten.23 Insbesondere Emil Dürr, ein Basler Historiker, der zunächst mit Studien zu Burckhardt hervorgetreten war und im Rahmen der Gesamtausgabe der Werke Burckhardts 1929 auch die Vorlesungsnotizen zum Revolutionszeitalter in die Historischen Fragmente aus dem Nachlass integrierte, widmete sich in den 1920er Jahren intensiv der Tocqueville’schen Wahrnehmung der Schweiz, worauf in Kürze noch zurückzukommen sein wird.24 Zunächst sei aber auch darauf hingewiesen, 18 Vgl. hierzu Éric Keslassy, Le libéralisme de Tocqueville à l'épreuve du paupérisme, Paris, L'Harmattan 2000. Zu Burckhardts Wahrnehmung und deren Wandel vgl. Lionel Gossman, Basel in der Zeit Jacob Burckhardts. Eine Stadt und vier unzeitgemässe Denker, Basel: Schwabe 2005, S. 267–327. 19 Burckhardt, Geschichte des Revolutionszeitalters, S. 6–7. 20 Burckhardt an F. v. Preen, 27. Dezember 1890, in: Jacob Burckhardt, Briefe, hg. von Max Burckhardt, Basel: Verlag Schibili Doppler 1980, Bd. 9, S. 280. 21 Gossman, Basel in der Zeit Jacob Burckhardts, S. 319. 22 Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt, S. 277. 23 Gossman, Basel in der Zeit Jacob Burckhardts. Es sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass Burckhardts Grossneffe Carl Jacob Burckhardt sowohl zur deutschen Übersetzung von Tocquevilles Amerikabuch als auch zu den Erinnerungen Einleitungen beisteuerte, vgl. Alexis de Tocqueville, Erinnerungen. Mit einer Einleitung von Carl J. Burckhardt, Stuttgart: K. F. Koehler Verlag 1954; Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Eingeleitet und herausgegeben von J.P. Mayer, mit einem Vorwort von Carl J. Burckhardt, Frankfurt a.M./Hamburg: Fischer-Bücherei 1956. 24 Jacob Burckhardt, Historische Fragmente. Aus dem Nachlass gesammelt von Emil Dürr, hg. von Werner Kaegi, Basel 1942, S. IX. Vgl. Hans Conrad Peyer, „Emil Dürr“, in: Andreas

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dass die Auseinandersetzung mit L’Ancien Régime et la Révolution auch jenseits der Burckhardt’schen Rezeptionslinie fortgesetzt wurde. So integrierte etwa der Zürcher Historiker Eduard Fueter in seiner 1911 erschienenen bahnbrechenden Geschichte der neueren Historiographie (ein Buch, das beim Annales-Begründer Marc Bloch höchstes Ansehen genoss und von ihm in einer charakteristischen Gelehrtenformel nur „Le Fueter“ genannt wurde25) ein Kapitel zu Tocquevilles Beitrag zur „Umwandlung der Verfassungsgeschichte in Frankreich unter dem Einfluss der sozialen Bewegung“. Fueter machte darauf aufmerksam, dass in Tocquevilles Darstellung die „Erzählung“ in den Hintergrund rückte und stattdessen die historische „Analyse“ hervorstach, die insbesondere in Tocquevilles Bewusstsein für die ungleichzeitig zusammenwirkenden gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen und politischen Prozesse zur Geltung komme: „Seine geniale Darstellung berücksichtigt die langsam wirkenden Kräfte in derselben Weise wie die stärker hervortretenden, wenn schon kurzlebigeren Bewegungen, die die Entwicklung dieser Kräfte modifizieren.“26

Stärker auf die Quellen für Tocquevilles L’Ancien Régime et la Révolution fokussierte der in Lausanne wirkende Romanist René Bray 1944. Er machte auf die wichtige Rolle des in Lausanne und später in Bonn tätigen Historikers und Literaturwissenschaftlers Charles Monnard in der Entstehungsgeschichte von Tocquevilles Revolutionsbuch aufmerksam. Bray portraitierte Monnard als eine zentrale Vermittlungsfigur für Tocqueville, als sich dieser auf die Suche nach Quellen über die Wirkungen der Französischen Revolution in Deutschland machte.27 Im Zusammenhang mit dem Revolutionshistoriker Tocqueville ist schließlich auf Peter Stadlers Darstellung Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich 1789– 1871 von 1958 hinzuweisen, in welcher Tocqueville als der „neben Jacob Burckhardt […] faszinierendste ‚Prophet des Massenzeitalters‘“ beschrieben wurde, der in seinem Werk eine historische Deutung geliefert habe, „die über ihren zeitlichen Amiet, Anton Gössi (Hg.), Hermann Bächtold, Emil Dürr und der Historische Zirkel Basel. Eine Gedenkschrift, Basel 1984, S. 31–38. Zum Burckhardt’schen Erbe in Basel vgl. Christian Simon, „Zwischen Historismus und Geistiger Landesverteidigung. Geschichtswissenschaft an der Universität Basel im frühen 20. Jahrhundert“, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, 113 (2013), S. 53–100. Zu den historiographischen Entwicklungen in dieser Zeit allgemein vgl. Peter Stadler, „Zwischen Klassenkampf, Ständestaat und Genossenschaft. Politische Ideologien im schweizerischen Geschichtsbild der Zwischenkriegszeit“, in: Historische Zeitschrift 219 (1974), S. 290–358. 25 Marc Bloch, „L’histoire de l’histoire“, in: Annales d’histoire économique et sociale 6/41 (1936), S. 458. Zu Fueter vgl. auch Hans Conrad Peyer, Der Historiker Eduard Fueter, 1876– 1928. Leben und Werk, Zürich: Beer 1982. 26 Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiografie, München, Berlin: R. Oldenbourg 1911, S. 559. 27 Vgl. René Bray, „Tocqueville et Charles Monnard. Contribution à l’étude des sources allemandes de ‘L’Ancien Régime et la Révolution’“, in: Louis Junod, Sven Stelling-Micheaud (Hg.), Mélanges d’histoire et de littérature offerts à Monsieur Charles Gilliard, Lausanne 1944, S. 606–615. Zu Monnard vgl. auch Olivier Meuwly (Hg.), Charles Monnard 1790–1865. Un libéral atypique, Lausanne: Bibliothèque historique vaudoise 2016. Zur Entstehungsgeschichte von L’Ancien Régime et la Révolution generell vgl. Gennett, Tocqueville Unveiled.

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Umkreis hinaus die Problematik unserer Zeit seherisch aufzuzeigen“ vermocht habe.28 3. KLEINE BÜHNE UND GROSSES SCHAUSPIEL? TOCQUEVILLE ÜBER DIE SCHWEIZ Der Umstand, dass Tocqueville sich auch explizit mit der politischen Kultur, der Gesellschaft und der politischen Verfassung der Schweiz im Vorfeld und während den Revolutionen von 1848 auseinandersetzte, 1832 und 1836 zwei Reisen in die Schweiz unternahm, als Vorbereitung für das von ihm und Gustave de Beaumont verfasste Buch über das Gefängniswesen in den Vereinigten Staaten auch die Strafanstalten in Genf und Lausanne besuchte und zeitlebens mit Bekannten in der Schweiz korrespondierte, gab im schweizerischen „intellektuellen Feld“29 gelegentlich Anlass, sich mit manchen dieser Beziehungen ausführlicher auseinanderzusetzen. So wurde etwa Tocquevilles und Beaumonts Abhandlung zum Système pénitentiaire aux États-Unis in den schweizerischen Gefängnisreformdebatten der 1830er Jahre fast unmittelbar nach Erscheinen zur Kenntnis genommen. Johann Jakob Frei bezeichnete diese Schrift beispielsweise 1835 als „reichhaltiges Werk“, das nicht nur die Bedeutung des „religiösen Sinns“ in den neuzeitlichen Besserungsanstalten Nordamerikas herausstreiche, sondern auch auf die Fragwürdigkeit körperlicher Strafen hinweise, die durch ihre „Herabwürdigung des Menschen“ und ihre „Erstickung seines Ehrgefühls“ im Widerspruch zum Besserungsgedanke stehe.30

28 Vgl. Peter Stalder, Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich 1789–1871, Zürich: Berichthaus Zürich 1958, S. 229–248. Zitiert wird Jacob Peter Mayer, Alexis de Tocqueville. Prophet des Massenzeitalters, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1954. 29 Vgl. hierzu Pierre Bourdieu, „Feld der Macht, intellektuelles Feld und Klassenhabitus“, in: Pierre Bourdieu, Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld, hg. von Franz Schultheis, Konstanz: UVK 2011, S. 89–110. 30 Johann Jakob Frei, „Bericht über die eingegangenen Arbeiten, welche die Frage der Besserungshäuser beantworten“, in: Verhandlungen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft 21 (1835), S. 151–240, hier 157 & 222. Ich danke Urs Germann für diesen Hinweis. Tocquevilles Besuch in den Strafanstalten in Genf und Lausanne sowie die Rezeption seiner Gefängnis- und Strafreformtexte sind bisher nicht eingehend untersucht worden. Vgl. Alexis de Tocqueville, „Notes sur les prisons de Genève et de Lausanne“, in: Alexis de Tocqueville, Écrits sur le système pénitentiaire en France et à l’étranger, Œuvres complètes, Bd. IV/2, Paris 1984, S. 64–75. Bei der Gelegenheit dieses Besuches wurde Tocqueville auch mit dem bekannten Gefängnisreformer Christophe Aubanel bekannt. Zur Rolle Aubanels vgl. Robert Roth, Pratiques pénitentiaires et théorie sociale. L’exemple de la prison de Genève (1825–1862), Genève, Paris: Droz 1981. Zu Tocquevilles Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Strafvollzug und Gefängnisreformdiskurs vgl. Michelle Perrot, „Alexis de Tocqueville et les prisons“, in: Jacques G. Petit (Hg.), La prison, le bagne et l’histoire, Paris, Genève: Librairie des Méridiens/Médecine et Hygiène 1984, S. 103–113; Michelle Perrot, „Introduction: Tocqueville méconnu“, in: Alexis de Tocqueville, Écrits sur le système pénitentiaire en France et à l’étranger, Œuvres complètes, Bd. IV/1, Paris: Gallimard 1984, S. 7–44. Zu den sozialen und

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Die fast unmittelbare Rezeption von Beaumonts und Tocquevilles Gefängnisbuch steht in starkem Kontrast zur bemerkenswerten Verzögerung, mit welcher Tocquevilles Schriften über die Schweiz zur Kenntnis genommen wurden. Emil Dürr konstatierte 1925 mit deutlicher Irritation, dass die „Äußerungen Tocquevilles über die Schweiz sowohl in der schweizergeschichtlichen wie in der Literatur über Tocqueville sogut wie unbeachtet geblieben“ seien.31 Dürr stellte erstmals systematisch die Texte Tocquevilles über die Schweiz zusammen und stützte seine Darstellung auf die 1861 von Gustave de Beaumont herausgegebenen Œuvres et correspondance inédites d’Alexis de Tocqueville, auf die von Madame de Tocqueville besorgten Œuvres complètes von 1865, auf die 1893 erstmals veröffentlichten Souvenirs sowie auf die 1909 erschienene Correspondance entre Alexis de Tocqueville et Arthur Gobineau. Dürr betrachtete Tocquevilles Reise in die Schweiz 1836 als ein Versuch, die insbesondere im ersten Band von De la démocratie en Amérique zum Ausdruck gebrachte Problemstellung des neuzeitlichen Demokratisierungsprozesses zu vertiefen und die Schweiz explizit „als Republik und Demokratie zu studieren“.32 Tocquevilles zunächst äußerst kritische Einschätzungen über den Zustand und die Entwicklungsmöglichkeiten der politischen Verhältnisse in der Schweiz der 1830er Jahre ergaben sich in Dürrs Perspektive vor allem dadurch, dass Tocqueville diese durch die Linse seiner amerikanischen Deutungsmuster beurteilte. Dadurch sei auch der merklich nachsichtigere, wenn auch immer noch kritische Ton in seinem Rapport sur la démocratie en Suisse zu erklären, den er im Januar 1848, wenige Monate nach dem Sonderbundskrieg in der Schweiz und wenige Wochen vor dem Ausbruch der Februarrevolution in Paris an der Académie des sciences morales et politiques vortrug. Anlass war das 1843 vom konservativen Genfer Rechtswissenschaftler Antoine-Elisée Cherbuliez verfasste Buch De la démocratie en Suisse,33 aber Tocqueville hielt sich nicht lange bei diesem Buch auf, sondern situierte die zeitgenössischen Ereignisse in der Schweiz in den strukturellen Transformationsprozessen der demokratischen Revolution: „Was in der Schweiz geschieht, ist kein Einzelfall“, so Tocqueville, sondern „eine besondere Entwicklung innerhalb der allgemeinen Umwälzung, die den ganzen alten Bau der Institutionen Europas in den Ruin stürzt. Ist die Bühne auch klein, hat das Schauspiel daher auch sein

diskursiven Beziehungen zwischen den Straf- und Gefängnisreformern in Europa und Nordamerika vgl. Lars Hendrik Riemer, Das Netzwerk der „Gefängnisfreunde“ (1830–1872). Karl Josef Anton Mittermaiers Briefwechsel mit europäischen Strafvollzugsexperten, Frankfurt a.M.: Klostermann 2005. 31 Emil Dürr, „Die Demokratie in der Schweiz nach der Auffassung von Alexis de Tocqueville“, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 23 (1925), S. 225–279, hier 226. 32 Dürr, „Die Demokratie in der Schweiz nach der Auffassung von Alexis de Tocqueville“, S. 230. 33 Vgl. Antoine-Elisée Cherbuliez, De la démocratie en Suisse, Genève: AB. Cherbuliez 1843. Vgl. hierzu auch Alexis Keller, Le libéralisme sans la démocratie. La pensée républicaine d’Antoine-Elisée Cherbuliez (1797–1869), Lausanne: Payot Lausanne 2001.

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Größe.“34 In Dürrs Perspektive nahm Tocqueville in seinem Bericht eine „unromantische, ganz auf das angelsächsische Verfassungsschema eingestellte“ Analyse der eidgenössischen Verfassungsdebatten und deren historischen Ursprünge vor. Dürr zeigte sich beeindruckt von Tocquevilles Sensibilität für die komplexen kulturellen, konfessionellen und sprachlichen Bedingungen der Schweiz, von seiner systematischen Herausschälung der konfliktreichen repräsentativ-demokratischen und direkt-demokratischen Tendenzen sowie von Tocquevilles eigentümlicher Tendenz zu paradox-dialektischen Thesenbildungen in Bezug auf Konflikt und Integration: die konfliktreichen Auseinandersetzungen über die Zukunft der Eidgenossenschaft führten dazu, so resümierte Dürr Tocquevilles Argument, dass der politische Diskurs in der Schweiz aus seinen kantonalen und sprachlichen Einhegungen ausbrach und einen nationalen Kommunikationsraum hervorbrachte, der wiederum integrierende Effekte für die Bundesreform schuf.35 Insgesamt konstatierte Dürr in Tocquevilles Äußerungen über die Schweiz eine deutliche Wahrnehmungsverschiebung, deren Angelpunkt die Revolution von 1848 markierte: „Nun, nach 1848 und besonders im Spiegel der reaktionären Bewegung in Frankreich schienen ihm wohl einzig die Schweiz und deren Verfassungswerk ihn selbst, sein geistig-politisches Lebenswerk und seine Hoffnungen zu rechtfertigen.“36

Die von Dürr angestoßene Beschäftigung mit Tocquevilles Schriften über die Schweiz öffnete einen Resonanzraum, in dem sowohl in der schweizerischen als auch in der internationalen Forschung Echos folgten. 1935, im Jahr seiner Emigration in die Vereinigten Staaten, nahm der deutsche Soziologe und Max WeberSchüler Albert Salomon in seinem Aufsatz Tocqueville, Moralist and Sociologist in der von der New School for Social Research in New York herausgegebenen Zeitschrift Social Research auf Dürrs Tocqueville-Analyse Bezug und wertete diesen Text als Indikator für ein steigendes Interesse an den „vergangenen und gegenwärtigen Formen der Demokratie sowie den Problemen des demokratischen Föderalismus“.37 Im gleichen Jahr erschien zudem unter dem Titel Autorität und Freiheit eine von Salomon besorgte und mit einer Einleitung versehene Auswahl von Tocqueville-Texten in einem Zürcher Verlag.38 Dass Salomon zu diesem Zeitpunkt eine deutschsprachige Tocqueville-Ausgabe edierte, lässt sich laut Ulf Matthiesen als

34 Alexis de Tocqueville, „Bericht über die Demokratie in der Schweiz“ [1848], in: Harald Bluhm, Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Kleine politische Schriften, Berlin 2006, S. 163– 178, hier: 163. 35 Zu diesem charakteristischen Stil Tocquevilles vgl. Françoise Mélonio, „Tocqueville and the French“, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge Companion to Tocqueville, Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 337–358, hier 352. 36 Dürr, „Die Demokratie in der Schweiz nach der Auffassung von Alexis de Tocqueville“, S. 277. 37 Albert Salomon, „Tocqueville, Moralist and Sociologist”, in: Social Research 2 (1935), S. 405– 427, hier 425. 38 Alexis de Tocqueville, Autorität und Freiheit. Schriften, Reden und Briefe, ausgewählt und eingeleitet von Albert Salomon, Zürich, Leipzig, Stuttgart: Rascher 1935.

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ein „kaum verstecktes Plädoyer“ lesen, „nach dem traumatischen Scheitern von Weimar die antitotalitären amerikanischen Demokratieformen neu zu bedenken“.39 Im Schatten der von William E. Rappard 1938 diskutierten „Crisis of Democracy“40 und der totalitären Bedrohung entdeckte auch der Historiker und Professor für Zeitgeschichte an der Universität Genf Luc Monnier das Werk Tocquevilles. Geprägt vom Annales-Historiker Marc Bloch und von Henri Pirenne sowie vom Wirtschafts- und Verfassungshistoriker Rappard und insbesondere von Guglielmo Ferrero, einem italienischen Historiker, der 1930 nach mehreren Jahren Hausarrest unter der faschistischen Herrschaft eine Geschichtsprofessur in Genf annahm, wurde Monnier in den 1940er Jahren zu einem namhaften Tocqueville-Experten, von dem Giovanni Busino, der Lausanner Soziologe und Herausgeber der Revue européenne des sciences sociales, schrieb, dass er „eine perfekte Kenntnis der Werke Tocquevilles“ besessen habe.41 1942 gab Monnier die Souvenirs in der Gallimard-Reihe Mémoires du passé pour servir au temps présent heraus und versah sie mit einem ausführlichen Vorwort, auf dessen Grundlage die Berner Historikerin und Literaturkritikerin Elsbeth Spring später ihre detaillierte Analyse Tocquevilles Stellung zur Februarrevolution ausarbeitete.42 Dieser ersten Annäherung an das Werk von Tocqueville folgten Vertiefungen, die sich, abgesehen von kleineren Beiträgen zu Tocqueville et le colonialisme und Tocqueville et la Révolution de 48, vor allem um das Verhältnis zwischen Tocqueville und der Schweiz drehten.43 So recherchierte und analysierte Monnier etwa die Briefe, welche Tocqueville an seinen Genfer Freund Auguste de la Rive geschrieben hatte und die später in die Œuvres 39 Ulf Matthiesen, „‘Im Schatten einer endlosen grossen Zeit‘. Etappen der intellektuellen Biographie Albert Salomons“, in: Ilja Srubar (Hg.), Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933–1945, Frankfurt a.M. 1988, S. 299–350, hier: 325. Vgl. zudem Peter Gostmann, „Von Berlin nach New York. Albert Salomons Weg im intellektuellen Feld des 20. Jahrhunderts“, in: Peter Gostmann, Claudius Härpfer (Hg.), Verlassene Stufen der Reflexion. Albert Salomon und die Aufklärung der Soziologie, Wiesbaden: VS Verlag 2011, S. 21–55. 40 Vgl. William E. Rappard, The Crisis of Democracy, Chicago 1938. 41 Giovanni Busino, „Pour lire Luc Monnier“, in: Revue européenne des sciences sociales 15 (1977), S. 185–193, hier 191. 42 Vgl. Luc Monnier, „Introduction“, in: Alexis de Tocqueville, Souvenirs. Nouvelle édition conforme au texte original augmentée de fragments inédits et précédée d’une introduction de Luc Monnier, Paris: Gallimard 1942, S. 7–17; Elsbeth Spring, „Tocquevilles Stellung zur Februarrevolution“, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 12 (1954), S. 50–98. 43 Vgl. Luc Monnier, „Tocqueville et la révolution de 48“, in: Revue européenne des sciences sociales 15 (1977), S. 41–43; Luc Monnier, „Tocqueville et le colonialisme“, in: Revue européenne des sciences sociales 15 (1977), S. 44–46. Für neuere Beiträge zu Tocqueville und seinem Verhältnis zu Kolonialismus und Imperialismus vgl. Cheryl B. Welch, „Colonial Violence and the Rhetoric of Evasion. Tocqueville on Algeria », in: Political Theory 31 (2003), S. 235– 264; Jennifer Pitts, A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France, Princeton 2005; Alan S. Kahan, „Tocqueville: Liberalism and Imperialism”, in: Ralf Geenens, Helena Rosenblatt (Hg.), French Liberalism. From Montesquieu to the Present Day, Cambridge: Cambridge University Press 2012, S. 152–165; Ewa Atanassow, Kolonisation und Demokratie. Tocqueville neu überdacht, in: Harald Bluhm, Skadi Krause (Hg.), Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 263–290.

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complètes aufgenommen wurden.44 1960 steuerte er zudem den Beitrag Tocqueville et la Suisse für den Sammelband Alexis de Tocqueville. Livre du centenaire, 1859– 1959 bei, ein Buch, das in den Augen des amerikanischen Tocqueville-Forschers John Lukacs vom „wachsenden Interesse der Tocqueville-Studien in Europa“ zeugte.45 Monnier interessierte dabei weniger, Tocquevilles Beschäftigung mit der Schweiz unverhältnismäßig aufzuplustern, war er doch dezidiert der Meinung, dass die Schweiz in dessen intellektueller Entwicklung eine sehr bescheidene Rolle gespielt habe.46 Dass die Beschäftigung mit der Demokratie in der Schweiz einen nachweisbaren Einfluss auf Tocquevilles Theorieentwicklung gehabt hätte, der über jene Thesen hinauswies, welche bereits im Amerikabuch enthalten waren, davon konnte in Monniers Urteil keine Rede sein. Anders als manche seiner Kollegen sah er in Tocqueville auch weniger den „Propheten des Massenzeitalters“ mit dem man sich auf die Suche nach universellen und ewig gültigen Wahrheiten machen konnte, wie dies etwa zur gleichen Zeit Paulfritz Kellenberger in seinem Essay Mensch und Staat der Moderne bei Alexis de Tocqueville tat.47 Für Monnier war Tocqueville schlicht eine historisch interessante Figur, zu dessen Thesen über das Zeitalter der demokratischen Revolution und zu dessen Wahrnehmung der schweizerischen Demokratie er akribisch Quellen zusammentrug, um damit seinem eigenen, lakonisch formulierten Kontextualisierungsanspruch Rechnung zu tragen: „Um Tocqueville zu verstehen, muss man ihn in seiner Zeit und in seinem Milieu verorten“.48 „Weshalb das alles lesen,“, soll Monnier einmal gesagt haben, als er auf die insbesondere im Gefolge von Raymond Arons Wiederentdeckung Tocquevilles aufblühende sozial- und politikwissenschaftliche Forschung der 1950er und 1960er Jahre angesprochen wurde: „Ich brauche keine Exegeten, um mich ins Evangelium zu vertiefen.“49 Das Verhältnis von Tocqueville zur Schweiz ist seit den Pionierarbeiten von Dürr und Monnier verschiedentlich neu betrachtet worden. Zu nennen sind an dieser Stelle etwa die Auseinandersetzungen von Alfred Dufour Histoire et Constitution: Pellegrino Rossi et Alexis de Tocqueville face aux institutions politiques de la Suisse, Marc Vuilleumiers La Suisse de 1848: L’analyse de Tocqueville und Michel Ganzins Alexis de Tocqueville: De la critique de la Confédération Helvétique à la compréhension et à l’espoir. Während Ganzin im Wesentlichen die bereits bei Dürr 44 Luc Monnier, „Alexis de Tocqueville et Auguste de la Rive à travers leur correspondance”, in: Mélanges offerts à Paul-E. Martin, Genève 1961, S. 609–623. Wiederabgedruckt in: Revue européenne des sciences sociales 15 (1977), S. 26–40. 45 John Lukacs, „Rezension von Alexis de Tocqueville. Livre du centenaire, 1859–1959“, in: The Journal of Modern History 34 (1962), S. 345. 46 Luc Monnier, „Tocqueville et la Suisse”, in: Alexis de Tocqueville, Livre du Centenaire, 1859– 1959, hg. v. Centre National de la Recherche Scientifique, Paris: Éditions du Centre National de la Recherche Scientifique 1960, S. 101–113. Wiederabgedruckt in: Revue européenne des sciences sociales 15 (1977), S. 15–25. 47 Vgl. Paulfritz Kellenberger, Mensch und Staat der Moderne bei Alexis de Tocqueville, 1805– 1859, St. Gallen: Weiss 1954. Der Referenztext für eine solche Tocqueville-Interpretation war in dieser Zeit v.a. Mayer, Alexis de Tocqueville. 48 Monnier, „Tocqueville et la révolution de 48“, S. 42. 49 Busino, „Pour lire Luc Monnier“, S. 191.

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thematisierte Wahrnehmungsverschiebung um 1848 bestätigte, ergänzte Vuilleumier die bisherigen Kenntnisse zu Tocquevilles 1848er Rede mit neuen Quellen zur Kontextualisierung von Cherbuliez‘ Buch De la démocratie en Suisse und machte darauf aufmerksam, dass Tocqueville während seiner Zeit als Mitarbeiter der Zeitschrift Le Commerce 1844–1845 zwei kleine Artikel über die Schweiz beigesteuert hatte.50 Dufour arbeitete durch den Vergleich zwischen Tocquevilles und Rossis Sicht auf die Schweiz interessante Unterschiede in ihrer intellektuellen Sozialisation und in ihren Erkenntnisinteressen heraus und öffnete damit auch die Perspektive auf die sozialen Beziehungsgeflechte und intellektuellen Austauschprozesse, welche sich in den 1830er und 1840er Jahren in den liberalen Zirkeln zwischen Paris, Genf und London beobachten lassen – ein Untersuchungsfeld, auf das bereits Helmut Pappe in den 1960er Jahren aufmerksam gemacht hatte und das in den letzten Jahren insbesondere in der Forschung zu Constant, de Staël und Sismondi eine Blüte erfahren hat.51 4. TOCQUEVILLE UND DIE HELVETISCH-AMERIKANISCHE VERGLEICHSPERSPEKTIVE AUF DIE SISTER REPUBLICS Tocqueville lieferte im ersten Band von De la démocratie en Amérique eine umfassende Beschreibung und Analyse des amerikanischen Bundesstaates, die selbst amerikanische Zeitgenossen beeindruckte. „Kein Ausländer“, schrieb etwa John C. Spencer 1838 im Vorwort zur amerikanischen Übersetzung von Tocquevilles Buch, „hat je eine solch tiefe, klare und zutreffende Einsicht in die Maschinerie unserer 50 Vgl. Michel Ganzin, „Alexis de Tocqueville: De la critique de la Confédération Helvétique à la compréhension et à l’espoir (1815–1848)“, in: Michel Ganzin (Hg.), Genève et la Suisse dans la pensée politique. Actes du Colloque de Genève (14–15 septembre 2006), Aix-en-Provence: Presses universitaires d'Aix-Marseille 2007, S. 481–493; Marc Vuilleumier, „La Suisse de 1848. L’analyse de Tocqueville“, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 55 (2005), S. 149–174. Zu Tocquevilles Arbeit bei Le Commerce vgl. Roger Boesche, „Tocqueville and Le Commerce. A Newspaper Expressing His Unusual Liberalism”, in: Journal of the History of Ideas 44 (1983), S. 277–292. 51 Vgl. Alfred Dufour, „Histoire et constitution. Pellegrino Rossi et Alexis de Tocqueville face aux institutions politiques de la Suisse”, in: Schweizerischer Juristenverein (Hg.), Présence et actualité de la constitution dans l’ordre juridique. Mélanges offerts à la Société suisse des juristes pour son congrès 1991 à Genève, Bâle, Francfort-sur-le-Main 1991, S. 431–475; Helmut O. Pappe, „Sismondis Weggenossen”, in: Revue européenne des sciences sociales 1 (1963), S. 65–144; Helmut O. Pappe, „Sismondi, Constant and Tocqueville”, hg. von Richard Whatmore, in: Intellectual History Archive. Institute of Intellectual History (1998), URL: http://arts.st-andrews.ac.uk/intellectualhistory (letzter Aufruf: 16.04.2017). Für neuere Forschungsarbeiten vgl. Emannuelle Paulet-Grandguillot, Libéralisme et démocratie. De Sismondi à Constant à partir du Contrat Social (1801–1806), Genève: Slatkine 2010; Nadia Urbinati, „Republicanism after the French Revolution. The Case of Sismonde de Sismondi”, in: Journal of the History of Ideas 73/1 (2012), S. 95–109; Béla Kapossy, Pascal Bridel (Hg.), Sismondi. Républicanisme moderne et libéralisme critique, Genève 2013; Etienne Hofmann, François Rosset, Le groupe de Coppet. Une constellation d’intellectuels européens, Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes 2005.

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komplizierten Systeme der Bundes- und Einzelstaatsregierungen gezeigt“.52 Zu ähnlichen Einschätzungen kamen auch schweizerische Kommentatoren: „Von allen Arbeiten, die in den letzten Jahren über die Vereinigten Staaten erschienen sind, verdient keine eine solch ernsthafte Aufmerksamkeit wie jene von M. de Tocqueville“, hieß es etwa 1835 in der für angelsächsische Debatten und Themen besonders aufnahmewilligen Genfer Zeitschrift Bibliothèque Universelle des sciences, belles-lettres, et arts.53 Dass Tocquevilles Démocratie unmittelbar nach seinem Erscheinen intensiv diskutiert wurde, steht unter anderem damit im Zusammenhang, dass seine Veröffentlichung zeitlich mit kontroversen öffentlichen Debatten über die Reform des schweizerischen Bundesvertrages zusammenfiel. Mit den kantonalen Verfassungsrevolutionen 1830 und den daran anschließenden Bestrebungen zu einer Bundesreform wurden die schweizerischen Erfahrungen mit föderal-republikanischen Strukturen zusehends in eine komparative Perspektive zu den Entwicklungstendenzen der amerikanischen Föderativrepublik gestellt, was den intellektuellen Nährboden für Tocquevilles Buch besonders fruchtbar machte. Mit anderen Worten: Tocqueville schilderte die Funktionsweise eines modernen Bundesstaates, der nun immer deutlicher den politischen Erwartungshorizont von schweizerischen Liberalen und Radikalen wie Pellegrino Rossi, James Fazy, Ignaz Paul Vital Troxler, Heinrich Zschokke oder Karl Kasthofer zu prägen begann.54 Der an der Genfer Akademie lehrende Historiker und Ökonom Pellegrino Rossi, der 1832 mit dem sogenannten Rossi-Plan ein umfassendes Revisionsprojekt des Bundesvertrags von 1815 skizzierte und zugleich ein Kollege Tocquevilles in der Académie des sciences morales et politiques war, veröffentlichte beispielsweise 1840 in der Revue des deux Mondes eine ausführliche Rezension des zweiten Bandes der Démocratie. Unter der Hand gerann ihm der Text freilich zu einer Besprechung des Gesamtwerks, war er doch der Ansicht, dass die beiden Teile „ein einziges Werk“ bildeten: „Im ersten studiert der Autor den Einfluss der Demokratie auf die Gesetze, die Institutionen und die politischen Sitten der amerikanischen Gesellschaft; im zweiten macht er uns mit den Veränderungen bekannt, die der demokratische Geist in allen anderen gesellschaftlichen Belangen eingeführt hat, mit den Meinungen und Empfindungen, welchen er zur Geburt verhalf; kurz: mit der Bürgergesellschaft, die er geschaffen hat.“55

Für Rossi waren Tocquevilles Ausführungen zur Demokratie in Amerika gerade auch deshalb richtungsweisend, weil dieser einerseits eine vergleichende Methodik entwickelt hatte, die ihn zu generalisierenden und zugleich differenzierten Thesen

52 John Canfield Spencer, „Preface to the American Edition”, in: Alexis de Tocqueville, Democracy in America, New York: Adlard and Saunders 1838, S. iii–ix, hier viii. 53 Bibliothèque Universelle des sciences, belles-lettres, et arts. Littérature 58 (1835), S. 345. 54 Vgl. Juri Auderset, Transatlantischer Föderalismus. Zur politischen Sprache des Föderalismus im Zeitalter der Revolutionen, 1787–1848, Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2016, S. 140– 155. 55 Vgl. Pellegrino Rossi, „De la démocratie en Amérique, Vol. II“, in: La Revue des deux Mondes, 4ème série, 23 (1840), S. 886–904, hier 892. Zu Rossi vgl. Alfred Dufour, Hommage à Pellegrino Rossi (1787–1848). Genevois et Suisse à vocation européenne, Basel, Genf, München: Helbing & Lichtenhahn 1998.

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über den neuzeitlichen Demokratisierungsprozess führte, und andererseits die gesellschaftlichen Dynamiken dieses Prozesses an institutionelle Einhegungen zurückband.56 Damit skizzierte Tocqueville gleichsam die Herausforderung, vor welcher Rossi die Eidgenossenschaft stehen sah: die durch die demokratische Revolution freigesetzten Energien in bundesstaatliche Institutionen zu lenken, durch welche individuelle Freiheitsbedrohungen gebändigt und kollektive Freiheit ermöglicht würden. Auch nach der Gründung des Bundesstaates 1848 blieb Tocqueville ein wichtiger Referenzautor in den an Auftrieb gewinnenden Staatswissenschaften und in der vergleichenden Verfassungsgeschichte.57 Insbesondere in jenem Prozess, der kürzlich als „Americanization of Swiss Legal Culture“ bezeichnet wurde,58 lieferte Tocqueville ein immer wieder abrufbares Orientierungswissen über die Institutionsarrangements des amerikanischen und des schweizerischen Bundesstaates. Johann Jakob Rüttimann, ein am Eidgenössischen Polytechnikum (der späteren ETH Zürich) lehrender Staatsrechtler, der intensive Kontakte nach Heidelberg zu Karl Joseph Anton Mittermaier pflegte, in dessen Kritischer Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes Robert von Mohl 1844 seine berühmte Auseinandersetzung mit Tocqueville veröffentlicht hatte,59 meinte beispielsweise 1867 in der Einleitung zu seiner Abhandlung Das nordamerikanische Bundesstaatsrecht verglichen mit den politischen Einrichtungen der Schweiz, dass er sich in seiner Darstellung vor allem an das „klassische (ich möchte sagen an das unsterbliche) Werk Tocqueville’s De la démocratie en Amérique“ gehalten habe.60 Damit begründete Rüttimann eine staatsrechtliche und verfassungshistorische Forschungstradition, in welcher die institutionellen Strukturen der beiden Sister Republics analysiert und verglichen wurden.61 Auch wenn in dieser in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von William E. Rappard, Charles Borgeaud, Fritz Fleiner, Eduard His, Dietrich Schindler und Hans Huber fortgesetzten Tradition kaum 56 Rossi, „De la démocratie en Amérique“, S. 886. 57 Vgl. zu den Entwicklungen dieser Disziplinen Hans Ulrich Jost, „Sozialwissenschaften und Staat im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, in: Claudia Honegger, Hans Ulrich Jost, Susanne Burren, Pascal Jurt, Konkurrierende Deutungen des Sozialen. Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft, Zürich: Chronos Verlag 2007, S. 43–80. 58 Jens Drolshammer, The Americanization of Swiss Legal Culture. Highlights of Cultural Encounters in an Evolving Transatlantic History of Law, Bern: Stämpfli Publishers 2016. 59 Vgl. Robert von Mohl, „Entwickelung der Demokratie in Nordamerika und der Schweiz“, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes, 1844, Bd. 16, S. 275–311. 60 Johann Jakob Rüttimann, Das nordamerikanische Bundesstaatsrecht verglichen mit den politischen Einrichtungen der Schweiz, Zürich 1867, Bd. 1, S. VII. Für eine weitere Würdigung von Tocquevilles „kritischem Meisterwerk“ durch einen schweizerischen Staatsrechtler zu dieser Zeit vgl. Johann Caspar Bluntschli, Geschichte des Allgemeinen Staatsrechts und der Politik, München: Cotta 1864, S. 623–625. 61 James Hutson, The Sister Republics. Die Schweiz und die Vereinigten Staaten 1776 bis heute, Bern: Stämpfli 1992; George Athan Billias, American Constitutionalism Heard Round the World, 1776–1989. A Global Perspective, New York: New York University Press 2009.

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explizite, in Form von eigenständigen Publikationen sichtbar werdende Auseinandersetzungen mit Tocqueville zu finden sind, zeigt doch ein Blick in deren Texte, dass Tocqueville neben Lord James Bryce zu einem der meistkonsultierten Autoren avancierte, wenn es um die Bedeutung amerikanischer Rechtsstrukturen in vergleichender Perspektive ging. Die komparative Beschäftigung mit Konstitutionalismus, Föderalismus, Gewaltenteilung, Referendum und Initiative, Verfassungsgerichtsbarkeit und der gesellschaftlichen Rolle von Juristen in demokratisch verfassten Staaten fanden in zahlreichen Studien in Tocquevilles Werken Inspiration und Information. So finden sich etwa in Borgeauds Le fédéralisme en Suisse et aux EtatsUnis ebenso mehrfache Hinweise auf Tocquevilles De la démocratie en Amérique wie in Eduard His‘ Amerikanische Einflüsse im Schweizerischen Verfassungsrecht oder in Dietrich Schindlers Arbeit über die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Schweiz.62 In diese Tradition der vergleichenden Verfassungsgeschichte, kombiniert mit sozial- und wirtschaftshistorischen Perspektiven, gehören auch die zahlreichen Arbeiten von William E. Rappard, der von Alfred Dufour nicht zufälligerweise „zwischen Marx und Tocqueville“ verortet wurde.63 Nach seinen Studien in Genf, Berlin und München arbeitete Rappard 1912 als Assistenzprofessor an der Harvard University beim Wirtschaftshistoriker und Ökonomen Frank William Taussig und übernahm nach seiner Rückkehr 1913 die Professur für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Genf. Diese transatlantischen Beziehungsgeflechte schufen die intellektuellen Dispositionen, auf deren Basis sich Rappard wiederholt mit Tocqueville und seinen Erkenntnissen über die amerikanische Demokratie sowie mit deren Aussagekraft für die schweizerische Demokratie auseinandersetzte. Die Spannweite dieser Arbeiten ist groß. Sie reicht von eher feierlichen Schriften wie der 1916 vorgelegten Broschüre Notre Grande République Sœur, über penibel recherchierte Analysen wie der 1941 entstandene Aufsatz Pennsylvania and Switzerland: The American Origins of the Swiss Constitution bis hin zur groß angelegten Studie L’individu et l’État dans l’évolution constitutionnelle de la Suisse von 1936.64 In all

62 Vgl. Charles Borgeaud, „Le Fédéralisme en Suisse et aux Etats-Unis“, in: La Revue de Genève 6 (1923), S. 457–469 und 601–618; Eduard His, „Amerikanische Einflüsse im Schweizer Verfassungsrecht“, in: Festgabe der Basler Juristenfakultät und des Basler Juristenvereins zum Schweizerischen Juristentag, Basel: Helbing & Lichtenhahn 1920, S. 81–110; Dietrich Schindler, „Die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Schweiz“, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 44 (1925), S. 19–62. 63 Alfred Dufour, „Entre Marx et Tocqueville. Un grand libéral ressuscité: W.E. Rappard“, in: Revue européenne des sciences sociales 34 (1996), S. 147–153. Vgl. zudem Victor Monnier, William E. Rappard. Défenseur des libertés, serviteur de son pays et de la communauté internationale, Basel: Schwabe 1995; Martin Lengwiler, „Undiszipliniert und prägend. Die Sozialgeschichte in der schweizerischen Historiographie des 20. Jahrhunderts“, in: Pascal Maeder, Barbara Lüthi, Thomas Mergel (Hg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 57–87. 64 Vgl. William E. Rappard, Notre grande république sœur. Aperçu sur l'évolution des Etats-Unis et sur les rapports suisses-américains, Genève: Sonor 1916; William E. Rappard, „Pennsylvania and Switzerland. The American Origins of the Swiss Constitution“, in: Hu Shih, Newton

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diesen Schriften ist der Einfluss von Tocquevilles Thesen über Demokratie, Machtzentralisierung, Bundesstaatlichkeit und Individualismus unübersehbar und in zahlreichen Verweisen dokumentiert. Verknüpfte Rappard in seinen Arbeiten noch wirtschafts-, sozial- und verfassungshistorische Perspektiven und war damit auch Tocquevilles epistemischer Herangehensweise näher, so lässt sich in diesem Diskursfeld mithin auch eine sich zuspitzende Engführung auf partikuläre Staats-, Verfassungs- und Rechtsfragen beobachten. Dies führte dazu, dass Tocqueville mit seiner ungleich komplexeren, soziale und kulturelle Faktoren berücksichtigenden Darstellung zuweilen stärker in den Hintergrund rückte und zusehends als veraltete Quelle für rechtliche und politische Sachverhalte in Übersee gesehen wurde. Bezeichnenderweise kam die 1940 vom Amerikaner Myron Luehrs Tripp an der Universität Zürich eingereichte Dissertation The Swiss and United States Federal Constitutional Systems gänzlich ohne Referenzen auf Tocqueville aus.65 In der vom Verfassungs- und Wirtschaftshistoriker Hans Nabholz betreuten Arbeit von Tripp verschwand Tocqueville ganz im Schatten der eher systematisierend und verfassungsrechtlich argumentierenden Arbeiten von James Bryce oder Thomas Cooley.66 Im Überblick auf diese rechtswissenschaftlich und verfassungshistorisch geprägte Rezeptionslinie fällt auf, dass ihre Verdichtungsphasen mit den Krisenkonjunkturen des 20. Jahrhunderts zusammenfallen. Offensichtlich war der Bedarf nach einer vergleichenden Verortung des institutionellen Zusammenhangs zwischen Demokratie, Republik und Bundesstaat in der Schweiz in jenen Jahren am dringlichsten, in denen die beiden Weltkriege, die oft konstatierte Krise, wenn nicht Edwards, Mark A. May (Hg.), Studies in Political Science and Sociology. University of Pennsylvania Bicentennial Conference, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1941, S. 49– 121; William E. Rappard, L’individu et l’État dans l’évolution constitutionnelle de la Suisse, Zürich: Éditions Polygraphiques S.A. 1936. Weitere Arbeiten mit Tocqueville-Bezügen sind: William E. Rappard, „The Initiative, Referendum and Recall in Switzerland“, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 43 (1912), S. 110–145; William E. Rappard, „Le contrôle de la constitutionalité des lois fédérales par le juge aux Etats-Unis et en Suisse“, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 53 (1934), S. 36–146. 65 Myron Luehrs Tripp, The Swiss and United States Federal Constitutional Systems. A Comparative Study, Paris: Librairie Sociale et Économique 1940. Diese Arbeit wurde zwei Jahre später vom Bundesrichter und späteren Professor für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht an der Universität Bern, Hans Huber, auf Anregung des Zürcher Historikers Max Silberschmidt ins Deutsche übertragen, vgl. Myron Luehrs Tripp, Der schweizerische und amerikanische Bundesstaat, aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Hans Huber, Zürich: Polygraphischer Verlag 1942. Silberschmidt selbst hatte 1941 eine umfassende sozial- und wirtschaftshistorische Darstellung zur jüngeren Geschichte Nordamerikas vorgelegt und diese damit als Lehr- und Forschungsfeld an der Universität Zürich etabliert, vgl. Max Silberschmidt, Der Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika zur Weltmacht. Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert, Aarau: Sauerländer 1941. Zu Silberschmidt vgl. Jan S. Krulis-Randa, Robert Schneebeli, Hansjörg Siegenthaler (Hg.), Geschichte in der Gegenwart. Festgabe für Max Silberschmidt, Zürich: Europa Verlag 1981. 66 Vgl. James Bryce, The American Commonwealth, London: Macmillan 1888; James Bryce, Modern Democracies, London: MacMillan 1921; Thomas M. Cooley, The General Principles of Constitutional Law in the United States of America, Boston: Little, Brown 1880.

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gar der „Untergang“ (Eric J. Hobsbawm) des Liberalismus und der Aufstieg autoritärer und totalitärer Herrschaftsformen im Europa der Zwischenkriegszeit tradierte Gewissheiten und Annahmen über diesen Zusammenhang fundamental infrage stellten.67 So mahnte etwa Hans Huber 1942, wie wichtig es sei, „dass die geistigen Beziehungen zwischen dem großen Land mit dem Sternenbanner und der kleinen Alpenrepublick mit dem weißen Kreuz im roten Feld auch in schwerer Zeit“ erhalten und verdichtet würden.68 Während Tocquevilles Bedeutung in der staatsrechtlichen und verfassungshistorischen Literatur allmählich schwand, kristallisierte sich umgekehrt seine intellektuelle Orientierungsfunktion im diskursiven Feld eines „antitotalitären Liberalismus“ immer deutlicher heraus.69 5. SCHIFFBRUCH MIT ZUSCHAUER? TOCQUEVILLE UND DIE DISKURSIVE FORMATION EINES ANTITOTALITÄREN LIBERALISMUS 1939 veröffentlichte der langjährige Chef des wissenschaftlichen Feuilletons der Neuen Zürcher Zeitung und spätere Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich Hans Barth in der stark von emigrierten Wissenschaftlern geprägten amerikanischen Zeitschrift The Review of Politics eine Analyse der jüngsten politischen Entwicklungen in Europa. In Reality and Ideology of the Totalitarian State schilderte er die zeitgenössische Infragestellung demokratisch-parlamentarischer Deliberation sowie den parallel erfolgenden Aufstieg der europäischen Diktaturen mitsamt ihrer „Beschwörung der Macht“ und ihres „Mythos der direkten Tat“.70 Im gleichen Jahrgang der Review of Politics, die sich von Beginn weg als ein Forum für die Theoretisierung des Totalitarismusbegriffs verstand und unter anderen auch Hannah Arendt eine publizistische Plattform bot,71 veröffentliche Albert Salomon seinen Aufsatz Tocqueville’s Philosophy of Freedom.72 Vier Jahre später nahm Hans Barth das Erscheinen der von Luc Monnier besorgten Ausgabe der Souvenirs 67 Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 143. Vgl. hierzu auch die Beiträge in Tim B. Müller, Adam Tooze (Hg.), Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg: Hamburger Edition 2015; sowie Anselm Doering-Manteuffel, Jörn Leonhard (Hg.), Liberalismus im 20. Jahrhundert, tuttgart: Franz Steiner Verlag 2015. 68 Hans Huber, „Vorwort des Übersetzers“, in: Myron Luehrs Tripp, Der schweizerische und amerikanische Bundesstaat, aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Hans Huber, Zürich, Polygraphischer Verlag 1942, S. V–VI, hier V. 69 Vgl. zu diesem Begriff Samuel Moyn, „Introduction: Antitotalitarianism and After”, in: Pierre Rosanvallon, Democracy. Past and Future, hg. von Samuel Moyn, New York: Columbia University Press 2006, S. 1–28, hier 2. 70 Hans Barth, „Reality and Ideology of the Totalitarian State”, in: The Review of Politics 1 (1939), S. 275–306, hier 306. 71 Vgl. James A. McAdams, „Introduction. The Origins of the Review of Politics”, in: James A. McAdams (Hg.), The Crisis of Modern Times. Perspectives from The Review of Politics, 1939– 1962, Notre Dame: University of Notre Dame Press 2007, S. 1–28. 72 Vgl. Albert Salomon, „Tocqueville’s Philosophy of Freedom. A Trend Towards Concrete Sociology”, in: The Review of Politics 1 (1939), S. 400–431.

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zum Anlass, um in seinem Buch Fluten und Dämme Tocqueville ein eigenes Kapitel zu widmen und dabei auf Guido de Ruggieros Geschichte des Liberalismus in Europa zu verweisen, der im Werk des Franzosen „einen Wendepunkt in der Orientierung des liberalen Denkens gegenüber einem veränderten geschichtlichen Bereich“ ausgemacht hatte.73 Im gleichen Jahr veröffentlichte der Basler Historiker Adolf Gasser seine maßgeblich von Tocqueville beeinflusste Schrift Gemeindefreiheit als Rettung Europas.74 In diesen wenigen Bezügen zeichnen sich die groben Konturen einer auch in der Schweiz verankerten transnationalen Diskursgemeinschaft ab, in welcher in den späten 1930er Jahren im Zeichen eines antitotalitär begründeten Liberalismus eine intensive Beschäftigung mit Tocqueville einsetzte.75 War Tocqueville bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als mahnende Stimme vor einem modernen Cäsarismus betrachtet worden, wurde er nun in der Zwischenkriegszeit zum Anatomen protototalitärer Verhältnisse stilisiert, dessen politische Beobachtungsschärfe zum besseren Verständnis einer krisengeschüttelten und von der totalitären Bedrohung heimgesuchten Gegenwart mobilisiert wurde. Paradigmatisch lässt sich dies an Hans Barth verdeutlichen, der von Hermann Lübbe einmal als „politischer Philosoph in der Tradition des europäischen Liberalismus“ charakterisiert wurde.76 Sein 1943 erschienenes Buch Fluten und Dämme spielte bereits im Titel auf die bei Tocqueville omnipräsente nautische Metaphorik an. Gegen die von Tocqueville als „Flut“ wahrgenommene „permanente Revolution des 19. Jahrhunderts“ und die damit einhergehende „Nivellierung der Lebensbedingungen“ scheine es „keinen Damm“ zu geben, so Barth, die „geschichtliche Gegebenheit“ eines „ständigen Anwachsens der Staatsmacht“, die „dann selbstgesetzlich in einen schrankenlosen Despotismus“ umschlage, sei nicht nur „das charakteristische Merkmal des revolutionären Zeitalters“, sondern bleibe „unser eigenstes Problem.“77 Im Vorwort meinte Barth zudem, dass es die explizite Absicht seiner Ausführungen sei, „die 73 Vgl. Hans Barth, Fluten und Dämme. Der philosophische Gedanke in der Politik, Zürich 1943, S. 109–123; Guido De Ruggiero, Geschichte des Liberalismus in Europa, München 1930, S. 179. 74 Vgl. Adolf Gasser, Gemeindefreiheit als Rettung Europas. Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung, Basel: Verlag "Bücherfreunde" 1943. 75 Vgl. hierzu auch Harold J. Laski, “Alexis de Tocqueville and Democracy”, in: F.J.C. Hearnshaw (Hg.), The Social and Political Ideas of some Representative Thinkers of the Victorian Age, New York, London 1933 (Reprint: New York: Barnes & Noble 1967), S. 100–115; George Wilson Pierson, Tocqueville and Beaumont in America, New York: Oxford University Press 1938; Jacob Peter Mayer u.a., Political Thought. The European Tradition, London: J.M. Dent & Sons 1939. 76 Hermann Lübbe, „Einleitung“, in: Hans Barth, Denken in der Zeit. Philosophisch-politische Beiträge in der Neuen Zürcher Zeitung 1932–1964, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1988, S. 7–13, hier 10. Vgl. zudem auch die Einschätzungen von Reinhard Bendix, „Foreword“, in: Hans Barth, Truth and Ideology, Berkeley: University of California Press 1976, S. vii–xiii; Iring Fetscher, „Hans Barth“, in: Politische Vierteljahresschrift 6 (1965), S. 242–243; sowie Richard Reich (Hg.), Humanität und politische Verantwortung, Erlenbach-Zürich, Stuttgart: Eugen Rentsch Verlag 1964. 77 Barth, Fluten und Dämme, S. 118–121.

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Auseinandersetzung mit den geistig-politischen Strömungen der Gegenwart, mit Ideologie und Wirklichkeit des totalen Staates“ im Gegenlicht historischer und philosophischer Erkenntnis voranzutreiben und dadurch schärfer zu sehen. 78 Tocqueville lieferte hierfür gleichsam das Brennglas. Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als sich in der Schweiz das Bewusstsein verbreitete, „inmitten eines in Trümmern versinkenden Europas noch einmal davongekommen zu sein“79 und man sich bisweilen – um ein zentrales Bild aus Hans Blumenbergs Metaphorologie zu variieren80 – als Zuschauer des europäischen Schiffsbruchs zu betrachten begann, darf man sich zumindest manche dieser helvetischen Zuschauer zuweilen mit einem Tocqueville-Band unter dem Arm vorstellen. So setzte Hans Barth etwa seine Beschäftigung mit Tocqueville fort, die sich schließlich noch einmal in seinem Essay Alexis de Tocqueville und das 20. Jahrhundert verdichtete.81 Darin portraitierte Barth Tocqueville als „Staatsphilosophen, Moralisten und Erforscher der Struktur und Tendenz der neuzeitlichen Gesellschaft“. Gleichzeitig zog er seiner Tocqueville-Lektüre nun eine deutliche sozialpädagogische Note ein, die erst vor dem Erfahrungshintergrund des „Postwar“ nachvollziehbar wird.82 Ähnlich wie zur gleichen Zeit Jacob Peter Mayer, der nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege und der „Entstehung der sogenannten totalitären Staaten“ ein „neues Durchdenken der politischen und gesellschaftlichen Lehren Tocquevilles“ forderte, sah auch Barth die Zeit reif für eine umfassende Beschäftigung mit dessen Werk.83 Tocquevilles Anliegen einer „Erziehung zur Demokratie“ war für Barth nicht zuletzt deshalb von größter Gegenwartsrelevanz, weil das Umschlagen von demokratischer in totalitäre Herrschaft die Notwendigkeit einer „Erziehung zur anspruchsvollsten politischen Lebensreform“ in aller Schärfe deutlich gemacht habe.84 Seine Feststellung, dass Tocqueville „keineswegs so viel gelesen und bedacht wird, wie er es verdient“, koppelte Barth deshalb an die Aufforderung „seine Schriften zur Hand“ zu nehmen und sich „ihrem Einfluss“ in der „wohl begründeten Erwartung“ auszusetzen, dass „ihre Wirkung auf alle Fälle in höchstem Maße förderlich für das Verständnis unseres eigenen Zeitalters“ sein

78 Barth, Fluten und Dämme, S. 5. 79 Jakob Tanner, „Zwischen ‚American Way of Life‘ und ‚Geistiger Landesverteidigung‘. Gesellschaftliche Widersprüche in der Schweiz der fünfziger Jahre“, in: Unsere Kunstdenkmäler 43 (1992), S. 351–363, hier 360. 80 Vgl. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. 81 Vgl. Hans Barth, „Alexis de Tocqueville und das 20. Jahrhundert“, in: Civitas 12 (1956), S. 3– 10; Hans Barth, „Alexis de Tocqueville und das 20. Jahrhundert“, in: Josef Derbolav, Friedhelm Nicolin (Hg.), Erkenntnis und Verantwortung. Festschrift für Theodor Litt, Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann 1960, S. 167–182. 82 Vgl. Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, New York: Penguin Press 2005. 83 Mayer, Alexis de Tocqueville, S. 12. 84 Hans Barth, „Alexis de Tocqueville. Makelloser und zwiespältiger Ruhm (1949)“, in: Hans Barth, Denken in der Zeit. Philosophisch-politische Beiträge in der Neuen Zürcher Zeitung 1932–1964, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1988, S. 149–151.

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werde.85 Im weiteren Umfeld Barths an der Universität Zürich erschienen in diesem intellektuellen Kontext einer antitotalitär-liberalen Neuorientierung der 1950er Jahre denn auch mehrere Promotionsschriften, die sich mit Aspekten des Tocqueville’schen Werks beschäftigten, so etwa Martin Meyers Der Begriff der Freiheit im Denken Alexis de Tocquevilles oder Niklas Peter Barths Die Idee der Freiheit und der Demokratie bei Alexis de Tocqueville.86 Für die deutschsprachige Tocqueville-Rezeption über den engeren schweizerischen Kontext hinaus relevant war zudem das Engagement des Berner Kultursoziologen und Übersetzers Hans Zbinden. Zbinden, der seit 1950 an der Universität Bern Kultursoziologie und -kritik lehrte und zwischen 1953 und 1967 als Präsident des Schweizerischen Schriftstellervereins amtierte, begann sich ebenfalls in der Zeit des Zweiten Weltkriegs für die Werke Benjamin Constants und Alexis de Tocquevilles zu interessieren. 1942 gab er eine deutsche Übersetzung von Constants De l’esprit de conquête et de l’usurpation heraus, in deren Einleitung er anspielungsreich die von Constant dargestellten Mechanismen der Machtusurpation und Despotie im Zeitalter der postrevolutionären Restauration in Analogie zu seiner Gegenwart stellte.87 Mitte der 1950er Jahre, als sich im deutschsprachigen Raum Anzeichen einer „Tocqueville-Renaissance“ bemerkbar machten und er zeitweilig „für weite Kreise zu einer Sensation“ geworden war,88 bemühte sich Zbinden, in Zusammenarbeit mit Theodor Eschenburg und Jacob Peter Mayer, der zeitgleich bei Gallimard die Œuvres complètes herausgab, auch eine deutsche Übertragung zu realisieren. Aus dem Projekt einer zunächst auf acht Bände angelegten Ausgabe der Tocqueville’schen Werke in der Deutschen Verlagsanstalt sind letztlich 1959 und 1962 nur die beiden von Zbinden übersetzten Bände Über die Demokratie in Amerika erschienen. Die Episode des abgerissenen Editionsprojektes ist für die deutschsprachige Rezeption Tocquevilles in der Nachkriegszeit ebenso symptomatisch wie Zbindens schwierige Suche nach einer Finanzierung für seine Übersetzungsarbeit. Eine Anfrage bei der Pro Helvetia, einer Kulturförderungsstiftung, die 1939 im Zu-

85 Hans Barth, „Alexis de Tocqueville und das 20. Jahrhundert“, in: Josef Derbolav, Friedhelm Nicolin, Friedhelm (Hg.), Erkenntnis und Verantwortung. Festschrift für Theodor Litt, Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann 1960, S. 167–182, hier 168, 171, 174–178. 86 Vgl. Martin Meyer, Der Begriff der Freiheit im Denken Alexis de Tocquevilles, Horgen-Zürich: Pädagogischer Verlag Schwann 1955; Niklas Peter Barth, Die Idee der Freiheit und der Demokratie bei Alexis de Tocqueville, Aarau: Keller 1953. 87 Vgl. Benjamin Constant, Über die Gewalt. Vom Geist der Eroberung und von der Anmassung der Macht, aus dem Französischen übertragen und herausgegeben von Hans Zbinden, Bern: Herbert Lang 1942. 88 Eberhard Kessel, „Das Tocqueville-Problem. Eine Auseinandersetzung mit der neuesten Literatur“, in: Jahrbuch für Amerikastudien 1 (1956), S. 168–176, hier 168; Carl J. Burckhardt, Bildnisse, Frankfurt a. Main: S. Fischer Verlag 1958, S. 92. Vgl. hierzu auch Martina Steber, „‘The West‘, Tocqueville and West German Conservatism Form the 1950s to the 1970s”, in: Riccardo Bavaj, Martina Steber (Hg.), Germany and „the West”. The History of a Concept, New York, Oxford: Berghahn Books 2015, S. 230–245.

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sammenhang mit der sogenannten „geistigen Landesverteidigung“ gegründet worden war,89 wurde beispielsweise mit der Begründung zurückgewiesen, „dass das Tocqueville’sche Werk weder nach seinem Gegenstand noch nach der Person des Verfassers die Schweiz unmittelbar“ angehe und dass man „die Aufgabe, Tocqueville den deutschsprachigen Kulturgebieten im allgemeinen wieder näherzubringen, nicht als ausschlaggebend“ betrachte.90 Die in dieser Begründung sichtbar werdende Tendenz zur nationalen Nabelschau, die paradoxerweise neben dem Bild der Schweiz „als Drehscheibe für gesamteuropäisches Ideengut“ zum facettenreichen und ambivalenten Phänomen der in die „Kultur des Kalten Krieges“ hineindauernden, nun antikommunistisch aufgeladenen „geistigen Landesverteidigung“ gehörte,91 gab in den frühen 1960er Jahren im intellektuellen Feld der Schweiz vermehrt Anlass zu Kritik. So warnte etwa der Historiker Jean Rudolf von Salis 1961, dass der „Rückzug in ein geistiges Réduit, das Genügen am eigenen Schaffen“ und „mangelnder Kontakt mit der Kultur und Wissenschaft des Auslandes“ zur „Verkümmerung“ führen müssten.92 Ähnlich sah dies auch Hans Zbinden. In einer Reaktion auf Karl Schmids Unbehagen im Kleinstaat, ein Buch, das in mancherlei Hinsicht die Kritik an den intellektuell lähmenden und konformistischen Strukturen der Schweiz der Nachkriegszeit bündelte,93 fragte Zbinden, ob sich die „Helvetische Malaise“ (Max Imboden) tatsächlich um den Kleinstaat an sich drehe, oder nicht eher in den „viel allgemeineren Wirkungen bisheriger Demokratisierung“ zu suchen seien, „mit all den sattsam vertrauten Begleitformen des Krämergeistes, der Verspiessung, der Kleinlichkeit und Enge, des Versinkens in das rein Merkantile, all jenen Erscheinungen also, die kaum einer so weit vorausblickend und genial geschildert hat wie Alexis de Tocqueville.“94

Es war nicht zuletzt diese zuweilen mit kulturpessimistischen Zügen verbundene Überzeugung der anhaltenden Gegenwartsrelevanz Tocquevilles, welche Zbindens Engagement erklärt, sich gegen alle Widerstände weiterhin für die Herausgabe des Tocqueville’schen Gesamtwerks in deutscher Sprache einzusetzen, so etwa auch 89 Vgl. Claude Hauser, Jakob Tanner, „Pro Helvetia als Paradox“, in: Claude Hauser, Bruno Seger, Jakob Tanner (Hg.), Zwischen Kultur und Politik. Pro Helvetia 1939 bis 2009, Zürich: Verlag Neue Züricher Zeitung 2010, S. 11–33. Zum Phänomen der „geistigen Landesverteidigung“ vgl. Josef Mooser, „Die ‚Geistige Landesverteidigung’ in den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens der schweizerischen politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit“, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), S. 685–708. 90 Eidgenössisches Departement des Innern an Hans Zbinden, 14. Juni 1952, in: Nachlass Hans Zbinden, Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, A-1-a-1/07. 91 Vgl. Hauser,Tanner, „Pro Helvetia als Paradox“, S. 15. 92 Jean Rudolf von Salis, „Die Schweiz im kalten Krieg. Referat an einer Tagung des PhilippAlbert-Stapfer-Hauses in Lenzburg (1961)“, in: Jean Rudolf von Salis, Schwierige Schweiz. Beiträge zu einigen Gegenwartsfragen, Zürich: Orell Füssli 1968, S. 187–205, hier 203. 93 Vgl. Karl Schmid, Unbehagen im Kleinstaat. Untersuchungen über Conrad Ferdinand Meyer, Henri-Frédéric Amiel, Jakob Schaffner, Max Frisch, Jacob Burckhardt, Zürich: Artemis Verlag 1963. Vgl. hierzu auch Thomas Sprecher, Karl Schmid (1907–1974). Ein Schweizer Citoyen, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2013. 94 Hans Zbinden an Karl Schmid, 24. Juli 1963, in: Nachlass Hans Zbinden, Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, B−2−S.

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bei Siegfried Unseld, dem er 1968 schrieb, „dass Tocqueville mehr denn je von hoher Aktualität“ sei. „Es erschiene sicherlich angezeigt“, so Zbinden gegenüber Unseld, dass Tocquevilles „Werk nicht nur, wie bisher, in Auswahlausgaben zugänglich ist, sondern dass er, der größte politische Denker seit Montesquieu, in einer würdigen deutschen Ausgabe weiteren Kreise zugänglich werde. Eine solche Gesamtausgabe würde auch weit wirksamer als die bisherigen verstreuten und z.T. fragmentarischen Einzelbände seinem so klaren, realistischen und fruchtbaren politischen Denken die verdiente höhere Beachtung und Kenntnis bringen, nachdem man sich Jahrzehntelang meist damit begnügt hat, ihn zwar eifrig zu nennen und zu zitieren, aber leider nur sporadisch wirklich zu studieren. Namentlich in der gegenwärtigen neuen Kampfphase um den Fortbestand der Demokratie, um die Erkenntnis ihrer Gefahren und ihrer Grundlagen, könnte Tocqueville als ein Lehrer und Meister vertieften politischen Denkens wirken, das in der Verwirrung heutiger sog. ‚Politologie’ und ihren oft modehaften Schlagworten gerade im deutschen Sprachgebiet eine sehr fruchtbare, nötige Aufgabe erfüllen würde.“ 95

Es ist indessen bezeichnend, dass auch Unseld das Wagnis einer deutschsprachigen Gesamtausgabe der Werke Tocquevilles zu groß war und Zbindens Hoffnung nach einer Tocqueville-Renaissance enttäuscht blieb. Dennoch gebührt Zbinden das Verdienst, insbesondere mit seiner viel gerühmten Übersetzung von De la démocratie en Amérique eine unverzichtbare Grundlage für die deutschsprachige Beschäftigung mit Tocqueville in der Nachkriegszeit geschaffen zu haben. 6. AUSBLICK Es gehört zu den merkwürdigen Wendungen in der Rezeptionsgeschichte Tocquevilles in der Schweiz, dass die mit der Zbinden’schen Übersetzung von De la démocratie en Amérique intendierte editorische Grundlegung für die Rezeption Tocquevilles gerade nicht zu einer anhaltenden intellektuellen Auseinandersetzung mit dessen Werk geführt hat. Während sich in den 1970er Jahren in Frankreich eine intensive, umstrittene und bis heute fortdauernde Auseinandersetzung mit Tocqueville etablierte, wurde diese zuweilen als „renouveau tocquevillien français“ bezeichnete intellektuelle Bewegung in der Schweiz vergleichsweise wenig zur Kenntnis genommen.96 Zwar entstanden 1974 mit Dorrit Freunds Studie Alexis de Tocqueville und die politische Kultur der Demokratie und 1987 mit der von Hermann Lübbe in Zürich betreuten Promotionsschrift von Susanne Achtnich zu den „konservativen und liberalen Elementen“ in Tocquevilles „politischer Theorie“ zwei Arbeiten, die sich stark an Raymond Arons Tocqueville-Lektüre anlehnten.97 95 Hans Zbinden an Siegfried Unseld, 14. November 1968, in: Nachlass Hans Zbinden, Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, A−1−a−1/07. 96 Vgl. Audier, Tocqueville retrouvé. 97 Vgl. Dorrit Freund, Alexis de Tocqueville und die politische Kultur der Demokratie, Bern, Stuttgart: Paul Haupt 1974; Susanne Achtnich, Alexis de Tocqueville in Amerika: Die konservativen und liberalen Elemente in seiner politischen Theorie. Möglichkeiten einer Synthese am Beispiel der „Demokratie in Amerika“, Frankfurt a.M.: P. Lang 1987. Die Referenztexte sind Raymond Aron, „Idées politiques et vision historique de Tocqueville“, in: Revue française de

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Aber die teilweise übereinstimmend, teilweise konkurrierend, teilweise aber auch in klarem Widerspruch zu Arons Interpretation entstandenen Auseinandersetzungen mit Tocqueville von Autoren wie François Furet,98 Pierre Manent,99 JeanClaude Lamberti,100 Claude Lefort101 oder Pierre Rosanvallon102 hinterließen kaum ernsthafte Spuren im intellektuellen Feld der Schweiz. Einzig der Lausanner Ideenhistoriker Jean-Pierre Aguet bemühte sich auf die neueren Entwicklungen in der Tocqueville-Forschung in Frankreich und Nordamerika aufmerksam und die Analysen von Claude Lefort, Pierre Manent, André Jardin oder James T. Schleifer bekannt zu machen,103 während der Genfer Soziologe Jacques Coenen-Huther 1997

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Science Politique 3 (1960), S. 509–526; Raymond Aron, Les étapes de la pensée sociologique, Paris: Gallimard 1967. Zum Einfluss Arons vgl. Aurelian Craiutu, „Raymond Aron and the Tradition of Political Moderation in France”, in: Ralf Geenens, Helena Rosenblatt (Hg.), French Liberalism. From Montesquieu to the Present Day, Cambridge: Cambridge University Press 2012, S. 271–290; Gwendal Châton, „Taking Anti-totalitarianism Seriously: The Emergence of the Aronian Circle in the 1970s”, in: Stephen W. Sawyer, Iain Stewart (Hg.), In Search of the Liberal Moment. Democracy, Anti-totalitarianism, and Intellectual Politics in France since 1950, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2016, S. 17–38. Vgl. etwa François Furet, „Le système conceptuel de la ‘Démocratie en Amérique’“, in: Michael Hereth, Jutta Höffken (Hg.), Alexis de Tocqueville – Zur Politik in der Demokratie. Symposion zum 175. Geburtstag von Alexis de Tocqueville, Baden-Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft 1981, S. 19–51. Zum historischen Kontext vgl. Michael Scott Christofferson, „An Antitotalitarian History of the French Revolution. François Furet’s ‘Penser la Révolution française’ in the Intellectual Politics of the Late 1970s”, in: French Historical Studies 22 (1999), S. 557– 611; Michael Scott Christofferson, „’The Best Help I Could Find to Understand Our Present’: François Furet’s Antirevolutionary Reading of Tocqueville’s Democracy in America”, in: Stephen W. Sawyer, Iain Stewart (Hg.), In Search of the Liberal Moment. Democracy, Anti-totalitarianism, and Intellectual Politics in France since 1950, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2016, S. 85–109. Vgl. Pierre Manent, Tocqueville et la nature de la démocratie, Paris: Gallimard 1982. Vgl. Jean-Claude Lamberti, Tocqueville et les deux démocraties, Paris: PUF 1983. Vgl. Claude Lefort, „Tocqueville: démocratie et art d’écrire“, in: Claude Lefort, Écrire à l’épreuve du politique, Paris 1992, S. 55–90. Vgl. hierzu auch Laurence Guellec, „La complication: Lefort Lecteur de Tocqueville“, in: Raisons Politiques 1 (2001), S. 141–153; Samuel Moyn, „The Politics of Individual Rights. Marcel Gauchet and Claude Lefort“, in: Ralf Geenens, Helena Rosenblatt (Hg.), French Liberalism. From Montesquieu to the Present Day, Cambridge: Cambridge University Press 2012, S. 291–310. Vgl. Pierre Rosanvallon, Le moment Guizot, Paris: Gallimard 1989; Pierre Rosanvallon, „Sur quelques chemins de traverse de la pensée politique en France“, in: Raisons politiques 1 (2001), S. 49–62, hier 56. Zum historischen Kontext vgl. Andrew Jainchill, Samuel Moyn, „French Democracy between Totalitarianism and Solidarity. Pierre Rosanvallon and Revisionist Historiography”, in: Journal of Modern History 76 (2004), S. 107–154; Moyn, „Introduction: Antitotalitarianism and After”; Lutz Raphael, „Demokratiegeschichte als Problemgeschichte und Gegenwartsanalyse. Das Werk Pierre Rosanvallons“, in: Neue Politische Literatur 58 (2013), S. 7–20. Vgl. Jean-Pierre Aguet, „Constant, Tocqueville et les autres“, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 38 (1988), S. 62–79; Jean-Pierre Aguet, „Histoire des idées politiques: discipline introuvable?“, in: Bernard Prongué, Joëlle Rieder, Claude Hauser, Francis Python (Hg.), Passé pluriel. En hommage au professeur Roland Ruffieux, Fribourg: Ed. universitaires 1991, S. 411– 420; Jean-Pierre Aguet, Alain Clavien, Bertrand Müller, „Itinéraire d’un historien“, in: Alain

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Tocqueville einer soziologischen Lesart unterzog und ihn zum „Klassiker“ des modernen soziologischen Denkens erklärte.104 Und es mag zumindest Erwähnung finden, dass Claude Lefort seine wegweisende Auseinandersetzung mit Tocquevilles L‘Ancien Régime et la Révolution erstmals 1989 in einem Heft der in Lausanne erscheinenden Revue européenne des sciences sociales publiziert hatte, das dem in Genf lehrenden Revolutionshistoriker Bronislaw Baczko gewidmet war.105 Diese Interventionen haben indes an der relativ randständigen Lage Tocquevilles im intellektuellen Feld der Schweiz ebenso wenig geändert, wie die Welle an internationaler Tocqueville-Literatur, die 2005 zum bicentenaire seines Geburtstages heranbrannte. Mit den Ausnahmen der bereits erwähnten Analyse von Marc Vuilleumier, einem Rezensionsaufsatz von Jacques Coenen-Huther und zwei Beiträgen des in Zürich wirkenden politischen Philosophen Urs Marti hat der bicentenaire nicht jene Rezeptionsimpulse nach sich gezogen, die zuweilen damit erhofft worden waren.106 Diese im internationalen Vergleich bemerkenswert marginale Beschäftigung mit Tocqueville seit den 1970er Jahren ist auf die Verschränkung verschiedener intellektueller Entwicklungsdynamiken zurückzuführen. Zum einen nimmt die Ideengeschichte, aus welcher im französischen und nordamerikanischen Diskurs manche der wichtigsten Impulse der Tocqueville-Forschung stammen, in der schweizerischen Geschichtsforschung eine „eher bescheidene Stellung“ ein, sodass die disziplinären und institutionellen Voraussetzungen für eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der internationalen Tocqueville-Literatur nur ansatzweise gegeben sind.107 Zum anderen konzentrierte sich die Beschäftigung mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts in der Schweiz seit diesen Jahren ungleich stärker auf das Werk Benjamin Constants. Diese Auseinandersetzung mit Constant, de Staël und deren Intellektuellenzirkel in Coppet hat zudem mit dem an der Universität Lausanne angesiedelten Institut Benjamin Constant, einer etablierten Schriftenreihe und den Annales Benjamin Constant seit den 1980er Jahren eine institutionalisierte Form gefunden.108 Tocqueville verschwand dadurch gewissermaßen im Schatten Constants. Da

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Clavien, Bertrand Müller (Hg.), Le goût de l’histoire, des idées et des hommes. Mélanges offerts au professeur Jean-Pierre Aguet, Lausanne: Éd. de l'Aire 1996, S. 7–52. Jacques Coenen-Huther, Tocqueville, Paris: Presses Universitaires de France 1997, S. 5. Vgl. Claude Lefort, „Une pensée des contraires. Note sur l’Ancien Régime et la révolution“, in: Revue européenne des sciences sociales 27 (1989), S. 151–163. Vgl. Vuilleumier, „La Suisse de 1848“; Jacques Coenen-Huther, „À propos du bicentenaire de Tocqueville. Ambiguïtés d’une redécouverte aux résonances multiples“, in: Revue européenne des sciences sociales 44 (2006), S. 153–162; Urs Marti, „Tocqueville und Marx – Nach dem Kalten Krieg“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 16 (2007), S. 92–106; Urs Marti, „Tocquevilles Wirkungsgeschichte in Europa“, in: Karlfriedrich Herb, Oliver Hidalgo (Hg.), Alter Staat – Neue Politik. Tocquevilles Entdeckung der modernen Demokratie, Baden Baden: Nomos 2004, S. 135–153. Für einen interessanten Feuilleton-Artikel vgl. Martin Meyer, „Eine Politik der Freiheit und der Bürgernähe“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30./31. Juli 2005, S. 61. Béla Kapossy, „Politische Ideengeschichte in der Schweiz“, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 2012/1, S. 60–70, hier 61. Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Etienne Hofmann, Les „Principes politique” de Benjamin Constant. La genèse d’une œuvre et l’évolution de la pensée de leur auteur (1789–1806),

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muss er freilich nicht verharren. Aufbauend auf dieser intensiven Beschäftigung mit Constant und dessen ideengeschichtlichen Kontexten wäre noch vermehrt nach den transnationalen Zirkulationswegen und kulturell gebrochenen Aneignungen liberalrepublikanischer Begriffe und Diskurse im Zeitalter der Revolutionen zu fragen, in welche auch Tocquevilles intellektuelle Arbeit eingebettet ist und welche er mit seinen Interventionen zugleich transformierte.109 Und Kosellecks einleitend erwähnte Frage nach Tocquevilles Beitrag für eine historische Theoretisierung moderner Zeiterfahrungen mag auf einen noch weithin unbeschrittenen Pfad einer erneuten Re-Lektüre Tocquevilles verweisen.

Genève: Droz 1980; Hofmann, Rosset, Le groupe de Coppet. Für einen Überblick zur jüngeren Constant-Literatur vgl. Helena Rosenblatt, „Why Constant? A Critical Overview of the Constant Revival”, in: Modern Intellectual History 1 (2004), S. 439–453. Zu den ideengeschichtlichen Beziehungen zwischen Constant und Tocqueville vgl. Stephen Holmes, „Constant and Tocqueville. An Unexplored Relationship”, in: Annales Benjamin Constant 12 (1991), S. 29– 41; Helena Rosenblatt, „Two Liberals on Religion: Tocqueville and Constant compared”, in: Annales Benjamin Constant 29 (2005), S. 159–170; Olivier Meuwly, Liberté et société. Constant et Tocqueville face aux limites du libéralisme moderne, Genève: Librairie Droz 2002. Zu den Beziehungen zwischen Tocqueville und Germaine de Staël vgl. Laurence Guellec, Tocqueville et les langues de la démocratie, Paris: Honoré Champion 2004; Gérard Gengembre, „De la littérature en Amérique ou de Mme de Staël à Tocqueville”, in: Françoise Mélonio, JoséLuis Diaz (Hg.), Tocqueville et la littérature, Paris: Presses de l'Université Paris-Sorbonne 2004, S. 61–83; Lucien Jaume, Tocqueville. The Aristocratic Sources of Liberty, Princeton: Princeton University Press 2008, S. 196–198. 109 Vgl. hierzu etwa Andrew Jainchill, „The Importance of Republican Liberty in French Liberalism”, in: Ralf Geenens, Helena Rosenblatt (Hg.), French Liberalism. From Montesquieu to the Present Day, Cambridge: Cambridge University Press 2012, S. 73–89; Juri Auderset, Transatlantischer Föderalismus. Zur politischen Sprache des Föderalismus im Zeitalter der Revolutionen, 1787–1848, Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2016; Juri Auderset, „Strangers in America. Francis Lieber, Alexis de Tocqueville und die historisch-komparative Hermeneutik der Demokratie im Zeitalter der Revolutionen“, in: Harald Bluhm, Skadi Krause (Hg.), Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 205–224.

3. WERKIMMANENTE INTERPRETATIONEN UND EINORDNUNGEN

DEMOKRATISCHE REPRÄSENTATION UND FREIHEITSERFAHRUNG Tocquevilles Analyse der Volkssouveränität Skadi Siiri Krause 1. EINLEITUNG Alle legitime Macht geht vom Volk aus. Das ist der unbestreitbare Grundsatz der Volkssouveränität. Gleichwohl bietet er verschiedene Möglichkeiten der Interpretation. So ersetzt die Französische Revolution die königliche Souveränität durch den einen und einheitlichen Willen der Nation. Dieser ist nicht deckungsgleich mit dem Mehrheitsentscheid, wie die Amerikaner den Volkswillen bei ihren Verfassungsdebatten interpretierten. Für Madison ist das Volk keine apriorische Willenseinheit und ihm muss auch keine Form der Einheit gegeben werden. In einer Demokratie entscheide schlicht und einfach die Mehrheit. Repräsentation sei in diesem Sinne eine Technik bei der Produktion politischer Entscheidungen. Selbst beim Austausch der Gedanken im Parlament, um zu mehrheitlichen Entscheidungen zu kommen, bleiben am Ende weiterhin unterschiedliche Interessen. Deshalb ist es für ihn wichtig, dass die Repräsentanten, die aktiv legislative Funktionen übernehmen, sich nicht von den Wählern entfernen. Madison fordert, dass die Wahl in regelmäßigen Abständen stattfindet, um den Abgeordneten gleichsam „ihre Abhängigkeit vom Volk ins Gedächtnis“ zu rufen.1 Ganz anders die Debatten in der französischen Nationalversammlung. Hier erklärt Louis-Philippe d’Orléans zeitgleich zu Madison, dass es „das eigentliche Ziel“ der Versammlung sei, aus „der Fülle der Einzelwillen“ einen „gemeinschaftlichen Willen“2 herauszukristallisieren. Die Mitglieder einer stellvertretenden Versammlung müssten sich deshalb zueinander verhalten können wie die Bürger eines kleinen Völkchens auf dem Marktplatz: 1

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„Bevor das Bewusstsein davon, wie sie an die Macht gekommen sind, durch die Ausübung der Macht ausgelöscht werden kann, werden sie gezwungen sein, den Augenblick zu antizipieren, an dem ihre Macht endet, an dem überprüft wird, wie sie damit umgegangen sind und sie auf das Niveau zurückkehren müssen, von dem sie aufgestiegen sind, um dort zu verbleiben“; es sei denn, „sie haben das ihnen übertragene Amt getreulich ausgeübt und so ein Anrecht auf ihre erneute Wahl begründet“. Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, The Federalist, hg. v. J. R. Pole, Indianapolis: Hackett Publishing Campany 2005, Nr. 57 (James Madison, 19. Februar 1788), S. 310–311. Louis-Philippe-Joseph de Orléans, Instructions envoyées par S. A. S. Monseigneur le duc d'Orléans, s.l. 1789, S. 62.

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Skadi Siiri Krause „[S]ie versammeln sich nicht bloß, um die Meinung, die jeder schon am Tage vorher hatte, kennenzulernen und danach wieder auseinander zu gehen; sondern sie versammeln sich, um ihre Meinungen gegeneinander abzuwägen, sie abzuändern, wechselseitig zu erläutern und aus den Einsichten aller schließlich eine Mehrheitsmeinung zu gewinnen – das heißt den gemeinschaftlichen Willen, der Gesetzeskraft hat.“3

Die Überwindung der Einzelwillen, „die Gärung“ eines neuen höheren Willens sei das Ziel.4 Der Gemeinwille sei nicht die Summe der individuellen Willen; er sei außerhalb von ihnen zu suchen, nämlich als „repräsentativer Allgemeinwille“5. In diesem Sinne interpretiert auch Emmanuel-Joseph Sieyès den nationalen Willen. Für ihn sind es nicht die Wähler, die diesen verkörpern, sondern es sind die Delegierten der Assemblée nationale die ihn zu allererst erarbeiten. Deshalb lehnt Sieyès auch das „imperative Mandat“ ab. Nicht durch Nachschlagen in den einzelnen Beschwerdeheften könne der Abgeordnete den Willen seiner Auftraggeber finden, sondern in der Versammlung der Repräsentanten des Volkes, denn es gehe nicht darum, „die Einzelstimmen einer demokratischen Abstimmung auszuzählen“, sondern darum, „Vorschläge zu machen, zuzuhören, sie untereinander abzustimmen, seine Meinung zu berichtigen und schließlich gemeinsam einen gemeinschaftlichen Willen zu bilden“. Das Volk oder die Nation könne „nicht anders“ als durch ihre „Stellvertreter“6 sprechen und handeln. Diese Rechtfertigung nationaler Repräsentation stellt die Vorstellung einer statischen Beziehung zwischen den Repräsentanten und wahlberechtigten Bürgern in Frage. Aber sie bedeutet auch, dass es außerhalb der Nationalversammlung keinen politischen Willen geben kann. Jede außerparlamentarische Formierung eines solchen Willens muss sogar als Angriff auf die Volkssouveränität gedeutet werden, weil der nationale Wille nicht durch einen partikularen Willen eingeschränkt werden darf.7 Die repräsentative Regierung, wie sie in der Französischen Revolution debattiert wird, verkörpert in diesem Sinne eine mittelbare Vorstellung von Demokratie − sowohl in der zeitlichen Dimension zwischen Wahl und Abwahl als auch in inhaltlicher Hinsicht, weil dem deliberativen Prozess im Parlament eine eigene Qualität zugesprochen wird. Diese Auffassung schließt direkte Formen des politischen Handelns aus. Sie stärkt nicht nur die repräsentative Regierung, sondern auch eine Politikvorstellung einer staatlich gelenkten professionalisierten Politik bei einer gleichzeitigen Vernachlässigung der Staatsbürgerschaft. Die Theorie der Inkarnationssouveränität, wie sie die königliche Gewalt stützte, weicht einer abstrakten

3 4 5 6 7

Orléans, Instructions envoyées par S. A. S. Monseigneur le duc d'Orléans, S. 62. Orléans, Instructions envoyées par S. A. S. Monseigneur le duc d'Orléans, S. 63. Vgl. Emmanuel-Joseph Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers-État?, s. l. 1789, S. 46. Sieyès, Chambre des députés, 7. September 1789, in: Archives parlementaires de 1787 à 1860. Recueil complet des débats législatifs et politiques des chambres franҫaises (1868−1887), gedruckt im Auftrag des Sénats und der Abgeordnetenkammer, Paris: P. Dupont, Bd. 8, S. 595. Sieyès, Chambre des députés, 7. September 1789, in: Archives parlementaires de 1787 à 1860, Bd. 8, S. 595.

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Vorstellung von Souveränität, die zu einer Aufwertung des Parlaments, dessen Beschlüsse als wahrhaft demokratischer Ausdruck des gesellschaftlichen Ganzen gedeutet werden. Deutlich wird dies in der Verwendung des Volksbegriffs. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert bezeichnet le peuple sowohl die politische Nation im Sinne der Gesamtheit der Staatsbürger als auch die Bevölkerungsgruppe von niedrigem gesellschaftlichem Rang.8 Das macht le peuple einerseits zu einem stark metaphysisch aufgeladenen Schlüsselbegriff der politischen Sprache und andererseits zu einer der Denunziation dienenden Bezeichnung des nicht zu den Wählerschichten gehörenden Teils der Bevölkerung.9 Der Begriff ist für Pierre Rosanvallon daher geradezu sinnbildlich für das frühliberale Verhältnis zwischen der revolutionären Leitidee der Souveränität des Volkes (beziehungsweise der Nation10) und der Absprache der Politikfähigkeit für ganze Bevölkerungsschichten.11 Dennoch macht das Prinzip der Volkssouveränität neben den bürgerlichen Grundrechten jenen Teil des Erbes der Französischen Revolution aus, dem sich die Liberalen auch nach der Erneuerung des bourbonischen Königtums verpflichtet sehen. Mit der Restauration von 1814 verliert zwar das revolutionäre und auch von Napoleon Bonaparte anerkannte Souveränitätsprinzip seinen Verfassungsrang,12 es bleibt aber vor allen in der linksliberalen Opposition als politische Leitvorstellung lebendig. So leitet die von Constant mitherausgegebene Zeitung La Renommée 1820 das gesamte Institutionengefüge der konstitutionellen Monarchie von der „souveraineté du peuple“ ab.13 Für Constant steht zwar fest, dass auch diese kollektive Form der Souveränität keineswegs als absolut betrachtet werden dürfe; dennoch ist er davon überzeugt, dass nur der politische Gemeinwille eines Volkes staatliche Autorität begründen könne. Dieses Prinzip überträgt er auch auf die monarchische Gewalt, die für ihn Ausdruck eines über Generationen hinweg weitergegebenen Gemeinwilles ist.14 Entsprechend sieht er eine zentrale Aufgabe liberaler Politik darin, im Rahmen des Repräsentativsystems der konstitutionellen Monarchie für eine angemessene Vertretung des französischen Volkes Sorge zu tragen.15 8 9 10 11 12 13 14 15

Jacques Julliard, „Le peuple“, in: Les lieux de mémoire, Bd. 3/1: Les France, conflits et partages, Paris: Gallimard 1992, S. 185–229, hier 191. Alain Pessin, Le mythe du peuple et la société française au XIXe siècle, Paris: PUF 1992, S. 113. Peuple und nation werden im Sprachgebrauch der Zeit nicht systematisch unterschieden. Vgl. Julliard, „Le peuple“, S. 185–229. Pierre Rosanvallon, La démocratie inachevée. Histoire de la souveraineté du peuple en France, Paris: Gallimard 2000, S. 230. Vgl. Charte constitutionnelle du 4 juin 1814, in: Bulletin des lois, Serié IX., No. 4, Paris: Imprimerie nationale des lois 1830, S. 35. Monique Clavier, Benjamin Constant, député de la Sarthe dans la lignée des parlementaires étrangers au département. Thèse pour le doctorat en droit, Lille: A.N.R.T. 1977, S. 173. Vgl. Peter Geiss, Der Schatten des Volkes. Benjamin Constant und die Anfänge liberaler Repräsentationskultur im Frankreich der Restaurationszeit 1814–1830, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2011, S. 12. Vgl. Jean-Philippe Feldman, „Le constitutionnalisme selon Benjamin Constant”, in: Revue française de droit constitutionnel 4/76 (2008), S. 675−702.

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Mit dem Bekenntnis zu Volkssouveränität und dem Repräsentativsystem verbinden Constant und andere Liberale aber keineswegs die Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht. Der liberale und der demokratische Traditionsstrang des modernen Verfassungsstaates entwickeln sich, wie André-Jean Tudesq dargestellt hat, über weite Strecken getrennt.16 So soll das Volk aus liberaler Sicht allenfalls punktuell als „historischer Akteur“17 auftreten. Im politischen Alltag habe es jedoch die Führung der Staatsgeschäfte seinen Repräsentanten zu überlassen, deren Wahl einer wohlhabenden Minderheit vorbehalten bleibt.18 In diesem Sinne verteidigen die Liberalen der Restauration und vor allem die wichtigsten Sprecher der Doctrinaires, Pierre-Paul Royer-Collard und François Guizot, ein eingeschränktes Wahlrecht. Obwohl das Volk von ihnen als Quelle der politischen Souveränität anerkannt wird, soll dessen Teilnahme am politischen Leben so gering wie möglich gehalten werden.19 Das Misstrauen gegenüber dem „Volk“ bezieht sich dabei nicht nur auf das sehr niedrige Bildungsniveau der Bevölkerung. Vielmehr wird von Seiten der Doctrinaires argumentiert, dass die direkte Beteiligung des Volkes in politischen Angelegenheiten einen Klassenkampf zwischen Armen und Reichen heraufbeschwöre. Für Guizot ist die Demokratie unvereinbar mit persönlicher Sicherheit oder dem Eigentumsrecht. Deshalb sei es wichtig, die politische Führung jenen Bürgern anzuvertrauen, die aufgrund ihrer Kenntnisse und Erfahrungen das wahre Interesse des Landes am besten erkennen können.20 Das heißt, die Souveränität des Volkes wird nur als „virtuell“21 gedacht. Verwurzelt in diesen Debatten muss die politische Praxis in den USA für Tocqueville eine wahre Offenbarung gewesen sein. Hier erlebt der französische Forschungsreisende22 zu Beginn der 1830er Jahre nicht nur die Ausweitung des Wahlrechts auf Kleinbauern und Handwerker und damit auf weite Schichten der Bevölkerung; er wird auch Zeuge einer Verwaltungsreform, die dem verbreiteten Gefühl begegnen soll, dass die Exekutivgewalt durch eine gierige, korrupte und privilegierte Aristokratie von Beamten kontrolliert werde.23 Ämter der öffentlichen Verwaltung sollen nun durch Wahl besetzt werden. Politische Repräsentation gibt es zudem nicht nur in der Union und auf staatlicher Ebene, sondern auch in den Regionen und Kommunen. Darüber hinaus sorgen kollektive Freiheitsrechte, wie die 16 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. André-Jean Tudesq, La démocratie en France depuis 1815, Paris:PUF 1971, S. 27. Vgl. Jules Michelet, Extraits historiques de Michelet, Paris: J. de Gigord 1940, S. 22. Michelet, Extraits historiques de Michelet, S. 22. François Guizot, Histoire des origines du gouvernement représentatif, Paris: Didier 1851, Bd. 1, S. 81. François Guizot, Essai sur l'histoire et sur l'état actuel de l'instruction publique en France, Paris: Maradin 1816, S. 8. Ich übernehme den Begriff von Bernard Manin, The Principles of Representative Government, Cambridge: Cambridge University Press 1997. Tocquevilles Amerikaerfahrungen beruhen auf einer neunmonatigen Studienreise durch die Vereinigten Staaten, die er und Gustave de Beaumont zwischen dem 11. Mai 1831 und dem 20. Februar 1832 im Auftrag der französischen Regierung unternehmen. Richard B. Latner, The Presidency of Andrew Jackson, Athens: The University of Georgia Press 1979, S. 5; Robert Vincent Remini, The Legacy of Andrew Jackson. Essays on Democracy, Indian Removal, and Slavery, Baton Rouge: Louisiana State University Press 1988.

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Pressefreiheit und das Vereinsrecht, dafür, dass Regierungsentscheidungen und Verwaltungsprozesse deutlich transparenter sind als in Frankreich. „Tausend Dinge scheinen die republikanische Freiheit in den Vereinigten Staaten zu stützen, aber ein paar reichen aus, um die Natur das Problems zu offenbaren“, schreibt Tocqueville in seinem Reisetagebuch. „Ein Faktor dominiert alle anderen [...]: Das amerikanische Volk, als Ganzes betrachtet, ist nicht nur das am meisten aufgeklärte Volk der Welt, sondern auch − und ich halte dies für noch wichtiger − das Volk, dessen praktische politische Bildung am weitesten fortgeschritten ist. Das ist die Wahrheit, an die ich fest glaube, und Quelle der einzigen Hoffnung, die ich für die Zukunft Europas habe.“24

In De la démocratie en Amérique hebt Tocqueville denn auch neben den kollektiven Freiheitsrechten neue Formen politischer Repräsentation hervor. Während liberale Theoretiker der Zeit vornehmlich damit beschäftigt sind, eine bessere Repräsentation der Wähler durchzusetzen und die Kontrollrechte des Parlaments gegenüber der Regierung zu stärken, fragt Tocqueville vor allem nach der Einbindung der Bürger in die politischen Prozesse des Landes. So beschreibt er am Beispiel der USA ein reges politisches Leben in den Gemeinden, auf staatlicher Ebene und in der Union, das sich mit dem Regierungshandeln, aber auch mit Verwaltungsprozessen und sogar mit bestimmten Lebensformen befasst. Die Bürgen versammeln sich, um zu den Plänen der Regierung Stellung zu nehmen, zum Zweck einer Erklärung, dass sie der Umsetzung bestimmter Verwaltungsaufgaben nicht einverstanden sind oder, wie im Falle der Trunksucht, um sich gegenseitig zu helfen und ein „Beispiel der Mäßigkeit“ zu geben.25 Fasziniert ist Tocqueville vor allem von der Demokratisierung der Exekutivgewalt. So beschreibt er die Direktwahl der Verwaltungsbeamten, ihre Rechenschaftspflicht gegenüber der Gemeinde und ein allgemeines Auskunftsrecht der Bürger über Verwaltungsvorgänge. Und nicht zuletzt schildert er eine Öffnung der Judikative gegenüber den Bürgern. So sind die Sitzungen des Gerichts nicht nur öffentlich, in Form der Jury haben die Bürger sogar das Recht, einen aktiven Part in der Rechtsprechung zu übernehmen. 2. DAS VERHÄLTNIS VON REGIERENDEN UND REGIERTEN Das amerikanische Verständnis von Volkssouveränität drückt sich für Tocqueville in der gemeinschaftlichen Praxis der Bürger bei der Bewältigung öffentlicher Aufgaben aus. Am 27. Dezember 1831 notiert er unter der Überschrift „Souveraineté populaire“ in sein Reisetagebuch: „Das Prinzip der Volkssouveränität verleiht den

24 Reisetagebucheintrag Tocquevilles vom 14. Januar 1832, in: Alexis de Tocqueville, Voyages en Sicile et aux États-Unis, Œuvres complètes, Paris: Gallimard 1957, Bd. V/1, S. 257. 25 Alexis de Tocqueville, Democracy in America. Historical-Critical Edition of De la démocratie en Amérique, hg. v. Eduardo Nolla, übersetzt aus dem Französischen v. James T. Schleifer, zweisprachige französisch-englische Ausgabe, Indianapolis: Liberty Fund 2010, Bd. 2, S. 396.

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Nationen eine Energie, die andere Nationen nicht haben.“26 Kurz vor seinem Eintrag hatte Tocqueville mit Benjamin Henry Latrobe über die Finanzierung der öffentlichen Bildung gesprochen. Latrobe unterstreicht in diesem Gespräch, dass die gebildeten Schichten lange vergeblich eine höhere Bildung eingefordert hätten, denn niemand sei bereit gewesen, öffentliche Schulen zu bezahlen.27 Tocqueville entgegnet darauf, dass dies ein starker Einwand gegen die Volkssouveränität sei. Doch Latrobe wiederspricht ihm. Zwar gesteht er zu, dass das Volk oft blind sei, und auch Fehler begangen werden. „Doch am Ende finde ich, dass [die Bürger] das richtige erkennen, wenn es um ihre eigenen Interessen geht.“ Und dann schaffen sie mehr, als die „stärkste Regierung“ ohne sie tun könnte.28 Tocqueville erhält in diesem Gespräch ein anschauliches Beispiel für das neue Verständnis von Volkssouveränität. Latrobe macht deutlich, dass es nicht darum gehe, für das Volk zu entscheiden, was für dieses das Beste sei, sondern angesichts immer neuer Wählerschichten für Mehrheiten zu werben. Dies sei ein langwieriger Prozess. Aber wenn erst einmal eine Entscheidung getroffen sei, könne sie im wahrsten Sinne Menschen mobilisieren, weil diese sich nicht nur mit dem Beschluss identifizieren, sondern sich auch um die Umsetzung sorgen. Die Amerikaner verwirklichen damit das Prinzip der Volkssouveränität in zweifacher Hinsicht: zum einen in der Formulierung des politischen Willens, zum anderen bei dessen Umsetzung. In einem Brief an Ernest de Chabrol berichtet Tocqueville, die Worte Latrobes reflektierend: „Die Bemühungen, die Bildung in diesem Land zu erweitern, sind wirklich erstaunlich. Der universelle Glaube an die Wirksamkeit der Bildung scheint mir eines der bemerkenswertesten Dinge in Amerika, vor allem seit ich glaube, dass sich diese Erkenntnis noch nicht überall etabliert hat. Aber sie ist fest in den Köpfen der Amerikaner verankert – unabhängig von ihren politischen oder religiösen Ansichten.“ 29

Tocqueville betont, dass in diesem Punkt auch alle Kirchen, die letztendlich bei der Umsetzung der Beschlüsse unersetzlich seien, solange es keine öffentlichen Schulen gebe, sich bereit erklären, die öffentliche Bildung voranzutreiben. „Das Ergebnis ist ein friedlicher und unumkehrbarer Fortschritt, der manchmal auftritt, wenn ein ganzes Land einen gemeinsamen und universellen Zweck verfolgt.“ Niemals sei ein Volk entschlossener gewesen als die Bewohner der nördlichen Staaten. Die

26 Reisetagebucheintrag Tocquevilles vom 27. Dezember 1831, in: Oliver Zunz (Hg.), Alexis de Tocqueville and Gustave de Beaumont in America. Their Friendship and their Travels, übersetzt v. Arthur Goldhammer, Charlottesville: University of Virginia Press, S. 350. 27 Reisetagebucheintrag Tocquevilles vom 30. Oktober 1831, Unterredung mit Benjamin Henry Latrobe, in: Tocqueville, Voyages en Sicile et aux États-Unis, Œuvres complètes, Bd. V/1, 113. 28 Reisetagebucheintrag Tocquevilles vom 30. Oktober 1831, Unterredung mit Benjamin Henry Latrobe, in: Tocqueville, Voyages en Sicile et aux États-Unis, Œuvres complètes, Bd. V/1, 113. 29 Brief Tocquevilles an Chabrol vom 27. Dezember 1831, in: Alexis de Tocqueville, Lettres choisies. Souvenirs, 1814–1859, hg. v. Franҫoise Mélonio und Laurence Guellec, Paris: Gallimard 2003, S. 259−261, 261. Siehe auch Tocqueville, Voyages en Sicile et aux États-Unis, Œuvres complètes, Bd. V/1, S. 128−129.

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Amerikaner seien „stärker, klüger und fähiger, sich selbst zu regieren und die Freiheit zu sichern, als jedes andere Volk der Welt“30. Tocqueville weiß, dass er damit einen wunden Punkt berührt, denn in Frankreich ist man nicht nur skeptisch bis ablehnend gegenüber freien Wahlen, man hegt vor allem ein elitäres und expertokratisches Bild der Regierung. Wenn „Kritiker der Volkssouveränität“ behaupten, schreibt Tocqueville im Oktober 1831 in sein Reisetagebuch, dass in Hinsicht auf die interne Verwaltung die monarchische Regierung besser sei als „die Regierung aller“, dann haben sie „zweifellos“ Recht. „Selten verfehlt eine starke Regierung eine größere Kohärenz in ihrem Handeln, sie hat mehr Ausdauer, eine solidere Gesamtkonzeption, eine größere Perfektion im Detail und sogar mehr Einsicht bei der Wahl von [geeigneten] Männern als die Menge.“ Eine Republik sei daher weit weniger gut verwaltet als eine „aufgeklärte Monarchie“. Republikanern, die dies leugnen, wirft er vor, blind für diesen Punkt zu sein. Und dennoch bewundert er die dezentralen Einrichtungen der amerikanischen Exekutive, die die Lebendigkeit des sozialen und politischen Lebens fördern und transparent gegenüber den Bürgern gestalten. „Freiheit versagt ihr [der Exekutive], dass die Projekte mit dem gleichen Grad an Perfektion ausgeführt werden, wie unter einem intelligenten Despoten, aber auf lange Sicht erzeugt sie ein größeres Ergebnis.“ Das Volk brauche nicht immer die geschickteste und vollkommenste Verwaltung. Aber die amerikanische Regierung erzeuge „im gesamten sozialen Körper“ eine Aktivität, eine Kraft, eine Energie, die ohne sie „nicht existieren“ würden, und die „Wunder bewirken“31. Es ist dieser Blickwinkel, der Tocquevilles Analyse der amerikanischen Institutionen bestimmt. Repräsentation bedeutet für ihn nicht, für die Bürger zu handeln, sondern diese in die Prozesse der Verwaltung und Rechtsprechung einzubeziehen. Intransparente Institutionen und willkürliche oder im Verborgenen getroffene Entscheidungen, wie er in Frankreich kritisiert, seien unvereinbar mit der Idee der Volkssouveränität. In der Demokratie akzeptieren die Bürger keine Regierung, Rechtsprechung und Verwaltung, die ein paternalistisches oder autokratisches Verhalten an den Tag legen. Regierungshandeln dürfe deshalb nicht unanfechtbar sein, in dem Sinne, dass Entscheidungen der Einsicht, Kritik und Revision entzogen werden. Mit anderen Worten: Demokratie ist nicht nur eine Frage der Legitimation durch Wahl, sondern auch eine Form des Regierens. Die Exekutivgewalt wird dabei nicht nur durch einen rechtlichen Rahmen in ihrem Status und ihren Funktionen bestimmt, sondern auch über ihr Tun. Die Art ihrer Benennung, die Bedingungen, unter denen sie Verantwortung wahrnimmt, die Regeln des Zusammenspiels innerhalb der Behörden und die Zusammenarbeit mit den anderen Gewalten sind daher nur eine Seite ihrer Funktionsweise. Die andere betrifft die Einbeziehung der Bürger durch Auskunfts- und Rechenschaftspflichten sowie deren Einbindung bei Anhörungen und Abstimmungen, wenn es um konkrete Projekte und das Wie ihrer Umsetzung geht. 30 Brief Tocquevilles an Chabrol vom 27. Dezember 1831, in: Tocqueville, Lettres choisies. Souvenirs, S. 261. 31 Reisetagebucheintrag Tocquevilles vom 25. Oktober 1831, in: Tocqueville, Voyages en Sicile et aux États-Unis, Œuvres complètes, Bd. V/1, S. 184.

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3. DEMOKRATISCHE LEGITIMATION In seiner Darstellung des Prinzips der Volkssouveränität in De la démocratie en Amérique bezieht sich Tocqueville auf einen Diskurs, wie ihn während der Amerikanischen Revolution die Anti-Federalists geführt haben. Für diese ist die Repräsentation nur ein Substitut für die Versammlung der Bürger, die in einem ausgedehnten Land nicht mehr möglich ist. Ihr Augenmerk richtet sich dementsprechend auf die Verantwortlichkeit der Repräsentanten gegenüber ihren Wählern. Um diese präsent zu halten, mahnen sie häufige Ämterrotationen und kurze Zeiten zwischen den Wahlen an, vor allem aber verteidigen sie dezentrale Regierungs- und Verwaltungsformen, weil sie es für notwendig erachten, dass Probleme dort verhandelt werden, wo sie entstehen. Und sie drängen auf die Einbindung der Bürger in die öffentliche Verwaltung, weil sie einen entfremdeten und bürokratischen Machtapparat fürchten. Dazu gehört für sie auch die Einbeziehung der Bürger in die Rechtsprechung, weshalb sie sich für die Jury in Gerichtsverfahren einsetzen. Für sie verkörpert die Jury den Schutz des Volkes am unteren Rand der Verwaltung. „Jurys werden beständig und regelmäßig aus dem Volk und den freien Männern des Landes gebildet; und durch das Recht der Jury, ein allgemeines Urteil [...] zu fällen, sichern wir dem ganzen Volk eine gerechte und rechtmäßige Kontrolle in der Rechtsprechung.“32 Ein Farmer aus Maryland argumentiert sogar, dass die Jury ebenso wichtig, wenn nicht bedeutsamer sei als die Repräsentation des Volkes in der Legislative, weil „Anmaßungen, die schweigend den Geist der Freiheit untergraben, unter der Sanktion des Gesetzes gefährlicher sind als offene und direkte Angriffe auf die Legislative“33. Sein Punkt ist, dass Gesetzgebung und Jury wichtige Mittel der tatsächlichen und rechtmäßigen demokratischen Kontrolle seien. Sie seien „Mittel, mit denen die Menschen in die öffentlichen Angelegenheiten involviert“ und somit zu aktiven „Hütern ihrer Rechte“ werden. Für die Anti-Federalist soll die Einbeziehung des Volkes in die öffentliche Verwaltung deshalb zum Bestandteil der garantierten Rechte werden.34 Dahinter stecken nicht nur Erfahrungen aus der Kolonialzeit, als eine rund 6000 Kilometer entfernte Regierung immer wieder in amerikanische Angelegenheiten eingriff, sondern auch ein neues Politikverständnis. Für Melancton Smith übt die Regierung „Einfluss auf den Geist des Volkes aus, genauso wie der Geist des Volkes auf sie wirkt − und wenn sie nicht übereinstimmen, werden sie sich zersetzen. [...] Unsere Aufgabe ist es, eine Regierung zu gestalten, die Freiheit und Menschenrechte schützt und unter den Bürgern die Liebe zur Freiheit stärkt.“35 Die Anti-Fe-

32 Herbert J. Storing, The Complete Anti-Federalist. With the Assistance of Murray Dry, Chicago: University of Chicago Press 1981, Bd. 2, S. 319–320. 33 Storing, The Complete Anti-Federalist, Bd. 5, S. 36, 38. 34 Federal Famer Nr. 15, 18. Januar 1788, in: The Founders’ Constitution, 4, Art. 3, Sect. 2, Clause 3, Document 14, URL: http://press-pubs.uchicago.edu/founders/documents/a3_2_3s14.html (letzter Aufruf: 16.04.2017). 35 Melancton Smith in der Debate of the Convention of the State of New York on the Adoption of the Federal Constitution, 17. Juni 1788, in: Jonathan Elliot (Hg.), The Debates in the Several

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deralists sind davon überzeugt, dass dieser Geist durch öffentliche Praktiken gestärkt werden müsse.36 Nur ein Volk, das aktiv in die Gestaltung politischer Prozesse eingebunden sei, sei es auf der Seite der Gesetzgebung oder der Seite ihrer Umsetzung und Verteidigung, werde wahrhaft souverän bleiben. Auch wenn Tocqueville in De la Démocratie en Amérique in weiten Strecken der Argumentation der Anti-Federalist folgt, vor allem bei der Verteidigung der kommunalen Selbstverwaltung, so ist er in seiner Darstellung doch nicht allein darauf gerichtet. Vielmehr bezieht er sich auch auf eine französische Debatte, die bereits in der Französischen Revolution beginnt. So behauptet Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet, dass der souveräne Bürger Rechte und „legale Mittel“ habe müsse, politisch aktiv zu werden, wenn es „nützlich oder notwendig“ sei. Die Ernennung von Vertretern könne daher nicht die einzige Funktion des Bürgers sein. Der demokratische Charakter der repräsentativen Institutionen dürfe nicht auf den Akt der Wahl reduziert werden.37 Mit anderen Worten: Die Besonderheit und Einzigartigkeit der modernen Demokratie beruhe darin, dass sie nicht auf die Akklamation oder Wahl beschränkt werden könne.38 Es muss vielmehr einen beständigen Austausch zwischen Regierung und Bürgern geben, eine Kontinuität von Entscheidungsprozessen, die die Bürger und die gesetzgebende Versammlung verbindet, aber auch eine beständige Kontrolle der Regierenden möglich macht.39 Um die Kontinuität zwischen Vertretern und Bürgern zu wahren, schlägt Condorcet außerparlamentarische Formen der Repräsentation vor. Ihr Ziel könne es zwar nicht sein, die Entscheidungsbefugnis der Repräsentanten zurückzunehmen oder gar durch eine direkte Demokratie zu ersetzen, aber sie können Raum für eine politische Debatte auch außerhalb des Parlaments schaffen. In dem Essay Idées sur le despotisme klassifiziert Condorcet 1789 eine Regierung, die nur mit Zustimmung der Bürger regiere, als „indirekten Despotismus“40. Die Willkür der „gesetzgebenden Körperschaft“, die die Menschen nicht mehr wirklich vertrete, sei eine neue

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State Conventions on the Adoption of the Federal Constitution as Recommended by the General Convention at Philadelphia, in 1787. Together with the Journal of the Federal Convention, Luther Martin’s Letter, Yates’s Minutes, Congressional Opinions, Virginia and Kentucky Resolutions of ’98–’99, and Other Illustrations of the Constitution, 2ed ed., with Considerable Additions. Collected and Revised from Contemporary Publications, Philadelphia: J. B. Lippincott and Company 1836, Bd. 2, S. 250. Brutus, 18. Oktober 1787, in: Storing, The Complete Anti-Federalist, Bd. 2, S. 29. Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet, Œuvres complètes de Condorcet, Paris 1804, Bd. 8, S. 27–40. Vgl. Nadia Urbinati, „Condorcet’s Democratic Theory of Representative Government”, in: European Journal of Political Theory 3 (2004), S. 53–75. Vgl. Patrice Gueniffey, Le nombre et la raison. La Révolution Française et les élections, Paris: Editions de l’Ecole des Hautes Études en Sciences Sociales 1993, S. 146. Vgl. Joshua Cohen, „Deliberation and Democratic Legitimacy”, in: James Bohman, William Rehg (Hg.), Deliberative Democracy. Essays on Reason and Politics, Cambridge: MIT Press 1997, S. 67–91. Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet, Idées sur le despotisme, à l’usage de ceux qui prononcent ce mot sans l’entrendre, in: Œuvres complètes de Condorcet, Brunswick: Vieweg 1804, Bd. 12, S. 207.

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Form der Unterjochung.41 Sie sei im traditionellen Sinne nicht tyrannisch, da sie keine Form einer Verletzung von Verfassungsregeln darstelle.42 Auch verheiße dieser indirekte Despotismus keine gewaltsame Störung der Rechtsordnung. Aber er verweise auf die Notwendigkeit, die rein symbolische Einheit von Bürgerschaft und Regierung zu überwinden und durch reale Prozesse des Austauschs und der Kontrolle zu ersetzen. Eine demokratische Theorie der Repräsentation müsse in der Lage sein, Raum für eine Vorstellung von Souveränität zu schaffen, die sich nicht nur auf den Akt der Wahl beschränke, sondern verschiedene Formen politischer Kontrolle, Zustimmung und Nachjustierung außerhalb der Wahlzeiten zulasse. Diese Gedanken greifen in der Julimonarchie viele Liberale wieder auf. Dabei richten sie sich sowohl gegen das eingeschränkte Wahlrecht in Frankreich als auch gegen die fehlenden Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Regierung. So unterstreicht Jean-Charles-Léonard de Sismondi in seinen Études sur les Constitution des peuples libres (1836), dass das bestehende System nationaler Repräsentation „keine ausreichende Garantie der Freiheit“43 sei. Wenn es schon absurd sei zu sagen, dass ein Volk frei sei, weil es „nur den Gesetzen“ Folge leiste, so sei es umso abwegiger von der Souveränität des Volkes zu sprechen, solange es in Frankreich „etwa dreißig Millionen Einwohner“ gebe und „lediglich einhundertfünfzigtausend Wähler“.44 Die „nationale Vertretung“ sei durch die „geringe Anzahl von Repräsentanten“ und die prominente Stellung der Pairs nur ein Schattenbild ihrer selbst.45 Andere Liberale beanstanden dagegen den zunehmenden Ausbau der Verwaltung. Immer wieder warnen Jean-Baptiste Say, Charles Dunoyer und Charles Comte vor den Gefahren einer unkontrollierten und aufgeblähten Exekutive, die nicht nur Unmengen an Steuermitteln verschlinge, sondern auch anfällig für Korruption sei.46 Doch Say gesteht auch ein, dass es aus diesem Dilemma, der Notwendigkeit einer Regierung und ihrer Anfälligkeit für Amtsmissbrauch, keinen einfachen Weg

41 Condorcet, Idées sur le despotisme, à l’usage de ceux qui prononcent ce mot sans l’entrendre, in: Œuvres complètes de Condorcet, Bd. 12, S. 207. 42 „Despotismus“, schreibt Condorcet, „ist der Gebrauch oder Missbrauch einer illegitimen Macht, einer Macht, die von einem Teil der Nation oder den Vertretern der Nation ausgeht; Tyrannei ist die Verletzung des Rechts durch eine legitime oder illegitime Macht.“ Condorcet, Idées sur le despotisme, à l’usage de ceux qui prononcent ce mot sans l’entrendre, in: Œuvres complètes de Condorcet, Bd. 12, S. 229. 43 Jean-Charles-Léonard de Sismondi, Études sur les constitutions des peuples libres, Paris: Treuttel et Würtz 1836, S. 75–76. 44 Sismondi, Études sur les constitutions des peuples libres, S. 143–144. 45 Sismondi, Études sur les constitutions des peuples libres, S. 362. 46 Dies bekräftigt er unter anderem in seinem Artikel der „Encyclopédie progressiv“ (1826) und auch in seinem Cours complet d’économie politique practique (1828–1829). Er spielt mit dem Gedanken, dass Ordnung und Sicherheit von den Bürgern selbst hergestellt werden können oder von Unternehmen, die von den Bürgern den Auftrag erhalten. Jean-Baptiste Say, Œuvres complètes de Jean-Baptiste Say, hg. v. Emmanuel Blanc, Paris: Economica 2003, Bd. 5, S. 325, 327–328.

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gebe.47 An verschiedenen Stellen plädiert er dafür, die Zahl der öffentlichen Angestellten so gering wie möglich zu halten. Der öffentliche Dienst dürfe zudem keine Karriereoption darstellen. Angesicht der Stärke und wahrgenommenen Gefahr, die in der Regierungsverwaltung liege, hofft er auf die Fähigkeit gebildeter Bürger, für ihre eigenen aufgeklärten Interesse einzutreten.48 Er betont, dass moderne Freiheit notwendigerweise ein ziviles Engagement in öffentlichen Angelegenheiten verlange. Die wichtigste Kritik am technokratischen Verständnis der Exekutive stammt jedoch von Benjamin Constant. Er formuliert sie bereits in der Zeit der Restauration. In seinem Versuch, Royer-Collard und Guizot argumentativ zu begegnen, formuliert er, dass die Wahlen Regierungen hervorbringen, denen es ohne Aktivierung des Souveräns möglich sei, legitime Gesetze zu schaffen. Wenn Jean-Jacques Rousseaus Paradigma die Grundlage der demokratischen Legitimität sei, könne eine repräsentative Regierung nur undemokratisch sein, weil das Volk allenfalls in festen und seltenen Intervallen auftrete. Deshalb fordert Constant eine partizipative politische Ordnung, die über den Prozess der Wahl hinausgeht. „Das Repräsentativsystem ist nichts anderes als eine Organisationsform, mit deren Hilfe eine Nation das, was sie nicht selber verrichten kann oder will, auf einige Männer abwälzt.“49 Dieser Ansatz sei für die Moderne notwendig, aber er berge auch eine Gefahr. Um diese zu verdeutlichen, bemüht Constant ein einfaches Beispiel: „Die Armen führen ihre Geschäfte selbst, während reiche Leute sich dafür Vertrauenspersonen halten. So unterscheiden sich auch die Völker des Altertums und der modernen Nationen.“ Das Repräsentativsystem stelle eine „einer gewissen Zahl von Männern von der Masse des Volkes“ übertragene Prokura dar, denn dieses Volk wolle, dass seine Interessen gewahrt bleiben, habe aber „nicht die Zeit“, sie immer selbst umzusetzen. Wenn jedoch die Reichen, so Constant weiter, „nicht von jeder Vernunft verlassen“ seien, prüfen sie „aufmerksam und mit Strenge“, ob diese Sachverwalter auch ihre Pflicht erfüllen, ob sie „weder nachlässig noch bestechlich noch unfähig“50 seien. Das heißt, sie bilden sich selbst ein Urteil über die Arbeit ihrer Beauftragten und sie unterrichten sich immer wieder über die Geschäfte, deren Führung sie anderen anvertraut haben. Deshalb sei es wichtig, dass auch „die Völker, die in der Absicht, die ihnen zustehende Freiheit zu genießen, zum Repräsentativsystem 47 Ähnlich wie Dunoyer entwickelt er verschiedene Modelle, die Staatsmacht zu beschränken. So argumentiert er in der ersten Ausgabe seines Traité d’économie politique von 1803, dass es notwendig sei, die Funktionen des Staates auf den Schutz individueller Freiheit und des Eigentums zu beschränken. Allerdings löse dies noch nicht das Problem der Korruption. 48 Dies betont er vor allem in seinen öffentlichen Vorträgen: von 1815 bis 1819 am Athénée Royal, von 1819 bis 1832 am Conservatoire Royal des Arts et Métiers, und von 1830 bis 1832 am Collège de France. Vgl. Philippe Steiner, Gilles Jacoud, „De l’importance de l’enseignement de l’économie politique pour J.-B. Say“, in: Emmanuel Blanc u. a. (Hg.), Œuvres complètes de Jean-Baptiste Say, Paris: Economica 2003, Bd. 4, S. 9–45. 49 Benjamin Constant, „De la liberté des anciens comparée à celle des modernes“ (discours prononcé a l’Athénée de Paris), in: Oeuvres politiques de Benjamin Constant, Paris: Charpentier et cie 1874, S. 258–286, hier 282. 50 Constant, „De la liberté des anciens comparée à celle des modernes“, S. 282.

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ihre Zuflucht nehmen, eine aktive und stete Überwachung ihrer Vertreter durchführen“51. Die Gefahr des Repräsentativsystems bestehe darin, „mit zu großem Gleichmut auf das Recht der Teilhabe an der politischen Macht zu verzichten“ 52 und sie stattdessen selbst ernannten Führern anzuvertrauen. Für Regierungen sei es bisher leicht gewesen, schreibt Constant in seinen Mémoires sur les Cent-Jours, „den Souverän [das Volk] dazu zu verleiten, [...] seine eigene Versklavung zu betreiben; Bonaparte selbst hat uns mehr als ein eindrucksvolles Beispiel dafür gegeben“53. Constant versteht den Zweck politischer Repräsentation denn auch nicht im Vorgaukeln eines einheitlichen nationalen Willens. Die Aufgabe von Repräsentanten liegt seiner Meinung nach darin, die Komplexität der Gesellschaft in all ihren Widersprüchen abzubilden und in den Prozess der parlamentarischen Willensbildung einfließen zu lassen. Politische Einheit sei nicht das Ergebnis der Einhegung der real gegebenen Interessen- und Meinungspluralität, sondern Ausdruck der Prozesse politischer Willensbildung, die auch außerhalb des Parlaments stattfinden können müssen.54 Die genannten Werke enthalten eine Kritik an der abstrakten Auffassung von Volkssouveränität und Herrschaft des Gesetzes. Unabhängige Behörden tragen für die Autoren nur dann zu mehr Demokratie bei, wenn ihre Abläufe transparent sind. Ihre Aufgaben, Vorgehensweisen und Probleme müssen Gegenstand öffentlich diskutierter Stellungnahmen und Berichte sein. Darüber hinaus muss es Möglichkeiten für ihre Anrufung durch die Bürger geben. Unabhängige Behörden werden ihre Rolle im Sinne Constants nur dann gerecht, wenn sie nicht mehr einen elitären und unabhängigen Status haben. Es bedarf daher einer kontinuierlichen öffentlichen Debatte über ihren demokratischen und rechtsstaatlichen Charakter, die nicht ausschließlich im Parlament angesiedelt werden darf. 4. REPRÄSENTATION ALS PARTIZIPATION In De la démocratie en Amérique nimmt Tocqueville viele der genannten Ansätze in seine Darstellung des politischen Lebens in den USA auf. So distanziert er sich eindringlich von der von Royer-Callard und Guizot vertretenen These, wonach die Wahl dazu diene, eine neue Elite zu schaffen, die sich demokratisch legitimiert auf ihre besonderen Fähigkeiten berufen könne: „In Europa glauben viele Leute, ohne es zu sagen, oder sie sagen es, ohne es zu glauben“, dass einer „der großen Vorzüge des allgemeinen Wahlrechts“ darin besteht, „zur Führung der Geschäfte Männer zu berufen, die des öffentlichen Vertrauens würdig sind“. Das Volk, sage man, sei „zur Selbstregierung“ nicht fähig, es wolle aber aufrichtig „das Wohl des Staates“, und es 51 52 53 54

Constant, „De la liberté des anciens comparée à celle des modernes“, S. 282. Constant, „De la liberté des anciens comparée à celle des modernes“, S. 283. Constant, Mémoires sur les Cent-Jours. En forme de lettres, Paris: Béchet Ainé, Bd. 2, S. 26. Vgl. Lucien Jaume, „Le problème de l’intérêt général dans la pensée de Benjamin Constant“, in: Françoise Tilkin (Hg.), Le groupe de Coppet et le monde moderne. Conceptions, images, débats, actes du VIe colloque de Coppet, Liège 10, 11, 12 juillet 1997, Genève: Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres 1998, S. 159–176, hier 163.

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fehle ihm nicht „an Instinkt“, diejenigen zu erkennen, die vom gleichen „Wunsch beseelt“ am besten befähigt seien, „die Macht“ in ihren Händen zu halten. 55

Nichts berechtige ihn, so Tocqueville, vor dem Hintergrund dessen, was er in Amerika gesehen habe, diese Behauptungen für wahr zu halten. „Nach meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten entdeckte ich zu meiner Überraschung, wie sehr bei den Regierten das Verdienst verbreitet und wie wenig es bei den Regierenden vorhanden war.“ Es sei in den Vereinigten Staaten „eine feststehende Tatsache“, dass die „bedeutendsten Männer“ selten zu „öffentlichen Ämtern“56 berufen werden.57 Das amerikanische Beispiel macht für Tocqueville offensichtlich, dass die Frage der Souveränität, wie sie in Europa diskutiert werde, überholt sei und neu interpretiert werden müsse. Weil Repräsentanten Gesetze machen, die alle Bürger betreffen, und nicht nur diejenigen, die sie gewählt haben, müsse es eine öffentliche Kontrolle der Legislative geben. Deshalb sei es wichtig, dass sich Bürger auch zwischen den Wahlen und auf verschiedenen politischen Ebenen engagieren und politisch aktiv werden können. Die politische Repräsentation, wie Tocqueville sie darstellt, bricht mit der Logik der Homogenität und ersetzt sie durch Prozesse der Identifizierung, wie sie bereits Constant angedacht hat. Infolgedessen ruht seine Darstellung der amerikanischen Demokratie auf jenen politischen Erfahrungs- und Handlungsräumen, die es den Menschen ermöglichen, als Bürger aktiv zu werden und zur Formierung kollektiver Überzeugungen beizutragen. Das heißt, die Praxis der Volkssouveränität setzt Formen der Beteiligung voraus, die nicht auf den Prozess der Wahl und der Gesetzgebung reduziert werden können. Deshalb qualifiziert Tocqueville Demokratie auch mit anderen Partizipationsformen. So verspricht er sich von den Institutionen lokaler und regionaler Selbstverwaltung, dass der gewählten, repräsentativen Zentralgewalt möglichst viele Einflussbereiche entzogen werden und sich eine politische Kultur der Freiheit und Selbstbestimmung entwickele.58 In seiner Darstellung des Repräsentativsystems in den USA, das er nicht 55 Alexis de Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 314– 315. 56 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 314–315. 57 Tocqueville wendet sich gegen eine Auffassung von Wahl, wonach die „fähigsten“ und „am meisten um das Wohl des Volkes bemühten Männer“ gewählt werden. „Es ist nur gerecht“, schreibt Sieyès, „dass die Männer, die den Auftrag haben, die Nation zu repräsentieren, dem Kreise entnommen sind, die ihr am meisten Ehre machen, die sich der größten Verdienste um ihr Land erworben haben.“ Abbé Sieyès, „La nation“, in: Archieves nationales, 284 AP3, Akte 2, Mappe 3. Diese Auffassung findet sich nicht nur bei den französischen Revolutionären und amerikanischen Verfassungsvätern, sondern in der Restauration und Julimonarchie auch bei vielen Liberalen. 58 Tocqueville hält die Praxis direkter Selbstverwaltung in Amerika für so erklärungsbedürftig, dass er ausführt, dass sich die öffentlichen Ämter in den Gemeinden Neuenglands hauptsächlich auf Verwaltungsaufgaben beziehen, die von gewählten Vertretern ausgeübt werden, die einer beständigen öffentlichen Kontrolle unterstehen und bei Unterlassungen oder Fehlverhalten persönlich haftbar gemacht werden können. Diese (Bürgermeister, Friedensrichter etc.) führen eine festgelegte Anzahl von Aufgaben ohne Ermächtigung von Seiten der Bürger aus. Bei Ordnungsänderungen oder Neuvorhaben müssen sie sich allerdings direkt an die Bürger wenden. „Nehmen wir an, es soll eine Schule errichtet werden; die gewählten Vertreter berufen die

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nur anhand der Bundesstaaten und der Union erläutert, sondern auch in Bezug auf die Gemeinde, beschreibt Tocqueville demokratische Repräsentation als offen für verschiedene Formen der Partizipation. Dabei ist es für ihn wichtig zu belegen, dass die Politik der Repräsentation aus der Politik keine Domäne von Ideologie und Manipulation mache. Wenn ein offener Prozess der Artikulation politischer Interessen in die Definition und das Verständnis von Souveränität eingeführt werde, wie es in den USA der Fall sei, dann komme ein neues Verständnis von Politik zum Tragen, das den Souverän permanent in Aktion sehe. Ein wichtiges Beispiel sind für Tocqueville intermediäre Assoziationen, die außerhalb der staatlichen Institutionen angesiedelt sind. Diese seien wesentlich für das Gelingen demokratischer Prozesse. Nicht nur Politiker betreiben Politik, sondern in unterschiedlichen Formen und Institutionen alle Bürger. Heftig wettert er deshalb gegen die in Frankreich heraufbeschworene Gefahr der Parteien und Vereine,59 die als Elemente der Spaltung des Gemeinwillens angesehen werden: „Die meisten Europäer sehen in der Partei noch immer eine Kriegswaffe, die man in Eile herstellt, um sie alsbald auf einem Schlachtfeld zu erproben.“ Eine Vereinigung werde als „ein Heer“ angesehen, um „Mitglieder“ zu zählen und zu begeistern, und dann „gegen den Feind“ zu ziehen. In den Augen derer, die sie bilden, mögen „die gesetzlichen Möglichkeiten“ als „Mittel zum Erfolg“ erscheinen, aber sie seien nie „das einzige Mittel“60 hierzu. In den Vereinigten Staaten verstehe man das Vereinsrecht dagegen als kollektives Recht einer pluralen Gesellschaft. „Die Bürger, die die Minderheit bilden, verbinden sich in Amerika zuerst, um ihre Zahl festzustellen und dadurch die moralische Herrschaft der Mehrheit zu schwächen; das zweite Anliegen der Mitglieder besteht darin, gemeinsam die stärksten Argumente zu finden, die auf die Mehrheit Eindruck machen können“; denn stets hoffen sie, „diese zu sich herüberzuziehen und alsdann in ihrem Namen über die Macht zu verfügen“.

In den Vereinigten Staaten, schließt Tocqueville, „sind also die politischen Vereinigungen in ihrem Ziel friedlich und in ihren Mitteln gesetzlich; und wenn sie behaupten, nur auf gesetzlichem Wege siegen zu wollen“, so sagen sie „im Allgemeinen die Wahrheit“61. Gesamtheit der Wähler zu einem bestimmten Tage und an einem vorher festgesetzten Orte ein und legen ihnen das bestehende Verlangen vor; sie nennen die Mittel, es zu befriedigen, die hierzu nötige Geldsumme, den zu wählenden Platz. Die Versammlung stimmt auf Grund dieser Darlegung zu und setzt den Platz fest, beschließt die Steuer und betraut die Sachverwalter mit dem Vollzug ihres Willens.“ Das heißt, die Gemeindevertreter haben das Recht, die Gemeindeversammlung einzuberufen oder werden dazu aufgefordert, aber sie haben nicht die Befugnis, eigenmächtig im Namen der Gemeinde Entscheidungen zu treffen. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 104–106. 59 Erst republikanische Modelle der dritten Republik verknüpfen das Prinzip der individuellen Repräsentation mit dem der Volkssouveränität. Doch auch danach werden lokal vom Volk gewählte Repräsentanten den Parteien als Bindeglied zwischen Bürger und Staat vorgezogen. Um das Gemeinwohl angemessen vertreten zu können, sollen die parlamentarischen Abgeordneten weitgehend Handlungsfreiheit gegenüber den Parteien besitzen. Die republique des notables basiert auf den Prinzipien des republikanischen Parlamentarismus. 60 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 309–310. 61 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 309–310.

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Mit diesen Aussagen appelliert Tocqueville allerdings nicht nur an seine französische Leserschaft, gegenüber Vereinen und politischen Parteien offen zu sein, sondern er reagiert auch auf die amerikanische Debatte. Der Historiker Ronald P. Formisano, der die weit verbreitete parteifeindliche Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit vor 1860 untersucht hat, beschreibt, dass im politischen Denken der Zeit immer noch eine natürliche Hierarchie und Harmonie in der Gesellschaft vorausgesetzt wird.62 So lehnt etwas John Quincy Adams die utilitaristische Vorstellung ab, dass die Regierung „das größte Glück der größten Zahl“ fördern müsse. Die wahre Aufgabe der Regierung sieht er darin, die Interessen abzuwägen, sodass ein höheres Gut sichtbar werde. In einem solchen Denken gibt es keinen Platz für partielle Interessen oder Parteilichkeit. Die Entwicklung politischer Parteien kann in Adams Augen deshalb auch nur eine Bedrohung des gesellschaftlichen Konsenses darstellen und politische Konflikte schüren.63 In seinem Sprachgebrauch ist eine „Fraktion“ eine Partei, die ihre Eigeninteressen zu Lasten des Gemeinwohls verfolgt. Die Bildung von Fraktionen wird von Adams denn auch als eine Stufe in der Degeneration der Republik betrachtet. Fraktionen seien egoistisch und rücksichtslos gegenüber den wahren nationalen Interessen. Sie gefährden den Staat,64 denn sie stellen die natürliche Autorität von Personen und die politische Ordnung in Frage.65 Für Tocqueville dagegen führt eine Demokratie, die zwischen Bürgern und Staat nur gewählte Repräsentanten anerkennt, zu einer Verarmung der Staatsbürgerschaft. Ohne die Möglichkeiten zusätzlicher politischer Freiräume sei das Volk passiv.66 Das Recht der Bürger, den politischen Willen zu gestalten, gehe einher mit ihrem Recht, sich zu organisieren und den eigenen Vorstellungen eine öffentliche Stimme zu geben. Dabei ist es Tocqueville wichtig zu zeigen, dass die Angst vor Demagogie und Parteienkampf unbegründet ist, auch wenn er sie nicht ausschließt. So verweist er darauf, dass die „stärkste Ursache“, die in den Vereinigten Staaten dazu beitrage, „das Ungetüm der politischen Vereinigung zu dämpfen“, im allgemeinen Wahlrecht bestehe. In Ländern, wo das allgemeine Wahlrecht zugelassen sei, bleibe die Mehrheit nie zweifelhaft, denn „keine Partei“ könne sich vernünftigerweise als „Vertreterin derer ausgeben, die nicht abgestimmt haben“. Die Vereine wissen also, und alle Welt wisse es, dass sie nicht „die Mehrheit“ darstellen.

62 Ronald P. Formisano, The Birth of Mass Political Parties, Princeton: Princeton University Press 1971, S. 77; Vgl. auch Daniel Walker Howe, The Political Culture of the American Whigs, Chicago: University of Chicago Press 1984, S. 43–68. 63 William H. Seward, The Life and Public Services of John Quincy Adams, Auburn: Miller and Co 1849, S. 86. 64 Tagebucheintrag Adams vom 25. Juli 1840, in: John Quincy Adams, Memoirs of John Quincy Adams. Comprising Portions of his Diary from 1795 to 1848, Philadelphia: J. B. Lippincott and Company 1876, Bd. 10, S. 342. 65 Sydney Nathans, Daniel Webster and Jacksonian Democracy, Baltimore: John Hopkins University Press 1973, S. 6. 66 Augustin Cochin, L’ésprit du jacobinisme. Une interprétation sociologique de la Révolution Française, Paris: PUF 1979, S. 80–81.

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Das ergebe sich aus ihrem Vorhandensein selbst; „wären sie die Mehrheit, so würden sie selber das Gesetz ändern“67 und nicht nur Änderungen fordern. Das heißt, die sittliche Kraft der Regierung wird durch das Wirken von Parteien und Vereinigungen gestärkt. Gleichzeitig kann die Regierung nicht den Anspruch erheben, für das ganze Volk zu sprechen, sondern nur für eine Mehrheit. Damit wird der politische Prozess als generell offen behandelt. Jede Vereinigung, jede Partei und alle Repräsentanten müssen für ihre Überzeugungen werben, um Mehrheiten zu organisieren. Kein Bürger muss dabei seinen Willen oder seine Vernunft opfern, sondern ist dazu aufgefordert, sich für seine Interessen zeitweise oder dauerhaft zu engagieren. Direkte und indirekte Formen der Mitbestimmung schließen sich dabei nicht aus, sondern stärken sich gegenseitig. Repräsentation bedeutet für Tocqueville folglich nicht, „an Stelle von jemandem zu handeln“, sondern die Bürger in die Kommunikation mit einzubeziehen. Deshalb ist es für ihn auch wichtig, dass die politischen Prozesse, Aufgaben, Herausforderungen und Lösungsansätze öffentlich gemacht werden. Wähler müssen wissen, was die Repräsentanten tun, sagen und wie sie im Parlament abstimmen, weil sie ihr Urteil mit ihren eigenen Überzeugungen vergleichen müssen. Aber sie müssen auch ein Bild von den Abläufen in den Behörden haben. Gerade hier sei die Rolle der Bürger stets vernachlässigt worden. Tocqueville zeichnet in De la démocratie en Amérique deshalb ein positives Bild von den Formen kommunaler Selbstverwaltung, wie er sie in New England kennenlernt. Gemeinden, die über kommunale Aufgaben frei entscheiden können und für das Wohl ihrer Einwohner in freier Selbstverwaltung durch ihre von der Bürgerschaft gewählten Organe sorgen, können durch ihren überschaubaren Bezugsrahmen an Aufgaben besonders bürgernah agieren. Sie verkörpern eine „echte Demokratie“, weil die Bewohner aktiv in den Prozess der kollektiven Entscheidungsfindung und -umsetzung eingebunden werden. In den Gemeinden würdigt Tocqueville vor allem die Direktwahl der Verwaltungsbeamten, ihre Rechenschaftspflicht gegenüber der Gemeinde, das Auskunftsrecht der Bürger und die Möglichkeit, Verwaltungsvorgänge durch ordentliche Gerichte prüfen zu lassen.68 Aber auch in der Rechtsprechung beschreibt Tocqueville die Rolle der Bürger. Hatten die Anti-Federalists die Jury vor allem zum Bollwerk gegen richterliche Willkür deklariert, beschreibt Tocqueville sie als einen öffentlichen und transparenten Erfahrungsraum der Rechtsprechung und Rechtsanwendung, der das Vertrauen der Bürger in die Judikative stärke, weil sie selbst in ihre Entscheidungen und deren Umsetzung einbezogen werden. Die Jury sei ein Erfahrungsraum, an dem die Bürger einer Gemeinde die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten kennenlernen, einüben und zum Schutze individueller und kollektiver Freiheiten anwenden. Das heißt Tocqueville behandelt die Jury als eine Institution, durch die Bürger Vertrauen in den Staat, in die Rechtsprechung und das Amt des Richters erhalten, weil

67 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 310–311. 68 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 150.

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sie ihre Verantwortung in der Rechtsprechung erkennen.69 Gleichzeitig mache sie das Gerichtsverfahren zu einem anschaulichen Vorgang, der für alle Bürger offen stehe und die komplizierten Normen, Regeln und Verfahren an konkreten Beispielen verständlich mache. Nur durch Transparenz der Verfahren, so Tocqueville, könne eine kritische Akzeptanz geschaffen werden. In diesem Sinn verteidigt er auch den weitreichenden Informationsanspruch der Bürger gegenüber öffentlichen Behörden.70 In De la démocratie en Amérique urteilt er, dass ein Volk sich nur dann frei regieren könne, wenn es nicht nur Repräsentanten wählen, sondern jederzeit auch seine eigene Stimme erheben dürfe, um sich in die politischen Debatten und Verfahren einzubringen und Kritik zu üben. „Ich gebe gern zu“, schreibt er, „dass die öffentliche Ruhe ein großes Gut ist. Indessen will ich nicht übersehen, dass alle Völker auf dem Weg über den Ruf nach guter Ordnung der Gewaltherrschaft verfallen sind.“ Daraus folgt für ihn nicht, dass „die Völker die öffentliche Ruhe gering veranschlagen sollen“, aber sie dürfen sie nicht höher veranschlagen als ihre kollektiven Freiheitsrechte. „Ein Volk, das von seiner Regierung nichts fordert als das Wahren der Ordnung, ist in seinem Innersten bereits Sklave; es ist Sklave seines Wohlergehens, und bereit für den Mann, der es in Ketten legt.“71

69 Siehe dazu Albert W. Dzur, „Democracy’s ‘Free School’. Tocqueville and Lieber on the Value of the Jury”, in: Political Theory 38/5 (2010), S. 603–630. 70 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 292. 71 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 3, S. 952.

TOCQUEVILLES KRITIK DEMOKRATISCHER INSTITUTIONEN UND PRAKTIKEN Dirk Jörke 1. EINLEITUNG In einem 1852 gehaltenen Vortrag vor der Academie des Sciences Morales et Politiques betont Tocqueville die Bedeutung einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Politik: „[B]ei allen zivilisierten Völkern sind die politischen Wissenschaften Schöpfer oder zumindest Gestalter jener allgemeinen Ideen, aus denen dann die spezifischen gesellschaftlichen Umstände erwachsen, unter denen die Politiker handeln, wie auch die Gesetze, die sie zu ersinnen glauben“.1 Die politische Wissenschaft erzeugt jene Ideen, aus denen die politischen Institutionen und bürgerliche Gesetze wachsen. Es ist diese Überzeugung, die den Schlüssel zu seinem Werk liefert. Tocqueville versteht sich als politischer Wissenschaftler im Sinne eines Beraters der Demokratie; einer „völlig neuen Welt“, die einer „neuen politischen Wissenschaft“ bedarf.2 Ihm zufolge ist der Siegeszug der Demokratie zwar unaufhaltsam, doch die neue Ordnung muss nicht im Chaos enden. So dient der Blick nach Amerika der Auffindung derjenigen Institutionen und Praktiken, die die demokratischen Leidenschaften zügeln können. Aus dieser Programmatik ergibt sich für Tocqueville eine doppelte Stoßrichtung. Er muss einerseits die Gefahren, die mit demokratischen Praktiken einhergehen, aufzeigen und andererseits jene Mechanismen entfalten, die auch im demokratischen Zeitalter die Freiheit garantieren sollen. Entgegen einer liberal-konservativen bisweilen an Hagiographie grenzenden Lektüre, die ihn vor diesem Hintergrund als „Analytiker der modernen Demokratie“3 begreift oder den Anspruch erhebt, mit Tocqueville der zeitgenössischen Sozialwissenschaft „einige Lektionen“4 erteilen zu können, sind die folgenden Ausführungen von einem kritischen Gestus geprägt. Tocqueville wird hier als ein politischer Denker gelesen, der sich zwar insofern als realistisch erwiesen hat, als er die Vergeblichkeit anerkannte, den Siegeszug der Demokratie aufzuhalten. Doch zugleich ging es ihm eben vornehmlich darauf, dieses Übel einzuhegen, in dem er die 1 2 3 4

Alexis de Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, Paris: Gallimard 1989, S. 233. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1 und 2, München: dtv 1976, S. 9. Harald Bluhm, Skadi Krause, Einleitung, in: Bluhm/Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der modernen Demokratie, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 11. Aurelian Craitu, „Tocquevilles neue politische Wissenschaft wiederentdeckt: Einige Lektionen für zeitgenössische Sozialwissenschaftler“, in: Bluhm/Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville, S. 33−49, hier S. 33.

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Demokratie zu „belehren“5 trachtet. Tocqueville war kein Anhänger der Demokratie, sondern einer ihrer wirkmächtigsten Kritiker: „Tocqueville zu studieren, bedeutet, eine Reihe von Einwänden gegen die Demokratie kennenzulernen und eine Haltung der Wachsamkeit gegenüber ihren mutmaßlichen Gefahren zu fördern, die dabei helfen können, Liberale, Konservative und Sozialwissenschaftler zu vereinen “6. Um das zu zeigen, soll im Folgenden Tocquevilles Auseinandersetzung mit den konkreten Institutionen und Praktiken der modernen Demokratie rekonstruiert werden. Dabei geht es im Einzelnen um Parteien und Berufspolitiker (1), die Dynamiken von Versammlungen und Ausschüssen (2), demokratische Wahlen (3) und schließlich Geschworenengerichte (4). Meine abschließende These ist, dass sich gerade bei der Lektüre von Tocquevilles Schilderungen der konkreten demokratischen Praxis zeigt, dass dieser zuvorderst ein Kritiker der Demokratie gewesen ist (5). 2. PARTEIEN UND BERUFSPOLITIKER ALS ÜBEL DER DEMOKRATIE Bereits im ersten Band seiner Studie Über die Demokratie in Amerika gibt es einen knapp achtseitigen Abschnitt über die Parteien in den Vereinigten Staaten. Er unterscheidet eingangs zwischen großen und kleinen Parteien, wobei Erstere sich durch grundlegende politische Grundsätze auszeichnen, Letztere demgegenüber lediglich durch gemeinsame Interessen: „Als große Parteien bezeichne ich die, die sich mehr an die Grundsätze als an die Folgen halten; sie befassen sich mit dem Allgemeinen und nicht mit den Einzelfällen, mit den Ideen und nicht mit den Menschen. Diesen Parteien sind im allgemeinen edlere Züge eigen, großherzigere Leidenschaften, echtere Überzeugungen, ein offeneres und kühneres Gebären als den andern. […] Im Gegensatz dazu sind die kleinen Parteien im allgemeinen ohne politisches Glaubensbekenntnis. Da sie sich nicht durch große Ziele erhoben und getragen fühlen, gibt der Eigennutz, der in all ihrem Tun sichtbar wird, ihrem Wesen das Gepräge“ 7.

Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung skizziert Tocqueville die Geschichte der Parteien in den Vereinigten Staaten als einen Verfallsprozess. Zur Zeit der Revolution habe es noch große Parteien gegeben, doch heute (1835) bestünden diese nicht länger. Tocquevilles entscheidendes Argument ist hier, dass es immer weniger gelungen sei, die demokratischen Kräfte zu zügeln. Dies zeige sich am wachsenden Erfolg der republikanischen Partei und der Wahl von Thomas Jefferson zum Präsidenten im Jahre 1801, dem er eine „gewaltige Volkstümlichkeit“8 attestiert. Die Federalists, in deren Reihen „sich fast alle großen Männer“9 befanden, seien hinge5 6 7 8 9

Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 9. Sheldon Wolin, Tocqueville between two Worlds. The Making of a Political and Theoretical Life. Princeton u. Oxford: Princeton University Press 2001, S. 379. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 199−200. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 201. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 200.

Tocquevilles Kritik demokratischer Institutionen und Praktiken

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gen durch die Demokratisierung an den Rand gedrängt worden. Die Zeit ihrer Regentschaft wird von Tocqueville daher auch als eine Art Goldenes Zeitalter beschrieben. In diesem Abschnitt über die Parteien in Amerika wird zweierlei deutlich. Zum einen treten die aristokratische Grundannahmen Tocquevilles hervor. Zwar betont er erneut, dass der Demokratie die Zukunft gehört, doch er kann dies nur als einen Verlust an Tugend und Größe sehen. Je größer der Einfluss der demokratischen Kräfte, umso kleiner die Parteien. Zum anderen zeigt sich aber auch eine gering ausgebildete analytische Schärfe in seinen Überlegungen. Die Unterscheidung zwischen „großen“ und „kleinen“ Parteien ist vergleichsweise unterkomplex und in ihrer Bewertung Ausdruck der ihm eigenen Vorurteilsstruktur. Zwar hat Tocqueville zu Beginn seiner Studie über die amerikanische Demokratie eine „neue politische Wissenschaft“ angekündigt, doch bei der Thematisierung von Parteien bleibt er begrifflich wie ideologisch den Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts verhaftet. Auch in seinen Erinnerungen tritt dieser Zug hervor. Bevor auf die dortigen Schilderungen von Parteien und Berufspolitikern einzugehen ist, soll aber noch auf eine Notiz aus dem Jahre 1847 verwiesen werden. Überschrieben ist diese Notiz mit De la classe moyenne et du peuple. Tocqueville befasst sich dort mit dem Umstand, dass die französischen Bürger dem Treiben in der Nationalversammlung mit einer Mischung aus Unverständnis und Desinteresse begegnen, einem Phänomen, das wir heutzutage mit dem Begriff der „Politikverdrossenheit“ zu fassen versuchen. In seinen Worten stellt es sich folgendermaßen dar: „Die Nation scheint in zwei ungleiche Teile geteilt: der eine, sehr klein, welcher handelt und in den Kammern auftritt, der andere, sehr zahlreich, der diese kleine Anzahl von Akteuren beobachtet, ohne jedoch die Bedeutung des Stückes zu verstehen oder den verschiedenen Vorfälle des parlamentarischen Dramas Bedeutung zuzumessen.“10.

Als mögliche Ursachen hierfür nennt Tocqueville zunächst eine mangelnde politische Bildung, kommt dann aber zu einer grundlegenderen Analyse. Und zwar stellt für ihn diese politische Apathie die Konsequenz einer nivellierten Massengesellschaft dar. Doch beschränke sich diese Homogenität nicht auf das gesellschaftliche Leben, sie sei vielmehr auch in der politischen Arena, bei den Parteien spürbar. An den politischen Debatten im Parlament seien zwar durchaus talentierte Redner beteiligt, aber es würde an wirklichen, weil ideellen Kontroversen mangeln: „Im Grunde unterscheiden sie sich mehr durch Worte als Ideen und, während sie ihre Feindseligkeiten untereinander steigern, sehen sie nicht klar, worin ihre Handlungen differieren“11. Allerdings prophezeit er am Ende seiner Notiz 1847 eine Renaissance der großen Parteien und der mit diesen verbundenen politischen Leidenschaften. Und zwar sei es die Frage des Eigentums, welche eines Tages Gegenstand eines politischen 10 Alexis de Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville et de Gustave de Beaumont, Œuvres complètes, Bd. VIII/2, hg. v. André Jardin, Paris: Gallimard 1985 S. 738. 11 Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville et de Gustave de Beaumont, Œuvres complètes, Bd. VIII/2, S. 740.

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Kampfes zwischen Arm und Reich sein wird. Insofern ist das Ergebnis seiner Überlegungen für Tocqueville ambivalent. Auf der einen Seite ist das Versiegen der politischen Erregungen in der Massengesellschaft zu beklagen, auf der anderen Seite besitzt aber auch das Szenario eines Wiederauflebens dieser Leidenschaften einen mehr als bitteren Beigeschmack, droht doch als Ergebnis dieser Kämpfe die Beseitigung der „letzten Überbleibsel einer zerstörten aristokratischen Welt“12, nämlich des Rechts auf Eigentum. Tocqueville konnte sich jedoch bereits ein Jahr später davon überzeugen, dass diese Gefahr zumindest zunächst überwunden war. Die sozialistische Revolution von 1848 in Frankreich scheiterte. In seinen Erinnerungen hat Tocqueville ein zwar einseitiges, aber durchaus lebendiges Bild dieser Ereignisse und der folgenden politischen Entwicklungen gezeichnet. Einen für unseren Zusammenhang wichtigen Aspekt davon bildet die Schilderung seiner Erfahrungen als Abgeordneter der Französischen Nationalversammlung. Die Erinnerungen sind von Tocqueville nach eigenen Angaben nicht für eine breitere Öffentlichkeit vorgesehen gewesen, entsprechend frei und ungezwungen sind dann auch die Schilderungen seiner Parlamentskollegen und Kontrahenten. Man kann dieses Werk am besten mit sorgfältigen Tagebuchaufzeichnungen vergleichen, in denen zum einen sein schriftstellerisches Talent zum Ausdruck kommt, zum anderen aber ebenso das Bemühen Tocquevilles, seine damaligen Handlungen vor sich selbst, aber vielleicht dann doch auch vor den Augen der Nachwelt zu rechtfertigen. Er schildert und reflektiert in diesem Werk seine Tätigkeit als Berufspolitiker von der 48er Revolution bis zu seiner Entlassung als Außenminister der Zweiten Republik.13 Tocqueville macht dabei keinen Hehl aus seinen Sympathien und Antipathien, seine Schilderungen vieler Personen bezeugen seine Gabe zu detaillierten Charakterstudien, sie sind aber auch Ausdruck seines eigenen Charakters, seiner Vorurteile und seines Ressentiments. Letzteres richtet sich mit besonderer Schärfe gegen die Vertreter der radikalen Linken, also vor allem gegen die Repräsentanten der Bergpartei. In den Erinnerungen kommt es zu einer Kritik des Berufspolitikers, und zwar ist es die Käuflichkeit der Politiker, die Tocqueville anprangert. So berichtet er von einem Bündnis zwischen Abgeordneten der Linken und der von Adolphe Thiers geführten liberalen Opposition. Dieses Zusammengehen kam jedoch nicht aufgrund von politischen Gemeinsamkeiten zustande – diese machten ein derartiges Bündnis eher unwahrscheinlich –, sondern infolge von Pfründen, die Thiers der Linken bei einer gemeinsamen Regierungsübernahme versprach:

12 Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville et de Gustave de Beaumont, Œuvres complètes, Bd. VIII/2, S. 740). 13 Zu Inhalt und Status der Erinnerungen vgl. André Jardin, Alexis de Tocqueville. Leben und Werk. Frankfurt/M. und New York: Campus Verlag 1991, S. 345−375; Sheldon Wolin, Tocqueville between two Worlds, Princeton u. Oxford. 2001. S. 428−497 und die detaillierte Darstellung von Tocquevilles politischer Laufbahn während der Zweiten Republik in Sharon B. Watkins, Alexis de Tocqueville and the Second Republic. A Study in Political Practice and Principles. New York u. Oxford: University Press of America 2003.

Tocquevilles Kritik demokratischer Institutionen und Praktiken

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„Fast alle der halsstarrigen und ungelehrigen Politiker, die der Linken in so großer Zahl angehörten, waren durch die Versprechungen von Herrn Thiers, der ihnen alle möglichen Posten in Aussicht stellte, immer milder, entspannter, zahmer und fügsamer geworden“ 14.

Diese Stelle ist insofern bemerkenswert, als hier ein Mechanismus beschrieben wird, der auch heute noch einen wichtigen Gegenstand der politikwissenschaftlichen Diskussion darstellt: die Bildung einer politischen Klasse, deren Angehörige weniger ihre parteipolitischen Ziele als vielmehr ihre je eigenen Karriereinteressen verfolgen. Dies führt jedoch nicht nur zu einer lebensweltlichen Diskrepanz zwischen den politischen Eliten und den Wählern, sondern auch zu einer Abschwächung der Wahl als Garant der Responsivität.15 Bei Tocqueville geht es jedoch weniger um die Frage einer angemessenen Repräsentation der Wählerinteressen als um die Qualität des politischen Personals. Und eben diese sieht er im Schwinden begriffen. Ein wesentlicher Aspekt hiervon sei dann auch das Streben nach Staatsämtern, wie er mit melancholischem Pathos schreibt: „Es ist die Wahrheit, eine betrübliche Wahrheit, daß der Drang nach amtlichen Stellungen und der Wunsch, von den Mitteln des Staates zu leben, bei uns nicht die Krankheit einer Partei, sondern das große und dauernde Gebrechen der Nation selbst darstellen; sie sind das gemeinsame Werk der demokratischen Verfassung und der übertriebenen Zentralisierung unserer Staatsverwaltung“16.

Etwas resignativ muss Tocqueville indes einräumen, dass auch er seinen Idealen nicht entsprechen konnte. Zwar weißt er jeden Verdacht eines opportunistischen Agierens weit von sich, doch stellt er selbstkritisch fest, dass er nicht über die notwendigen Eigenschaften verfüge, um in der Politik eine große Rolle zu spielen. Zu diesen erforderlichen Qualitäten zählt er zum einen die Gabe, eine größere Anzahl von Männern zu führen, und zum anderen rhetorisches Geschick.17 3. DIE POLITISCHE DYNAMIK VON VERSAMMLUNGEN UND AUSSCHÜSSEN In Tocquevilles Werk werden an verschiedenen Stellen politische Versammlungen beschrieben. Es handelt sich nahezu ausschließlich um kurze Passagen, in denen er den Rahmen und die Dynamiken von Versammlungen schildert und sich dabei zumeist auch nicht einer Bewertung enthält. Gerade dort, wo man am ehesten eine eingehende Analyse von politischen Versammlungen erwartet, nämlich in Über die Demokratie in Amerika, werden diese nur beiläufig erwähnt. Selbst in dem berühmten Kapitel über die kommunale Basis der Demokratie in den Neuenglandstaaten 14 Alexis de Tocqueville, Erinnerungen, Stuttgart: K. F. Koehler Verlag 1954, S. 56. 15 Ein Überblick über die aktuelle Diskussion findet sich bei Jens Borchert, Die Professionalisierung der Politik. Zur Notwendigkeit eines Ärgernisses, Frankfurt/M. u. New York: Campus Verlag 2003. 16 Tocqueville, Erinnerungen, S.72. 17 Tocqueville, Erinnerungen, S.133−134.

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kommt es zu keiner nennenswerten Untersuchung der mit den „township meetings“ einhergehenden politischen Praktiken. Hier berichtet Tocqueville nur allgemein von der Einberufung von Gemeindeversammlungen und deren Entscheidungsbefugnissen, jedoch nicht über die konkreten Abläufe. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Wahl des amerikanischen Präsidenten, auf die im nächsten Abschnitt noch näher einzugehen sein wird, finden sich aber einige allgemeine Bemerkungen zu politischen Versammlungen. Hier lobt Tocqueville das von der Verfassung vorgesehene doppelt indirekte Wahlverfahren. Dieses ist zunächst deshalb indirekt, weil der Präsident bekanntlich nicht unmittelbar, sondern durch die Wahlmänner gewählt wird. Zudem ist die Wahl aber auch indirekt, weil keine Wahlversammlung vorgesehen ist, die Wahlmänner vielmehr lediglich in ihrem Bundesstaat zusammenkommen und dann die Stimmen an den Sitz der Zentralregierung übermitteln. Dieses Verfahren birgt für Tocqueville den Vorteil, dass Wahlversammlungen, die „unvermeidlich Leidenschaften und Streit erregen“18, nicht stattfinden und damit einem der Hauptübel der Demokratie entgegengetreten werde. Dass es sich hierbei für den französischen Adligen nicht lediglich um ein hypothetisches Übel gehandelt hat oder eins, das er aus der Lektüre antiker Klassiker entnahm, wird bei der Schilderung einer Wahlversammlung vom 15. August 1833 in London deutlich. Vorwegzuschicken ist, dass Wahlen in England damals über mehrere Tage abgehalten und durch „viva voce“ durchgeführt wurden. Das heißt, die Wähler haben den Namen des Kandidaten, dem sie ihre Stimme geben wollten, dem Wahlleiter zugerufen. Auch gab es keinen geschlossenen Raum, die Stimmabgabe erfolgte im Rahmen einer öffentlichen Versammlung, in der die Kandidaten und deren Unterstützer auch Reden gehalten haben. Auffällig in Tocquevilles Schilderung ist zunächst der durchweg negative Tonfall; er entwirft das Bild einer chaotischen Versammlung, die von Geschrei und Tumulten beherrscht wird. So schreibt er: „Der Raum war von eine Menge Zuschauer erfüllt. Die meisten gehörten offensichtlich zu den unteren Schichten des Volkes“, kurz danach heißt es, dass es sich um „einen sehr turbulenten und ziemlich ekelhaften Anblick“ gehandelt habe. Dies ergibt sich für Tocqueville zum einen aufgrund der sozialen Zusammensetzung der Versammlung, die er als minderwertig charakterisiert: „in ihren Gesichtern, diese Degradation, wie man sie nur bei den Bewohnern großer Städte“19 findet; eine Äußerung, die wohl mehr über Tocquevilles Wurzeln und die damit einhergehenden Vorurteile, als über die tatsächliche soziale Herkunft der Versammlungsteilnehmer verraten dürfte. Interessanter ist daher der andere Aspekt, den er hervorhebt. Dabei handelt es sich um eine Wahlrede eines Whigs. Dessen Rede wird von einem Stadtbeamten angekündigt und zu Beginn mit heftigem Applaus bedacht. Weiter heißt es bei Tocqueville: „Er sprach etwa zehn Minuten. Sein Stil schien mir im Allgemeinen vulgär, wie die Versammlung, die ihm zuhörte. Er erlaubte sich gegenüber seinen Anhängern 18 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 150. 19 Alexis de Tocqueville, Voyages en Angleterre, Irlande, Suisse et Algérie, Œuvres complètes, Bd. V/2, hg. v. Jacob P. Mayer und André Jardin, Paris: Gallimard 1958, S. 13.

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Witze, die in Frankreich als geschmacklos bewertet worden wären, doch die hier mit Beifall begrüßt wurden. Im Allgemeinen unterbrach die Versammlung ständig den Redner“20. Demokratische Wahlversammlungen sind also dieser Skizze gemäß dadurch gekennzeichnet, dass es Bezüge auf den Charakter des politischen Gegners gibt und eine intensive Interaktion zwischen Redner und Publikum existiert. In den Augen von Tocqueville stellt dies einen radikalen Bruch mit den politischen Sitten dar. Dass unter diesen Umständen eine rationale Entscheidungsfindung überhaupt nicht denkbar sein kann, ist dann für ihn auch evident. Insgesamt treten hier erneut Tocquevilles Vorbehalte und Vorurteile hervor. Wenn das „einfache“ Volk in politischen Angelegenheiten zusammenkommt, dann kann dies für ihn scheinbar nur im Tumult enden. Die unbeherrschten Leidenschaften der Massen, die in Amerika mit Blick auf die Präsidentenwahl durch ein entsprechendes institutionelles Design vermieden werden, bestimmen hier das politische Geschehen. Zumindest ist dies das von Tocqueville vermittelte Bild. Differenzierter ist die anschließende Darstellung einer politischen Versammlung, in der es um die Unterstützung polnischer Flüchtlinge ging. Über den Rahmen der Versammlung erfahren wir ebenso wenig wie über die soziale Zusammensetzung der Teilnehmer, es ist lediglich abstrakt von einem Publikum die Rede. Die Wortwahl legt aber den Schluss nahe, dass es sich hier erneut um eine Versammlung handelt, an der das „einfache“ Volk zumindest auch teilnimmt. So ist von Aufbrausen des Applauses die Rede: „[D]ie Anwesenden ließen im Raum einen donnernden Applaus erschallen, dass der Sprecher unterbrochen wurde“21. Deutlich wird zunächst eine despektierliche Charakterisierung der Praktiken dieser Zusammenkunft. So hebt er hervor, dass das Publikum nahezu wahllos die Äußerungen der Redner beklatscht und sich deren argumentativer Gehalt doch sehr beschränken würde. Zu hören bekäme man Banalitäten und große Wörter, aber keine anspruchsvollen Überlegungen. Doch es bleibt nicht bei dieser zu erwartenden Beschreibung. Als ob durch die Ausnahme die Regel bestätigt wird, folgt eine durchaus wohlwollende Schilderung der Rede eines unbekannten Mannes, der sich als Vertreter einer sozialistischen Partei erweist: „Er begann sich respektvoll an den Präsidenten zu wenden, den er Mylord nannte. Er drückte sich ohne Scham aus; seine Haltung war fest und sicher; seine Stimme vibrierte bis in die letzten Winkel des Saals. Wir sahen endlich einen Redner“22. Dieser Redner verfehlt dabei weder seine Wirkung auf die Versammlung im Allgemeinen noch auf Tocqueville im Besonderen. Trotz des weltanschaulichen Grabens, der ihn von dessen Position trennt, bewundert Tocqueville die rhetorischen Fähigkeiten des Sozialisten:

20 Tocqueville, Voyages en Angleterre, Irlande, Suisse et Algérie, Œuvres complètes, Bd. V/2, S. 13. 21 Tocqueville, Voyages en Angleterre, Irlande, Suisse et Algérie, Œuvres complètes, Bd. V/2, S. 15. 22 Tocqueville, Voyages en Angleterre, Irlande, Suisse et Algérie, Œuvres complètes, Bd. V/2, S. 14.

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Dirk Jörke „Ich wurde selten in meinem Leben durch eine Rede überwältigt, wie in dieser Nacht, als ich diesen Mann des Volkes hörte. Meine ganze Seele wurde von einem unwiderstehlichen Strom erfasst, der von der Überzeugung und Ausdrucksstärke des Redners herrührte“23.

Es ist freilich eine ambivalente Begeisterung, die gemischt ist mit Furcht vor der Dynamik demokratischer Leidenschaften, die diese entfalten, wenn sie sich mit der Gabe der Rede verbinden. Davon konnte sich der französische Adlige 15 Jahre später selbst überzeugen. In den Erinnerungen gibt Tocqueville ein lebendiges Bild seiner Tätigkeit zunächst als Parlamentarier aufseiten der gemäßigten Opposition und später als Außenminister. Wie erwähnt, war dieses Werk nicht zur Veröffentlichung vorgesehen und Tocqueville entwirft dort ein ganz unmittelbares Panorama seiner Erfahrungen. Dabei kommt er gelegentlich auch auf Versammlungen zu sprechen. Hier gilt nun in gesteigerter Form das, was bereits auf seine Ausführungen in Über die Demokratie in Amerika zutrifft: Es handelt sich dabei nicht um analytische Untersuchungen, sondern um ganz unbefangene Schilderungen von Versammlungspraktiken. Doch gerade in diesem unmittelbaren Zugriff zeigt sich zum einen Tocquevilles besonderes Gespür für die mikropolitischen Dynamiken von Versammlungen. Zum anderen treten aber auch seine Vorbehalte gegenüber einem demokratischen Parlamentarismus, der durch die Repräsentation des ganzen Volkes gekennzeichnet ist, hervor. Immer wieder hebt Tocqueville die Macht der Rhetorik hervor, wobei seinem Urteil nach zumeist eine durchschnittliche Rede genügt, um die Zuhörer zu gewinnen. Anlässlich einer von ihm selbst gehaltenen Wahlkampfrede unterstreicht er die einfachen rhetorischen Tricks, mittels derer sich die Zuhörer gewinnen lassen. Erforderlich sind lediglich ein „schwungvoller Pathos“ und ein „warmer Ton“. „Mehr ist nicht nötig, um in einer Volksversammlung, und überhaupt in Versammlungen jeder Art, Erfolg zu haben; denn, man kann es nicht oft genug wiederholen: Reden werden gehalten, um angehört und nicht um gelesen zu werden, und nur die sind gut, die den Hörer bewegen“24. Tocqueville zeigt sich davon überzeugt, dass es wesentlich auf die Beeinflussung der Gefühle und nicht so sehr auf die tatsächliche Überzeugungskraft der vorgebrachten Argumente ankommt. Noch deutlicher ist sein Urteil mit Blick auf die Zusammensetzung der Verfassungsgebenden Versammlung. Hier schildert er, dass die Mehrheit zunächst Odilion Barrot, dem Parteiführer der Liberalen, folgte, nach einer „glänzenden Rede“ von Lamartine jedoch ihre Meinung wieder änderte. „Denn diese Versammlung folgte leichtgläubiger und folgsamer als irgendeine andere, die ich je erlebt hatte, den trügerischen Verlockungen der Beredsamkeit; sie war unerfahren und einfältig genug, um sich bei ihren Entscheidungen nach den Ausführungen der Redner zu richten“25.

23 Tocqueville, Voyages en Angleterre, Irlande, Suisse et Algérie, Œuvres complètes, Bd. V/2, S. 16. 24 Tocqueville, Erinnerungen, S. 148. 25 Tocqueville, Erinnerungen, S. 172.

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Unerfahrenheit und Einfalt auf der einen Seite und ein geübter Redner auf der anderen werden hier von Tocqueville als Gründe für den Stimmungsumschwung angegeben, nicht die Geltung der von Larmartine vorgebrachten Argumente. Dahinter verbirgt sich sicherlich auch der parteipolitische Standort von Tocqueville, es zeugt aber darüber hinaus auch von seiner Kritik der parlamentarischen Praktiken. Diese Kritik zeigt sich noch in einem weiteren Punkt, und zwar beschreibt er an verschiedenen Stellen in seinen Erinnerungen eine den Versammlungen eigentümliche Unberechenbarkeit. Ihr Verlauf lasse sich nicht planen, dieser sei vielmehr von schwankenden Stimmungen abhängig. Tocqueville skizziert zudem eine Reihe von „schmutzigen“ Praktiken, mit deren Hilfe Versammlungen blockiert oder gar in eine Richtung gelenkt werden können, die dem erklärten Mehrheitswillen entgegensteht. Eine besonders anschauliche Passage findet sich bei der Schilderung der Nationalversammlung während der Zeit des schließlich niedergeschlagenen Juniaufstandes. Im Parlament werden die Verkündung des Belagerungszustandes und die Übertragung der Regierungskompetenzen an das Militär diskutiert. Laut Tocqueville werden diese Maßnahmen von der überwiegenden Mehrheit unterstützt. Doch es kommt zunächst nicht zu einer entsprechenden Entscheidung: „Das Parlament war sich völlig klar darüber, daß diese Verordnung das war, was es wünschte. Sie war leicht zu beschließen und höchst dringlich; doch kam sie nicht zustande. Immer wieder kam es zu kleinen Zwischenfällen und Anträgen aus der Versammlung, die die Verhandlungen von ihrem Ziel ablenkten und den Beschluß, den alle wollten, verzögerten; denn politische Versammlungen leiden stets unter einer Art Albtraum, der sich im letzten Moment mit unbekannter und unsichtbarer Macht zwischen die Absicht und die Ausführung schiebt und verhindert, daß das geschieht, was man eigentlich will“26.

Tocqueville schildert hier Praktiken, die man heutzutage mit dem Begriff der „Geschäftsordnungstricks“ bezeichnet.27 Erwähnenswert ist diese Episode jedoch noch aus einem weiteren Grund. Tocqueville berichtet, dass die von der Mehrheit gewünschte Ausrufung des Belagerungszustandes doch noch zustande gekommen ist, und zwar durch eine Intervention von Jules Bastide, dem späteren Außenminister, der laut Tocqueville gerade kein großer Redner war. Doch seine Worte hatten eine Wirkung, die die Beratung zu einem sofortigen Ende führte. Hier zeigt sich die Bedeutsamkeit von einzelnen Personen, die in einer Versammlung über eine hohe moralische Autorität verfügen. Allerdings lässt sich bei Tocqueville infolge des anekdotischen Charakters der Erinnerungen aus dieser kurzen Reflexion, wenn überhaupt, dann lediglich ein Indiz für eine grundlegende Ablehnung großer Versammlungen als Orte der politischen Beratung gewinnen. Doch sind „Geschäftsordnungstricks“ nicht die einzigen Faktoren, die den Gang der Entscheidungsfindung in einem negativen Sinne beeinflussen können. Aufschlussreich ist hier insbesondere Tocquevilles Bericht von seiner Tätigkeit in der Verfassungskommission. Diese ist zwar schon infolge ihrer überschaubaren Größe – sie bestand aus 18 Personen – nicht mit der Parlamentsversammlung 26 Tocqueville, Erinnerungen, S. 217. 27 Zu „Geschäftsordnungstricks“ vgl. Eckart Colberg, Ursula Männle, Zur Geschäftsordnung. Die Praxis der Willensbildung, München: Olzog Verlag 1975.

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gleichzusetzen, doch er beschreibt dort Mechanismen, die auch in größeren Versammlungen wirksam sind. Da ist zunächst die Praktik der Ermüdung durch detaillierte Vorlagen. Tocqueville berichtet, dass ein Kommissionsmitglied, dem es nicht gelang, die Kommission von seinem Gesamtentwurf zu überzeugen, in jeder Sitzung einige kleinteilige Artikel vorlegte, was durchaus nicht seine Wirkung verfehlte: „Manchmal sträubten wir uns dagegen, aber schließlich fügten wir uns, des Kampfes müde, dem ständigen, sanften Zwang“28. Auch die Angst, durch allzu umfangreiche Diskussionen von dem Ziel einer Beschlussfassung abzukommen, verhinderte eine umfassendere Auseinandersetzung mit dem Verfassungsentwurf. Ursächlich hierfür waren zeitliche Restriktionen, es ist aber laut Tocqueville auch die Angst vor einem Dissens gewesen, der die Kommissionsmitglieder vor einer gründlicheren Arbeit abhielt: „Im übrigen fürchteten wir, durch ein tiefes Eindringen in die Materie heftige und endlose Debatten hervorzurufen und zogen es vor, dadurch, daß wir an der Oberfläche blieben, den Anschein des Einvernehmens aufrechtzuerhalten“29. Lediglich bei der Auseinandersetzung über die Frage, ob ein Ein-Kammern-System einem Zwei-KammernSystem vorzuziehen sei, wurde die Konfliktvermeidungsstrategie aufgebrochen und es kam zu einer „ernsthaften Diskussion“30. Tocqueville schildert hier jedoch nahezu ausschließlich die vorgebrachten Argumente und nicht die diese begleitenden Praktiken Er selbst zeigt sich als Verfechter eines Zwei-Kammern-Systems, von dem er sich eine machtbalancierende Wirkung verspricht. Durch die Anhörung in zwei Kammern würden Gesetze weniger momentanen Leidenschaften als einer möglichst ausgewogenen Betrachtung entspringen. Eine zweite Kammer diene gewissermaßen als Entschleuniger: „Um diese Macht weniger stark und weniger impulsiv zu machen, ist es notwendig, sie zu teilen [...] Es wird zwischen ihnen eine Vielfalt von Ansichten geben, von denen alle profitieren werden, es werden zwei Analysen von verschiedenen Köpfen gemacht werden“31. Den wesentlichsten Vorteil erblickt Tocqueville darin, dass mit der Einführung einer zweiten Kammer der Machtkampf zwischen Exekutive und erster Kammer abgeschwächt würde. In seiner Argumentation greift er sowohl auf Montesquieus Theorie der Gewaltenverschränkung als auch auf seine Erfahrungen in Amerika zurück und unterstreicht, dass eine zweite Kammer nicht mit einem aristokratischen Element gleichzusetzen sei: „Ich will nichts mit Aristokratie zu tun haben; ich erkenne, dass unsere Gesellschaft gründlich demokratisch ist und wenn man in sie ein einziges Element, einen winzigen Baustein der Aristokratie, einführen möchte, wäre das ein Teil des Ruins“ 32. Hier ist allerdings zu fragen, inwieweit es sich nicht lediglich um ein Lippenbekenntnis handelt, hat er in seinem Amerikabuch doch den Senatoren im Gegensatz zu den Abgeordneten im Repräsentantenhaus durchaus aristokratische Züge attestiert. Wie 28 29 30 31 32

Tocqueville, Erinnerungen, S. 249. Tocqueville, Erinnerungen, S. 249. Tocqueville, Erinnerungen, S. 250. Tocqueville in Sharon B. Watkins, Alexis de Tocqueville and the Second Republic, S. 90. Tocqueville in Watkins, Alexis de Tocqueville and the Second Republic, S. 89.

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dem auch sei, Tocqueville kann sich mit seinem Plädoyer für zwei Kammern nicht durchsetzen. Im weiteren Verlauf seiner Erinnerungen versucht er dann auch den Eindruck zu vermitteln, dass die Entscheidung gegen eine zweite Kammer eine der grundlegenden Ursachen für den Sturz der Republik gewesen sei. Die Hauptverantwortung für seine Niederlage schreibt Tocqueville André Dupin, dem Präsidenten der Verfassungsgebenden Versammlung, zu. Dieser habe sich „in überraschend wirkungsvoller Weise für das Ein-Kammer-System“33 eingesetzt. Dabei nimmt er ihm weniger seine Position als solche übel als die Tatsache, dass dieser sich immer an der sich abzeichnenden Mehrheit orientiere und sich dann zu „ihrem lautesten Sprecher“34 erheben würde. Darüber hinaus verweist Tocqueville hiermit aber erneut auf eine wesentliche Dimension des Politischen, nämlich die Rolle von spezifischen Personen, die sich dann nicht mehr unter Rückgriff auf eine Theorie politischer Praktiken erklären lässt. Erst das Zusammenwirken von Institutionen, Praktiken und Personen konstituiert den politischen Prozess. 4. WAHLVERFAHREN UND WAHLKÄMPFE Wurden in der griechischen Antike Wahlen vornehmlich als ein aristokratisches Element betrachtet – werden doch auf diese Weise die „Besten“ ausgewählt –, so hat sich die Bewertung des Wahlverfahrens in der Moderne geändert. Wahlen erscheinen heutzutage als die demokratische Methode schlechthin. Sie gehören zur modernen Demokratie wie das Gebet zum Gottesdienst. Sie erfüllen dabei die doppelte Funktion der Auswahl und der Legitimierung des politischen Führungspersonals. Doch gerade dies war in der politischen Auseinandersetzung heftig umstritten. Gewährleisten allgemeine Wahlen überhaupt die Auswahl geeigneter Personen? Ist nicht vielmehr zu befürchten, dass der „Mob“ sich der Regierung bemächtigt und die Gesellschaft in Chaos und Anarchie ertränkt? Kann ein allgemeines Wahlrecht überhaupt Legitimität beanspruchen? Besteht nicht die Gefahr, dass Unwissenheit und Begierden an die Stelle von republikanischen Tugenden treten? Wie steht es um den Schutz des Eigentums, wenn das gemeine Volk seine Vertreter wählen darf, die womöglich die Regierung übernehmen? Diese Fragen bewegten die Gemüter in der langen Phase der Neuerfindung der Demokratie. Das Auf und Ab des Wahlrechts in Frankreich im 19. Jahrhundert bezeugt dies ebenso wie dessen sukzessive Ausdehnung in England oder die stark verzögerte Entwicklung in Deutschland.35 Und auch in der politischen Theorie sind Fragen des Wahlrechts umstritten gewesen. Tocqueville ist in diesem Konzert dem Kreis der Befürworter einer Ausweitung des Wahlrechts zuzurechnen; allerdings erweist er sich auch in dieser Frage 33 Tocqueville, Erinnerungen, S. 252. 34 Tocqueville, Erinnerungen, S. 253. 35 Vgl. zur Geschichte des Wahlrechts: Hubertus Buchstein, Öffentliche und geheime Stimmabgabe. Eine wahlrechtshistorische und ideengeschichtliche Studie, Baden-Baden: Nomos Verlag 2000, und mit spezifischem Blick auf Frankreich Pierre Rosanvallon, Le sacre du citoyen. Histoire du suffrage universel en France, Paris: Gallimard 2003.

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als ein Kritiker demokratischer Praktiken. Zunächst möchte ich seine Analyse der amerikanischen Präsidentenwahl diskutieren (a). In einem zweiten Schritt geht es dann um seine eher verstreuten und größtenteils unsystematischen Bemerkungen zum demokratischen Charakter von Wahlen (b). a) Wenn Tocqueville zu Beginn seines Buches über Amerika der Demokratie den Siegeszug auch in Europa prophezeit, dann hat er neben den demokratischen Sitten und Gebräuchen deren politische Institutionen im Sinn, als deren Kern das allgemeine Wahlrecht anzusehen ist. In dem Buch diskutiert er es auf zwei Ebenen. Zum einen kommt es zu einer grundlegenden Betrachtung der sittlichen Voraussetzungen, institutionellen Kanalisierungen und Wirkweisen des allgemeinen Wahlrechts, zum anderen erörtert er dessen konkrete politische Konsequenzen anhand der Wahl des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Der Franzose verhehlt nicht seine Enttäuschung über die Zusammensetzung der politischen Elite in Amerika. Dort würde man vergeblich nach herausragenden Persönlichkeiten Ausschau halten. Es ist für ihn „eine feststehende Tatsache, daß die bedeutendsten Männer selten zu öffentlichen Ämtern berufen werden“ und sich der „Bestand der amerikanischen Staatsmänner seit einem halben Jahrhundert außerordentlich verschlechtert“36 hat. Das demokratische Verlangen nach Gleichheit trägt dafür Sorge, dass nur durchschnittliches Personal gewählt wird. Tocqueville führt dies zurück auf eine Wechselwirkung zwischen demokratischem Neid seitens des Volkes und einem gleichsam aristokratischen Ekel vor einer politischen Karriere aufseiten der „bedeutenden Männer“. So kommt er dann zu dem Urteil, dass das allgemeine Wahlrecht die Auswahl der Besten geradezu verhindern würde: „Drängen die natürlichen Instinkte in der Demokratie das Volk dazu, bedeutende Männer von der Macht fernzuhalten, so treibt ein nicht weniger starker Instinkt diese zur Abkehr von der politischen Laufbahn, wo es ihnen so schwer gemacht wird, völlig sie selbst zu bleiben und vorwärtszukommen, ohne sich herabzuwürdigen […] Damit ist für mich erwiesen, daß diejenigen, die im allgemeinen Wahlrecht eine Gewähr für gute Auslese erblicken, sich einer völligen Täuschung hingeben“37.

Doch wie kann der durch demokratische Wahlen erzeugten „Mittelmäßigkeit“ entgegengewirkt werden? Ein Instrumentarium hierfür besteht in der indirekten Wahl. Deren Wirkungen demonstriert Tocqueville erstmals in einem Vergleich der Zusammensetzung des Repräsentantenhauses mit der des Senates. Seien im direkt gewählten Repräsentantenhaus „größtenteils Dorfanwälte, Kaufleute oder sogar Männer aus den untersten Klassen“38 vertreten, so sei dies im Senat ganz anders. Denn durch die zweistufige Wahl der Senatoren kommt es ihm zufolge zu einer Art von „Veredelung“ des politischen Personals. Das Volk wählt direkt die Abgeordneten der Parlamente der einzelnen Staaten und diese bestimmen dann aus ihrem Kreis die Senatoren. Ein Verfahren, das Tocqueville zufolge durchaus demokratischer Natur ist, denn es genügt, „daß der Volkswille durch diese erlesene Versammlung wehe, um darin gleichsam eine Formung zu erfahren und in edlerer und schönerer 36 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 226. 37 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 228. 38 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 230.

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Gestalt aus ihr hervorzugehen“39. Von den Vorzügen der indirekten Wahl zeigt er sich zeitlebens überzeugt. Was nun die Häufigkeit von Wahlen betrifft, so skizziert Tocqueville ein Dilemma. Zu seltene Urnengänge führen dazu, dass die Kandidaten sich einen äußerst heftigen Wahlkampf liefern, ist doch eine erneute Gelegenheit, den erhofften Posten zu bekommen, mehrere Jahre entfernt. Insofern „die durchfallenden Anwärter nachher fast keine Aussicht mehr haben, ist von ihrem verzweifelten Ehrgeiz alles zu befürchten“40. Und dieser Ehrgeiz kann bis zum Umsturz führen, wenn die Leidenschaften des Volkes erstmal entfacht sind. Finden Wahlen jedoch zu häufig statt, dann erzeugt dies in der Gesellschaft eine „fieberhafte Unruhe“, die kein ruhiges Regieren und keine ausgewogene Gesetzgebung zulässt. Tocqueville zufolge haben sich die Amerikaner für das zweite der beiden Übel entschieden; die Wahlen folgen in sehr kurzen Abständen. Welche Konsequenzen dies hat, illustriert er anhand der Wahl des Präsidenten. Die indirekte Wahl des Präsidenten stellt für Tocqueville eine der wichtigsten institutionellen Innovationen des amerikanischen Regierungssystems dar, wird auf diese Weise doch verhindert, dass die politischen Präferenzen des Volkes ungefiltert auf die Bestimmung der Exekutive durchschlagen. Ein weiterer Vorteil des amerikanischen Modells ist die Vermeidung spontaner Unruhen während der Wahl, insofern die Wahlversammlung nicht direkt zusammenkommt. Gleichwohl vermag Tocqueville einige Nachteile bei dieser Form der Bestimmung des Regierungsoberhauptes zu erkennen. Da ist zunächst einmal der grundsätzliche Einwand, dass Wahlen immer und notwendig Unsicherheit produzieren. Die Unsicherheit in der Amtsführung ist einerseits dadurch bedingt, dass sich der Amtsinhaber, sofern er denn erneut zur Wahl antritt, weniger um die täglichen Aufgaben denn um seine Wiederwahl kümmert. Er denkt „nur noch an den bevorstehenden Kampf“41 und wird von seinen eigentlichen Aufgaben abgelenkt. Entsprechend kritisiert Tocqueville auch die Möglichkeit einer weiteren Amtszeit, zumal dadurch „Ränke und Bestechlichkeit“42 noch zusätzlich angeheizt werden. Tocqueville nennt hier die Tendenz, die Amtsführung von Anfang an dem Ziel der Wiederwahl unterzuordnen sowie die Neigung, verdiente Mitstreiter mit Staatsämtern zu versorgen. „Verhandlungen und Gesetze gehören für ihn nur zur Wahlberechnung; die Stellen werden Belohnung für Dienste, die man nicht der Nation, sondern ihrem Oberhaupt erwiesen hat“43. Was den Vorwurf der Ämterpatronage, die zweifelsohne ein Merkmal der Demokratie ist, betrifft, so bleibt er freilich den Nachweis schuldig, dass dies in Monarchien oder Aristokratien weniger stark ausgeprägt ist. Doch nicht nur der nahezu ständige Wahlkampf trägt laut Tocqueville zur Unruhe und Instabilität bei. Hinzu kommt die Tatsache, dass alle vier Jahre die Exe-

39 40 41 42 43

Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 231. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 232. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 145. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 153. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 154.

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kutivgewalt ausgetauscht zu werden droht und insofern die Kontinuität von Personal und Regierungshandeln immer wieder gefährdet ist. Es ergibt sich in wesentlichen Politikfeldern ein Mangel an Konstanz. „In Amerika spielt sich die Revolution alle vier Jahre im Namen des Gesetzes ab“44, wie Tocqueville es etwas drastisch ausdrückt. Mit Blick auf die konkreten Praktiken des allgemeinen Wahlrechts kommt er somit in seinem Buch über die amerikanische Demokratie zu einem eher negativen Urteil, er argumentiert aber, dass diese gefährlichen Tendenzen durch die dezentrale Verwaltung und den spezifischen amerikanischen „Gewohnheiten des Herzens“ ausbalanciert werden. b) Tocqueville hat sich nicht nur in Über die Demokratie in Amerika mit Wahlen beschäftigt. Daneben finden sich in seinen Erinnerungen sowie einigen Parlamentsreden und Briefen vielfältige Betrachtungen gerade über jene institutionellen Details, die die konkrete Wahlpraxis formen. Dabei geht es um die Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts (1), um die Vorteile indirekter Wahlen (2) um die Frage nach geheimer oder öffentlicher Wahlabgabe (3) sowie schließlich um den Nutzen und den Schaden von Wahllisten (4). 1. Ganz allgemein hat Tocqueville die Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts bereits in seinem Amerikabuch untersucht; im Kontext der 48er Revolution ist dieses Thema nun auch Gegenstand seines Wirkens als Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung. Dabei zeigt er sich bereits im Vorfeld der Revolution als ein Verteidiger des allgemeinen Wahlrechts. Durch die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im April 1848 hat er sich in dieser Überzeugung gestärkt gesehen, hat sich doch die Befürchtung, „radikale“ Parteien könnten die Oberhand gewinnen, nicht erfüllt. Vielmehr hat insbesondere die Landbevölkerung für konservative und gemäßigte Kandidaten votiert.45 Entsprechend skizziert Tocqueville in seinen Erinnerungen ein durchaus positives Bild demokratischer Wahlen. Er bescheinigt diesen, die Gemüter nach der Februar Revolution wieder beruhigt zu haben, und auch der aus den allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Versammlung begegnet er wohlwollend: „Ich muß sagen, daß diese Versammlung nach meiner Ansicht, im ganzen genommen, mehr taugte als alle, die ich früher am Werk gesehen hatte“46. Gerahmt ist diese Wertschätzung von einer interessanten Beobachtung. Für Tocqueville ist die Zusammensetzung der Versammlung zwar insofern Resultat des neuen Wahlrechts, als dieses sozial heterogen besetzt ist: „Das Wahlsystem übt nur auf den Kreis der Durchschnittsparlamentarier, die in jeder politischen Versammlung die allgemeine Grundlage bilden, einen großen Einfluß aus. Diese gehören je nach dem System, nach dem die Wahl vorgenommen wird, sehr verschiedenen Volksschichten an und zeigen sehr unterschiedliche Neigungen“47. Dies gilt jedoch nicht für die „hervorragenden“ Politiker. Diese können sich ihm zufolge auch unabhängig von dem konkreten Wahlverfahren durchsetzen, so auch bei dieser demokratischen Wahl. Die entsprechenden Akteure der vergangenen, aus 44 45 46 47

Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 147. Vgl. Watkins, Alexis de Tocqueville and the Second Republic, S. 72−73. Tocqueville, Erinnerungen, S. 163. Tocqueville, Erinnerungen, S. 163.

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dem beschränkten Wahlrecht hervorgegangenen Parlamente, finden sich daher auch in der neuen Verfassungsgebenden Versammlung wieder und bestimmen deren Agieren.48 2. Vor dem Hintergrund des niedergeschlagenen Juni-Aufstandes und der sich zuspitzenden politischen Ereignisse kommt es bei Tocqueville jedoch zu einer graduellen Kritik des allgemeinen Wahlrechts. Bei der Diskussion über das Verfahren der Präsidentenwahl setzt er sich zwar nicht direkt für eine Begrenzung des Wahlrechts ein, doch er schlägt ein System der indirekten Wahl vor. Wie bereits erwähnt, war Tocqueville Mitglied der Kommission, die der Versammlung einen Verfassungsentwurf vorlegen sollte. Die Kommission stand beim Thema der Wahl des Präsidenten zunehmend unter dem Einfluss der wachsenden Popularität von Louis-Napoléon Bonaparte. Den Kommissionsmitgliedern war bewusst, dass sie nicht über ein abstraktes Verfahren, sondern über die Wahl dieses Mannes mit dem berühmten Namen diskutieren. Es ist also die Angst vor einer plebiszitären Diktatur, die Tocqueville bewegt. Um dieser Gefahr entgegenzutreten, formuliert er ein Wahlverfahren, das zunächst gewährleisten soll, dass der Präsident nicht allein mit relativer Mehrheit gewählt wird. Sofern nicht bereits im ersten Wahlgang einer der Kandidaten die absolute Mehrheit hat auf sich vereinigen können, soll keine Stichwahl erfolgen. Vielmehr plädiert er in einem solchen Fall für die indirekte Wahl des Präsidenten durch das Parlament: „Ich schlage vor, dem Volk das Wahlrecht zu überlassen, um eine Mehrheit für den Gewählten zu erlangen; und wenn es keine Mehrheit für den einen oder anderen der Kandidaten gibt, dem Parlament das Recht zu geben, unter ihnen zu entscheiden“49. Mit anderen Worten, nur wenn die Legitimation des Präsidenten durch das Volk außerordentlich stark ist, soll dessen Votum Folge geleistet werden. Tocqueville ist bemüht, die Stellung des Parlamentes zu stärken, erweist sich aber insofern als realistisch, als er einer Regierung gegen den Willen des Volkes eine Absage erteilt. Er geht jedoch noch einen Schritt weiter und baut einen doppelten Boden ein, wobei er auf seine Beobachtungen der amerikanischen Demokratie zurückgreifen kann. Dabei hat er insbesondere die mäßigenden Wirkungen der indirekten Wahl des amerikanischen Präsidenten hervorgehoben. Diese besteht, wie gesehen, nicht nur darin, dass der Präsident von bereits ausgewählten Wahlmännern bestimmt wird, sondern auch darin, dass keine Wahlversammlung vorgesehen ist, die Stimmen vielmehr brieflich übermittelt werden. Dieses Verfahren soll als Modell für Frankreich dienen: „Darüber hinaus ist es wünschenswert, dass eine Mehrheit von einem der Kandidaten erzielt wird und da die Mehrheit viel einfacher zu erreichen ist, wenn die Zusammensetzung [des Gremiums], das wählt, weniger zahlreich und dafür intelligenter ist, würde ich mir etwas Analoges

48 Darin kann man eine Vorwegnahme der „Vergeblichkeitsthese“ sehen, wie sie Albert Hirschman, Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1995 herausgearbeitet hat. 49 Tocqueville in Watkins, Alexis de Tocqueville and the Second Republic, S. 127.

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Dirk Jörke zu Amerika wünschen. Dort ernennt jeder Staat eine gewisse Anzahl von Delegierten, die, um Intrigen, Plots und Gewalt zu vermeiden, nicht selbst zusammenkommen” 50.

Was nun die Übertragbarkeit des föderalen Modells von Amerika auf einen zentralistischen Staat wie Frankreich betrifft, sieht Tocqueville hier kein grundsätzliches Problem, so könne man sich an Verwaltungseinheiten wie den Gerichtsbezirken orientieren. Das von Tocqueville vorgeschlagene Wahlverfahren ist mithin zweistufig. Auf der ersten Stufe ist das allgemeine Wahlrecht gewährleistet und somit die Legitimität der Wahl garantiert. Auf der zweiten Stufe kommt es dann zur eigentlichen Wahl des Präsidenten durch die vom Volk bestimmten Wahlmänner. Unschwer ist hier das Bemühen zu erkennen, die Wahl des Präsidenten berechenbarer zu gestalten, sie nicht in Abhängigkeit von zufälligen Stimmungen im Parlament sowie der mangelnden politischen Reife des Volkes geraten zu lassen. Ein kleineres Gremium auserwählter Männer ist ihm zufolge besser in der Lage, eine verantwortliche Entscheidung zu treffen. Tocqueville konnte sich indes mit seinem Vorschlag nicht durchsetzen. Zu Recht sind dessen elitäre Implikationen kritisiert worden.51 Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Frage der Rückbindung der Wahlmänner an den Wählerwillen. Hier bleibt offen, wie weit deren Unabhängigkeit gehen soll.52 Zur Verteidigung von Tocquevilles Position lässt sich jedoch anführen, dass er das zweistufige Verfahren nur für den Fall vorsieht, wenn kein Kandidat über eine ausreichende Unterstützung im Volk verfügt. Denn gerade ein Präsident mit nur mangelnder Legitimität droht das Land an den Rand einer erneuten Revolution zu führen. Die Autorität der Nationalversammlung soll dann gewissermaßen diese Legitimationslücke füllen. 3. Die Frage der geheimen oder öffentlichen Stimmabgabe stand neben der nach dem allgemeinen Wahlrecht im Zentrum der Wahlrechtsdebatten im 19. Jahrhundert.53 Tocqueville zeigt sich dabei als Anhänger der Geheimwahl. Interessant ist jedoch weniger diese grundsätzliche Unterstützung als vielmehr die Reflexion der politischen Umstände, die die Geheimhaltung erforderlich machen. Er begreift das geheime Wahlrecht als ein Schutz für Minderheiten vor einer despotischen Regierung.

50 Tocqueville in Watkins, Alexis de Tocqueville and the Second Republic, S. 128. 51 Vgl. Watkins, Alexis de Tocqueville and the Second Republic, S. 128. 52 Tocqueville hat sicherlich die US-amerikanische Präsidentschaftswahl von 1824 im Blick, bei der keiner der fünf Bewerber die absolute Mehrheit der Wahlmänner auf sich vereinigen konnte. Gemäß der amerikanischen Verfassung fiel die Entscheidung dann im Repräsentantenhaus, und zwar gegen den Kandidaten mit den relativ meisten Stimmen − Andrew Jackson. Gewählt worden ist stattdessen der Zweitplatzierte, John Quincy Adams. Eine damals durchaus kontroverse Entscheidung, die dann aber im Laufe der Zeit immer mehr akzeptiert wurde. Tocqueville schreibt hierzu jedoch einschränkend: „Wie man sieht, wird die Wahl nur in einem selten und schwer vorauszusehenden Falle den gewöhnlichen Vertretern des Volkes übertragen, und zudem können sie nur einen Bürger wählen, der bereits die Stimmen einer starken Minderheit der Wahlmänner erhalten hat“, Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 151. 53 Vgl. hierzu die Darstellung in Hubertus Buchstein, Öffentliche und geheime Stimmabgabe.

Tocquevilles Kritik demokratischer Institutionen und Praktiken

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Diese Position findet sich bereits in einem Protokoll einer Anhörung vor dem Britischen Unterhaus am 22. Juni 1835. Eine Kommission, die sich mit der Wahlrechtsreform und insbesondere mit der Frage der Einführung der geheimen Wahl als Schutz vor Bestechung befasste, hatte Tocqueville, dessen Buch über die amerikanische Demokratie kurz zuvor erschienen war, als Experten für das politische System Amerikas geladen. Die Kommission interessiert sich zunächst für das französische Wahlsystem. In diesem Zusammenhang betont Tocqueville, dass die Praxis einer offen Stimmabgabe in Frankreich von niemandem ernsthaft vorgeschlagen werde und dass die Mechanismen zur Gewährleistung der Geheimhaltung immer effektiver geworden seien. Er persönlich sehe auch die Gefahr eines immensen Machtzuwachses der Regierung bei Einführung einer offenen Stimmabgabe. „[M]einer Meinung nach wäre, wenn die Stimmen öffentlich abgegeben würden, die Macht der Regierung unendlich erhöht “54. Auf die Frage nach den Wahlpraktiken in den USA unterstreicht er, dass er die geheime Wahl bislang für etwas Selbstverständliches gehalten und deshalb auch nicht auf die Details bei der Stimmabgabe geachtet habe.55 Ebenso wenig könne er von leidenschaftlichen Debatten über das Für und Wider berichten. Nach den spezifischen Vorteilen der Geheimwahl gefragt, hebt er hervor, dass diese Schutz vor der „Tyrannei der Mehrheit“ biete: „Ich nehme an [...], dass die geheime Abstimmung eine wichtige Sicherheit gegen die Tyrannei der Mehrheit darstellt und darstellen wird, die ich als das größte Übel und die furchtbarste Gefahr betrachte, die von einer rein demokratischen Regierung ausgeht “56.

Auf die Frage, inwieweit die Geheimhaltung der Stimmabgabe garantiert sei, entgegnet er, dass dies in Amerika kein Thema sei, da es dort kein großes Verlangen nach völligem Schutz gäbe. Jemand, der seine Präferenz kundtut, begäbe sich damit in keinerlei Gefahr. Darin kann man einen Widerspruch zu der zuvor skizzierten Tyrannei der Mehrheit sehen, doch solange die Wahl tatsächlich geheim erfolgt, ist diese Gefahr ihm zufolge gebannt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für Tocqueville die öffentliche Stimmabgabe nicht zur Debatte steht und er in ihr auch keine Vorteile erblicken kann. Inwieweit die Geheimwahl tatsächlich einen notwendigen Schutz vor einer staatlichen Beeinflussung oder einer Tyrannei der öffentlichen Meinung darstellt, hängt aber von den konkreten Umständen ab. 4. Wir sind es mehr oder weniger gewohnt, dass nach einer Wahl die Mehrzahl der Abgeordneten nicht ausgetauscht wird, sondern sich lediglich die Fraktionsstärken verschieben. Die meisten Parlamentarier sind etwa im politischen System der Bundesrepublik Deutschland über die jeweilige Landesliste „abgesichert“ und allein die auf den hinteren Plätzen und die Vertreter kleinerer Parteien müssen um 54 Alexis de Tocqueville, “On Bribery at Elections”, in: Journeys to England and Ireland, hg. von J. P. Meyer. Garden City: Transaction Publishers 1968, S. 211−235, hier S. 230. 55 Tocquevilles Angaben sind jedoch insoweit zu korrigieren, als in vielen Bundesstaaten der USA um das Jahr 1830 Wahlen per Zuruf (viva voce) durchgeführt worden sind, und selbst dort, wo es zu einer schriftlichen Stimmabgabe (paper ballot) gekommen ist, war die Geheimhaltung nicht garantiert. Vgl. Buchstein, Öffentliche und geheime Stimmabgabe, S. 437−444. 56 Tocqueville, On Bribery at Elections, S. 234.

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ihre Wiederwahl bangen. Dieses Verfahren wirft jedoch demokratietheoretische Fragen auf hinsichtlich der Legitimität einer Wahl, deren Ergebnisse zum größten Teil bereits im Vorfeld festzustehen scheinen. Insbesondere wird kritisiert, dass sich eine „politische Klasse“ auf diese Weise vom Wählerwillen immunisiert, was dann erhebliche Einschränkungen der Responsivität der Wahl zur Folge habe.57 Diese Form der Problematisierung von Listenwahlen ist jedoch keine Erfindung der jüngsten Zeit. Tocqueville hat in seiner Funktion als Berichterstatter einer Kommission zur Änderung der Verfassung in einer Rede am 8. Juli 1851 ähnliche Vorbehalte gegen Wahllisten geäußert.58 Die Rede ist vor dem Hintergrund der Bestrebungen von Louis-Napoléon Bonaparte, durch eine von der Verfassung nicht vorgesehene Wiederwahl seine Macht zu sichern, zu sehen. Dies war Anlass für Teile der Nationalversammlung, eine Kommission zu bilden, die einen Ausweg aus der sich abzeichnenden Verfassungskrise finden sollte. Tocqueville macht sich als Berichterstatter für eine Verfassungsänderung stark, die die Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten erlauben würde.59 Im Kontext seines Berichtes kommt Tocqueville eingangs auch auf die Praktik der Listenwahl zu sprechen, die er für revisionsbedürftig hält. Dort heißt es: „Gewählt auf einer Liste von hunderttausend Wählern, lasse die Minderheit triumphieren und die Mehrheit zufällig agieren, hat man gesagt“60. Das Problem sei aufseiten des Volkes darin begründet, dass dieses die Leistungen der Kandidaten auf der Liste nicht würdigen könnte, denn die Bürger würden zumeist kaum mehr als ein, zwei der Kandidaten kennen. Die Folge hiervon sei in unruhigen Zeiten die Manipulation der Wähler durch radikale Parteien, in friedlichen Zeiten hingegen würde dieses Verfahren dazu führen, dass die Liste von einer kleinen Clique bestimmt werde, die primär ihre eigenen Vorteile im Auge hat. „Die Wahl, die immer noch den Anschein hat, von allen Bürgern getragen zu werden, ist in der Tat die Arbeit eines sehr kleinen Klüngels”.61 Tocqueville lässt es mit diesen Hinweisen bewenden und macht auch keine Vorschläge, wie man die Nachteile der Listenwahl beseitigen könne. Ziel seines Berichtes ist es, die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung aufzuzeigen, jedoch nicht detaillierte Lösungsvorschläge vorzulegen. 57 Vgl. zur Diskussion um den Begriff der „politischen Klasse“ den Überblick bei Jens Borchert, Die Professionalisierung der Politik, S. 95−132. 58 Bereits im Kontext seiner Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung beschwert sich Tocqueville in einem Brief (7.3.1848) an seinen Wahlkampfmanager Paul Clamorgan über die Nachteile der Listenwahl: „Das Verfahren, das durch das Dekret ausgewählt wurde, das gestern im Monitor veröffentlich wurde, hat diesen sehr ernsten Nachteil, dass es die Bevölkerung der Wahlkreise in Unsicherheit über das Ergebnis der Abstimmung lässt und diejenigen begünstigt, die Kandidatenlisten aufstellen, diese bewerben und am geschicktesten vermarkten. Eine solche Wahl hält keine Überraschungen bereit“. Tocqueville, Correspondance et écrits locaux, Œuvres complètes, Bd. X, S. 451. 59 Allerdings scheiterte dieses Vorhaben einer legalen Überwindung der Verfassungskrise in der Nationalversammlung; wenig später kam es dann zum Staatsstreich durch Louis-Napoléon; vgl. Watkins, Toccqueville and the Second Republic, S. 493−569. 60 Alexis de Tocqueville, Écrits et discours politques, Œuvres Complètes, Bd. III/3, hg. v. André Jardin, Paris: Gallimard 1985, S. 435−436. 61 Tocqueville, Écrits et discours politques, Œuvres Complètes, Bd. III/3, S. 436.

Tocquevilles Kritik demokratischer Institutionen und Praktiken

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In einem Brief an William Rathbone Greg aus dem Jahr 1853 kommt Tocqueville erneut auf die Listenwahl zu sprechen. Entgegen der zuvor geäußerten Kritik hebt er nun die Vorteile dieses Verfahrens hervor. Diese bestehen zum einen in der größeren Unabhängigkeit der Abgeordneten von spezifischen Wählergruppen und zum anderen in der Möglichkeit, dass „das Listensystem“ die „Tendenz“ hatte, „das Niveau der Wahlen zu erhöhen“62, und zwar indem auch hervorragende, aber lokal weitgehend unbekannte Männer einen Listenplatz zuerteilt bekommen. Tocqueville vergleicht den Prozess der Listenaufstellung übrigens mit dem der Nominierung der amerikanischen Präsidentschaftskandidaten; dabei gelangt er zu einer wesentlich positiveren Bewertung als in seinem Bericht vor der Nationalversammlung. Tocqueville fügt einschränkend am Ende seiner Ausführungen jedoch hinzu, dass die Gewichtung der Vor- und Nachteile von Listenwahlen von den jeweiligen Umständen abhängt. Insbesondere wenn die Zahl der Wähler gering ist und diese nur einer einzigen Klasse angehören, erweist sich dieses Verfahren für ihn geeignet zu verhindern, dass die Abgeordneten lediglich „die obskuren Vertreter der kleiner Klüngel sind“63. Tocquevilles Bemerkungen zum modernen Wahlrecht und dessen zentrale Praktiken sind mehr dem konkreten Anlass geschuldet, als dass es sich um systematische Überlegungen handelt. Sie entsprechen damit einem narrativen Stil politischen Denkens, der für sein Werk insgesamt charakteristisch ist. Dies hat sich insbesondere bei Tocquevilles Anmerkungen zu den Vor- und Nachteilen von Listenwahlen gezeigt. Gleichwohl konnten wir auch einige Konstanten in seiner Argumentation beobachten. Er setzt sich wiederholt für indirekte Wahlen ein, doch die Prinzipien des allgemeinen und geheimen Wahlrechts werden von ihm nicht grundsätzlich hinterfragt. 5. ERZIEHUNG ZUR ANSTÄNDIGKEIT: DIE GESCHWORENENGERICHTE Es gibt wohl keine Institution, über die Tocqueville so sehr des Lobes ist, wie die amerikanischen Geschworenengerichte. Dabei bezieht er sein Bild vor allem aus der Praxis der puritanisch geprägten Neuenglandstaaten, die dadurch charakterisiert ist, dass die Laien ausgelost werden. „Ich verstehe unter einem Geschworenengericht eine bestimmte Anzahl von zufällig ausgewählten und vorübergehend mit richterlicher Befugnis ausgestatteten Bürgern“64. Die Geschworenengerichte greifen damit die Praxis der Laiengerichtsbarkeit aus dem antiken Athen in dreifacher Hinsicht wieder auf. Laien werden nicht nur überhaupt an der Rechtsprechung beteiligt, ihre Bestimmung erfolgt darüber hinaus durch das Los und es erfolgt eine Rotation der Amtsinhaber. Genau dies ermöglicht die Partizipation einer breiten 62 Tocqueville, Lettres choisies/Souvenirs, 1814−1859. Paris: Gallimard 2003, S. 1075. 63 Tocqueville, Lettres choisies/Souvenirs, 1814−1859, S. 1076. 64 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 314. Vgl. zum Folgenden auch Hubertus Buchstein, Hubertus, Demokratie und Lotterie, Frankfurt/M. u. New York: Campus Verlag 2009.

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Anzahl von Bürgern an der Rechtsprechung. Tocqueville erblickt nun in den Geschworenengerichten mehr noch als die „township meetings“ eine „immer offene Schule“ der Demokratie.65 Sie sind dies vornehmlich aus zwei Gründen. So vermittelt die Berührung mit konkreten Rechtsfällen dem Volk erstens einen Sinn für Rechtlichkeit. Gerade indem der „normale“ Bürger und nicht wie etwa in England die Adligen an der Rechtsprechung beteiligt sind, lernt er „Verantwortung für sein eigenes Tun zu übernehmen“66. Er versetzt sich an die Stelle des Delinquenten, sieht dessen Verfehlungen und vermeidet sie. Zudem wird er durch die Auseinandersetzung mit Fragen des Rechts und des Unrechts zu einem tugendhaften Bürger. Doch darin erschöpft sich der Beitrag der Geschworenengerichte nicht. Hinzu kommt zweitens die Praxis der Rechtsprechung; also die Diskussion über einen Fall und die Festsetzung des Strafmaßes. Erwartet man nun allerdings, dass Tocqueville die deliberativen Aspekte dieser Tätigkeit hervorhebt, dass der Bürger durch die gemeinsame Beratschlagung also in eine diskursive Praxis eingeübt werde, so sieht man sich enttäuscht. Er hebt stattdessen die Vorbildfunktion des Richters und dessen dominierenden Status im Geschworenengericht hervor: „Die Geschworenen blicken mit Vertrauen und hören mit Ehrfurcht auf ihn; denn hier beherrscht sein Geist den ihrigen völlig“67. Tocqueville glaubt mit den Geschworenengerichten eine Institution vorgefunden zu haben, die in der alltäglichen Praxis dem Volk nicht nur die Achtung der Gesetze – also insbesondere der Eigentumsrechte – beibringt, sondern darüber hinaus auch die Ehrfurcht vor der Autorität der Richter lehrt. Entsprechend preist er die Juristen als neue Elite, die einen erheblichen Beitrag zur Stabilität und Mäßigung der Demokratie leistet: „Der Stand der Rechtskundigen bildet die einzige aristokratische Gruppe, die sich mühelos mit den natürlichen Kräften der Demokratie mischen und mit ihr glücklich und dauerhaft zusammenarbeiten kann“68. Das „Volk“ darf zwar an den Entscheidungen teilhaben, soll sich aber in Ehrfurcht der Führung einer geistig-sittlichen Elite ergeben. Festzuhalten bleibt somit, dass für Tocqueville die Geschworenengerichte nun gerade deshalb eine „offene Schule“ darstellen, weil sie den tendenziell unbändigen demokratischen Geist zähmen. Wenn Tocqueville das Geschworenengericht daher als „eine im höchsten Grade republikanische Einrichtung“69 bezeichnet, dann verwendet er damit einen Republikbegriff der nicht notwendig mit dem demokratischen Ideal der politischen Gleichheit korrespondiert.

65 66 67 68 69

Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 317. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 317. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 318, Herv. D.J. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 307. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 314.

Tocquevilles Kritik demokratischer Institutionen und Praktiken

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6. DIE REGIERUNG DER GLEICHHEIT Nach der hier erfolgten Rekonstruktion muss der französische Adlige nicht nur als Analytiker und Berater der Demokratie, sondern auch als deren Kritiker betrachtet werden, insofern für ihn demokratische Institutionen und Praktiken die Freiheit in mehrfacher Hinsicht bedrohen: Erstens finden wir bei Tocqueville den aristokratischen Standardvorwurf, dass demokratische Versammlungen, ob es sich nun um Wahlversammlungen oder demokratisch zusammengesetzte Parlamente handelt, von Leidenschaften und Chaos geprägt sind. In ihnen fänden „Demagogen“ eine Bühne, eine rationale Entscheidungsfindung ist nicht möglich. Tocqueville führt dies insbesondere auf die soziale Zusammensetzung derartiger Versammlungen zurück. Immer wieder wird von ihm darauf verwiesen, dass diese vornehmlich von „mittelmäßigen“ oder gar „vulgären“ Männern geprägt werden, so bei der Darstellung der Zusammensetzung des amerikanischen Repräsentantenhauses und auch bei der Schilderung einer Wahlversammlung in London. Tocquevilles diesbezügliche Angaben zur Französischen Nationalversammlung in den Erinnerungen sind zwar etwas differenzierter, doch auch hier führt er deren Dynamiken auf das dort versammelte Personal zurück. Zweitens wird von Tocqueville die Instabilität, welche vom Streben nach Gleichheit erzeugt wird, beklagt. Das Verlangen nach Gleichheit habe in Frankreich zu einer Reihe von Revolutionen und Staatsstreichen geführt, die zwar die alte Ordnung beseitigt, aber kein stabiles neues Regime haben entstehen lassen. Denn laut Tocqueville führt eine ungezügelte Gleichheit entweder zur Anarchie oder zur Knechtschaft.70 Richtet sich dieser Strang der Kritik gegen die demokratische Kultur überhaupt und überschreitet damit den Fokus der vorliegenden Untersuchung, so wird der Vorwurf der Instabilität auch mit Blick auf demokratische Wahlen erhoben. Tocqueville demonstriert dies anhand der amerikanischen Präsidentenwahl. Zum einen betrachtet er den durch periodische Wahlen bewirkten Austausch des politischen Personals als ein destabilisierendes Moment, das die Bildung einer politischen Elite untergräbt. Zum anderen lässt die Ausrichtung des jeweiligen Amtsinhabers oder Abgeordneten an der nächsten Wahl ihm zufolge kaum Raum für eine an übergreifenden und längerfristigen Zielen orientierte Politik. Es herrscht in demokratischen Regimes nahezu ständig Wahlkampf. Drittens verweist Tocqueville auf die negativen Seiten der demokratischen Ämtervergabe, namentlich auf Bestechungspraktiken und Günstlingswirtschaft, wobei er sich hier auf das unter Andrew Jackson massiv ausgebaute Beutesystem („spoils system“) bezieht und lakonisch konstatiert, dass gegenüber Aristokratien in Demokratien die Käuflichkeit sowohl stärker verbreitet als auch verwerflicher sei.71 Insgesamt läuft die Kritik von Wahlen auf den Nachweis einer problematischen Abhängigkeit der Politik von externen und potentiell illegitimen Einflüssen hinaus. Einen problematischen Faktor stellen dabei nicht nur die Macht des Geldes, sondern

70 Vgl. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 783. 71 Vgl. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 254.

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eben auch jene Begehrlichkeiten des Volkes dar, an denen Jackson und tendenziell auch Jefferson ihre Politik laut Tocqueville zu einseitig ausgerichtet haben. Eine vierte negative Folge der Demokratisierung erblickt Tocqueville in der politischen Apathie. Zusammen mit der Zentralisierung der Politik bewirke diese Apathie einen schleichenden und verdeckten, damit aber umso nachhaltigeren Despotismus. Das politische Desinteresse führt er auf spezifische Merkmale des demokratischen Menschen zurück, namentlich dessen Orientierung an materiellen Werten. Daneben ist es aber auch die Anonymisierung des politischen Prozesses, die Tocqueville hierfür verantwortlich macht. Gerade indem die staatliche Verwaltungspraxis in immer mehr Bereiche eingreift, unterhöhlt sie auch jene lokalen Vertrauens- und Kooperationsstrukturen, die ihm zufolge für eine lebendige demokratische Praxis unerlässlich sind. Es ist dieser Gedanke, der einen zentralen Ansatzpunkt seines Denkens über die Demokratie bezeichnet: lebendige zivilgesellschaftliche Praktiken als Schutz vor einem zentralistischen Despotismus. Anhand der USamerikanischen Geschworenengerichte demonstriert Tocqueville, wie freiheitsverträgliche „Gewohnheiten des Herzens“ ausgebildet werden können. Doch ist ihm auch bewusst, dass dies nur auf lokaler Ebene zu einer Zügelung der Demokratie beitragen könne. Übersetzung der Zitate von Skadi Siiri Krause

EINE GESELLSCHAFT VON GLEICHEN Tocqueville über die Demokratie als Staats-, Gesellschafts- und Lebensform Skadi Siiri Krause 1. DEMOKRATISIERUNG ALS GESELLSCHAFTLICHE DYNAMIK Die Amerikanische und die Französische Revolution unterschieden die Demokratie als Staatsform (Volkssouveränität) nicht von der Demokratie als Gesellschaftsform (bürgerliche Gleichheit). In seinem Buch Esprit de la Révolution de 1789 nennt Pierre-Louis Roederer, Mitglied der Verfassungsgebenden Nationalversammlung und Wortführer der gemäßigten Girondisten, jenes „Gefühl, durch welches die Revolution ihren ersten Aufschwung nahm, welches sie zu ihren heftigsten Anstrengungen aufstachelte und durch welches sie ihre größten Erfolge errang“, die „Liebe zur Gleichheit.“ Sie sei der „erste Beweggrund der Revolution“ gewesen, die sich durch „die Unduldsamkeit gegenüber den Ungleichheiten“1 auszeichnete. Für Roederer ist die Gleichheit ein universeller Anspruch, der sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erstreckt. Tatsächlich bezweifelt 1789 niemand, dass Gleichheit der „Leitgedanke“ des revolutionären Prozesses ist.2 Zum Ausdruck gebracht wird dies in der Dèclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen und in der Verfassung vom 3. September 1791, die noch von Louis XVI. unterzeichnet wird. Dort heißt es: „Da die Nationalversammlung die Französische Verfassung auf den Grundsätzen aufbauen will, die sie eben anerkannt und erklärt hat, schafft sie unwiderruflich die Einrichtungen ab, welche die Freiheit und die Gleichheit der Rechte verletzen. Es gibt keinen Adel mehr, keinen Hochadel, keine erblichen Unterschiede, keine Standesunterschiede, keine Lehnsherrschaft, keine Patrimonialgerichtsbarkeiten, keine Titel, Benennungen und Vorrechte, die davon herrührten, keinen Ritterorden, keine Körperschaften oder Auszeichnungen, die Adelsproben erforderten oder die auf Unterschieden der Geburt beruhten, und keine andere Überlegenheit als die der öffentlichen Beamten in Ausübung ihres Dienstes. Kein öffentliches Amt kann mehr gekauft oder ererbt werden. Für keinen Teil der Nation, für kein Individuum gibt es mehr irgendein Privileg oder eine Ausnahme vom gemeinsamen Recht aller Franzosen.“ 3

1 2 3

Pierre-Louis Roederer, L'Esprit de la Révolution, Paris: Les principaux librairies 1931, S. 6, 8−9. Jacques Necker, Du pouvoir exécutif dans les grands États, s.l. 1792, Bd. 1, S. 285. Constitution Françoise, donnée à Paris, le 14 Septembre 1791, URL: http://www.verfassungen.eu/f/fverf91-i.htm (letzter Aufruf: 16.04.2017).

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Gleichheit ist auch die maßgebliche Forderung in der Amerikanische Revolution. In ihr ist, wie sowohl die Federalists als auch die Anti-Federalists unterstreichen, der Gleichheitsgedanke der Schlüssel zum Grundverständnis der politischen Kultur der Epoche.4 Die Gründungsväter, die in der Tradition des klassischen Republikanismus argumentieren, betonen die Bedeutung der Gleichheit in einer Gesellschaft von Eigentümern mit wenig ausgeprägten Eigentumsunterschieden.5 Für sie stehen Freiheit und Gleichheit in einem starken Zusammenhang. Was sie entwerfen ist eine Gesellschaft, in der allen Bürgern ein egalitärer staatsbürgerlicher Status zuerkannt wird. Gleiche Grundrechte und Freiheiten, Gleichheit vor dem Gesetz, Chancengleichheit und freie Selbstbestimmung, das sind die Ideale der revolutionären Ära, wie sie sich exemplarisch unter anderem in Thomas Paines Rights of Man finden.6 Doch woraus leitet sich der Gleichheitsgedanke ab? Schaut man sich die Debatten der Zeit an, dann sieht man, dass es nicht nur die aufklärerische Idee der Gleichheit der Menschen ist, die die Diskussionen bestimmt. Vielmehr beschreiben die Zeitgenossen einen gesellschaftlichen Wandel, der für sie Privilegien und Statuten in Frage stellt. Wirkmächtig bringt dies Emmanuel-Joseph Sieyès in seinem revolutionären Traktat Qu’est-ce que le Tiers État? zum Ausdruck. Der enorme Erfolg seiner Schrift − sie gehört zu den meist publizierten politischen Pamphleten der ersten Monate des Jahres 1789 − beruht nicht zuletzt darauf, dass es ihr gelingt, in dem entscheidenden politischen Augenblick die Delegierten des Dritten Standes zu den allein rechtmäßigen Repräsentanten der Nation zu erklären. Die Nation ist für Sieyès eine zu bestimmten sozialen und ökonomischen Zwecken organisierte Form der menschlichen Gemeinschaft. Dabei werden die Menschen nicht nur als frei und gleich, sondern auch als produktiv tätig vorgestellt. Die Pointe dieses funktionalen Ansatzes, der stark an physiokratische Vorstellungen erinnert,7 besteht darin, dass er die Zugehörigkeit zur Nation an die Ausübung einer dem Gemeinwesen nützlichen Tätigkeit bindet und die traditionelle Einteilung der Gesellschaft in verschiedene Stände entbehrlich macht. In diesem Sinne erklärt Sieyès, dass allein die Angehörigen des Dritten Standes, die Handwerker und Bauern, die Unternehmer und Kaufleute, Anspruch darauf erheben können, als vollwertige Mitglieder der Nation zu gelten, die von ihm als eine Gemeinschaft der Gleichen gedeutet wird.

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5 6 7

Dabei sei darauf hingewiesen, dass Madison dies auch mit Skepsis betrachtet. Im Federalist Nr. 10 kritisiert er eine Sichtweise, die die „Einführung einer vollkommenen Gleichheit der politischen Rechte“ mit einer Angleichung von Eigentum und Sitten gleichsetzt. Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, The Federalist, hg. v. J. R. Pole, Indianapolis: Hackett Publishing Company 2005, Nr. 10 (James Madison, 22. November 1788), S. 52. Ausgeklammert werden dabei immer die Sklaven, Schwarzen und Mitglieder der indigenen Völker. Thomas Paine, Rights of Man. Being an Answer to Mr. Burke’s Attack on the French Revolution, 2 Bde., London: D. Jordan 1791. Vgl. Victor Riqueti Mirabeau, L’ami des hommes, ou Traité de la population, Avignon s.d. [1756].

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„Wer wagte es also zu sagen, dass der Dritte Stand nicht alles in sich besitzt, was nötig ist, um eine vollständige Nation zu bilden? Er ist der starke und kraftvolle Mann, der an einem Arm noch angekettet ist. Wenn man den privilegierten Stand wegnähme, wäre die Nation nicht etwas weniger, sondern etwas mehr. Also, was ist der Dritte Stand? Alles, aber ein gefesseltes und unterdrücktes Alles. Was wäre er ohne den privilegierten Stand? Alles, aber ein freies und blühendes Alles. Nichts kann ohne ihn gehen; alles ginge unendlich besser ohne die anderen.“ 8

Die Angehörigen des Adels und der Geistlichkeit, die, wie Sieyès betont, „in totaler Untätigkeit“ lediglich aus ihren Ämtern Ehre und Gewinn ziehen, haben den Anspruch verwirkt, zur Nation gezählt zu werden: „Der Dritte Stand umfasst also alles, was zur Nation gehört, und alles, was nicht dritter Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation betrachten“9. Sieyès kann in seinem Traktat freilich auf eine Argumentation zurückgreifen, wie sie bereits vor der Einberufung der Generalstände von führenden Ökonomen der Zeit, unter anderem Jacques Necker, vertreten wird. Als der König am 6. November 1788 die Assemblée des Notables konsultiert, eröffnet der Finanzminister des Königs die Sitzung mit einer Rede, in der er die Veränderungen, die sich seit 1614, der letzten Einberufung der Generalstände, vollzogen haben, auflistet. Necker nennt die neuen Industriezweige, das enorme Wachstum des Handels, den Aufstieg der Manufakturen sowie die Entstehung neuer bürgerlicher Schichten.10 Er spricht von „einer fast zwei Jahrhunderte umfassenden Zeitspanne“, in der sich die politischen, sozialen und sittlichen Verhältnisse Frankreichs grundlegend verändert haben, weshalb die überlieferte Art der Repräsentation der französischen Gesellschaft über die drei Stände fragwürdig geworden sei.11 Sieyès Pamphlet ist in diesem Sinne nur eine konsequente Weiterentwicklung dieses Gedankens. Der Dritte Stand, also alle arbeitenden Schichten der Gesellschaft, ist zu einer sozialen, ökonomischen und politischen Kraft geworden, die die anderen beiden Stände an Bedeutung verdrängt hat und deshalb mit Recht die Aufhebung der Privilegien der anderen reklamiert.12 Als man in der Restauration, also 30 Jahre nach Beginn der Französischen Revolution, danach fragt, was ihr eigentliches Erbe sei, nimmt Madame de Staël, geborene Necker, im Kampf gegen die Bestrebungen der Ultras, hinter die Errungenschaften der Revolution zurückzukehren, die Argumentation ihres Vaters wieder auf. Auch wenn Frankreich wieder zu einer Monarchie geworden sei, sei der von ihm beschriebene gesellschaftliche Wandel, dessen Ausdruck sie geworden war, doch unumkehrbar. In ihrem nachgelassenen Werk Considérations sur les princi-

8 Emmanuel-Joseph Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers État?, s.l. s.d. [1789], S. 6. 9 Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers État?, S. 9. 10 Archives parlementaires de 1787 à 1860. Recueil complet des débats législatifs et politiques des chambres françaises (1875−1889). Première série (1787 à 1799), Paris: P. Dupont 1868, Bd. 1, S. 393. 11 Archives parlementaires, Bd.1, S. 394. 12 Während der Revolution gibt es eine ganze Literatur zu diesem Thema. Siehe dazu Pierre Rosanvallon, La société des égaux, Paris: Editions du Seuil 2013.

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paux événements de la Révolution française, das wie kein zweites die liberale Revolutionsdeutung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägt,13 deutet sie die Französische Revolution denn auch als Ausdruck einer langen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und nicht als einmaliges Ereignis. „Die Französische Revolution ist eine von den großen Epochen der gesellschaftlichen Ordnung“, schreibt sie zu Beginn ihres Werkes. Jene, die die Französische Revolution als eine zufällige Begebenheit betrachten, haben ihre Blicke weder „auf die Vergangenheit noch auf die Zukunft“ gerichtet. Sie nehmen „die Schauspieler für das Stück“ und schreiben ihnen zu, was Jahrhunderte vorbereitet haben.14 Die Deutung der Französischen Revolution als Ausdruck eines gesellschaftlichen Prozesses mit einer jahrhundertelangen Vorgeschichte hat in der politischen Situation der Restauration zwei greifbare Vorteile. Erstens ist es dadurch möglich, die Vergangenheit zu entglorifizieren, ein Bemühen, das sich vor allem gegen die Ultras richtet. Und zweitens gelingt es Staël, die Revolution weniger radikal darzustellen, als es mit dem Erklärungsversuch eines Bruches möglich wäre. 15 Die Revolution ist für die Autorin nicht das Werk einzelner Persönlichkeiten, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Deshalb sei es unangemessen, die Französische Revolution allein auf das Verhalten Ludwigs XVI. oder die Taten der Jakobiner zurückzuführen. „Man muss die Revolution auf alles und auf nichts schieben“, schreibt Staël. „Jedes einzelne Jahr des Jahrhunderts führte auf allen Wegen dahin.“16 Mit dieser Argumentation befreit die Autorin die liberale Geschichtsschreibung aus der engen Bindung an die unmittelbaren Geschehnisse der Revolution. Die politischen Forderungen von 1789 waren keine maßlosen Ansprüche von Querulanten, Anarchisten oder Aufwieglern, sondern Ausdruck eines Jahrhunderte währenden gesellschaftlichen Wandels. Diese Deutung beeinflusst die politischen Debatten der Liberalen nachhaltig. Für sie ist die soziale, ökonomische und politische Vormachtstellung der ehemals herrschenden Schicht nicht erst durch die Revolution zerstört worden. Die Wiedereinführung alter Vorrechte und Privilegien, wie sie etwa die Ultras in der Restauration durch die Einführung neuer Erbschaftsgesetze durchsetzen wollen, verbietet

13 Siehe Stanley Mellon, The Political Uses of History. A Study of Historians in the French Restauration, Standford: Stanford University Press 1958. 14 Madame de [Anne-Louise-Germaine] Staël, Considérations sur les principaux événements de la Révolution française. Ouvrage posthume, publié par M. le Duc de Broglie et M. le Baron de Staël, Paris: Delaunay 1818, Bd. 1, S. 3. 15 „Die Menschen“, schreibt Staël, „kennen meistens nur die Geschichte ihrer Zeit, und man sollte glauben, wenn man die Deklamationen unserer Tage liest, die acht Jahrhunderte der Monarchie, welche der Französischen Revolution vorangegangen sind, seien durchgängig ruhige Zeiten gewesen, und die Nation habe damals auf Rosen gelegen.“ Staël, Considérations sur les principaux événements de la Révolution française, Bd. 1, S. 16–17. Vgl. auch François Guizot, Des moyens de gouvernement et d’opposition dans l’état actuel de la France, Paris: Ladvocat 1821, S. 188. 16 Staël, Considérations sur les principaux événements de la Révolution française, Bd. 1, 17, 88.

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sich für sie.17 Der Prozess des Niedergangs des Adels und des sozialen Aufstiegs der produktiven Schichten wird von Charles Ganilh in seinem 1823 veröffentlichten Werk De la contre-révolution en France, ou De la restauration de l’ancienne noblesse et des anciennes supériorités sociales dans la France nouvelle erstmals als ein demokratischer Prozess beschrieben. Mit diesem bezeichnet er weniger die rechtsstaatlichen Errungenschaften der Revolution als die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen innerhalb der französischen Gesellschaft.18 Die „Akkumulation von beweglichem Eigentum“ habe dazu geführt, dass „eine neue Population, eine neue Gesellschaftsordnung, eine neue Zivilgesellschaft“19 entstanden seien. Ganilh spricht von einer „allgemeinen Revolution“, die die Gesellschaft selbst verändere.20 Damit schließt er unmittelbar an Staëls Diskurs über die Französische Revolution und den fortschreitenden gesellschaftlichen Wandel an, den rückgängig zu machen nur das Ziel einer reaktionären Politik sein könne. Gleichwohl unterschieden die Liberalen der Restauration zwischen der Demokratie als Gesellschaftsform, dem Fallen sozialer Stände und Privilegien, und der Demokratie als Staatsform.21 So charakterisiert François Guizot, einer der führenden Köpfe der Doctrinaires den gesellschaftlichen Wandel in Europa und Amerika als einen jahrhundertelangen Prozess hin zur Demokratie, d. h. zu einer egalitären Form der Gesellschaft, in der es keine Kasten, Klassen, Privilegien, besondere und ausschließliche Rechte oder festen Grundbesitz in den Händen einzelner Familien gebe. „Der Aufstieg oder der Abstieg der Individuen innerhalb der Gesellschaftsordnung“, so Guizots Resümee, darf heute „durch keinerlei äußeren Eingriff“ mehr gestört werden. „Natürliche Überlegenheit, gesellschaftliche Rangfolgen dürfen durch das Gesetz keinerlei künstliche Unterstützung erfahren. Die Bürger müssen ihrem eigenen Geschick, ihrem eigenen Vermögen überlassen werden; jeder muss aus eigener Kraft alles werden können, was in seiner Macht steht, und darf in den Institutionen auf keinerlei Hindernis stoßen, das ihn hindert aufzusteigen, wenn er dazu fähig ist, noch auf Beistand hoffen, der ihm eine hochrangige Stellung sichert, wenn er sich dort von allein nicht zu behaupten vermag. Ich scheue mich nicht, es

17 Wunderbar beschrieben sind diese Debatten bei Annelien de Dijn in French Political Thought from Montesquieu to Tocqueville. Liberty in a Levelled Society?, Cambridge: Cambridge University Press 2008. 18 Charles Ganilh, De la contre-révolution en France, ou De la restauration de l’ancienne noblesse et des anciennes supériorités sociales dans la France nouvelle, Paris: Béchet Ainé, LibraireEditeur 1823, S. i–xliv. 19 Ganilh, De la contre-révolution en France, S. xvj. 20 Ganilh, De la contre-révolution en France, S. xxiij. 21 Zum Demokratiebegriff siehe: Hans Maier, „Zur neueren Geschichte des Demokratiebegriffs“, in: Klaus von Beyme (Hg.), Theory and Politics/Theorie und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag für Carl Joachim Friedrich, Den Haag: Martinus Nihoff 1971, S. 127−161; Robert Roswell Palmer, „Notes oft he use oft he word ‚democracy‘ 1789−1799“, in: Political Science Quaterly LVIII (1953), S. 203−226; Pierre Rosanvallon, La démocratie inachevée. Histoire de la souveraineté du peuple en France, Paris: Gallimard 2000.

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Skadi Siiri Krause auszusprechen. Das ist alles, was die Öffentlichkeit in Sachen Gleichheit zu bedenken hat; nicht mehr und nicht weniger.“22

Die Demokratie als Staatsform lehnt Guizot jedoch, wie die meisten seiner Zeitgenossen, ab. Dies ist auch nicht verwunderlich, wird die Demokratie seit dem 18. Jahrhundert doch von den führenden politischen Denkern mit Chaos gleichgesetzt. Montesquieu bringt den Diskurs des 18. Jahrhunderts auf den Punkt, wenn er behauptet, dass Demokratien oberflächlich, instabil und anfällig für Korruption seien.23 In seinem Wörterbuch von 1770 gibt Pierre Lèfevre de Beauvray deshalb zu bedenken, dass das „demokratische Regime“ der Anarchie näher stehe als „Monarchien dem Despotismus“.24 Dieser Diskurs wird durch die Französische Revolution und die Erfahrungen der Terreur noch verstärkt. So ist für Guizot, dessen Vater unter der Guillotine starb, die Demokratie als politisches System grundsätzlich verwerflich: „Diese Idee muss ausgerottet werden. Der soziale Frieden ist der Preis. Und mit dem sozialen Frieden, die Freiheit, die Sicherheit, der Wohlstand, die Würde und alle Werte, alles Eigentum, die er garantiert.“25

Demokratie als politisches System führt in Guizots Augen unwillkürlich zum „Despotismus der Zahl“, dem heftigsten und ungerechtesten aller Prinzipien.26 Deshalb dürfe es keine demokratische Regierungsform geben; sie sei unvereinbar mit kollektiver Freiheit, individuellen Rechten und Eigentum. Bedenkt man die beiden Bedeutungen, die der Demokratie einmal als Gesellschaftsform und einmal als einem politischen System zugemessen werden, ist es wenig verwunderlich, dass das politische Modell Amerikas zu Beginn der Julimonarchie heftig umstritten bleibt. Die amerikanische Gesellschaft wird von europäischen Reisenden durchweg als demokratisch beschrieben, aber die politische Zukunft der USA erscheint den meisten Beobachtern als prekär. Dennoch wächst in der Julimonarchie aufgrund der administrativen und enormen wirtschaftlichen Erfolge der Vereinigten Staaten das öffentliche Interesse an der „Neuen Welt“.27 Ge-

22 François Guizot, Des moyens de gouvernement et d’opposition dans l’état actuel de la France, Paris: Ladvocat 1821, S. 157−158. 23 Charles de Secondat, baron de Montesquieu, De l’esprit des loix, ou Du rapport que les loix doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les mœurs, le climat, la religion, le commerce etc., à quoi l’auteur a ajouté: Des recherches nouvelles sur les loix romaines touchant les successions, sur les loix françoises, et sur les féodales, Genève: chez Barrillot et fils 1748, Bd. 1, Buch VIII, 2. 24 Pierre Lefèvre de Beauvray, Dictionnaire social et patriotique, ou Précis raisonné de connaissances relatives à l’économie morale, civile et politique, Amsterdam: s. n. 1770, S. 109. 25 François Guizot, De la démocratie en France, Bruxelles: Wouters frères 1849, S. S. 11. 26 Guizot, De la démocratie en France, S. 65. 27 Siehe. L. Harris, „Observations de M. Harris, citoyen de la Pennsylvanie, ancien envoyé des États-Unis à Saint-Pétersbourg sur les finances des États-Unis, à l’occasion du débat de MM. de La Fayette, Bernard et Cooper, et de M. Saulnier“, in: Revue britannique, publié par MM. Saulnier fils et P. Dondey-Dupré, choix d’articles, cinquième série, Paris: Au bureau de la Revue 1842, Bd. 7, S. 164–178.

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fördert wird das Interesse auch von der französischen Regierung, die Forschungsreisen aktiv unterstützt. Kritiker warnen allerdings davor, zu hohe Erwartungen bezüglich solcher Reisen zu hegen: „Es scheint, dass Amerika das Land der Chimären ist“, heißt es bei Sébastien Louis Saulnier unumwunden.28 2. DIE DEMOKRATIE ALS GESELLSCHAFTS- UND LEBENSFORM Als Tocqueville zusammen mit seinem Weggefährden Gustav de Beaumont im Auftrag der französischen Regierung nach Amerika reist, ist er mit den geschilderten Debatten in Frankreich vertraut. Er kann also bei der Konzeption und Ausarbeitung von De la démocratie en Amérique auf die während der Restauration geführten Diskurse über den prozesshaften Charakter gesellschaftlicher Veränderungen und den Aufstieg der Demokratie als Gesellschaftsform zurückgreifen.29 Sein Werk eröffnet er denn auch mit einem Bekenntnis: „Unter den neuen Erscheinungen, die während meines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten meine Aufmerksamkeit erregten, hat keine meinen Blick stärker gefesselt als die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen.“30 Damit benennt Tocqueville einen wichtigen Gegenstand seines Werkes. Gemeint ist die allmähliche Entwicklung der Demokratie als Gesellschaftsform. „Wenn ich ‚Demokratie‘ sage“, ergänzt Tocqueville, „meine ich […] einen gesellschaftlichen Zustand“31. Im dritten Kapitel des 1835 erscheinenden Bandes, das den Titel „Die Gesellschaftsordnung der Anglo-Amerikaner“ trägt, entwickelt er einen umfangreichen Katalog der Arten von Gleichheit, die Amerika prägen.32 Auf wenigen Seiten präsentiert er die folgende Aufzählung: materielle Gleichheit oder Gleichheit der Vermögen, intellektuelle Gleichheit im Sinne eines durchschnittlichen Wissensstandes

28 Sébastien Louis Saulnier, „Correspondance“, in: Revue britannique, publié par MM. Saulnier fils et P. Dondey-Dupré, Choix d’articles, Cinquième Série, Paris: Au bureau de la Revue 1842, Bd. 7, S. 164–178, hier 177. 29 Siehe Aurelian Craiutu, „Tocqueville and the Political Thought of the French Doctrinaires (Guizot, Royer-Collard, Rémusat)”, in: History of Political Thought, 20/3 (1999), S. 456–493; Lucien Jaume, Tocqueville. The Aristocratic Sources of Liberty, Princeton 2013, S. 249−318; Franҫois Furet, „The Intellectual Origins of Tocqueville’s Thought”, in: The Tocqueville Revue/La Revue Tocqueville 7 (1985−1986), S. 117–127. 30 Alexis de Tocqueville, Democracy in America. Historical-Critical Edition of De la démocratie en Amérique, hg. v. Eduardo Nolla, übersetzt aus dem Französischen v. James T. Schleifer, zweisprachige französisch-englische Ausgabe, Indianapolis: Liberty Fund 2010, Bd. 1, S. 4. Im ursprünglichen Arbeitsmanuskript, das sich vom veröffentlichten Text unterscheidet, ist Tocqueville noch konkreter: „Es gibt etwas, was die Aufmerksamkeit der Europäer nach ihrer Ankunft in der Neuen Welt mehr weckt als alles andere. Eine überraschende Gleichheit herrscht dort unter den Vermögen; auf den ersten Blick scheinen selbst die Gedanken gleich. Ich war, wie andere auch, beeindruckt vom Anblick dieser extremen Gleichheit der Bedingungen.“ Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 4, Fußnote d. 31 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 4, Fußnote c. 32 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 74–90.

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beziehungsweise einer gleichen Geisteshaltung sowie soziale Gleichheit als Ausdruck des Verblassens hereditärer Privilegien, Ränge und Familiennamen. Tocqueville beobachtet und beschreibt aber auch eine Gleichheit im Sozialverhalten der Amerikaner. In seinem Reisetagebuch notiert er: „Es regiert eine unglaubliche äußere Gleichheit in Amerika. Alle Klassen treffen sich ständig und es gibt nicht die geringsten Zeichen für unterschiedliche gesellschaftliche Positionen.“ Jeder gebe sich die Hand. „Im Allgemeinen leben die Reichsten und die Gebildetsten zusammen. Aber für einen Ausländer sind solche Ungleichheiten nicht erkennbar und ich glaube, dass sie weniger fühlbar sind als anderswo. [...] Offensichtlich betrachten sich die weißen Diener als Gleiche neben ihren Herren. Sie verhalten sich vertraut.“

Auch gebe es keine Standesdünkel. „Bei allen Fahrten, die ich durch die USA gemacht habe, habe ich nicht eine einzige Person in ihrem eigenen Wagen oder mit ihren Pferden gesehen.“ Selbst die reichsten Menschen reisen in öffentlichen Kutschen ohne Personal.33 Die Gleichheit, wie er sie beobachtet, bezeichnet er, ganz im Sinne seines Lehrers François Guizots, als demokratisch: „Über die Gesellschaftsordnung der Angloamerikaner ließe sich mancherlei Wichtiges sagen, aber eine Aussage geht allen anderen vor: die gesellschaftliche Ordnung der Amerikaner ist im höchsten Grade demokratisch.“34 Die extreme Gleichheit, die er in Amerika erlebt, macht die neue Welt für ihn zu einem Symbol einer modernen Gesellschaft. Dabei betont er mit Blick auf Frankreich ausdrücklich, dass die ständig wachsende Gleichheit auch anderswo als „auslösendes Element“ dienen werde, die moderne Welt zu beeinflussen. Aber im Gegensatz zu den Liberalen seiner Zeit, die vor allem betonen, dass der gesellschaftliche Wandel eine Gesellschaft zur Folge haben werde, in der Privilegien keine Rolle mehr spielen, beschreibt er am amerikanischen Beispiel einen weit umfassenderen sozialen Wandel, der nicht nur die gesellschaftlichen Umgangsformen, sondern die Arbeits-, Nachbarschafts- und Familienstrukturen, ja sogar das Geschlechterverhältnis, vor allem aber das Selbstverständnis der Akteure präge.35 So beschäftigen sich nicht weniger als fünf Kapitel in De la démocratie en Amérique explizit mit der Familie. Seine Urteile sind dabei durchaus überraschend: Nirgendwo sei die väterliche Autorität so vollständig und mit so wenig Bitterkeit verschwunden. Nirgendwo sei die Bildung von Mädchen und Jungen weltlicher und egalitärer. Was Tocqueville schildert ist jedoch nicht die Auflösung der Familie in der demokratischen Gesellschaft, sondern die Entwicklung eines neuen Verständnisses von ihr. Ein Familienbild im aristokratischen Sinne, als hierarchische Struktur mit einem Familienoberhaupt an der Spitze, gebe es nicht mehr. Der „Einfluss

33 Tagebucheintrag vom 17. September 1831, in: Alexis de Tocqueville, Voyages en Sicile et aux États-Unis, Œuvres complètes, Bd. V/1, Paris: Gallimard 1957, S. 240−241. 34 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 75. 35 Tocqueville spricht auch von einer „grande révolution sociale“. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 17.

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der Demokratie auf die Familie“36 beginne mit dem Verschwinden der väterlichen Autorität. Dies hat für den Autor verschiedene Ursachen. So sei das Familienoberhaupt nicht mehr die einzige Rechtsperson. Außerdem werde die Vorstellung, dass ein Mensch den anderen an Weisheit oder Tugend überlegen sein könne, es also eine „natürliche Autorität“ gebe, in Frage gestellt. Und auch das Argument der Tradition verliere seine Überzeugungskraft. In einer aristokratischen Gesellschaft habe das Familienoberhaupt Autorität, weil es „die natürliche und notwendige Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart“37 darstelle. In einer demokratischen Gesellschaft verliere sich jedoch die Tradition, wenn Kinder ihren eigenen Zielen und Lebensvorstellungen folgen können. Damit ändern sich aber auch die emotionalen Bindungen innerhalb der Familie. Die Erinnerungen an Land und Vorfahren verblassen. Die Hoffnung, den eigenen Kindern ein Erbe zu hinterlassen, damit diese in einer bestimmten Tradition weiterleben, werde zu einer „Illusion des individuellen Egoismus“38, zu einem Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht der nächsten Generation. Jeder richte sein Sinnen entsprechend nur noch auf die Annehmlichkeiten der Gegenwart, greife aber nicht mehr darüber hinaus. Oft ist die Kritik geäußert worden, dass Tocqueville hier konservativen Interpretationsmustern folge, indem er den Untergang familiärer Bande heraufbeschwöre, oder in seinen pauschalen Urteilen gar blind gegenüber neuen Abhängigkeiten und Ungleichheiten sei.39 Doch der Punkt, den Tocqueville am Beispiel der Auflösung traditioneller Familienbande erörtert, ist ein anderer. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Wandel der sozialen Beziehungen und des Selbstverständnisses der Menschen unter demokratischen Verhältnissen.40 Cheryl B. Welch hat Tocqueville aufgrund dieses spezifischen Blickwinkels als den „ersten Anthropologen der

36 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 4, Kapitel 8. 37 Jocelyn M. Boryczka, „The Separate Spheres Paradox. Habitual Inattention and Democratic Citizenship”, in: Jill Locke, Eileen Hunt Botting (Hg.), Feminist Interpretations of Alexis de Tocqueville, Pennsylvania: Pennsylvania State University Press 2009, S. 281–304; Lisa Pace Vetter, „Sympathy, Equality, and Consent. Tocqueville and Harriet Martineau on Women and Democracy in America”, in: Jill Locke, Eileen Hunt Botting (Hg.), Feminist Interpretations of Alexis de Tocqueville, Pennsylvania: Pennsylvania State University Press 2009, S. 151–176. 38 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 82–83. 39 Lisa Vetter, “Sympathy, Equality, and Consent: Tocqueville and Harriet Martineau on Women and Democracy in America”, in: Jill Locke, Eileen Hunt Botting (Hg.), Feminist Interpretations of Tocqueville, Pennsylvania: Pennsylvania State University Press 2009, S. 151–176. 40 Die Amerikaner übertragen „fast immer die Gewohnheiten des öffentlichen Lebens auf ihr häusliches Dasein“, sodass der Grundsatz der Gleichheit zunehmend auch die familiären Verhältnisse bestimme. In diesem Sinne muss folglich auch die von Tocqueville propagierte „Auflösung der Familie“ verstanden werden: Das egalitäre Erbschaftsrecht zerstört die Familie als politische Institution, aber es schafft neue soziale Bindungen zwischen den Eltern und ihren Kindern, die nicht mehr auf Autorität beruhen. So beschreibt Tocqueville Beziehungen zwischen Vätern und ihren Söhnen, die sich durch eine neue Intimität, Vertrauen und Zuneigung auszeichnen. Ferner werden die Beziehungen zwischen Brüdern und Schwestern nunmehr durch ihre gemeinsame Kindheit und Erziehung geprägt. Und auch die Frauen gehen gegenüber ihren Ehemännern und Kindern neue emotionale Bindungen ein. Nirgendwo, schreibt Tocqueville, werde das Band der Ehe mehr geachtet, weil das Verhältnis der Eheleute selbst eines der

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modernen Gleichheit“41 bezeichnet. Dies ist durchaus angemessen, denn was Tocqueville untersucht, ist ein gesellschaftlicher Wandel, der sich immer auch in den Denkweisen, inneren Einstellungen, der Geisteshaltung und Gesinnung, sprich den Lebenseinstellungen und Mentalitäten der Akteure niederschlägt. Die weitreichenden Wirkungen des Grundsatzes der Gleichheit auf die Selbstwahrnehmung der Akteure stellt Tocqueville in seinem Werk deshalb immer wieder heraus. Er verfolgt sie sogar bis in die Sprache. Während viele Amerika-Reisende sich darüber beklagen, dass die Amerikaner viele neue Worte gebrauchen und ihre Sprache, weil sie Begriffe aus dem Alltag und den Berufen entlehne, vulgär werde, betont Tocqueville, dass auch die Sprache Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels sei. „Die demokratischen Völker finden an dem Wandel selbst gefallen.“ Doch der „Geist der demokratischen Völker“ zeige sich nicht nur „in den vielen neuen Worten, die sie in Gebrauch nehmen, sondern auch in der Natur der Ideen, die diese neuen Wörter darstellen“. Während in den Aristokratien die Sprache ruhe, weil es kaum neue Wörter gebe, die die gesellschaftlichen Veränderungen abzubilden haben und neue Dinge mit alten Worten belegt werden können, finde die „ewige Bewegung“, die das „Wesen der Demokratie“ ausmache, ihren Ausdruck auch im Gebrauch neuer Wörter und Begriffe. Alte Ideen gehen dabei verloren „oder ihnen werden neue Seiten abgewonnen“42, die sie davor nicht innehatten. Tocqueville geht es aber nicht nur um die verschiedenen Facetten des gesellschaftlichen Wandels in einer Demokratie. Er kritisiert vor allem die vorhandenen Vorstellungen über die Vereinigten Staaten. Die sozialen Beziehung seien dort äußert fluide und Ausländern unterlaufe deshalb häufig der Fehler, dass sie angesichts des hohen Ansehens, der dem Wohlstand in diesem Land zukomme, zu dem Schluss gelangen, dass in einigen europäischen Monarchien, wie zum Beispiel in Frankreich, eine wirklichere und vollständigere Gleichheit herrsche als in den amerikanischen Republiken. Eine solche Vorstellung lehnt Tocqueville jedoch ab. So argumentiert er, dass in Frankreich die „Vorteile der Geburt“ immer noch großen Einfluss haben. Dort bilde die soziale Herkunft eine fast unüberwindbare Barriere zwischen den Menschen. So bestimme der Beruf eines Mannes in Europa seine soziale Stellung. Dies sei fatal für die Gleichheit, weil so dauerhafte und unterschwellige Unterscheidungen eingeführt werden, auch wenn die Auflösung großer Vermögen an Landbesitz und die gesellschaftliche Entwicklung gegen sie seien.43 In Amerika dagegen existieren solche Vorurteile nicht. Die Geburt mache einen Unterschied, aber sie habe keinen Einfluss auf die soziale Stellung eines Mannes. Auch gebe es keine sozialen Unterschiede aufgrund der Profession oder Konfession. Zwar herrschen Unterschiede im Vermögen und im Sozialverhalten der Einzelnen, aber diese schaffen keine soziale Ungleichheit, da sie weder Ehen zwischen unterschiedlichen Familien noch die Annahme öffentlicher Ämter verhindern – beides gegenseitigen Achtung sei. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 473–474. 41 Cheryl B. Welch, De Tocqueville, Oxford: Oxford University Press 2001, S. 50. 42 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 3, S. 823. 43 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 495.

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für Tocqueville wichtige Prüfsteine sozialer Gleichheit.44 Deshalb bekräftigt er in De la démocratie en Amérique immer wieder die Allgegenwart des Gefühls der Gleichheit in den USA, trotz des Einflusses von Vermögensunterschieden, denn die herrschenden Ungleichheiten seien weder absolut noch starr oder permanent. Sie schaffen nur vorübergehende Unterschiede und keine neuen Klassen mit gesonderten rechtlichen Privilegien. 3. DIE DEMOKRATIE ALS STAATS- UND REGIERUNGSFORM Bereits während seiner Reise meint Tocqueville, nicht nur bedeutende Erkenntnisse über die grundlegenden Merkmale der Demokratie als Gesellschaftsform, sondern auch als Staatsform gewonnen zu haben. „Was einem bei der Ankunft in den Vereinigten Staaten am meisten auffällt“, schreibt er, sei die „Art stürmischer Bewegtheit“45, in der die politische Gesellschaft lebe. Sehen dies die Doctrinaires als das große Manko der Demokratie an,46 zeichnet Tocqueville ein grundsätzlich positives Bild von der „politischen Betriebsamkeit“ in den Vereinigten Staaten. „Kaum hat man den Boden Amerikas betreten, befindet man sich inmitten einer Art von Getümmel; von überallher erhebt sich verworrener Lärm; ungezählte Stimmen dringen gleichzeitig an das Ohr“; jeder drücke irgendein soziales Bedürfnis aus. „Alles um einen herum ist in Bewegung: Hier ist das Volk eines Stadtteils versammelt, um über den Bau einer Kirche zu beraten; dort befasst man sich mit der Wahl eines Abgeordneten“; weiter weg „begeben sich die Abgeordneten eines Kantons in aller Eile in die Stadt, um zu bestimmten örtlichen Verbesserungen Stellung zu nehmen“; andernorts „sind es Bauern eines Dorfes, die ihre Felder verlassen, um den Plan einer Straße oder einer Schule zu besprechen“.

Bürger versammeln sich „allein zum Zweck einer Erklärung“, dass sie mit der Regierung „nicht einverstanden“ sind. Wiederum andere, „die in der Trunksucht die Hauptursache der Staatsübel“ sehen, verpflichten sich feierlich, dem „Beispiel der Mäßigkeit“47 zu folgen. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Guizot, der die Demokratie als politisches System ablehnt, ist Tocqueville überzeugt, dass der Prozess der Angleichung der Verhältnisse, wie er ihn anhand der amerikanischen Gesellschaft beschreibt, sich auch in der politischen Sphäre abbilden müsse. Deshalb zeichnet er das Bild einer dynamischen, aber in sich stabilen Staatsform, denn Amerika vermittelt ihm tiefe Einsichten über die Möglichkeiten, die Exzesse der Demokratie (in der Formulierung Guizots die „schrankenlose Macht der Mehrheit“) wirksam zu zügeln. Einige sind

44 Vgl. Aurelian Craiutu, „Tocquevilles neue politische Wissenschaft wiederentdecken. Einige Lektionen für zeitgenössische Sozialwissenschaftler“, in: Harald Bluhm, Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 33−51, hier 48–49. 45 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 634. 46 Siehe Guizot, De la démocratie en France, S. 11. 47 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 396.

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dabei rechtlicher Natur (vor allem die Grundrechte); andere institutionelle Garantien (die horizontale wie vertikale Gewaltenteilung); und wiederum andere beruhen auf den amerikanischen Gewohnheiten, Einstellungen und Sitten, vor allem aber auf der Stärkung und Ausweitung kollektiver Freiheiten. Unter den verfassungsrechtlichen Mechanismen, die Tocqueville in Amerika hervorhebt, bezeichnet er gleich mehrere als neu und gelungen. Dazu gehört erstens der amerikanische Föderalismus, den er als „eine völlig neue Theorie“ beschreibt, „die als eine große Entdeckung in der Politikwissenschaft von heute angesehen werden muss“48. Bereits in einem Tagebucheintrag vom 29. Dezember 1831 heißt es: „Was man sagen kann, ist, dass nur ein sehr aufgeklärtes Volk die Bundesverfassung der Vereinigten Staaten entwickeln konnte und dass nur ein sehr aufgeklärtes und vor allem mit den repräsentativen Formen vertrautes Volk, eine solch komplizierte Maschine am Laufen halten konnte [...].“ Die Verfassung der Vereinigten Staaten sei eine bewundernswerte Arbeit. „Aber es ist doch zu vermuten, dass sie ihren Gründer nicht gelungen wäre, wenn nicht über 150 Jahre den verschiedenen Staaten der Union den Geschmack und die Gewohnheit provinziellen Regierens und zugleich eine Entwicklungsstufe verliehen hätten, eine starke und begrenzte Zentralregierung zu unterstützen.“49

Die Bundesverfassung der Vereinigten Staaten scheint Tocqueville als die beste, vielleicht sogar die einzige Kombination, die die Errichtung einer riesigen Republik erlaube. Seine Darstellung des Föderalismus Nordamerikas ist freilich eine klare Kritik am Zentralismus Frankreichs, dem er fatale Folgen für das politische Selbstverständnis der Bürger vorwirft. Diese reichen, wie Tocqueville ausführt, von Politikverdrossenheit bis zur Herausbildung überzogener und politikfremder Ideologien. Es ist der Zusammenhang von föderalen politischen Institutionen, einer lebendigen demokratischen politischen Kultur und dem Schutz kollektiver Freiheitsrechte, den er am Beispiel der USA darzustellen sucht. Seine Ausführungen gehen dabei weit über die Selbstbeschreibungen und Verfassungskommentare der Gründungsväter der USA hinaus. Im Zentrum stehen nicht zuletzt die dezentralen Formen der Verwaltung. Hier entdeckt er eine bürgerliche Freiheit, die sich nicht allein auf eine Schutzfunktion individueller Freiheitsrechte beschränken lässt, sondern Ausdruck kollektiver Freiheitsrechte ist. In diesem Sinne bildet die kommunale Selbstverwaltung für Tocqueville auch eine Matrix der modernen Demokratie. Die Unabhängigkeit der Gemeinden bei der Regelung öffentlicher Angelegenheiten sowie das Prinzip der Wahl, sowohl in den Gemeindevertretungen als auch bei der Benennung der Beamten, sichern für ihn einen aktiven Gemeinsinn der Bürger.50 48 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 252. 49 Tocqueville, Voyages en Sicile et aux États-Unis, Œuvres complètes, Bd. V/1, S. 268−269. 50 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 118, 153; Bd. 2, S. 583–585. Nach Ansicht Sandels ist dies die wichtigste Entdeckung, die Tocqueville während seines Aufenthaltes in Amerika macht. Die bürgerliche Freiheit sei unmittelbar mit den dezentralisierten Formen von Partizipation und politischer Assoziation verbunden. Tocqueville ist nach dieser Lesart eine Art Zeuge und Analytiker der goldenen Ära der amerikanischen Republik, in der die zunehmende Machtkonzentration des Staates durch die freiheitlichen Einrichtungen der Kommunen begrenzt werden konnte. Michael Sandel, „The Political Theory of the Procedural Republic“, in: Revue de métaphysique et de morale 93/1 (1988), S. 57–68.

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Zweitens stellt Tocqueville in seiner Untersuchung der amerikanischen Justiz die Originalität der Bundesgerichte heraus, Gesetze, selbst wenn sie durch Mehrheitsentscheid auf den Weg gebracht wurden, für verfassungswidrig erklären zu können. Hamilton hatte im Federlist Nr. 78 das Recht des Obersten Gerichts verteidigt, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu entscheiden, die von den Parlamenten des Landes oder der Bundesstaaten verabschiedet werden. Diese historisch entscheidende Befugnis der Normenkontrolle, argumentiert er, sei eine angemessene Kontrolle der Legislative. Ausdrücklich lehnt er das britische Regierungssystem ab, in dem das Parlament mit einer Mehrheit jede Entscheidung eines Gerichtes aufheben kann. Die Judikative sei „die Zitadelle öffentlicher Gerechtigkeit und öffentlicher Sicherheit“.51 Er ist der Meinung, dass die Gerichte als “Bollwerk“ einer eingeschränkten Verfassung gegen die Übergriffe der Legislative fungieren sollen. „Die Interpretation der Gesetze ist die richtige und eigentliche Domäne der Gerichte. Eine Verfassung ist tatsächlich – und muss von den Richtern so angesehen werden – ein grundlegendes Gesetz. Deshalb gehört es zu ihren Aufgaben, deren Bedeutung ebenso wie die Bedeutung jedes einzelnen von der Legislative verabschiedeten Gesetzes zu ermitteln. Sollte es zu einer unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheit zwischen beiden kommen, dann sollte selbstverständlich das, was die höherrangige Verpflichtung und Gültigkeit hat, den Vorzug haben, anders ausgedrückt, der Verfassung sollte der Vorzug gegenüber einem einfachen Gesetz gegeben werden, der Absicht des Volkes der Vorzug gegenüber der Absicht seiner Beauftragten.“ 52

Nur langwierige und mühsame politische Prozesse sollen Verfassungsänderungen möglich machen. Anders in Tocquevilles Darstellung. Hier ist der Oberste Gerichtshof in der horizontalen wie vertikalen Gewaltenteilung der Angelpunkt des Systems der checks and balances. An ihn wendet sich „die vollziehende Gewalt, um den Übergriffen der gesetzgebenden Körperschaft zu begegnen; die gesetzgebende Gewalt, um sich gegen die Vorhaben der vollziehenden Gewalt zu verteidigen; die Union, um die Staaten zum Gehorsam zu bringen; die Staaten, um die übertriebenen Ansprüche der Union zurückzuweisen; das öffentliche Interesse gegen das private Interesse; der Geist des Bewahrens gegen die demokratische Unbeständigkeit.“ 53

In seiner Suche nach einer Erklärung für die „immense politische Macht“ des Obersten Gerichtshofs als Beschützer der Verfassung, die für ihn auf einer Legitimität fußt, die sich nicht allein aus der Verfassung selbst erschöpft, stößt er auf die Arbeit der Jurys auf der untersten Ebene der Gerichte.54 Dabei sichern für ihn vor allem Zivilverfahren das Vertrauen in die Einrichtungen der Rechtsprechungen. Hier erscheine der Richter als unbeteiligter Schiedsmann, der zwischen den Leidenschaften der Parteien vermittle und sie dämpfe. Der Richter sei es, der vor den

51 Hamilton/Madison/Jay, The Federalist, Nr. 78 (Alexander Hamilton, 28. Mai 1788), S. 413. 52 Hamilton/Madison/Jay, The Federalist, Nr. 78 (Alexander Hamilton, 28. Mai 1788), S. 414−415. 53 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 245. 54 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 431.

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Geschworenen die „verschiedenen Beweisgründe“ ausbreite und sie durch die Umwege des Verfahrens geleite. Diese verkünden im Zivilrecht für Tocqueville denn auch in der Regel das Urteil, was der Richter ihnen nahelege. Gleichwohl verkörpere ein solches Urteil zweierlei: „die Autorität der Gesellschaft“, wie sie die Geschworenen zum Ausdruck bringen, und „die Autorität der Vernunft und des Gesetzes“, die ihnen der Richter verleihe. Anstatt also die Rechte der Richterschaft zu vermindern, stärke das Geschworenengericht ihren Einfluss und ihr Ansehen, weil die Juroren in ihrer Arbeit das Wissen der Richter zu schätzen lernen. In keinem Land, so Tocqueville, seien die Richter so einflussreich wie da, wo das Volk an ihren Vorrechten teilhabe.55 Er bewertet dies durchweg positiv: „Besucht man die Amerikaner und studiert man ihre Gesetze, so sieht man, dass die Autorität, die sie den Rechtskundigen gewähren, und der Einfluss, den sie ihnen auf die Regierung einräumen, heute die mächtigste Schranke gegen die Verirrungen der Demokratie bilden.“56 Das dritte institutionelle Arrangement, das Tocqueville in Amerika besonders auffällt, sind die in der Öffentlichkeit anerkannten und nicht wegzudenkenden Parteien und Assoziationen, die durch die Vereinsfreiheit geschützt werden. Sie prägen die amerikanische Politik so sehr, dass er meint, es gebe keine Regierung im europäischen Sinne mehr.57 Doch die Nation funktioniere und gedeihe. Tocqueville wird in De la démocratie en Amérique nicht müde darauf hinzuweisen, dass die allgemeinen sozialen und politischen Auswirkungen der Verbände vorteilhaft seien. Er ist der festen Überzeugung, dass er Beweise aus erster Hand habe, um belegen zu können, dass auch Frankreich sich vor ihnen nicht zu fürchten brauche.58 Ja, er versucht sogar zu belegen, dass es in der Demokratie eigener Organisationsformen bedürfe, in denen sich die egalitären Mitglieder einer Gesellschaft frei und ohne die traditionellen sozialen Beziehungen versammeln können. Da die traditionellen Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft, wie sie Montesquieu am Beispiel des Adels, der Gilden, Parlamenten und Provinzialstände beschrieben habe,59 ihre gesellschaftliche Position eingebüßt haben, verliere die Gesellschaft und ihre Glieder immer mehr die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. Zurück bleiben nur isolierte Bürger, die nicht mehr die Fähigkeit besitzen, aktiv Widerstand gegen den Staat zu leisten. Gerade weil die Demokratie formal keine Mittel biete, um den Gefahren einer tendenziellen Stärkung des Staates und einer zunehmenden Individualisierung zu begegnen, argumentiert Tocqueville, sei das Vereinsrecht in ihr so wichtig. Nur in Verbindung mit anderen haben die Bürger eine politische Potenz, Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 450. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 431. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 1, S. 116. In den laufenden parlamentarischen Debatten tritt er später mit dem Argument auf, dass eine Dezentralisierung auch in Frankreich möglich sei. Siehe: Procès-verbaux du Comité de Constitution de 1848, Procès-verbaux du Comité de Constitution de 1848, in: Piero Craveri, Genesi di una Constituzione. Libertá e socialismo nel dibattito constituzionale del 1848 in Francia, Napoli: Guida 1985, S. 101−210, hier 115. 59 Tocqueville verweist explizit auf Montesquieu. Siehe Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 509. 55 56 57 58

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auch zwischen den Wahlen die Prozesse und Entscheidungen von Legislative, Exekutive und Judikative zu überwachen, zu beeinflussen und voranzutreiben. Zu den kollektiven Freiheitsrechten, die Tocqueville darüber hinaus lobt, gehören neben der Versammlungs- und Religionsfreiheit, die er immer auch in Hinblick auf die Vereinsfreiheit diskutiert, die Pressefreiheit, die er als wichtiges Heilmittel gegen die Gefahren der Demokratie benennt. In De la démocratie en Amérique weist er nach, dass das Wesen des Repräsentationssystems in einem beständigen Austausch von Informationen, Ideen, Meinungen und Ansichten zwischen Repräsentativorganen und den Wählern besteht. Die Rede- und Pressefreiheit gehöre neben dem Wahlrecht zu den direkten Ausdrucksformen der Volkssouveränität. Sie berge ein kollektives Recht auf Information und versetze die Bürger erst in die Lage, einen eigenen politischen Willen zu bilden und zu äußern. Durch die von ihr geschaffene Transparenz politischer Prozesse und Entscheidungen fördere sie zudem das Vertrauen der Bürger in die repräsentativen Institutionen des Landes und stabilisiere so das Gemeinwesen. „Unter den zwölf Millionen Menschen“, schreibt Tocqueville, „die das Gebiet der Vereinigten Staaten bewohnen, gibt es nicht einen einzigen, der bisher gewagt hätte, die Einschränkung der Pressefreiheit vorzuschlagen.“60 Vor diesem Hintergrund hinterfragt Tocqueville, warum in Frankreich so rigide Pressegesetze herrschen und mit der Verwaltung ein ganzer Teilbereich staatlichen Handelns per se der Logik des Amtsgeheimnisses folgt. In der Gegenüberstellung von Frankreich und Amerika kann er nachweisen, dass das Geheimhaltungsmonopol des Staates eine demokratische Gesellschaft zutiefst aushöhlt und ohne Repressionen nicht aufrechtzuerhalten ist.61 Deshalb verteidigt er die Pressefreiheit als ein kollektives Recht. Die Erfolgsaussichten politischer Partizipation seien unmittelbar mit den Informationen verknüpft, über die eine jeweilige Teilöffentlichkeit verfüge. Der Zugang zu Informationen und die Transparenz behördlicher Prozesse seien daher grundlegend für die effektive Wahrnehmung von Bürgerrechten und folglich konstitutiv für eine demokratische Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund entwickelt Tocqueville in De la démocratie en Amérique eine handfeste Theorie öffentlicher Freiheitsrechte, die wichtige politische und soziale Erfahrungs- und Handlungsräume für die Bürger eröffnen. Sie seien ein wichtiges Element gegen die Tyrannei der Mehrheit und die Willkür des Staates. Außerdem verhindern sie einen übermäßigen Individualismus, den Tocqueville als die größte Gefahr für die Demokratie betrachtet. Der Rückzug in den privaten Bereich ist für ihn eine unvermeidliche Folge des demokratischen sozialen Zustandes, weil es keine direkten Abhängigkeiten mehr gebe.62 Dies mache jedoch die Bürger gleichgültig untereinander. Aus diesem Grund, so argumentiert Tocqueville, sei der Despotismus mehr in demokratischen Gesellschaften zu befürchten als in jeder anderen Gesellschaft, denn ein demokratisches Volk sei in eine Vielzahl von privaten

60 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 292. 61 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 292. 62 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 3, S. 881–895.

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Gesellschaften und isolierten Individuen unterteilt.63 In einer unauffälligen, gewaltlosen Entwicklung könne die staatliche Macht folglich absolut werden. Es entstehe ein „weicher“ Despotismus, eine friedliche Diktatur, nicht gewalttätig wie in der Antike.64 Diese neue Despotie werde dabei vollständiger sein als die der absolutistischen Regime der Vergangenheit, denn die verschiedenen Völker des Römischen Reiches seien alle in der Lage gewesen, ihre Bräuche und Sitten zu bewahren. Die neue Despotie des Gemeinwillens gebe jedoch keinen Raum für diese Art politischer, kultureller und sozialer Vielfalt. Kurz gesagt, Tocqueville entwickelt eine durchaus kritische Analyse des Aufstiegs der Demokratie, die zugleich auch eine politische Kritik an den Verhältnissen in Frankreich ist, wo ein zentralistischer Staat in seinen Augen nicht nur die kommunale Selbstverwaltung bekämpft, sondern aus Angst vor politischen Unruhen auch Versammlungs-, Presse- und Religionsfreiheit einschränkt und die Entwicklung vielfältiger Formen politischer Interessenartikulationen unterbindet. Tocqueville dagegen erblickt in der Stärkung kollektiver Freiheitsrechte ein notwendiges Gegenmittel im Kampf gegen die schlimmsten Gefahren der Demokratie: eine unbegrenzte Tyrannei der Mehrheit und einen politisch machtlosen Individualismus. Mit diesem Fokus und der politischen Ausrichtung seiner Arbeit positioniert sich Tocqueville als ein Liberaler, der sich nicht nur zur Demokratie als Gesellschafts- und Lebensform bekennt, sondern auch zur Demokratie als Staats- und Regierungsform.

63 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 2, S. 307, 393, 418. 64 Vgl. Roger Boesche, „Why did Tocqueville Fear Abundance? Or the Tension between Commerce and Citizenship”, in: History of European Ideas 9 (1988), S. 25–45.

TOCQUEVILLE UND DIE FRAGE DER RELIGION IN DER MODERNEN DEMOKRATIE Oliver Hidalgo 1. EINLEITUNG In seinem Buch Political Psychology zählt Jon Elster1 die Religion zu den Themengebieten, die Tocqueville in seiner Studie über die amerikanische Demokratie angeblich höchst widersprüchlich behandelt.2 So spreche der französische Aristokrat einerseits davon, dass die moderne egalitäre Gesellschaft als spill-over Effekt der christlichen Religion und ihres Gleichheitsideals gelten müsse; andererseits solle die christliche Religion die Schwächen und Schattenseiten der egalitären Demokratie aber ebenso ausgleichen, also einen psychologischen Kompensationseffekt leisten. Irgendetwas – so suggeriert der erste Blick – kann also mit Tocquevilles Analyse nicht ganz stimmen, insofern doch eigentlich nur eines richtig sein kann: Entweder die christliche Religion ist als Grundlage der modernen Demokratie in Europa zu diagnostizieren oder sie ist geeignet, letztere zu therapieren. Wie aber könnten beide Aspekte kompatibel sein? Der vorliegende Beitrag will exakt dies demonstrieren: Dass Tocquevilles Perspektive auf die christliche Religion im Rahmen seiner Demokratietheorie allem gegenteiligem Anschein zum Trotz konsistent ausfällt und sich die verschiedenen Komponenten seines einschlägigen Ansatzes durchaus in eine kohärente Auffassung einfügen. Dies gilt sogar für Tocquevilles persönliche Glaubensskepsis, die nach seinem Tod aus seiner Korrespondenz bekannt wurde und die vordergründig nahelegt, er hätte die Frage der Religion unter einem rein funktionalistischen Blickwinkel erörtert. Wie in der Folge zu zeigen sein wird, ging es Tocqueville in seinen Werken jedoch nicht darum, seinen Lesern gegenüber die Segnungen einer Medizin 1 2

Jon Elster, Political Psychology, Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 187–190. Elsters Studie wirft Tocqueville einen generellen Mangel an analytischer Stringenz vor. Dieser Umstand verlange von seinen Interpreten eine strikte Unterscheidung zwischen den spekulativen und willkürlichen Aussagen in Tocquevilles politischer Gesamttheorie und seinen hochinteressanten sowie wissenschaftlich auch tragfähigen Beobachtungen im Hinblick auf die psychologischen Mechanismen, die das individuelle Handeln steuern. Nach Elster habe sich analog das Erkenntnisinteresse an Tocqueville von den großen Linien seiner Ausführungen auf deren Details zu verlagern – z. B. auf den Tocqueville-Effekt aus dem Buch L’Ancien Régime et la Révolution (1856), der die steigende Wahrscheinlichkeit von Revolutionen in einer Phase der verspäteten Reformen erläutert. Die bei Tocqueville auffindbaren Widersprüche korrespondieren in Elsters Lesart folgerichtig mit den heterogenen Verhaltensmustern, die verschiedene Akteure situations- und charakterbedingt an den Tag legen.

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zu preisen, die er für sich selbst ablehnte. Stattdessen war ihm daran gelegen, möglichst viele davon abzuhalten, seinem individuellen Beispiel zu folgen. 2. DIE CHRISTLICHE GLEICHHEITSIDEE ALS FUNDAMENT MODERNER DEMOKRATIE Widmen wir uns zunächst dem zentralen Aspekt, inwiefern Tocqueville in der christlichen Religion die Ursache der modernen Demokratie vermutet. In der Einleitung zum ersten Band De la démocratie en Amérique (1835) konfrontiert er seine Leser diesbezüglich mit der (gewagten) These, dass die „allmähliche Entwicklung zur Gleichheit der Bedingungen“ ein „Werk der Vorsehung“ sei. 3 In der ganzen christlichen Welt habe sich in den vergangenen Jahrhunderten eine tiefgreifende soziale „Umwälzung“ ereignet, die Bürger und Adlige einander annäherte und die égalité des conditions an die Stelle von erblichen Privilegien rückte. Jener historisch „unwiderstehlich[e]“, „stetigste, älteste und andauerndste Vorgang“ sei einst nicht zufällig von der Kirche ausgelöst worden, die sich als erste Institution schon ab dem 11. Jahrhundert den unteren Klassen geöffnet habe, bevor das Ideal der Gleichheit mit dem Aufstieg der Bourgeoisie, der Juristen und Finanzleute später ebenso in die Regierung und die anderen Bereiche der Gesellschaft eindrang, während der „Wert der Abkunft“ immer tiefer sank.4 Tocqueville beschreibt diesen Prozess als Folge davon, dass die christliche Idee der Gleichheit vor Gott immer mehr zur allgemeinen Triebfeder der sozialen und politischen Entwicklung avancierte; „alle miteinander wurden auf den gleichen Weg geschoben, und alle haben gemeinsam gearbeitet, die einen wider Willen, die andern ohne ihr Wissen, alle als blinde Instrumente in Gottes Hand“.5 Dieser theologisch-politische Einstieg, den Tocqueville für seine Argumentationslinie in der Demokratie in Amerika wählt, wirft einige Fragen auf. Wie wörtlich ist der dort explizit lancierte Providentialismus, die „force irrésistible“ der Demokratie zu nehmen? Und steckt dahinter nun eine theistische Geschichtsauffassung, eine säkularisierte Heilslehre im Sinne Giambattista Vicos oder eher eine Denkfigur, die an die List der Vernunft bei Hegel erinnert? In jedem Fall lässt sich konstatieren, dass Tocqueville in der Gleichheit eine genuin christliche Idee erkennt. Indem das Christentum als erste Religion „alle Menschen vor Gott gleich werden ließ“6, ist es zugleich die ausschlaggebende geistige Quelle der Demokratie. Analog bleibt die demokratische Revolution, die die Einleitung skizziert, auf die „christlichen Völker“ und die „christliche Welt“ beschränkt. Im zweiten Band der Démocratie en Amérique präzisiert Tocqueville diesen Gedanken: Das Christentum wird hier als radikale Zäsur zur bis dato die Antike 3 4 5 6

Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1976, S. 8. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 5−6. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 8. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 14.

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dominierenden Auffassung der natürlichen Ungleichheit porträtiert. Die „tiefsten und umfassendsten Geister Roms und Griechenlands“ seien niemals zur Vorstellung „der Ähnlichkeit der Menschen und des durch Geburt erworbenen gleichen Rechts auf Freiheit für jeden“ durchgedrungen, sondern gingen davon aus, „dass die Sklaverei in der Natur der Dinge liege und immer bestehen werde“. Daher musste erst „Jesus Christus […] auf die Welt kommen, um zu lehren, dass alle Angehörigen des Menschengeschlechts von Natur aus dieselben und einander gleichgestellt sind“.7 Der eigentliche Adressat dieser Botschaft aber ist nicht die Antike, sondern die Moderne. Durch die ideelle Verankerung der Gleichheit im Christentum wird nicht nur die Leistung der philosophischen Aufklärung für die intellektuelle Wegbereitung der demokratischen Gesellschaft empfindlich geschmälert, auch die Angriffe, die materialistische Philosophen wie La Mettrie, Diderot, dʼHolbach oder Hélvetius im 18. Jahrhundert gegen die Religion zugunsten der modernen demokratischen Ideale der Freiheit und Gleichheit unternahmen,8 scheinen dadurch ins Leere zu laufen. Dahinter steckt bei Tocqueville ein primär politisches Ziel. Die Demokratie soll nicht im Namen der Religion bekämpft werden und genauso wenig umgekehrt. In dieser Hinsicht sei nämlich Mitte des 19. Jahrhunderts eine „seltsame Verwirrung“9 festzustellen: „Die religiösen Menschen bekämpfen die Freiheit, und die Freunde der Freiheit greifen die Religion an; edle und großmütige Geister rühmen die Sklaverei, und niedrige und knechtische Seelen preisen die Unabhängigkeit; ehrenhafte und gebildete Bürger sind Feinde allen Fortschritts, während Menschen ohne Vaterlandsliebe und gute Sitten sich als Apostel der Kultur und der Aufklärung gebärden.“10

Jene Orientierungslosigkeit beruht nach Tocqueville auf einer Verwechslung von Demokratie und Revolution. Nachdem sich in Frankreich die Demokratie nach 1789 in Begleitung von Gewaltexzessen und einer rigorosen Attacke auf Glauben und Kirche ihren Weg gebahnt hatte, verbündete sich die Religion „mit den Mächten, die die Demokratie stürzt“,11 das heißt mit den Kräften der Reaktion. Mit seinem Buch will Tocqueville dazu beitragen, dieses „Missverständnis“ aufzulösen, damit die Anhänger der Religion und der Demokratie erkennen, dass sie im Grunde für dieselbe Sache der Gleichheit eintreten. Für diese Einsicht bemüht Tocqueville seinen Begriff des Providentialismus:

Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 499. Für die gegenläufige These, die die Bedeutung der radikal atheistischen Philosophie für die Entwicklung der modernen Demokratie unterstreicht und demzufolge eine Revolution of the Mind annimmt, die den politischen Revolutionen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert vorausging, siehe v. a. Jonathan Israel, A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy, Princeton: Princeton University Press 2010. 9 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 13. 10 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 15. 11 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 14. 7 8

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Oliver Hidalgo „Die Demokratie aufhalten wollen, hieße […] gegen Gott selbst kämpfen, und es [bleibt] den Nationen nichts übrig, als sich mit dem gesellschaftlichen Zustand abzufinden, den die Vorsehung ihnen auferlegt“.12

Tocquevilles theologisch-politisches Vokabular entspringt mithin der Überzeugung, dass der egalitäre état social der Moderne die Qualität einer unhintergehbaren Faktizität und Geltung besitzt.13 Die Gerechtigkeit der Demokratie, die materiellen Wohlstand über die Mehrheit der Bevölkerung verteilt anstatt wie in der Aristokratie nur über eine Minderheit, bildet insofern die argumentative Klammer der zweibändigen Studie.14 Der göttliche Wille wird mit dieser Art der Gerechtigkeit eindeutig assoziiert. Es ist deshalb bis zu einem gewissen Grad nur folgerichtig, Tocquevilles Vorsehungsbegriff mit einer Art transzendierender Gerechtigkeit in Verbindung zu bringen.15 Ob dies jedoch zugleich verlangt, die explizite Referenz auf den christlichen Gott als bloße Rhetorik zu veranschlagen, bleibt unsicher. Manche Interpreten halten es stattdessen für möglich, dass sich in Tocquevilles Vorsehungs-

12 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 9. Eben darin liegt auch die große „Bedeutung“ der USA, „eine demokratische Gesellschaftsordnung und Verfassung“ hervorgebracht zu haben, nicht aber eine „demokratische Revolution“. Das Problem, die Eigenschaften der Demokratie mit derjenigen der Revolution zu vertauschen, konnte daher in der Neuen Welt gar nicht auftreten. Die demokratische Gesellschaft jenseits des Atlantiks habe sich vielmehr auf eine gleichsam natürliche Weise entwickeln können. Siehe Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 490, 32–50. Für Marcel Gauchet liegt genau hier das große Missverständnis Tocquevilles. Indem dieser von den USA auf die „Natur“ der Demokratie schloss und die demokratische Gesellschaft zugleich von ihren revolutionären Entstehungsbedingungen in Frankreich abstrahierte, habe er im Ganzen den konfliktreichen „Wesenskern“ der Demokratie verkannt. Tocquevilles politisches Bemühen, Demokratie und Religion zu versöhnen, habe ihn übersehen lassen, dass die Demokratie tatsächlich das „Grab der Religionen“ darstellt. Marcel Gauchet, „Tocqueville, Amerika und wir. Über die Entstehung der demokratischen Gesellschaften“, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1990, S. 123–206, hier 157. Inwieweit dies angesichts der aktuell viel diskutierten „Rückkehr der Religionen“ bzw. „postsäkularen Gesellschaft“ noch haltbar ist, scheint heute allerdings mehr als zweifelhaft. 13 Der mit Tocqueville befreundete Ökonom Nassau William Senior brachte diese Position des Autors der Demokratie in Amerika mit der folgenden Aussage auf den Punkt, er [Tocqueville] behandle die demokratische Gleichheit „wie einen Souverän, den man fürchten muss, den man vielleicht nicht liebt, dem man aber auf jeden Fall zu gehorchen hat“. Alexis de Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville et Nassau William Senior, in: Œuvres, Papiers et Correspondances d’Alexis de Tocqueville, Bd. VI/2, hg. von Hugh Brogan, A.P. Kerr, Paris: Gallimard 1991, S. 504−505. 14 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 12, 829. 15 Jean-Claude Lamberti, Tocqueville et les deux démocraties, Paris: PUF 1983, S. 57.

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metaphorik der Einfluss Bossuets und seines christlich geprägten Fortschrittsoptimismus widerspiegelt;16 die Mehrheit geht hingegen von einem deistischen Geschichtsverständnis aus.17 Eine Mixtur aus säkularem und christlichen Verständnis bemerkt Goldstein18, ebenso Siedentop19, der die „Gottgewolltheit“ der Demokratie bei Tocqueville an das moralische Gebot der (egalitären) Gerechtigkeit koppelt. Evident ist in jedem Fall, dass sich die Providence bei Tocqueville sowohl gegen ein rein materialistisches Verständnis der Geschichte als auch gegen einen religiösen Determinismus richtet. Schließlich plädiert der politische Autor Tocqueville ja gerade dafür, „die Demokratie [zu] belehren, wenn möglich ihren Glauben [zu] beleben, ihre Sitten zu läutern, ihre Bewegungen [zu] ordnen [sowie] nach und nach ihre Unerfahrenheit durch praktisches Wissen, die blinden Regungen durch die Kenntnis ihrer wahren Vorteile [zu] ersetzen“.20 Weil die sozialen und politischen Sequenzen der christlichen Gleichheitsidee ambivalent sind, kommt es also darauf an, aus dem historischen Axiom der Gleichheit das Beste zu machen sowie das Schlimmste – den demokratischen Despotismus – zu verhindern. Angesichts der gravierenden Gefahren, die Tocqueville für das demokratische Zeitalter befürchtet, ist daher auch die Annahme wenig überzeugend, es bei Tocqueville mit einer Form der säkularen Eschatologie oder einem Chiliasmus zu tun zu haben. Das „religiöse Erschauern“, das den Autor Tocqueville befällt, wenn er die „unaufhaltsame Umwälzung“21 hin zu Gleichheit und Demokratie betrachtet, ändert deswegen erst einmal nichts an der betonten Nüchternheit seiner Analysen zur Frage der Religion. 3. RELIGION ALS MEDIZIN FÜR DIE EGALITÄRE GESELLSCHAFT Über beide Bände der Demokratie in Amerika verstreut sowie in seiner ausgiebigen Korrespondenz kommt Tocqueville immer wieder auf das Thema der Religion und ihrer positiven Wirkungen auf die Demokratie zu sprechen. Seine einschlägigen 16 Z.B. Roger Boesche, „Hedonism und Nihilism. The Predictions of Tocqueville and Nietzsche“, in: Peter Lawler (Hg.), Tocqueville’s Political Science. Classic Essays, New York/London: Garland Publishing 1992, S. 37–58, hier 38. Über seinen Lehrer, den Abbé Lesueur, dürfte Tocqueville mit Bossuets Vorsehungsbegriff tatsächlich in Berührung gekommen sein. Vgl. Jean-Louis Benoît, Tocqueville moraliste, Paris: H. Champion 2004, S. 587−588. 17 Z.B. Richard Herr, Tocqueville and the Old Regime, Princeton: University Press 1962, S. 81; André Jardin, Alexis de Tocqueville. Leben und Werk, Frankfurt/New York: Campus 1991, S. 58; Harvey Mitchell, „Alexis de Tocqueville and the Legacy of the French Revolution“, in: Peter A. Lawler (Hg.), Tocqueville’s Political Science. Classic Essays, New York/London: Garland Publishing 1992, S. 379–404, hier 387–388; Robert Kraynak, „Alexis de Tocqueville on Divine Providence and Historical Progress“, in: Michael Palmer, Thomas Pangle (Hg.), Political Philosophy and the Human Soul. Essays in Memory of Allan Bloom, Lanham: Rowman & Littlefield, S. 203–227, hier 204, 218−219. 18 Doris Goldstein, Trial and Faith. Religion and Politics in Tocqueville’s Thought, New York: Elsevier 1975, S. 122. 19 Larry Siedentop, Tocqueville, Oxford/New York: Oxford University Press 1994, S. 48. 20 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 9. 21 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 8.

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Überlegungen konzentrieren sich auf drei ineinandergreifende Bereiche: die Förderung des sozialen Zusammenhalts, die allgemeine moralische Orientierung der Bürger im demokratischen Gemeinwesen sowie schließlich konkret die Kompensation von problematischen Denkweisen, sozialpsychologischen Instinkten, Gewohnheiten und Sitten, welche das Zusammenleben in der Demokratie ansonsten fast unweigerlich herausbilden würde. Was den lien social in der Demokratie angeht, plädiert Tocqueville zwar einerseits für das Verständnis eines wohlverstandenen Eigennutzes, der – entgegen der Vorstellung der unsichtbaren Hand bei Adam Smith – die Einsicht darüber stärkt, dass der Einzelne seine persönlichen Interessen nur in Kooperation und Abstimmung mit den Interessen anderer bzw. der Belange des gesamten Gemeinwesens aussichtsreich verfolgen kann;22 doch würde das dadurch abrufbare Integrationspotential für ihn keineswegs genügen, um die Herausforderungen in der demokratischen Marktgesellschaft zu meistern. Als aufgeklärter Egoismus wäre die doctrine de l’intérêt bien entendu schlicht überfordert, den Bürgern ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu vermitteln. Was die Gesellschaft zusammenhält, ist für Tocqueville die Religion, die erst ein ausgeprägtes Interesse am politischen Gemeinwesen über den persönlichen Vorteil hinaus evoziert. Ohne eine Form des allgemein geteilten Glaubens wäre ein Staat oder eine Gesellschaft nicht einmal überlebensfähig. Zu Beginn des zweiten Bandes der Demokratie stellt Tocqueville dazu die These auf, dass „keine Gesellschaft ohne gleiche Glaubenslehren gedeihen kann, oder vielmehr, es gibt keine solche“. Damit sich ein „Gesellschaftskörper“ bildet, müssen die Bürger durch „Grundideen zusammengeführt und zusammengehalten werden“, was wiederum nur möglich sei, wenn die Individuen ihre „Meinungen zuweilen aus einer gemeinsamen Quelle schöpf[en] und bereit [sind], eine gewisse Anzahl fertiger Glaubenslehren anzunehmen“.23 Diese Quelle könnte theoretisch zwar auch auf einem säkularen Wertekanon fußen,24 indem Tocqueville aber zusätzlich betont, dass es „fast kein menschliches Wirken“ gibt, „das nicht hervorgeht aus einer sehr allgemeinen Vorstellung, die die Menschen sich von Gott, von seinen Beziehungen zum Menschengeschlecht, vom Wesen der Seele und von ihren Pflichten gegen ihre Nächsten machen“, gilt seine (bevorzugte) Perspektive zweifellos einem religiösen Fundament.25

22 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 610–613. 23 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 492. 24 Für den Versuch, Tocqueville entsprechend zu den Befürwortern einer Zivilreligion im Gefolge Rousseaus zu zählen, siehe insbesondere die Studien von Koritansky und Kessler. Allerdings müssen beide Autoren dazu den wichtigen Einfluss Pascals auf Tocquevilles Glaubens- und Religionsverständnis weitgehend ausblenden. Vgl. John Koritansky, „Civil Religion in Tocqueville’s Democracy in America“, in: Interpretation 17 (1990), S. 389–400, hier 391−392; Sanford Kessler, Tocqueville’s Civil Religion. American Christianity and the Prospects of Freedom, Albany: State University of New York Press 1994, S. 57–59. Demgegenüber Oliver Hidalgo, Unbehagliche Moderne. Tocqueville und die Frage der Religion in der Demokratie, Frankfurt/New York: Campus 2006, S. 298–304. 25 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 504.

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Nur letzterem traut er zu, über die soziale Einheit hinaus den Mitgliedern der Gesellschaft moralische Orientierung zu gewähren. Denn solange die Einhaltung von sozialen Normen lediglich auf einem rationalen Kalkül beruht, könnte das einzelne Individuum in zu vielen Fällen einen Vorteil darin sehen, die soziale Ordnung zu übertreten. Sobald „die Religionen schwächer werden“ und „der göttliche Begriff des Rechts verschwindet“, drohen auch „die Sitten [zu] verderben und mit ihnen der sittliche Begriff des Rechts [zu verblassen]“. Als einziges Mittel „zum Regieren“ bliebe dann noch die „Furcht“,26 mithin nach Montesquieu das Prinzip des Despotismus. Auch deshalb obliegt es nach Tocqueville in erster Linie der Religion, die sittlichen Regeln für ein soziales Miteinander bereitzustellen, weil die Philosophie weder moralische Gewissheiten zu formulieren vermag noch für die Mehrheit der Menschen mit „durchschnittlichen Fähigkeiten“ und einem engen Zeitbudget ein erschwingliches Projekt bedeutet. So gelinge es erst der Religion, „der Menge verständliche und sehr beständige Lösung zu geben“ und den Einzelnen damit aus seiner Gegenwartsbezogenheit herauszureißen.27 Dadurch würden die Bürger zu einer Tugend befähigt, die über das intérêt bien entendu hinausgeht.28 Zwar sollen Sitten und Recht durchaus „an den persönlichen Vorteil“ geheftet werden,29 doch will Tocqueville darüber hinaus, dass der sittliche Einfluss von religiösen Glaubenslehren sowie insbesondere der christlichen Nächstenliebe das Gemeinwohl zur zentralen Verpflichtung des Bürgers deklariert.30 Ohne diese religiöse Grundlage wäre das von Tocqueville monierte bürgerliche Engagement in politischen Vereinen und Assoziationen kaum zu bewerkstelligen.31 Abgesehen von dieser inhaltlichen Ausrichtung gewähre die Religion aber auch eine unerlässliche geistige Entlastung, indem sie für die moralische Praxis die (epistemologische) Notwendigkeit aufhebt, ethische Normen ständig neu zu reflektieren und zu begründen. „Bestimmte Vorstellungen von Gott und vom Wesen des Menschen sind ihrem Dasein im Betrieb ihres Alltags unentbehrlich, und dieser Betrieb hindert sie, sich solche zu erwerben“, schreibt Tocqueville und rehabilitiert damit im Stile Burkes oder de Maistres die Segnungen des religiösen Vorurteils gegenüber den Ansprüchen der rationalen (französischen) Philosophie.32 Gerade der homme moderne, der sich von den traditionellen Bindungen der Feudalgesellschaft emanzipiert hat, bleibe also paradoxerweise auf die vorgefertigten Gewissheiten der Religion angewiesen. Die Religion als soziales Band sowie als Quelle der Moral ist nach Tocqueville letztlich für alle politischen Gemeinwesen unverzichtbar. Ähnlich, wie es später das Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 275. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 504–505. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 614–616. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 275. Alexis de Tocqueville, Correspondance familiale, in: Œuvres, Papiers et Correspondances d’Alexis de Tocqueville, Bd. XIV, hg. von André Jardin u.a., Paris: Gallimard 1998, S. 207. 31 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 604–609. 32 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 505. Vgl. Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, Zürich: Manesse 1987, S. 179−180; und Joseph de Maistre, „Quatrième lettre d’un royaliste savoisien à ses compatriotes“ [1793] in: Joseph de Maistre, Écrits sur la révolution, Paris: PUF 1989, S. 29–69, hier 33. 26 27 28 29 30

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berühmte Böckenförde-Diktum ausdrückt, sieht er deshalb die individuelle Freiheit, die der moderne Staat seinen Bürgern einräumt, an die Voraussetzung einer vorhandenen moralischen Substanz beim Einzelnen sowie des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft gebunden. Es sei, so Tocqueville, grundsätzlich nicht möglich, „das Reich der Freiheit […] ohne das der guten Sitten zu errichten und die guten Sitten […] ohne den Glauben zu festigen“.33 Doch bedürfe die moderne Demokratie der Religion im besonderen Maße, weil nur ein religiös fundiertes Sozialkapital die „gefährliche[n] Triebe“ der Vereinzelung und der Konzentration aller Kräfte auf das persönliche Wohlergehen in der egalitären Gesellschaft entgegenwirken.34 Ohne die Religion seien die Auswüchse des modernen Individualismus – der Frucht der sozialen Aufstiegsmöglichkeit35 – kaum zu bändigen. Von ihren religiösen Überzeugungen erwartet Tocqueville überdies, die Bürger zu lehren, dass es Wichtigeres gibt, als Hedonismus und ein Leben im Genuss. Er bezeichnet es sogar als „Hauptaufgabe der Religionen, […] die allzu heftige und ausschließliche Neigung zum Wohlergehen, die die Menschen im Zeitalter der Gleichheit empfinden, zu läutern, zu regeln und einzuschränken“.36

Durch den Maßstab des Ewigen soll sich bei den Bürgern ein allgemeines Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten einstellen und sie dazu motivieren, sich nicht völlig in ihre private Existenz zurückzuziehen. Seine Ausführungen zur Religion belegen Tocqueville insgesamt als den Vordenker einer Zivilgesellschaft, in der christlich-kommunitaristische Wertbestände den Gemeinschaftsbezug der Bürger sicherstellen. In einer so verstandenen sozialen und politischen Funktion der Religion vermutet er zugleich die Bedingung, dass die demokratische Gesellschaft ihre politische Handlungs- und Gestaltungsmacht und dadurch die Fähigkeit zur Selbstregierung ausbildet und erhält. 37 Das Thema der 33 34 35 36 37

Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 14. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 506. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 585–587. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 510. Dazu Barbara Allen, „Tocqueville’s Analysis of Belief in a Transcendent Order, Enlightened Interest, and Democracy“, in: Journal of Theoretical Politics 8/3 (1996), S. 383–414. Die Parallele zwischen dem lien social, welches die Gläubigen eint, und der Befähigung zum gemeinschaftlichen politischen Handeln, bestätigt sich für Tocqueville empirisch vor allem am Beispiel der Puritaner und Hugenotten, deren Streben nach Gewissensfreiheit und freier Religionsausübung sich schließlich in der institutionellen Organisation republikanischer Selbstregierung niederschlug. Vgl. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 40–50; Alexis de Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville et de Louis de Kergorlay, in: Œuvres, Papiers et Correspondances d’Alexis de Tocqueville, Bd. XIII/2, hg. von André Jardin, Paris: Gallimard 1977, S. 209–213. Anders als später Georg Jellinek oder Ernst Troeltsch ging es ihm in seiner Betonung des Nexus zwischen Religion und politischer Freiheit allerdings weniger um die Identifikation der Religion als prima causa von Demokratie und Menschenrechten (siehe Abschnitt 2), sondern ebenso um die Einsicht, dass das autonome Gemeinwesen umgekehrt der Unterstützung durch die Glaubenskraft bedarf. Vgl. Alexis de Tocqueville, Écrits et discours politiques, in: Œuvres, Papiers et Correspondances d’Alexis de Tocqueville, Bd. III/2, hg. von André Jardin, Paris: Gallimard 1985, S. 506.

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Religion besitzt dabei so große Relevanz für Tocqueville, dass er die beiden von ihm identifizierten gegensätzlichen Alternativen der demokratischen Gesellschaft  Freiheit oder Despotismus  letztlich als abhängige Variable der religiös-politischen Frage verhandelt: Gelingt es der Religion, die Demokratie zu „moralisieren“,38 ihre prekären Leidenschaften zu zähmen und für die soziale Einheit zu sorgen, ist ihr freiheitlicher Charakter zu realisieren, andernfalls ist sie unausweichlich dem Despotismus geweiht. Jene folgenschwere Korrelation zwischen religiösem Glauben und Freiheit auf der einen und Unglauben und Knechtschaft auf der anderen Seite, wird von Tocqueville in das prägnante Aperçu gepackt, dass wer „nicht gläubig“ ist, „hörig werden“ und wer „frei“ ist, „gläubig sein muss“.39 Offensichtlich geht er – ähnlich wie Rousseau – davon aus, dass absolute Freiheit den Menschen überfordere und deshalb nur – kantisch gesprochen – die Art und Weise der Heteronomie – die metaphysische oder politische – zur Disposition stehe. Umso problematischer war für ihn der totale Angriff der Philosophie der Aufklärung auf das historisch-politische Herkommen und die Religion: „Bleibt weder im Religiösen noch im Politischen eine Autorität bestehen, so erschrecken die Menschen bald ob der unbegrenzten Unabhängigkeit. Die ständige Unrast aller Dinge beunruhigt oder ermüdet sie. Da im Bereich des Geistes alles in Bewegung ist, wollen sie, daß zumindest in den materiellen Dingen jegliches gefestigt und dauerhaft sei, und da sie sich ihrem früheren Glauben nicht wieder zuwenden können, schaffen sie sich einen Herrn an.“ 40

Mit anderen Worten, man zwingt die eigene (politisch souveräne) Verfügungsgewalt entweder unter das „heilsame Joch“ der Religion oder man muss überhaupt aufhören, frei zu sein. Der philosophisch genährte religiöse Zweifel – in den Augen Tocquevilles zermürbt er die Seele, „schwächt die Spannkraft des Willens und bereitet die Bürger auf die Knechtschaft vor“.41 Ergo insistiert er vehement darauf, dass die Vernunft des homme moderne nicht zur areligiösen Hybris degenerieren darf, sondern mit Respekt vor der transzendenten Ordnung einhergehen muss, um 38 Vgl. Norbert Campagna, Die Moralisierung der Demokratie. Alexis de Tocqueville und die Bedingungen der Möglichkeit einer liberalen Demokratie, Cuxhaven/Dartford: Junghans 2001. 39 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 506. Den gleichen Zusammenhang illustriert bereits der erste Band des Werkes: „Der Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht“. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 340. 40 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 506. 41 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 505. Im Spätwerk über den Alten Staat kommt Tocqueville – den Untergang der zweiten Republik und den „demokratischen“ Cäsarismus im zweiten Kaiserreich rekapitulierend – nochmals auf die von ihm angenommene Analogie zwischen Atheismus und Despotismus zu sprechen: „Als bereits die Begeisterung für die Freiheit verschwunden war und man sich darin gefügt hatte, die Ruhe um den Preis der Knechtschaft zu erkaufen, verharrte man in der Empörung gegen die religiöse Autorität. Napoleon, der den liberalen Geist der Französischen Revolution zu besiegen vermocht hatte, machte vergebliche Anstrengungen, ihren antichristlichen Geist zu bändigen, und selbst in unseren Tagen haben wir Männer erlebt, die ihre Servilität gegenüber den geringsten Werkzeugen der politischen Gewalt durch ihre Frechheit gegen Gott gutzumachen glaubten, und, während sie alle freieren, edleren und hochherzigeren Grundsätze der Revolution verleugneten, sich noch schmeichelten, ihrem Geist die Treue zu halten, wenn sie ungläubig blieben.“ Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, München: dtv 1978, S. 23.

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einer Unterwerfung des Geistes unter die Ägide des despotischen „Heilsbringers“ im demokratischen Gewand vorzubeugen. Auf das aus seiner Sicht gebotene Verhältnis zwischen Demokratie und Religion spielt Tocqueville deswegen an, wenn er letztere als „erste politische Einrichtung“ der Amerikaner bezeichnet, die den Gebrauch der demokratischen Freiheit wesentlich erleichtere. Als erste und daher ihrem Wesen nach noch vorpolitische Grundlage des Gemeinwesens, die sich „niemals unmittelbar in die Regierung der Gesellschaft einmischt“, begrenzt und ermöglicht die Religion die Freiheit gleichermaßen, indem sie das amerikanische Volk, dem das Gesetz erlaubt „alles zu tun“, daran hindert, „alles auszudenken“ und „alles zu wagen“. Denn wo „das politische Leben dem Meinungsstreit und den menschlichen Versuchen überlassen“ ist, dort ist es für Tocqueville umso notwendiger, dass der religiös-sittliche Bereich „gesichert“ ist und der „menschliche Geist nie ein unbegrenztes Feld“ vorfindet.42 4. DER „NUTZEN“ DER RELIGION UND DIE TRENNUNG VON KIRCHE UND STAAT Tocquevilles Behandlung der religiös-politischen Frage stellt ideengeschichtlich gesehen eine interessante Innovation dar. Zwar erkennt er wie vor ihm Rousseau, dass eine Religion, die wie das Christentum jenseits eines konkreten politischen Gemeinwesens universale Geltung beansprucht, als politischer Faktor irrelevant werden könnte,43 doch vermutet er in dieser scheinbaren Schwäche schlussendlich sogar eine große Stärke. Als vorpolitische, an keinen bürgerlichen Verbund und erst recht an keine politische Macht gebundene allgemeine sittliche Grundlage zeigt sich die (christliche) Religion für Tocqueville am besten imstande, das Handeln der politischen Protagonisten positiv zu prägen. Als „mittelbarer Einfluss“ und ohne Unterstützung eines bestimmten politischen Systems bzw. einer bestimmten Partei sowie ohne den direkten Zugriff auf die politische Gesetzgebung vermögen es religiöse Glaubenshaltungen umso eher, die ihnen zugedachten Aufgaben in der Demokratie – die Gewährleistung des sozialen Zusammenhalts, die Ausbildung von

42 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 338. 43 Als Belege siehe die in Anm. 37 bereits erwähnte Passage aus einem Brief an Louis de Kergorlay (Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. XIII/2, S. 209–213) sowie Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 509–512, Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, S. 16, Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. XIII/2, S. 328 und Alexis de Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville et de Francisque de Corcelle; Correspondance d’Alexis de Tocqueville et de Madame Swetchine, in: Œuvres, Papiers et Correspondances d’Alexis de Tocqueville, Bd. XV/2, hg. von Pierre Gibert, Paris: Gallimard 1983, S. 296. Ein (denkbarer) religiös motivierter Rückzug ins Private bzw. eine ausschließliche Vertröstung auf das Jenseits wäre für Tocqueville freilich nicht die Schuld der christlichen Religion, sondern eine fehlerhafte, zu einseitige Positionierung von Gläubigen und insbesondere von kirchlichen Würdenträgern.

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Gemeinsinn sowie die Läuterung von Individualismus und egoistischem Wohlstandsstreben – zu erfüllen.44 Jene Mittelbarkeit verlangt, dass sich die religiösen Institutionen und Akteure von den direkten Schaltzentralen der politischen Macht fernhalten und die Einrichtungen des Staates und der Kirchen getrennt bleiben.45 „Sucht die Religion ihre Herrschaft nur auf das Unsterblichkeitsverlangen zu gründen, das die Herzen aller Menschen in gleicher Weise bewegt, so kann sie auf Allgemeingeltung rechnen; verbindet sie sich aber mit der Regierung, so muss sie die Grundsätze übernehmen, die nur auf gewisse Völker anwendbar sind. Die Religion, die sich einer politischen Macht anschließt, vermehrt also ihre Macht über einige und verliert die Hoffnung, über alle zu herrschen. […] Geht die Religion ein solches Bündnis ein, so handelt sie […] wie ein Mensch es tun könnte: sie opfert um der Gegenwart willen die Zukunft, und indem sie eine ihr nicht zukommende Macht erlangt, gefährdet sie ihre rechtmäßige Gewalt.“46

Weil sich die Religion nach Tocqueville „an der weltlichen Macht der Regierenden nicht beteiligen kann, ohne etwas vom Hass auf sich zu ziehen, den diese erregen“, sei eine Allianz zwischen Kirche und Staat in der Demokratie tunlichst zu verhindern.47 Ohnehin passe das veränderliche politische Tagesgeschäft nicht zum Anspruch des religiösen Glaubens auf Beständigkeit und dauerhafte moralische Orientierung.48 Der Nutzen der Religion für die moderne Gesellschaft kann demzufolge nur auf Basis der getrennten Einflussbereiche von Klerus und Regierung geschehen.49

44 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 336–340. 45 Zu jener Grundpositionierung Tocquevilles, die Funktionen der Religion für die Demokratie auf Basis der Trennung von Kirche und Staat erreichen zu wollen, siehe auch Ahmet Cavuldak, Gemeinwohl und Seelenheil. Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie, Bielefeld: transcript 2015, S. 354–379. 46 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 343. Der zweite Band ergänzt analog: „Was die Staatsreligionen angeht, so war ich immer der Ansicht, dass sie, wenn sie auch manchmal der politischen Gewalt vorübergehend nützliche Dienste leisten können, der Kirche früher oder später immer zum Verhängnis werden. Ich gehöre auch nicht zu denen, die meinen, zur Hebung des Ansehens der Religion ... sei es gut, den Priestern mittelbar einen politischen Einfluss zu verschaffen .... Ich bin so durchdrungen von den fast unvermeidlichen Gefahren, denen sich die Glaubenslehren aussetzen, wenn ihre Verkünder sich in die Staatsangelegenheiten einmischen ..., dass ich die Priester lieber im Heiligtum einsperren als sie aus ihm herausgehen lassen möchte.“ Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 636. 47 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 334. 48 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 334−335. 49 Diese Auffassung teilte Tocqueville mit Vertretern des damaligen liberalen Katholizismus in Frankreich, Lamennais, Lacordaire oder Montalambert, die den historisch entstandenen Gegensatz zwischen Religion und moderner Gesellschaft ebenfalls durch die Trennung von kirchlichem und staatlichem Bereich auflösen wollten. Dass Tocquevilles Respekt vor den individuellen Rechten indes deutlich weiterging als bei den genannten liberalen Katholiken, betonen z.B. Lucien Jaume, L’individu effacé ou le paradoxe du libéralisme français, Paris: Fayard 1999, S. 193–237, Agnès Antoine, L’impensé de la démocratie. Tocqueville, la citoyenneté et la religion, Paris: Fayard 2003, S. 208–211 und Marinus Richard Ringo Ossewaarde, Tocqueville’s Moral and Political Thought. New Liberalism, London/New York: Routledge 2004, S. 16−17, 39.

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Deutlich werden hier die Unterschiede, die Tocqueville zwischen Frankreich und den USA veranschlagte. Während er auf seiner Reise durch die Vereinigten Staaten beobachtete, wie sich dort auf Basis der institutionellen Trennung zwischen Kirche und Staat Religion und Politik miteinander in Harmonie befanden und die Glaubensüberzeugungen positive Wirkung für die liberale Demokratie entfalteten, waren Religion und Kirche in seinem Heimatland im Zuge der Französischen Revolution zu Feinden der Demokraten und der Befürworter der modernen Gesellschaft geworden.50 An einer Schlüsselstelle seines Spätwerks L’Ancien Régime et la Révolution (1856) versucht Tocqueville, die Tiefe des zeitgenössischen Gegensatzes zwischen Demokratie und (katholischer) Religion in Frankreich zu erfassen: „Ein Hindernis bereitete die Kirche schon durch die Prinzipien ihres Regiments, den Prinzipien, die jene Männer die Revolutionäre AdV in der weltlichen Regierung zur Geltung bringen wollten. Sie stützte sich vornehmlich auf die Tradition, jene äußerten eine große Verachtung gegen alle Institutionen, die sich auf Ehrfurcht vor der Vergangenheit gründen; sie erkannte die höhere Autorität über der Vernunft an, jene appellierten gerade ausschließlich an diese Vernunft; sie gründete sich auf eine Hierarchie, jene strebten nach Ausgleichung aller Rangstufen. Um sich mit ihr verständigen zu können, hätte man beiderseits anerkennen müssen, dass die politische und die religiöse Gesellschaft, da sie wesentlich verschiedener Natur sind, sich nicht nach gleichen Prinzipien ordnen können; davon war man jedoch weit entfernt, und um die Institutionen des Staates angreifen zu können, schien es notwendig zu sein, diejenigen der Kirche, die ihnen als Grundlage und Vorbild dienten, zu vernichten.“ 51

Demzufolge waren es nicht weniger als vier miteinander verwobene Ursachen, die Tocqueville dafür verantwortlich macht, dass Kirche und Religion – als politische Institutionen – ins Fadenkreuz der französischen Revolutionäre gerieten: – Mit seinem gleichermaßen absoluten wie universalen Anspruch befand sich das Christentum in ideologischer Konkurrenz zu den revolutionär-demokratischen Idealen, denen von ihren Befürwortern quasi-religiöse Geltung verschafft werden sollte. – Das tabula rasa Denken von 1789 befand sich notgedrungen im Konflikt mit der Treue der Kirche gegenüber der Tradition und dem geschichtlichen Herkommen. – Die Kirche äußerte umgekehrt große Skepsis gegenüber den Ansprüchen der menschlichen Vernunft und forcierte gegen das Rationalitätspostulat der Aufklärung in dieser Hinsicht häufig scharfe Zensurmaßnahmen. – Die innere hierarchische Verfassung der katholischen Kirche bildete gewissermaßen das Paradigma für ein politisches Gemeinwesen, das dem Gleichheitsideal radikal widersprach.52 50 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 341–348, 490. 51 Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, S. 153. 52 Nur vordergründig widerspricht Tocqueville damit seiner früheren Behauptung, die Französische Revolution habe keineswegs die religiöse Macht vernichten wollen. Vgl. Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, S. 22–25. So lässt sich die Verquickung von Kirche und Ancien Régime schon deswegen nicht als latente Legitimation des irreligiösen Impetus von 1789 interpretieren, weil Tocqueville strikt zwischen dem aus seiner Sicht redundanten Ereignis der Revolution und der unaufhaltsamen Entwicklung zur Demokratie differenziert. In jedem Fall zu

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Vor diesem Hintergrund wird die von Tocqueville angemahnte Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt in ihrer Tragweite erst verständlich, scheint sie doch definitiv geeignet, alle identifizierten Konflikte zu heilen. Sofern die (demokratische) Politik nur das Diesseits und die Religion allein das Jenseits regelt, verblasst erstens die Konkurrenz zwischen ihren universalen Ansprüchen und können beide in ihren Sphären uneingeschränkt herrschen. Durch eine Trennung der Einflussbereiche obsolet wird zudem zweitens das traditionsbewusste Eintreten der Kirche für ein anachronistisches politisches System sowie drittens der Konflikt zwischen Rationalismus und Spiritualismus, Glaube und Vernunft. Viertens und letztens aber durfte Tocqueville mit einiger Berechtigung hoffen, dass die Autorität der Kirche und des Glaubens von den Demokraten respektiert würden, sobald das Ideal der politischen Gleichheit hiervon nicht länger in Frage gestellt wird. Woran es zu seiner Zeit also lediglich mangelte, war die faktische Versöhnung von Kirche und Demokratie, für deren Gelingen er mit seinen Büchern entschlossen eintrat. Tocquevilles Religionsverständnis scheint vordergründig rein funktionalistisch zu sein. Nicht nur, dass er die Unterschiede zwischen den (christlichen) Konfessionen herunterspielte und eine Uneinigkeit zwischen ihnen im Hinblick auf die Demokratie negierte,53 war er offenbar auch bemüht, die Wahrheitsfrage der Religion auszuklammern. Es komme „nicht so sehr darauf an, daß sich alle Bürger zur wahren Religion bekennen, als darauf, daß sie sich überhaupt zu einer Religion bekennen“.54 Überdies sei zu „vermuten, daß eine gewisse Anzahl Amerikaner in ihrem Gottesdienst mehr ihrer Gewohnheit als ihrer Überzeugung folgen“. Insofern wisse man nicht, „ob die Amerikaner an ihre Religion glauben“, sicher sei lediglich, „daß sie sie zur Erhaltung der republikanischen Einrichtungen für nötig halten“.55 Davon abgesehen sei davon auszugehen, dass in den USA, wo ja „der Souverän religiös“

weit ginge es daher, wie Pierre Manent (Tocqueville et la nature de la démocratie, Paris: Fayard 1993, S. 139–149) aufgrund der evidenten Spannung zwischen dem hierarchischen Prinzip der katholischen Kirche und dem egalitaristischen Ideal der Demokratie eine wenigstens indirekte Rechtfertigung der antireligiösen Leidenschaften im Frankreich des 18. Jahrhunderts anzunehmen. Dem tut Tocqueville auch kund, indem er die Irreligiosität nicht zu den allgemeinen Grundlagen des französischen Demokratisierungsprozesses rechnet (die das zweite Buch des Alten Staates beschreibt), sondern zu den besonderen, kontingenten Ursachen, die die Hintergründe der Gewaltsamkeit des Umsturzes untersuchen, von denen das dritte Buch handelt. Der Angriff auf Religion und Kirche bleibt für Tocqueville ein folgenschweres Missverständnis der Revolutionäre, während er – wie weiter unten noch zu erläutern sein wird – dem evidenten Gegensatz zwischen Hierarchie und Gleichheit eine besondere Pointe abgewinnt. 53 Dazu ein Zitat aus dem ersten Band der Demokratie in Amerika: „Es gibt zahllose Sekten in den Vereinigten Staaten. Alle unterscheiden sich in ihrem Gottesdienst, alle aber stimmen in den Pflichten der Menschen füreinander überein. Jede Sekte betet also Gott auf ihre Weise an, doch alle Sekten predigen im Namen Gottes die gleiche Sittenlehre. […] Übrigens finden sich alle Sekten in den Vereinigten Staaten in der großen christlichen Einheit, und die Sittenlehre des Christentums ist überall die gleiche“. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 336. 54 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 336. 55 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 339.

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ist, „die Heuchelei verbreitet sein“ dürfte.56 Was Tocqueville zu dem sarkastischen Kommentar verleitete: „Man folgt der Religion dort wie unsere Väter im Mai ihre Medizin einzunehmen pflegten: wenn es nicht hilft, scheint man zu sagen, dann schadet es zumindest nicht, und ansonsten geziemt es sich, der allgemeinen Regel zu entsprechen“. 57

Der Verdacht, dass sich Tocqueville der Frage der Religion in nüchtern-technischer Distanz nähert, wird erhärtet durch seinen eigenen Glaubenszweifel, den er in seiner Korrespondenz unverhohlen bekennt. Vor allem in einem Brief an Sophie de Swetchine schildert er eindringlich, wie er bereits in sehr jungen Jahren infolge der Beschäftigung mit der französischen Philosophie der Aufklärung seinen katholischen Glauben verlor, ein Verlust, mit dem er sich danach zeit seines Lebens quälen sollte.58 Von daher dürfte er sich zweifelsohne selbst gemeint haben, als er im ersten Band der Demokratie in Amerika äußert: „In den Zeiten, die wir eben beschrieben, gibt man seine Glaubenshaltungen eher aus Kälte denn aus Haß auf; man verwirft sie nicht, sie verlassen uns. Obwohl der Ungläubige nicht mehr an die Wahrheit der Religion glaubt, hält er sie doch weiterhin für nützlich. Er betrachtet die religiösen Haltungen vom menschlichen Gesichtspunkt aus und anerkennt ihre Herrschaft über die Sitten, ihren Einfluß auf die Gesetze. Er begreift, wie sie den Menschen zu einem friedlichen Leben verhelfen und sie sanft auf den Tod vorbereiten. Nachdem er den Glauben verloren, vermißt er ihn, und eines Gutes beraubt, dessen Wert er voll erkennt, scheut er davor zurück, es denen zu rauben, die es noch besitzen.“59

Bei näherem Hinsehen kam jedoch auch Tocqueville an der Wahrheitsfrage der Religion nicht vorbei. So leuchtet ein, dass die Religion den ihr unterstellten Nutzen für die Demokratie gar nicht entfalten könnte, sobald ihre Wahrheit allgemein bezweifelt würde.60 Die nüchterne Betrachtung ihrer Funktionen bleibt damit einerseits das Vorrecht des (soziologisch denkenden) Beobachters, wäre als allgemeine Haltung indes fatal. Auf der anderen Seite aber bildet Tocquevilles zur Schau gestellter Pragmatismus nur die Oberfläche des eigenen Leidens.61 Entsprechend bezweckten die Schriften des an seinem Unglauben ehrlich verzweifelnden Tocqueville,62 dass möglichst wenige seiner Leser seinem (offiziell verschwiegenen) Beispiel folgen mögen bzw. dass sie selbst als Ungläubige die Religion nicht bekämpfen. Die intensive Beschäftigung mit Pascal kommt hier zum Tragen, indem Tocqueville dessen Strategie wiederholt, zwischen Rationalität und Spiritualität Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 336. Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. XIII/1, S. 228. Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. XV/2, S. 315. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 346. Cynthia J. Hinckley, „Tocqueville on Religious Truth and Political Necessity“, in: Polity 23/1 (1990), S. 39–52. 61 Michael Hereth, Tocqueville zur Einführung, Hamburg: Junius 1991, S. 73−74. 62 In einem Brief an Corcelle flehte Tocqueville diesen sogar einmal an: „Wenn sie ein Rezept kennen, um glauben zu können, bei Gott: Bitte geben Sie es mir!“ Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. XV/2, S. 29. In der Démocratie en Amérique assoziiert er daher explizit den „religiösen Zweifel“ mit „Verzweiflung“. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 346. 56 57 58 59 60

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eine komplementäre Beziehung und insofern den Grund der Religiosität als zweitrangig zu propagieren. So habe der Mensch, der sich dem religiösen Glauben zuwendet und die geistige Autorität der Religion anerkennt, „am meisten zu gewinnen und am wenigsten zu verlieren“.63 Wörtlich zitiert er später Pascals Pensées (387), um den Zusammenhang zu bekräftigen: „Zu irren, indem man die christliche Religion für wahr hält, bedeutet kein großes Wagnis; welches Unglück jedoch, sie irrend für falsch zu halten“.64 Tocquevilles Diagnose der Notwendigkeit der Religion für die Demokratie ließ ihn demnach hoffen, dass es eine Vielzahl „bessere“, da religiös gläubige Demokraten geben möge als ihn selbst. Die Popularität der Religion in den USA schien ihm in dieser Hinsicht zu bestätigen, dass seine Hoffnung begründet und in Zukunft auch in Frankreich realisierbar war. Vielleicht etwas überraschend mutet es daher an, wenn Tocqueville seine ebenso komplexe wie umfangreiche Auseinandersetzung mit dem religiösen Thema in den Vereinigten Staaten im ersten Band Demokratie in Amerika mit den Worten beschließt, dass das „Begründen und Befestigen der Demokratie unter den Christen“ „die große politische Frage unserer Zeit“ sei, die Amerikaner diese Frage allerdings „ohne Zweifel nicht gelöst“ hätten, sondern lediglich „denen, die sie lösen wollen, nutzbringende Belehrungen“ liefern.65 Sollte das Vorbild der USA trügerischer sein, als es zunächst den Eindruck macht?66 5. DAS POLITISCH-THEOLOGISCHE PROBLEM DER DEMOKRATIE Tocquevilles Analyse der Frage der Religion weist eine prekäre Sollbruchstelle auf, die er zu Beginn des zweiten Bandes von 1840 thematisiert. Im Zeitalter der Gleichheit ist die quasinatürliche geistige Autorität innerhalb der Gesellschaft nicht mehr die Religion und ihre außerweltliche Orientierung, sondern die öffentliche Meinung. Da die Menschen in der Demokratie nicht länger bereit sind, „den Ort der geistigen Autorität, der sie sich unterwerfen, außerhalb und über der Menschheit zu sehen“ und alle relevanten Fragen stattdessen der Disposition der individuellen Vernunft unterstellen, verliert die Religion zunehmend ihren Nimbus. Dies bringt „demokratische Völker“ dazu, „nicht leicht an die göttlichen Sendungen [zu] glauben“ sowie sich selbst zum „Hauptrichter über ihren Glauben“ aufzuschwingen.67 Gemäß seiner eigenen Theorie besitzen Demokratien daher für Tocqueville eine ebenso „natürliche“ Tendenz zum (sanften) Despotismus, welcher sich nur durch ein hohes Maß an politischer Kunst und Klugheit verhindern lässt.

63 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 505. 64 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 615. Vgl. Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, Stuttgart: Reclam 1997, S. 215. 65 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 360. 66 Zu der These, dass die USA für Tocqueville im Hinblick auf die Religion tatsächlich ein zweischneidiges Vorbild abgaben, siehe Oliver Hidalgo, „America as a Delusive Model – Tocqueville on Religion“, in: Amerikastudien/American Studies 52/4 (2007), S. 561–578. 67 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 493.

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Infolge ihrer Affinität zum Rationalismus und ihrer stetigen Infragestellung von religiösen Dogmen sägt die moderne Demokratie also gleichsam an dem Ast, auf dem sie nach Tocquevilles Dafürhalten sitzt. In den USA bleibt die Religion für ihn daher vor allem deshalb populär, weil sie sich zu einer öffentlichen Meinung transformiert, das heißt sie präsentiert sich dort „weniger als geoffenbarte Lehre denn als Überzeugung der Allgemeinheit“.68 Demnach übt die Religion in den Vereinigten Staaten gleich einer opinion commune einen enormen Konformitätsdruck aus, wodurch es ihr gelingt, dem irreligiösen Geist des Zeitalters zu trotzen. Allerdings sieht Tocqueville diese Entwicklung auch skeptisch. Schließlich droht die Religion in den USA infolgedessen nicht weniger als ihren transzendenten Anspruch einzubüßen, was ihre Herrschaft brüchiger macht, als es ihm lieb sein konnte. Und er registriert genau, wie sich vor diesem Hintergrund die Gewichte zwischen Religion und Demokratie zu Ungunsten ersterer verschieben könnten. In dieser Hinsicht droht für ihn eine „religiöse Sittlichkeit“, die sich mit „gewerblicher Tätigkeit“ und „materiellen Genüssen“ amalgamiert und die „mit fast dem gleichen Eifer nach materiellen und geistigen Freuden, nach dem Himmel im Jenseits und nach dem Wohlergehen ... im Diesseits“ strebt,69 mittel- und langfristig ganz der sozialen Logik der egalitären Demokratie nachzugeben, anstatt ihr wirksam etwas entgegensetzen zu können. Das paradoxe Kapitel 9 im zweiten Buch der Demokratie in Amerika von 1840 gibt hierüber Aufschluss. Tocqueville „widerstrebt es“ zwar, „zu glauben, dass alle Amerikaner, die aus religiösem Geiste Tugend üben, dies nur im Hinblick auf eine Belohnung tun“, die sie im Jenseits dafür zu erhalten hoffen. Doch gibt er zugleich zu, „dass der Eigennutz das Hauptwerkzeug ist, dessen sich die Religionen bedienen, um die Menschen zu führen“.70 Nicht die Religion zeigt sich also in der Lage, den Eigennutz zu kontrollieren, sondern das Diktat des Eigennutzes dominiert in den USA umgekehrt die Religiosität, was nicht zuletzt in eine für Tocqueville höchst befremdliche Kommerzialisierung der Religion durch die dort ansässigen protestantischen Sekten mündet.71 Umso zweifelhafter wird es, dass die

68 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 495. Ähnlich gelagerte Aussagen betreffen etwa die Feststellung, dass sich bei den Angloamerikanern „die einen zu den christlichen Lehrsätzen [bekennen], weil sie daran glauben, die anderen, weil sie fürchten, für Nichtgläubige gehalten zu werden“, oder dass es sich bei der Ansicht, die Religion sei für den Erhalt der republikanischen Einrichtungen „nützlich“, um eine „Meinung […] des ganzen Volkes […] in allen Schichten“ handle. Die USA vor Augen hat Tocqueville zudem, wenn er eine Art Schweigespirale beschreibt: „Da die Ungläubigen ihren Unglauben verbergen und die Gläubigen ihren Glauben bekennen, bildet sich eine öffentliche Meinung zugunsten der Religion“. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 337, 339, 347. Hierzu auch Barbara Allen, „The Spiral of Silence and Institutional Design. Tocqueville’s Analysis of Public Opinion and Democracy“, in: Polity 24 (1991), S. 243–267. 69 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 621, 50. 70 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 614−615. 71 Als wohltuende Abwechslung zum überspannten „Geschäft“ mit religiösen Reliquien bzw. dem Seelenfang in den USA empfindet Tocqueville auf seiner Nordamerikareise deshalb die unaufgeregte Verbindung von Demokratie und Katholizismus in Kanada. Siehe dazu v. a. die

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monierte religiöse Mäßigung des allgemeinen Strebens nach Wohlstand tatsächlich anschlägt.72 Stattdessen mutieren die Idee der Gleichheit und die geistige Autorität der öffentlichen Meinung ihrerseits zu einer „Art von Religion […], deren Prophet die Mehrheit ist“– eine Entwicklung, die Tocquevilles Perspektive auf die eigentlichen Funktionen der Religion in der modernen Gesellschaft unweigerlich konterkarieren muss.73 Es ist also etwas faul mit der „natürlichen“ Harmonie zwischen Demokratie und Religion in den USA. Um diesen Umstand angemessen zu verstehen, müssen wir das, was Tocqueville als „unmittelbare Wirkung der Religion auf die Politik in den Vereinigten Staaten“ interpretiert, von dem bereits beschriebenen „mittelbaren“ Einfluss auf die Sitten unterscheiden.74 In dieser Beziehung konfrontiert er uns mit einer These, die auf einprägsame Weise Carl Schmitts Diktum – „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“75 – vorwegnimmt. Bei Tocqueville liest sich dieser Nexus wie folgt: „Jede Religion wird von einer ihr verwandten politischen Meinung begleitet. Überlässt man den menschlichen Geist seiner Neigung, wird er die politische Gesellschaft und den Gottesstaat übereinstimmend ordnen; er wird, wenn ich so sagen darf, die Erde mit dem Himmel in Einklang zu bringen suchen“.76

Für die Entwicklung der Demokratie in Amerika sei dieser politisch-theologische Aspekt von größter Bedeutung gewesen: „Der größte Teil des englischen Amerika ist von Menschen bevölkert worden, die sich, nach dem Abfall von der Autorität des Papstes, keiner religiösen Hoheit unterworfen hatten; sie brachten also in die neue Welt ein Christentum mit, das ich nicht besser beschreiben kann, als indem ich es demokratisch und republikanisch nenne: das sollte die Errichtung der Republik und der Demokratie im geschäftlichen Bereich außerordentlich begünstigen. Von Anfang an waren Politik und Religion einig, und sie haben seither nicht aufgehört, es zu sein.“ 77

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einschlägigen Passagen aus den Reiseaufzeichnungen. Alexis de Tocqueville, Voyages en Sicile at aux États-Unis, in: Œuvres, Papiers et Correspondances d’Alexis de Tocqueville, Bd. V/1, hg. von Jacob P. Mayer, Paris: Gallimard 1957, S. 75–82. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 337. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 495. Insofern ist die von Pierre Manent aufgeworfene Frage, ob Tocqueville seine Leser dazu ermuntern will, Gleichheit und Demokratie zu einer neuen Art der (Ersatz-)Religion zu erheben, in jedem Fall negativ zu beantworten. Vgl. Manent, Tocqueville et la nature de la démocratie, S. 141. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 336. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin: Duncker & Humblot 1996, S. 43. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 332. Wie verblüffend die Analogien zwischen Tocqueville und Carl Schmitt in dieser Hinsicht sind, verdeutlicht folgendes Zitat aus der Politischen Theologie: „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet.“ Schmitt, Politische Theologie, S. 50–51. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 332.

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Tocqueville greift an dieser Stelle einen Gedanken auf, den er bereits zuvor eingeführt hatte.78 So sei das politische „Schicksal“ der Neuen Welt beschlossen gewesen mit dem „ersten Puritaner, der diese Küsten betrat“.79 In der Doktrin der Pilgrim Fathers erkennt Tocqueville jenes „demokratische und republikanische Christentum“, das in seinem Fokus auf innere Gewissheit und Eigenverantwortlichkeit des Subjekts mit einer Gesellschaftsordnung konform geht, die sich nicht mehr auf außerweltliche Dogmen wie das Gottesgnadentum begründen konnte. Vielmehr fand die puritanische covenant theology ihr politisches Korrelat einsichtig in der (demokratischen) Idee des social contract.80 Auf sittlicher Ebene aber resultierte aus der praxisorientierten Fortentwicklung des Calvinismus durch die Puritaner jene Verweltlichung des religiösen Heilsversprechens, die Tocqueville in der rastlosen Jagd des homme démocratique nach Reichtum und persönlichem Glück wiederentdeckt.81 Wenn er daher insistiert, dass „die angloamerikanische Gesellschaft“ „aus der Religion hervorgegangen“ ist, die in den USA mit den „nationalen Gewohnheiten“ und „vaterländischen Gefühlen“ verschmelze, dann hat er zuallererst die natürliche Demokratie im Sinn, die sich auf der Grundlage des puritanischen Fundaments etablierte.82 Die Schattenseite dieser positiven Ausgangsbedingungen in der Neuen Welt aber ist wie gesehen, dass dem in der modernen Demokratie entfesselten bürgerlichen Individualismus sowie dem dort geltenden absoluten Vorrang des ökonomischen Interesses letztlich das religiöse Gegengewicht abhandenkommen könnte. Demokratie, Materialismus und Gleichheitsliebe mit Hilfe der puritanischen Doktrin zähmen zu wollen, erweist sich dabei förmlich als Quadratur des Kreises. Umso verständlicher wird dadurch, dass Tocqueville an mehreren Stellen seines Werks den (Einheit und Autorität verkörpernden) Katholizismus als aussichtsreichere Alternative ins Spiel bringt, um die Schwächen der Demokratie zu kompensieren. Im zweiten Band der Demokratie reflektiert Tocqueville dazu, dass die Religiosität in der Moderne von zwei gegenläufigen, jedoch eng miteinander verbundenen Bewegungen gekennzeichnet sei: der Konversion zahlreicher Protestanten zum Katholizismus sowie dem Glaubensverlust einer hohen Anzahl von Katholiken. Nach Tocqueville besitzt also der römische Glauben für diejenigen, die nach 78 Siehe auch schon das Kapitel über die „Ausgangslage“ der Angloamerikaner, in dem Tocqueville auf die puritanischen „Gründer Neuenglands“ und ihre Verbindung zwischen dem „Geist der Religion“ und dem „Geist der Freiheit“ zu sprechen kommt. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 49−50. 79 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 323. 80 Ausführlich dazu Barbara Allen, Tocqueville, Covenant, and the Democratic Revolution. Harmonizing Earth with Heaven, Lanham: Lexington 2005. 81 Zu den Anklängen von Max Webers Protestantismusthese, die hier schwerlich zu übersehen sind, siehe z.B. Dorrit Freund, Alexis de Tocqueville und die politische Kultur der Demokratie, Bern/Stuttgart: Haupt 1974, S. 462 und Martin Hecht, Modernität und Bürgerlichkeit. Max Webers Freiheitslehre im Vergleich mit den politischen Ideen von Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau, Berlin: Duncker & Humblot 1998, S. 92. 82 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 490. Zu den Implikationen dieser These siehe Sanford Kessler, „Tocqueville’s Puritans. Christianity and the American Founding“, in: Journal of Politics 54/3 (1992), S. 776–792.

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Gott suchen, besondere Attraktivität. Scheitert der Katholizismus hingegen darin, das Bedürfnis nach Religion zu stillen und den metaphysischen Zweifel zu lösen, ist nach Tocqueville der Atheismus auf Dauer nahezu vorprogrammiert.83 Entgegen der politischen Gegenwart im Frankreich des 19. Jahrhunderts sieht Tocqueville im Katholizismus – zumindest langfristig – kein Hindernis, sondern die größte Chance der liberalen Demokratie. Um ihre friedliche Koexistenz zu fördern, unterstreicht er die Parallelen zwischen katholischen und demokratischen Croyances. „Zu Unrecht“ sähe „man die katholische Religion ... als einen natürlichen Feind der Demokratie“ und ignoriere, dass der Katholizismus – politisch-theologisch gesehen – unter den diversen christlichen Lehren gerade die Konfession sei, die die égalité des conditions am meisten begünstige. „Der Priester steht über den Gläubigen: unter ihm ist alles gleich. ... In bezug auf die Dogmen stehen für den Katholizismus alle Denkenden auf gleicher Stufe; er verpflichtet den Gelehrten wie den Unwissenden, den Mann von Genie wie den gewöhnlichen Menschen auf die Einzelheiten des gleichen Glaubens; er schreibt die gleichen Andachtsübungen dem Reichen und Armen vor, unterwirft den Mächtigen wie den Schwachen der gleichen Strenge. ... Macht der Katholizismus die Gläubigen zum Gehorsam geneigt, so bereitet er sie doch keineswegs auf die Ungleichheit vor.“84

Das Gegenteil sei – wohl im Hinblick auf die soziale Hierarchie – über den Protestantismus zu sagen, „der im allgemeinen die Menschen weniger zur Gleichheit als zur Unabhängigkeit drängt“.85 Dass dieses Plädoyer für den Katholizismus die Bedeutung der Reformation für die Entfaltung der politischen Gleichheit nicht korrekt wiedergibt, ist dabei davon zu abstrahieren, wie gut sich die Idee des Katholizismus in Tocquevilles politisch-theologisches Paradigma einfügt. Denn natürlich liegt das Wesen der katholischen Hierarchie weniger darin, dass der Priester über den Gläubigen steht und unter ihm alle gleich sind. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der katholische Priester als intermediäre Institution zwischen Gott und den Menschen vermittelt, anders als im Protestantismus, wo ein unmittelbares Verhältnis zwischen ihnen angenommen wird. Will man daher Tocqueville an seine eigene politischtheologische These erinnern  „Es gibt zu jeder religiösen Lehre eine politische 83 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 513. Einen ähnlichen Zusammenhang stellt das Spätwerk über den Alten Staat fest. So habe der rationale Geist der Reformation, „der zu Luthers Zeit mehrere Millionen Katholiken auf einmal aus dem Katholizismus austreten ließ“, den christlichen Glauben insgesamt gefährdet. Dem Einzug des protestantischen Nutzenkalküls in den Bereich der Religion, jener „Ketzerei“ gegen die katholische Spiritualität, folgte daher beinahe zwangsläufig der „Unglaube“. Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, S. 151. 84 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 333. An dieser Stelle bestätigt sich neuerlich, dass Tocqueville Religion und Despotismus als alternative Optionen der Demokratie auffasst. Die Gleichheit begünstigt für ihn dabei prinzipiell die Unterwerfung aller unter ein einheitliches Regime. Herrscht aber (mittelbar) der (katholische) Priester bzw. die Religion, mindert dies das Risiko, dass der homme démocratique sein synchrones Bedürfnis nach Gleichheit und (unmittelbarer) Führung durch den politischen Despotismus stillt. Folgerichtig wendet sich Tocqueville hier gegen die Auffassung des Kongressabgeordneten Spencer, der Protestantismus sei für die liberale Demokratie besser geeignet als der Katholizismus. Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. V/1, S. 70−71. 85 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 333.

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Doktrin, die ihr, dem Charakter nach, verbunden ist“86  dann neigt der Katholizismus eindeutig einer Aristokratie im Sinne Montesquieus zu, während der Protestantismus/Puritanismus – wie bereits ausgeführt – der Demokratie entspricht  unabhängig von der sozialen Stellung, in der sich Katholiken und Protestanten jeweils befinden mögen.87 Das Lob des Katholizismus bedeutet damit insgesamt eine zentrale Komponente in Tocquevilles Projekt einer (künstlichen) Aristokratisierung der Demokratie.88 Gemäß Tocquevilles Prämissen impliziert die Attraktivität des Katholizismus also weniger eine Begünstigung der Gleichheit als der Freiheit. Wenn Tocqueville trotzdem den egalitaristischen Gehalt des römischen Glaubens unterstreicht, dann offenbar, weil er auf den gestiegenen Legitimationsbedarf der katholischen Hierarchie im Zeitalter der Gleichheit reagiert. Angesichts dessen erscheint nun auch die Trennung von Kirche und Staat in neuem Licht: Sie wird zum exklusiven Vehikel, wie sich die Hierarchie des Katholizismus in der egalitären Gesellschaft aufrechterhalten lässt. Nur wenn politische und religiöse Ordnung voneinander geschieden sind, kann der Gegensatz zwischen katholisch-aristokratischem und demokratischem Prinzip seine positiven Wirkungen entfalten, anstatt die Integrität des Ganzen zu gefährden. Indem die katholische Kirche darauf verzichtet, die Politik unmittelbar mit ihren Maximen zu lenken, sondern sich ganz auf die mittelbare sittliche Führung des homme démocratique beschränkt, kann sie der modernen Gesellschaft das dringend benötigte Gegengewicht bieten, ohne selbst in Widerspruch zur Demokratie zu geraten.89 Überdies war und ist vom Katholizismus nicht zu erwarten, dass er zu einer opinion commune degeneriert. Im Gegensatz zu den Theokraten des 19. Jahrhunderts wie Joseph de Maistre oder Louis de Bonald, die die direkte politische Macht der katholischen Religion 86 Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. V/1, S. 179. 87 Zum Argument des sozialen Status greift Tocqueville, weil er zugibt, dass „die Katholiken der Vereinigten Staaten durch das Wesen ihres Glaubens nicht heftig zu demokratischen und republikanischen Auffassungen gedrängt“ werden. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 334. Insofern sei es vor allem ihrer Minorität und Armut in den USA zuzuschreiben, wenn sie für das Recht auf politische Gleichheit eintreten. Allerdings ist auch diese Gedankenführung nicht konsistent, indem die als demokratisch identifizierte Verbindung aus sozialer Ungleichheit und politischer Gleichheit dem Vorverständnis des Protestantismus entlehnt ist. Vgl. Cynthia J. Hinckley, „Tocqueville on Religion and Modernity. Making Catholicism Safe for Liberal Democracy“, in: Peter Lawler (Hg.), Tocqueville’s Political Science. Classic Essays, New York/London: Garland Publishing 1992, S. 197– 213, hier 208−209. 88 Zu diesem Konzept Karlfriedrich Herb, Oliver Hidalgo, Alexis de Tocqueville. Campus Einführungen, Frankfurt/New York: Campus 2005, S. 74–80. Zum dahinterstehenden aristokratischen Liberalismusverständnis Tocquevilles siehe Alan S. Kahan, Aristocratic Liberalism. The Social and Political Thought of Jacob Burckhardt, John Stuart Mill, and Alexis de Tocqueville, New York: Transaction 1992 und Hidalgo, Unbehagliche Moderne, 250–261. 89 Im Spätwerk kommt Tocqueville noch einmal vorsichtig auf die positive Gegensätzlichkeit zwischen Katholizismus und Demokratie zu sprechen: „Nichts im Christentum, auch nicht im Katholizismus, ist dem Geist solcher demokratischen Gesellschaften unbedingt entgegen, und manches ist ihm sehr günstig“. Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, S. 24.

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restaurieren wollten, wirbt Tocqueville für ein liberales Grundverständnis der theologisch-politischen Frage. Unabhängig von den politischen Kontroversen und mit der wahren Macht über Geist, Herz und Sitte ausgestattet, soll der Katholizismus die Demokratie in Frankreich nach anfänglichen Widerständen zu einem guten Ende geleiten.90 Hingegen scheint die Crux zwischen Religion und Politik im überwiegend protestantischen Amerika spiegelverkehrt zu verlaufen: Was in Form des Puritanismus als „natürliche“ und unmittelbare politisch-theologische Harmonie zwischen religiösen und demokratischen Überzeugungen begann, droht sukzessive zu einem eklatanten Substanz- und Transzendenzverlust der Religion zu degenerieren.91 Im Unitarismus sieht Tocqueville jene demokratische Metamorphose der Religion bereits vollzogen. Unter Verzicht auf traditionelle Dogmen würden Rationalismus und Materialismus dort in pseudoreligiöser Weise verbrämt.92 Der potentielle Autoritätsverlust der Religion, den Tocqueville hinter den unitaristischen Lehren vermutet, wird von ihm allgemein unter dem Begriff des Pantheismus subsumiert, den er dem Katholizismus als alternativen „Glauben“ der Zukunft gegenüberstellt.93 Beide Varianten passen zur demokratischen Tendenz der Vereinheitlichung, die auch das religiöse Denken vollständig erfasst. Die Idee der Einheit des Menschengeschlechts mündet so in die Vorstellung einer ebensolchen Einheit des Schöpfers, der den gleichgestellten Individuen „das gleiche vorschreibt und ein künftiges Glück um den gleichen Preis gewährt“.94 Während die vom Katholizismus verkörperte Einheit jedoch hierarchisch beziehungsweise vertikal zu denken ist, verläuft die Unität des Pantheismus horizontal.95 Schließlich hebt der Pantheismus für Tocqueville sogar die letzte Hierarchie auf, die der Protestantismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen noch bestehen ließ, nämlich die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, Gott und Mensch. Dass der religiöse Geist in der egalitären Demokratie deswegen eher zum Pantheismus als zum Katholizismus neigt, sollte evident sein, verkörpert doch die Aufhebung der Hierarchie zwischen Schöpfer und Geschöpf den endgültigen Sieg der Gleichheit innerhalb der Sphäre der Religion. Dieser Sieg beginnt sich seit der Reformation abzuzeichnen, als die katholische Hierarchie von der „anarchie religieuse de la Réforme“ attackiert

90 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 345. 91 Zu Recht weist William A. Galston darauf hin, dass die „harmonious collaboration“ von Religion und liberaler Demokratie in der Neuen Welt mit einem „certain lack of religious seriousness and depth“ erkauft ist. William A. Galston, „Tocqueville on Liberalism and Religion”, in: Peter Lawler (Hg.), Tocqueville’s Political Science. Classic Essays, New York/London: Garland Publishing 1992, S. 215–231, hier 224–225. Dass Tocqueville die Degeneration der Religion in den USA de facto in Erwägung zog, beweist das Gespräch mit dem früheren Präsidenten John Quincey Adams. Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. V/1, S. 99. 92 Als Belege siehe Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. XIII/1, S. 230−231 sowie Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. V/1, S. 100−101. 93 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 515−516. Ausführlich dazu Peter A. Lawler, „Democracy and Pantheism“, in: Ken Masugi (Hg.), Interpreting Tocqueville’s Democracy in America, Savage: Rowman & Littlefield 1991, S. 96–120. 94 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 507. 95 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 513−514.

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wurde.96 Insofern wird plausibel, warum Tocqueville Pantheismus mit politischem Despotismus assoziiert, etwa in Form des Saint-Simonismus oder des Sozialismus.97 Als absolute Verneinung der Hierarchie und Antithese zur religiösen Autorität charakterisiert der Pantheismus für ihn nicht einmal mehr eine Religion. In seiner Lehre spiegele sich vielmehr der Triumph der Philosophie, gesäumt vom Verlust des religiösen Instinktes.98 An der Einheit von Philosophie und Politik wäre gleichzeitig die bezweckte Versöhnung von Religion und Politik zerbrochen. Die politisch-theologische Strukturanalogie, die zwischen Demokratie und Protestantismus und mehr noch zwischen Demokratie und Deismus besteht,99 reflektiert demzufolge die Ambivalenz der Moderne. Die „Entzauberung“ der Welt, die sich an der Degeneration der religiösen Hierarchie – Katholizismus, Lutheranismus, Deismus, Pantheismus, Atheismus – ablesen lässt,100 sollte für Tocqueville so früh wie möglich aufgehalten werden, um die Demokratie aus ihrem ureigenen politischtheologischen Dilemma – dem Glaubensverlust ihrer Bürger – zu befreien. Der logische Schritt, der von Luther über Descartes zu Voltaire beziehungsweise zu Hegel101 führt, verlangte für ihn, den Katholizismus als größte und vielleicht sogar 96 Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. V/1, S. 381. 97 Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. III/3. S. 191. Vgl. Tocqueville, Œuvres, Papiers et Correspondances, Bd. XV/2, S.107−108. Wahrscheinlich ist, dass sich Tocqueville diesbezüglich von den Exzerpten über die Moral du Hegel inspirieren ließ, die sein Assistent Gobineau über den Deutschen Idealismus angefertigt hat. Siehe dazu Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville et d’Arthur de Gobineau, in: Œuvres, Papiers et Correspondances d’Alexis de Tocqueville, Bd. IX, hg. von Maurice Degros, Paris: Gallimard, S. 327−328. Den Geist des Pantheismus vermutet Tocqueville auch in der Dichtung Lamartines oder den historiens fatalistes Thiers und Michelet. Vgl. Françoise Mélonio, „La religion selon Tocqueville. Ordre moral ou esprit de liberté?“, in: Études 360/1 (1984), S. 73–88, hier 81. 98 Vgl. Antoine, L’impensé de la démocratie, S. 273–280. 99 Vgl. Kraynak, „Alexis de Tocqueville on Divine Providence and Historical Progress“, S. 222– 224. 100 Jene Verfallsgeschichte der europäischen Religion, die Tocquevilles politisch-theologischem Denken zugrunde liegt, wird bereits von Françoise Mélonio (Tocqueville et les Français, Paris: Aubier 1993, S. 95) bemerkt, es unterbleibt jedoch ein Hinweis, dass es sich dabei in erster Linie um einen kontinuierlichen Verfall der Hierarchie handelt, ausgehend vom römischen Katholizismus über das unmittelbare Verhältnis zwischen Mensch und Schöpfer im Lutheranismus, die Relativierung des Schöpfers im Deismus sowie die Einheit von Schöpfer und Geschöpf im Pantheismus bis hin zur Leugnung Gottes im Atheismus. Die Hierarchie als Ankerpunkt der Tocquevilleschen Politischen Theologie findet bislang auch in weiteren Untersuchungen zum Katholizismus-Pantheismus-Komplex kaum Erwähnung. Vgl. etwa Josuah Mitchell, „The Trajectories of Religious Renewal in America. Tocquevillian Thoughts“, in: R. Bruce Douglass, Joshua Mitchell (Hg.), A Nation Under God. Essays on the Fate of Religion in American Public Life, Lanham: Rowman & Littlefield 2000, S. 26–32; sowie Peter A. Lawler, „Tocqueville on Pantheism, Materialism, and Catholicism”, in: Peter A. Lawler (Hg.), Democracy and its Friendly Critics. Tocqueville and Political Life Today, Lanham: Lexington 2004, S. 31–48. 101 Zur Pathogenese der abendländischen Philosophie, der Tocqueville von Platon bis zum hegelianischen Pantheismus nachspürt, siehe Peter A. Lawler, The Restless Mind. Alexis de Tocqueville on the Origin and Perpetuation of Human Liberty, Lanham: Rowman & Littlefield 1993, S. 98f.

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einzige Chance der liberalen Demokratie zu begreifen.102 Vor allem in den römischen Glauben setzt Tocqueville sein Vertrauen, das notwendige Disziplinierungspotential für die moderne Gesellschaft zu generieren. Germaine de Staëls und Benjamin Constants Vision eines protestantischen Frankreichs, das Religion und Aufklärung miteinander vereint, konnte er unter diesen Vorzeichen nicht länger als adäquate Lösung der question religieuse ansehen. Das Verdikt de Maistres, das den anarchischen Impetus des Protestantismus noch für das revolutionäre Desaster von 1789 verantwortlich machen will  bis zu einem gewissen Grad wirkt es bis zu Tocqueville fort.103 6. FAZIT Tocquevilles Affinität zum Katholizismus ist selbstverständlich auch auf biographische Einflüsse zurückzuführen. Gleichwohl enthüllt sich in der Verbindung von Freiheit und Hierarchie im Rahmen seines (politisch-theologischen) Denkens104 am Ende jene Konsistenz und Kohärenz, die seine komplexen Ausführungen zur Frage der Religion auszeichnen. Im Hinblick auf die eingangs erwähnte These Jon Elsters ist deshalb zu erwidern, dass allein der Katholizismus für Tocqueville den maximalen Kompensationseffekt zur Demokratie ausübt. Dies führt ihn zugleich zu der nur auf den ersten Blick paradoxen Aussage, dass „die Katholiken der Vereinigten Staaten gleichzeitig die fügsamsten Gläubigen und die unabhängigsten Bürger“ seien.105 Demgegenüber wird die Verfallsgeschichte des Glaubens in Richtung Protestantismus und Pantheismus von einem gefährlichen spill-over Effekt begleitet, sobald der egalitäre Instinkt der Demokratie die Autorität der Religion erschüttert bzw. letztere zu einer öffentlichen Meinung degradiert. Die Polysémie, die bezüglich der Behandlung des theologisch-politischen Themas bei Tocqueville ins Auge springt,106 wäre daher um den sehr grundsätzlichen Gegensatz zwischen katholischer Hierarchie und protestantischer Nivellierung zu ergänzen. Die konfessionellen Aufspaltungen innerhalb der christlichen Religion – von Tocqueville neben der Gleichgültigkeit gegenüber Religion und Politik als größte Gefahr für die Demokratie bewertet – bilden dabei zu guter Letzt nichts anderes als 102 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 489. 103 Eine ,positive‘ Bestätigung erfuhren De Maistres Réflexions sur le protestantisme dans ses rapports avec la souveraineté (1798) von Guizots Histoire de la civilisation en Europe (Leçon 12) bzw. ebenso von Charles de Villers’ Essais sur l’esprit et l’influence de la Réformation de Luther (1804), die jeweils eine direkte Verbindungslinie von der Reformation zum Sturm auf die Bastille ziehen. 104 Siehe Hidalgo, Unbehagliche Moderne, S. 113–133. Wie sehr im Übrigen Nietzsches Denken der Hierarchie demjenigen Tocquevilles ähnelt, hat Brigitte Krulic (Nietzsche penseur de la hiérarchie. Pour une lecture ,tocquevillienne‘ de Nietzsche, Paris: L’Harmattan 2002) untersucht. Am Thema der Religion (und der Politik) scheiden sich gleichwohl ihre Geister. Vgl. Hidalgo Unbehagliche Moderne, S. 414–425. 105 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 334. 106 Vgl. Jean-Michel Heimonet, Tocqueville et le devenir de la démocratie. La perversion de l’idéal, Paris: L’Harmattan 1999, S. 279–281.

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das Kardinalproblem von Tocquevilles Politischer Theorie ab: die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit.107 Zu Unrecht wurde ihm hier vorgeworfen, der Frage ausgewichen zu sein, wie die christliche Religion sowohl dem demokratischen Gleichheitsideal vorausgehen als auch für Freiheit und menschliche Größe verantwortlich sein könne. Wie das Christentum die Demokratie zu „kurieren“ vermag, wenn es doch gleichzeitig ihre Ursache ist108  in der gegensätzlichen Lesart von Katholizismus und Protestantismus findet sich hierfür eine intersubjektiv überzeugende Antwort.

107 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 346. 108 Dieses Problem unterstreicht Ralph Hancock, „The Uses and Hazards of Christianity in Tocqueville’s Attempt to Save Democratic Souls“, in: Ken Masugi (Hg.), Interpreting Tocqueville’s Democracy in America“, Savage: Rowman & Littlefield 1991, S. 348–393, hier 376.

4. PRAKTISCH-POLITISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN MIT TOCQUEVILLES WERK

BÜRGERBETEILIGUNG UND DER STRAFVOLLZUGSSTAAT Eine kritische Rekonstruktion von Tocquevilles Betrachtungen über Berufsrichter und Jurys in einer Demokratie1 Albert W. Dzur Darum werden uns die Tugenden weder von Natur noch gegen die Natur zuteil, sondern wir haben die natürliche Anlage, sie in uns aufzunehmen, zur Wirklichkeit aber wird diese Anlage durch Gewöhnung [...]. Das bestätigen auch die Vorgänge im Staatsleben. Die Gesetzgeber machen die Bürger durch Gewöhnung tugendhaft; das ist wenigstens die Absicht jedes Gesetzgebers; wer es aber nicht recht angeht, der verfehlt seinen Zweck, und darauf läuft der ganze Unterschied von guter und schlechter Staatsverfassung hinaus. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Kapitel 16

1. EINLEITUNG: DEMOKRATIE UND DER STRAFVOLLZUG Es ist eine Zeit, in der so viel hinsichtlich dessen, was die Bürger interessieren könnte, wenn sie auf das Leiden anderer eingestellt wären, unsichtbar bleibt, während das Triviale allzu offensichtlich ist. Dies schreibend sitzt einer von hundert amerikanischen Erwachsenen im Gefängnis und viel mehr sind wirtschaftlich abhängig von einem Strafvollzug, der durch krasse rassische Disparitäten gekennzeichnet ist.2 Alexis de Tocqueville, einer der frühesten und weitblickendsten Beobachter der amerikanischen Strafpolitik, war sich der Gefahren und Grausamkeiten der Demokratie, ihrer Willkür, Inkompetenz und Anfälligkeit gegenüber dem Mehrheitsdruck, ihrem Potenzial für Apathie und persönlichem Engagement bewusst. Aber auch ein so vorausschauender Analyst wie er konnte sich nicht vorstellten, dass eine demokratische Republik sowohl die Welt in die Haft führen als auch ein öffentliches Schweigen angesichts dieser Tatsache fördern würde. In seinen dunkelsten Ahnungen sah er eine Nation von Schafen, nicht von Verurteilten. Innerhalb der Strafjustizkreise ist der Übeltäter dieses aufgeblähten Strafvollzugs das, was man vermessen „populistische Strafbarkeit“ genannt hat. Dies ist ein gesellschaftspolitischer Komplex, der viele moderne westliche Staaten beeinträchtigt, 1

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Eine frühe Version dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel: „Moderating the Penal State through Citizen Participation: A Neo-Tocquevillian Perspective on Court Professionals and Juries in a Democracy”, in: Brian Danoff, L. Joseph Hebert, Jr. (Hg.), Alexis de Tocqueville and the Art of Democratic Statesmanship, Lanham: Lexington Books 2011, S. 179−203. Siehe: Loic Wacquant, „Class, Race and Hyperincarceration in Revanchist America”, in: Daedalus (Summer 2010), S. 74−90.

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aber mit besonderer Virulenz die anglo-amerikanische Welt: Großbritannien, Neuseeland, Australien und die USA. Er schließt den Vertrauensverlust in Beamte aller Regierungsbereiche sowie in Politikexperten und Fachleute ein, die sie beraten, die Erosion der traditionellen Barrieren zwischen Wahlpolitik und Strafjustiz und die Verringerung der Kontrollen bei schweren strafrechtlichen Ahndungen. Diese Entwicklung wird durch den kommerziellen Druck und eine Politik des Infotainments in den Massenmedien verschärft, die zwar unabhängige Analysen und rationale Debatten einfordern, gleichzeitig aber auch schnelle, schockierende und brutale Geschichten und Bilder verkaufen.3 Als Reaktion darauf haben prominente Gelehrte ein Programm der entpolitisierten Demokratie befürwortet, das bestimmte Themen dem Einfluss der Öffentlichkeit entzieht − wie zum Beispiel die Strafregelungen für gewalttätige oder sexuelle Straftäter bzw. welche Straftaten überhaupt mit Gefängnis bestraft werden sollen. Einige haben Experten-Gremien nach dem Federal Reserve Board befürwortet, um solche „heißen“ Fragen vor einer reizbaren Öffentlichkeit abzuschirmen.4 Dieser Ansatz birgt jedoch konzeptionelle, praktische und normative Probleme. Erstens verfälscht er die öffentliche Meinung als Strafinstanz, auch wenn Gesinnungen gegenüber Straftätern schwierig sind. Verfahrensrechtliche Studien zeigen, dass hohe Strafen nicht ein natürlicher Fehler der Öffentlichkeit sind; wenn diese mit dem Kontext von Straftaten und detaillierten Beschreibungen von Tätern konfrontiert wird, sind die öffentlichen Einstellungen eher moderater als ohne dieses Wissen.5 Praktisch ist es zudem unvorstellbar, dass die Strafjustiz unter zeitgenössischen politischen Bedingungen ausschließlich auf Fachleute übertragen werden könnte, ist doch das Misstrauen gegenüber Experten groß. Brücken anstatt weiterer Barrieren zwischen der heutigen technokratischen Welt der offiziellen Politik und der breiten Öffentlichkeit sind das, was benötigt wird. Schließlich ist die normative Implikation des Arguments, dass die amerikanische Öffentlichkeit ohne strenge Elite-Führung nicht in der Lage sei, sich selbst zu regulieren. Sie sei unfähig, sich der Strafjustiz in einer angemessenen Weise zu nähern. Die USA bedürfen,

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Siehe John Pratt, Penal Populism, London: Routledge 2007. Siehe Nicola Lacey, The Prisoners’ Dilemma: Political Economy and Punishment in Contemporary Democracies, Cambridge: Cambridge University Press 2008; Franklin E. Zimring, „Populism, Democratic Government, and the Decline of Expert Authority: Some Reflections on ‘Three Strikes’ in California”, in: Pacific Law Journal 28 (1996), S. 243–56; Franklin E. Zimring, Gordon Hawkins, Sam Kamin, Punishment and Democracy: Three Strikes and You’re Out in California, New York: Oxford University Press 2001. Philip Pettit, „Is Criminal Justice Politically Feasible?”, in: Buffalo Criminal Law Review 5 (2002), S. 427–450; Philip Pettit, „Depoliticizing Democracy”, in: Ratio Juris 17 (2004), S. 52−65. Siehe John Doble, „Attitudes to Punishment in the US-Punitive and Liberal Opinions”, in: Julian V. Roberts, Mike Hough (Hg.), Changing Attitudes to Punishment, Portland, OR: Willan Publishing 2002, S. 148–162; Julian V. Roberts, Loretta J. Stalans, David Indermaur, Mike Hough, Penal Populism and Public Opinion: Lessons from Five Counties, Oxford: Oxford University Press 2003.

Bürgerbeteiligung und der Strafvollzugsstaat

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um in einer überlegten, konsequenten und menschlichen Weise zu bestrafen, einen Wächterstaat und keine Demokratie.6 Im Zusammenhang mit diesen Bedenken über den Strafvollzug, die Rolle der öffentlichen Meinung und die Beteiligung und Mitwirkung der Bürger, betrachtet dieses Kapitel kritisch einen anderen Ansatz, der von Tocqueville vorgeschlagen und später von John Stuart Mill ausgearbeitet wurde, eine Art Staatskunst im juristischer Bereich, die durch Beispiel lehrt, aber keine direkte Kontrolle über einen gesonderten Bereich von Strafjustizproblemen gewährt, bei denen das Volk unfähig ist, mit Sorgfalt zu handeln. Während beide Denker die Begrenzung der Öffentlichkeit in Betracht zogen, so sehr, dass sie manchmal auch „seltsame“ und „aristokratische“ Liberale genannt wurden, glaubten sie dennoch, dass die Bürgerbeteiligung innerhalb der Strafjustiz für eine moderatere Politik erforderlich sei.7 Das Herzstück von Tocquevilles Argument ist das, was ich das „Bürgerschulhaus“ nenne − eine Darstellung der Geschworenengerichte, welche den Wert einer gewissen öffentlichen Partizipation betont, eine, die den Bürgern mehr Macht gibt, ihnen einen institutionellen Platz für ihr Auftreten bietet und ihren Entscheidungen Bedeutung verleiht, aber gleichzeitig auch das öffentliche Vertrauen in die Mehrheitsentscheidungen stärkt und weniger sichere und dehnbare Meinungen ungeschminkt aufzeigt. Ich werde anfangen, zwei Dimensionen von Tocquevilles Darstellung des Bürgerschulhauses zu unterscheiden, eine Mikroebene, die sich auf den positiven Einfluss des Jurydienstes auf die Bürger (seine sozialisierenden Wirkungen) bezieht und eine Makroebene, die die positiven Effekte der Jury auf das rechtliche und politische System (ihre Legitimationseffekte) aufzeigt. Dann werde ich auf die Verdienste aufmerksam machen und die Fehler benennen, die in der Art und Weise kenntlich werden, wie Tocqueville und Mill die beiden Dimensionen des Arguments artikulierten und miteinander verknüpften. Schließlich werde ich vorschlagen, dass eine rekonstruierte Form des Bürgerschulhaus-Arguments zeigt, wie mit mehr, nicht mit weniger bürgerlicher Teilnahme am Strafjustizprozess der Strafvollzug korrigiert werden könnte. Diese Schlussfolgerungen stellen eine klare, aber schwierige Reihe von Herausforderungen an reformorientierte Richter dar.

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Für eine kritische Darstellung der sozialwissenschaftlichen Forschung hinter der Strafpopulismus-Debatte, siehe: Elizabeth R. Turner, „Mass Incarceration and Public Opinion on Crime and Justice: From Democratic Theory to Method and Reality”, in: Albert W. Dzur, Ian Loader, Richard Sparks (Hg.), Democratic Theory and Mass Incarceration, New York: Oxford University Press 2016, Kap. 10. Eine Reihe von Werken betont Tocquevilles „merkwürdigen“ und „aristokratischen“ Liberalismus, der sowohl eine sehr partizipative als auch eine beschränkte Demokratie umfasse. Siehe unter anderem: Roger Boesche, The Strange Liberalism of Alexis de Tocqueville, Ithaca: Cornell University Press 1987 und Alan S. Kahan, Aristocratic Liberalism: The Social and Political Thought of Jacob Burckhardt, John Stuart Mill, and Alexis de Tocqueville, Oxford: Oxford University Press 1992. Sheldon Wolin schreibt, dass „Tocqueville die amerikanische Demokratie erträglicher machen konnte, indem er sie als Demokratie mit vergleichbaren aristokratischen Institutionen darstellte“. Tocqueville Between Two Worlds, Princeton: Princeton University Press 2001, S. 479. Vgl. Seymour Drescher, „Who Needs Ancienneté? Tocqueville on Aristocracy and Modernity”, in: History of Political Thought 24 (2003), S. 624−646, hier 627.

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2. TOCQUEVILLE’S JURY Das Gegenteil eines Trojanischen Pferdes: gezügelte Mehrheitsmacht in einem Juror Tocqueville interpretierte die amerikanische Jury als eine wichtige, kritische, stabilisierende und moderierende Institution, deren Wirksamkeit darauf zurückzuführen ist, dass sie zum einen Ausdruck der Macht der Mehrheit ist und andererseits die Geschworenen sozialisiert. In der Theorie der verkörperten Volksherrschaft ist die Jury in der Praxis ein verkehrtes Trojanisches Pferd, das normale Bürger in die quasi-aristokratischen Korridore der professionellen Rechtsprechung führt, nur um sie gemäßigt und mit dem größten Respekt für die Gesetze in die demokratische Öffentlichkeit zurückzuschicken. Im amerikanischen Gerichtssaal, auch wenn das Volk formell durch die Jury Einfluss nimmt, werden deren Mitglieder doch selbst informell von Kräften beeinflusst, welche ihre „Gewohnheiten des Geistes und sogar die Seelen“8 prägen. Durch das Teilen und Ausüben der Rechtsprechung sind die Juroren verpflichtet, für die Dauer eines Prozesses ein wenig wie ein Richter zu denken, und das hat enorme kognitive, moralische und politische Folgen. Kognitiv lernen die Juroren, „einige der Gewohnheiten des Geistes des Richters“ zu schätzen, wie die „unwillkürliche Vorliebe für Ordnung“, ein Gefallen an Formen und eine Art instinktiver Liebe für Regelmäßigkeit, die Vorliebe für Traditionen gegenüber Innovation sowie eine Anerkennung jener Grenzen, die beim Urteil durch bestimmte Tatsachen und Regeln gesetzt werden.9 Das sind keine vorübergehenden Bewusstseinsänderungen, vielmehr tragen die Juroren diese Art des Denkens mit aus dem Gerichtsgebäude. „Der menschliche Geist gewöhnt sich an die Formen der Jury, und die Jury selbst wird sozusagen mit der Idee der Gerechtigkeit identifiziert.“10 Tocqueville bemerkt eine allgegenwärtige Kultur des Legalismus − in der Art zum Beispiel, wie amerikanische Kinder Konflikte lösen, etwa die probehalber durchgeführten Geschworenengerichte von Insassen in einer Jugendhaftanstalt.11 Er lobt den Einsatz der Jury in Zivilprozessen, weil er die Chancen für Laien in der Rechtsanwendung maximiert und das Spektrum der Themen und Interessen, die sie berücksichtigen müssen, erweitert.

Alexis de Tocqueville, Democracy in America, hg. v. Olivier Zunz, übers. v. Arthur Goldhammer, New York: The Library of America, 2004, S. 318. 9 Tocqueville, Democracy in America, 303. Siehe auch Jack Lively’s discussion of juror education in The Social and Political Thought of Alexis de Tocqueville, Oxford: Clarendon Press 1965, S. 181. 10 Tocqueville, Democracy in America, S. 315. 11 Der Gesprächspartner Francis Calley Gray berichtete, dass amerikanische Kinder „sich niemals ihren Herren zuwenden“, sondern „alles untereinander entscheiden, und es niemanden mit fünfzehn Jahren gibt, der nicht hundertmal die Funktionen des Jurors ausgeübt hat“. Tocqueville, Journey to America, hg. v. J. P. Mayer, übers. v. George Lawrence, New Haven: Yale University Press 1960, S. 57. 8

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In moralischer Hinsicht hilft der Dienst in der Jury dabei, die „Verkrustungen“ des Individualismus abzustreifen, indem er Menschen dazu zwingt, sich um Dinge zu kümmern, die andere beeinflussen, und sie gerecht und fair zu behandeln.12 Wie in Aristoteles‘ Anschauung des wahren Bürgers, der herrscht und beherrscht wird, erkennen die Geschworenen durch die Macht des Urteils, dass sie Teil ihrer Regierung sind, nicht nur Bitt- und Antragsteller, sondern vernünftige Machthaber, die schwierige Entscheidungen treffen müssen, die sie nicht vorsätzlich abgeben oder fieberhaft bzw. standardmäßig ausführen lassen. Mit dem Richteramt vertraut und in das düstere Urteil über andere einbezogen, werden die Bürger dazu gezwungen, einen allgemeineren Standpunkt einzunehmen. Sie erkennen, dass die Gerechtigkeit des spezifischen Gerichtssaals, die sie verkörpern und der sie sich in Zukunft vielleicht selber unterziehen müssen, etwas ist, für das sie nicht nur theoretisch sondern auch praktisch verantwortlich sind. Gewohnheiten des Herzens, wie Engagement für Gerechtigkeit, Unparteilichkeit und ein robustes soziales Verantwortungsbewusstsein, werden durch diese intensiven öffentlichen und persönlichen Erfahrungen in der Jury geformt.13 Politisch betrachtet, und vor allem anderen, ist das Geschworenengericht eine bürgerschaftliche Schulung. „Die Jury ist eine „freie Schule, und eine, die immer offen ist, zu der jeder Juror etwas über seine Rechte lernt und wo er täglich mit den am besten ausgebildeten, aufgeklärtesten Mitgliedern der Oberschicht in Kontakt kommt und praktische Unterweisung im Recht erhält, und zwar in einer Form, die seiner Intelligenz zugänglich ist.“ 14 „Ich denke, dass der Hauptgrund für die praktische Intelligenz und das politische Wohlgefühl der Amerikaner ihre langjährige Erfahrung mit Jurys in Zivilsachen ist.“15

Durchgehend vergleicht Tocqueville in Über die Demokratie in Amerika die Leidenschaft für allgemeine Ideen, die er unter den französischen Bürgern findet, mit dem Bewusstsein der Amerikaner für Institutionen und Regeln sowie ihren Realismus gegenüber der Regierung.16 Diese praktische Intelligenz wird gebildet durch die Teilnahme an „freien Institutionen“, wie den Stadtversammlungen und der Jury, und durchdringt sie auch bei schwierigen und unpopulären Entscheidungen. Ein Juror zu sein, ist auch eine politische Erziehung in einem anderen Sinne, es ist eine Lektion, die Leitung von jemandem zu akzeptieren, der mehr über das Ge12 Tocqueville, Democracy in America, S. 316. 13 Robert P. Kraynak schreibt, dass Tocqueville zeigt, wie „demokratische Bürger, die Freiheit mit einem Gefühl der moralischen Verantwortung ausüben, eine Vornehmheit des Charakters erreichen, die es mit Glanz der Tugend aufnehmen kann“. „Tocqueville’s Constitutionalism”, in: American Political Science Review 81 (1987), S. 1175−1195, hier 1193. 14 Tocqueville, Democracy in America, S. 316. 15 Tocqueville, Democracy in America, S. 316. 16 Tocqueville vergleicht in Über die Demokratie in Amerika französische und amerikanische Vorstellungen. Tocqueville, Democracy in America, S. 351. Siehe James Ceaser zur Diskussion über Legalismus als traditionelles Gegengewicht zum Rationalismus: „Alexis de Tocqueville on Political Science, Political Culture, and the Role of the Intellectual”, in: American Political Science Review 79 (1985), S. 656−672, hier 665.

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setz weiß, eine Lektion in der legitimen Einflussnahme des Richters: „Die Jury vermittelt in allen Klassen eine Achtung vor richterlichen Entscheidungen und der Idee des Gesetzes.“17 Es ist eine Sache, Richter zu haben; es ist eine andere, mit ihnen in Fragen zusammenzuarbeiten, über die man etwas weiß, wie im Strafrecht, oder wie im Zivilrecht, über die man nur wenig weiß. Was die Juroren in ihren Urteilen über Zivilsachen lernen, indem sie sich auf die Richter verlassen und ihnen entgegenkommen müssen, ist, dass sie, obwohl sie mit dem Richteramt vertraut sind, ihre Rolle nicht ohne die Führung von Berufsrichtern ausführen können.18 Das Schulhaus, der Gerichtssaal, der von Anwälten geprägt wird, die „aus ihrer Arbeit bestimmte Gewohnheiten der Ordnung, einen Geschmack für Formen und eine Art instinktiver Liebe für Regelmäßigkeit in den Vorstellungen“ ziehen, hegen „eine große Abneigung gegen das Tun der Menge und die unvorsichtigen Leidenschaften der Demokratie“.19 Obwohl Amerikaner im Zeitalter von Jackson versuchten, die Reichen und natürlichen Aristokraten aus den politischen Ämtern rauszuhalten, wählten sie Anwälte, die „dem Volk durch Interesse und Geburt und der Aristokratie durch Gewohnheit und Geschmack“ angehörten. Die Rechtsanwälte sind für Tocqueville funktional quasi aristokratisch, weil sie den „demokratischen Instinkten“, „der Liebe für Neues“, den großen Ambitionen, der „Verachtung der Regeln“ und dem „Eifer“ der Laien widerstehen und entgegengesetzte Vorstellungen verkörpern: „aristokratische Neigungen“, „abergläubische Achtung vor dem, was alt ist“, Anerkennung von „Formalitäten“ und „standardisierte Verfahren“.20 Das Geschworenengericht bietet die Möglichkeit für amerikanische Anwälte, als „aristokratisches Element“ mit „den natürlichen Elementen der Demokratie“ eine „nützliche und dauerhafte Verbindung einzugehen“.21 Volksnahe Richter: Das Geschworenengericht als Mechanismus gegen Misstrauen Obwohl Tocquevilles Kernfrage darin besteht, wieviel der Juror vom Richter lernen kann, und letztlich wieviel Demokratien von Judikative und Rechtsstaatlichkeit zu profitieren vermögen, die der direkten öffentlichen Kontrolle entzogen sind, sieht 17 Tocqueville, Democracy in America, S. 316. 18 Dies ist mit den Worten von Bruce James Smith in der Tat eine „eigenartige Pädagogik“. Die Jury ist eine „freie Institution“, die das Individuum aus der Privatsphäre in die Öffentlichkeit führt, aber auch etwas weniger als eine „ausgereifte“ politische Freiheit zu fördern scheint. Siehe „A Liberal of a New Kind”, in: Ken Masugi (Hg.): Interpreting Tocqueville’s Democracy in America, Savage, MD: Rowman and Littlefield 1991, S. 63−95, hier 92−94. 19 Tocqueville, Democracy in America, S. 303. 20 Tocqueville, Democracy in America, S. 309. 21 Tocqueville, Democracy in America, S. 306. Sein Bericht über die Anwaltschaft trifft in einem seltenen Punkt mit den Beobachtungen eines anderen leidenschaftlichen Ethnographen des 19. Jahrhunderts, James Bryce, überein, der dem Rechtsberuf eine „leitende und bändigende Macht bescheinigt hat, die die Grobheit und Hast der Demokratie durch ihre Rechtstreue und den Rechtsvergleich abmildert,“ wenngleich ihre soziale Kraft in den 1880er Jahren weniger stark war als es ein halbes Jahrhundert zuvor. James Bryce, American Commonwealth [1888], Indianapolis: Liberty Fund 1995, Bd. 1, S. 490.

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er doch, dass diese Unabhängigkeit eine Ehrerbietung für die professionelle Rechtsprechung erlaubt, die das Volk zulässt und die nicht allein von Fachleuten beansprucht wird. Mit anderen Worten, das Geschworenengericht ist ein Ort, wo eine politische Legitimation stattfindet und wo staatliche Behörden dringend benötigte Unterstützung von außen gewinnen. Die Jury erinnert daran, dass die Macht des Urteils in einer umfassenden Bürgerbeteiligung liegt, und nicht durch außergewöhnliche Umstände begründet wird, in einem Prozess, der stetig und konkret Tag für Tag in gewöhnlichen Gerichtssälen und nicht nur auf dem Papier stattfindet. Die Macht der Justizbehörden, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen − Ausbildung, Erfahrung, Wissen und Verfahren − muss geteilt werden und sich gegenüber der Jury jederzeit beweisen. Ohne die Jury würde der Demos gegenüber den Richtern argwöhnisch sein und danach streben, ihre Macht zu zügeln. Nach einem Gespräch mit Charles Pelham Curtis, einem Notar aus Boston, schreibt Tocqueville in seinem Reise-Notizbuch, dass die Jury „dem Gericht eine große äußere Kraft“ gibt; „sie verhindert, dass das Richteramt ein Körper außerhalb des Volkes“ wird und „gibt ihm immense und fast immer nützlich Macht in politischen Fragen“.22 Er begreift die Macht des richterlichen Urteils als abhängig von der Laienbeteiligung im Gerichtssaal und des graduellen Abbaus von Misstrauen, die dort stattfindet. Nur durch die Arbeit mit dem Richter in Zivilprozessen und durch die Einsicht, dass er ein „uneigennütziger Schiedsrichter“ ist, beginnen die Bürger, „Vertrauen in ihn zu haben und mit Respekt darauf zu hören, was er sagt“, ein Vertrauen, das sich auch auf Strafverfahren erstreckt, wo der Laienjuror normalerweise seine eigene Meinung über die des Richters stellt und daher den richterlichen Rat ignoriert.23 Diese vertrauensvolle und in der Tat aufrichtige Zusammenarbeit in zivilen und strafrechtlichen Prozessen verhindert, dass die Richter als amtliche Persönlichkeiten mit Interessen angesehen werden, die von denen der Öffentlichkeit getrennt sind, auch wenn sich ihre Interessen tatsächlich unterscheiden, und es führt Laien dazu, dass sie die Übertragung von Macht an die Justiz, die unter anderen Bedingungen unvorstellbar wäre, akzeptieren. „So stärkt die Jury“, schreibt Tocqueville, „obwohl es scheint, dass sie die Rechte der Richter vermindert, tatsächlich ihr Macht, und nirgends sind Richter machtvoller als in Ländern, in denen das Volk ihre Privilegien teilt.“24

Ohne die Jury hätte das Volk keine ausreichende Kenntnis von der Komplexität der Rechtsprechung und würde, unfähig, sein Unvermögen zu erkennen, Gerechtigkeit 22 Tocqueville, Journey to America, S. 297. 23 Tocqueville hielt das Strafrecht für angemessener, um öffentliche Sittlichkeit in Gesetz zu verwandeln, weshalb er schrieb, dass die Öffentlichkeit die Rolle des Richters in Strafsachen in der Regel als bloß „passives Instrument der sozialen Macht“ betrachtet. Tocqueville, Democracy in America, S. 318. Seiner Ansicht nach sind Bürger erst nach weitreichenden Erfahrungen in Zivilprozessen, in denen sie durch den Richter geleitet werden, auch damit einverstanden, in Strafverfahren angeleitet zu werden. 24 Tocqueville, Democracy in America, S. 318.

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zu verwirklichen, in seiner falschen Einstellung verharren und den Richtern misstrauen. Tocqueville skizziert in groben Umrissen ein Bild der Jury als Kreislauf, der es Berufsrichtern ermöglicht, Sprache, Ideen und Erfahrung mit Laien zu teilen, so das Misstrauen abgebaut wird, das entsteht, wenn fachspezifische und amtliche Bereiche „außerhalb“ des Volkes angesiedelt sind. Als Ort einer bedeutenden Zusammenarbeit von Fachleuten und Laien macht die Jury die komplizierten Normen, Regeln und Verfahren, die durch die Praxis am besten verstanden werden, transparent. Die Juroren erhalten genug Vertrauen in ihr demokratisches Selbst, um den Berufsrichtern eine angemessene Vollmacht zu gewähren, und jenen zu vertrauen und Respekt zu zollen, die das nötige Wissen haben. Diese wichtigen vertrauensbildenden und mäßigenden Auswirkungen auf das politische System, die Makroebene der amerikanischen Demokratie, sind von den Sozialisierungswirkungen abhängig, die Tocqueville auf der Mikroebene des Gerichtssaals ausmacht. Die Jury prägt die Haltung der Bürger und ihr Verantwortungsbewusstsein füreinander, sie baut ihr anfängliches Misstrauen gegenüber den Behörden ab und lenkt die Macht der Mehrheit auf eine produktive und letztlich die Behörden stärkende Weise. Während es gilt, bürgerliche Kapazitäten zu entwickeln − eine Reihe von Einstellungen und praktischen Fähigkeiten, die für das kollektive Handeln nützlich sind − besteht die gleichermaßen wichtige Aufgabe der Jury darin, das Volk zu lehren, diese Fähigkeiten zu nutzen, nicht um selbst als Richter aufzutreten, sondern die Arbeit professioneller Richter zu schätzen. Das zivile Schulhaus der Jury ähnelt also nicht ganz den normalen Klassenzimmern, wo die natürlichen Fähigkeiten des Schülers zum Lesen und Schreiben, in Aristoteles Worten, „vervollkommnet“ werden, sondern es ist stattdessen eine Einrichtung, wo die Schüler davon überzeugt werden, dass sie niemals etwas von sich aus schreiben, sondern nur lesen und das schätzen lernen können, was von anderen geschrieben wurde.25 Dies ist ganz klar eine hierarchische Form der Professionalisierung: Gewaltenteilung tritt im Gericht in einer Weise auf, die die institutionelle Überlegenheit der Experten, der gut Ausgebildeten und der Rechtsspezialisten stärkt und nicht bestreitet.26 Doch obwohl ein Kernstück von Tocquevilles und, wie zu zeigen sein wird, von Mills Bürgerschulhausmodell der Gerichtssaals ist, ist dieses hierarchische Model weder in der Art notwendig noch so heilsam, wie sie glaubten.

25 Im Gegensatz dazu, und eher im Einklang mit den amerikanischen Theorien der Jury des 18. Jahrhunderts, die ich weiter unten diskutiere, siehe zur Darstellung der abweichenden Stimmen der Juroren: Sonali Chakravarti, „Mature Enough to Disobey: Jurors, Women, and Radical Enfranchisement in Tocqueville’s Democracy in America”, in: Law, Culture and the Humanities 4 (2016). 26 Über die komplexe Natur − zum Teil technokratisch und zum Teil demokratisch − in Tocquevilles Sicht auf berufliche Macht, siehe Albert W. Dzur, Democratic Professionalism: Citizen Participation and the Reconstruction of Professional Ethics, Identity, and Practice, University Park: Penn State University Press 2008, Kap. 4.

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3. MILLS JURY Lehrbetrieb für die Regierungsarbeit: Aktives Lernen in Mills Jury Die Jury hilft zu verstehen, was Mill als die beiden grundlegenden Ziele der gut funktionierenden Regierungen betrachtet: „die guten Eigenschaften der Regierten zu erhöhen“ und „die Vorteile der Qualitäten zu nutzen, die zu einer Zeit existieren, um sie für die richtigen Ziele einzusetzen“.27 Die Anwendung des Geschworenengerichts durch die Regierung fördert eine indirekte bürgerliche Erziehung unter den Regierten, die wiederum die „Qualität der Maschinerie“ der Regierung selbst verbessert.28 Während er sich in der Nähe von Tocquevilles Ausführungen befindet, die ihn beeinflusst haben, entwickelt Mill seine eigene Version der bürgerlichen Sozialisation auf der Mikroebene und eine wechselseitige Legitimation auf der Makroebene, die ein zusätzliches Licht auf beide wirft. Perfektionistisch und liberal in seinem Denken wie Tocqueville, hielt Mill die Regierung verantwortlich für die aktive Förderung einer universellen bürgerlichen Bildung, die gute Eigenschaften wie „Fleiß, Integrität, Gerechtigkeit, Klugheit“ sowie „Schaffenskraft, Unternehmergeist und Mut“ unterstützt, aber er betonte auch, dass sie diese Ziele indirekt verfolgen muss.29 Sensibel hinsichtlich der vielen Risiken des Regierungshandelns für die Bürger, unter anderem die Machthäufung und der Machtmissbrauch durch Dienstleister sowie die Gefahren für die Selbstentfaltung der Dienstleistungsempfänger, wollte Mill, dass die Bürger die Bildungsmöglichkeiten, die die Regierung den Bürgern zur Verfügung stellen konnte, selbst ergreifen und anwenden. Diese waren dazu bestimmt, die Fähigkeit der Bürger, sich für ihre eigenen Interessen so einzusetzen, dass sie neue kognitive Fähigkeiten und moralische Sichtweisen ausbilden konnten, zu aktivieren und zu stärken.30 Der Jury-Dienst war für Mill ein mächtiges Beispiel für ein solches indirektes bürgerliches Bildungsprogramm, das, wie Tocqueville argumentierte, die Bürger über die Staatstätigkeit informieren und ihre intellektuellen Fähigkeiten erweitern konnte. So wie Geschworenengerichte im alten Athen dafür gesorgt hatten, die intellektuellen Fähigkeiten der Durchschnittsbürger anschaulich zu erhöhen, schreibt Mill, so machen die britischen Jurys „aus den Engländern der unteren Mittelschicht [...] in Bezug auf ihren geistigen Horizont und die Ausbildung ihrer Fähigkeiten ganz andre Menschen als jene, die Zeit ihres Lebens nur den Federkiel führen oder am Ladentisch stehen.“31

27 John Stuart Mill, Considerations on Representative Government, in: The Collected Works of John Stuart Mill Vol. XIX, hg. v. John M. Robson, Toronto: University of Toronto Press 1977, S. 371−578 , hier 390−391. 28 Mill, Representative Government, S. 391. 29 Mill, Representative Government, S. 385. Vgl. auch Mills Kritik an staatlichen Intervention in On Liberty, ein Werk, dass er zwei Jahre nach Representative Government veröffentlicht. 30 Mill, Representative Government, S. 404. 31 Mill, Representative Government, S. 411−412.

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Ohne bürgerliche Erziehungsmöglichkeiten wie dem Dienst in der Jury sind die Bürger gegenüber staatlichen Ämtern unkundiger und weniger fähig, politisch zu handeln, als sie es sein sollten, um ihre individuellen und kollektiven Interessen zu schützen und weiterzuentwickeln. Tocqueville wiedergebend, und in der Tat fast paraphrasierend, beschreibt Mill Jurys als eine der wenigen Möglichkeiten, bei der eine Person die öffentliche Moral kennenlernen kann, indem sie sie selbst praktiziert: „Er ist genötigt, die Interessen anderer gegeneinander abzuwägen, im Falle widerstreitender Ansprüche muss er sich von anderen Gesichtspunkten als denen seiner persönlichen Neigungen leiten lassen und ständig Prinzipien und Grundsätze anwenden, die sich aus der Idee des Gemeinwohls herleiten. In der Regel findet er sich in seiner Arbeit Menschen zugestellt, die mit diesen Ideen und dieser Art des Wirkens vertrauter sind als er und die bemüht sein werden, seinen Verstand durch Einsicht und sein Gefühl durch neue Anregungen stärker an das Gemeinwohl zu binden. Man vermittelt ihm das Gefühl, Teil der Öffentlichkeit zu sein; öffentliches und eigenes Wohl werden identisch. Wo diese Erziehung durch den Gemeinsinn nicht existiert, fehlt auch weitestgehend das Bewusstsein dafür, dass Privatpersonen, die keine besonders hervorragende gesellschaftliche Stellung einnehmen, über den Gehorsam gegen die Gesetze und über die Unterwerfung unter die Regierung hinaus noch irgendwelche Pflichten der Gesellschaft gegenüber haben könnten.“32

Ohne sich an solchen Schulen zu beteiligen, ist ein Mensch nicht in der Lage, ein öffentliches Gut zu antizipieren, das sich von seinem eigenen Interesse unterscheidet, unfähig, verschiedene, aber gleichermaßen gültige Ansprüche anderer zu erkennen, und, was vielleicht am wichtigsten ist, nicht fähig, andere als Mitwirkende und Verbündete in einem kollektiven Projekt zu betrachten, das in seinen Erfolgsaussichten vom kooperativen Handeln abhängt, und bei einer Hobbesschen Wahrnehmung der Sozialwelt, die nur aus Konkurrenten und Rivalen besteht, ins Stocken gerät.33 Der Jury-Dienst ist eine Befreiung von der Knechtschaft der privaten Gewohnheiten und Routinen, welche die Chancen auf ein besseres individuelles und kollektives Leben zunichtemacht. Da viele heute die Jury nur als ein Symbol und nicht als einen bedeutenden konkreten Ausdruck unserer verfassungsmäßigen Verpflichtungen zur Volksherrschaft betrachten, ist es wichtig zu bemerken, dass sowohl Tocqueville als auch Mill in der Jury gerade diesen Ausdruck sehen, weil sie tatsächlich ein bürgerliches Schulhaus ist, in dem eine große Anzahl von Bürgern eingeschrieben ist. 34 Es hat eine kognitive und normative Wirkung, nicht nur, weil die Bürger darüber in der 32 Mill, Representative Government, S. 412. 33 Mill, Representative Government, S. 412. Vgl. Mill, „M. de Tocqueville on Democracy in America”, in: The Edinburgh Review LXXII (Oktober 1840), S. 1−47, hier 25 (abgedruckt in: Mill, Collected Works, Bd. 18, S. 153−204). 34 Richard Abel nennt die Jury ein Symbol der Demokratie, die „daran erinnert, dass ein wesentliches Element in der Legitimität unseres Rechtssystems auf direkter Demokratie beruht.“ „Redirecting Social Studies of Law”, in: Law and Society Review 14 (1980), S. 805−829, hier 812. Doch der Begriff „symbolisch“ weckt die Frage, welche wertvolle Arbeit die Jury ausrichtet, und ob 1 oder 1000 Geschworenengerichte pro Woche im ganzen Land beziehungsweise Verfahrensbeschränkungen für Jury-Beratungen die Macht der Jury einschränken, die beständig wirkt und sich daran misst, was sie tun könnte und was sie repräsentiert, nicht was sie ist.

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Zeitung lesen oder als Zuschauer im Gerichtssaal sitzen, sondern weil sie hier Verantwortung übernehmen. Als Juror wird der Bürger die moralische und politische Haltung der anderen „aufrufen“, „lenken“ und „bewusst“ machen, und zwar in einer Art und Weise, die nicht außerhalb des Gerichts wiederholt werden kann, wo keine konkrete Macht über die anderen ausgeübt wird. Mill macht auf einen Punkt aufmerksam, den Tocqueville indirekt, wenn auch nicht weniger beharrlich deutlich macht, dass nämlich die Zivilgesellschaft die moralischen und praktischen Dimensionen der Regierung nicht in irgendeiner Weise, sondern nur durch Handeln, durch konkrete Teilnahme an den Entscheidungsfindungen kennenlernen kann: „Bücher und Diskurse allein sind keine Bildung“, „das Leben ist ein Problem, kein Theorem“ und „Handeln kann nur im Handeln gelernt werden“.35 Das ist so, weil man erstens nur, indem man etwas wiederholt, als Gewohnheit, die Fähigkeit gewinnt, die zu dem Wunsch nach weitergehender Praxis führt und sogar Anwendungen auf einem größeren Komplexitätsniveau ermöglicht. Doch die beiden Denker waren sich zweitens auch der grundlegenden, emotional, ökonomisch und familiär gebundenen, Ansprüche an die Zeit, Aufmerksamkeit und Wünsche der Menschen bewusst. Sogar die am besten geschriebenen Bücher und Essays waren Bildungsformen, die jedoch wenig hilfreich hinsichtlich der persönlichen und professionellen Gewohnheiten des Herzens waren. Die öffentliche Verantwortung auf das Volk zu verlagern, damit es in der Praxis lernen, Kompetenzen und Vertrauen gewinnen konnte, wenn auch nur für ein paar Tage im Jahr, war die einzige Möglichkeit, es dazu zu bringen, weiteres Lernen und mehr Verantwortlichkeiten anzustreben. Obwohl manchmal herablassend formuliert, als ob die bürgerliche Erziehung eine Frage der richtigen Ausrichtung der Massen sei, so dass sie nicht die Volksregierung zerstören, beschäftigt sich ein durchgehender Strang in Mills Werk mit den notwendigen Eigenschaften, die die Menschen davor schützen, „durch andere verdorben“ zu werden, nämlich diejenigen, die es ihnen erlauben, „selbstschützend“ und „autonom“ zu handeln, „je nach dem, was sie selbst tun können, entweder einzeln oder im Kollektiv, anstatt das andere für sie agieren“.36 Die „Rechte und Interessen“ des Individuums „sind nur dann sicher, wenn sie selbst in der Lage und durch Gewohnheit bereit sind, für diese einzutreten.“37 So besteht Mill darauf, dass wenn die Massen an der Regierung teilnehmen, mehr tun müssen als nur alle ein oder zwei Jahre zu wählen; ansonsten sind gewöhnliche Wähler anfällig für die Manipulation durch die politischen Eliten.38

35 36 37 38

Mill, „Tocqueville on Democracy in America”, S. 24−25. Mill, Representative Government, S. 404. Mill, Representative Government, S. 404. Mill, „Tocqueville on Democracy in America”, S. 22−23.

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Gerechtigkeit Coram Populo Die Jury ist auch noch auf eine andere Art politisch wertvoll, nämlich dadurch, dass sie die Justiz transparenter und rechenschaftspflichtiger macht. Für Mill wird auch das am besten gestaltete Strafjustizsystem, das die richtigen Regeln und Verfahren vereint, daran scheitern, der Gerechtigkeit zu dienen, wenn es nicht ständig zur Kontrolle angehalten wird und wenn es nicht im Rahmen einer gesellschaftlichen Kultur dem prüfenden Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, die den Prozess und die Entscheidungen, die in ihm getroffen werden, verfolgt. Das eingerichtete Justizsystem und der Wert der Justizverwaltung liegen in der zusammengesetzten Ratio jener Männer, die in den Tribunalen zusammensitzen, und der öffentlichen Meinung, die sie beeinflusst oder kontrolliert. Der ganze „Unterschied zwischen einem guten und schlechten Justizsystem liegt einzig und allein in den Vorkehrungen, die getroffen werden, damit jeder moralische und intellektuelle Wert, der im Gemeinwesen vorhanden sein mag, seinen Niederschlag in der Justiz findet und einen gebührenden Einfluss auf deren Resultate nimmt.“39

Die Wahl der Richter, verfahrensrechtliche Klarheit, offene Gerichtssäle, öffentliche Verbreitung von Gerichtsentscheidungen, Pressefreiheit, um diese zu diskutieren und zu kritisieren, sind entscheidend für das ordnungsgemäße Funktionieren der Justiz, und Mill besteht darauf, dass ein unentbehrlicher Bestandteil darin die gebildete, aktive und aufmerksame Öffentlichkeit ist. Durch die Aktivierung, Kultivierung und Fokussierung der bürgerlichen Intelligenz auf die Laien richtet die Jury die Aufmerksamkeit des Volkes auf eine komplexe und ansonsten abgeschiedene Domäne. Diese Aufmerksamkeit gegenüber dem Justizsystem ist erstens erforderlich, um elitäres Fehlverhalten zu überprüfen. Mill hat kein Vertrauen, dass professionelle Selbstüberwachung oder regelmäßige interne Überprüfung und Bewertungsverfahren ausreichend zur angemessenen Überprüfung schlechter Leistung sind. Zweitens stärkt die Jury das Bewusstsein dafür, wie wichtig öffentliche Pflichten, zum Beispiel als Zeuge auszusagen, für die Rechtsstaatlichkeit sind, und dass das Justizsystem nicht funktionieren würde, wenn nicht normale Bürger darin ihren Beitrag leisten. Es ist wichtig zu bemerken, dass Mill, wie Tocqueville auch, das Geschworenensystem nicht als Entscheidungsgremium unterstützt, sondern nur als indirektes Organ, das der Öffentlichkeit hilft, ihre Kontrollfunktion auszuüben. Devlin nutzt die Phrase iustitia coram populo, oder Gerechtigkeit vor dem Volk, um einen ähnlichen Anspruch für die Rolle der Jury geltend zu machen: „Sie sehen, wie der Angeklagte behandelt wird, hören die polizeiliche Beweislage, registrieren die gefällten Urteile und erkennen sie still an oder missbilligen sie. Diese Gerechtigkeit coram populo ist eine gute Sache für die Anwälte wie auch für die Öffentlichkeit. Es erinnert sie daran, dass sie sich nicht mit einem professionellen Ritual beschäftigen, sondern dabei helfen, dem gewöhnlichen Menschen die Art von Gerechtigkeit zu vermitteln, die er verstehen kann. Von

39 Mill, Representative Government, S. 391.

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dem, was die Jurymitglieder denken und sagen, wenn sie nach Hause kommen, hängt das Ansehen des Gesetzes in hohem Maße ab.“40

Keiner dieser Denker behauptet, dass die Gerechtigkeit durch das Volk das ist, was ein gutes Rechtssystem ausmacht. Die Leute können die Leistung von Juristen überprüfen, bezeugen, schweigend beurteilen. Sie sind keine bloßen Zuschauer, sie moderieren und steuern indirekt die Machthaber, aber sie haben keine direkte Macht. 4. FESTIGEN DER LOSEN VERBINDUNGEN ZWISCHEN JURY, MÜNDLICHER VERHANDLUNG UND ÖFFENTLICHER SPHÄRE Die von Tocqueville entwickelte und von Mill erläuterte Deutung der Jury als bürgerliche Schule deutet darauf hin, dass es sich um einen transformativen Raum handelt, der Einzelpersonen in Bürger verwandeln und die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber der Justiz mäßigen kann. Ein solcher Raum hat heute, wie ich glaube, einen ungeheuren Wert als Korrektiv für den aufgeblähten und rassistischen Strafvollzug, aber um seinen Wert zu verstehen, müssen wir die unkritischen, technokratischen Ansichten beider Theoretiker verwerfen und die Mikro- und Makroebene des Schulhausarguments in einer anderen Weise zusammenbringen. Ich werde mich auf das „Wie“ und „Was“ sowohl auf der Mikro- als auch Makroebene konzentrieren: Wie werden die Bürger im Gerichtssaal erzogen, wie wird aus ihrem Wissen anschließend etwas Sinnvolles im erweiterten Bereich der Politik, welche Art von Wissen ist das und was ist sein Wirkungsspektrum im weiteren Bereich? Die Antworten auf diese Fragen bieten einen neuen Weg, demokratische Führung und eine Reform in der Strafjustiz zu konzipieren, aber bevor ich sie anspreche, möchte ich sehr kurz eine Warum-Frage aufnehmen, die eine langjährige theoretische Skepsis gegenüber dem Schulhausargument verdeutlicht: Warum genau müssen sich Einzelpersonen in robusten Bürgerbeteiligungsformen wie dem JuryDienst engagieren? Einige Kritiker halten fest, dass das partizipative demokratische Denken voraussetzt, dass die Bürgerinnen und Bürger tief in ihrem Inneren teilnehmen wollen, selbst wenn ihre derzeitigen unreflektierten Präferenzen auf mehr oberflächliche, unpolitische Aktivitäten hindeuten, sie aber, sobald sie teilnehmen, den Fehler ihrer früheren Einstellungen erkennen. Gegen dieses Argument spricht, dass es grundsätzliche und atavistische Annahmen über die Struktur des menschlichen Wohlergehens und über die Priorität der politischen Aktivität zum Erreichen eines guten Lebens macht. Als Reaktion darauf müssen wir erkennen, dass, obwohl sowohl Tocqueville als auch Mill zu glauben scheinen, dass die Teilnahme an wichtigen öffentlichen Aktivitäten ein weiteres Engagement hervorbringen wird, dies nicht die primäre normative Stoßrichtung ihrer Argumente ist. Vielmehr ist es so, dass sich ohne die tragende Bürgerbeteiligung das gesamte politische System unter demokratischen Bedingungen verschlechtern wird: es wäre weniger stabil, kurzfristiger in seinen Entscheidungen, übermütiger in seiner Führung. Die Teilnahme an 40 Patrick Devlin, Trial by Jury, London: Methuen 1966, S. 24−25.

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der Jury ist das, was Joel Feinberg als „Pflichtrecht“ bezeichnet hat, etwas, das, wie die elementare Bildung in nichtpolitischen Angelegenheiten, die Individuen sowohl in ihren eigenen Zielen als auch in ihren grundlegenden kollektiven Zwecken stärkt, um tatsächlich öffentliche Missstände zu verhindern.41 Öffentliche Aufklärung und Aufmerksamkeit im Gerichtsbereich sind nicht fakultativ, wenn diese Qualitäten den Unterschied zwischen einem guten und schlechten Rechtssystem ausmachen; denn es ist letztendlich ein System, wo Entscheidungen für Angeklagte und Kläger schwerwiegende Bedeutung und weitreichende Konsequenzen haben. Eine verwandte Kritik deutet darauf hin, dass die Jury als bürgerliches Schulhaus keine vormoderne Zuschreibung ist, sondern ein dystopischer Alptraum, der die Bürger realen weltlichen Erfahrungen aussetzt, welche die einzelnen Teilnehmer durch hierarchische, patriarchalische und nicht egalitäre Tendenzen in der politischen Welt eher verderben als positiv beeinflussen werden. Gelehrte wie Lynn Sanders haben darauf hingewiesen, wie die Beiträge von Frauen und Mitgliedern marginalisierter sozialer Gruppen in Jury-Beratungen und anderen kleinen Gruppengesprächen oft von den Mitgliedern der Mehrheit dominiert werden, die in der Regel die Diskussionen und Abstimmungen und auch die Vorgesetzten bestimmt.42 Obwohl ein gültiges Problem, lässt es das normative Argument unberührt, denn selbst wenn die einzige Leistung der Jury darin besteht, diese beträchtlichen Mängel der institutionellen Praktiken und der Regierungsarbeit öffentlicher zu machen, wäre dieses Offenkundigmachen noch wertvoll. Verhandlungen ohne Jury und außergerichtliche Einigungen sind nicht weniger von kulturellen Zwängen und sozialen Ungleichheiten geprägt, aber sie haben den zusätzlichen Nachteil, dass sie weniger öffentlich und weniger rechenschaftspflichtig sind. Darüber hinaus behauptet das dystopische Argument nicht, dass der Jury-Dienst keine positive transformative Rolle spielen könne, sondern nur, dass er gegenwärtig die bestehenden Tendenzen der dominierenden Kultur wiedergebe, so dass die Kernfrage, wenn überhaupt, die ist, ob die Praxis des Gerichts dagegen ansteuern kann oder sich in diese Tendenzen schickt. Mark Warren hat angedeutet, dass auch dann, wenn das „romantische Dogma“ der derzeit unpolitischen Bürger, die auf die Chance warten, dass die Selbsttransformationsmöglichkeiten durch die Politik belohnt werden, angesichts der oftmals widersprüchlichen und erniedrigenden Wirklichkeit zeitgenössischer politischer Institutionen verworfen werden sollte, die demokratische Partizipation dennoch wertvolle transformative Möglichkeiten bereithalte. Insbesondere führe sie die Teilnehmer dazu, „eine reflexive Haltung gegenüber den Interessen, Wünschen, Verpflichtungen und Verstrickungen“ einzunehmen, die „das Leben ausmachen“.43 Obwohl sich Warren meistens auf die reflexiven Auswirkungen bei der Steigerung des au-

41 Joel Feinberg, „Voluntary Euthanasia and the Inalienable Right to Life”, in: Philosophy & Public Affairs 7/2 (Winter 1978), S. 93−123. 42 Lynn Sanders, „Against Deliberation”, in: Political Theory 25/3 (1997), S. 347−376. 43 Mark E. Warren, „What Should We Expect from More Democracy? Radical Democratic Responses to Politics”, in: Political Theory 24/2 (1996), S. 241−270, hier 257.

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tonomen Selbst konzentriert, kann das Argument gleichermaßen auch auf das Gemeinwohl einer kritischen Öffentlichkeit ausgedehnt werden: eine, die schwierige Entscheidungen hinsichtlich des Wie und Wann von Strafen mit Nüchternheit trifft. Mechanismen für die Transformation: Wie zivile Wesen geformt werden Tocqueville und Mill betonen Verantwortlichkeit und Eliten-Führung als zwei wichtige Mechanismen für die gesellschaftliche Transformation, aber diese beiden passen nicht gerade zusammen und schaffen eine schiefe Grundlage für ihre Argumentation.44 Echte Gewaltenteilung in Gerichtsentscheidungen ist genau das, was Bürger aus einem Standard-Modus von Eigeninteresse und Solipsismus bringt; sie erkennen, dass ihr Urteil einen Einfluss auf das Leben eines Menschen hat und lässt sie ihrer öffentlichen Verantwortung bewusst werden. Doch der Hauptkatalysator ist der Richter, der die Denkweisen der Juroren bei ihrer eigenen Entscheidungsfindung formt. So werden bürgerliche Wesen gebildet, indem sie Macht haben, die sie erkennen lässt, dass sie Hilfe benötigen, um angemessene Entscheidungen zu treffen; was als Rechtstitel beginnt, führt zur Ehrerbietung gegenüber dem Richter als professionellem Sachwalter.45 Wie das Missverhältnis anzeigt, ist dieses Top-down-Verständnis der in der Jury zur Verfügung stehenden Transformationsmöglichkeiten unvollständig und übermäßig hierarchisch. Es ignoriert die Bottom-Up- oder Peer-to-Peer-Aspekte des Jury-Handelns, die durch die Notwendigkeit gegeben sind, einen Konsens zu erreichen. Durch das Ziel eines einstimmigen Urteils arbeiten die Juroren, die aus verschiedenen Lebensbereichen kommen, eng miteinander, nutzen eine gemeinsame Sprache und kooperieren, um einem größeren gemeinsamen Zweck zu dienen. Dieses Potenzial für die horizontale politische Sozialisation wird von Tocqueville und Mill übersehen, die nur die Abhängigkeit der Juroren und die Ehrerbietung für professionelle Richter hervorheben. Ihr hierarchisches Modell dreht sich also um eine technokratische Professionalität, welche die Entwicklung einer unabhängigen und sich selbst schützenden Bürgerschaft verhindern könnte, die sie gleichzeitig idealisieren. Interessanterweise war der amerikanische Blick im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert auf die Jury, den Tocqueville wahrnimmt, gegenüber den Fähigkeiten der Juroren offener und weniger stark auf den professionellen Einfluss fokussiert, weshalb es eine alternative Deutung bietet, wie der Jury-Dienst zu einer aufmerksamen Öffentlichkeit führen kann. Eine Darstellung, mit der sowohl Tocqueville 44 Ich borge den Begriff „responsibilize“ vom Strafrechtstheoretiker Pat O'Malley, der ihn benutzt hat, um das Abtreten von Sicherheitsaufgaben vom Staat an die Bürgerschaft zu beschreiben. Siehe Pat O'Malley, „Risk and Responsibility”, in: Andrew Barry, Thomas Osborne, and Nikolas Rose, (Hg.), Foucault and Political Reason: Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, Chicago: University of Chicago Press 1996. Ich benutze den Begriff weniger ironisch als O'Malley. 45 Siehe zur kritischen Debatte über Expertenglauben: Dzur, Democratic Professionalism.

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als auch Mill vertraut gewesen sein konnten, beinhaltet Edward Livingstons weitverbreiteter Bericht von 1822 über ein Strafgesetzbuch, welches er für Louisiana entwarf, und in welchem er auch die Jury als bürgerliche Schule feierte. 46 Sich für nicht-optionale Geschworenengerichte in Strafrechtsfällen aussprechend, unterstrich Livingston ihre bedeutenden Vorteile über den eigentlichen Prozess hinaus, weil sie de Angeklagten ein faires Verfahren sicherten: „[Das Geschworenengericht] verbreitet die wertvollsten Informationen unter allen Bürgerrängen; es ist eine Schule, in der jede Jury, die gebildet wird, eine eigene Klasse darstellt; wo die Rechtssätze und die Konsequenzen des Ungehorsams praktisch gelehrt werden. Die häufige Ausübung dieser wichtigen Funktionen gibt darüber hinaus ein Gefühl von Würde und Selbstachtung. [...] Jedes Mal, wenn er [der Bürger] dazu berufen ist, in dieser Eigenschaft zu handeln, muss er fühlen, dass er, obwohl er vielleicht in bescheidensten Verhältnissen lebt, doch der Hüter des Lebens, die Freiheit und das Ansehen seiner Mitbürger gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist; und dass, während sein schlichtes Gemüt die beste Zuflucht für Unschuld ist, seine unbestechliche Integrität ein sicheres Versprechen darstellt, dass die Schuld gesühnt werden wird. […] Während die Menschen mit dem Prozess der JURY vertraut werden, in den viele von ihnen involviert sind, können sie nicht aufhören, frei zu sein. Das Wissen, das er verbreitet; das Gefühl der Würde und Unabhängigkeit, das er inspiriert; den Mut, den er stärkt, wird ihnen immer eine Widerstandskraft geben, die bei Rechtsverletzungen ergriffen werden kann; und ihre Aufmerksamkeit schärfen, so dass willkürliche Machtverletzung unmöglich sind.“47

Livingstons Jury verpflichtet Bürger als Schüler, die, obwohl sie Unterrichtsstunden über das Recht erhalten, durch ihre eigenen natürlichen Kapazitäten − ihr schlichtes Verständnis und ihre unbestechliche Integrität – gegenseitig als Wächter im Gerichtssaal und im weiteren politischen Raum auftreten. Gewaltenteilung im Gerichtssaal ist in einer unvermittelten Weise mit der besonnenen Ausübung von weiteren öffentlichen Verantwortlichkeiten außerhalb des Gerichtssaals verbunden. In der Tat bedeutet die obligatorische Natur des Jury-Dienstes sowohl eine Begrenzung der öffentlichen Unwissenheit als auch der richterlichen Macht, und Richter erscheinen weniger als dominierende Lehrer, sondern als Dienstherren, auf die man ein wachsames Auge haben muss. Auswirkungen der Verwandlung: Was neue bürgerliche Wesen tun Wie Livingstons Argumentation nahelegt, werden, zum Zeitpunkt des Besuchs von Tocqueville, in der amerikanischen Deutung der Jury als bürgerliches Schulhaus deren vollwertige juristische Funktionen mit ihren politischen Wirkungen eng verknüpft. In der Tat, ohne enge Verbindungen zwischen der juristischen Funktion des 46 Livingston ist der einzige Informant, den Tocqueville mit Namen in Über die Demokratie in Amerika erwähnt und über den er bemerkt, dass er „einer jener seltenen Männer ist, von denen man mit Stolz behauptet, ihre Schriften gelesen zu haben“. Tocqueville, Democracy in America, S. 16. 47 Edward Livingston, Project of a New Penal Code for the State of Louisiana, London: Baldwin, Cradock, and Joy 1824, S. 15−16.

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Geschworenengerichts und seiner politischen Arbeit würde das vermeintliche Vergehen, und mit ihm Angeklagte und Kläger, gleichermaßen nur in Hinblick auf das Gemeingut der bürgerlichen Erziehung betrachtet werden und nicht als der Grund für das Geschworenengericht. Weder Mill noch Tocqueville glaubten, dass Juroren etwas juristisch Wertvolles in den Gerichtssaal bringen, vielmehr waren sie der Überzeugung, dass dort ihr natürlicher Gerechtigkeitssinn erst entfaltet und geformt würde. Sie argumentierten ausgehend von den Grundannahmen einer allgemeinen Unwissenheit seitens der Öffentlichkeit, so dass das Schulhaus-Argument in Widerspruch zu den historischen Gegebenheiten, aus denen es hervorgegangen war, geriet, und schwächten damit die normative Kraft des Arguments für eine revitalisierte Rolle der Jury in der zeitgenössischen Debatte. Die Jury entstand aber historisch als Ergebnis genau der entgegengesetzten Prämissen, nämlich dass die Bürgerinnen und Bürger etwas zum Prozess der Rechtsprechung beizutragen haben, das die Gerechtigkeit stärken werde. Frühe Juroren wurden als Zeugen für den Charakters und die Taten der Angeklagten angesehen, während die Richter weder Kenntnis von dem einen noch dem anderen hatten.48 Im 18. und 19. Jh. wurden Juroren befähigt gehalten, die Grundprinzipien des Naturrechts zu kennen, die Gemeinschaftsnormen zu vertreten, und die Bürgerinteressen zu schützen.49 Auch im 20. und 21. Jahrhundert ist man der Ansicht, dass Juroren „gesunden Menschenverstand“ haben und „Gemeinschaftswerte“ vertreten, die die manchmal übermäßig prozedurale rechtliche Argumentation von Richtern abfedern.50 Funktionelle Argumente wie diese halten die Beteiligung von Laien grundlegend für die ordnungsgemäße Prozessdurchführung, da die Beteiligung von Juroren den Gerichten hilft, mehr Aufmerksamkeit auf besondere Tatsachen zu lenken und Entscheidungen zu treffen, die den Tatsachen und den Gesetzen entsprechen. Vor langer Zeit nannte Aristoteles zwei epistemische Argumente für die Volksbeteiligung an Jurys. Erstens haben die Bürger den Vorteil eines kollektiven Wissens, wenn sie sich versammeln. Während die Experten alles über eine Angelegenheit wissen müssen, um sie gut zu beurteilen, brauchen Einzelpersonen in einer Gruppe nur teilweise Kenntnis von den verschiedenen Aspekten eines Falles. Solange die Gruppe diese Teilung der kognitiven Arbeit nutzen und die verschiedenen Perspektiven zusammenbringen kann, arbeitet sie auf dem gleichen hohen Entscheidungsniveau wie der Experte. Zweitens bringen die Menschen wegen ihrer lebendigen Erfahrung mit dem Gesetz, die sich von der des Gesetzgebers unterscheiden kann, relevante praktische Vernunft in die öffentliche Beurteilung: Die Kenntnis des Seemanns über sein Schiff oder das Wissen des Hausbesitzer über sein Haus können von der des Konstrukteurs und Bauherrn abweichen und sind doch für jedes Urteil über die Leistungsfähigkeit dieser Objekte wichtig. Oder, wie 48 Siehe Thomas Andrew Green, Verdict According to Conscience: Perspectives on the English Criminal Trial Jury, 1200−1800, Chicago: University of Chicago Press 1985. 49 Siehe Shannon C. Stimson, The American Revolution in the Law: Anglo-American Jurisprudence before John Marshall, Princeton: Princeton University Press 1990. 50 Siehe Jeffrey Abramson, We, the Jury: The Jury System and the Ideal of Democracy, Cambridge MA: Harvard University Press 2000.

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Aristoteles es ausdrückt: Der Träger des Schuhs weiß besser Bescheid, wo er drückt, als der Schuster.51 Befürworter der Jury verweisen heute auf ihre kollektive Weisheit und praktischen Fähigkeiten, um für mehr Geschworenengerichte zu werben. Wegen der natürlichen Grenzen der menschlichen Aufmerksamkeitsspanne kann sich eine Gruppe von zwölf Personen an mehr Beweisdetails erinnern, die während des Prozesses vorgestellt wurden, als eine einzelne Person.52 Auch in Fällen, in denen komplexe Beweise vorliegen, kann eine Gruppe von zwölf, darunter z. B. Gymnasiallehrer oder Ingenieure, besser dastehen als ein Richter, der solche Themen in der Schule vermieden hat.53 „Juroren mit Fachwissen zu einem Thema“, schreiben Vidmar und Hans, „nehmen oft eine Hauptrolle ein, wenn die Jury dieses Thema bespricht und Fehler eines Jurors werden häufig von einem anderen Juror korrigiert.“54 Aus praktischen Gesichtspunkten können Jurymitglieder mehr Alltagswissen haben als der Richter und daher besser in der Lage sein, einige Arten von Beweisen zu bewerten und vor allem die Glaubwürdigkeit von Zeugen zu beurteilen.55 Wenn man über Aristoteles hinausgeht, der nur die stark besetzten Jurys des alten Athen kennt, in denen die Schöffen jedoch nicht als Gruppe vor dem Urteilsspruch berieten, dann sieht man nach heutigen Befürwortern die epistemischen Vorteile, die sich aus dem Ziel des Konsens ergeben, welches die Juroren dazu veranlasst, sich gegenseitig mit ihren Vorurteilen zu konfrontieren und nach Gründen und Argumenten zu suchen, die die Darlegungen und die rechtlichen Begründungen einer Person oder Gruppe in solche Ansichten verwandeln, die alle akzeptieren können.56 Konsens zwingt die Mehrheit dazu, trotz ihrer besonderen Stärke, ihre Position mit denen in der Minderheit abzugleichen und die manchmal zuvor unsichtbare Schwäche in ihrer Position aufzudecken.57 Die epistemische Macht des Dialogs und der Überlegung kann sich nicht entfalten, wenn nur eine Person zuständig ist, eine Entscheidung zu treffen. Sobald wir Juroren in ihren juristischen Fähigkeiten ernst nehmen, können wir uns in der Öffentlichkeit andere Einstellungen als die der allgemeinen Rücksicht gegenüber Experten und Fachleuten vorstellen. Wir können sehen, wie das Erkennen und Fokussieren von lokalem Wissen, kollektiver Weisheit und praktischer Vernunft im Gerichtssaal auch Fragen des Rechts, der Ordnung, der Kriminalität 51 Siehe Aristotle’s Politics, Buch III, Kap. 11. Für eine detaillierte Darstellung, siehe Jeremy Waldron, „The Wisdom of the Multitude: Some Reflections on Book 3, Chapter 11 of Aristotle’s Politics”, in: Political Theory 23 (1995), S. 563−584. 52 Siehe, zum Beispiel, Reid Hastie, Steven D. Penrod, Nancy Pennington, Inside the Jury, Cambridge MA: Harvard University Press 1983, S. 236. 53 Randolph N. Jonacrit, The American Jury System, New Haven: Yale University Press 2003, S. 49. 54 Neil Vidmar, Valerie P. Hans, American Juries: The Verdict, New York: Prometheus Books 2007, S. 340. 55 Siehe Devlin, Trial by Jury, S. 149, 158−162. 56 Aristoteles dürfte den epistemischen Wert des Konsenses nicht berücksichtigt haben, weil die griechischen Jurys nicht berieten, sondern nur ihre Urteilsstimmen auf dem Weg aus dem Gerichtssaal abgaben. 57 Jonacrit, The American Jury System, 61−63.

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und der Strafe außerhalb des Gerichts bestimmt.58 Darüber hinaus gibt es einen noch direkteren Zusammenhang zwischen dem Juristischen und Politischen, von Devlin auch als die politische Rolle der Jury oder der Jury als „kleinem Parlament“ beschrieben.59 Wenn die Strafjustizpolitik falsch oder übermäßig streng ist oder wenn die Strukturen des gerichtlichen Verhaltens zu starr geworden sind, haben die Geschworen in der Vergangenheit ihre allgemeinen Urteilsbefugnisse verwendet, um sowohl den Angeklagten zu schützen als auch die Notwendigkeit einer rechtlichen Veränderung zu signalisieren. Die Jurys im Norden, die vor dem Bürgerkrieg Angeklagte freisprachen, die flüchtigen Sklaven halfen, Jurys in der Zeit der Prohibition, die Angeklagte laufen ließen, die die Gesetze verletzt hatten, Jurys in der Zeit des Vietnamkrieges, die Gesetzesbrecher verschonten; sie alle handelten politisch. „Zuweilen“, schreibt James Levine, „werden die Juroren in der Tat Gesetzgeber − indem sie in ihre Gerichtsurteile ihre politischen Überzeugungen über die richtigen politischen Grundsätze einfließen lassen.“60 Selbst als die Vorlagen schärfer wurden, die anzeigten, wie die Rechtssätze angewandt werden sollten, antworteten Jurys mit Freispruch und widerspiegelten damit eine öffentliche Meinung, die mit der Kriegspolitik in Vietnam unzufrieden geworden war.61 „In diesen Fällen beurteilen „Juroren sowohl die Gesetze als auch die Angeklagten − sie verurteilen häufiger, wenn die Öffentlichkeit die Rechtsnormen oder die Zwecke, denen sie dient, gutheißt, und weniger, wenn die staatliche Politik, die durch das Strafrecht unterstützt wird, in Verruf ist“.62

Während das Urteil eines einzigen Prozesses natürlich noch keine Politik macht, so gilt dies nicht bei einer Reihe von Urteilen über einen bestimmten Zeitraum und in Bezug auf die gleiche Straftat. In der Tat ist ein solches Abstimmungsmuster an sich Politik, auch wenn die zuständige Legislative oder Exekutive selbst nicht reagieren und keine Änderungen an dem Gesetz und seinen Anwendungen vornehmen.63 Juryentscheidungen in der Summe können als direkter Input in einem Politikprozess angesehen werden, der sich automatisch mit der Verschiebung der öffentlichen Meinung in Bezug auf eine politische Praxis vollzieht. Man könnte die Jury als politischen Körper ablehnen und als eine ungerechtfertigte Ausübung von Ermessensmacht bzw. als eine nicht geglückte Infusion des Populismus in die Arena des Rechts kritisieren, die das demokratisch-repräsentative 58 John Gastil, E. Pierre Deess, Phil Weiser, „Civic Awakening in the Jury Room: A Test of the Connection between Jury Deliberation and Political Participation”, in: Journal of Politics 64 (2002), S. 585−595; John Gastil, E. Pierre Deess, Phil Weiser, Jordan Meade, „Jury Service and Electoral Participation: A Test of the Participation Hypothesis”, in: Journal of Politics 70 (2008), S. 351−367. 59 Devlin, Trial By Jury, S. 164. 60 James P. Levine, Juries and Politics, Belmont CA: Wadsworth 1992, S. 116. 61 James P. Levine, „The Legislative Role of Juries”, in: American Bar Foundation Research Journal 9 (1984), S. 627. 62 Levine, „Legislative Role of Juries”, S. 633. 63 Gary J. Jacobsohn, „Citizen Participation in Policy-Making: The Role of the Jury”, in: The Journal of Politics 39 (1977), S. 76.

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System im Nachhinein untergräbt. Dennoch lehrt die Erfahrung, dass dessen Behörden den öffentlichen Willen nicht am besten repräsentieren, weil sie in ihrer eigenen Welt des politischen Kampfes gefangen sind oder, wie Aristoteles epistemisches Argumente lauten würde, weil sie nicht an alles denken. Und manchmal, wie bei den geflüchteten Sklaven, der Prohibition oder bei Gesetzentwürfen, hat die öffentliche Sphäre ihre Schlussfolgerung über eine bestimmte Politik schneller gezogen als die offiziellen politischen Gremien, so dass das Jury-System hilft, das Recht anzupassen, bevor noch mehr Leben geschädigt werden. Obwohl von Richter allgemein geglaubt wird, dass sie über der Politik und öffentlichen Meinung stehen, ist dies nicht richtig. Richter, nicht Jurys, müssen zur Wiederwahl antreten. Sie werden nach ihren Leistungen bewertet und für Verurteilungen verantwortlich gemacht. Richter, nicht Jurys, müssen eine starke politische Anbindung innerhalb einer Parteiorganisation gehabt haben, um ins Richteramt aufzusteigen. Keiner dieser routinemäßigen Abläufe bei der formalen Wahl- und Organisationspolitik gilt für Juroren, die nach dem Juryurteil wieder „in die Anonymität verschwinden“.64 Obwohl auf eine breite Öffentlichkeit bezogen, kann die Jury als informelles juristisches Gremium unabhängiger vom Druck der öffentlichen Meinung agieren als hauptamtliche Richter. Wie es aussieht, zieht das traditionelle bürgerliche Schulhausargument nur vage und wünschenswert elitäre Zusammenhänge zwischen einer Sozialisation der Bürger während der Gerichtsverhandlungen und moderierenden Effekten, die auf eine breitere politische Sphäre zielen. Tocqueville und Mill haben wenig Vertrauen darin, dass die Öffentlichkeit einen unmittelbaren positiven Einfluss auf die Rechtsprechung im Gerichtssaal oder die legislativen Entscheidungen haben kann, die das zugrunde liegende Rechtssystem bestimmen. Eine theoretisch vollständigere und normativ ansprechende Version des Arguments erfasst den Juryprozess mehr als eine Verteidigungsmaschinerie, die die Achtung vor der Rechtsstaatlichkeit formt, nämlich als kritische Beeinflussung der öffentlichen Reflexionen über Gesetz und Ordnung und Beitrag zu einem Gerechtigkeitssystem, aus dem die Bürger mit Stolz und nicht in Kenntnis ihrer Grenzen hervorgehen. Tatsächlich denke ich, dass der Kern von Tocquevilles Argument weiter weißt, nämlich zu einem dynamischeren und kritischeren Bürgerbewusstsein, als er ausdrücklich befürwortet hat, einem, das die demagogischen, emotionalen Appelle der heutigen Gesetzgebung und jene Politiker ablehnt, die aus Angst, Misstrauen und Leichtgläubigkeit Nutzen ziehen.

64 Harry Kalven Jr. und Hans Zeisel nennen die Anonymität als eine der historisch wirksamsten Tugenden der Jury. Harry Kalven Jr., Hans Zeisel, The American Jury, Chicago: University of Chicago Press 1966, S. 3−11.

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5. WIEDERAUFBAU DES SCHULHAUSES: EINE AUFGABE FÜR DEMOKRATISCHE GERICHTSSPEZIALISTEN Wir leben in einer Zeit des tiefen und übermäßigen Misstrauens gegenüber Regierungs- und Bürgeraktionen, auch wenn der Zugang zu Informationen über unsere politischen Institutionen enorm gestiegen ist. Weshalb sollten wir in diesem Zeitalter der Massenmedien und der unmittelbaren, ständigen und digitalen Kommunikation eine so altmodische und scheinbar sinnlose Tätigkeit wie den Jury-Dienst für den Zweck der bürgerlichen Erziehung brauchen? Das bürgerliche Schulhausargument deutet darauf hin, dass ein persönliches, aktives Lernen in echten Institutionen, in denen konkrete Entscheidungen getroffen werden, genau das ist, was für die Bewältigung einer Medienwelt benötigt wird, die uns von den politischen Realitäten trennt, denen wir mit Misstrauen begegnen. Handeln verdeutlicht Prozesse, moderiert Verhalten und übt Verantwortlichkeiten ein. Bei einer neo-tocquevillianischen, normativen Aufnahme des bürgerlichen Schulhaus-Arguments könnte man auf zwei Wegen vorgehen, die darauf abzielen zu zeigen, wie das Geschworenengericht als öffentlicher Raum positive rechtliche und politische Auswirkungen hat: Erstens auf der Mikroebene, um zu erklären, wie die Jury kommunikative Elemente unterstützt, die dabei helfen, dass die normalen Funktionen des Gerichtsprozesses besser funktionieren und zweitens, auf der Makroebene, um zu zeigen, wie die Jury die Konturen des Justizsystems in vorteilhafter Weise formt. Der verbleibende begrenzte Platz erlaubt nur eine Skizze dieser Argumente, die mehr Bürgerbeteiligung in der Strafjustiz unterstützen und auf eine demokratischere Ausübung der Rechtsprechung verweisen. Die zweifache Schaffung von Gerechtigkeit in einem öffentlichen, kommunikativen Raum Weil Jurys kleine Gruppen von Laien verkörpern, die gewöhnlich im Recht ungebildet sind, helfen sie, die kommunikativen Dimensionen des Gerichtssaals zu entwickeln. Nach Antony Duff und anderen Theoretikern können wir sehen, dass die Prozesse darauf abzielen, dem Angeklagten in seinen Handlungen Rechnung zu tragen, einen Austausch über die Gründe zu fördern, die sie erklären, rechtfertigen und entschuldigen können oder, alternativ, die Aufmerksamkeit auf ihre Sträflichkeit zu lenken. Ein Strafprozess sollte versuchen, die Schuld zu benennen, aber auch den Straftäter in einen dialogischen Prozess zu integrieren, um gleichermaßen zu ermahnen wie zu bestrafen und den Täter an die Werte zu erinnern, die das Gesetz verkörpert und die er teilt, um seine Unterstützung bei der Verteidigung des Gemeinwesens gegen Rechtsverletzungen zu gewinnen. Als Forum für Kommunikation und moralische Überlegungen muss die Verhandlung in einer Weise durchgeführt werden, die der Täter zu einem erhöhten Bewusstsein der Bedeutung seiner Straftat führt. Sie kann nicht rein instrumentell sein; als Plattform der großen Macht, die einen Täter in die zukünftige Willfährigkeit führt, oder als Vehikel der

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bloßen Wiedergutmachung für das Opfer. Die Verhandlung sollte die Zustimmung und nicht nur den Gehorsam des Täters erstreben.65 Dennoch gibt es viele Möglichkeiten, dass der gerichtliche Rahmen die Kommunikation beeinträchtigt: die imposante Architektur der Gerichtsgebäude, die schwarzen Roben der Richter, die technische Sprache der Rechtsanwälte, die komplexen Regeln und Verfahren, die die Richter beachten müssen, um einen Fall zu „führen“. All diese reinen Formalitäten des Gerichtsverfahrens, schreibt Duff, „tragen zur Schaffung eines Umfelds bei, bei dem die Beteiligung des Angeklagten als eines verantwortlichen Bürgers, der mit seiner eigenen Stimme sprechen kann, wesentlich behindert wird.“66 Jurys bringen ein informelles Element in den Gerichtssaal, dass sowohl die Mängel der übermäßig formalen Verfahren korrigieren als auch substanzielle Vorteile hinzufügen kann. Eine Jury, die den Angeklagten als ihresgleichen bewertet, legt darauf Wert, weil sie die Sprache im Gerichtssaal in eine des Alltagslebens verwandelt, anstatt der formalisierten Sprache der Richter zu folgen. Obwohl die Juroren selbst keinen gesprochenen Dialog mit dem Beschwerdeführer und Täter führen, sorgt ihre Anwesenheit dafür, dass dieser Dialog mit Begriffen, Ausdrücken und Erzählformen geführt wird, die alle verstehen. Die Anwesenheit der Laien macht dem Angeklagten auch bewusst, dass die mutmaßliche Tat etwas ist, für das er nicht nur gegenüber dem Opfer, sondern auch gegenüber der Gesellschaft, zu der er gehört, verantwortlich ist. Die Tatsache, dass Jurys die Verantwortung für die Feststellung der Schuld oder Unschuld eines Angeklagten tragen, bedeutet, dass „gewöhnliche Menschen“ dessen Verteidigung beiwohnen und über die Person urteilen. Im Gegensatz zu professionellen Richtern haben diese einfachen Menschen nicht Hunderte von ähnlichen Fällen gesehen oder sind verantwortlich für Verurteilungsraten, die Wiederwahl der Richter und ihre Rankings. Kurz gesagt, sie sind keine Beamten, die Sitze in bürokratischen Systemen innehaben, weshalb sie dem Gericht helfen, eine Entscheidung zu treffen, die sowohl für die Opfer als auch für die Täter begründet ist. Die Rolle der Jury besteht, wie Robert Burns es ausdrückt, „in einer sehr kontextspezifischen moralischen Bewertung“, „einer Art von Tatsachenfeststellung, die viel seriöser ist als das Klischee über den massenpolitischen Diskurs“ und „eine Art von Bewertung, die sich an den moralischen Werten und nicht den inbegriffenen Normen der öffentlichen und verborgenen Beamtenapparate“ orientiert.67 Ein JuryProzess hat juristische Vorteile, nicht so sehr, weil er den Richtern eine Vormachtstellung einräumt, sondern gerade wegen seiner unabhängigen, demokratischen Elemente. Dieses Mikroebenen-Argument für die Jury als eine Form der Gerechtigkeitsarbeit durch Laien, die eine bessere Form der Urteilsfindung bei mutmaßlichen Vergehen schafft als die professionelle technokratische Gerechtigkeit, hat viel mit den 65 R. A. Duff, Trials and Punishments, Cambridge: Cambridge University Press 1986, S. 144. 66 Antony Duff, Lindsay Farmer, Sandra Marshall, The Trial on Trial, Bd. 3: Towards a Normative Theory of the Criminal Trial, Oxford: Hart, 2007, S. 211. 67 Robert B. Burns, „The History and Theory of the American Jury”, California Law Review 83 (1995), S. 1477−1494, hier 1490.

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zeitgenössischen restaurativen Gerechtigkeitsargumenten über die Vorteile der informellen Gerechtigkeit zu tun.68 Der Juryprozess, recht verstanden, verbindet formale und informelle Verfahren, um einen Raum der transformativen öffentlichen Kommunikation zu schaffen, in dem die Bedeutung eines Vergehens für die Opfer und die Gesellschaft sowie der Status des Angeklagten sowohl als Missetäter wie als respektabler Bürger gleichermaßen anerkannt werden kann.69 Die Jury gegen den Strafrechtspopulismus Wenn wir Geschworenengerichte nicht einzeln, sondern in der Gesamtsumme betrachten, können wir sehen, wie sie die allgemeinen Konturen des Rechtssystems gestalten können, indem sie Juroren im Gesetz und seine Wirkungen unterrichten, wachsende Verantwortung für kollektive Entscheidungen fördern und Individuen mit staatlichen Einrichtungen in Berührung bringen, die dazu bestimmt sind, sie zu schützen, also Bürger in staatliches Handeln verwickeln. Während das Mikroebenen-Argument die normativen Vorteile für einen bestimmten Fall aufzeigt, nämlich Öffentlichkeit im Gerichtssaal zu ermöglichen, weist das Makroebenen-Argument auf die normativen Vorteile für das Justizsystem, wenn Fragen von Recht und Ordnung Teil des öffentlichen Diskurses werden und die Wahrnehmung auch außerhalb des Gerichtssaals bestimmen. Wie wir gesehen haben, argumentieren einige, dass Strafen eine Frage für Experten ist, die entpolitisiert und dem öffentlichen Bereich entzogen werden muss, um Emotionen fernzuhalten. Solche Argumente haben ihre Berechtigung, vor allem in Hinsicht auf die Anwendung des willkürlichen, rechenden, unmenschlichen und kostspieligen Three-Strikes Law, der obligatorischen Mindestverurteilungspolitik in den 1980er und 1990er Jahren. Prominente Gelehrte, die ansonsten dem demokratischen politischen Handeln zugeneigt waren, forderten die Verurteilung durch Expertengremien, die den politischen Belastungen, die auf Gesetzgebern und Exekutivbeamten lasten, entzogen waren.70 Obwohl gut gemeint, glaube ich, dass diese Strategie fehlgeleitet ist, weil sie eine der Hauptursachen der Three-Strikes Gesetzgebung verschärft, nämlich das weit verbreitete Misstrauen gegenüber Fachleuten und Beamten mit uneingeschränkter Autorität, die von politischen Parteien, Kandidaten und anderen Aktivisten gefordert und für kurzfristige politische Gewinne benutzt werden. Es macht aus der Bürgerschaft nicht mehr als wütende Zuschauer,

68 See John Braithwaite, Restorative Justice and Responsive Regulation, New York: Oxford University Press 2002; und Howard Zehr, Changing Lenses: A New Focus for Crime and Justice, Scottdale, PA: Herald Press 1990. 69 Zur Weiterentwicklung dieses Arguments siehe Albert W. Dzur, Punishment, Participatory Democracy, and the Jury, New York: Oxford University Press, Kap. 5. 70 Siehe Lacey, The Prisoners’ Dilemma: Political Economy and Punishment in Contemporary Democracies; Zimring, „Populism, Democratic Government, and the Decline of Expert Authority: Some Reflections on ‘Three Strikes’ in California”, S. 243–56; Pettit, „Is Criminal Justice Politically Feasible?”, S. 427–450; Pettit, „Depoliticizing Democracy”, S. 52−65.

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die „von den Seiten“ schreien, wie Ian Loaders in einem plastischen Bild schreibt.71 Man unterstellt zu schnell und ohne Beweis, dass das Abstrafen fest im Verständnis der Massen verankert ist, welches nicht durch gute Gründe in einem konstruktiven öffentlichen Dialog beeinflusst werden darf.72 Eine kritisch rekonstruierte neo-tocquevillianische Darstellung versteht diese so genannte populistische Strafgerichtsbarkeit als eine Reaktion, nicht auf einen Staat, der zu zurückhaltend und nachsichtig gegenüber gewalttätigen Straftäter ist, sondern als eine Art sozialer Trennung der Bürger untereinander und gegenüber Staatsbeamten, die in ihrem Namen handeln.73 Studien, die versuchen, die populistische Strafbarkeit zu bewerten, haben gezeigt, dass je mehr man über einen bestimmten Fall weiß, je mehr darüber bekannt ist, warum eine Straftat erfolgte, und je mehr Details über die beteiligten Personen bekannt werden, desto geringer die Schuldzuschreibungen ausfallen.74 Was nötig ist, ist also nicht Ausgrenzung, sondern Einbeziehung; nicht weniger Teilnahme, sondern mehr Teilnahme an institutionellen Arrangements, die sowohl die Entscheidungsfindung der Bürger als auch ihre Fähigkeit stärken, vernünftig, verantwortungsvoll und berechenbar zu handeln. Das Strafurteil eines Jurors auf der Mikroebene beeinflusst zur gleichen Zeit kollektive Gesamtansichten über Gerechtigkeit auf der Makroebene. In ihrer berühmten Studie über die amerikanischen Jurys bemerkten Kalven und Zeisel, dass die Jurys sich nicht viel in ihrem Strafmaß von dem professioneller Richter unterscheiden, aber wenn sie sich unterschieden, dann in Richtung größerer Nachsicht. Sie spekulieren, dass ein Grund, weshalb die Juroren nachsichtiger sind, darin besteht, dass sie sich, im Gegensatz zu den Richtern, leichter an die Stelle des Täters als Gleichstehendem versetzen können.75 Ein neo-tocquevillianischer Ansatz würde die Nachsicht der Juroren in Verbindung mit einem größeren kritischen Bewusstsein für die allgemeinen Auswirkungen der Strafjustiz auf Nachbarschaften und öf-

71 Ian Loader, „Playing with Fire? Democracy and the Emotions of Crime and Punishment”, in: Emotions, Crime and Justice, hg. v. by Susanne Karstedt, Ian Loader, Heather Strang, Oxford: Hart 2006. 72 Siehe Albert W. Dzur, Rekha Mirchandani, „Punishment and Democracy: The Role of Public Deliberation”, in: Punishment & Society 9 (2007), S. 151−175. Ich argumentiere darin, dass die Massenmeinung, die für die Three-Strikes Gesetzgebung in den USA verantwortlich gemacht wurde, von einem hoch belasteten politischen Umfeld und einer außergewöhnlich engen Medienperspektive auf die Strafjustiz geprägt war. Kurz gesagt, die „öffentliche Meinung“ war nicht reflektierend und manipuliert. 73 In der Tat, obwohl ihre übergreifende Erzählung die Öffentlichkeit als strafend eingestellt darstellt, belegen Gelehrte wie Pratt, Zimring und andere, dass die soziale Fragmentierung, neoliberale Staatspolitik, manipulative Massenpolitik und kommerzialisierte Medien als Kräfte wirken, die öffentliche Ansichten verzerren und nicht repräsentieren. Unter Umständen, die nicht politisierend und fragmentierend wirken oder der Unterhaltung dienen, sind die öffentlichen Ansichten nüchterner und menschlicher. 74 Siehe Doble, „Attitudes to Punishment in the US-Punitive and Liberal Opinions S. 148–162; Roberts/ Stalans/Indermaur/Hough, Penal Populism and Public Opinion: Lessons from Five Counties, Oxford: Oxford University Press 2003. 75 Kalven/Zeisel, The American Jury.

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fentliche Haushalte bringen, ganz zu schweigen von Einzelpersonen und ihren Familien. Der Weg zu einem weniger strafenden und mehr restaurativen Strafjustizsystem ist nicht durch die Entpolitisierung der Justiz, sondern durch das Gegenteil, die Repolitisierung des Rechtssystems als einer öffentlich unterweisenden Praxis umzusetzen.76 Die Aufgabe für demokratische Juristen ist klar, aber schwierig: die Wiedereinführung der Jury im amerikanischen Strafjustizsystem. Zur Zeit von Tocquevilles Besuch wurden die meisten Straffälle in Prozessen mit Jury verhandelt; heute sind es noch knapp 5 Prozent.77 Verfassungsrechtlich betrachtet ist eine Rückkehr zum Geschworenengericht als Standardverfahren der Anhörung bei mutmaßlichen Straftaten einfach. Die Jury ist verfassungsrechtlich gut verankert; in der Tat hatte sie eine herausgehobene Stellung in der Diskussion über den Entwurf und die Ratifizierung der Verfassung und gehört selbst zu den Grundrechten, so dass die heutige Auszehrung der Jury ein Aufruf zu den Waffen für die Wortgetreuen sein sollte. Die Schwierigkeiten sind mehr prosaisch: Wegen des gesteigerten Formalismus des amerikanischen Gerichtsverfahrens, mit seiner Vielfalt an Beweisregeln und Ausschlussverfahren, ist das moderne Schöffengericht, wie Alschuler bemerkt, „zu einem der schwerfälligsten und teuersten Beweisverfahren geworden, dass die Menschheit entwickelt hat“78. Weitsichtige Reformer im linken wie rechten Spektrum, die auf die menschlichen Kosten des Strafvollzugs achten, werden eine Reform der Verfahren einfordern, wie verzwickt die Beweise auch sind, und danach streben, Gerichtsverfahren zu vereinfachen und zu modernisieren. Sie werden auch versuchen, die öffentliche Unterstützung für eine Entkriminalisierung zu organisieren, wo möglich, um einige Straftaten aus dem formalen Strafsystem zu streichen, und offener für alternative Programme zu sein, insbesondere für gewaltlose und jugendliche Straftäter. Vor allem werden demokratische Juristen und Strafjustizreformer versuchen, die Bürger in ihrer Verantwortung zu stärken und eine größere Nüchternheit im öffentlichen Diskurs über Verbrechen und Strafe durch die Wiedererrichtung der Jury als bürgerliches Schulhaus zu fördern. Übersetzung von Skadi Siiri Krause

76 Siehe Albert W. Dzur, „Repellent Institutions and the Absentee Public: Grounding Opinion in Responsibility for Punishment”, in: Jesper Ryberg, Julian Roberts (Hg.), Popular Punishment: On the Normative Significance of Public Opinion, New York: Oxford University Press 2014. 77 Im Indianapolis des Vorbürgerkrieges, in den 1820er und 30er Jahren, kamen zum Beispiel 92% aller Straffälle vor eine Jury. David J. Bodenhamer, „The Democratic Impulse and Legal Change in the Age of Jackson: The Example of Criminal Juries in Antebellum Indiana”, in: The Historian 45 (1983), S. 206−219, hier 218. Der jüngste Statistikbericht des Bureau of Justice stellt fest, dass Jurys bei 4 % aller vor Bundesgerichten verhandelten mutmaßlichen Straftaten eingesetzt wurden. Einzelstaatliche Gerichte nennen etwa gleiche Zahlen. 78 Albert W. Alschuler, „Mediation with a Mugger: The Shortage of Adjudicative Services and the Need for a Two-Tier Trial System in Civil Cases”, in: Harvard Law Review 99 (1986), S. 1808−1859, hier 1824.

TOCQUEVILLE UND DIE ANTI-FEDERALISTS ÜBER FÖDERALISMUS Lektionen für heute1 David Lewis Schaefer 1. EINLEITUNG Während der 1787/88er Ratifikationsdebatten erlitten die sogenannten Anti-Federalists, die sich gegen die Verabschiedung der amerikanischen Verfassung aussprachen, einen rhetorischen Rückschlag, weil die Befürworter der Verfassung den Titel „Federalist“ für sich selbst beanspruchten − obwohl in der traditionellen Verwendung des Begriffs „Föderation“ mit „Konföderation“ gleichgesetzt wurde − und die Anti-Federalists den Namen treffender verdienten.2 In der Tat erkannte selbst James Madison im Federalist Nr. 39 an, dass die Regierung, die mit der Verfassung geschaffen wurde, teilweise föderal und teilweise national war.3 Und obwohl die AntiFederalists die Debatte verloren, leisteten sie einen wichtigen Beitrag zum amerikanischen Konstitutionalismus, nicht nur durch die Bill of Rights, die dem Verfassungsdokument auf dem ersten Kongress als Antwort auf ihre Forderungen hinzugefügt wurde,4 sondern auch durch eine Reihe von Ergänzungen mit unterschiedlicher Reichweite, die im Laufe der politischen Geschichte Amerikas hinzu kamen. Niemand kann heute vernünftigerweise daran zweifeln, dass es für Amerika und die Welt ein Glück war, dass die Bundesverfassung angenommen wurde, ungeachtet der antifederalistischen Warnungen vor ihren Gefahren. Trotz seines weitgehend ungeplanten Charakters ermöglichte das sich entwickelnde amerikanische 1

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Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Version von „Tocqueville and the Antifederalists on Federalism: Lessons for Today“, in: Ann Ward und Lee Ward (Hg.), The Ashgate Research Companion to Federalism, Burlington: Ashgate Publishers 2009, S. 193−208. Die Erlaubnis zur Aktualisierung wurde dankenswerter Weise von den Verlegern Taylor und Francis gewährt. Siehe William A. Schambra (Hg.), As Far as Republican Principles Will Admit: Essays by Martin Diamond, Washington: AEI Press 1992, S. 93−107; Joseph J. Ellis, The Quartet: Orchestrating the Second American Revolution, 1783−1789, New York: Vintage Books 2015, S. 161. Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, The Federalist Papers, hg. v. Clinton Rossiter, Einführung v. Charles Kesler, New York: New American Library 1999), S. 210−214. Zur Art und Weise, wie Madison diesen Prozess so geführt hat, dass die ausschlaggebenden Gewalten der Bundesregierung nicht abgeschwächt wurden, siehe Robert A. Goldwin, From Parchment to Power: How James Madison Used the Bill of Rights to Save the Constitution, Washington: AEI Press 1997.

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föderale System, wie der große französische Beobachter Alexis de Tocqueville in Über die Demokratie in Amerika argumentierte, die Kombination aus individueller Vitalität und Freiheit, die zuvor nur kleine Nationen besaßen, mit der militärischen und wirtschaftlichen Stärke, für die in der modernen Welt eine gewisse Größe notwendig war.5 Auf diese Weise erfüllte der amerikanische Föderalismus in seiner Blüte die legitimen Anliegen der Anti-Federalists, während die außenpolitischen Gefahren von Uneinigkeit und/oder finanzieller und militärischer Schwäche, vor denen die Federalists warnten, nicht eintraten. Bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war das Gleichgewicht zwischen Union und staatlicher Gewalt gleichwohl in einer Weise umgewandelt worden, die sowohl Tocqueville als auch die Anti-Federalists beunruhigt hätten. Vier Ursachen − zwei von ihnen institutionelle Veränderungen, die anderen beiden Änderungen in der öffentlichen Meinung − begünstigten diesen Wandel. Die erste institutionelle Veränderung war nach dem Bürgerkrieg die Annahme des vierzehnten Amendements der US-Verfassung, das (in Reaktion auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im berühmten Fall Dred Scott v. Sandford von 1857) der nationalen Angehörigkeit den Vorrang gegenüber der einzelstaatlichen Bürgerschaft einräumte und die Grundrechte aller Bürger gegen die Verletzung durch die Staaten garantierte − das aber auch infolge gerichtlicher Auslegung Konsequenzen zeitigte, die von seinen Autoren kaum vorauszusehen waren. Die zweite institutionelle Veränderung war das siebzehnte Amendement, das durch die Änderung der Wahl der Senatoren von der Ernennung durch die staatliche Legislative zu einer direkten Volkswahl den Einfluss der Staaten bei der Bildung der nationalen Regierung reduzierte. Von den informellen Ursachen war die erste der umstrittene, aber doch überzeugende Anspruch von den Verfechtern des New Deal, dass die modernen ökonomischen Bedingungen eine weitgehende Ausweitung des Geltungsbereichs der nationalen Regierung bedurfte, der über das hinausging, was der Verfassungstext vorsah (eine Forderung, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von Führern der Progressive Movement wie Herbert Croly und den Präsidenten Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson geäußert wurde). 6 Die letzte Ursache lag im Erbe der Rassendiskriminierung im Süden, welches alle Appelle an den Föderalismus oder die „Staatsrechte“ mit einer Verteidigung rassistischer Unterscheidungen behaftete und eine nationale Lösung durch die Antisegregationsentscheidungen des Obersten Gerichtshofs notwendig machte, beginnend mit Brown v. Board of Education (1955) über den Civil Rights Act von 1964 bis zum Voting Right Act von 1965. Die Wandlung des amerikanischen Rechts und Lebens in den vergangenen mehr als sechs Jahrzehnten macht eine Rückkehr der staatlich sanktionierten Rassen-Bigotterie unwahrscheinlich. Trotz einer wachsenden Literatur, die Zweifel an 5 6

Alexis de Tocqueville, Democracy in America, trans. Harvey C. Mansfield and Delba Winthrop, Chicago: University of Chicago Press, 2000, S. 146−49. Siehe Herbert Croly, The Promise of American Life, New York: Macmillan 1909; Jean M. Yarbrough, Theodore Roosevelt and the American Political Tradition, Lawrence: University Press of Kansias, 2012, Kapitel 6.

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dem Erfolg von New Deal und großen gesellschaftlichen Wirtschaftsprogrammen aufwirft und die ökonomischen wie politischen Vorteile des „wettbewerbsorientierten Föderalismus“ hervorhebt, ist es unwahrscheinlich, dass der Einflussbereich der Bundesbehörde auf den vormaligen Status zurückgeschnitten wird. Dennoch werde ich begründen, dass einige aktuelle politische und verfassungsrechtliche Schwierigkeiten zu einer erneuten Betrachtung bestimmter Überlegungen der Anti-Federalists einladen. In diesem Aufsatz werde ich zunächst die antifederalistischen Argumente zusammenfassen, die dauerhafte Bedeutung hatten. Dann bespreche ich Tocquevilles Darstellung der amerikanischen Verfassung ab 1830, die scheinbar im Sinne der Anti-Federalists wie ihrer Gegner der Federalists wirkte − obwohl das Gleichgewicht, wie er anerkannte, inhärent instabil war. Ich bespreche dann die Veränderungen im amerikanischen Regierungssystem während des zwanzigsten Jahrhunderts, die einige der Bedenken der Anti-Federalists bestätigten − wenn auch weitgehend auf eine unvorhergesehene Weise. Abschließend unterbreite ich einige kurze anregende Gedanken über die Zukunft der Europäischen Union, ausgehend von den amerikanischen Erfahrungen in Hinblick auf den Föderalismus. 2. DIE ANTIFÖDERALISTISCHE KRITIK DER VERFASSUNG Unter den antiföderalistischen Einwänden gegen die Verfassung haben vier größte Aufmerksamkeit in unserer Zeit gefunden: 1. Die Bundesregierung werde zu weit von den Menschen entfernt sein, um ihre freiwillige Gefolgschaft und Gesetzestreue zu gewinnen, so dass die Regierung bei der Vollstreckung ihrer Gesetze auf ein stehendes Heer zurückgreifen müsse, mit dem daraus resultierenden Freiheitsverlust.7 Wie sich natürlich herausstellte, gab es, mit Ausnahme des Bürgerkrieges, keine größeren Gegebenheiten, bei denen die Bundesregierung mit militärischer Gewalt die Durchsetzung von Gesetzen erzwingen musste. Wie The Federalist den Amerikanern versicherte, würde sich die Bundesregierung gewöhnlich auf die Verwaltung der Landesregierungen verlassen können. Die nationale Regierung, so The Federalist, könne die Staaten als primären Bezugspunkt der Bürger im Laufe der Zeit nur verdrängen, wenn sie sich durch eine bessere Verwaltung (eine Folge ihrer überlegenen institutionellen Konstruktion) auszeichne. Wenn das eintreten würde, wer könnte vernünftigerweise etwas dagegen haben?8

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Siehe „Letters from the Federal Farmer,” in: Herbert J. Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, Chicago: University of Chicago Press 1981, Letter II, 2.8.18, 23; „Brutus”, in: Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, Letter IV, 2.9.50. Nachdem er beobachtet hatte, dass nur eine übergeordnete Verwaltung der Bundesregierung die Vorliebe der Bevölkerung für ihre „lokalen Regierungen“ überwinden konnte (Hamilton, The Federalist, Nr. 17, 87), erklärt Publius (das Pseudonym des Autors von The Federalist) zehn Essays später, warum eine solche Entwicklung wahrscheinlich ist (Nr. 27, in: Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, S. 142−143).

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Erst nach dem Bürgerkrieg konnte man sagen, dass die meisten Amerikaner sich stärker mit der Nation identifizierten als mit ihren jeweiligen Staaten, so dass sich letztlich die Prophezeiung aus The Federalist erfüllte.9 Aber wir können ein Echo der Ängste der Anti-Federalists in der verbreiteten Beschwerde über die Größe (und damit unweigerlich der häufigen Schwerfälligkeit) der Bürokratie sehen, die heute notwendig ist, um die vielen föderalen Gesetze durchzusetzen − ebenso wie das Phänomen der nicht verfassungsrechtlich gesicherten Anweisungen, die vom Kongress auf die staatlichen und lokalen Regierungen verhängt werden. 2. Aufgrund der überlegenen Fähigkeiten, die notwendig seien, um die Abstimmung in den relativ großen Wahlkreisen zur Wahl der Mitglieder des Repräsentantenhauses (wie auch des Senats) zu gewinnen, werde der Kongress im Vergleich zu den Wahlbezirken für die Landesgesetzgebungen von einer „natürlichen Aristokratie“ beherrscht werden, die aus Männern mit überlegenen Talenten bestehe, deren Ehrgeiz und Liebe zum Ruhm sie dazu veranlassen werden, teure oder riskante Pläne des nationalen Aufstiegs zu verfolgen, die den Interessen der einfachen Bürger nachteilig seien.10 Zur Unterstützung dieser Prognose konnten die Anti-Federalists festhalten, dass eines von Madisons Argumenten in Federalist Nr. 10 über die Überlegenheit von großen gegenüber kleinen Republiken gerade darin bestand, dass ein repräsentatives Gremium, ausgewählt aus einer größeren Anzahl von Bürgern, wahrscheinlich fähigere Vertreter anziehen würde.11 Und bei der Verteidigung der relativ langen Amtszeit, die dem Präsidenten gewährt wurde, zusammen mit der Möglichkeit zur Wiederwahl, sprach Hamilton von der Liebe zum Ruhm als „der beherrschenden Leidenschaft der edelsten Geister“. 12 Selbst Thomas Jefferson und John Adams, lange Zeit Gegner während ihrer politischen Karriere, stimmten darin überein, dass ein System, welches die natürliche Aristokratie in Positionen mit politischer Macht erhebe, während es sie gleichzeitig dazu zwinge, diese Macht für das öffentliche Wohl zu nutzen, praktisch der Definition einer guten Regierung entsprach.13 Da die natürlichen (im Gegensatz zu den konventionellen) Aristokraten ausdrücklich diejenigen von überlegener Begabung waren, wer könnte die Erwünschtheit eines Systems leugnen, in dem diese Personen die öffentlichen Ämter weitestgehend innehätten, während die allgemeine demokratische Verfassung (einschließlich solcher Vorkehrungen wie der Gewaltenteilung und -kontrolle) dafür sorgte, dass sie 9 10 11 12 13

Wie Jay Winik bemerkt, war es erst nach dem Bürgerkrieg, dass der Begriff „Vereinigte Staaten“ grammatisch als ein Singular statt im Plural verwendet wurde. Jay Winik, April 1865: the Month that Saved America, New York: Harper Collins, 2001, S. 378−379. Siehe „Federal Farmer,“ in: Storing (Hg.), Complete Antifederalist, Letter III, 2.8.25; Melancton Smith, Rede während der New York Ratifying Convention, in: Storing (Hg.), Complete Antifederalist, 6.12.16−17. Federalist Nr. 10, in: Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, S. S. 50−52. Federalist Nr. 72, in: Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, S. 405. Siehe Jefferson, Brief an Adams, 28. October 1813, in: Adrienne Koch, William Peden (Hg.), The Life and Selected Writings of Thomas Jefferson, New York: Modern Library 1944, S. 633.

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ihre Autorität nur in einer Weise nutzen könnten, die der Öffentlichkeit zugutekäme? Trotzdem hatten die Anti-Federalists ein Argument auf ihrer Seite. Im Gegensatz zu Jefferson konnte man nicht davon ausgehen, dass die Interessen der talentierten (und ehrgeizigen) Wenigen immer mit denen des Volkes als Ganzes harmonierten.14 Konnten nicht die Bestrebungen der Wenigen für ihre persönliche und damit nationale Größe mit dem Wunsch des gewöhnlichen Volkes nach einer ruhige Existenz unter einer gemäßigten und sparsamen Regierung in Konflikt geraten? (Wie der Anti-Federalist „Brutus“ warnte: „die Leidenschaft für Pomp, Macht und Größe wirken so kraftvoll im Herzen vieler unserer Besseren, wie niemals zuvor in irgendeinem Land unter dem Himmel.“15) Untersucht man die Geschichte Amerikas, kann man kaum behaupten, dass das Repräsentantenhaus von einer natürlichen Aristokratie in einem sinnvollen Sinne beherrscht worden wäre: In dieser Hinsicht unterschätzten sowohl die Antifederalists als auch die Federalists den Grad, dem ein zunehmend demokratischer oder populistischer Geist der Wahl der „Großen“ entgegenwirken würde. Und obwohl die Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts die USA dazu veranlasst haben, eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu übernehmen, scheint diese Tatsache die Prognose der Federalists zu bestätigen, die eine Verfassung versprachen, die das langfristige Wachstum der Macht Amerikas erleichtern würde. Dennoch, wie ich später argumentieren werde, gibt es wenigstens einen wichtigen Bereich, in dem sich diese antifederalistische Warnung als vorausschauend erwies − wenn auch nicht in der Art, wie die Antifederalists in der Regel glaubten. 3. Eine verwandte antifederalistische Angst bestand in der Befürchtung, dass die Verfassung den Charakter, der bei einem freien Volk notwendig wäre, der Federal Farmer nannte es „starke und männliche Gewohnheiten“, untergraben würde, indem sie ihn an die Unterwerfung unter eine mächtige und nationale Regierung gewöhnte.16 Das ist ein Argument, das ich später ansprechen werde, wenn ich das Argument von Tocqueville bespreche. 4. Die letzte antifederalistische Befürchtung, die ich hier erwähnen möchte, ist diejenige, die Brutus während der New Yorker Ratifizierungskampagne äußerte: dass die Bundesjustiz das Recht, die Verfassungsmäßigkeit sowohl des Staats- als auch des Bundesgesetzes zu beurteilen, beanspruchen und diese Macht nutzen würde, um die Autorität des Bundes auf Kosten der Landesregierungen auszudehnen. Brutus stimmte mit Hamilton darin überein (Federalist Nr. 78 wurde zum Teil als Antwort auf dessen Argument verfasst), dass die

14 Jeffersons eigene Warnung vor der Notwendigkeit, den Ehrgeiz aufzudecken und zu „besiegen“ (Notes on Virginia, Query XIV, in: Koch/Peden(Hg.), Life and Selected Writings, S. 265) steht in uneingestandener Spannung zu seiner Ambition, die Mitglieder der natürlichen Aristokratie (als deren Mitglied er sich zweifellos sah) zu Machtpositionen zu verhelfen. 15 Brutus, Letter II, in: Storing (Hg.), Complete Antifederalist, 2.9.119. 16 Letter V, in: Storing (Hg.), Complete Antifederalist, 2.8.59.

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Bundesgerichte die Macht dessen, was man später als „gerichtliche Überprüfung“ bezeichnete, behaupten würden, obwohl diese Befugnis nirgends in der Verfassung ausgeführt wurde.17 Die Gerichte würden diese Autorität über den Kongress selbst behaupten, erklärte Brutus, weil die „Gesetzgebung durch die Verfassung kontrolliert werden müsse, nicht die Verfassung von ihnen“. Und er sah voraus, dass die Gerichte bei der Ausübung der gerichtlichen Überprüfung die Verfassung nicht nur nach ihrem Wortlaut, sondern auch auf das, was sie als „ihren Sinn und Geist“ ansehen würden, auslegten. Doch die Bundesgerichte würden keine unparteiischen Schiedsrichter sein. Vielmehr würden die Gerichte als Vertretung der Bundesregierung stillschweigend und unmerklich die „totale Zerstörung der einzelstaatlichen Regierungen“ bewirken. Und die Bundesrichter könnten ihre historisch beispiellose Macht als letzte Interpreten der Verfassung dafür einsetzen, „der Regierung fast jede Form zu geben“, die sie haben wollten.18 Brutus Argument enthält ein bedeutenderes Problem: Als Heilmittel für die räumliche Erweiterung der Befugnisse der Bundesregierung schlug er vor, dass die gerichtlichen Auslegungen der Verfassung von „denjenigen, welche das Volk in den angegebenen Zeiträumen auswählte“, außer Kraft gesetzt werden konnten, so wie das britische Parlament traditionell eine Interpretationsbehörde bestimmte, die der Judikative überlegen war.19 Aber auch wenn Brutus diese Macht dem Kongress zuordnen wollte, so sah er doch die Hauptgefahr des richterlichen Missbrauchs in der ungerechtfertigten Erweiterung der Macht der Union. Aber welches Interesse hätte der Kongress, solche Missbräuche einzudämmen? 3. TOCQUEVILLE Tocquevilles Lob des amerikanischen föderalen Systems in Band I von Über die Demokratie in Amerika in Verbindung mit seiner Laudatio auf die administrative Dezentralisierung zeigt uns heute, wie dieses System ursprünglich in einer Weise funktionierte, die auf einige der wichtigsten Anliegen der Anti-Federalists zielte.20

17 Auf die Beziehung zwischen Hamiltons Darstellung (Federalist Nr. 78) und Brutus Beurteilung der Justiz, siehe Ann Stuart Diamond, „The Anti-federalist ‘Brutus,’” in: The Political Science Reviewer 6 (1976), S. 249−282; Shlomo Slonim, „Federalist No. 78 and Brutus’ Neglected Thesis on Judicial Supremacy,” in: Constitutional Commentary 23/1 (Spring 2006), S. 7−31. 18 Brutus, Letter XI, in: Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, 2.9.137−144; Letter XV, in: Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, 2.9.186−188. 19 Letter XV, in: Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, 2.9.187, 196. 20 Über die Verknüpfung von dezentraler Verwaltung und Föderalismus bei Tocqueville siehe: Martin Diamond, in: William A. Schambra (Hg.), As Far as Republican Principles Will Admit, S. 144−166. Über die Debatte über die administrative Dezentralisierung in Frankreich, die der Veröffentlichung von Über die Demokratie in Amerika unmittelbar vorausging, siehe Annelien de Dijn, French Political Thought from Montesquieu to Tocqueville: Liberty in a Levelled

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Was Tocquevilles Lob der administrativen Dezentralisierung mit dem antifederalistischen Denken verbindet, ist sein Wunsch, die Gewohnheiten der aktiven Selbstregierung und -verwaltung unter der Bevölkerung gegen die Ambitionen der nationalen „Meinungsführer“ und der Bürokraten zu bewahren, um sie nicht der zentralen Führung von oben zu unterwerfen.21 Bezeichnenderweise betitelt Tocqueville seine Darstellung der Gemeindeverwaltung mit „Notwendigkeit der Untersuchung der Einzelstaaten vor der Erörterung der Bundesregierung“. Diese Notwendigkeit entstehe, erklärt er, nicht nur, weil die Staaten der Bundesregierung in ihrer Einrichtung vorangegangen seien, sondern, was noch wichtiger sei, weil in ihrem täglichen Betrieb (zu der Zeit, als er schrieb) „die Bundesregierung [...] nur eine Ausnahme“ sei; „die Staatsregierung“ sei „die geltende Regel“.22 Tocquevilles Darstellung der Gemeinde (commune) unterstreicht sowohl ihre Natürlichkeit als auch ihre Zerbrechlichkeit. Obwohl die Gemeinde die einzige Form der politischen Assoziation sei, die sich spontan bilde, wo die Menschen sich sammeln, behauptet Tocqueville, dass die Schwierigkeit, ihre Autonomie zu bewahren, zunehme, „wie die Geistesbildung des Volkes“ wachse, weil hochzivilisierte Völker es schwierig finden, die Ineffizienzen zu tolerieren, die sich ergeben, wenn die Bürger vor Ort, ohne besondere Talente oder Fachwissen, ihre eigenen Angelegenheiten verwalten. Deshalb stellt Tocqueville fest, dass kein (kontinentaler) europäischer Staat kommunale Freiheit zulasse.23 Tocqueville erkennt an, dass ein System der lokalen Selbstverwaltung weniger effizient sei als eines, das auf einer nationalen zentralisierten Bürokratie beruhe, die auf der Grundlage von Regeln und Fachwissen arbeite.24 Aber die Nachteile an administrativer Effizienz, die sich aus der lokalen Autonomie ergeben, werden durch ihre politischen Vorteile aufgewogen. Tocqueville beobachtet, orientiert an den

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Society?, Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 115−121; über die spätere Wiederaufnahme im neunzehnten Jahrhundert und den Einfluss von Tocquevilles Schriften, siehe: Dijn, French Political Thought from Montesquieu to Tocqueville, S. 173−84. Siehe zu Tocquevilles Intention in dieser Hinsicht James Ceaser, Liberal Democracy and Political Science, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1990, Kapitel 7. Es ist interessant zu sehen, dass Tocquevilles Argument hinsichtlich der Notwendigkeit, eine offene politische Deliberation gegenüber der Herrschaft von prominenten „Meinungsführer“ zu verteidigen, sich auch bei den Vertretern eines administrativen Dezentralismus findet, etwas den philosophischen Architekten des modernen Republikanismus wie Niccolò Machiavelli oder James Harrington, die der Ansicht waren, dass das gemeine Volk sich nur selbst regieren kann, wenn es gegen den Einfluss von schillernden moralischen und politischen „Allgemeinheiten“ geschützt wird. Paul Rahe, „Situa Machiavelli“ in: James Hankins (Hg.), Renaissance Civic Humanism: Reappraisals and Reflections, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 300−302, Paul Rahe, Republics Ancient and Modern, Chapel Hill: University of North Carolina Press, S. 408−26. Tocqueville unterstreicht die Bedeutung der Lehre vom „richtig verstandenen Eigeninteresse“, genauso wie lokale Selbstverwaltung und freiwillige Vereinigungen, die das Volk stärken und gegen Individualismus und Materialismus schützen. Tocqueville, Democracy in America, S. 56. Tocqueville, Democracy in America, S. 57. Tocqueville, Democracy in America, S. 87.

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Townships in New England, dass lokale Institutionen eine Schule der politischen Freiheit seien, die die Bürger zu ihrem „friedlichen Gebrauch“ gewöhnen.25 Die Machtverteilung unter einer Reihe von örtlichen Ämtern involviere auch mehr Menschen in die öffentlichen Angelegenheiten und erzeuge einen „väterlichen Stolz“ für die freien Institutionen.26 Schließlich argumentiert Tocqueville, dass trotz der Ineffizienz der lokalen Regierung in Amerika, das amerikanische System, weil es die Menschen dazu bewege, sich mit ihrer Regierung zu identifizieren, anstatt sie als eine fremde Kraft zu betrachten, so viel allgemeine Energie im Namen des Gemeinwohls mobilisiere, dass „auf Dauer das allgemeine Ergebnis all dieser persönlichen Unternehmungen“ das „bei weitem“ übertreffe, „was der Staat auszurichten vermöge“.27 Tocqueville verbindet sein Lob der örtlichen Selbstverwaltung der Amerikaner mit seiner Darstellung des föderalen Systems, indem er bei der Erörterung des letzteren wiederholt, dass „der Sinn und Brauch republikanischen Regierens aus den Gemeinden und aus den Provinzialversammlungen hervorgegangen sind“ sowie aus den Staaten selbst. Und er fügt hinzu, dass „dieser selbe republikanische Geist, diese Sitten und Gewohnheiten eines freien Volkes“ wiederum auf die Union als Ganzes übertragen werden. Die Bindung der Menschen an die Union sei „nur eine Zusammenfassung der Vaterlandsliebe in allen Provinzen“, die jeder Bürger in der „kleinen Republik“ hege, in der er wohne.28 Tocqueville unterstreicht die Neuerung des amerikanischen föderalen Systems im Vergleich zu allen bisherigen „Föderationen“ (d.h. Ligen oder Allianzen), dessen Verfassung es der föderalen Regierung ermögliche, sich selbst an die Bürger zu wenden, anstatt sich auf die Mitgliedstaaten zu verlassen, ihre Verordnungen durchzusetzen − und damit die zweifache Gefahr von Anarchie und der Herrschaft durch die stärksten Mitglieder, denen die früheren Verbände zum Opfer fielen, abzuwehren.29 Aber er zeigt auch, wie die Begrenzung der föderalen Behörden auf einige, wenn auch wichtige Bereiche, wirksam den Ängsten der Anti-Federalists entgegenwirkt, indem sie „die Ruhmesliebe“ unter den Individuen und damit die Art von 25 Tocqueville, Democracy in America, S. 57. 26 Tocqueville, Democracy in America, S. 64−5. 27 Tocqueville, Democracy in America, 90−91. Tocquevilles Lob der Möglichkeiten, die die dezentralisierte Verwaltung den Bürgern gibt, sich an ihrer eigenen Regierung zu beteiligen, sollte von den jüngsten utopischen Vorschlägen für die „deliberative Demokratie“ unterschieden werden, das Volk durch plebiszitäre lokale Treffen in die nationalen Angelegenheiten zu involvieren (vgl. Bruce Ackerman, James S. Fishkin, Deliberation Day, New Haven: Yale University Press 2004). Die dezentralisierte Verwaltung beinhaltet die Einbeziehung der Bürger in die Entscheidung der Angelegenheiten, die in ihre Zuständigkeit fallen und eine mehr oder weniger direkte Verbindung zu ihren eigenen Interessen haben, wie zum Beispiel die Lage einer Straße (Tocqueville, Democracy in America, S. 487) oder die Lehrpläne der örtlichen Schulen − nicht komplexe Fragen der nationalen Politik (wie Geldpolitik oder auswärtige Angelegenheiten). 28 Tocqueville, Democracy in America, S. 153. Vgl. Edmund Burkes Darstellung der Eingebundenheiten in der „kleinen Kolonne, der wir in der Gesellschaft angehören“ als Wurzel des Patriotismus und der Philanthropie (Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, in: Edmund Burke, Works, Boston: Little Brown 1894, Bd. 3, S. 292). 29 Tocqueville, Democracy in America, S. 147−8, 157.

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Ehrgeiz, die die Freiheit in früheren Republiken zerstört habe, banne.30 Die neuartige Form des amerikanischen Föderalismus in Tocquevilles Darstellung ermöglicht es den Bürgern, gleich alle beiden Vorteile zu haben, indem er die Freiheit, die nur in kleinen Nationen zu finden ist, mit der militärischen und wirtschaftlichen Stärke der Großen verbindet. Tocqueville artikuliert zwei Gefahren für die Erhaltung eines föderalen Systems der Amerikaner, von denen nur eine tatsächlich eine Bedrohung für die Vereinigten Staaten selbst darstellt. Die wirkliche Bedrohung sei die Gefahr der Uneinigkeit, die sich aus der gewaltsamen Kollision des Bundesgesetzes mit den „Interessen und Vorurteilen eines bestimmten Staates“ ergebe. Eine solche Gefahr entstehe, weil die amerikanischen Gründer die föderale Regierung mit „Geld und Soldaten“ versorgen, die Einzelstaaten dagegen „die Liebe und die Vorurteile der Völker“ behalten.31 (Tocqueville zitiert an anderer Stelle den South Carolina Report, der das Recht des Staates verkündete, die föderale Gesetzgebung, die nicht seine Zustimmung finde, aufzuheben − ein Anspruch, der damals von der JacksonRegierung unterdrückt wurde, später aber zur Sezession von 1860−1861 beitrug.32) Die andere Gefahr, vor der Amerika durch seine geographische Isolation glücklicherweise geschützt sei, sei die Bedrohung durch einen ausländischen Krieg, denn Tocqueville bezweifelt, dass ein verbündetes Volk erfolgreich gegen eine ebenso mächtige, aber zentralisierte Nation kämpfen könne.33 Auch ein anderer Aspekt von Tocquevilles Argument verdient mit der antifederalistischen Position verglichen zu werden. Wie Brutus bezeugt Tocqueville die ungeheure Autorität amerikanischer Richter, vor allem die „große politische Macht“ der gerichtlichen Überprüfung.34 In der Tat beschreibt er die Aufgabe des Obersten Gerichtshofs als letzte Instanz, die Verfassung zu interpretieren und die Bestimmung der Grenzen zwischen Bundes- und Landesbehörde als „den gefährlichsten Schlag“ gegen die einzelstaatliche Souveränität.35 Aber er identifiziert mehrere Ursachen, die die davon ausgehende Gefahr reduzieren. Erstens erwachse die Macht der gerichtlichen Überprüfung nur im Zusammenhang mit bestimmten Streitigkeiten, die einzelne Bürger betreffen, und bestehe nicht darin, „Gesetze in einer theoretischen und allgemeinen Weise anzugreifen.“ Darüber müsse der Tatbestand, der zu Änderungen der Gesetze führe, eng an „bestimmte Interessen“ gebunden sein, die von ihnen berührt werden, so dass sie vor direkten Angriffen geschützt werden.36 Schließlich erklärt Tocqueville in Bezug auf Brutus‘ Voraussage, dass die Richter wahrscheinlich ihre Macht der konstitutionellen Interpretation nutzen, um die Bundesbehörde auf Kosten der Staaten zu erweitern, durch das Be-

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Tocqueville, Democracy in America, S. 150−151. Tocqueville, Democracy in America, S. 157. Tocqueville, Democracy in America, S. 367. Tocqueville, Democracy in America, S. 161. Tocqueville, Democracy in America, S. 95. Tocqueville, Democracy in America, S. 134. Tocqueville, Democracy in America, S. 96−97.

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wusstsein der Richter gebremst werde, dass die Menschen mehr an ihren Landesregierungen hängen, was die Richter eher dazu veranlasse, einen legitimen Anspruch auf Zuständigkeit zu verweigern, als einen unsachgemäßen zu behaupten.37 Tocquevilles lebhaftes Interesse an der richterlichen Zurückhaltung bestimmt später seine Einschätzung des Geists der amerikanischen Richter und Anwälte. Die Rechtsanwälte als eine Klasse, bemerkt er, haben eine aristokratische Haltung, die sich aus ihrem Fachwissen ergebe, das ihnen einen privilegierten sozialen Rang sichere. Darüber hinaus erwachsen aus ihrer Arbeit „Gewöhnung der Ordnung“ und ein „gewisser Sinn für Formen“. Rechtsanwälte seien „stark gegen den revolutionären Geist und die unreflektierten Leidenschaften der Demokratie“ eingenommen und in der Tat verachten sie „heimlich“ die demokratische Regierung an sich. 38 Diese antidemokratische Perspektive wird jedoch durch das Klasseninteresse der Rechtsanwälte abgeschwächt: In der Abwesenheit eines Monarchen oder einer erblichen Aristokratie stellen die Anwälte die „einzige aufgeklärte und qualifizierte“ Gruppe dar, die die Menschen wählen können, um wichtige Ämter zu füllen. Darüber hinaus bringe die anglo-amerikanische Rechtsprechung für die Jurisprudenz eine Hinwendung zu Präzedenzfällen mit sich.39 Während also der Ausschluss der französischen Rechtsanwälte von allen politischen Ämtern unter dem Ancien régime diese dazu ermutigte, in der Revolution von 1789 zu Wortführen zu werden, seien die amerikanischen Rechtsanwälte in derselben Position wie die führende politische Klasse, denn die Revolution stehe im Widerspruch zu ihrem Interesse. Ihr inhärenter Konservatismus, weit davon entfernt, die amerikanische Demokratie zu bedrohen, ermöglicht es ihnen, als „Gegengewicht“ zu den demokratischen Exzessen zu dienen und gegen den „Hang zum Neuen“ des Volkes eine „abergläubische Ehrfurcht vor dem Alten“ zu verteidigen, indem sie die „Grenzenlosigkeit“ des Volkes moderieren und einen „Sinn für Formen“ gegen die „Geringschätzung der Vorschriften“ wahren.40 Eine der Formen, die die Anwälte Tocquevilles schützen, ist vermutlich das föderale System selbst. 4. VON TOCQUEVILLE ZUM NEW DEAL UND DARÜBER HINAUS Tocquevilles Beobachtungen über die administrative Dezentralisierung, das föderale System und die Rolle der Richter und Anwälte in den Vereinigten Staaten deuten darauf hin, dass vierzig Jahre nach der Ratifizierung der Verfassung die Ängste der Anti-Federalists unbegründet waren. Während die ordnungsgemäße Trennung zwischen Bundes- und Landesbehörden weiterhin rechtlich und politisch umstritten war, war das föderale System als Ganzes weitgehend so tätig, wie The Federalist 37 Tocqueville, Democracy in America, S. 134−135. 38 Tocqueville, Democracy in America, S. 252. Über die Notwendigkeit von Formen als Sicherheit für Freiheit und Bedachtsamkeit, siehe Tocqueville, Democracy in America, S. 669; Harvey C. Mansfield, „The Forms and Formalities of Liberty,” The Public Interest 70 (1983), S. 121−131. 39 Tocqueville, Democracy in America, S. 254−255. 40 Tocqueville, Democracy in America, S. 256.

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es den Amerikanern versicherte, nämlich mit weitgehender staatlicher und lokaler Autonomie. Tatsächlich behauptete Tocqueville, dass die „große Angst der Amerikaner“ vor politischer Zentralisierung fehlgeleitet war. Das Gegenteil war der Fall, die Bundesregierung wurde „sichtbar schwächer“.41 Als er eines der Bedenken vorstellte, die Abraham Lincoln in seiner Springfield Lyceum Adress 1838 zum Ausdruck brachte, bemerkte er, dass trotz der kommerziellen Bindungen und der wachsenden Assimilation in den Umgangsformen, die dazu beitragen, das amerikanische Volk zu vereinen,42 die Sicherheit und der Wohlstand, den die Amerikaner jetzt genießen, die „Tatkraft und die Vaterlandsliebe“ schwächten, die sie zuvor in Richtung Union trieben.43 Daher die bitteren Kontroversen über die Mittelzuweisungen des Kongresses aus dem Verkauf des westlich gelegenen Landes, über die nationale Bank und die Nullifikationskrise, letztere nur behoben durch das Eingreifen eines Präsidenten (Andrew Jackson), der ansonsten die „dezentralistischen Leidenschaften“ des Volkes anfeuerte.44 Die Dezentralisierung, die die Union bedrohte, war das, was Tocqueville als „politisch“ bezeichnete, das heißt eine Uneinigkeit über die grundlegendsten nationalen Fragen; er unterschied sie von der „administrativen“ Dezentralisierung, die inhärent lokale Probleme betraf.45 Wie die Nullifikationskonflikte deutlich machten, waren es Südstaatler, die von „leidenschaftlichen und reizbaren Männern“ geführt wurden, welche ihre Macht in der Bundesregierung stetig abnehmen sahen, die damit drohten, die Union zu zerstören, obwohl sie am meisten bei einer solchen Zerschlagung zu verlieren hatten, denn sie mussten einen möglichen Rassenkrieg als Folge von Sklavenaufständen fürchten.46 Der Bürgerkrieg bestätigte Tocquevilles Urteil, dass eine Spaltung der Union eine unmittelbarere Bedrohung sei als eine übermäßige Zentralisierung der Zuständigkeiten der nationalen Regierung. In der Folge dieses schrecklichen Ereignisses erwarben die Amerikaner allmählich einen Sinn für nationale Treue, die Tocqueville für übermäßig schwach hielt. Ironischerweise aber, als die Gefahr für die amerikanische Union schwand, wie Tocqueville am Ende des ersten Bandes Über die Demokratie in Amerika äußerte, wurde der Boden in diesem Land für die alternative Gefahr für die Demokratie als solche vorbereitet, für die Amerika in der Zeit von Tocqueville immun erschien, und die er im letzten Teil des zweiten Bandes beschrieben hat. Dieses andere, tiefere Problem war das Wachstum eines zentralisierten „schützenden“ Despotismus, in dem, obwohl die Formen der demokratischen Wahl erhalten blieben, das Volk die Chance für eine echte Selbstverwaltung verlor und seine materiellen Bedürfnisse von einer allgegenwärtigen Bürokratie erfüllt sah, welche es von der Notwendigkeit und damit der Möglichkeit befreite, seine

41 Tocqueville, Democracy in America, S. 368−369. 42 So hatte es Publius prognostiziert. Siehe Federalist Nr. 53, in: Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, S. 302. 43 Tocqueville, Democracy in America, S. 369−371. 44 Tocqueville, Democracy in America, S. 372−377. 45 Tocqueville, Democracy in America, S. 83. Über die Bedeutung dieser Unterscheidung siehe Diamond, As Far As Republican Principles Will Admit, S. 153−157. 46 Tocqueville, Democracy in America, S. 366−367.

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eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Sie war freundlicher und sanfter als der drückende Despotismus, den einige Anti-Federalists fürchteten. Aber sie war nicht weniger erdrückend für die menschlichen Fähigkeiten und für den Geist der männlichen Freiheit und Selbstbehauptung.47 Die theoretischen Grundlagen für diesen Wandel wurden durch die Progressive Movement vorbereitet, die die verfassungsrechtlichen Formen des Föderalismus sowie die Trennung der Gewalten als eine unzulässige Beschränkung des „Willen“ des Volkes verunglimpfte − auch wenn sie darauf abzielte, viel von den Regierungsangelegenheiten „Experten“ zu übertragen, die unabhängig von der direkten Kontrolle durch das Volk waren.48 Beispielhaft für das Denken der Progressiven waren die vorpräsidentialen Schriften von Woodrow Wilson, darunter nicht nur seine Forderung nach der Aufhebung der Gewaltentrennung durch eine einheitliche Kabinettsregierung (oder später durch informelle Präsidentenführung), sondern auch sein einflussreicher Aufsatz „The Study of Administration“ , in der er für eine Trennung zwischen „Politik“ und „Verwaltung“ plädierte, so dass die Menschen daran gehindert würden, sich in die täglichen Entscheidungen einer zentralen Bürokratie von Experten einzumischen, darauf beschränkt, ihre Wünsche bei den Wahlen den politischen Vorgesetzten der Verwalter mitzuteilen.49 Auch wenn Wilson, von Geburt ein Südstaatler, Achtung vor den Grundrechten zum Ausdruck brachte, tendierte er doch eher zur Abschaffung des Föderalismus und zur Erweiterung der Bundesbürokratie. Diese Haltung trug Früchte in der Verwaltung von Franklin Roosevelt, der seinen „New Deal“ als eine Weiterführung der Politik betrachtete, die Wilson als Präsident eingeleitet hatte, wenn seine Aufmerksamkeit nicht durch den Ersten Weltkrieg abgelenkt worden wäre.50 Das Roosevelt-Programm hat nicht nur eine enorme Ausweitung des Geltungsbereichs der Bundesregierung zur Folge gehabt; seine Ratgeber strebten auch danach, Macht aus dem politischen Bereich der Regierung in den Bereich der „Verwaltung“ und der Experten zu übertragen. 51 Nachdem der Oberste Gerichtshof seinen anfänglichen Widerstand gegen Roosevelts Missachtung der verfassungsmäßigen Beschränkungen der Bundesbehörde aufgegeben hatte, wurde der Fast-Tod des Föderalismus als Rechtslehre durch die Entscheidung des Gerichtshofes im Fall Wickard v. Filburn (1942) unterzeichnet, welche die Macht der Regierung aufrechterhielt, einen Landwirt für den Pflanzenanbau zu bestrafen, um seine eigenen Tiere zu ernähren, mit der Begründung, 47 Tocqueville, Democracy in America, Kapitel 2−3, 5−7. 48 Über die antidemokratische Tendenz vieler Reformen, die von den Progressiven vertreten werden, siehe Thomas West, „Progressivism and the Transformation of American Government,” in: John Marini, Ken Masugi (Hg.), The Progressive Revolution in Politics and Political Science, Lanham, MD: Rowman and Littlefield 2005, S. 13−32. 49 Woodrow Wilson, „The Study of Administration“, in: Political Science Quarterly 2/2 (June 1887), S. 197−222. 50 Franklin D. Roosevelt, „Commonwealth Club Address,” in: Public Papers and Addresses, New York: Random House 1938, Bd. 1, S. 742−756, hier 749−750. 51 Siehe zu den Wilsonschen Wurzeln des New Deal Ansatzes in der Verwaltung Donald R. Brand, „Progressivism, the Brownlow Commission and the Rise of the Administrative State” in: Ronald J. Pestritto, Thomas West (Hg.), Modern America and the Legacy of the Founding, Lanham, MD: Lexington Books 2007, S. 137−166.

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dass sein Versagen, genügend Futter zu kaufen, nachteilige Auswirkungen auf die Wirtschaft hätte, die der Kongress durch die Regulation des zwischenstaatlichen Handels schützen dürfte. 5. DAS AMERIKANISCHE BUNDESSYSTEM HEUTE − ODER WAS DAVON BLEIBT Ich werde den Prozess nicht auflisten, bei dem die meisten Regierungen seit Roosevelt (republikanische wie auch demokratische) die Reichweite der Bundeshaushaltsprogramme ohne Rücksicht auf verfassungsrechtliche Beschränkungen weiter ausgebaut haben − George W. Bushs bemerkenswertester Beitrag war der No Child Left Behind Act, der erheblich die nationale Rolle bei der Beaufsichtigung der öffentlichen Schulen verstärkte; während Präsident Barack Obama, zusammen mit der dünnsten Kongress-Mehrheiten, unvergesslicher Weise eine weitgehende Erweiterung der Kompetenzen der Union bei der Sicherstellung der medizinischen Versorgung durch den so genannten Affordable Health Care Act erreichte. Der ernstzunehmende Einwand gegen die Ausweitung der Kompetenzen der Bundesbehörden liegt nicht in den „Staatsrechten“ an sich. Obwohl, wie Joseph Ellis bemerkt, die Gründer in dem Bestreben, die Verfassung ratifizieren zu lassen,52 versucht haben, die Souveränität zu beschneiden, ist es streng genommen in der amerikanischen Verfassungstheorie das Volk selbst, kein Teil des Staates, der wahre „Souverän“ (wie vom Obersten Gerichtshof im klassischen Fall von Chisholm v. Georgia [1793] bestätigt). Die Supremacy Clause der Verfassung lässt keinen Zweifel daran, dass im amerikanischen Verfassungssystem die Macht bei der nationalen Regierung und nicht bei den einzelstaatlichen Regierungen liegt.53 Zwar gibt die Verfassung keine genaue Zuordnung der Zuständigkeitsbereiche zwischen Bundes- und Landesregierungen an. Vielmehr lädt das Dokument, wie Edward Purcell bemerkt, selbst über einen Streit diese Teilung ein und hat daher von Anfang an unterschiedliche Anschauungen und Politiken hervorgerufen.54 Dennoch, wenn der Kongress seine Befugnis auf solche im Wesentlichen lokale oder private Anliegen wie öffentliche Schulen oder Gesundheitsfürsorge für Nicht-Arme ausübt, Bereiche, für die es äußerst schwierig ist, ein Mandat unter den im Artikel I Abschnitt 8 aufgeführten Befugnissen auszumachen, kann man vernünftigerweise eine Erschlaffung des Bürgerbewusstseins fürchten, welches von Tocqueville dargestellt wurde, oder des stolzen Habitus‘ der Unabhängigkeit, den Brutus bewahren wollte. 52 Siehe auch Ellis, The Quartet, S. 172. 53 Siehe auch Federalist Nr. 15 und Nr. 76, wo „das politische Ungeheuer eines Imperiums im Imperio“ abgelehnt wird, sprich ein System, in dem die föderale Souveränität in „völliger Unabhängigkeit von den Mitgliedern“ der Union existiert. Erinnert sei daran, dass Madison ursprünglich vorgeschlagen hat, der Bundesregierung ein Veto gegen staatliche Gesetze zu geben, obwohl diese Vorstellung bei der Verfassungskonvention abgelehnt wurde (dargestellt in Ellis, The Quartet, S. 210, und bei Goldwin, From Parchment to Power, S. 59). 54 Edward Purcell, Originalism, Federalism, and the American Constitutional Enterprise, New Haven: Yale University Press 2007.

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Sicherlich ist diese Erweiterung der Zuständigkeiten der Union mit Zustimmung des amerikanischen Volkes als Ganzes geschehen. Aber die schädlichen Auswirkungen dieser Expansion auf die Praxis der Selbstregierung auf nationaler Ebene wurden von den Beobachtern, wie dem Politikwissenschaftler Morris Fiorina und dem Journalisten Jonathan Rauch, treffend beschrieben.55 Die Tatsache, dass die ständige Ausweitung der Befugnisse des Kongresses den einzelnen Kongressabgeordneten eine besondere Bedeutung in ihren jeweiligen Wahlbezirken gibt und auch ihre Stellung als Vermittler zwischen ihren Wählern und der Regierung festigt, hat ihre Position gestärkt, ihnen aber auch eine Freikarte in allen jenen politischen Angelegenheiten gegeben, die ihre eigenen Wähler nicht direkt beeinflussen. Noch grundsätzlicher ist die Erwartung des Volkes gestiegen, dass die Bundesregierung Einzelpersonen Hilfe leisten sollte, einschließlich den Nicht-Armen, zum Zweck der Daseinsvorsorge, etwa bei Krankheit, zusammen mit der Forderung nach einheitlichen nationalen Standards in Bereichen wie Bildung, die an den „nanny state“ erinnern, vor dem Tocqueville warnte.56 Es kann sein, wie Ralph Rossum argumentiert hat, dass die Erweiterung der Zuständigkeit des Kongresses auf Kosten der Staaten unvermeidlich war, als das institutionelle Bollwerk, das die Gründer geschaffen hatten, um staatliche Interessen zu unterstützen − die Auswahl der Senatoren durch die Legislative der Einzelstaaten − durch das Siebzehnte Amendement beseitigt wurde.57 Angesichts des Misstrauens der Gründer gegen ausschließlich mündliche Verbote bei Überschreitung der verfassungsmäßigen Grenzen der Regierung durch ihre Institutionen, The Federalist nennt sie „Pergamentgrenzen“58, ist es unwahrscheinlich, dass sie lediglich eine Tradition der Verfassungsehrfurcht erwarteten, um zu verhindern, dass die Amerikaner eine immer größere Palette von Aufgaben an den Kongress übertragen, geschweige denn Kongressabgeordnete und Präsidenten ermutigten, dies zu tun. Noch konnten sie von den Gerichtshöfen, als dem am wenigsten rechenschaftspflichtigen Zweig der Bundesregierung, erwarten, dass sie die föderalen Zügel auf

55 Morris P. Fiorina, Congress: Keystone of the Washington Establishment, New Haven: Yale University Press 1989; Jonathan Rauch, Demosclerosis: The Silent Killer of American Government, New York: Times Books 1994. 56 Natürlich hat nichts in der Bundesverfassung staatliche und lokale Regierungen daran gehindert, Programme zur Deckung der Ausgaben bei Krankenversicherungen für ihre Bürger zu veranlassen. Aber die Notwendigkeit für die Staatsregierungen, anders als bei der Bundesregierung, ihre Budgets auszugleichen, würde immer dazu führen, diese Kosten zu beschränken, indem sie den Zusammenhang zwischen Staatsausgaben und den zur Finanzierung notwendigen Steuern stärker offensichtlich macht. 57 Siehe Ralph A. Rossum, Federalism, the Supreme Court, and the Seventeenth Amendment: The Irony of Constitutional Democracy, Lanham, MD: Lexington Books 2001, S. 233−234. Publius hatte die staatliche Ernennung von Senatoren als „absolute Sicherung“ der legitimen Interessen der Staaten angesehen. Vgl. Federalist Nr. 59, in: Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, S. 332. 58 Federalist Nr. 48, in: Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, S. 276. Siehe auch Nr. 73, in: Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, S. 410; Goldwin, From Parchment to Power, S. 63−64.

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unbestimmte Zeit sichern, wie es der Supreme Court (zu einem gewissen Grad) vor 1937 versucht hat. Es ist in dieser Hinsicht auffallend, angesichts der Besorgnis von Brutus über die Befugnisse der föderalen Judikative, dass die stärksten Befürworter der Wiederherstellung der Verfassungsbeschränkungen des Kongresses im Namen des Föderalismus heute auf den Einfluss der Gerichte hoffen. Zum Beispiel erklärt der Staatsrechtler Michael Greve, der den „echten Föderalismus“ mit der Begründung wiederherstellen will, dass er einen wirtschaftlich vorteilhaften Wettkampf unter den Landesregierungen fördere, dass „niemand außer den Gerichten“ die föderale Regierung daran hindern könne, „den staatlichen Wettbewerb zugunsten monopolistischer Strukturen“ auszuhebeln, und dass „die gerichtliche Vollstreckung“ der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Befugnisse der Bundesregierung ein „Prüfstein“ des Föderalismus sei.59 Auf den juristischen Aktivismus zu setzen, um wiederherzustellen, was der Rechtswissenschaftler Randy Barnett die „verlorene Verfassung“60 nennt, ist jedoch wahrscheinlich schlimmer als die Ursache. Und zwar aus dem Grund, dass der tiefste Wert des amerikanischen föderalen Systems, und die teilweise lokale Autonomie, der es zum Schutz dient, im Bereich dessen liegt, was Tocqueville Moeurs (Moral und Sitten) nannte. Die primäre Bedrohung für diesen Aspekt von Selfgovernment stammt heute aus einer von Tocqueville oder den Anti-Federalists nicht vorgesehenen Richtung: die Anwendung des vierzehnten Amendements, durch eine aktivistische Justiz seit den späten 1950er Jahren, in Verbindung mit der Bill of Rights, die die Anti-Federalists befürwortet hatten, um die Fähigkeit der gewählten staatlichen Regierungen und der lokalen Regierungen zu untergraben, die moralischen Grundlagen der politischen Freiheit anzugreifen (ein Thema, das sowohl bei Tocqueville als auch bei den Anti-Federalists tiefe Besorgnis auslöste). Das Vehikel für diese Umwandlung war die Lehre, dass das Amendement die Garantien, die in der Bill of Right eingeschlossenen sind, „enthalte“, so dass sie auch gegen die Staaten angewendet werden können. In den vergangenen sechzig Jahren hat die Anwendung dieses Grundsatzes, in Verbindung mit der Auffassung des Obersten Gerichtshofs, der eine quasi nietzscheanische Lehre von der „Selbstverwirklichung“ in der Verfassung vertritt, in solchen Prozessen, wie der Beseitigung der Beschränkungen bei Abtreibung, dem Verbot religiöser Zeichen in städtischen Gemeinden oder dem Gebet auf Schulfeiern, der Begrenzung der Fähigkeit der örtlichen Gemeinschaften, Demonstrationen von Hassgruppen, zum Beispiel von Nazis, zu unterbinden, oder der Einschränkung der Verbreitung von Pornografie, der Handhabung der gesetzlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehe etc., die föderalen wie staatlichen Richter zu Aufsehern unseres täglichen Lebens in einer Weise gemacht, die sich weder die Verfasser der 59 Michael Greve, Real Federalism, Washington: AEI Press 1999, S. 14. Zur Notwendigkeit „einer durchsetzungsstarken Rolle des Gerichtshofs“ bei der Erhaltung der föderalen „verfassungsmäßigen Grenzen“ siehe Greve, Real Federalism, S. 16. 60 Randy E. Barnett, Restoring the Lost Constitution: The Presumption of Liberty, Princeton: Princeton University Press 2004.

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Verfassung noch die Autoren der vierzehnten Änderung vorstellen konnten.61 Es ist in diesem Sinne bemerkenswert, dass die Befürchtungen der Anti-Federalists vor einer unverantwortlichen Regierung durch ein „aristokratisches“ Gremium erfüllt wurden. Während die anglo-amerikanischen Juristen, von denen Tocqueville schrieb, sich durch ihren angeborenen Konservatismus und Formalismus auszeichneten, so dass ihre aristokratische Perspektive tatsächlich der Sache der konstitutionellen Regierung diente, haben im Laufe der Zeit die grandiosen Ambitionen und die Distanz oder die Opposition gegen die Anliegen der einfachen Bürger, von denen die Anti-Federalists befürchteten, dass sie den Kongress bestimmen werden, viele Bundesrichter und die sie ausbildenden Rechtsgelehrten geprägt.62 Eine große Ironie der amerikanischen Verfassungsgeschichte besteht darin, dass die Bill of Rights, die die Anti-Federalists zur Bedingung der Ratifizierung der Verfassung gemacht haben, letztendlich zum Vehikel wurde, durch das die von Brutus befürchtete Vormachtstellung der Judikative erreicht wurde.63 Die Erklärung dieses Paradoxons liegt darin, dass die Anti-Federalists in der Bill of Rights keine Reihe von gerichtlich durchsetzbaren Beschränkungen der staatlichen oder

61 Ich gehe hier nicht auf die Frage ein, was die Verfasser des vierzehnten Amendements intendierten, als sie die Bill of Rights als Schutzrechte gegen die Staaten integrierten. Während viel dafür spricht, dass sie solche Grundrechte, wie die Freiheit der Rede und der Religion, als „Privilegien und Schutzrechte der Bürger der Vereinigten Staaten“ verstanden haben, die das Amendement zu schützen habe, behaupten jüngere Forscher, wie Michael Kent Curtis und Michael Zuckert, dass die Autoren keine überspannte Interpretation der im Text aufgeführten Rechte beabsichtigten. Siehe Michael Kent Curtis, No State Shall Abridge: The Fourteenth Amendment and the Bill of Rights, Durham, NC: Duke University Press 1986; Michael Zuckert, „Toward a Corrective Federalism: The United States Constitution, Federalism, and Rights”, in: Ellis Katz, G. Alan Tarr (Hg.), Federalism and Rights, Lanham, MD: Rowman and Littlefield 1996, S. 75−100. 62 Siehe, zum Kontrast zwischen der Vorstellung einer „lebenden Verfassung“, ursprünglich von Woodrow Wilson unterstützt, und Tocquevilles Sicht auf die amerikanische Justiz, Paul Carrese, „Montesquieu, the Founders, and Woodrow Wilson”, in: John Marini, Ken Masugi (Hg.), The Progressive Revolution in Politics and Political Science: Transforming the American Regime, S. 133−162, hier 154−155. Wie Goldwin auf Grundlage seine Gründungslehre bemerkt hat, behauptete der (politisch nicht verantwortliche) Oberste Gerichtshof für sich das Recht auf ein Veto gegen die staatliche Gesetzgebung, das Madison erfolglos dem Kongress zuzuordnen suchte. (Goldwin, From Parchment to Power, S. 59, 139). 63 Gary McDowell schreibt, dass die Voraussetzung für den Ausbau der Machtbefugnisse der Justiz (vor der die antifederalistischen Federal Farmer und Brutus warnten), in der Zweideutigkeit der Erweiterung der Bundesgerichtsbarkeit auf „equity“ lag, die die Gerichte Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts begannen, neu zu interpretieren, um Abhilfe für die Klagen ganzer gesellschaftlicher Klassen, anstatt nur von Individuen, zuzulassen. Siehe Gary L.McDowell, „Were the Anti-Federalists Right? Judicial Activism and the Problem of Consolidated Government”, in: Publius, 12/3 (Summer 1982), S. 99−108; Federal Farmer, Letter III, in: Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, 2.8.43; Brutus, Letter XI, in: Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, 2.9.137−138).

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föderalen Regierungen sahen, sondern sie als Lehre für das Volk selbst konzipierten, um es an seine Rechte zu erinnern und ihm einen Maßstab für die Beurteilung föderaler Politik an die Hand zu geben.64 Auf eine Weise, welche die Ängste der antifederalistischen Schriftsteller als auch die von Jefferson und Tocqueville konkretisierte, scheint mit der Zeit leider das amerikanische Volk viel weniger mit der Usurpationen seines Rechts auf Selbstregierung beschäftigt − was den Weg für die Gerichte öffnet, im Namen einer „lebenden“ Verfassung, die Regeln für unser gemeinsames Leben umzuschreiben.65 In der Tat sind die Gerichte in den vergangenen sechzig Jahren die Vertretung für die Institutionalisierung der Präferenzen kosmopolitischer „Eliten“ auf Kosten der traditionellen, oft religiös basierten Sitten geworden, die Tocqueville als eine Bedingung der Freiheit darstellte.66 Während sich bestimmte Wählerschaften im Protest gegen gerichtliche Usurpationen auf bestimmten Gebieten − z. B. Abtreibung

64 Siehe Federal Farmer, Letter II, in: Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, 2.8.19; Letter VI, 70, Letter XVI, 196; A Farmer, Essay V, in: Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, 4.17.2; Impartial Examiner, Essay I, in: Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, 5.14.10; Herbert J. Storing, What the Anti-Federalists Were for, Chicago: University of Chicago Press 1981, S. 21, 70. Der einzige Hinweis auf die gerichtliche Vollstreckung eines Grundrechtes, den ich in irgendeiner antifederalistischen Schrift entdeckt habe, ist der Artikel in der Liste der von „Agrippa“ vorgelegten Rechte, dass die Bürger nicht von den von ihren in der Bill of Rights eingeräumten Rechten durch die Staatsverfassungen beraubt werden dürfen, und dass „solche Bills of Rights als gültig in jedem Gericht der Vereinigten Staaten gelten, wo sie eingeklagt werden“ (in: Storing (Hg.), The Complete Antifederalist, 4.6.75). Die einzige andere ausdrückliche Äußerung in dieser Hinsicht, die ich unter den Befürwortern einer Bill of Rights (wenn auch nicht eines Anti-Federalists‘) gefunden habe, stammt von Thomas Jefferson, der in einem privaten Brief „die gesetzliche Kontrolle, die [eine Bill of Rights] in die Hände der Judikative“ legt, hervorhebt (Brief an James Madison, 15. März 1789, in Adrienne Koch, William Peden (Hg.), The Life and Selected Writings of Thomas Jefferson, New York: Modern Library, S. 462). Der Präzedenzfall zu der Zeit, als die Verfassung verabschiedet wurde, der die Macht, die eine Bill of Rights den Gerichten gibt, verdeutlicht (wenn auch nicht so, dass ein legislativer Akt als verfassungswidrig erklärt wurde), war der Fall von Quock Walker 1783, bei dem der Oberste Gerichtshof in Massachusetts entschied, dass die Sklaverei verfassungswidrig sei, basierend auf der Erklärung in der neu verabschiedeten Verfassung von Massachusetts, dass alle Menschen frei und gleich geboren seien. Aber Brutus war anscheinend der einzige Anti-Federalist, der voraussah, dass die Bundesgerichte die endgültige Vollmacht beanspruchen würden, die Verfassung zu interpretieren, eine Praxis, für die es kaum einen Präzedenzfall in den Staatsgerichten gab. Vgl. William Winslow Crosskey, Politics and the Constitution in the History of the United States, Chicago: University of Chicago Press 1953, Bd. 2, Kapitel 27. Siehe auch Leslie Friedman Goldstein, „American Innovations in Democratic Decision-Making”, in: David Lewis Schaefer (Hg.), Democratic Decision-Making: Historical and Contemporary Perspectives,Lanham, MD: Lexington Books 2012, S. 44−48, über die rasche Übernahme auf staatlicher Ebene unmittelbar nach der Verfassungsänderung. 65 Über die problematischen Konsequenzen für die Verfassungsfreiheit durch die Erosion der öffentlichen Sittlichkeit als Folge von Justizentscheidungen, die die staatliche „Neutralität“ gegenüber alternativen „Lebensstilen“ fordern, siehe Harry M. Clor, Public Morality and Liberal Society, Notre Dame: University of Notre Dame Press 1996, S. 154−155. 66 Tocqueville, Democracy in Amerika, S. 11, 278−82, 293−5.

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– gegründet haben, gibt es wenig Beweise für eine weit verbreitete Sorge um das Problem der gerichtlichen Usurpation im Namen der konstitutionellen Regierung.67 In den vergangenen vier Jahrzehnten hat der Oberste Gerichtshof zeitweilig halbherzig dafür gekämpft, Spuren eines föderalen Systems zu bewahren, indem er einige der extremsten Ausweitungen der Einflussnahme des Kongresses in lokalen Angelegenheiten und über die Macht der staatlichen Regierungen zurückwies. Wichtige Entscheidungen in dieser Schlacht waren die Urteile National League of Cities v. Usery (1976) (womit die Anwendung der Bundeslohnregelungen für Staatsangestellte für ungültig erklärt wurde), U.S. v. Lopez (1995) (die Verweigerung des Status der Verfassungsmäßigkeit des Gun-Free Schools Act) und United States v. Morrison (2000) (die Zurückweisung der zivilrechtlichen Mittel, die der Kongress gegen „geschlechtsspezifische“ Gewalt zugelassen hat).68 Aber wie die typischerweise enge Thematik dieser Fälle anzeigt, werden die Gerichte nicht die weitreichenden Befugnisse des Kongresses darauf beschränken, was in der Verfassung aufgezählt wurde, um so populäre Programme wie Sozialversicherung, Gesundheitsvorsorge für alte Menschen oder Bundeshilfe für Wohnen und Bildung in Frage zu stellen. Alle Bemühungen um den weiteren Ausbau der Macht der Bundesbehörde auf Gebieten wie der Primar- und Sekundarbildung müssen politisch und nicht auf juristischem Weg bekämpft werden. Zahlreiche Ökonomen sowie politische Theoretiker und Staatsrechtler wie Greve und Barnett haben die Vorteile eines wettbewerbsorientierten Föderalismus hervorgehoben, in dem die Staaten, solange sie erheblichen Einfluss auf die öffentlichen Ausgaben, die Besteuerung und die Sozialpolitik haben, die Einflussmöglichkeiten der Bürger erhöhen und Experimente wie Wohlfahrtsreformen zulassen können, um auf diese Weise sowohl die individuelle Freiheit zu erhöhen als auch die öffentliche Ordnung zu verbessern.69 Ihr Argument liefert ein zusätzliches Argument, sich gegen eine weitere Bundespräsenz in diesen Bereichen auszusprechen. Auch wenn es um die Judikative geht, würden Freunde des Föderalismus in der Regel oft mehr erreichen, wo es wirklich wichtig ist, und zugleich größere Erfolg-

67 Jüngst hat ein Publizist vorgeschlagen, den ideologischen Kampf zwischen antiliberalen Progressiven und Anhängern Trumps durch eine Wiederherstellung des „Föderalismus“ zu entschärfen; durch die Dezentralisierung würden alle Versuche, „die Zersplitterung der amerikanischen Gesellschaft“ zu überwinden, verhindert und stattdessen ein „kultureller Pluralismus“ im Rahmen „einer übergreifenden politischen Einheit“ gedeihen (Paul D. Miller, „The TwentyFirst Century Federalist”, in: Perspectives on Political Science 46/1 (January−March 2017), S. 51−57). Indem allerdings die Notwendigkeit einer (lokale) Regierung als Schutz traditioneller Sitten verneint wird, die sowohl Tocqueville als auch die Anti-Federalists für die Aufrechterhaltung der politischen Freiheit für notwendig hielten, scheitert der Verfasser an dem Versuch, ein adäquates Fundament für die politische Einheit, die er bewahren will, in der Art eines sozialen Zementes, zu benennen. 68 Für einen Überblick und die Kritik an den Bemühungen der Gerichte in dieser Hinsicht, siehe Rossum, Federalism, the Supreme Court, and the Seventeenth Amendment, Kapitel 1 und 7; und für einen sympathischeren, aber pessimistischen Überblick, David B. Rivkin, Lee A. Casey, „Federalism (Cont'd)“, in: Commentary 102/6 (December 1996), S. 47−50. 69 Siehe Greve, Real Federalism, Kapitel 1, 2 und 9.

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saussichten erzielen (weil sie potenziell politische Mehrheiten auf ihrer Seite haben), indem sie gegen anstatt für eine aktive Justiz kämpfen. Die Gerichte aufzufordern, sich aktiver für die Begrenzung der Kongressbehörden einzusetzen, bedeutet unweigerlich, die gerichtliche Intervention in andere Gebiete auszuweiten, wo weit mehr Schaden an den moralischen Grundlagen der Selbstverwaltung angerichtet werden kann. Wer die von den Anti-Federalists und Tocqueville geäußerten Bedenken über die politische Freiheit und ihre Voraussetzungen teilt, sollte heute von der Umwandlung der Bundesjurisprudenz in ein Behelfsmittel für die Etablierung des moralischen Libertinismus weit stärker betroffen sein als von der Erweiterung der Macht des Kongresses auf Gebiete, die früher als lokal betrachtet wurden. 6. LEKTIONEN FÜR EUROPA? Abschließend kann es von Nutzen sein, darauf einzugehen, welche Lektionen die amerikanischen Erfahrungen mit dem Föderalismus für diejenigen bereitstellen, die heute mit der Zukunft der europäischen Integration beschäftigt sind. Natürlich sind die Ursprünge der amerikanischen Union und Europas grundverschieden: Während die Vereinigten Staaten, zumindest in Abraham Lincolns Interpretation, die er in seiner ersten Inaugural Address entfaltet, ihre politische Unabhängigkeit als Nation begannen,70 ist die Europäische Union das Ergebnis von über sechs Jahrzehnten Anstrengung, eine teilweise politische Einheit unter Nationalstaaten zu schmieden, die seit Jahrhunderten vollkommen unabhängig sind, eine Vielzahl von Sprachen sprechen, ganz unterschiedliche kulturelle Traditionen pflegen sowie eine lange Reihe von Kriegen untereinander erlebt haben und historisch durch schärfere religiöse Spaltungen geprägt sind, als es die Vereinigten Staaten je waren. Nichtsdestotrotz hat die Tendenz zur Regulierung eines immer breiteren Gebiets des Bürgerlebens durch eine zentrale „föderale“ Behörde, verbunden mit der zunehmenden Konzentration der politischen Macht bei politischen und administrativen Eliten, die von vielen als verantwortungslos gegenüber dem Volk als Ganzem angesehen werden, die sich in Amerika seit fast einem Jahrhundert und in einem rascheren Tempo in der Europäischen Union beobachten lässt, vor kurzem populistische Reaktionen gegen beide Zentralregierungen hervorgerufen, zu sehen etwa in der Wahl von Donald Trump in den USA und in den Beschwerden über das „demokratische Defizit“ in der EU, die im Brexit gipfelten und möglicherweise noch andere Austritte hervorrufen. Diese parallelen Entwicklungen deuten darauf hin, dass zentralisierende Tendenzen in der EU schon weiter vorangeschritten sind, als mit dem Selbstverständnis vieler Völker in Bezug auf ihr Recht auf Selbstverwaltung und demzufolge ihrer Bereitschaft, sich zu unterwerfen anstatt sich aus einer solchen Vereinigung zurückzuziehen, zu vereinbaren ist. Die wachsende Stärke nativistischer Parteien in Ländern wie Frankreich, Deutschland, Ungarn und Polen − angespornt (wie in der 70 First Inaugural Address, 4. März 1861, in: Roy P. Basler (Hg.), Collected Works of Abraham Lincoln, New Brunswick, NJ: Rutgers University Press 1953, Bd. 4, S. 265.

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Trumpbewegung in den USA) durch die Angst vor Masseneinwanderung, die die Menschen in (möglicherweise unbegründete) ökonomische Bedenken stürzt, vor allem aber ihnen das Gefühl gibt, von kosmopolitischen Weltmännern „herumgeschubst“ zu werden − macht die Notwendigkeit deutlich, den Wunsch der gewöhnlichen Menschen nach bewusstem Selfgovernment zu begegnen und gemeinsame Sitten zu bewahren, wie es bereits die Anti-Federalists und Tocqueville rieten.71 Andernfalls ist zu befürchten, dass der Versuch, die nationale Souveränität unter der Autorität einer transnationalen, unverantwortlichen Bürokratie zu subsumieren, eine zunehmend gefährlichere Gegenreaktion hervorbringt.72 Übersetzung von Skadi Siiri Krause73

71 Der Vorschlag des linken französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty in seinem Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert (Original: Le Capital au XXIe siècle, Paris: Le Seuil 2013, amerikanische Ausgabe: Capital in the Twenty-First Century, Cambridge: Harvard University Press) für ein europäisches „Haushaltsparlament“, das durch indirekte Mittel nach einer Formel, die kaum skizziert wird, ermächtigt werden soll, verschiedene Steuern auf Kapital zu erheben, um „unzulässige“ wirtschaftliche Ungleichheit zu bekämpfen und einen internationalen Steuerwettbewerb zu verhindern, der dazu bestimmt ist, Investitionen zu steigern, geht genau in die falsche Richtung, wie ich in meinem Aufsatz: „Thomas Piketty's 'Remedies' for Oligarchy: Exacerbating and Globalizing the E.U.'s 'Democracy Deficit‘“, in: Ann Ward (Hg.), Classical Rationalism and the Politics of Europe, Cambridge: Cambridge Scholars Publishing 2017) zeige. 72 Beachten Sie die vom französischen politischen Theoretiker Pierre Manents nüchtern vorgetragene Warnung vor den Gefahren, die der Europavision zeitgenössischer „kosmopolitischer“ intellektueller Elite innewohnen. Manent spricht von einer „Demokratie ohne Nationen“ in „einer Welt jenseits der Politik“. Siehe Pierre Manent, A World beyond Politics? A Defense of the Nation-State, übers. v. Marc LePain, Princeton: Princeton University Press 2006; Pierre Manent, Democracy without Nations? The Fate of Self-Government in Europe, übers. v. Paul Seaton, Wilmington, DE: ISI Books 2007. 73 Ich danke Jeremie Kreitz für die kritische Überprüfung. S.K.

TOCQUEVILLE UND DAS PROBLEM DER ARMUT Alan S. Kahan Tocqueville war kein Ökonom und das Problem der Armut war nicht zentral für sein Verständnis der modernen Gesellschaft. Trotzdem sah er ökonomische Prozesse und vor allem das Problem der industriellen Armut als eine der wichtigsten zu lösenden Fragen seiner Zeit. Die Betrachtung seiner Schriften zeigt ein nachhaltiges Interesse an Fragen der Armut in der modernen Gesellschaft. Seiner Ansicht nach war das wachsende Problem der industriellen Armut eine Folge der Entwicklung der modernen demokratischen Gesellschaft und stellte eine Bedrohung für die demokratische Freiheit dar, die sowohl private als auch öffentliche Antworten erforderte. Dem durchschnittlichen Leser von Tocqueville kann vergeben werden, wenn er dies übersieht. Wirtschaftliche und soziale Fragen erscheinen nicht allzu oft im ersten Band von Über die Demokratie in Amerika, es sei denn indirekt, durch den Verweis auf die demokratische Besessenheit, Geld zu verdienen. Sie tauchen auch nur flüchtig im zweiten Band auf und ihre Rolle in Der Alte Staat und die Revolution ist sekundär und rein historisch. Wenn sie in den Erinnerungen eine größere Rolle spielen, scheint dies ein Zufall zu sein und im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1848 zu stehen. Das Problem der Armut ist nicht zentral für diese Werke, denn nach Tocquevilles Ansicht bedeutete es für Frankreich keine Frage von Leben und Tod oder eine unmittelbare Bedrohung der Freiheit in demokratischen Gesellschaften. Er glaubte allerdings, dass es ein solches Problem werden könnte, weshalb er während seines gesamten Berufslebens dachte, dass „eine gleichberechtigte Aufteilung von Gütern und Rechten in dieser Welt das größte Ziel ist, dass sich diejenigen, die die gesellschaftlichen Prozesse steuern, sich selbst setzen können“.1 Ökonomische Fragen zogen das Interesse von Tocqueville frühzeitig an. Als er noch ein Jurastudent war, las er die Arbeit des prominenten liberalen Ökonomen Jean-Baptiste Say. Tocquevilles Aufmerksamkeit wurde auf das Problem der Armut durch seine Reise nach England im Jahre 1833 gelenkt. Zu der Zeit arbeiteten die Engländer an einer radikalen Reform des „Armengesetzes“. Der Poor Law Amendement Act von 1834 sollte dazu dienen, ein System von finanziellen Mitteln, welches bis auf das Jahr 1601 zurückreichte, durch ein Gesetz zu ersetzen, das gegebenermaßen geeigneter für die modernen Bedingungen war. Tocqueville stu-

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Tocqueville an Madame Swetchine, 10. September 1856, in: Alexis de Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville et de Francisque de Corcelle, Œuvres complètes, Bd. XV/2, hg. v. Pierre Gibert, Paris: Gallimard 1983, S. 291−92.

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dierte sehr sorgfältig die reformierte englische Armengesetzgebung und ihre Auswirkungen.2 Als er England im Jahre 1835 wiederbesuchte, war er schockiert über die schlimme Armut, die er im industriellen Manchester sah. Seine Ausführungen über Manchester sind zum Klassiker geworden: „Aus diesem Pfuhl strömt der größte Strom menschlicher Schaffenskraft, um die ganze Welt zu befruchten. Aus diesem schmutzigen Siel fließt reines Gold. Hier erreicht die Menschheit ihre vollkommenste und ihre bestialischste Entwicklung; hier schafft die Zivilisation ihre Wunder, und der zivilisierte Mensch ist fast wieder zum Tier geworden“. 3

Auch wenn England Tocqueville lehrte, die Auswirkungen der Industrialisierung zu fürchten, so galt seine Aufmerksamkeit doch stets Frankreich, und seine Schriften über Armut und Ökonomie waren auf Frankreich gerichtet. Im Jahre 1835 schrieb er sein erstes Mémoire sur le paupérisme für die königlich-akademische Gesellschaft von Cherbourg. Einen „Zweiten Bericht“, der jedoch nie fertiggestellt wurde, entwarf er 1837 für die gleiche Gesellschaft. Wenn wir heute die „Berichte“ lesen, scheinen sie eine merkwürdige Mischung aus Philosophie, Wirtschaftskunde und politischem Statement zu sein. (Allgemeine) Bedenken hinsichtlich der wirtschaftlichen, moralischen und politischen Effekte von Maßnahmen zum Abbau der Armut waren typisch für die Haltung von Tocqueville. In einem Brief von 1834 schrieb er: Während „alle Bemühungen der politischen Ökonomie sich in unserer Zeit auf materielle Fragen zu richten scheinen, würde ich gerne [...] die immaterielle Seite dieser Wissenschaft hervorheben [...], einschließlich der Vorstellungen und moralischen Gefühle als grundlegende Elemente von Wohlstand und Glück [...], um den Spiritismus zu rehabilitieren [...].“ 4

Tocqueville folgte damit den Fußstapfen von Adam Smith, Rousseau und anderen Theoretikern der „Handelsgesellschaft“ im achtzehnten Jahrhundert; und weniger der sich entwickelnden klassischen Schule des ökonomischen Denkens. Tocquevilles Perspektive offenbart sich bereits im ersten Bericht über den Pauperismus. Es erinnert an Rousseaus Beschreibung der Menschen im Naturzustand, wo sie alle gleich sind, bis das Privateigentum, vor allem das Landeigentum, eingeführt wird. Das unmittelbare Ergebnis ist Ungleichheit. Aber während Rousseau denkt, dass von da an alles bergab geht, nimmt Tocqueville die optimistischere Perspektive von Montesquieu, Smith und Say ein. Für Rousseau wächst die Ungleichheit unweigerlich weiter. Tocqueville änderte Rousseaus Darstellung durch die Beschreibung von Gleichheit am Ende der Geschichte: „sehr zivilisierte Männer können alle gleich werden, weil sie alle ähnliche Mittel haben, um Komfort und Glück

2 3 4

Michael Drolet, Tocqueville, Democracy, and Social Reform, London: Palgrave 2003, S. 36– 53, 95–114; Eric Keslassy, Le libéralisme de Tocqueville à l’épreuve du paupérisme, Paris: L’Harmattan 2000, S. 43. Alexis de Tocqueville, Voyages en Angleterre, Irlande, Suisse et Algérie, Œuvres complètes, Bd. V/2, hg. v. Jacob P. Mayer und André Jardin, Paris: Gallimard 1958, S. 79−82. Tocqueville an Louis de Kergorlay, 28. September 1834, in: Alexis de Tocqueville, Correspondance d’Alexis de Tocqueville et de Louis de Kergorlay, Œuvres complètes, Bd. XIII/1, hg. v. André Jardin, Paris: Galimard 1977, S. 361.

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zu erreichen. Zwischen diesen beiden Extremen [dem Naturzustand und einer hohen Zivilisationsstufe] findet sich Ungleichheit [...].“ Die moderne Welt ist am Ende der Periode der Ungleichheit angekommen. Die demokratische Gesellschaft, die auf Gleichheit beruht, steht nun an.5 Im Gegensatz zu Rousseau begrüßt Tocqueville die neuen Bedürfnisse der Menschen nach besserem Essen, hochwertigerer Kleidung, Wohnstätten und Luxus aller Art. Rousseau dagegen verurteilte jeden wahrgenommenen neuen Bedarf als eine weitere Verschlechterung von Körper und Seele. Nicht so Tocqueville. Für ihn, wie für Smith und Say, ist es gut, dass sich „die Armen und Reichen, jeder in seiner Sphäre, neue Freuden vorstellen, die ihren Vorfahren unbekannt waren“. Es ist gut, dass „eine ungeheure Anzahl neuer Waren in die Welt eingeführt worden ist [...]. Das Leben des Bauern wurde angenehmer und bequemer, das Leben des Großeigentümers vielfältiger und aufwendiger; Komfort wurde für die Mehrheit erreichbar“.6 Aber „diese glücklichen Erfolge sind nicht ohne die notwendigen Kosten erreicht worden“. Die neuen Bedürfnisse stellen eine paradoxe Gefahr dar. Je wohlhabender eine Gesellschaft ist, desto vielfältiger und langlebiger werden die Freuden der meisten, desto mehr wird aber auch wahre Notwendigkeit mit Gewohnheit und Nachahmung verwechselt. Der zivilisierte Mensch ist also unendlich mehr den Wechselfällen des Schicksals ausgesetzt als der wilde Mensch. „Ein Wilder beklagt sich, wenn er Hunger leidet. Ein zivilisierter Mann beschwert sich, wenn er kein Dessert haben kann. Der zivilisierte Mann hat viel mehr Anlass zur Beschwerde.“7 Das ist ein rousseauistisches Argument, aber Tocqueville betont, im Gegensatz zu Rousseau, dass die Entwicklung im Ganzen positiv ist. Doch es ist eines von Tocquevilles Verdiensten, dass das Positive ihn nicht blind gegenüber den negativen Auswirkungen macht − vor allem für die Bedrohungen der Freiheit, die daraus entstehen können. In einer demokratischen Gesellschaft sagt uns der „Bericht“, werden sich die armen Menschen in einer besonderen Weise benachteiligt fühlen, und diese Unzufriedenheit kann zur Revolution führen. Den gleichen Punkt greift er in seinen Erinnerungen an die Revolutionen von 1848 auf.8 Neben den Gefühlen des relativen Mangels, wie die politischen Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts dieses Phänomen beschreiben würden, weist Tocqueville auf ein anderes ökonomisches Problem hin, das in einer modernen demokratischen Gesellschaft nicht vermieden werden kann. Die Entwicklung der Zivilisation bringt immer mehr Menschen dazu, ihre Felder zu verlassen, um in den neuen Fabriken zu arbeiten, die die neuen Bedürfnisse bedienen. Dieser Prozess geht unvermeidlich mit einer sozialen und physischen Mobilität Hand in Hand, die die Demokratie kennzeichnet. Aber die Industrie ist ein riskanteres Geschäft als die kleinteilige Agrarwirtschaft. Wenn die Bedürfnisse wachsen, wenn die Produktion 5 6 7 8

Alexis de Tocqueville, Mémoire sur le paupérisme, in: Alexis de Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, hg. v. Françoise Mélonio, Paris: Gallimard 1989, S. 121. Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, S. 122. Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, S. 125. Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, S. 124−25.

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steigt, riskieren immer mehr Menschen aufgrund des Konjunkturzyklus eine plötzliche Arbeitslosigkeit. Ihre größeren Bedürfnisse machen die daraus resultierenden Entbehrungen umso offensichtlicher. Darüber hinaus steigt auch die Zahl der Menschen in absoluter Armut, die nicht mehr selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Das Paradox besteht darin: „Solange die gegenwärtige Dynamik der Zivilisation fortbesteht, wird der Lebensstandard der Mehrheit steigen; die Gesellschaft wird vollkommener und besser informiert sein; das Dasein wird leichter, milder, schöner und länger. Aber zugleich müssen wir uns darauf einrichten, dass die Zahl derjenigen wächst, die auf die Unterstützung ihrer Mitmenschen angewiesen sind, um in den Genuss eines kleinen Teils dieser Vorteile zu kommen. Es wird möglich sein, diese zweifache Entwicklung abzufedern [...]. Aber niemand wird sie aufhalten.“ 9

Was kann getan werden, um diese Bewegung „abzumildern“? Tocqueville sucht nach Abhilfen, und in gewissem Maße findet er sie da, wo er bereits die Lösung für andere, von der demokratischen Gesellschaft aufgeworfene Probleme gefunden hat: In Amerika, wo die Kunst der Vereinigung, ein aufgeklärtes Eigeninteresse und der Glaube gedeihen. Tocqueville unterscheidet, nicht immer ganz klar, zwischen drei verschiedenen Möglichkeiten, den Armen zu helfen: rechtliche Ansprüche, private Wohltätigkeit und öffentliche Wohltätigkeit. Rechtschutz (der verwirrend auch manchmal öffentliche Wohltätigkeit genannt wird) garantiert den Armen jederzeit ein Recht auf Arbeit und/oder einen gesicherten Lebensunterhalt durch die Regierung. Private Wohltätigkeit geht von Einzelpersonen und privaten Vereinigungen aus. Die öffentliche Wohltätigkeit wird von der Regierung bereitgestellt, aber nur bei außergewöhnlichen Umständen, etwa Naturkatastrophen, oder bei spezifischen Problemen wie Bildung oder Hilfe im Alter. Tocqueville beginnt mit der Betrachtung des rechtlichen Schutzes: „Auf den ersten Blick gibt es keine Vorstellung, die schöner und größer ist [...].“ Aber die Menschen (nicht nur die Armen) haben „eine natürliche Leidenschaft für Untätigkeit“. Sie arbeiten nur aus zwei Gründen: „Die Notwendigkeit zu leben und der Wunsch, die Lebensbedingungen zu verbessern.“ Leider will nur eine „kleine Minderheit“ in der Welt sozial aufsteigen. Das Ergebnis sind arme Menschen, die nicht arbeiten wollen, und die, wenn sie arbeiten müssen, um zu leben, wenig oder kein Interesse daran haben, das Geld zu sparen, das ihnen erlauben könnte, der Armut zu entkommen. Das macht die gesetzliche Wohltätigkeit zu einer ständigen Subvention für „diejenigen, die nichts tun oder die schlechten Nutzen aus ihrer Arbeit ziehen“. In der Praxis hat der edle Impuls der Gesellschaft, sich um ihr kleines Glück zu kümmern, böse Ergebnisse. „Ist es möglich, den fatalen Folgen eines guten Grundsatzes zu entgehen? Ich für mich halte sie für unvermeidlich [...]. Jede Maßnahme, die einen rechtlichen Anspruch auf Dauer festlegt und die institutionellen Voraussetzungen anbietet, schafft damit eine müßige und träge Klasse [...].“

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Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, S. 125−26.

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Den Armen ein formales Recht zur staatlichen Unterstützung zu geben, ist schlecht für die Wirtschaft und schlecht für ihre Seelen.10 Aber Tocqueville ist nicht bereit, es dabei zu belassen. „Wer würde es wagen, einen armen Mann vor Hunger sterben zu lassen, wenn es seine eigene Schuld ist, dass er stirbt? Wer ist bereit seine Schreie und die Gründe für seine Laster zu hören?“11 Tocqueville will nicht die Rolle von Mr. Scrooge oder einem der Industriellen spielen, die Dickens in Hard Times karikiert. Die erste Alternative zur gesetzlichen Hilfe, die Tocqueville betrachtet, ist die private Wohltätigkeit, oft aus einem religiösen Hintergrund. Tocqueville diskutiert mehrere Formen der privaten Nächstenliebe in dem „Bericht“, mehr oder weniger Themen wiederholend, die auch in Über die Demokratie in Amerika gefunden werden können. Er zeigt auf, dass Wohltätigkeit eine wichtige Rolle in demokratischen Gesellschaften spielen kann, indem sie Reich und Arm zusammenführt. Aber er kommt zu dem Schluss, dass die private Philanthropie, so lobenswert und nützlich sie auch ist, nicht etwas darstellt, auf das man sich verlassen kann. Sie reicht nicht aus, hat noch nie ausgereicht und wird immer unzureichender: „Die individuelle Wohltätigkeit scheint wenig ausgeprägt zu sein, wenn sie mit der fortschreitenden Entwicklung der industriellen Klassen und all den Übeln konfrontiert wird, die die Zivilisation mit den unschätzbaren Gütern produziert“.12 Frankreich braucht etwas zwischen rechtlichem Anspruch, der zu vielen schadet, und privater Wohltätigkeit, die nicht ausreichend ist. Tocqueville akzeptiert also die Idee der „öffentlichen Wohltätigkeit“. Er erkennt „nicht nur den Nutzen, sondern die Notwendigkeit der öffentlichen Wohltätigkeit, die bei unvermeidlichen Übeln wie kindlicher Schutzlosigkeit, Altersschwäche, Krankheit und Unzurechnungsfähigkeit erforderlich ist. Ich erkenne sogar ihren vorübergehenden Nutzen in Zeiten öffentlicher Katastrophen an [...]. Ich verstehe sogar die öffentliche Wohltätigkeit, die freie Schulen für die Kinder der Armen öffnet [...].“ 13

Obwohl Tocqueville den nächsten Absatz mit dem Argument beginnt, „dass jedes ständige ordnungsgemäße Verwaltungssystem, dessen Ziel es ist, für die Bedürfnisse der Armen zu sorgen, mehr Elend hervorbringen wird, als es verhindern kann“, hat er bereits eine ziemlich umfangreiche Liste von Regierungsinterventionen gerechtfertigt, die zusammen mit dem „sozialen Sicherheitsnetz“ des zwanzigsten Jahrhunderts oder, bescheidener, mit den Bismarckschen Sozialversicherungssystemen des späten 19. Jahrhunderts vergleichbar sind.14 Sie gingen sicher weit über die Realität hinaus. Vielleicht zu weit. Solche Ideen, wenn sie überhaupt im Jahre 1835 salonfähig waren, dass sie nicht mit Sozialismus assoziiert wurden, wurden zu sehr mit dem katholischen Legitimismus in Verbindung gebracht, um für Tocqueville politisch haltbar zu sein. Das ist vielleicht der Grund, warum er sie in seinem unvollendeten „Zweiten Bericht über den Pauperismus“ fallen ließ.

10 11 12 13 14

Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, S. 128−129, 130−131. Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, S. 129. Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, S. 137−138. Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, S. 137−138. Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, S. 138.

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Stattdessen betont Tocqueville im „Zweiten Bericht“ den moralischen Einfluss von Eigentum, eine politisch vorsichtigere Strategie. Er lobt das französische Beispiel kleiner Ländereien gegenüber dem in England üblichen Großgrundbesitz, indem er behauptet, dass die moralischen und politischen Vorteile der kleinbäuerlichen Landwirtschaft bei weitem die ökonomischen Nachteile aufwiegen, die sie vielleicht habe, und in der Tat ficht er sogar an, dass sie wirtschaftliche Nachteile mit sich bringe.15 Doch für Tocqueville war der Industrialismus die Zukunft, und den Proletariern, nicht den Bauern, galt sein Hauptinteresse. Was könnte getan werden, um „die industriellen Klassen sowohl vor den Missständen, für die sie selbst verantwortlich sind, als auch vor denjenigen, für die sie nichts können, zu schützen“? Die implizite weitere Frage lautet, was kann getan werden, um die Gesellschaft vor den industriellen Klassen zu schützen? Im „Zweiten Bericht“ besteht die Lösung für beide Fragen in der Forderung, den Erwerb von Eigentum durch das Proletariat zu fördern. Tocqueville schlägt mehrere Möglichkeiten vor, wie dies zu bewerkstelligen sei. Bemerkenswert ist, dass er denkt, dass es eines Tages praktisch für die Arbeiter sein werde, erfolgreiche Produktionsgenossenschaften zu schaffen, was aber derzeit noch nicht möglich sei. Deshalb schlägt Tocqueville vor, dass die Regierung eine Kombination aus Sparkasse und Pfandhaus für die Armen schaffe, deren Zinssätze über den marktüblichen liegen, um Sparen attraktiv zu machen und die Einlagen zu nutzen, um Darlehen unterhalb der Marktpreise zu vergeben, so dass den Armen an beiden Enden geholfen werden könne. Dies werde die Armen dazu ermutigen, das notwendige Kapital zu akkumulieren, um sich unabhängig von den Konjunkturen des Marktes für Fabrikarbeit zu machen. Ein lobenswerter Plan, aber ohne großen Einfluss. Vielleicht hat Tocqueville auch so gedacht. Er brach den „Zweiten Bericht“ ab, ohne ihn zu vollenden.16 Drei Jahre später, im zweiten Band von Über die Demokratie in Amerika, der 1840 veröffentlicht wurde, kehrt Tocqueville zum Thema der Armut und der industriellen Entwicklung in demokratischen Gesellschaften zurück. Darin hat er viel von der ökonomischen Perspektive der Berichte über den Pauperismus behalten. Er betrachtet die Industrialisierung als Blick in die Zukunft und die industriellen Krisen als endemisch und unvermeidlich. Er richtet seinen Blick auf die Gefahren, die sie in Bezug auf die Freiheit haben konnten. Doch in seinem Werk ist sein Blick, wenn er soziale und ökonomische Fragen betrachtet, in erster Linie von oben nach unten gerichtet und nicht von unten nach oben. Obwohl er ein verrohtes Proletariat beschreibt, untersucht er in erster Linie die Gefahren für die Freiheit, die von einer neuen industriellen Aristokratie oder einer verstärkten Verstaatlichung der Industrie ausgehen könnten. Obwohl die meisten Kommentatoren Tocquevilles sich auf die industrielle Aristokratie konzentriert haben, ist es die Regierung, in der Tocqueville die größte Bedrohung sieht. Die Bedrohung, die für die Freiheit von einer neuen industriellen Aristokratie ausgeht, wird im Kapitel „Wie Aristokratie aus der Industrie hervorgehen könnte“ 15 Keslassy, Le libéralisme de Tocqueville à l’épreuve du paupérisme, S. 186−187. 16 Tocqueville, Mélanges, Œuvres complètes, Bd. XVI, S. 147−157.

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beschrieben.17 Es war dieses Kapitel, das Tocquevilles Verteidigern in Zeiten diente, in denen der Marxismus dominant war und die Leser wissen wollten, was Tocqueville über die Bourgeoisie zu sagen hatte. Hier wenigstens schien Tocqueville denselben Weg einzuschlagen wie der Verfasser des Kommunistischen Manifests. Marx und Tocqueville treffen sich in dem Bild, das sie von einem unterdrückten und verarmten Proletariat zeichnen, vielleicht auch wegen einer gemeinsamen Quelle, nämlich Adam Smiths Darstellung der Arbeitsteilung in seinem Werk The Wealth of Nations. In Tocquevilles Version: „Je durchgreifender der Grundsatz der Arbeitsteilung angewandt wird, umso schwächer, beschränkter und abhängiger wird der Arbeiter. Die Fertigkeit schreitet voran, der Fertigende zurück.“ Und zusammenfassend: „Was soll man von einem Menschen erwarten, der zwanzig Jahre seines Lebens damit verbracht hat, Stecknadelköpfe herzustellen?“ Diese degradierten Arbeiter sind umso gefährdeter, je irrelevanter ihre Fachkompetenzen werden. „Bald wird dieser nur mehr die Körperkraft ohne geistige Tätigkeit benötigen.“ Tocqueville hätte aus diesem Bild weitreichende Schlussfolgerungen ziehen können, ein Bild, wie er zugibt, das im Widerspruch zu seiner Darstellung der demokratischen Gesellschaft steht, in der die Gleichheit immer größer wird. Aber er bricht ab, teils weil für ihn, im Gegensatz zu Marx, das industrielle Proletariat eine Minderheit und eine Ausnahme in der demokratischen Gesellschaft darstellt. Tocquevilles Proletariat ist mehr Gegenstand des Mitleids als der Motor der Geschichte. Je weiter wir in dem Kapitel voranschreiten, desto mehr verblasst die Ähnlichkeit zu Marx.18 Tocqueville lenkt nämlich seine Aufmerksamkeit vom Arbeiter auf seinen Herren. Für Marx ist die Bourgeoisie die Herrin des Kapitalismus, prädestiniert, bis zur kommunistischen Revolution zu herrschen. Für Tocqueville ist diese neue industrielle Aristokratie „eine Ausnahme, ein Auswuchs, im Ganzen der Gesellschaftsordnung“.19 Die Ähnlichkeit zwischen Kapitalismus und Feudalismus ist nur oberflächlich. Der Arbeiter mag wie ein Leibeigener wirken, der in denselben Lumpen herumläuft, aber wie anders ist der Herr! „Diesen Armen bieten sich wenig Möglichkeiten, aus ihrer Lebenslage herauszutreten und reich zu werden, die Reichen aber werden beständig zu Armen oder sie geben den Handel auf, nachdem sie ihre Gewinne eingeheimst haben. Somit sind die Teile, die die Klasse der Armen bilden, ziemlich beständig; die Angehörigen, aus denen die Klasse der Reichen sich zusammensetzt, sind es nicht.“20

17 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, 2. Band von 1840, 2. Teil, Kapitel 20. 18 Alexis de Tocqueville, Alexis de Tocqueville. Democracy in America. Historical-Critical Edition of De la démocratie en Amérique, hg. v. Eduardo Nolla, übersetzt v. James T. Schleifer, zweisprachige französisch-englische Ausgabe, Indianapolis: Liberty Fund 2009, Bd. 3, S. 982. 19 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 3, 984. 20 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 3, S. 984.

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Anders als im Feudalismus gibt es keine Beständigkeit in dieser neuen Klasse von Herren. Es gibt auch keine wirkliche soziale Hierarchie: „Nicht nur sind die Reichen untereinander nicht fest verbunden, sondern man kann sagen, dass kein wirkliches Band zwischen dem Armen und dem Reichen besteht.“21 Die Idee einer solchen industriellen „Aristokratie“, die tatsächlich ein Land regiert, erscheint für Tocqueville lächerlich, nicht zuletzt, weil der Industrielle, anders als der Feudalherr, kein Interesse an der Regierung hat. Tocqueville beschreibt die industrielle Aristokratie als „eine der härtesten, die jemals auf der Erde existiert hat; sie ist aber zugleich eine der kleinsten und ungefährlichsten.“22 Die Industriellen stellen eine geringe Bedrohung für die Demokratie und die Freiheit dar.23 Was Tocqueville wirklich hinsichtlich der Industrie in der demokratischen Gesellschaft befürchtet, sind nicht ihre Besitzer oder die Arbeiter, sondern die Regierung, die behaupten mag, im Namen beider zu handeln. Der Staat ist die größte Gefahr für die Freiheit. Es ist der Staat, nicht die Fabrikbesitzer oder das Proletariat, auf den er am Ende dieses zweiten Bandes zurückkommt, in dem Kapitel „In den europäischen Nationen der Gegenwart nimmt die oberste Herrschergewalt zu, obwohl die Stellung der Herrscher weniger gefestigt ist“.24 Unter den vielen Ursachen der vermehrten Regierungsmacht, die Tocqueville in diesem Kapitel erörtert, verkündet er „eine bedeutsame Ursache, die unabhängig von all den eben erwähnten ständig beiträgt, den Wirkungsbereich der Staatsgewalt zu erweitern oder seine Vorrechte zu mehren; man hat zu wenig darauf geachtet. Diese Ursache ist die Entwicklung der Industrie [...].“25 Tocqueville kontrastiert die Industrieunternehmen mit den Grundbesitzern. Grundbesitz, das ehemalige Bollwerk der Aristokratie, wurde in vielerlei Hinsicht gegen staatliche Eingriffe geschützt. Land gab seinen Besitzern, ob Bauern oder Herzögen, ein Maß an Unabhängigkeit gegenüber der Regierung. Nicht so gewerbliches Eigentum. „Die industrielle Klasse“, das heißt, die Reichen und Armen, die ihren Lebensunterhalt in der Industrie verdienen, „wird dadurch, dass sie an Zahl wächst, nicht weniger abhängig; im Gegenteil, man könnte eher sagen, sie bringe in ihrem Schoß den Despotismus mit sich, und dieser wachse naturgemäß in dem Grade, wie sie sich entwickelt.“26

Tocqueville führt die Bergbauindustrie als Beispiel für die Abhängigkeit des modernen gewerblichen Eigentums gegenüber dem Staat an. Minen waren einst Eigentum wie jedes anderer. Aber der Staat hatte allmählich die Kontrolle über Minen ausgedehnt, die er oft erfolgreich beschlagnahmte, so dass „die Besitzer in Nutznießer verwandelt wurden. Sie erhalten ihre Rechte vom Staat, und außerdem beansprucht der Staat fast durchweg ihre Leitung“. Als die Bergbauindustrie im Europa des 19. Jahrhunderts weiter wuchs und sich entfaltete, bedeutete dies, dass „die Herrscher unter unseren Füßen ihren Grundbesitz ausdehnten und ihn mit ihren 21 22 23 24 25 26

Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 3, S. 984. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 3, S. 985. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 4, S. 983−985. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 4, S. 1221−1244. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 4, S. 1231. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 4, S. 1234.

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Dienern füllten“.27 Die staatliche Kontrolle der Bergbauindustrie schien unvermeidlich zu sein. Minen waren nur ein Beispiel unter vielen. Die Industrialisierung Europas erforderte mehr „Straßen, Kanäle, Häfen und andere Bauwerke von halböffentlicher Natur“. Wegen der großen Summen waren Privatpersonen zunehmend nicht in der Lage, diese Dinge auf eigene Faust zu errichten, so dass „das offenkundige Streben aller Staatsgewalt unserer Zeit dahin geht, solche Vorhaben allein auszuführen; damit presst sie die Bevölkerung von Tag zu Tag in eine engere Abhängigkeit“.28 Im Wirtschaftsleben war die Vereinigung eine schwache Barriere gegen den Despotismus. Industrieverbände, z. B. Konzerne, waren eher den Regelungen des Staates unterworfen als Einzelpersonen, weil die Öffentlichkeit diese Vorschriften nicht als eine Verletzung der persönlichen Freiheit betrachtete, wie sie es bei einem ähnlichen Eingreifen etwa bei religiösen oder politischen Verbänden getan hätten. Einzelpersonen protestieren nicht, wenn die Unternehmen von der Regierung reguliert wurden, weil sie „diese selben Vereinigungen, die sie so nötig haben, insgeheim oft mit dem Gefühl von Furcht und Neid betrachten, welches sie an ihrer Verteidigung hindert. Die Macht und die Dauer dieser kleinen Sondergesellschaften inmitten der Schwäche und allgemeinen Unbeständigkeit versetzt sie in Erstaunen und Unruhe, und der freie Gebrauch, den jede von ihren natürlichen Befähigungen macht, erscheint ihnen beinahe als gefährliches Vorrecht.“

Sicherlich ist dies eine der genauesten und doch am wenigsten bekannten Vorhersagen Tocquevilles! Das Endergebnis ist, dass „die Souveräne sich immer mehr den größten Teil jener neuen Kraft aneignen, die die Industrie heute in der Welt erzeugt, und sie für ihre Zwecke verwenden. Die Industrie lenkt uns, und sie lenken sie.“29 Die große Bedrohung der Freiheit, die von der industriellen Revolution ausging, war also weder das Proletariat noch die Bourgeoisie. Es war der Staat, ob als Besitzer oder als Regulator, den Tocqueville fürchtete, der Staat, der die Kontrolle über die Wirtschaft, zumindest den industriellen Teil übernahm, und das Leben eines großen und wachsenden Teils der Bevölkerung kontrollierte. Die Zentralisierung steht in Tocquevilles Fokus am Ende des zweiten Bandes von Über die Demokratie in Amerika, eine neue Art der ökonomischen Zentralisierung, von der er fürchtete, dass die Vereinigung in ihr ein unzureichendes Heilmittel sein werde. Der zweite Band, nicht die Fortführung von Tocquevilles Reflexionen über die Armut, war der Beginn seines Nachdenkens über die Gefahr des Sozialismus.

27 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 4, S. 1234−35n.5. 28 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 4, S. 1237. Siehe auch das Kapitel, das Tocqueville entworfen und schließlich verworfen hat: „Über die Art, wie die amerikanische Regierung gegen Assoziationen vorgeht“, in denen er zaudert, inwieweit sich Regierungen in demokratischen Gesellschaften in privaten Verbänden engagieren müssen, um sicherzustellen, dass bestimmte Arten von notwendigen Wirtschaftsprojekten durchgeführt werden, und die Konsequenzen, die dies haben könnte. Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 3, S. 903−904. 29 Tocqueville, Democracy in America/De la démocratie en Amérique, Bd. 4, S. 1239.

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Tocqueville beschäftigte sich weiterhin mit den Bedrohungen der Freiheit, die aus demokratischen Industriegesellschaften erwuchsen. Im Jahre 1843 argumentierte er in einem Zeitungsartikel, dass das Wachstum des industriellen Proletariats und sein außergewöhnlicher Status in der demokratischen Gesellschaft eine Bedrohung für die Freiheit darstellen, wenn auch nur in einer fernen Zukunft: „Von ihnen gehen zweifellos künftige Revolutionen überall in der zivilisierten Welt und auch in Frankreich aus. Aber diese Gefahren sind noch sehr weit weg.“ Armut könne, in der fernen Zukunft, Revolutionen hervorrufen, die der Umverteilung von Eigentum dienen. Der Sozialismus, der in den „Berichten“ nicht namentlich erwähnt wurde, war nun eine Gefahr von unten und von oben. Tocqueville war auch weiterhin bemüht, den Armen zu helfen, zum Teil auch, um solche Revolutionen zu vermeiden. Pläne für den Umgang mit dem Problem der industriellen Armut waren der Kernpunkt von Tocquevilles erfolglosem Projekt, 1847 eine neue politische Partei zu bilden. Obwohl seine neue Partei, die „neue Linke“, nie bei einer Wahl antrat oder mehr als ein paar Dutzend parlamentarische Unterstützer gewann, veranlassten diese Pläne Tocqueville dazu, das Dokument zu verfassen, das als „Fragmente über Sozialpolitik“ bekannt ist.30 Durch solche Vorschläge würde sich die Partei von anderen unterscheiden, die in der Regel keine Antworten auf diese Fragen hatten. Tocqueville hoffte, das öffentliche Bewusstsein wachzurütteln, und es ist bezeichnend, dass er es auf diese Weise tat.31 Die „Fragmente“ beginnen mit Überlegungen zur Reform des französischen Steuersystems. Ziel von Tocqueville ist es, die Armen so wenig wie möglich zu belasten. Er nennt vier Prinzipien. 1) Die ärmsten Menschen sollen von der Besteuerung völlig befreit sein. 2) Der Staat soll nicht das Nötigste besteuern, „denn dann ist jeder verpflichtet zu zahlen und die Armen werden belastet.“ 3) Wenn die Notwendigkeit besteht, das Nötigste oder scheinbar Nötigste zu besteuern, dann sollen die Steuern so niedrig wie möglich ausfallen. 4) Wenn die Steuer hoch ist, „sollte sie proportional zum Reichtum des Steuerpflichtigen sein“. Tocqueville betrachtet auch Zölle und betont, dass der Freihandel für die Armen besser sei − aber er stellt auch fest, dass es einem politischen Selbstmord gleich käme, die französischen Steuern auf landwirtschaftliche Erzeugnisse zu senken.32 Progressive Besteuerung ist also auf Tocquevilles Agenda, unter der Voraussetzung, dass sie nicht dazu dient, den Armen Geld zu geben (als Rechtsanspruch), sondern bezweckt, weniger von ihnen zu nehmen. Der nächste Abschnitt der „Fragmente“ betrifft andere direkte und indirekte Mittel, um den Armen zu helfen. Dieser Abschnitt ist schwer zu interpretieren, denn während Tocqueville eine umfangreiche Liste von Mitteln auflistet, mit denen den Armen geholfen werden könnte, sagt er nirgends, welche er davon unterstützt, und aus früheren und späteren Schriften ist klar, dass er sich gegen einige aussprach. Dennoch kommt er zu dem Schluss, 30 Alexis de Tocqueville, „Fragment pour une politique sociale“, in: Alexis de Tocqueville, Écrits et discours politiques, Œuvres Complètes, Bd. III/2, hg. v. André Jardin, Paris: Gallimard 1985, S. 742−744. 31 Keslassy, Le libéralisme de Tocqueville à l’épreuve du paupérisme, S. 205−211. 32 Tocqueville, Écrits et discours politiques, Œuvres Complètes, Bd. III/2, S. 742.

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dass die bloße Verringerung der Steuerbelastung für die Armen „enorm, aber nicht genug ist“. Er fährt fort, dass „die wahre Bedeutung der Revolution die Gleichheit ist, die gleiche Verteilung der Güter dieser Welt […]. Die Leute behaupten, dass die neue Regierung und die Mittelschicht, die die Regierungsklasse stellt, ihre Pflicht nicht erfüllen werden. Ist das wahr?“ Und nach weiteren rhetorischen Floskeln dieser Art endet das Dokument mit dieser Aussage: “Ein finsteres Bild, dass die Menschen von der Zukunft zeichnen, drohende Gefahren [...]. Ich glaube nichts davon. Was sicher ist, ist weit entfernt, aber nicht weniger ernst zu nehmen“.33 Was sollen wir daraus schließen? Es ist bezeichnend, dass Tocqueville ein soziales Anliegen in seine beabsichtigte Parteiplattform aufnehmen wollte. Er hat sich freiwillig verpflichtet, eine Steuerreform anzustreben, und zwar zumindest in dem Maße einer Absichtserklärung zur Steuersenkung für die Armen. Für seine Zeit war er eindeutig progressiv, vor allem im Hinblick auf das Steuersystem. Aber, wie die Ereignisse von 1848 und seine Antwort auf sie deutlich machten, glaubte er weiterhin, dass die größere Bedrohung der Freiheit nicht von der Armut ausging, sondern von einer Tyrannei der Regierung im Namen einer Beseitigung der Armut. Tocquevilles Erinnerungen beschreiben die Ereignisse von 1848 und reflektieren soziale Fragen. Der Aufstand des Pariser Armen im Juni 1848, eine Revolte mit sozialistischem Beiklang, provozierte eine starke Reaktion bei Tocqueville, sowohl in seinen Erinnerungen als auch in der Nationalversammlung. Frankreich hatte viele Revolutionen und Revolten durchgemacht. Was die Juni-Ereignisse auszeichnete, war, dass ihr „Ziel nicht darin bestand, die Form der Regierung zu verändern, sondern die Organisation der Gesellschaft“. Dies war das Resultat der Verbreitung sozialistischer Ideen unter den Armen, insbesondere der Einstellung, dass „die Güter der Reichen in gewisser Weise auf einem Diebstahl beruhten“, den sie gegenüber den Armen begangen hatten. Tocqueville hielt es für möglich, dass radikale Veränderungen an den Eigentumsrechten eines Tages vorgenommen würden. Wie er es in seinen Erinnerungen darstellt: „Ich bin versucht zu glauben, dass das, was notwendige Institutionen genannt wird, nur Einrichtungen sind, an die man sich gewöhnt hat, und dass in Fragen der sozialen Fonds das Feld der Möglichkeiten viel breiter ist, als es sich die Menschen, die in einer bestimmten Gesellschaft leben, vorstellen können.“

Aber dieses Urteil war nicht als Befürwortung des Sozialismus gedacht. Stattdessen führte Tocqueville nach den Juni-Tagen einen der größten parlamentarischen Angriffe aller Zeiten gegen den Sozialismus.34 Tocquevilles Angriff auf den Sozialismus ist die sogenannte „Rede zum Sozialismus“ oder „Rede zur Frage des Rechts auf Arbeit“, die er am 12. September 1848 gehalten hat. Er antwortete auf eine vorgeschlagene Verfassungsänderung, die jedem Franzosen das Recht auf Arbeit und einen Arbeitsplatz eingeräumt hätte. Nach Tocquevilles Ansicht hätte dies die Regierung dazu verpflichtet, ein universeller Arbeitgeber zu werden „und schließlich der alleinige Eigentümer von allem“ 33 Tocqueville, Écrits et discours politiques, Œuvres Complètes, Bd. III/2, S. 744. 34 Tocqueville, Œuvres complètes, Bd. XII, S. 96−97, 151−52.

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oder zumindest „der große und einzige Organisator von Arbeit zu werden“. Mit anderen Worten, die Einführung eines Rechts auf Arbeit bedeutete die Einführung des Sozialismus.35 Sozialismus trat für Tocqueville in vielen verschiedenen Varianten auf, aber alle besaßen sie drei gemeinsame Züge: einen Appell an rein materialistische Interessen, einen direkten oder indirekten Angriff auf das Prinzip des Privateigentums und vor allem „ein tiefer Argwohn gegenüber der Freiheit, gegenüber der menschlichen Vernunft [...]. Was den Sozialismus charakterisiert, ist ein unaufhörliches Bemühen, alle Arten menschlicher Freiheit zu verstümmeln, zu beschneiden, zu verwerfen; es ist die Idee, dass der Staat nicht nur der Vorsteher der Gesellschaft sein sollte, sondern [...] der Herr eines jeden Mannes.“ 36

Weit davon entfernt, den Weg zur Freiheit zu beschreiten, war der Sozialismus „der Weg zur Knechtschaft“, in der Formulierung von Friedrich Hayek, die er sich von Tocqueville geliehen hat.37 Tocqueville wählte den Vergleich zwischen Sozialismus und Knechtschaft mit Bedacht. Seiner Ansicht nach war der Sozialismus eine Rückkehr zu einem früheren Stadium der Geschichte. Vielleicht auch um seine Gegner zu ärgern, verglich er den Sozialismus mit dem alten Staat in Frankreich. Unter dem Ancien Regime hatte der Staat als Wächter jeder Person gehandelt. Die Französische Revolution hatte die Menschheit von diesen Fesseln befreit. Die Sozialisten wollten die Fesseln wieder einführen. Tocqueville unterschied auch Sozialismus und die Revolution, indem er argumentierte, dass die Revolutionäre, anders als die Sozialisten, an edlere Wünsche als an bloße materielle Bedürfnisse appelliert hätten. Sein auschlaggebendes Argument bestand darin, dass er auf Amerika als dem Land verwies, das sowohl am demokratischsten als auch am feindlichsten gegenüber dem Sozialismus war. Das war ein Beweis dafür, dass „Sozialismus und Demokratie keine voneinander abhängigen Begriffswelten sind. Sie sind nicht nur theoretisch anders [...]. Demokratie erweitert die Sphäre der persönlichen Unabhängigkeit, der Sozialismus schränkt sie ein [...]. Demokratie und Sozialismus haben nur eins gemeinsam − Gleichheit. Aber bemerken Sie den Unterschied. Demokratie zielt auf Gleichheit in Freiheit. Der Sozialismus wünscht Gleichheit in Zwang und Knechtschaft.“

Wie er es in einigen seiner Notizen formuliert hat, ist der Sozialismus „eine neue Form der Sklaverei“.38

35 Tocqueville, Écrits et discours politiques, Œuvres Complètes, Bd. III/3, S. 167−180. Eine vollständige Übersetzung der Rede ins Deutsche findet sich in: Alexis de Tocqueville, Kleine politische Schriften, hg. v. Harald Bluhm unter Mitwirkung von Skadi Krause, Berlin 2006, S. 191−202. Eine vollständige englische Übersetzung ist als Anhang zu finden in: Sharon Watkins, Alexis de Tocqueville and the Second Republic, 1848−1852, Lanham, MD: University Press of America 2003, S. 571–582. 36 Tocqueville, Écrits et discours politiques, Œuvres Complètes, Bd. III/3, S. 192. 37 „Serfdom“ ist Hayeks Übersetzung von „servitude“. Friedrich August von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München: Verlag Moderne Industrie 1944. 38 Tocqueville, Écrits et discours politiques, Œuvres Complètes, Bd. III/3, S. 192.

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Doch Tocquevilles Opposition gegen den Sozialismus machte ihn nicht zu einem doktrinären Gegner staatlicher Intervention in sozio-ökonomischen Angelegenheiten. Es wird oft übersehen oder als bloßes Beiwerk behandelt, dass er in der gleichen Rede die Einführung von „Wohltätigkeit in die Politik“ unterstützt hat. In der Tat stand dahinter eine Idee, die schon seinen politischen Programmentwurf von 1847 bestimmte. In der Rede von 1848 hatte Tocqueville der Französischen Revolution die Idee einer „Pflicht gegenüber den Armen und Leidenden“ zugeschrieben. Weil es nichts gab, was „den Staat dazu zwang, sich anstelle der individuellen Voraussicht und Umsicht oder des Marktes zu begeben [...] nichts, was den Staat ermächtigte, sich in die Angelegenheiten der Industrie einzumischen oder ihr seine Regeln zu diktieren [...]“, bedeutet Hilfe für die Leidenden nicht Sozialismus, „sondern christliche Nächstenliebe im Bereich des Politischen“.39 1848 versuchte Tocqueville die amerikanischen Lösungen auf die französische Demokratie anzuwenden. Seine Rede über den Sozialismus versuchte, Demokratie und Religion bzw. die Französische Revolution mit dem Christentum mit der Behauptung zu versöhnen, dass beide der Gesellschaft dabei dienen, den Armen zu helfen und den Sozialismus zurückzuweisen. Er behielt diese Ansicht auch nach 1848 bei. Im Jahre 1853 schrieb er über die Regierungshilfe für die Armen: „Ich bin mehr und mehr der Meinung, dass wir nicht vermeiden können, etwas in der Art zu tun. Menschlichkeit und öffentliche Gesundheitspflege machen ein solches Gesetz erforderlich“.40 In ökonomischen Fragen, wie auch sonst in seinem Werk, suchte Tocqueville nach Antworten auf die Bedrohungen der demokratischen Gesellschaft in Bezug auf die Freiheit. Gegen solche Bedrohungen nannte er an erster Stelle die Heilmittel, die er in Amerika, dem demokratischsten, freiesten und am wenigsten sozialistischen Land der Welt entdeckt hatte: Vereinigungen, aufgeklärtes Eigeninteresse und Religion − und vor allem Freiheit. Er sprach sich für gemeinnützige Vereinigungen aus, motiviert durch recht verstandenes Eigeninteresse und ein religiöses Selbstverständnis. Er unterstützte Steuerreformen und sogar Regierungsinterventionen im Geiste der Französischen Revolution und der christlichen Wohltätigkeit. Diese Maßnahmen schienen Tocqueville selbst jedoch nicht ausreichend gegenüber der doppelten Bedrohung durch Massenarmut und Staatssozialismus. Die Passagen, in denen er sich über die Zukunft des Privateigentums äußerte, könnten zu dem Schluss führen, dass er nach 1848 mehr als pessimistisch bezüglich der Zukunft des freien Marktes und anderer Arten von Freiheit war, zumindest in Frankreich. Als Aristokrat, der er war, zog er etwas Trost aus dem Leiden der Bourgeoisie. Tocquevilles viele Ausdrücke der Abneigung gegenüber den Mittelschichten und dem Handelsgeist können auch zu dem Schluss führen, dass mit einem Freund wie diesem, der Kapitalismus keine Feinde braucht.

39 Tocqueville, Écrits et discours politiques, Œuvres Complètes, Bd. III/3, S. 192. 40 Alexis de Tocqueville, The Old Regime and the Revolution, hg. v. François Furet, Françoise Melonio, übersetzt v. Alan S. Kahan, Chicago: University of Chicago Press 2001, Bd. 2, S. 368.

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Doch Tocqueville war ein Anhänger des freien Marktes, da er ein Freund aller Freiheiten war. Sozialismus, egal wie „demokratisch“, war für ihn wegen der Einschränkungen, die er der individuellen Freiheit auferlegte, keine akzeptable Option. In der Beschäftigung mit Armut blieb die Freiheit für Tocquevilles an oberster Stelle. Allerdings stellte die Armut selbst, insbesondere die zunehmende städtische Armut, die mit der Industrialisierung verbunden war, auch eine Bedrohung der Freiheit dar. Weil sie eine Bedrohung für die Freiheit war, befürwortete Tocqueville kraftvolle Maßnahmen, einschließlich einer Steuerreform und sogar staatliche Wirtschaftsintervention. Damit ging Tocqueville weit über das hinaus, was der typisch französische liberale Politiker seiner Zeit befürwortete. In Hinblick auf soziale Fragen, wie auch in vielen anderen Dingen, war Tocqueville ein Liberaler neuer Art. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Skadi Siiri Krause

ALEXIS DE TOCQUEVILLE ÜBER DIE UNERFÜLLTEN VERSPRECHEN DER DEMOKRATISCHEN REVOLUTION Jimena Hurtado 1. EINLEITUNG Tocqueville, bekannt für seine Analyse der Demokratie und seine weitreichenden Prognosen, war ein scharfer Beobachter und ein aktiver Teilnehmer am politischen Leben seiner Zeit. Als mehrmaliges Mitglied des Parlaments verband Tocqueville seine akademischen und politischen Bestrebungen in dem Bemühen, mehr Verständnis und aktive Unterstützung für die neuen demokratischen Zeiten zu generieren. Auch wenn er sich nie einer politischen Partei angeschlossen hat, partizipierte er 1847 an einer Gruppe, die eine neue politische Plattform bildete: die neue Linke (la Jeune Gauche). In dem Programmentwurf, den Tocqueville für diese Gruppe schrieb, sprach er an, was ihm die dringende Aufgabe in Bezug auf die ärmsten Klassen der Gesellschaft erschien. Er verließ schließlich die Gruppe, weil sie nicht seine Pläne, die Regierung zu drängen, auf diesem Gebiet zu handeln, unterstützte. Aber dieser Text, sowie seine am 27. Januar und am 12. September 1848 vorgetragenen Berichte, die er kurz vor und nach der Februarrevolution geschrieben hat, also am Ende der Orleans-Monarchie und zu Beginn der Zweiten Republik, zeigen seine tiefe Besorgnis über die Situation der Armen und die unerfüllten Versprechungen der Demokratischen Revolution. Von Beginn an, betrachtet man die Passagen im zweiten Band Über die Demokratie in Amerika und die beiden Berichte über den Pauperismus, äußerte Tocqueville seine Sorgen über das Schicksal der industriellen Klasse, die in den expandierenden Industriezweigen tätig war, und das neue Phänomen des Pauperismus in industriellen Demokratien.1 Nach einer Englandreise begann Tocqueville, die Ursachen der Armut in den Industrieländern zu erforschen. Im Jahre 1835 1

Vgl. Jimena Hurtado, „L'inégalité aux temps de l'égalité: démocratie, industrialisation et paupérisme chez Alexis de Tocqueville“, in: Cahiers d'économie politique/Papers in Political Economy 59 (2010), S. 89−117; Richard Swedberg, Tocqueville’s Political Economy, Princeton: Princeton University Press 2009; Cyrille Ferraton, „L'idée d'association chez Alexis de Tocqueville“, in: Cahiers d'économie Politique/Papers in Political Economy 1/46 (2004), S. 45−65; Chad Alan Goldberg, „Social Citizenship and a Reconstructed Tocqueville“, in: American Sociological Review 66/2 (2001), S. 289−315; Eric Keslassy, Le libéralisme de Tocqueville à l’épreuve du paupérisme, Paris, L'Harmattan 2000; Eric Keslassy, „Tocqueville, ou la proposition d’un nouvel État“, in: Alternatives économiques, L’Économie Politique 11 (2001), S. 99−106, URL: http://www.cairn.info/revue-l-economie-politique-2001-3-page-99.htm (letzter Aufruf: 16.04.2017).

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veröffentlichte er sein erstes Mémoire sur le paupérisme und 1837 begann er ein zweites Mémoire, das er jedoch nicht beendete und das zu seinen Lebzeiten auch nicht veröffentlicht wurde. In beiden Texten analysierte Tocqueville die unsichere Situation der Industriearbeiter und erforschte mögliche Alternativen, um ihr, angesichts der Unzulänglichkeit der privaten Wohltätigkeit, angemessen zu begegnen. Der zweite Teil des zweiten Bandes von Über die Demokratie in Amerika enthält ein Kapitel, wo er erklärt, wie aus der Industrie eine Aristokratie entstehen könnte, und zeigt, wie die industrielle Aristokratie ihre Arbeiter der öffentlichen Wohlfahrt überlässt, nachdem sie sie verarmt und verrohen lassen hat.2 Diese Situation verdient nach Tocqueville besondere Aufmerksamkeit, denn wenn die Demokratie bewahrt werden soll, muss verhindert werden, dass Ungleichheit und Aristokratie die soziale Ordnung gefährden.3 Tocqueville sah sich als politischer Berater für demokratische Zeiten und arbeitete an dem, was er die neue politische Wissenschaft nannte, um die Demokratie besser zu verstehen und steuern zu können,4 indem er harte Wahrheiten über die negativen Tendenzen, die die Gleichheit mit sich brachte, aufdeckte, so dass seine Zeitgenossen sie abwenden und vermeiden konnten.5 Die Erforschung seiner Hinweise und Analysen ermöglicht heute die Rekonstruktion eines Teils der liberalen Tradition des politischen Denkens über Armut, die wieder von besonderer Bedeutung sein könnte. Armut, als Bedrohung für die Demokratie, gefährdet wegen ihrer negativen Konsequenzen die Staatsbürgerschaft, die bewusste Partizipation und Integration der Bürger in das Gemeinschaftsleben und die öffentlichen Debatten. Armut bedeutete für Tocqueville, nicht an den Leistungen und Vorteilen von Demokratie und Freiheit teilzuhaben; sie konnte die positiven Wirkungen des Marktes unterlaufen, die Ungleichheit erhöhen und soziale Bindungen auflösen. Wenn man sich auf Tocqueville beruft, eröffnet das Thema darüber hinaus die Möglichkeit, soziale Ausgrenzung als ein mögliches Ergebnis der industriellen Demokratien zu analysieren.6 Die mit dem Individualismus verbundenen Risiken und die Konzentration des Reichtums führen danach zu einer Koexistenz von formaler Gleichheit der Bürger und tatsächlicher Ungleichheit der Individuen, die die Chancen und Möglichkeiten der Ausübung von Freiheit einschränkt. So wird der natürliche Drang, den demokratische Völker für die Freiheit hegen, durch ihre Leidenschaft 2 3 4 5 6

Alexis de Tocqueville, Democracy in America. Historical-Critical Edition of De la démocratie en Amérique, hg. v. Eduardo Nolla, Indianapolis: Liberty Fund 2009, Bd. 3, S. 984. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 985. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 693−694. Enrique Aguilar, Alexis de Tocqueville. Una lectura introductoria, Buenos Aires: Edit. Sudamérica 2008, S 125−126. Tocqueville ist nicht allein in seinem Versuch, die neue Gesellschaft zu entschlüsseln, die nach der demokratischen Revolution entstanden ist. Lyon-Caen stellt verschiedene Analysen anderer Autoren vor, die in der Juli-Monarchie versuchen, die neue soziale Dynamik in der Literatur, in Romanen und Sittengemälden zu erklären. Unter ihnen sind Autoren, die von dem Glauben geleitet werden, dass Regierungen „mit ausreichend Information und Wissen“ über die soziale Dynamik handeln müssen. Judith Lyon-Caen, „Saisir, décrire, déchiffrer: les mises en texte du social sous la monarchie de Juillet“, in: Revue historique 2/630 (2004), S. 303−331.

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für die Gleichheit gekontert, was sie dazu führt, freiwillig auf ihre Freiheit zu verzichten, wenn nichts getan wird, um das Entstehen einer neuen Aristokratie zu verhindern. Allerdings bedeutet die Lösung, die Tocqueville befürwortet, nicht, die Industrie dem Staat zu unterstellen, weil dies bedeutet, die Aussichten zukünftiger Generationen den Entwürfen der Regierungen anheimzustellen und damit ihre Abhängigkeit zu erhöhen.7 Tocqueville hat zwei Lösungen im Auge, die der Möglichkeit der Herausbildung einer neuen Aristokratie und der Verelendung der Arbeiterklasse entgegenwirken könnten. Auch wenn er es für nahezu unmöglich hält, dass beide Lösungen zu seinen Lebzeiten in die Praxis umgesetzt werden, hofft er, dass demokratische Regierungen mit der Einführung der notwendigen Voraussetzungen für ihre Verwirklichung beginnen werden. Die erste ist die Demokratisierung des gewerblichen Eigentums, und die zweite ist die Schaffung von Finanzinstituten, die das Sparen fördern und eine Art Arbeitslosenversicherung für Arbeiter schaffen. Im Folgenden werde ich Tocquevilles Diagnose der Situation vorstellen (Abschnitte I und II) und anschließend seine politischen Empfehlungen darlegen (Abschnitt III). 2. INDUSTRIALISIERUNG UND INDUSTRIELLE KLASSE Im 20. Kapitel des zweiten Teils des zweiten Bandes von Über die Demokratie in Amerika, der 1840 veröffentlicht wird, geht Tocqueville der Möglichkeit einer neuen Aristokratie nach, die sich in demokratischen Zeiten als Folge des Industrialisierungsprozesses bilde. Handel und Industrie gedeihen, aber nicht jeder profitiere davon.8 Im vorangegangenen Kapitel hatte Tocqueville gezeigt, dass demokratische Individuen, die weder reich genug sind, um in Müßiggang zu leben, noch arm genug, um Angst vor Bedürftigkeit zu haben, einen fast unersättlichen Drang nach materiellem Wohlbefinden entwickeln und den starken Wunsch verspüren, ihr Leben zu verbessern.9 Industrie und vor allem der Handel scheinen die Möglichkeit zu bieten, ihre Wünsche zu befriedigen, und eine ständig wachsende Anzahl von Einzelpersonen wird darin involviert.10 Nach Tocqueville sind Industrie und Handel für den größten Teil des Wachstums Amerikas verantwortlich, da die meisten Amerikaner in der Industrie arbeiten, „und aus demselben Grund unterliegen sie sehr unerwarteten und sehr schrecklichen industriellen Krisen“.11 Tocqueville betrachtet solche Krisen als eine „Krankheit, die unter den demokratischen Nationen unserer Zeit endemisch“ ist, und die nicht beseitigt werden kann.12 Der Charakter der demokratischen Individuen erklärt dieses strukturelle Risiko. Ständiger Wandel und Mobilität, größere und risikoreichere Gewinnaussichten und Projekte, der Wunsch nach materiellem Wohlbefinden 7 8 9 10 11 12

Siehe Aguilar, Alexis de Tocqueville. Una lectura introductoria, S. 140, Fn 14. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 972. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 972−973. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 973−977. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 977. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 977.

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und die Leidenschaft für Gleichheit machen die industriellen Demokratien instabil. Individuen suchen nach dem Günstigen und streben ständig danach, neue Quellen von Reichtum aufzutun. Gleichzeitig macht die wirtschaftliche Entwicklung der Industrialisierung die Demokratien besonders anfällig für Krisen. Die zunehmende Interdependenz zwischen lokalen, nationalen und internationalen Märkten, riskante Investitionen, die Instabilität der Nachfrage und die Urbanisierung sind einige der Elemente, die Krisen in demokratischen Zeiten wahrscheinlicher machen.13 Das Wachstum der Industrie begünstigt die Spezialisierung und die Teilung von Arbeit und zieht mehr Kapital an. Beide Tendenzen verdienen die besondere Aufmerksamkeit der Gesetzgeber, weil sie einen besonders gefährdeten und zudem wachsenden Teil der Bevölkerung unmittelbar betreffen.14 Die negativen Auswirkungen, die sie haben können, sollten ernst genommen werden. So wird einerseits der spezialisierte Industriearbeiter „täglich gewandter und weniger einfallsreich, und man kann sagen, dass er als Mensch in dem Grade an Wert einbüßt, wie er sich als Arbeiter vervollkommnet.“15 Wenn sie alle ihre Fähigkeiten und Intelligenz auf die spezifische Aufgabe richten, die sie verwirklichen, wird der Arbeiter unbeweglich inmitten „der universellen Bewegung“,16 die ihn umgibt und unfähig, irgendeine andere Aufgabe zu erfüllen.17 Die soziale Mobilität ist für ihn nicht gegeben. Und je „mehr das Prinzip der Arbeitsteilung angewandt wird, umso schwächer, beschränkter und abhängiger wird der Arbeiter“.18 Andererseits verbessert sich die Lage der Herren: Ihre Erwerbstätigkeit erfordert einen offenen Geist, der in der Lage ist, kleine Details zu verfolgen, ohne das große Ganze aus den Augen zu verlieren. „Bald wird dieser nur mehr die Körperschaft ohne geistige Tätigkeit benötigen; jener bedarf zum Gelingen des Wissens und fast des Genies. Der eine gleicht immer mehr dem Verwalter eines umfassenden Reiches und der andere einem Vieh.“19 Die zunehmende Distanz zwischen Arbeiter und Herren markiert die Entstehung einer neuen Aristokratie, die Tocqueville eine Monstrosität nennt. In der Industrie steigt die Ungleichheit, während sie im Rest der Gesellschaft abnimmt.20 Die führenden Köpfe in der Industrie werden reicher und die Arbeiter stürzen ins Elend. Auch wenn Tocqueville beobachtet, dass die Löhne mit zunehmender Gleichheit in der Gesellschaft gestiegen sind, hat sich die Situation der Industriearbeiter nicht verbessert. Er räumt ein, dass die sozialen Schichten sich mischen und die Barrieren der sozialen Hierarchie weniger Beachtung finden, weil „die Distanz, die die Arbeiter von den Herren trennt, jeden Tag in den Umgangsformen und in den 13 Marek Tracz-Tryniecki, „Tocqueville on Crisis“, in: Journal of Market & Morality, 15/1 (2012), S. 65−88, hier 66−69. 14 Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 981−982. 15 Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 982; Bd. 4, 1029. 16 Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 982. 17 Tocqueville, Democracy in America, Bd. 4, S. 1029. 18 Tocqueville, Democracy in America, Bd. 4, S. 982. 19 Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 983. 20 Tocqueville, Democracy in America, Bd. 3, S. 943.

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Meinungen abnimmt“.21 Die Arbeiter haben wachsende Ambitionen, eine höhere Meinung von sich selbst und ihren Rechten, und in vielen Fällen haben ihre Anstrengungen höhere Löhne zur Folge.22 Da es einen geringen Unterschied in der Selbstwahrnehmung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt und angesichts der Tatsache, dass die Arbeitnehmer mit mehr materiellen Ressourcen rechnen können, wird ihre Verhandlungsmacht erhöht. Tocqueville geht davon aus, dass „auf die Dauer der größere Vorteil auf Seiten der Arbeiter ist; denn die höheren Löhne, die sie schon erhalten haben, machen sie mit jedem Tag von ihren Arbeitgebern unabhängiger, und je unabhängiger sie sind, umso leichter können sie eine Erhöhung der Löhne erlangen.“23 Die Ausnahme von diesem Trend findet sich dort, wo auch die demokratischen Grundsätze gefährdet sind. Die industrielle Welt führt zu einer neuen Aristokratie und auch zu einer Arbeiterklasse mit weniger Perspektiven hinsichtlich sozialer Mobilität. Sie ist zudem in besonderer Weise anfällig für Krisenzeiten.24 Große Industrien erfordern bedeutende Investitionen, so dass es nur wenige Besitzer in diesen Industriezweigen gibt, die einer zunehmenden Anzahl von Arbeitnehmern gegenüberstehen. Das macht es für die Arbeitgeber einfach, sich auf eine Höhe der Löhne festzulegen, die ihre Gewinne auf Kosten der Arbeitnehmer maximiert.25 Diese sind „der Gnade ihrer Herren“ ausgeliefert, und ihre Löhne hängen von der guten oder schlechten Konjunktur ab, der die Unternehmen ihrer Herren unterliegen. Sie verlieren alle Verhandlungsmacht, weil ihre Herren, die reich sind, auf bessere Zeiten warten können; aber sie sind dem ständigen Druck ausgeliefert, da sie „alle Tage arbeiten müssen, um nicht zu sterben; denn sie haben keinen anderen Besitz als ihre Arme“.26 Diese Arbeiter sind von niedrigen Löhnen abhängig und gezwungen, jeden Tag zu arbeiten, womit sie ihren Zustand der Unterdrückung und Abhängigkeit noch erhöhen.27 Sie sind in einer außergewöhnlichen Situation, die besonders ernst ist, denn in einer Gesellschaft, in der alle Möglichkeiten für alle offen sind und die meisten Menschen bessere Lebensbedingungen haben, verharren diese Arbeiter in einer Position der Abhängigkeit. Diese neue Industrieklasse der Lohnarbeiter verdeutlicht den Einfluss gerechter Löhne, die notwendig sind, um voll und ganz an den Vorteilen der Demokratie partizipieren zu können.28 Die Entwicklung der industriellen Welt und eine unzureichende Sozialpolitik haben zu dieser Situation der Arbeiterklasse geführt.29 Ihre Position gegenüber der

Tocqueville, Democracy in America, Bd. 4, S.1026. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 4, S. 1026. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 4, S. 1027. Tracz-Tryniecki, „Tocqueville on Crisis“. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 4, S. 1028. Tocqueville, Democracy in America, Bd. 4, S. 1029. Aguilar, Alexis de Tocqueville. Una lectura introductoria, S. 159. Hurtado, „L'inégalité aux temps de l'égalité: démocratie, industrialisation et paupérisme chez Alexis de Tocqueville“, S. 91. 29 Keslassy, Le libéralisme de Tocqueville à l’épreuve du paupérisme, S. 97. 21 22 23 24 25 26 27 28

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neuen Aristokratie ist geschwächt und die Aussichten für steigende Löhne im industriellen Bereich sind gering.30 Sie haben weniger Verhandlungsmacht, weil sie sich nicht organisieren können, da sie von ihrem täglichen Lohn unmittelbar abhängig sind. Darüber hinaus wächst die Klasse der Industriearbeiter, solange die Ansprüche mit dem allgemeinen Wohlstand steigen. Bauern verlassen das Land, um Lohnarbeiter zu werden, und finden sich am Rand des Existenzminimums wieder.31 Da die meisten dieser neuen Mitglieder der Industriearbeiter in der Produktion von unnötigen Gütern arbeiten, sind sie von einer sehr wechselhaften Nachfrage abhängig und haben keine Kontrolle über ihr eigenes Schicksal.32 Der Arbeiter spekuliert, sagt Tocqueville, auf fiktive und sekundäre Bedürfnisse, die verschwinden können.33 In schlechten Zeiten können Menschen ihren Konsum von Gütern verringern, die weniger notwendig sind, vor allem von Freizeit- und Luxusgütern, aber sie können ihren Bedarf an Grundgütern wie Nahrung nicht reduzieren, so dass sie große Mühe haben werden, für die einen zu sorgen und den Verbrauch der anderen zu opfern.34 Die Erweiterung des Marktes verbessert nicht die Situation der Industriearbeiter, weil sie mehr Konkurrenz aus anderen Orten bedeutet, die ähnliche Waren produzieren. Außerdem können sie nicht die Veränderungen der Nachfrage in anderen Ländern vorherahnen, von denen sie kaum etwas wissen.35 Deshalb hängt ihr Lebensunterhalt nicht nur vom Binnenmarkt, sondern auch von externen Märkten ab, die ihre eigenen Zyklen haben. Die Art ihrer Arbeit bedeutet, dass sie sehr spezialisiert sind, und ihre zunehmenden Bedürfnisse und Wünsche, die mit dem sozialen Fortschritt wachsen,36 machen sie besonders anfällig: „Bei der Entstehung der menschlichen Gesellschaften sehe ich die Industriearbeiter mit der von Gott gegebenen gefährlichen Mission betraut, auf eigenes Risiko und unter Gefahr für das materielle Wohlbefinden aller anderen zu sorgen.“37 Das Versprechen der demokratischen Revolutionen wird für sie leer und sie leiden unter zunehmender Ausgrenzung. Tocqueville verweist hier deutlich auf die Bedrohung, die die relative Armut für die Demokratie darstellt. Es könnte wahr sein, dass von der demokratischen Revolution der größere Teil der Bevölkerung profitiert, dem zuvor materieller Wohlstand vorenthalten wurde und der nun größere Möglichkeiten des Konsums und der sozialen Mobilität genießen kann, aber dies gilt nicht für diejenigen, die die Waren produzieren, die der Rest der Gesellschaft konsumiert. Die Produzenten des Reichtums sind von der Teilhabe an solchem Reichtum ausgeschlossen und sie scheinen ihrer Situation nicht entfliehen zu können. 30 31 32 33 34 35 36 37

Tocqueville, Democracy in America, Bd. 4, S.1025−1030. Alexis de Tocqueville, Sur le pauperisme, Paris: Bayard 2007. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 20. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 20. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 20. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 63. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 20−21. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 21.

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Da die Erwartungen mit den verbesserten materiellen Lebensbedingungen steigen, haben die Industriearbeiter mehr Mühe, mit dem auszukommen, was als notwendiges Minimum angesehen wird, um ein würdiges Leben führen zu können.38 Auch wenn die Distanz zwischen ihnen und den ärmsten Mitgliedern der nicht industrialisierten Länder, damals Spanien und Portugal, beträchtlich ist, scheint die Distanz, die sie von den Reichsten aber auch von den Mittelschichten in den Industrieländern trennt, viel größer zu sein, so dass sie von der Teilhabe am Gemeinschaftsleben ausgeschlossen sind. Ihre Wahrnehmung der zunehmenden Ungleichheit und ihre schlechte Lage führen zu einem Zustand der Enttäuschung, denn in den Zeiten der Gleichheit gibt es ein Gefühl des Anspruchs auf Entbehrliches, jenen unnötigen Gütern, die anfangen, die Wirtschaft zu überschwemmen und mit materiellem Wohlstand gleichgesetzt werden. Der Zugang zu solchen Gütern gilt als Teil der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, und wenn dieser Zugang nicht möglich ist, entsteht ein Gefühl der Ausgrenzung, welches Individuen entmutigt, die an den Vorteilen und dem Wohlstand teilnehmen wollen, derer sich die Mehrheit der Bevölkerung in demokratischen Zeiten erfreut.39 Die Leidenschaft für die Gleichheit, die Einzelpersonen in demokratischen Zeiten auszeichnet, macht diese Situation gefährlich, weil ihre Intoleranz gegenüber Ungleichheit zunimmt, was bedeutet, dass sie anspruchsvoller hinsichtlich dessen werden, was sie von ihrer Teilhabe an der Gesellschaft erwarten. Allerdings scheinen die Industriearbeiter stets von den Vorteilen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen zu sein. Tocqueville stellt fest, dass der „wirkliche Vorzug der Demokratie nicht darin besteht, dass Gedeihen aller zu begünstigen, wie man gesagt hat, sondern dem Wohlergehen der großen Zahl zu dienen.“40 3. PAUPERISMUS Tocqueville reiste im Juli 1835 mit seinem lebenslangen Freund Gustave de Beaumont nach Irland, wo sie Zeugen der „irischen Frage“ wurden. Die beobachtete Kluft zwischen Reichen und Armen schockierte beide. Mit dieser Reise begann in ihnen die Idee für ein Werk zu reifen, dass eines der schwersten Probleme der modernen Gesellschaft aufgreifen sollte.41 Nach einer weiteren Reise im Jahre 1837 erweiterte Beaumont seine Notizen und veröffentlichte L'Irlande sociale, politique et religieuse, ein Werk, das in Irland und England großes Lob erhielt. Schon früh hatte Tocqueville ernsthafte Bedenken hinsichtlich der sozialen Frage, die er mit der ungleichen Verteilung von Vorteilen in Verbindung brachte, 38 Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 23−24. 39 Hurtado, „L'inégalité aux temps de l'égalité: démocratie, industrialisation et paupérisme chez Alexis de Tocqueville“, S. 107−108. 40 Tocqueville Democracy in America, Bd. 2, S. 380. 41 Vgl. Seymour Drescher, Tocqueville and England, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1964, S. 109.

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welche die demokratische Revolution hervorrief. Diejenigen, die materielles Elend für die Mitglieder fast aller anderen sozialen Klasse undenkbar machten, waren selbst permanent der Bedürftigkeit ausgesetzt.42 Seine eigenen Beobachtungen, zusammen mit Nassau William Seniors Poor Law Commissioners' Report von 1834 und einigen zentrale Ideen in der kurz zuvor veröffentlichten Économie politique chrétienne, ou recherche sur la nature et les causes du paupérisme en France et en Europe, et sur les moyens de le soulager et le prévenir (1834) von Alban de Villeneuve-Bargemont,43 stärkten ihn in seiner Kritik an der Situation der Arbeiterklasse in industriellen Demokratien.44 Diese Sorge um die Arbeiterklasse ist durchaus üblich für eine Zeit, in der man soziale Phänomene studierte und quantifizierte, um die Probleme der modernen Gesellschaft besser zu verstehen.45 Erhöhte Aufmerksamkeit galt der Urbanisierung sowie der Industrialisierung und ihren Auswirkungen, die insbesondere in den Annales d’hygiène publique et de médecine légale (1829−1922), den Annales médicopsychologiques (1843−1935) und den Veröffentlichungen der Académie des sciences morales et politiques,46 beispielsweise Villeneuve-Bargemonts Économie politique chrétienne, ou Recherches sur la nature et les causes du paupérisme en France et en Europe, et sur les moyens de le soulager et de le prévenir (1834), untersucht wurden.47 Tocquevilles Eindrücke und Reflexionen bezüglich der Situation der Arbeiter finden sich in zwei seiner Berichte. Im ersten verweist Tocqueville auf das scheinbare Paradoxon der Zahl der Armen in industrialisierten und nicht industrialisierten Ländern.48 Das Paradoxon besteht darin, dass es in den ersten Ländern mehr arme Menschen gibt als in letzteren. Der Kontrast zwischen dem Fortschritt in der Infrastruktur, den Produktionstechniken, dem offenbaren Reichtum und der Raffinesse im Geschmack, dem Gefühl des universellen Wohlstands und der Zahl der Men-

42 Tocqueville, Sur le pauperisme. 43 Vgl. Drescher, Tocqueville and England, S. 136. 44 Im Gegensatz zu Dreschers Eindruck über Tocquevilles Sicht auf die politischen Rechte der Armen waren die beiden Mémoires sowie seine 1848er Diskurse vor der Abgeordnetenkammer über die Armut ein wichtiges Anliegen für Tocqueville. Indem er auf die außergewöhnliche Situation hinweist, der sich die industrielle Klasse ausgesetzt sieht, meint Tocqueville nicht, dass nichts getan werden sollte, sondern gerade dass wegen ihres außergewöhnlichen Charakters die demokratische Regierung handeln sollte, um die Demokratie zu bewahren. Drescher, Tocqueville and England, S. 137. 45 Lyon-Caen, „Saisir, décrire, déchiffrer: les mises en texte du social sous la monarchie de Juillet“, S. 312−313. 46 Tocqueville wird 1838 in die Académie des sciences morales et politiques gewählt. 47 Über die Originalität von Tocquevilles Denken über soziale Fragen in seiner Zeit kann hier nichts gesagt werden. Für eine Bewertung siehe Cheryl B. Welch, „Tocqueville's resistance to the social“, in: History of European Ideas 30 (2004), S. 83−107. 48 Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 7.

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schen, die von der öffentlichen Wohlfahrt leben, scheint ein Kennzeichen der Industrieländer zu sein.49 Die Zahl derer, die in Wohlstand leben, scheint proportional mit jenen zu steigen, die auf die Unterstützung anderer angewiesen sind.50 Ähnlich der Erklärung wie sie Rousseau in der Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) gibt, präsentiert Tocqueville eine kurze Zusammenfassung der Evolution der menschlichen Gesellschaft von den Nomadengemeinden bis in seine Zeit.51 Mit der Entstehung des Privateigentums erscheint die Möglichkeit von Akkumulation und damit von überflüssigem Konsum. Ungleichheit wird möglich und die Menschen suchen nach sichtbaren Zeichen ihrer Überlegenheit. Neue Wünsche entstehen und Menschen, die sich bemühen, ihre eigenen zu befriedigen, suchen in den Gewerbeindustrien, die jene Ware produzieren, die alle begehren, nach Arbeit. Sie ziehen vom Land in die Städte, immer auf der Suche nach Arbeitsplätzen in den sich entwickelnden Industriezweigen. Diese Umsiedlung macht sie jedoch angreifbar. Tocqueville beschreibt eine Situation, in der Landarbeiter die Mittel finden, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, während Industriearbeiter mit einem besonders labilen Schicksal zu kämpfen haben.52 Wie oben erwähnt, ist die Nachfrage nach den Gütern, die sie produzieren, sprunghaft, und in Zeiten der Stagnation, wenn Menschen ihren Konsum reduzieren oder ganz einstellen, drohen sie, arbeitslos zu werden. Tocqueville nennt zwei Ursachen für kommerzielle Krisen: Die „Zahl der Arbeiter nimmt ohne Veränderung der Produktionsmengen zu“ oder „die Zahl der Arbeiter bleibt stabil, aber die produzierte Menge nimmt ab“.53 Arbeiter können keine dieser Ursachen vorhersehen oder Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass sie in das Elend stürzen. Pauperismus erscheint als die unvermeidliche Folge der Industrialisierung. Und da die Industrialisierung die unmittelbare Folge der zunehmenden materiellen Ansprüche der Individuen ist, die, von ihrer Leidenschaft für Gleichheit geleitet, sich in ständiger Suche nach materiellem Wohlbefinden befinden, scheint der Pauperismus ein strukturelles Problem demokratischer Zeiten zu sein. Dieses strukturelle Risiko ist mit einem politischen Problem verbunden, das die Bedrohung erklärt, welches der Pauperismus für die Demokratie darstellt. Armut bedroht die Menschenwürde und die Freiheit, die die Stützen der Demokratie darstellen.54 Das Austauschverhältnis wird zerbrechlich, da die Arbeitsteilung soziale Bindungen lockert; diese Individuen verlieren den Sinn der Vorteile, die mit der industriellen Demokratie verbunden sind, und sind anfällig für Zentralisierungsprozesse beziehungsweise Vorschläge, immer mehr Aufgaben vom Staat regeln zu lassen. „Die Unterdrückung hat sie seit langem verarmen lassen, und sie sind umso

49 50 51 52 53 54

Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 7−8. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 8−9. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 9−13. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 19−20. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 62. Tracz-Tryniecki, „Tocqueville on Crisis“, S. 66.

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leichter zu unterdrücken, je ärmer sie werden. Es ist ein unheilvoller Kreislauf, dem sie in keiner Weise entrinnen können.“55 Die Lehre, die daraus zu ziehen ist, besteht darin, dass etwas gegen die Bedrohung dieser Quelle der Ungleichheit getan werden muss, nicht nur wegen der sozialen und politischen Probleme, die Armut hervorruft, sondern auch, weil die Notleidenden nicht für ihre Situation verantwortlich sind und der Wohlstand der ganzen Bevölkerung von ihnen abhängt. Allerdings kann die Lösung nicht darin bestehen, ein dauerhaftes Recht der Armen auf soziale Hilfe oder Arbeit zu schaffen. Tocqueville sprach die Frage der Armen 1848 in seinen Reden im Parlament an. Erstmals 1839 in die Abgeordnetenkammer gewählt, nachdem er 1837 die Wahlen bei seinem ersten Versuch verloren hatte, erduldete und genoss er sein öffentliches Leben.56 Seine Interventionen in den öffentlichen Debatten im Jahr 1848 sind besonders relevant, weil sie genau zeigen, wie Tocqueville die Situation der Armen mit Ereignissen verknüpft, die mit der Februarrevolution in einem engeren und weiteren Verständnis verbunden sind. Am 27. Januar 1848 fordert Tocqueville die Abgeordnetenkammer auf, ihre Aufmerksamkeit auf den alarmierenden Zustand und jene Anschauungen zu richten, die Ausdruck der ernsten Situation sowie bestimmter Geisteshaltungen, Gewohnheiten und Sitten des Volkes sind.57 Tocqueville richtet harsche Worte gegen die Regierung Louis-Philippes, die dafür Verantwortung trage, und legt dar, wie die Macht, die sie anhäufe, zu einer zunehmenden Korruption von Beamten und jenen, die mit ihnen zu tun haben, führe. Diese zunehmende Korruption habe zu einer radikalen Trennung zwischen den Regierenden, einschließlich der Beamten und jenen, die ihre politischen Rechte zugunsten ihrer eigenen Interessen ausüben, und der Arbeiterklasse geführt. Es gebe eine zunehmende politische Apathie in dieser Klasse, die ein Gefühl der Politikverdrossenheit entwickelt habe. Ihre politischen Leidenschaften, erklärt Tocqueville, haben sich zu sozialen Leidenschaften entwickelt, die durch ein zunehmendes Gefühl der Ungerechtigkeit in der Verteilung von Reichtum und Eigentum genährt werden.58 Solche Leidenschaften führen zur Revolution, warnt Tocqueville: „Ich glaube gerade, dass wir auf einem Vulkan schlafen“.59

55 Tocqueville, Democracy in America, Bd. 4, S. 1029. 56 Für eine detaillierte Analyse der Teilnahme Tocquevilles am politischen Leben, der Regierung und seinen Einfluss siehe Julien Jaume, Julien, „Tocqueville et le problème du pouvoir exécutif en 1848”, in: Revue Française de Science Politique 41/6 (1991), S. 739−755. In diesem Artikel zeigt Jaume, wie Tocqueville, im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung, zwischen 1848 und 1851 sehr einflussreich war, sowohl hinsichtlich seines Engagements in der Verfassungskommission als auch in der Verfassungsgebenden Versammlung und der Legislative. 57 Alexis de Tocqueville, „Discours prononcé à la Chambre des députés, le 27 Janvier 1848, dans la discussion du project d’adresse en réponse au discours de la couronne”, in: Alexis de Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, Œuvres complètes d'Alexis de Tocqueville, Bd. 9, Paris: Michel Lévy frères 1866, S. 520−555. 58 Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, S. 526. 59 Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, S. 526.

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Die Ereignisse gaben Tocqueville Recht. Am 12. September 1848 warnte er die Verfassungsversammlung erneut, denn nach der Februarrevolution waren die Ziele der Republik noch immer nicht klar. In seinem ersten Bericht hatte Tocqueville vor der Korruption der Regierung gewarnt, der Zunahme der privaten Interessen, dem Vergessen des öffentlichen Interesses und einer Politikverdrossenheit. Er kommt in seinem zweiten Diskurs zu diesen Punkten zurück und erinnert an die Warnung, die er bereits gegeben hat. Die fast vollständige Trennung zwischen der regierenden Klasse und der regierten Klasse, einschließlich der Handwerker und Arbeiter, macht die Situation noch zerbrechlicher. Allerdings ist der Vorschlag der Regierung, mit der Situation der Arbeiterklasse umzugehen, für Tocqueville kein Ausweg, sondern führt auf direktem Weg zum Sozialismus. Während der Diskussion über Artikel 8 der neuen Verfassung60 interveniert Tocqueville, indem er darauf verweist, dass durch die Schaffung eines „allgemeinen, absoluten und unwiderstehlichen Rechtes auf Arbeit“, öffentliche Wohlfahrt gesteigert, legalisiert und institutionalisiert wird.61 Ein solches Recht einzurichten, würde den Staat zu einer Art letztem Arbeitgeber machen, mit negativen Auswirkungen für Demokratie und Freiheit. Tocqueville zeigt die Konsequenzen dieser Maßnahme auf, indem er nachweist, dass der Staat verpflichtet wäre, sich in der Produktion zu betätigen und seinen Anteil darin zu erhöhen, bis er schließlich zum alleinigen Hersteller werde, der Steuern erhebe, um seine Produktion zu finanzieren. Das Endergebnis sei die Anhäufung von Kapital und Eigentum in den Händen des Staates.62 Aber auch die Alternative, die private Industrie zu verpflichten, alle, die bereit sind zu arbeiten, einzustellen, würde einer vollständigen Regulierung des Arbeitsmarktes gleichkommen, so dass der Staat zum großen und einzigen Organisator der Arbeit werde.63 Indem er diese Konsequenzen in seinem Bericht aufzeigt, lädt Tocqueville seine Kollegen zur Diskussion darüber ein, ob die Februarrevolution eine sozialistische Revolution ist oder nicht. Um auf diese Frage zu antworten, charakterisiert Tocqueville den Sozialismus durch drei Punkte: Der Sozialismus sei ein nachdrücklicher und ständiger Appell an die materiellen Leidenschaften des Menschen; er sei ein beständiger Angriff auf die Grundlagen des individuellen Eigentums; und fördere schließlich einen tiefen Argwohn gegenüber der Freiheit und menschlichen Vernunft, verachte den Einzelnen und verlange vom Staat, einen neuen Menschen

60 „Die Republik soll den Bürger in seiner Person, seiner Familie, seiner Religion, seinem Eigentum, seiner Arbeit beschirmen, und den für alle Menschen unentbehrlichen Unterricht jedem zugänglich machen; sie soll, durch brüderlichen Beistand, die Existenz der bedürftigen Bürger sichern, sei es, dass sie ihnen Arbeit, innerhalb der Grenzen ihrer Mittel schafft, sei es, dass sie, in Ermangelung der Familie, denen Unterstützung gewährt, welche arbeitsunfähig sind.“ Artikel 8 der Constitution de la République Française du 4 Novembre 1848, URL: http://www.verfassungen.eu/f/fverf48-i.htm (letzter Aufruf: 16.04.2017). 61 Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, S. 378. 62 Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, S. 378. 63 Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, S. 378.

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zu schaffen.64 Diese Charakterisierung führt Tocqueville dazu, den Sozialismus als „eine neue Form der Knechtschaft“ zu bezeichnen.65 Tocqueville ist überzeugt, dass das Recht auf Arbeit ein direkter Weg zum Sozialismus und ein Verrat an dem ist, wofür die Französische Revolution steht. Die Französische Revolution ist für ihn eine liberale Revolution, die den freien Verkehr von Menschen, Gütern und Ideen fördere und den Beginn der demokratischen Zeiten in Frankreich markiere. Demokratie und Sozialismus sind nach Tocqueville demnach unvereinbar: „Demokratie und Sozialismus verbindet nur ein Wort, die Gleichheit; aber beachten Sie den Unterschied: Demokratie will Gleichheit in Freiheit, und der Sozialismus will Gleichheit zwangsweise in Unfreiheit“.66 Wenn der wahre Geist der Französischen Revolution bewahrt werden soll, dann, daran hat Tocqueville keinen Zweifel, muss die Februarrevolution anstehende Aufgaben wie die Abschaffung der Klassen, Chancengleichheit beim Zugang zu öffentlichen Ämtern und das Versprechen, jedem Bürger Bildung und Freiheit zu geben, verwirklichen und einen allgemeinen Wohlstand fördern. Die Revolution führte die „staatliche Sorgepflicht gegenüber den Armen ein, gegenüber jenen Bürgern, die Not leiden, und schuf damit einen umfassenderen, allgemeineren und höheren Grundsatz, als man ihn von ihr kannte. Diesen Grundsatz müssen wir aufgreifen, nicht, ich wiederhole es, indem wir die Fürsorge und Umsicht des Staates an die Stelle der individuellen Vorsorge und Einsicht setzen, sondern indem wir tatsächlich und effektiv mit den Mitteln, über die der Staat verfügt, denen Hilfe leisten, die leiden, ja allen Beistand leisten, die ihre Mittel erschöpft haben und die nun im Elend leben müssen, wenn ihnen der Staat nicht die Hand reicht.“67 Die Bedingungen für individuelle Freiheit und Tugend zu fördern, so dass Einzelpersonen von ihrem eigenen Handeln profitieren können, scheint wichtiger zu sein, als direkte Hilfe zu bieten, es sei denn, dass sich Personen in einer Situation befinden, in der sie keine Ressourcen mehr haben.68 Es ist klar, dass ein Recht auf Arbeit nicht die Antwort ist, aber die Armen ihrem eigenen Schicksal zu überlassen, steht ebenso im Widerspruch zum liberalen Geist der Französischen Revolution und der Demokratie. Um weitere soziale Umwälzungen zu vermeiden und die demokratische Revolution zu entfalten und zu verwirklichen, muss die Regierung eine Staatspolitik entwerfen, die die verarmten Arbeiter begünstigt, ohne die Errungenschaften der Revolution zu gefährden. 4. POLITIKEMPFEHLUNGEN Tocqueville und Beaumont betrachteten das Studium der politischen Ökonomie als grundlegend für ihre Analyse der Probleme der Demokratie, insbesondere für das 64 65 66 67 68

Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, S. 379. Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, S. 379. Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, S. 381. Tocqueville, Études économiques, politiques et littéraires, S. 384. Tracz-Tryniecki, „Tocqueville on Crisis“, S. 77.

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Verständnis des Pauperismus. Es schien ihnen notwendig, ökonomische Gesetze zu verstehen, um eine adäquate Politik zu ermöglichen, die Demokratie bewahrte und nicht zu einer sozialen Katastrophe führte.69 Ihre Überlegungen wurden dabei auch von Fragen der staatlichen Intervention im Bereich ökonomischer Entwicklungen geleitet.70 Der Entwurf einer richtigen Wirtschaftspolitik war nicht nur eine Frage des guten Willens der Regierung.71 Angesichts dieser Tatsache und der zunehmenden politischen Apathie, die Tocqueville bei den Mittelschichten beobachtete, die immer weniger an der öffentlichen Debatte beteiligt waren,72 musste etwas getan werden, um die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern. Nicht das Problem zu lösen, führte zu sozialen Unruhen und, wie die 1848 Revolutionen gezeigt hatte, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Auch wenn Tocqueville erkannte, dass dem Pauperismus nur durch staatliches Handeln Einhalt geboten werden konnte, war er sehr kritisch gegenüber den bestehenden Maßnahmen, wie die 1834 eingeführte englische Armengesetzgebung, die dabei half, eine dauerhaft müßige und untätige Klasse zu schaffen. Solche Maßnahmen schwächten in seinen Augen die Menschen. Anstelle einer Politik der Fürsorge oder privater Wohltätigkeitsorganisation schlug er eine andere Lösung vor.73 Tocqueville behandelt zwei Arten von Wohltätigkeit: private und öffentliche. Während die erste immer existiert hat, ist die zweite „weniger instinktiv, eher überlegt, weniger schwärmerisch aber oft wirksamer, fordert von der Gesellschaft, sich ihrer unglücklichen Angehörigen anzunehmen und planmäßig für die Linderung ihrer Nöte zu sorgen.“74 Tocqueville lobt die Zweite, denn sie bedeutet, dass „die Gesellschaft, indem sie einen ständigen Blick auf sich selbst wirft, täglich ihre Schwachstellen auslotet und sich bemüht, diese auszubessern“, und so den Reichen die Möglichkeit bietet, ihren Reichtum zu genießen, und die Armen davor bewahrt, ins absolute Elend zu stürzen, indem sie von den ersten nimmt und den zweiten gibt.75 Allerdings zeige die englische Erfahrung auch, wie schwierig die Gestaltung der öffentlichen Programme zur Armutsbekämpfung sei.76 Die englischen Armengesetze gaben den Armen ein „absolutes Recht auf soziale Hilfe“, was nach Tocqueville die „natürliche Leidenschaft des Menschen für Müßiggang“ nährte.77 Tocqueville folgt hier einem allgemeinen Argumentationsmuster seiner Zeit. Danach gibt es zwei Beweggründe, die Menschen zur Arbeit motivieren: das Bedürfnis zu leben, das alle betreffe, und das natürliche Verlangen, seine Lebensbedingungen zu verbessern, das schwächer ist und daher eine geringere Zahl antreibe.78 Das absolute 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78

Tracz-Tryniecki, „Tocqueville on Crisis“, S. 70. Drescher, Tocqueville and England, S. 128. Tracz-Tryniecki, „Tocqueville on Crisis“, S. 71. Vgl. Drescher, Tocqueville and England, S. 133. Ferraton, „L'idée d'association chez Alexis de Tocqueville“. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 25−26. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 26. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 27−30. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 30. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 30−31.

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Recht der Armen auf Unterstützung führt nach Tocqueville dazu, dass das erste Motiv als weniger dringend empfunden werde.79 Die Armen haben Anspruch auf soziale Hilfe, egal, was die Gründe für ihre Situation seien. Das mache die Unterscheidung zwischen arbeitsfähigen Bedürftigen, das sind diejenigen, die arbeiten können, aber arbeitslos sind, und den indisponierten Armen, denjenigen, die nicht arbeiten können, überflüssig.80 Aber auch die Unterscheidung beider mache eine Menge von Informationen notwendig, die außerhalb der Reichweite der Regierung liegen. Angesichts von drohendem Elend und Tod sei es zudem schwierig einen Beamten zu finden, der Sozialhilfe aus Gründen der individuellen Verantwortung verweigern würde, die Ursache einer solch dramatischen Situtation sein könnten.81 Die Lösung besteht auch nicht darin, Almosen von der verrichteten öffentlichen Arbeit abhängig zu machen. Zum einen gebe es kaum genug öffentliche Arbeiten, um eine wachsende Zahl von Armen zu beschäftigen, und zum anderen würde dies auch einer zunehmenden Zahl von Beamten bedürfen, die diese Arbeiten kontrollieren, ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, das Lohnniveau für solche Beschäftigung festzulegen.82 Die Belastung, die solche Programme auf die öffentlichen Finanzen darstellen, seien sehr schwer zu finanzieren und können sogar andere Funktionen des Staates bedrohen, nämlich den Reichen die Möglichkeit zu geben, ihren Reichtum zu genießen. Tocqueville führt aus, dass jede Maßnahme der gesetzlichen Wohltätigkeit, die dauerhaft und von der Existenz einer Verwaltungsstruktur abhängig sei, eine untätige Klasse hervorbringe, die „auf Kosten der Industrie- und Arbeiterklasse“ lebe.83 Im Gegensatz zur Idee der Rechte verschlechtere das Recht der Armen auf Unterstützung das menschliche Herz.84 Er nennt dafür verschiedene Gründe: Ein dauerhaftes Recht auf öffentliche Hilfe entbinde den Notleidenden von der Arbeit, löse Abhängigkeitsverhältnisse in Bezug auf seine Mitmenschen und mache die Mitbürger blind gegenüber den Armen, die sie außerhalb der Gesellschaft und ohne Ermutigung, ihren Status zu verbessern, ihrem Schicksal überlassen. Die ständige öffentliche Hilfe verlagert die Eigenverantwortung auf die Öffentlichkeit, so dass die Armen die erste Voraussetzung verlieren, frei zu sein, denn Verantwortung ist eine notwendige Bedingung für die Ausübung der Freiheit.85 Tocqueville beschreibt eine Armutsfalle, die anstatt den Armen zu helfen, sie letztendlich erniedrigt. Jede Politik sollte darauf abzielen, Eigenverantwortung zu stärken, weil: „das Hauptmittel gegen Armut in den Händen des armen Mannes, je nach seiner Energie, Sparsamkeit und weisen Voraussicht, hauptsächlich im guten und intelligenten Gebrauch seiner Fähigkeiten liegt; und während die Gesetze nur eine kleine Rolle für das menschliche Wohlergehen spielen können, verdankt ein Mann seinen eigenen 79 80 81 82 83 84 85

Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 31. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 32−33. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 33−34. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 34−35. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 35. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 36−37. Ferraton, „L'idée d'association chez Alexis de Tocqueville“, S. 50; Tracz-Tryniecki, „Tocqueville on Crisis“, S. 77.

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Anstrengungen sehr viel“86. Aber im konkreten Fall der Arbeitslosen, die keine Ressourcen haben, bleibt wenig übrig, was sie für sich selbst tun können. Wenn also die Situation, in der sie sich befinden, nicht in der Verantwortung der Armen liegt, wie Tocqueville es in der Schilderung des Prozesses der Industrialisierung nahelegt,87 scheinen die bestehenden Gesetze, vor allem die englischen Gesetze, kein geeigneter Weg zu sein, das Problem anzugehen. Es gibt eine soziale Verantwortung gegenüber diesen Individuen und die Stabilität der demokratischen Ordnung hängt vom Umgang mit ihrer Situation ab. Die Lösung kann deshalb nicht darin bestehen, die Armen allein zu lassen oder sich nur auf private Wohltätigkeit zu verlassen, die nicht ausreichen wird, der wachsenden Zahl von Individuen in relativer Armut und ohne ausreichende Ressourcen zu helfen, ihre Lebensgrundlagen zu sichern.88 In seinem zweiten Bericht, der zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, erforscht Tocqueville deshalb andere Möglichkeiten, die er bereits am Ende des ersten Mémoire erwähnt hatte, zum Beispiel, um den Armen zu helfen, Ersparnisse zu sammeln. Um verschiedene Alternativen vorzustellen, teilt Tocqueville die Armen zwischen denjenigen ein, die zu den Bauern zählen, und denen, die Arbeiter sind.89 Er richtet seine Aufmerksamkeit auf die letzteren, weil es diese Armen sind, die spezifisch für die Demokratie sind und ständig zunehmen. Ihre Zahl steigt noch durch die Vertreibung der Bauern aufgrund neuer Praktiken in der Landwirtschaft. Diese flüchten in die Städte, wo sie Arbeit suchen. Eines der wichtigsten Merkmale dieser Population ist, dass sie wenig Verbundenheit mit irgendetwas aufweist, gerade weil ihre Situation so zerbrechlich und schwankend ist. Sie haben keinen eigenen Besitz, außer ihrer Arbeitskraft, was nach Tocqueville verhindert, dass sie ihre Zukunft planen können.90 Menschen ohne Zukunft haben keinen Anreiz zu sparen oder sich um ihr Vermögen zu kümmern. Der Mangel an Eigentum macht die Armen völlig vom Zufall abhängig.91 Deshalb würden Maßnahmen, die den Zugang zu Eigentum unterstützen, wenn es um die Bauern geht, deren Situation erheblich verändern. Die Teilung des Landbesitzes ist ein Mittel, das Tocqueville als Möglichkeit bei der Verbesserung der Situation der Armen auf dem Lande betrachtet.92 Allerdings ist dies keine Lösung für die Situation der Industriearbeiter. Die Menge an Kapital, die benötigt wird, um ein Industrieunternehmen zu gründen und erfolgreich zu führen, macht dies unmöglich. Aber Tocqueville sucht dennoch nach Möglichkeiten, den Arbeitern „den Geist und den Habitus von Eigentümern“ zu geben.93 Ein Weg besteht für ihn darin, Arbeiter zu Teilhabern jener Unternehmen zu machen, in denen sie arbeiten und sie so an den Gewinnen zu beteiligen.94 Das 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Zitiert in Tracz-Tryniecki, „Tocqueville on Crisis“, S. 77. Ferraton, „L'idée d'association chez Alexis de Tocqueville“, S. 49. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 52−53. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 55. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 58. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 59. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 60. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 65. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 65−66.

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Problem bei diesem Vorschlag war, dass einerseits die Besitzer der Produktionsanlagen davon nicht begeistern waren und es zudem nicht ratsam war, sie dazu zu zwingen; andererseits belegen die Beispiele, dass die kooperativen Unternehmen, aufgrund wechselnder Partner und einem mangelhaften Zugang zu Krediten beziehungsweise Handelsnetzwerken nicht erfolgreich waren.95 Trotzdem glaubte Tocqueville, dass solche Assoziationen die Antwort sein könnten und sie in demokratischen Zeiten an die Stelle individueller Initiativen treten könnten.96 Die Erhöhung der Zahl der Eigentümer in der Gesellschaft, sei es auf dem Land oder in der Industrie, ist für Tocqueville ein Weg, um mit den Krisen in demokratischen Zeiten und der Hoffnungslosigkeit, die sie hervorrufen, umzugehen.97 Als mögliche Sofortmaßnahmen schlägt Tocqueville vor,98 „den Arbeitern das Sparen zu ermöglichen“ und ihnen „eine einfache aber sichere Methode zur Erzielung von Einnahmen zu bieten“, etwa durch Sparkassen, die vom Staat verwaltet werden und die einen bestimmten Zinssatz garantieren, der auch für Arbeiter rentabel ist.99 Die Kombination von Sparkassen und institutionellen Leihanstalten würde neue Finanzinstitute schaffen, die es den armen Arbeitern ermöglichten, Geld zu sparen und dieses zu günstigen Zinsen zu leihen.100 Ferraton101 hat einen weiteren von Tocquevilles unveröffentlichten Text, den Lettre sur le paupérisme en Normandie, analysiert, in dem Tocqueville die Vereinigung102 als mögliche Lösung präsentiert. Eine Vereinigung, als freiwillige Ansammlung von Menschen, schafft Verbindungen zwischen ihren Mitgliedern, die ein gemeinsames Interesse an ihrem Erfolg haben. Diese Assoziationen hätten eine lokale Basis, so dass die Auswirkungen der Nähe zwischen ihren Mitarbeitern auch moralische Bindungen in der Gemeinschaft förderten und egalitäre Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern herstellen würden. Da die Mitglieder freiwillig teilnehmen, könnten sie der Vereinigung beitreten beziehungsweise diese verlassen, wann immer sie wollten, so dass das Problem der erzwungenen oder dauerhaften Hilfe, die mit öffentlichen Wohltätigkeiten verbunden ist, vermieden würde. Solche Assoziationen könnten den gemeinschaftlichen Finanzinstituten ähneln, die Tocqueville in seinem zweiten Bericht vorstellt, die auch als Versicherungsgesellschaften fungieren. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 66. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 67. Tracz-Tryniecki, „Tocqueville on Crisis“, S. 74. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 67, 68. Allerdings ist Tocqueville der Auffassung, dass dies wegen der Kosten und Risiken, die sie für den Staat impliziert, die Zentralisierung der Ressourcen und die Möglichkeit eines Staatsbankrottes, eine unvollkommene Lösung ist. Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 69−74. 100 Tocqueville, Sur le pauperisme, S. 80−81. 101 Ferraton, „L'idée d'association chez Alexis de Tocqueville“. 102 Tocqueville dokumentiert Vereinigungen in Amerika als eine der wichtigsten Institutionen in demokratischen Zeiten. Er lobt sie als private Initiativen, die egalitäre Beziehungen und gegenseitiges Engagement fördern, wo die Mitglieder ihr Eigeninteresse verfolgen und dabei helfen, das der anderen zu födern. Sie sind der Ausdruck eines l'intérêt bien entendu und ein Gegenmittel gegen den Individualismus. Für eine detaillierte Analyse der Verbände in Tocqueville siehe Ferraton, „L'idée d'association chez Alexis de Tocqueville“. 95 96 97 98 99

Tocqueville über die unerfüllten Versprechen der demokratischen Revolution

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5. ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN Nach Alejandro Gaviria gibt es eine realistische Vision der Demokratie, die „uns gegen Demagogie schützt [...] und uns daran erinnert, dass Demokratien immer daran scheitern, ihre Versprechen zu halten, und ohne Ausnahme darauf bestehen etwas zu bieten, was sie nicht liefern können“.103 Aber Gaviria erinnert auch daran, dass Estanislao Zuleta, ein kolumbianischer Philosoph, dieser Beschreibung von Demokratie nicht zustimmen würde. Ähnlich wie für Tocqueville vereinigt Demokratie für Zuleta drei Elemente, die zu einer positiven Bestimmung führen: Die wahre Demokratie verlangt echte Chancen für alle ihre Mitglieder, politische Mitwirkung beziehungsweise die Beteiligung ihrer Bürger104 sowie einen öffentlichen Prozess der Konsensfindung.105 Die Warnungen, die Tocqueville angesichts der Bedrohungen und Risiken in der Demokratie ausspricht, haben mit jenen unerfüllten Versprechen zu tun, die zu Frustration, Ausgrenzung und Verlust der politischen Teilhabe für einen beträchtlichen Teil der Menschen in demokratischen Zeiten führen. Die demokratische Revolution könnte darin scheitern, alle demokratischen Bürger einzuschließen. Ihre Leidenschaft für Gleichheit und ihre Folgen, die Unverträglichkeit von Ungleichheit, können zu Neid und sozialem Ressentiment führen. Die Menschen vergleichen ihre ungleichen Positionen in der sozialen Hierarchie aber auch bei der Verteilung von Reichtum. Dieser Vergleich kann ein Ansporn sein, wenn die Distanz zwischen ihrer eigenen Position und derjenigen der oberen Ebenen als relativ eng empfunden wird, aber sie kann auch das Gegenteil bewirken, wenn die Distanz als unüberwindbar wahrgenommen wird, da Letzteres die Erwartungen der Bürger an soziale Mobilität untergräbt. Darüber hinaus geht die soziale Mobilität in beide Richtungen. Soziale Instabilität kann den Konflikt zwischen Reichen und Armen, zwischen denen mit Zugang zu Eigentum und den Eigentumslosen, erhöhen. Demokratische Bürger kämpfen, wie Tocqueville zeigte, darum, die soziale Leiter hinaufzusteigen und zu verhindern, dass sie von denen unter ihnen heruntergezogen werden. Die Priorität, die diese Bürger dem materiellen Wohlbefinden zumessen, erhöht den Individualismus und die Distanz zwischen den Menschen, sie führt zu Apathie oder Anomie. Tocqueville ist sich über die Folgen einer solchen Situation im Klaren: Die Bürger delegieren Entscheidungen, fördern die Zentralisierung und sind schließlich nicht in der Lage, eine neue Tyrannei zu verhindern. Auch wenn nach Tocqueville nichts getan werden kann, um den Gesetzen des Marktes entgegenzuwirken, muss die Regierung Maßnahmen ergreifen, damit ihre negativen Konsequenzen überwunden werden können. Demokratisierung von Eigentum und lokale Finanzinstitute sind seine politische Empfehlung. Aber jenseits 103 Alejandro Gaviria, Alguien tiene que llevar la contraria. Sobre la fracasomanía y otros ensayos, Bogotá: Ariel 2016, S. 21. 104 Gaviria bemerkt an diesem Punkt die Ähnlichkeit zwischen Zuleta und Tocqueville. Ich möchte die Parallele weiter deuten und auch die drei erwähnten Elemente einbeziehen. 105 Gaviria, Alguien tiene que llevar la contraria, S. 21−22.

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dieser spezifischen Maßnahmen zeigt Tocqueville auch, dass die Ausübung der Staatsbürgerschaft Voraussetzungen fordert, die über die formalen politischen Rechte hinausgehen. Seine Analyse zeigt, dass die Armen einen handfesten Grund für ihre Forderungen haben, dass ihre Situation nicht auf einen einfachen Mangel an Willen zurückzuführen ist und dass öffentliche Interventionen notwendig sind. Die Risiken der extremen Ungleichheit reichen von Apathie und potentiellem Konflikt zu Ausgrenzung und Gewalt und schließlich, wo das Wesen der demokratischen Revolution völlig verloren gegangen ist, zum Aufstieg einer neuen Tyrannei. Übersetzung von Skadi Siiri Krause

DIE ÜBERTRAGUNG DEMOKRATISCHER LERNPROZESSE BEI TOCQUEVILLE – VON DEN USA ÜBER FRANKREICH BIS ZUR ISLAMISCHEN WELT? Ahmet Cavuldak 1. EINLEITUNG Alexis de Tocqueville ist der erste Analytiker der modernen Demokratie. Als er mit seinem Freund Gustave de Beaumont am 2. April 1831 in die Vereinigten Staaten von Amerika aufbrach, um das Gefängniswesen und die Strafvollzugsordnung des Landes zu untersuchen, trug er sich längst mit dem Gedanken, die Demokratie sei das unabwendbare Schicksal der (europäischen) Menschheit. In der Einleitung des ersten Bandes der Demokratieschrift, in der Tocqueville sein Vorhaben konturiert, gesteht er denn auch, in Amerika mehr gesucht zu haben als Amerika: Er habe dort die Demokratie kennen lernen wollen, um zu erfahren, was die Menschen von ihr zu erhoffen oder zu befürchten hätten.1 Unter allen Völkern, bei denen die demokratische Revolution am Werke sei, habe er dasjenige ausgesucht, bei dem sie sich am vollständigsten und am friedlichsten entwickelt habe. Die Vereinigten Staaten seien das Land auf der Erde, in dem die große soziale Revolution gewissermaßen die natürlichen Grenzen ihrer Wirksamkeit erreicht habe; dort habe sie sich einfach und mühelos vollzogen, ja das Land erfreue sich der Früchte der demokratischen Revolution, ohne eine solche selbst erlebt zu haben. Die Auswanderer, die sich am Anfang des 17. Jahrhunderts in Amerika niederließen, hätten nämlich das Prinzip der Gleichheit von all` dem, wogegen es in den alten Gesellschaften Europas kämpfen musste, entkleidet und es in reiner Gestalt an die Küsten der Neuen Welt verpflanzt. Die USA stellen denn auch für Tocqueville ein historisches Laboratorium dar, in dem man in Reinform beobachten kann, welche Chancen und Gefahren von der demokratischen Umwälzung ausgehen. Bisher sei die Demokratie ihren ungezügelten Neigungen überlassen worden; sie sei herangewachsen wie die Kinder ohne väterliche Aufsicht, die sich in den Straßen der Städte selbst erziehen. Doch gelte es endlich, sich ihrer anzunehmen, sie zu läutern, indem man Unerfahrenheit durch Einsicht belehre: Die demokratische Revolution in den Griff zu bekommen, dafür zu sorgen, dass die Menschen nicht ihre Opfer, sondern ihre Gestalter werden in Freiheit und Würde – darin erblickt Tocqueville die epochale Herausforderung, vor die er alle christlichen Völker, ja potentiell die ganze Menschheit gestellt sieht.2

1 2

Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, hg. v. Jacob P. Mayer, München: dtv, 1976, S. 16. Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 9.

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Im ersten Demokratieband konstatiert Tocqueville, die Einführung und Begründung der Demokratie unter den Christen sei das große Problem seiner Zeit; die Amerikaner lösten dieses Problem ohne Zweifel nicht ein für alle Mal, aber sie lieferten denen, die sie lösen wollten, „nutzbringende Belehrungen“.3 Dabei geht er davon aus, die Institutionen, Gesetze und Sitten der Amerikaner seien zwar nicht die einzigen, die den demokratischen Völkern zusagen könnten; sie hätten aber gezeigt, dass man hoffen dürfe, die Demokratie mit Hilfe der Gesetze und Sitten zu regeln. Wenn andere Völker diesen allgemeinen und fruchtbaren Gedanken von Amerika entliehen, ohne im Übrigen dessen Bewohner in der besonderen Anwendung dieses Gedankens nachahmen zu wollen, wenn sie danach trachteten, sich dem „état social“ der Gleichheit anzupassen, welche die Vorsehung den heutigen Menschen auferlegt habe, und wenn sie solcherart dem sie bedrohenden Despotismus oder der Anarchie zu entrinnen suchten – was, fragt Tocqueville optimistisch, berechtigte uns zu glauben, sie müssten in ihren Bemühungen scheitern? Mag der liberale Aristokrat hier auch zunächst an sein Heimatland gedacht haben, das seit der großen Revolution vergeblich in mehreren Anläufen versucht hatte, die Demokratie zu errichten: die von ihm aufgeworfene Frage indes betrifft nicht nur die Vereinigten Staaten und Frankreich, sondern die ganze Welt. Im Folgenden möchte ich das Problem der Übertragung demokratischer Lernprozesse bei Tocqueville in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Dass Individuen lernen können, voneinander, aus eigenen Fehlern, aus Büchern und anderem mehr, dürfte eine alltägliche Erfahrung sein, die wir alle mehr oder weniger nachvollziehen können. Dass auch Gesellschaften aus ihrer Geschichte politische Lehren ziehen können und gezogen haben, gerade dann, wenn es eine Katastrophengeschichte war wie in Deutschland in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, dürfte auch noch einleuchten. Können aber auch Gesellschaften voneinander lernen, wenn es um Demokratie geht, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Meine Absicht ist es, mich im Lichte des Tocquevilleschen Werks dieser schwierigen Frage zu nähern; und mehr als eine Annäherung kann es fürs Erste wirklich nicht sein, da das Problem der Übertragung demokratischer Lernprozesse bisher weder in der Tocqueville-Forschung noch in der Politikwissenschaft die verdiente Beachtung gefunden hat.4 3 4

Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 360. Die einzige mir bekannte Studie, die das Übertragungsproblem explizit behandelt, stammt aus der Amerikanistik und hat die Debatte um die Paulskirchenverfassung zum Gegenstand: Eckhart G. Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/49. Zum Problem der Übertragung gewachsener Verfassungsformen, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1958. In den letzten Jahren sind zwar eine Reihe von Sammelbänden erschienen, die das Demokratieproblem in der Welt jenseits von Europa und der USA mit Tocquevilles Begriffen und Konzepten zu erfassen versuchen, doch wird das Übertragungsproblem, wenn überhaupt, nur indirekt berührt und thematisiert; genannt seien hier etwa: Aurelian Craiutu/Sheldon Gellar (Hg.): Conversations with Tocqueville. The Global Democratic Revolution in the Twenty-first Century, Lanham: Lexington, 2009; Partha Chatterje/Ira Katznelson (Hg.): Anxieties of Democracy. Tocquevillean Reflections on India and the United States, Oxford: Oxford University Press 2012; Ewa Atanassow/Richard Boyd (Hg.): Tocqueville and the Frontiers of Democracy, New York: Cambridge University Press 2013. Was die deutsche Politikwissenschaft angeht,

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Zwar findet sich bei Tocqueville keine „zusammenhängende Stellungnahme“ zum Problem der Übertragbarkeit demokratischer Erfahrungen und Verfassungsformen, dennoch kann nicht behauptet werden, „nur einzelne Sätze“ Tocquevilles würden eine Beschäftigung mit dem Thema andeuten.5 Tocqueville hätte seine große Demokratiestudie wahrscheinlich nicht verfasst, wenn er nicht geglaubt hätte, dass er mit seiner Reflexionsarbeit wenigstens bei den politischen Entscheidungseliten Lernprozesse in Gang setzen und deren Handeln anleiten könnte. Es liegt auf der Hand, dass eben dies seine erklärte Absicht und Erwartung war. Nicht von ungefähr geht Tocqueville denn auch an entscheidenden Stellen seines Demokratiebuches explizit auf das Problem der Übertragbarkeit demokratischer Erfahrungen und Institutionen ein. Noch in der Einleitung heißt es, er zweifle nicht daran, dass die Franzosen, wie die Amerikaner, früher oder später zu fast völliger Gleichheit gelangen würden, doch leite er daraus nicht ab, dass sie eines Tages aus dem sozialen Zustand die „gleichen politischen Folgerungen“ ziehen müssten, zu denen die Amerikaner gelangt seien. Denn er sei weit entfernt zu glauben, sie hätten die einzige Regierungsform gefunden, die sich eine Demokratie geben könne. Er habe die Verhältnisse in den USA nicht bloß zur Befriedigung seiner Neugierde studiert, so berechtigt dies auch gewesen wäre, sondern dort lernen wollen, was ihnen zum Nutzen gereichen könnte.6 Ganz in diesem Sinne schreibt er in dem kurzen Vorwort zur 12. Auflage der Demokratieschrift aus dem Jahr 1848: „Wo denn sonst könnten wir größere Hoffnungen und größere Lehren finden als dort? Richten wir unseren Blick auf Amerika, nicht um die Einrichtungen, die es für sich schuf, sklavisch nachzuahmen, sondern um diejenigen besser zu verstehen, die uns gemäß sind, nicht so sehr um Vorbilder als um Einsichten zu gewinnen und um eher die Grundsätze als die Einzelheiten seiner Gesetze zu übernehmen. Die Gesetze der französischen Republik können und müssen in vielen Fällen andere sein als die der Vereinigten Staaten, aber die Grundsätze, auf denen die amerikanischen Verfassungen fußen, die Grundsätze der Ordnung, der Mäßigung der Gewalten, der wahren Freiheit, der aufrichtigen und tiefen Achtung vor dem Recht sind allen Republiken unentbehrlich, sie gelten für alle, und man kann von vornherein sagen, dass da, wo sie fehlen, die Republik bald verschwunden sein wird.“7

Die ausführlichste Betrachtung des Übertragungsproblems findet sich gegen Ende des neunten Kapitels des ersten Demokratiebandes, gewiss nicht von ungefähr,

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sei nur ein neuer repräsentativer Band genannt: In dem just 2016 veröffentlichten Sonderheft 51 der Politischen Vierteljahresschrift zum Thema „Demokratie jenseits des Westens. Theorien, Diskurse, Einstellungen“, herausgegeben von Sophia Schubert und Alexander Weiß, wird weder das Übertragungsproblem demokratischer Institutionen und Erfahrungen explizit gestellt noch spielt Tocqueville in der Diskussion eine bedeutende Rolle. Erstaunlich ist, dass Tocqueville nicht einmal in dem Beitrag von Oliver Hidalgo erwähnt wird, da er seine Konzeption der „demokratischen Antinomien“ nach eigener Auskunft im Anschluss an Tocqueville entwickelt hat. So aber Eckhart G Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/49. Zum Problem der Übertragung gewachsener Verfassungsformen, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1958, S. 27. Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 16. Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 4.

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wenn man bedenkt, dass die letzten zwei Unterkapitel die eigentliche Schlussbetrachtung der Studie darstellen; deren Titel lauten: „Würden die Gesetze und die Sitten anderswo als in Amerika zur Erhaltung der demokratischen Einrichtungen ausreichen?“ und „Bedeutung des Vorangehenden für Europa“ (übrigens wirkt das zehnte, letzte Kapitel des ersten Bandes, das dem Zustand und der Zukunft der Schwarzen und Indianerstämme gewidmet ist, etwas abgehoben vom Rest, so als sei es in letzter Minute angehängt). Dort betont der Analytiker zunächst, dass der Erfolg demokratischer Einrichtungen in den Vereinigten Staaten mehr von den Sitten und den Gesetzen abhängt als von der Natur des Landes. Sodann fragt er, was dies konkret für die Übertragbarkeit der Demokratie auf andere Länder und Völker bedeuten könnte und antwortet: Da außerhalb Amerikas keine Völker zu finden seien, die ohne den gleichen materiellen Bedingungen zu unterliegen, deren Gesetze und Sitten angenommen hätten, gäbe es in dieser Frage streng genommen keine empirischen Vergleichsmöglichkeiten; deshalb müsse er sich lediglich mit mehr oder weniger plausiblen Vermutungen begnügen.8 Wenn die Menschen Amerikas aber anders wären als irgendwo sonst, wenn ihre soziale Lebensform bei ihnen Gewohnheiten und Meinungen entstehen ließe, die den in Europa unter gleichen Verhältnissen entstehenden Sitten entgegengesetzt wären, so könnte das Geschehen in der amerikanischen Demokratie nicht über das belehren, was in anderen Demokratien vor sich gehen müsste. Doch dem sei nicht so. Denn er sei in Amerika den gleichen Leidenschaften begegnet, die er aus Europa kenne; die einen kämen aus der Natur des menschlichen Herzens selbst, die anderen aus dem demokratischen Zustand der Gesellschaft.9 Was er bei den Angloamerikanern gesehen habe, lasse ihn glauben, dass die demokratischen Einrichtungen, wenn sie vorsichtig in die Gesellschaft eingeführt, sich mit den Gewohnheiten nach und nach vermischen und in den Meinungen des Volkes Wurzeln schlagen würden, anderswo als in Amerika Bestand haben könnten. Was ist aber mit dem „anderswo als in Amerika“ gemeint: Frankreich und Europa oder doch die ganze Welt und Menschheit? Ist Tocquevilles berühmte Formulierung, eine „völlig neue Welt“ erfordere eine neue politische Wissenschaft wörtlich zu verstehen? Tatsächlich gibt es gute Gründe, die dafür sprechen, dass Tocqueville die gesamte Menschheit als Subjekt und die Welt als Schauplatz der demokratischen Revolution gesehen hat, obwohl die Demokratisierungsprozesse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch in den Anfängen steckten wie vor kurzem Jürgen Osterhammel in seiner monumentalen Geschichte des 19. Jahrhunderts gezeigt hat.10 Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Tocqueville die Geschichte und Zukunft der modernen Demokratie in erster Linie im lateinchristlich geprägten 8 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 357. 9 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 359. 10 Aus seiner Darstellung geht hervor, dass vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte die Welt und Menschheit zusammenrückte wie nie zuvor in der Geschichte und infolge dieser politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen „asymmetrischen Referenzverdichtungsprozesse“ starke Tendenzen zur Gleichheit und Emanzipation – trotz diversen Anfechtungen, Abwehrreaktionen und Rückschlägen – sich Bahn brachen. Siehe dazu: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, München: Beck 2009, S. 1292, 1295 ff.

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Erfahrungsraum verortet. Tocqueville verbleibt denn auch mit seiner Reflexionsarbeit über die Demokratie im europäischen bzw. „westlichen“ Erfahrungshorizont; andere Weltreligionen und Weltregionen tauchen erst gar nicht auf, oder sie werden in wenigen Sätzen zu Vergleichszwecken gestreift, um die meist positiven Besonderheiten der europäisch-christlichen Tradition hervorzuheben. Für eine Berücksichtigung nicht-christlicher Weltreligionen und Weltregionen oder gar für eine systematische Analyse ihrer Demokratietauglichkeit bestand für ihn wohl auch kein Anlass, galt doch seine Sorge und Denkanstrengung vorrangig der Bewältigung der politischen Konfliktlage in postrevolutionärem Frankreich und Europa. Wenn man bedenkt, dass die moderne Demokratie für Tocqueville ein Kind des lateinischen Christentums ist, das in Europa geboren und in den USA groß geworden ist, drängt sich die Frage auf, ob die politischen Austausch- und Lernprozesse zwischen Europa und den USA durch die gemeinsame lateinchristliche Herkunftsprägung begünstigt, wenn nicht sogar erst ermöglicht wurden, weil sie eine Art politische Sprache jenseits der gesprochenen Sprachen begründet. Im Folgenden möchte ich zunächst in einem ersten Schritt der Frage nachgehen, wie Tocqueville eigentlich die Entstehung der modernen Demokratie im westlichen Erfahrungsraum denkt, da dies für das Problem der Übertragbarkeit demokratischer Erfahrungen und Institutionen aufschlussreich ist; sodann werde ich das Problem der Übertragbarkeit am Beispiel religionspolitischer Lernprozesse erörtern, bevor ich dann mit einigen Überlegungen zur Frage nach der Lernbereitschaft islamischer Gesellschaften von Europa und den USA schließe. 2. DIE MODERNE DEMOKRATIE ALS EUROPÄISCH-CHRISTLICHER LERNPROZESS Tocqueville stellt in der Einleitung der Demokratieschrift fest, eine gänzlich neue Welt bedürfe einer neuen politischen Wissenschaft. Das völlig Neue in der Welt ist die große demokratische Revolution, von der der Autor immer wieder spricht. Darunter versteht er eine weit ausholende gesellschaftliche Bewegung, die zur stufenweisen Entwicklung der égalité des conditions, also der Gleichheit der Bedingungen führt. Diese Entwicklung hin zu mehr Gleichheit unter und zwischen Menschen sei in der gesamten christlichen Welt im Gange; sie sei dort zum Teil bereits eine vollzogene und zum Teil eine sich noch vollziehende Tatsache: „Die gesellschaftlichen Bedingungen der christlichen Völker gleichen sich heute mehr als irgendwann und irgendwo auf der Welt“.11 Dabei sei die demokratische Revolution kein abrupter Einbruch in die Geschichte, keine plötzliche Erfindung von gestern, also auch nicht das Werk der Französischen Revolution von 1789, wie Tocqueville ja später in seinem zweiten großen Werk über den „Alten Staat und die Revolution“ zeigen sollte.12 Denn sie sei seit Jahrhunderten unterwegs in der Geschichte, ihre

11 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 8. 12 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, München: dtv 1978.

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Ursprünge reichten genau genommen bis tief in das Mittelalter zurück. Um die zurückgelegte Strecke auf dem Weg zur Gleichheit deutlich zu machen, vergegenwärtigt sich Tocqueville kurz den politischen Zustand Frankreichs vor sieben Jahrhunderten und liefert dabei eine Skizze des langwierigen historischen Prozesses, der zur Gleichheit geführt hat. Im 11. Jahrhundert sei Frankreich unter wenigen Familien aufgeteilt gewesen, die den Grund und Boden besaßen und die Einwohner regierten; die Befehlsgewalt habe sich damals von einer Generation auf die nächste vererbt. Allein das Grundeigentum habe damals Macht verliehen, und die Menschen hätten nur ein Mittel gekannt, aufeinander zu wirken, nämlich die Gewalt. Alsbald sei aber die politische Macht des Klerus entstanden, die sich rasch ausgebreitet habe. Der Klerus habe seine Reihen jedermann geöffnet, dem Armen wie dem Reichen, dem Bürger wie dem Adligen. Wer bis dahin als Leibeigener in ewiger Knechtschaft elend dahinlebte, habe als Priester mitten unter dem Adel Platz genommen und sich dank dieser Eigenschaft später oft über Könige erheben können. Infolge dessen habe die Gleichheit begonnen, über die Kirche in die Regierung einzudringen. Mit der Zeit habe sich die Gesellschaft mehr und mehr gefestigt und zivilisiert; die Beziehungen zwischen den Menschen seien mannigfaltiger und komplizierter geworden. Dadurch sei das Bedürfnis nach bürgerlichen Gesetzen entstanden, was wiederum die Rechtsgelehrten auf den Plan treten ließ; die letzteren seien aus der Zurückgezogenheit verstaubter Kanzleien und dunkler Gerichtssäle ans Tageslicht gekommen und hätten sich im Gerichtshof des Fürsten an der Seite waffengeschmückter Feudalherren niedergelassen. Eine weitere Etappe zur Gleichheit wurde Tocqueville zufolge später eingeleitet, als die Könige sich in gewaltigen Unternehmungen zugrunde richteten, die Adligen sich in Privatfehden erschöpften und die Bürger durch den Handel zu Reichtum kamen. In dieser Konstellation habe sich der Einfluss des Geldes auf die Staatsgeschäfte allmählich bemerkbar gemacht. Der Handel sei eine Quelle der Macht und die Financiers eine politische Größe geworden, die man zugleich verachtete und umwarb. Seit die Bürger anfingen, den Grund und Boden nicht mehr als Lehen zu besitzen, und seit der mittlerweile aufgekommene Reichtum an beweglichen Gütern Einfluss und Macht verlieh, habe es keine Entwicklungen in Handel und Gewerbe mehr gegeben, die nicht neue Bausteine zur Gleichheit unter den Menschen geliefert hätten. Alle neuen Bedürfnisse und Wünsche, die im Zuge dieser Entwicklung entstanden und vom Menschen befriedigt worden seien, stellten weitere Schritte auf dem Weg zur allgemeinen Nivellierung dar. Die Neigung zum Luxus, die Herrschaft der Mode, die Liebe zum Krieg, die oberflächlichsten wie tiefsten Leidenschaften des menschlichen Herzens hätten allesamt darauf hingearbeitet, den Reichen arm und den Armen reich zu machen. Als weiterer – die Unterschiede zwischen den Menschen nivellierender – Faktor sei langsam die Bildung und Wissenschaft ins Spiel der historischen Kräfte gekommen; der Sinn für Literatur und Künste sei erwacht, der Geist ein Element des Erfolgs, die Wissenschaft ein Hilfsmittel der Regierung und die Intelligenz eine soziale Macht geworden. Infolge dessen seien die Gelehrten langsam in die Leitung der Staatsgeschäfte eingesickert. Seit die geistige Arbeit zu einer Quelle des Reichtums und der Macht wurde, hätten

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jede Entwicklung der Wissenschaft, jede neue Erkenntnis und Vorstellung zum Machtzuwachs des Volkes beigetragen. Dichtkunst, Beredsamkeit, Witz, Einbildungskraft, Gedankentiefe: all` jene Gaben, die der Himmel nach Belieben austeilt, hätten die Demokratie gefördert, und selbst wenn sie sich im Besitz der Gegner der Demokratie befanden, hätten sie ihrer Sache gedient, indem sie Zeugnis gaben von der natürlichen Größe des Menschen. Vor allem die Literatur hätte ein für jedermann offenes Arsenal geboten, aus dem sich die Schwachen und die Armen täglich bewaffnen konnten. Neben diesen gewissermaßen externen Ursachen nennt Tocqueville auch einen genuin politischen Einflussfaktor; dieser besteht in der historischen Machtkonkurrenz zwischen König und Adel. Während der vergangenen sieben Jahrhunderte sei es zuweilen vorgekommen, dass die Adligen dem Volk politische Macht gegeben hätten, um so gegen die königliche Autorität zu kämpfen oder ihren Rivalen die Macht zu entreißen. Noch häufiger hätten aber die Könige die unteren Klassen an der Regierung teilhaben lassen, um die Macht der Aristokratie zu schwächen. Zumal in Frankreich hätten sich die Könige als die geschäftigsten und beharrlichsten Gleichmacher gezeigt; wenn sie ehrgeizig und mächtig gewesen seien, hätten sie versucht, das Volk auf das Niveau der Adligen zu erheben; wenn sie hingegen maßvoll und schwach gewesen seien, hätten sie gar zugelassen, dass sich das Volk über die Adligen stellte. Folglich hätten die einen die Demokratie durch ihre Talente, die anderen durch ihre Laster gefördert. Überhaupt, meint Tocqueville, fällt es auf, wenn man die Blätter der Geschichte durchgeht, dass es keine bedeutenden Ereignisse in den letzten siebenhundert Jahren gegeben hat, die nicht die Entwicklung der Gleichheit gefördert hätten. Die Kreuzzüge und die Kriege mit England hätten die Adligen dahingerafft und ihre Ländereien zerstückelt. Die Einrichtung der Gemeinde habe die demokratische Freiheit mitten in die Feudalmonarchie hineingetragen. Die Erfindung der Feuerwaffen habe den Bürger auf dem Schlachtfeld mit dem Ritter gleichgestellt. Die Buchdruckkunst habe ihrem Verstand gleiche Hilfsmittel geöffnet, die Post die Bildung in Hütte wie Palast getragen. Der Protestantismus habe versichert, alle Menschen seien gleicherweise imstande, den Weg ins Himmelreich zu finden. Die Entdeckung Amerikas habe tausend neue Wege zum Vermögen gebahnt und Abenteurern niederer Herkunft Reichtum und Macht verschafft. Tocqueville sieht also allerlei Ereignisse im Leben der (christlichen) Völker seit dem 11. Jahrhundert zum Nutzen der Demokratie ausschlagen. Er geht davon aus, alle Menschen hätten diese mit ihren Anstrengungen gefördert, ob sie es wollten oder nicht; alle, selbst ihre erklärten Gegner, seien in die gleiche Bahn geworfen, als ob sie blinde Werkzeuge in den Händen Gottes gewesen seien. Tocqueville ist denn auch der Überzeugung, die Demokratie sei ein von der Vorsehung gewolltes Ereignis, das gewissermaßen mit Gottes Segen in der europäischen Geschichte unterwegs sei.13. Widerspricht Tocqueville sich nicht, wenn er zuerst die (europäische) Geschichte des Demokratisierungsprozesses als ein offenes Feld beschreibt, auf dem

13 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S.8.

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sich die Menschengruppen Kämpfe um Macht und Einfluss liefern, dann aber betont, sie sei das Werk der göttlichen Vorsehung? Und huldigt er nicht einem strengen historischen Determinismus, wenn er die Demokratie zum unabwendbaren Schicksal der (europäischen) Menschheit erklärt, mit dem sich die Völker abfinden müssten? Die Rede von der Vorsehung könnte tatsächlich nahe legen, Tocqueville gehe davon aus, die Geschichte vollziehe sich nach einem vorgefassten Gottesplan über die Köpfe der Menschen hinweg. Doch dem ist nicht so. Auf der letzten Seite des zweiten Demokratiebandes kommt der Autor auf die Ansicht einiger Zeitgenossen kritisch zu sprechen, nach denen die Völker auf Erden nie ihre eigenen Herren seien und notwendig einer unüberwindlichen und blinden Macht gehorchten – sei es der Rasse, dem Boden oder dem Klima. Auf die Feststellung, diese seien falsche und kraftlose Lehren, die stets nur schwache Menschen und verzagte Völker hervorbringen könnten, folgt seine Sichtweise der Dinge: „die Vorsehung hat das Menschengeschlecht weder ganz unabhängig noch völlig sklavisch geschaffen. Freilich zieht sie um jeden Menschen einen Schicksalskreis, dem er nicht entrinnen kann; aber innerhalb dieser weiten Grenzen ist der Mensch mächtig und frei; so auch die Völker.“14

Auf die Demokratie angewandt, bedeutet dies für Tocqueville, die Nationen könnten zwar nicht verhindern, dass bei ihnen die gesellschaftlichen Bedingungen gleich seien oder würden; aber von ihnen hinge es ab, ob die Gleichheit sie in die Knechtschaft oder in die Freiheit, zur Gesittung oder in die Barbarei, zum Wohlstand oder ins Elend führt. Bei näherer Betrachtung der Tocquevilleschen Demokratieanalyse zeigt sich sogar, dass es nicht einmal ausgemacht ist, dass die Dynamik zur Gleichheit unumkehrbar ist; erwägt er doch bekanntlich die Möglichkeit, dass eine neue Aristokratie aus der Unternehmerschicht entsteht, die härter ist als jede zuvor auf dieser Erde.15 Tocqueville ist also weit davon entfernt, den Menschen für ein blindes Werkzeug in Händen Gottes zu halten und die Geschichte für eine ihm vorgezeichnete Einbahnstraße. Dazu hat er wohl eine allzu hohe Meinung vom Menschen und seiner Freiheit. Was bedeutet nun aber die Rede Tocquevilles von der Vorsehung, wenn er damit nicht einem strengen Determinismus huldigt? Ist sie nur ein rhetorischer Kniff, mit dem er die reaktionären Katholiken auf die Seite der Demokratie ziehen wollte, wie viele Interpreten Tocquevilles meinen? Tatsächlich ist man zunächst versucht, anzunehmen, die Tocquevillesche Rede von der Vorsehung impliziere im Grunde keinen Glauben an die Gottesurheberschaft der Demokratie, sondern stehe lediglich metaphorisch für die Unaufhaltsamkeit der Gleichheit in der Geschichte. Schließlich scheint er die graduelle Entwicklung zur Gleichheit in der Geschichte als ein „fait providentiel“ zu qualifizieren, weil sie dessen wesentlichen Merkmale aufweist: sie ist allgemein, sie ist beständig, und alle Begebenheiten und Menschen dienen ihr, so dass sie sich der menschlichen Einwirkung zu entziehen scheint. Toc-

14 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 830. 15 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 650.

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queville stand wohl unter dem überwältigenden Eindruck der demokratischen Entwicklungsdynamik in der Geschichte und brachte diesen durch die Denkfigur der Vorsehung zum Ausdruck; in der Einleitung heißt es denn auch, er habe das Demokratiebuch unter dem Eindruck einer Art religiösen Schauders geschrieben.16 Doch selbst wenn man die pädagogische Motivation der Argumentation auch in dem Zusammenhang nicht gering veranschlagt, ist es zweifelhaft, dass eine solche Lesart Tocquevilles Denken gerecht wird – aus zwei Gründen, die aufeinander hinweisen: zum einen kommt dem Christentum in der von Tocqueville nachgezeichneten Entstehungsgeschichte der Demokratisierung neben anderen Potenzen und Kräften eine herausragende Bedeutung zu. Tocqueville würdigt in seiner historischen Skizze, wie wir oben gesehen haben, nicht nur den Protestantismus als eine Kraft, die die Gleichheit unter den Menschen besonders begünstigt hat, sondern lässt – was womöglich von größerem Gewicht ist – die Gleichheit aus der Kirche selbst hervorgehen. Bezeichnenderweise ist es ihm zufolge der Klerus gewesen, der die demokratische Revolution in Gang gesetzt hat, indem er Angehörige unterer Schichten in seine Reihen aufnahm und damit gegen das aristokratische Prinzip der erblichen Privilegien agierte.17 Welche Motive den Klerus konkret dazu veranlasst haben – ob es etwa Machtinteressen oder genuin religiöse Überzeugungen waren – geht zwar aus der Analyse Tocquevilles nicht hervor. Prinzipiell aber geht Tocqueville davon aus, die christliche Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott habe die soziale und politische Entwicklung hin zur modernen 16 Peter Graf Kielmansegg behauptet in einem brillanten Aufsatz, in dem er Tocqueville als Meisterdenker der Demokratie würdigt, Tocqueville habe mit seiner „Geschichtstheologie“ sein Programm empirisch-wissenschaftlicher Analyse („Aufklärung durch Wirklichkeitswissenschaft“) abgebrochen. Gleichwohl lässt er offen, ob der Gebrauch religiöser Wendungen bei Tocqueville nur metaphorisch zu verstehen ist. Siehe dazu: Peter Graf Kielmansegg, „Tocqueville – ein Meister? Überlegungen zum Rang des Demokratie-Analytikers Tocqueville“, in: Klaus Armingeon (Hg.), Staatstätigkeiten, Parteien und Demokratie. Festschrift für Manfred G. Schmidt, Wiesbaden: Springer 2013, S. 457−472, hier S. 462. 17 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 6. Da Tocqueville nicht angibt, woran er hierbei konkret denkt, kann man darüber mehr oder weniger plausible Vermutungen aufstellen; Francis Fukuyama meint dazu: “Tocqueville scheint etwas Bestimmtes aus der französischen Geschichte im Sinn zu haben; ihm zufolge öffnete sich um dieses Datum [sieben Jahrhunderten zuvor] die Geistlichkeit gegenüber allen Menschen, arm und reich, und trat selbst in die Regierung ein, womit sie auch Menschen von bescheidener Herkunft den Weg in die obersten Ränge der Macht möglich machte. Tocqueville scheint sich auf die Zisterziensern zu beziehen, einen Mönchsorden, der 1098 in Burgund gegründet wurde und Mitte des zwölften Jahrhunderts enorm wuchs, nachdem sich Bernhard von Clairvaux ihm mit einer Reihe seiner Anhängern angeschlossen hatte. Zurzeit von Bernhards Tod hatten die Zisterzienser 338 Abteien gegründet, großen Reichtum angehäuft und trugen maßgeblich zu dem materiellen Fortschritt bei, der Frankreich während dieses Jahrhunderts prägte.” Franics Fukuyama, Democracy in the World. Tocqueville Reconsidered, Baltimore: John Hopkins University Press 2000, S. 15. Fukuyama betont, dass aus der Darstellung Tocquevilles nicht hervorgeht, ob das Verhalten der Klerikalen der christlichen Wahrheit entsprungen ist oder aber von weltlichen Interessen motiviert war. Siehe auch: Francis Fukuyama, Francis, “The March of Equality”, in: Journal of Democracy, Vol. 11, Nr. 1, 2000, S. 11−17, hier S.15.

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Demokratie überhaupt erst ermöglicht. Und dies ist denn auch der zweite Grund, warum die Rede Tocquevilles von der göttlichen Herkunft der Gleichheit durchaus ernst genommen werden muss. In der Tat: Die Gleichheit aller Menschen ist Tocqueville zufolge eine genuin christliche Errungenschaft in der Menschheitsgeschichte. Weder die Griechen noch die Römer seien jemals zu der Idee vorgestoßen, dass alle Menschen einander gleich seien und von Geburt an über ein gleiches Recht auf Freiheit verfügten.18 Im Gegenteil: sie hätten sich bemüht, zu beweisen, dass die Sklaverei in der Natur der Dinge liege und daher immer bestehen werde. Im Übrigen hätten die Sklaven selbst die Dinge nicht anders gesehen. Erst Jesus Christus habe der Welt die frohe Botschaft verkündet, dass alle Angehörigen des Menschengeschlechts einander ähnlich und gleich seien. Widerspricht Tocqueville sich aber nicht selbst, wenn er gleichzeitig die Entstehung der Vorstellung eines einzigen Gottes auf die Gleichheit der Menschen zurückführt? Tatsächlich heißt es in einem Kapitel des zweiten Demokratiebandes: „Ähnliche und gleichgestellte Menschen begreifen sehr leicht die Vorstellung eines einzigen Gottes, der jedem von ihnen das gleiche vorschreibt und ein künftiges Glück um den gleichen Preis gewährt. Die Vorstellung der Einheit des Menschengeschlechtes führt sie beständig zum Bild der Einheit des Schöpfers zurück, wogegen voneinander stark gesonderte und sehr verschiedene Menschen gern dazu neigen, ebenso viele Gottheiten aufzustellen, als es Völker, Kasten, Klassen und Familien gibt, und unzählige Sonderwege vorschreiben, um in den Himmel zu gelangen.“19

Zweifelsohne habe auch das Christentum diesen Einfluss des gesellschaftlichen und politischen Zustandes erfahren; in dem Zeitpunkt nämlich, da die christliche Religion auf Erden erschien, habe die Vorsehung einen großen Teil des Menschengeschlechts wie eine gewaltige Herde unter dem Herrscherstab der römischen Kaiser vereinigt. Trotz aller sonstigen Unterschiede sei ihnen gemeinsam gewesen, dass alle den gleichen Gesetzen gehorchten und ein jeder von ihnen im Vergleich zur Größe des Fürsten so schwach und so klein war, dass sie im Vergleich zu ihm alle gleich erschienen. Erst dieser Zustand der Gleichheit habe die Menschheit empfänglich gemacht für die allgemeinen Wahrheiten der christlichen Religion. Noch einmal: Hebt Tocqueville mit dieser religionssoziologischen, für einen Gläubigen „ketzerischen“ Erklärung der Entstehung des Christentums aus Nivellierungstendenzen im römischen Reich seine These, die Gleichheitsrevolution sei christlichen Ursprungs, nicht aus den Angeln? Wiewohl Zweifel bleiben, scheint Tocqueville selber keinen Widerspruch am Werke gesehen zu haben, weil er auch die allmähliche Egalisierung zwischen Menschen im Römischen Reich als eine Vorbereitungsleistung der (christlichen?) Vorsehung zu betrachten geneigt ist. Er hält denn auch an seiner Überzeugung fest, dass die Menschheit als Kollektivsubjekt weder im Erfahrungshorizont der Griechen und Römer noch der aristokratischen Gesellschaften existierte. Deutlich wird dies wiederum in einem anderen Ka-

18 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 499. 19 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 507.

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pitel des zweiten Demokratiebandes, in dem Tocqueville dem Einfluss der Gleichheit auf die Sitten und Umgangsformen der Menschen nachspürt. Dort stellt der Autor fest, dass in den aristokratischen Gesellschaften, in denen die Menschen in eine bestimmte Kaste oder Klasse mit spezifischen Rechten und Sitten hineingeboren werden, die Menschen sich als derart verschieden empfanden, dass sie sich kaum der gleichen Menschheit zugehörig fühlen konnten.20 Zur Veranschaulichung seines Gedankens erwähnt er den Fall einer Frau, die als Adlige ihre Kinder leidenschaftlich liebt und am Kummer ihrer Freunde äußerst mitfühlend teilnimmt, aber für das Leiden des gemeinen Volkes nicht das geringste Mitgefühl aufbringen kann; sie habe schlicht keinen Begriff davon gehabt, erklärt Tocqueville, was Leiden bedeutete, wenn man nicht als Aristokrat geboren sei. Auch für die Römer sei es selbstverständlich gewesen, dass die Fremden nicht der gleichen Menschengattung angehörten wie sie selbst. Cicero, dem die Vorstellung eines gekreuzigten Bürgers lebhafte Seufzer entlocken konnte, habe mit keiner Wimper gezuckt, wenn die feindlichen Heerführer im Triumphzug hinter einem Wagen her geschleppt und danach zum Vergnügen des Volkes den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen wurden. In einem demokratischen Zeitalter der Gleichheit wäre dies undenkbar, meint Tocqueville; ganz gleich, ob es sich um Freunde oder Feinde handele, die Einbildungskraft versetze den Menschen alsbald an deren Stelle. In sein Mitleid mischte sich persönliches Erleben, er würde daher selbst schrecklich leiden, sollte einem Mitmenschen der Leib zerrissen werden. Doch auch an dieser Stelle sind Zweifel angebracht, wobei sie auch hier nicht einmal von außen an Tocqueville herangetragen werden müssen, weil sie sich aus seiner eigenen Analyse ergeben. Hat denn Tocqueville nicht im letzten Kapitel des ersten Bandes der Demokratieschrift eindringlich beschrieben, wie erbarmungsund hemmungslos der Umgang europäischer Einwanderer mit einheimischen Indianern und schwarzen Sklaven in den Vereinigten Staaten war? Hat er das Schicksal der Indianer und der Sklaven nicht in einer Weise beschrieben, die seiner Annahme von der christlich begründeten Gleichheit aller Menschen und der einen Menschheit geradenwegs widerspricht? Tatsächlich hat Tocqueville im Erfahrungslaboratorium der USA beobachtet, dass auch im demokratischen Zeitalter der Gleichheit mehr oder weniger willkürlich Grenzen gesetzt werden können. Ihm ist nicht entgangen, dass die schwarzen Sklaven in den Vereinigten Staaten eben nicht zu der gleichen Menschheit gezählt wurden, weshalb man auch keinen Sinn für ihr Leiden hatte: „Es ist leicht zu erkennen, daß das Los dieser Unglücklichen ihren Herren wenig Mitleid einflößt, und daß diese in der Sklaverei nur einen Tatbestand sehen, der ihnen Gewinn bringt, sondern überdies ein Übel, das sie nicht berührt. So wird der gleiche Mensch, der für seine Mitmenschen voll Mitgefühl ist, wenn diese zu seinesgleichen gehören, gefühllos gegenüber ihren Leiden, sobald die Gleichheit aufhört. Man muß also seine Milde dieser Gleichheit zuschreiben, mehr noch als der Kultur und der Bildung.“ 21

Der weiße Europäer sei „der Mensch par excellence“, ihm seien der Schwarze und der Indianer untergeordnet; von den letzteren heißt es dann: 20 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 653. 21 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 657.

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Ahmet Cavuldak „Diese beiden vom Schicksal geschlagenen Rassen haben weder Geburt noch Gestalt gemein, weder Sprache noch Sitten; sie sind ähnlich nur in ihrem Unglück. Beide nehmen eine gleich niedrige Stellung in ihrem Wohnland ein; beide erleiden die Folgen der Tyrannei; und ist ihr Elend auch ungleich, so können sie dafür die gleichen Urheber anklagen.“ 22

Für den Fall, dass der Leser ihn noch nicht verstanden haben sollte, vergewissert Tocqueville sich anschließend mit einer Frage, die er gleich selber beantwortet: „Hat man beim Anblick der Vorgänge in der Welt nicht den Eindruck, daß der Europäer für den Menschen anderer Rassen das ist, was der Mensch als solcher für die Tiere bedeutet? Er macht sie seinem Dienst untertan, und wenn er sie nicht unterjochen kann, vernichtet er sie.“

Damit kein Missverständnis aufkommt: Tocqueville huldigt hier keinem Rassismus oder blindwütigen universalen Zivilisations- und Fortschrittsglauben, mit dem etwa sein namhafter englischer Freund John Stuart Mill die Völker der Erde missionieren und gegen ihren Willen beglücken wollte.23 Der von Tocqueville bemühte Vergleich der Überlegenheit der Europäer gegenüber Menschen anderer Rassen mit der gattungsspezifischen Kluft zwischen Mensch und Tier dient zur kritischen Beschreibung bestehender Verhältnisse der Ungleichheit. Seine Analyse des „vernichtenden Einflusses“ der „sehr zivilisierten Europäer“ auf die „halbbarbarischen“ Indianer ist denn auch voll von leiser Anklage. An einer Stelle heißt es ironisch und bitter zugleich: „Genau gesehen sind es also nicht die Europäer, welche die Eingeborenen Amerikas verjagen, der Hunger tut es: eine geschickte Unterscheidung, die den alten Haarspaltern entgangen war und welche die heutigen Schriftgelehrten herausfanden. Das schrecklichen Leiden, die diese erzwungene Auswanderung begleiten, kann man sich nicht vorstellen“ 24

22 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 367. 23 John Stuart Mill, der selbst jahrelang als hoher Beamter der East India Company gedient hat, begründet in seinen Considerations on Representative Government die Notwendigkeit eines zivilisierenden despotischen Regimes, das den „wilden“ Völkern zunächst den Gehorsam, dann die Arbeit und schließlich irgendwann die demokratische Selbstregierung beibringen soll, mit einem geschichtsphilosophisch untermauertem Zivilisations- und Fortschrittsglauben. Siehe: John Stuart Mill, Considerations on Representative Government, in: Mill, On Liberty and other Essays, Oxford: Oxford University Press 1991, S. 203−467, hier S. 208 ff. Wiewohl auch Tocqueville an der Überlegenheit der „westlich-christlichen“ Zivilisation keinen Zweifel hegt, ist er weit entfernt davon, sie im Vergleich mit anderen Völkern und Lebensformen als eine Errungenschaft zu feiern. Dazu hatte er wohl ein allzu waches Bewusstsein für die Verluste und Schatten der modernen Zivilisation Europas. In einer Briefäußerung aus dem Jahr 1830 heißt es einmal, man könne nicht unbedingt sagen, der zivilisierte Mensch sei ein besserer Mensch, er würde eben Tugenden und Laster zugleich bekommen. Siehe: Alexis de Tocqueville, Lettres choisis, Souvenirs, Paris: Gallimard 2003, S. 147. Während Tocqueville das Schicksal der Indianer und Schwarzen in Nordamerika mitfühlend beklagt, hat er später als Politiker das imperiale Ausgreifen Frankreichs in Algerien nach Kräften unterstützt; bezeichnend ist aber, dass sein in dem Zusammenhang vollzogener „turn to empire“ im Vergleich zu demjenigen von Mill und anderen Liberalen des 19. Jahrhunderts „gebrochen“ ist, weil ihm jeglicher missionarischer Zivilisationsglauben abgeht. Siehe dazu: Jennifer Pitts, A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France, Cambridge: Cambridge University Press 2004. 24 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 375.

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Einige Seiten weiter vergleicht Tocqueville das Vernichtungswerk der Spanier mit demjenigen der Amerikaner und kommt zu dem Schluss, dass letztere die Ausrottung der Indianer mit bewundernswerter Leichtigkeit und ohne großen Aufwand, ruhig, gesetzesmäßig, ohne Blutvergießen, ja sogar mit Menschenliebe vollbracht hätten: „Man könnte die Menschen nicht mit mehr Ehrfurcht vor den Gesetzen der Menschlichkeit vernichten.“25 In einer Fußnote, in der Tocqueville den Bericht des für die Indianerfrage zuständigen Komitees thematisiert, stellt er mit Verwunderung fest, mit welcher Leichtigkeit die Herren sich Argumenten des Natur- und Vernunftrechts entledigen. Je mehr er sich darüber Gedanken mache, was den zivilisierten vom unzivilisierten Menschen in Sachen Gerechtigkeit unterscheide, umso deutlicher sehe er, dass der einzige Unterschied darin bestehe, dass die einen die Gerechtigkeit kurzerhand bestritten während die anderen sich damit begnügten, sie mit Füßen zu treten. Dennoch weigert sich Tocqueville beharrlich, in dem nicht gerade brüderlichen Umgang der Europäer mit den einheimischen Indianern und schwarzen Sklaven einen Gegenbeweis seiner These zu erblicken, die Gleichheit aller Menschen sei eine genuin christliche Idee; und dies, obwohl er einmal eingesteht, dass das Christentum, wenn auch nur zeitweilig und ausnahmsweise, die Knechtschaft von Menschen gutgeheißen und dadurch der Menschheit eine nur schwer zu heilende Wunde zugefügt hat.26 Er geht letztlich davon aus, dass die christliche Religion auch die Indianer und die Schwarzen als Angehörige der großen Menschheitsfamilie betrachtet – gewissermaßen über ihre Köpfe hinweg. Folgerichtig führt er die Ungleichheit zwischen ihnen und Europäern auf andere historische (widrige und tragische) Umstände, Faktoren und Interessen zurück, die früher oder später der vom Christentum in Gang gesetzten historischen Gleichheitsdynamik weichen und erliegen müssten. Dabei ist ihm völlig bewusst, dass der von den Betroffenen im Zuge der gewaltsamen Begegnung mit der imperial ausgreifenden demokratischen Revolution zu entrichtende Preis ein schrecklich hoher sein würde (den übrigens Tocqueville später als Politiker bei der kolonialistischen Algerienpolitik Frankreichs aus nationalen Interessen in Kauf nahm, um nicht zu sagen billigte).27 Den einheimischen Indianern und schwarzen Sklaven wird ihre besondere historisch verbürgte 25 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 393. 26 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 395. 27 Matthias Bohlender zeigt in seinen Überlegungen zum Zusammenhang zu „Demokratie und Imperium“, dass Tocqueville in der kolonialen Ausdehnung Frankreichs über das Mittelmeer hinweg analog zur europäischen Landnahme Nordamerikas die Chance gesehen hat, den inneren Gefährdungen der Demokratie, vor allem der drohenden Trägheit und Lethargie der bürgerlichen Klasse, entgegenzuwirken. Darüber hinaus arbeitet Bohlender heraus, dass Tocqueville als „zweifelnder und verzweifelter Realist“ – zunächst implizit im Amerikabuch und später explizit in seinen Algerienschriften – auf das zentrale Problem der modernen Demokratie gestoßen ist, wie die unaufhaltsame Expansion der demokratischen Lebensform möglich sein soll, ohne die Lebensweise nicht-europäischer Völker und Bevölkerungen der Eroberung, Unterwerfung und Vernichtung preiszugeben. Er kommt zu dem Schluss, dass sich Tocqueville das Dilemma zwischen Demokratie und Imperium nie wirklich eingestanden oder gar analytisch bearbeitet hat. Stattdessen sei er ihm mit Ironie und Moralistik ausgewichen oder habe in der Deutung des Dilemmas als große und schicksalhafte Tragödie Zuflucht gesucht. Siehe:

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Lebensform zum Hindernis und Verhängnis: die einen sind wilde Unbeugsame und bewegen sich an den äußersten Grenzen der Freiheit, während die anderen als Unterwürfige an den Grenzen der äußersten Knechtschaft wandeln. Beide Menschengruppen geraten zufällig in den Wirkungskreis und gewaltsamen Strom der demokratischen Umwälzung; sie sind im Grunde keine Träger und Gestalter von ihr, sondern von ihr Getriebene und Gehetzte. Bekanntlich hat Tocqueville im letzten Kapitel des ersten Demokratiebandes einen bitteren „Rassenkampf“ prognostiziert, weil er befürchtete, die Hautfarbe der Sklaven werde in den Augen der Weißen immer ein Zeichen ihrer Unterwürfigkeit und Unterlegenheit bleiben, während die Schwarzen ihrerseits die grausame Gewalt des weißen Herrenvolkes nicht vergessen und verzeihen werden. Dennoch ist Tocqueville der Überzeugung, die Sklaverei könne nicht von Dauer sein, weil sie vom Christentum als ungerecht und von der politischen Ökonomie als schädlich angegriffen werde; sie werde inmitten der demokratischen Freiheit und Bildung nicht fortbestehen können.28 Diese Äußerung ist aufschlussreich für die Denkweise Tocquevilles – zeigt sie doch, dass die Gleichheit, die er dem Christentum zuschreibt, im Grunde erst zu konkreter Wirksamkeit gelangt, wenn andere Faktoren und Kräfte wie Ökonomie, Bildung und Freiheit sich dazugesellen und einander schöpferisch zuarbeiten. Der Analytiker selbst lässt Zweifel an seiner Behauptung eines notwendigen Entstehungszusammenhanges zwischen Gleichheit und Christentum aufkommen, wenn er zu Beginn des ersten Demokratiebandes die Gleichheit unter den Siedlern vor allem auf die gemeinsame Erfahrung von Armut und Unglück zurückführt. Armut und Unglück seien, behauptet Tocqueville dort, überhaupt die unter Menschen bekannte bestmögliche Garantie von Gleichheit.29 Die Formulierung schließt zwar nicht aus, dass Gott ein besserer und sicherer Garant der Gleichheit von und unter Menschen sein kann, macht aber deutlich, dass die Gleichheit ihre Ursprünge sehr wohl auch in kontingenten historischen Erfahrungen haben und von diesen ihre Schubkraft beziehen kann. Deshalb kann man im Ergebnis sagen, dass Tocquevilles Behauptung von der Entstehung der modernen Demokratie aus dem Geist des Christentums in Europa einer wohlwollend selektiven und abstrakten Betrachtungsweise des Christentums entspringt, die souverän über alle Niederungen der Geschichte hinwegsieht. Gegen die Sichtweise der Demokratie als eine Anverwandlung christlicher Sinngehalte lässt sich mit dem protestantischen Theologen Ernst Troeltsch, der im Übrigen eine hohe Meinung von Tocquevilles Werk hegte und selber von gewissen Affinitäten zwischen christlicher Religion und moderner Demokratie ausging, zweierlei einwenden: zum einen übersieht Tocqueville geflissentlich die Tatsache, dass auch in der Antike, vor allem in der stoischen Staatslehre, umfassende, naturrechtlich begründete Vorstellungen von menschlicher Freiheit und Gleichheit be-

Matthias Bohlender, „Demokratie und Imperium. Tocqueville in Amerika und Algerien“, in: Berliner Journal für Soziologie 4 (2005), S. 523−540, hier S. 536. 28 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 421. 29 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 35.

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kannt und wirksam waren, so dass der politische Übergang von der Antike zur Neuzeit nicht durch einen sprunghaften Bruch vollzogen sein müsste, sondern die modernen Menschenrechtsvorstellungen sich – wie Troeltsch einmal in einer Abhandlung über „das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht“ formuliert – einer „Umformung der alten hellenistisch-christlichen Ideen“ verdanken könnten;30 zum anderen übergeht Tocqueville den elementaren Bedeutungsunterschied zwischen einer religiösen und einer politischen Begründung der Gleichheit, obwohl er im Briefdialog mit Gobineau konzediert, dass das Gleichheitsprinzip vom Christentum ursprünglich eher auf die „immaterielle“ Sphäre angewandt wurde.31 Troeltsch hat in seinem Hauptwerk, den „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“, nicht zuletzt aufgrund dieser Unterscheidung zwischen „geistlicher“ und „materieller“ Geltungssphäre der Gleichheit deutlich hervorgehoben, dass zwischen der christlichen und der naturrechtlich-rationalistischen Gleichheitsidee ein Gegensatz besteht. Während die naturrechtlich-rationalistische Gleichheit ihre Allgemeingültigkeit aus dem baren Vernunftbesitz aller Menschen begründe, sei im Grunde der christliche Gleichheitsgedanke „rein auf die religiöse Sphäre beschränkt“: „Es ist eine Gleichheit rein vor Gott und in Gott, lediglich in der religiösen Beziehung auf Gott als den Mittelpunkt des Ganzen. Und zwar ist diese Gleichheit zunächst eine Gleichheit des Abstandes und Gegensatzes gegen die unendliche Heiligkeit Gottes […] Nicht vom gleichen Anspruch, sondern von der gleichen Unwürdigkeit aller geht die Nivellierung aus.“ 32

Gerade weil es sich bei der christlichen Gleichheit gewissermaßen um eine „negative Gleichheit“ in der „gemeinsamen Sündhaftigkeit und Bedürftigkeit“ gegenüber Gott handele, habe sie jederzeit durch den Gedanken der Prädestination und der Erbsünde durchkreuzt werden können. Es sei eben kein Zufall, dass die Christen im Mittelalter und auch später an dem Sklavenrecht „schlechterdings nichts geändert“ hätten.33 Aus dem Wissen um die politische Mehrdeutigkeit christlicher Sinngehalte folgert Troeltsch in seinem bekannten Vortrag aus dem Jahr 1906 über „die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“, die Demokratisierung der Neuen Welt dürfe „nicht einseitig und nicht direkt“ auf den Calvinismus zurückgeführt werden.34 Denn er habe sich auch in den neuenglischen Staaten zur „strengsten Theokratie“ entwickelt, in der die Wählbarkeit an die Kirchenzugehörigkeit gebunden wurde und die gewählten Herrscher ein strenges religiöses Moralregime errichteten. Daher müsse man im Grunde konzedieren, dass der „reine 30 Ernst Troeltsch, „Das stoisch-christliche und das profane Naturrecht“, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.−22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M, Tübingen: Mohr 1911, S. 166−192, hier S. 189. 31 Tocqueville, Lettres choisis, Souvenirs, S. 517. 32 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen: Mohr Siebeck, 1994, Bd. 1, S. 61. 33 Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Bd. 1, S. 133. 34 Ernst Troeltsch, „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“, in: Troeltsch, Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906−1913), Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York: Walter de Gruyter Verlag 2001, Bd. 8, S. 199−316, hier S. 262.

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naturrechtliche, von religiösen Rücksichten befreite Rationalismus“ für die Demokratieentwicklung von größerer Bedeutung gewesen sei als der Calvinismus. Auch Karl-Heinz Volkmann-Schluck bestreitet die Herkunft der modernen Demokratie aus der christlichen Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor Gott prinzipiell, weil der christliche Gleichheitssatz sich nicht auf soziale oder politische Belange beziehe, sondern vielmehr auf den Glauben und auf das von ihm erhoffte „weltjenseitige Heilsziel“ abstelle: „Der christlich-theologische Glaubenssatz von der Gleichheit aller Menschen vor Gott will sagen: Mögen die Menschen in ihrem irdisch-hiesigen Leben sich in einer noch so großen Ungleichheit befinden, vor dem welttranszendenten Gott im Hinblick auf ihr Seelenheil im Jenseits sind sie alle gleich. Und so war denn auch die christliche Theologie eine Hauptträgerin der mittelalterlichen Feudalordnung, welche das bislang umfassendste und differenzierteste System der Ungleichheit war. Wenn erst die Gleichheit zum geschichtlichen Grundwollen der Menschen geworden war, mochte die Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor Gott dieses Wollen bestätigen und stärken; sein Ursprung ist sie nicht.“35

Doch so berechtigt die von Troeltsch und Volkmann-Schluck angemeldeten Bedenken auch sind, in dem christlichen Glaubenssatz von der Gleichheit aller Menschen vor Gott den Ursprung der modernen Demokratie zu erblicken: ihr Urteil fällt seinerseits vielleicht wieder zu scharf und einseitig aus, sofern sie die Möglichkeit ausschließen, dass die politische Gleichheit tatsächlich auch aus christlichem Impuls gewollt und realisiert werden kann – wie es nicht zuletzt in der gewaltsam ausgetragenen Auseinandersetzung um die Abschaffung der Sklaverei in den USA unter der Führung des Bürgerkriegspräsidenten Abraham Lincolns oder schon früher im 17. Jahrhundert in einigen neuenglischen Kolonien geschehen ist. In Rhode Island und Pennsylvania haben Baptisten und Quäker aus der Gleichheit aller Menschen vor Gott, ausgehend von einer allgemeinen Gewissensfreiheit (Roger Williams betonte: auch für Indianer, Schwarzen und Türken), weitgehend demokratische Schlussfolgerungen gezogen. Gerade ihr Beispiel zeigt freilich auch, dass die politische Gleichheit keine selbstverständliche Forderung bzw. natürliche Mitgift des Christentums oder auch nur des Protestantismus gewesen ist, sondern erkämpft werden musste gegen Widerstände aus der eigenen Konfessionsfamilie. Die in Europa verfolgten Puritaner haben gerade aus eifriger Glaubensinbrunst in den neuenglischen Kolonien Anders- und Nichtgläubige systematisch aus dem Gemeinwesen ausgeschlossen, verfolgt und sogar mit dem Tode bestraft.36 Im Rückblick kann man von einem normativen Standpunkt aus betrachtet von schmerzvollen Lernprozessen sprechen, die in einer kontingenten, Jahrhunderte währenden Geschichte voller Brüche vollzogen worden sind – dies wird umso deutlicher, wenn wir die bewegte Geschichte der Demokratie seit Tocqueville vergegenwärtigen. Obwohl Tocqueville gelegentlich den Eindruck erweckt, als wollte er sich mit geschichtsphilosophischen Thesen zur Herkunft der Demokratie über die 35 Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Politische Philosophie. Thukydides, Kant, Tocqueville, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1974, S. 151. 36 Ahmet Cavuldak, Gemeinwohl und Seelenheil. Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie, Bielefeld: Transcript Verlag 2015, S. 132 ff.

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Niederungen der Geschichte großspurig hinwegsetzen, rekonstruiert er doch ihre Entstehung als eine vielschichtige Geschichte von Macht- und Deutungskämpfen zwischen verschiedenen Akteuren und Faktoren wie Politik, Kultur, Religion, Philosophie, Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Bildung. Diese evolutionäre und realistische Sichtweise auf die europäische Entstehungsgeschichte der Demokratie mahnt zur Vorsicht an, wenn es um die Frage geht, ob demokratische Lernprozesse von einer Gesellschaft auf eine andere übertragen werden könnten; denn sie legt den Schluss nahe, dass die Demokratie nur als eine historisch gewachsene, gegen innere und äußere Widerstände erkämpfte und gelernte gesellschaftspolitische Ordnung eine Lebenschance hat. Das Beispiel Mexikos, das Tocqueville in der Demokratiestudie bringt, ist in diesem Zusammenhang höchst aufschlussreich. Die Bewohner Mexikos hätten die Bundesverfassung ihrer Nachbarn, der Angloamerikaner, zum Vorbild genommen und „fast vollständig nachgeahmt“ Doch: „Vermochten sie den Buchstaben des Gesetzes zu übernehmen, so konnten sie sich nicht gleichzeitig den Geist, der es beseelt, aneignen.“37 Mexiko sei denn auch zwischen Anarchie und Militärdespotie hin- und hergerissen. Es reicht also nicht, über eine gewisse geographische, religiöse und kulturelle Nähe zu verfügen, um demokratische Institutionen und Verfassungsformen übertragen zu können, weil sie getragen sind von historisch gewachsenen Sitten, „Gewohnheiten des Herzens“ und Mentalitäten. 3. DIE ÜBERTRAGUNG RELIGIONSPOLITISCHER LERNPROZESSE Wie schätzt Tocqueville die Möglichkeiten der Demokratie außerhalb des europäischen Erfahrungsraumes im Allgemeinen und der Übertragung religionspolitischer Lernprozesse in Besonderen ein? Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Tocqueville mit seiner Reflexionsarbeit über die Demokratie im lateinchristlich geprägten westlichen Erfahrungsraum verbleibt. Gleichwohl finden sich in seinem Werk verstreut Überlegungen zur Demokratiekompatibilität zweier nichtchristlicher Religionen, nämlich des Islam und des Hinduismus. Das Interesse des Politikers und praktischen Denkers an diesen beiden Religionen rührte daher, dass zwei christlicheuropäische Mächte im Zuge kolonialistischer Unternehmungen massiv in deren Herrschaftsbereich eingegriffen hatten: Frankreich in Algerien und Großbritannien in Indien. Wenn man sich seine differenzierte Analyse des Verhältnisses von Christentum und Demokratie vergegenwärtigt, kommt man nicht umhin, Tocquevilles Betrachtung des Islam und des Hinduismus als einseitig und pauschal zu bezeichnen.38 Vor allem fällt es auf, dass er die Möglichkeit historischen Wandels beider Religionen verneint. Natürlich dürfte die Überheblichkeit und Oberflächlichkeit des Analytikers nicht zuletzt etwas mit dem politischen Kontext zu tun haben, aus 37 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S. 187. 38 Zu dieser kritischen Einschätzung gelangt auch: Alan S. Kahan, Tocqueville, Democracy and Religion. Checks and Balances for Democratic Souls, Oxford: Oxford University Press 2015, S.182.

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dem er erst sein flüchtiges Erkenntnisinteresse schöpfte. In beiden Fällen kommt er bezeichnenderweise zu dem Schluss, sie seien schlicht nicht demokratietauglich: der Islam nicht, weil er Politik und Religion nicht trenne; der Hinduismus nicht, weil er durch das rigide Kastensystem die demokratische Gleichheit an der Wurzel abschneide und konterkariere. In dem Zusammenhang bekräftigt Tocqueville noch einmal seine Überzeugung, die Idee der Gleichheit von Menschen sei christlicher Herkunft. In seinen Notizen über die indische Religion und Gesellschaft bemerkt Tocqueville an einer Stelle, es sei kein Wunder, dass die Inder den Proselytismus nicht kennen würden, denn dieser setze die Gleichheit der Menschen voraus; die Gleichheit sei dem Menschen eben keine natürliche Mitgift, sondern vom Christentum in die Welt gesetzt und später vom Islam übernommen worden.39 Während seine These, der Hinduismus sei aufgrund des Kastensystems nicht ohne weiteres mit Demokratie zu vereinbaren, im Rahmen seiner Analyse einleuchtet und bis heute zu denken gibt, ist seine Behauptung, der Islam sei wegen der fehlenden Trennung von Religion und Politik demokratieuntauglich, nicht plausibel; und dies keineswegs nur deshalb, weil der Islam in seiner Geschichte durchaus auch Trennungstendenzen zwischen Religion und Politik gekannt hat, sondern, weil Tocqueville die Trennung von Religion und Politik nirgends in seiner Analyse zu einer notwendigen oder gar unabdingbaren Funktionsvoraussetzung der Demokratie erklärt – es sei denn, man deutet einige verstreute Überlegungen, mit denen er zu verstehen gibt, die Trennung von Religion und Politik sei dem Christentum von Haus aus eingeschrieben, dahingehend, dass er damit die Trennung von Religion und Politik gewissermaßen auf dem Rücken des Christentums doch noch zu einer notwendigen Funktionsvoraussetzung der modernen Demokratie erheben würde. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass er Islam und Christentum in einen religionspolitischen Gegensatz bringt, wenn er im zweiten Demokratieband schreibt: „Mohammed hat nicht nur religiöse Lehren vom Himmel herabgeholt und im Koran festgehalten, sondern auch politische Leitsätze, bürgerliche und strafrechtliche Gesetze, wissenschaftliche Theorien. Das Evangelium spricht hingegen nur von den allgemeinen Beziehungen der Menschen zu Gott und untereinander. Außerhalb dessen lehrt es nichts und verpflichtet es zu keinem Glauben. Das allein genügt, neben unzähligen anderen Gründen, um zu zeigen, daß die erstgenannte dieser beiden Religionen in Zeiten der Aufklärung und der Demokratie nicht lange herrschen kann, wogegen die zweite in solchen Zeiten wie in allen anderen fortzudauern bestimmt ist.“40

Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass Tocqueville seine Wunschvorstellung vom Christentum auf Kosten der historischen Praxis seiner Darstellung zugrunde legt. Tocqueville wusste ja, dass es auch im Christentum mächtige Verschmelzungstendenzen zwischen Religion und Politik gegeben hat; er erwähnt und kritisiert immer wieder die symbiotischen religionspolitischen Verhältnisse des Ancien Régime in Frankreich und Europa. So heißt es etwa im ersten Demokratieband:

39 Alexis de Tocqueville, Notes sur le Coran et autres textes sur les religions, Paris: Bayard 2007, S. 79. 40 Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S, 507.

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„Die Ungläubigen Europas verfolgen die Christen eher als politische Feinde denn als religiöse Gegner; sie hassen den Glauben mehr als Parteimeinung denn als Irrlehre; und im Geistlichen lehnen sie weniger den Vertreter Gottes als den Freund der Staatsgewalt ab. In Europa hat das Christentum zugelassen, eng mit den weltlichen Mächten verknüpft zu werden. Heute stürzen diese Mächte, und es liegt unter ihren Trümmern wie begraben. Es ist ein Lebendiger, den man an einen Toten fesseln wollte: Man zerreiße die Bande, die ihn halten, und er richtet sich wieder auf.“41

Zudem kommt Tocqueville auf die neuenglischen Staaten kritisch zu sprechen, die ihr Zusammenleben unmittelbar auf der Grundlage biblischer Anweisungen regelten. Er erwähnt etwa das Beispiel Connecticut, in dem man „auf den seltsamen Gedanken“ verfallen sei, aus der Heiligen Schrift zu schöpfen; zwölf Bestimmungen des Strafgesetzes seien sogar wörtlich dem Deuteronomium, dem Exodus und dem Leviticus entnommen.42 An anderen Stellen zwinge der Gesetzgeber in völliger Missachtung der Glaubensfreiheit, die er in Europa gefordert hätte, durch Androhung von Bußen zum Besuch des Gottesdienstes, und gehe dabei so weit, die Gott in anderer Form als sie anbeten wollten, streng und sogar mit dem Tode zu bestrafen.43 Gerade vor dem Hintergrund dieser schrecklichen Beispiele vom „engherzigen Sektierertum“ fordert Tocqueville vom Christentum im Allgemeinen und von der katholischen Kirche im Besonderen, ihren Wahrheits- und Herrschaftsanspruch auf die „religiöse Geltungssphäre“ einzuschränken. Andernfalls würden sie im demokratischen Zeitalter ihre Glaubwürdigkeit vollends verlieren und die religiöse Landschaft verwüsten. Tocqueville versucht denn auch, die zwischen Demokratie und Christentum noch bestehenden Spannungen durch Liberalisierung bzw. Moralisierung aufzulösen, um beide in ein komplementäres Verhältnis zu bringen; er beschwört gleichsam die Bedeutung des Christentums sowohl in der Geschichte als auch für die Zukunft der Demokratie, um vor allem die Katholiken davon zu überzeugen, das Experiment der gleichen Freiheit zu wagen. Die „religionsfreundliche“ Trennung von Staat und Kirche in den USA hatte den liberalkonservativen Denker bei seiner Reise nachhaltig beeindruckt: er sah in ihr eine Voraussetzung des Fortbestandes des Christentums und des Gelingens des demokratischen Freiheitsexperiments zugleich. Wenn die Religion an der „legitimen Macht“ ihrer zeitlosen Wahrheitsbotschaft keinen Schaden nehmen will, müsse sie auf die künstliche und materielle Macht verzichten, die politische Gesetze ihr durch Zwang verschaffen. Dabei erfolgt die Trennung zwischen Religion und Politik in den USA aus protestantischem Impetus heraus; sie wird begründet durch eine hohe Wertschätzung der religiösen Aufgaben. In den Vereinigten Staaten habe er noch keinen einzigen Menschen getroffen, berichtet der Reisende begeistert, der die religiöse Lebendigkeit des Landes nicht auf die völlige Trennung von Kirche und Staat zurückführen würde.44 Die Akzeptanz der Trennung beim Klerus reiche sogar soweit, dass ihre Mitglieder mit einem gewissen Berufsstolz der politischen Macht und ihren Trägern fernblieben; einige Staaten hätten den Klerikalen ohnehin 41 42 43 44

Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S, 348. Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S, 43. Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S, 45. Tocqueville, Über die Demokratie Amerika, S, 341.

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per Gesetz den Weg zu einer politischen Karriere versperrt. Er empfiehlt den Christen in Europa im Allgemeinen und der katholischen Kirche im Besonderen, sich das protestantisch geprägte Trennungsmodell anzuverwandeln. Die Empfehlung Tocquevilles hat in der katholischen Kirche erst mit beachtlicher Verspätung Resonanz gefunden, auch wenn er langfristig zur Liberalisierung des Katholizismus in Europa und in den USA beigetragen haben dürfte. In Deutschland war Tocqueville einer der größten Autoritäten, auf die sich Politiker und Wissenschaftler gleichermaßen berufen haben, wenn es darum ging, von Amerika zu lernen, wie Demokratie funktionieren kann; dies ist vor allem in der Debatte um die Paulskirchenverfassung der Fall gewesen, in der auch die Frage nach dem rechten Verhältnis von Staat und Kirche im Sinne Tocquevilles aufgeworfen und diskutiert wurde.45 Doch einer Übertragung der amerikanischen Erfahrungen auf Europa stand im Wege, dass dort von Anfang an die Befreiung der Religion von jeglicher Staatsgewalt das vordringliche Anliegen war, während es hier vor allem um die Befreiung des Staates von der Vormundschaft der Kirche ging. Nachdem Scheitern der Revolution von 1848 hat Tocqueville mit seiner tiefschürfenden Reflexionsarbeit in Deutschland lange Zeit keine Resonanz gefunden, da bekanntlich das Hadern der Deutschen mit der Demokratie sehr beharrlich ausfiel und damit auch die Grundlage für ein Rendez-vous mit dem Analytiker der demokratischen Revolution entfiel.46 Dies änderte sich im Grunde erst nach dem Zweiten Weltkrieg als die Demokratie sich erneut und diesmal dringlich sich als eine politische Herausforderung stellte und bewältigt werden musste. Dabei waren es vor allem konservative Autoren, die sich über eine vorwiegend kulturkritische Lesart der Schriften Tocquevilles mit der Demokratie und dem Westen ins Benehmen setzten und (halbwegs) anfreundeten.47 Eigensinnige Konservative wie Hans Maier oder Ernst-Wolfgang Böckenförde beriefen sich auf Tocqueville, um den Katholizismus zu liberalisieren und die Wahrheit mit der Freiheit zu versöhnen, wie bereits Ernst Troeltsch in den schwierigen Anfängen der Weimarer Republik als Protestant getan hatte.48 Erwähnt zu werden verdienen zudem Autoren wie Ernst Fraenkel und Ralf Dahrendorf, die unter der Anleitung Tocquevilles die USA als Vorbild betrachteten und liberale

45 Theodor Eschenburg, „Tocquevilles Wirkung in Deutschland“, in: Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1976, S. 879−929, hier S. 897; Eckhart G. Franz, Amerikabild der deutschen Revolution; Charlotte E. Lerg, Amerika als Argument. Die deutsche Amerika-Forschung im Vormärz und ihre politische Deutung in der Revolution von 1848/49, Bielefeld: Transcript Verlag 2011, S. 321 ff. 46 Theodor Eschenburg, „Tocquevilles Wirkung in Deutschland“. 47 Martina Steber, „‘The West‘, Tocqueville and West German Conservatism from the 1950s to the 1970s”, in: Riccardo Bavaj, Martina Steber (Hg.), Germany and ‚The West‘. The His-tory of a Modern Concept, New York, Oxford: Berghahn 2015, S. 230−245; Daniel Schulz, Die Krise des Republikanismus, Baden-Baden: Nomos 2015, S. 200 ff. 48 Hans Maier, Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der Christlichen Demokratie, München: Beck 2006, S. 53 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Kirche und Christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957−2002, Berlin: LIT 2007, S. 12 ff.; Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, S. 756.

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Lesarten seines Werks bemühten, um Pluralismus und Konflikte als natürliche Lebenselemente einer demokratischen Gesellschaft stark zu machen und den Staat als politische Instanz zugunsten der Gesellschaft ein Stück weit zu relativieren.49 Obwohl Tocquevilles Werk in Frankreich eine durchaus bemerkenswerte Beachtung gefunden hat, wie Françoise Mélonie und Serge Audier in ihren Studien gezeigt haben, konnte er mit seiner neuen politischen Wissenschaft dort nur bedingt zur friedlichen Bewältigung der demokratischen Revolution beitragen.50 Dazu waren die politischen Voraussetzungen nicht günstig, die Front zwischen Monarchie und Republik, Revolution und Reaktion hatte sich so sehr verhärtet und von den Geistern Besitz ergriffen, dass kaum Platz war für einen Denker der Vermittlung wie Tocqueville; er geriet immer wieder zwischen den Fronten und wurde in ihren Mühlen zermahlen. Es ist bezeichnend, dass er in der langen parlamentarischen Debatte über die Trennung von Staat und Kirche im Jahr 1905 keine Rolle gespielt hat, während die liberalen Katholiken wie Lamennais, Montalembert oder Lacordaire genannt und gewürdigt wurden.51 Erst ab Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat Tocqueville in Frankreich einen Siegeszug angetreten und Karl Marx als politische Galionsfigur der Intellektuellen abgelöst; im Gefolge der Diskreditierung der Sowjetunion und des Kommunismus nach dem von Solschenizyn verursachten Gulag-Schock wuchs die Bereitschaft der Intellektuellen vom Beispiel der amerikanischen Demokratie zu lernen, wenn auch immer noch mit gemischten Gefühlen. Gerade in religionspolitischer Hinsicht aber blieb die USA ein Gegensatz von Frankreich, obwohl in beiden Ländern eine institutionelle Trennung von Staat und Kirche herrscht; denn während Frankreich die Religion strikt ins Private verdrängt und einem säkularen Menschenrechtsuniversalismus huldigt, gibt es in den USA bis heute eine protestantisch bzw. zivilreligiöse Grundierung des Staates, die bereits von Tocqueville beobachtet und beschrieben wurde. Die Wirkung der Demokratieschrift Tocquevilles war denn auch wohl in den USA nur selten eine die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft kritisierende und korrigierende, sondern alles in allem eher bestätigende. Der französische Aristokrat wird dort geradezu als ein Säulenheiliger gefeiert, nicht zuletzt deshalb, weil er das religiös angehauchte politische Sendungsbewusstsein der Amerikaner bestätigt und überboten hat, indem er Ihre Geschichte und Gegenwart zur Zukunft der Menschheit erklärte.52 Tocqueville hat als großer Stilist, der er zweifelsohne war, das amerikanische Gemeinwesen geradezu in ein Kunstwerk verwandelt und damit dem Land ein Denkmal gesetzt; und dieses Buch-Denkmal dient dem politischen Gemeinwesen als Spiegel und Projektionsfläche seiner großen Hoffnungen und kleinen Sorgen. 49 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper, 1968; Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. 50 Françoise Mélonio, Tocqueville et les Français, Paris: Aubier 1993; Serge Audier, Tocqueville retrouvé. Genèse et Enjeux du renouveau tocquevillien français, Paris: Vrin 2004. 51 Aristide Briand, La Séparation. Discussion de la loi, Paris: Charpentier 1908, S. 32. 52 Karin S. Amos, Alexis de Tocqueville and the American National Identity, Frankfurt am Main: Peter Lang 1995; Matthew Mancini, Alexis de Tocqueville and American Intellectuals. From his Times to Ours, New York: Rowman & Littlefield 2006.

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Bemerkenswert ist immerhin, dass die amerikanischen Bischöfe in dem theologischen Reflexionsprozess des Zweiten Vatikanischen Konzils vom Oktober 1962 bis Dezember 1965 zur Begründung der Religionsfreiheit eine herausragende Rolle gespielt haben; genannt sei der Jesuit John Courtney Murray, der sich in seinen Arbeiten unter anderen auch auf Tocqueville bezog, um den Konzilsvätern die amerikanische liberale Tradition in Abgrenzung von dem französischen Modell zu empfehlen.53 Insofern haben Tocquevilles Überlegungen auf Umwegen doch noch Beachtung gefunden. Aber auch mit seiner Einschätzung, dass die Religion sich schadet, wenn sie der politischen Versuchung erliegt, hat Tocqueville Recht behalten. Denn die Einsicht in die Notwendigkeit einer Trennung von Staat und Kirche ist nicht zuletzt durch die Erfahrungen mit den totalitären Regimes im 20. Jahrhundert herangereift. In Frankreich ließ sich die katholische Kirche vom faschistischen Vichy-Regime zu einer Art historischen Revanche an der laizistischen Republik verführen und musste dafür später bitter büßen. Auch in Deutschland haben sich Protestanten und Katholiken von dem Heilsversprechen des Nationalsozialismus betören lassen und dadurch schwere Schuld auf sich geladen. Erst vor dem Hintergrund der Erfahrung politischer Verführbarkeit und Verfolgung lernten die Kirchen das demokratische Angebot der Freiheit als eine Chance für die Wahrheit wertzuschätzen. In der letzten Jahrhunderthälfte haben sich beide christlichen Konfessionen Menschenrechte, Demokratie und Trennung von Staat und Kirche mit theologischen Rechtfertigungsstrategien offensiv angeeignet. Die Oberhäupter der katholischen Kirche haben Stellungnahmen zum Verhältnis von Welt und Religion, Staat und Kirche abgegeben, die an die Worte Tocquevilles erinnern. So hat etwa Papst Benedikt XVI. in seiner Freiburger Rede vom 25. September 2011 festgestellt, die Kirche müsse immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von ihrer Verweltlichung zu lösen, um „ihrem eigentlichen Auftrag“ zu genügen; sie solle sich nicht zu sehr in dieser Welt einrichten und ihren Maßstäben angleichen, sondern sich auf ihre „Berufung auf Gott“ besinnen.54 Die aus der französischen und europäischen Geschichte gewonnene Einsicht Tocquevilles, Religion möge sich aus dem Machtgeschäft der Politik heraushalten, wenn sie nicht an ihrer Glaubwürdigkeit Schaden nehmen wolle, ist heute auch für die Muslime von grundlegender Bedeutung. Dass Druck, Zwang und Terror auf Dauer nur Heuchelei und Widerspenstigkeit bewirken werden, ist eine Warnung, die Muslime nur zu ihrem eigenen Schaden unerhört verhallen lassen werden. Denn die Konfessionalisierung der Politik im Nahen Osten geht in den letzten Jahren mit einer Entfesselung der Gewalt einher, die ganze Staaten und Gesellschaften zu verwüsten droht. Mögen auch Krieg und Gewalt kurzfristig die Frage der Demokratisierung in den Hintergrund drängen und ein Rückfall in den Autoritarismus in Kauf genommen werden, um den Frieden zu sichern: Auf Dauer wird kein Frieden ohne Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler (Hg.), Religionsfreiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses, Paderborn: Schöning, 2010. 54 Benedikt XVI., „Die ‚Freiburger Rede‘. Ansprache von Papst Benedikt XVI. an engagierte Katholiken aus Kirche und Gesellschaft“, in: Jürgen Erbacher (Hg.), Die Entweltlichung der Kirche? Die Freiburger Rede des Papstes, Freiburg, Br./Basel/Wien: Herder 2012, S. 11−17, hier S. 14. 53

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Demokratie und Freiheit möglich sein, wenn denn damit mehr gemeint sein soll als Friedhofsruhe. Dies wiederum kann aber nicht erreicht werden ohne religionspolitische Lernprozesse, im Zuge derer zwischen extremen Positionen wie etwa „theokratischer Verschränkung von Religion und Politik“ versus „laizistischer Trennung“ vermittelt wird. Die Betonung der Bedeutung der Moral als Brücke zwischen Religion und Politik könnte eine gewisse Liberalisierung des Islam bewirken. Die Entpolitisierung des Islam könnte paradoxerweise durch politische Parteien realisiert werden, die sich in ihrem Programm zwar auf den Islam als Identitätsmarker und Moralressource beziehen, die Anwendung der Scharia aber ablehnen. Die türkische AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi; Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) wäre hier etwa zu nennen, die sich in ihren Anfängen bewusst mit der deutschen CDU verglichen hat, inzwischen aber weitgehend zu einer Machterhaltungspartei für den Präsidenten Recep Tayyip Erdoǧan verkümmert ist. In den letzten Jahren ist das Demokratieexperiment Tunesiens zum Hoffnungsträger der islamisch-arabischen Welt avanciert, weil dort – im Gegensatz etwa zum Ägypten – Kompromisse zwischen den religiösen und säkularen Kräften ausgehandelt worden sind.55 Entscheidend war nicht zuletzt die Kompromissbereitschaft der islamisch-konservativen Partei Ennahda unter der Führung von Rachid-al Ghannouchi, der sich seinerzeit auf das Vorbild der türkischen AKP berufen hat, auch wenn die abschrekkende Wirkung der politischen Eskalation in Ägypten durch den Militärputsch am 3. Juli 2013 eine bedeutendere Rolle gespielt haben dürfte. Wie dem auch sei: In Tunesien sind sowohl aus der eigenen politischen (Leidens-)Geschichte als auch aus der westlichen Demokratiegeschichte Lehren gezogen und übernommen worden; dies lässt sich nicht zuletzt an der republikanischen Verfassung vom 26. Januar 2014 gut ablesen: noch in der Präambel wird zwar die Verbundenheit des Volkes mit „den Lehren des Islam“ zum Ausdruck gebracht, dessen Ziele „Offenheit und Toleranz“ seien, im selben Atemzug werden aber auch „die Errungenschaften der menschlichen Zivilisation“ genannt, konkret sogar die „universellen Menschenrechte“ gewürdigt. Im ersten und zweiten Artikel wird dann proklamiert, Tunesien sei ein freier, souveräner und ziviler Staat, seine politische Ordnung sei die Republik, seine Religion der Islam. Im sechsten Artikel wird dann das Verhältnis von Religion und Politik genauer bestimmt; dort heißt es, der Staat sei „Hüter der Religion“, er garantiere Glaubens- und Gewissensfreiheit und die „Neutralität der Moscheen und der Kultorte gegenüber jeder parteipolitischen Instrumentalisierung“. Zudem wird erklärt, dass der Staat sich verpflichtet, die Werte der Mäßigung und der Toleranz zu verbreiten und die Aufstachelung zu Hass und Gewalt zu verbieten. Schließlich wird noch verfügt, der Staat solle das Heilige vor Angriffen schützen. Bemerkenswert an diesem verfassungspolitischen Kompromiss ist, dass der Bezug auf den Islam relativ abstrakt ausfällt; die Scharia jedenfalls wird überhaupt nicht genannt, schon gar nicht als „die Hauptquelle der Gesetzgebung“ stark gemacht wie in der ägyptischen Verfassung. In den Verfassungsberatungen gab es eine große Debatte über die Stellung der Scharia; die Ennahda bestand zunächst darauf, dass 55 Ahmet Cavuldak/Oliver Hidalgo/Philipp W. Hildmann/Holger Zapf (Hg.), Demokratie und Islam. Theoretische und empirische Studien, Wiesbaden: Springer 2014.

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die Scharia als Quelle des Rechts genannt würde, rückte aber später von dieser Forderung ab als der demokratischer Widerstand diverser Gruppierungen immer größer wurde, weil die Scharia als Rechtsquelle angesichts des innerislamischen Pluralismus auch unter Muslimen Konflikte verursacht und zudem eine Einengung der Freiheitsräume für Andersgläubige und Andersdenkende bedeutet hätte. Geeinigt hat man sich am Ende auf die Bedingungen der Möglichkeit eines friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens in der hiesigen Welt, im Kern eben auf Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit und Demokratie. 4. SCHLUSSBETRACHTUNG In den letzten Jahren hat die Türkei eine große Debatte über die Frage geführt, ob das parlamentarische durch ein präsidentielles Regierungssystem ersetzt werden sollte, weil der Präsident Recep Tayyip Erdoǧan eine Konzentration der Machtbefugnisse erreichen wollte. Darin wurden von Politikern und Wissenschaftlern etwa das politische System der USA und Frankreichs immer wieder vergleichend herangezogen, stets in der Absicht, aus der Betrachtung dieser Länder Lehren für die Gestaltung der eigenen politischen Ordnung zu ziehen; vereinzelt wurde auch die Autorität und Weisheit Tocquevilles bemüht. Es dürfte nun schwerlich ein Zufall sein, dass just im letzten Jahr zwei türkische Ausgaben von Tocquevilles großer Demokratiestudie durch angesehene Verlagshäuser veröffentlicht worden sind;56 zuvor gab es nur eine schlechte Auswahlübersetzung. Denn heute stellt sich immer dringlicher die Frage, ob und wenn ja, inwiefern die demokratischen Lernprozesse Europas und der USA auf Gesellschaften aus dem islamischen Erfahrungsraum übertragen werden können. Damit ist keineswegs gemeint, dass die mehrheitlich islamisch geprägten Gesellschaften die Sitten, Institutionen und Gesetze der europäischen Demokratien eins-zu-eins übernehmen oder nachahmen sollten, sondern das kritische Reflexionspotenzial über den langen Weg zur Demokratie in Europa und in den USA sich aneignen sollten, um von ihren eigenen Traditionen und Problemen ausgehend Lösungen zu entwickeln. Denn die Bedingungen der Entstehung von Demokratie und Freiheit im westlichen Erfahrungsraum dürfen nicht mit den Möglichkeiten ihrer Aneignung und Neuschöpfung in anderen Gesellschaften und unter anderen historischen Bedingungen verwechselt werden. Tocqueville selbst betont in seiner Studie, dass er als ein großes Unglück für das Menschengeschlecht erachten würde, sollte die demokratische Freiheit überall in der gleichen Weise verwirklicht werden. Von herausragender Bedeutung wird es sein, sprachliche, institutionelle, kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Anschlussmöglichkeiten an den Problemlösungen der Demokratie zu erarbeiten, so etwa für die Volksouveränität, Gewaltenteilung, Rechtstaatlichkeit, den Föderalismus und das Vereinswesen, die Gewissensfreiheit und Trennung von Religion und Politik etc. Zwar lässt sich in der Entstehungsgeschichte dieser einzelnen Normen, 56 Alexis de Tocqueville, Amerika`da demokrasi, Istanbul: Iletișim 2016; Alexis de Tocqueville, Amerika`da demokrasi, Ankara: Doǧubati 2015/16.

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Institutionen und Strukturelemente immer eine Spur von historischen Zufällen und kontingenten Machtkämpfen ausmachen. Doch lassen sie sich zugleich auch als geronnener Ausdruck und Ergebnis von historischen Lernprozessen einer konkreten Gesellschaft begreifen; sie geben Antworten auf grundsätzliche Fragen bzw. stellen erprobte Lösungen für wichtige Probleme des demokratischen Zusammenlebens bereit und verfügen deshalb über einen gewissen Überschuss an verallgemeinerbarem Erfahrungswissen. Eben diese Einschätzung berechtigte Tocqueville zu der optimistischen Annahme, dass die demokratischen Erfahrungen und Einrichtungen der Vereinigten Staaten auf Frankreich und andere europäische Länder übertragen werden könnten. Dies gilt natürlich umgekehrt auch für die USA, die in ihrer Geschichte von den europäischen Staaten, allen voran von England, einiges übernommen und gelernt haben. Bereits in der revolutionären Gründungsepoche gab es aber auch zwischen Frankreich und den USA einen gewissen Transfer von politischen Ideen und Eliten. An diesen Beispielen ließe sich veranschaulichen, dass wenn Gesellschaften trotz bestehender Konkurrenz einander mit Wertschätzung und Neugierde begegnen, dies auf beiden Seiten die Lern- und Aufnahmebereitschaft steigert. Heute gilt dies auch für das Verhältnis der westlichen und nicht-westlichen Gesellschaften; die Lernbereitschaft der außer-europäischen Gesellschaften würde wachsen, wenn die westlichen Gesellschaften ihnen mit Respekt begegnen und im Gespräch ihrerseits Hör- und Lernbereitschaft an den Tag legen würden. Ideal wäre es, wenn es längerfristig einen reziproken und komplementären Lernprozess geben könnte, in dem Gesellschaften ihre erprobten Problemlösungen aufeinander abstimmen; mit anderen Worten: das Lernen voneinander diesseits von Universalismus und jenseits von Multikulturalismus (hätte ersteres Recht, bräuchten wir voneinander nicht zu lernen, hätte letzteres Recht könnten wir gar nicht lernen) einüben, weil dies am Ende ein Gewinn für alle sein könnte. Im Zuge des so genannten Arabischen Frühlings konnten wir in den letzten Jahren beobachten, dass die Delegitimation der Ungleichheit in den islamischen Gesellschaften inzwischen sehr weit gediehen ist und oft daraus die Forderung nach Partizipation an den politischen Entscheidungsprozessen abgeleitet wird, auch wenn das Individuum nicht überall die letzte politische Bezugsgröße ist, da Clans, Stämme und Familienstrukturen sich als machtvolle Klammerungen des gesellschaftspolitischen Lebens erweisen. Die heftigen Macht- und Deutungskämpfe in den betroffenen Gesellschaften zeigen jedoch, dass die Delegitimationsprozesse nicht automatisch in die Institutionalisierung eines demokratischen Verfassungsstaates einmünden. Die von manchen Politikern und Staaten gehegte Erwartung, die Demokratie ließe sich in den Nahen Osten gewissermaßen exportieren und verpflanzen, hat sich als unbegründet, ja als naiv erwiesen; die Besonderheiten der politischen Geschichte, Kultur und Religion in der Region, oder um es mit Tocqueville zu sagen: die Sitten und Gewohnheiten des Herzens und Sitten zeigen ein großes Beharrungsvermögen und wirken in ganz unterschiedlichen Richtungen.57

57 Michael Hereth, „Alexis de Tocqueville: Die ‚Sitten‘ und die Exportfähigkeit der Demokratie“, in: Politische Vierteljahresschrift 46 (2005), S. 377−388.

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Dabei haben die militärischen Interventionen der USA und der mit ihnen verbündeten Staaten in Europa etwa in Afghanistan oder Irak die Wahrnehmung vieler Muslime negativ geprägt und Vertrauen untergraben. Auch sollte daran erinnert werden, dass die bis heute existierenden Spannungen zwischen westeuropäischen Kolonialmächten wie Frankreich oder Großbritannien und von ihnen kolonialisierten islamischen Gesellschaften sich zum Teil auf ihre unheilvolle Allianz mit den säkularistischen Autoritätsregimen zurückführen lassen. Infolge dessen wirkt das Beispiel der westeuropäischen säkularen Demokratien auf Muslime zum Teil eher abschreckend; derart, dass neben fundamentalistischen auch traditionelle Muslime Demokratie und Säkularismus tendenziell mit Gottlosigkeit und Sittenlosigkeit in Verbindung bringen. Ob die amerikanische Demokratie mit einem betenden Präsidenten an der Spitze für viele islamische Staaten geeigneter gewesen wäre, um zu zeigen, wie religionsfreundlich das Zusammenspiel von demokratischer Freiheit und religiöser Wahrheit ausfallen kann, wenn dort nicht gerade aus diesem Zusammenspiel Tendenzen des militanten demokratischen Missionarismus hervorgegangen wären, die unlängst auch Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit erfasst haben, sei dahingestellt; wahrscheinlicher ist jedoch, dass das Beispiel der USA Demokratie und Trennung von Religion und Politik wieder stärker in die Nähe des Christentums rückt – trotz aller Betonung der universalen Geltung demokratischer Ideale und Bemühung um Vermeidung einer pauschalen Konfrontation mit dem Islam nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Auch in den europäischen Demokratien ist zu beobachten, dass in der herausfordernden Begegnung mit dem Islam zunehmend auf das Christentum als eine Art identitäre Erfahrungsreserve der Nation zurückgegriffen wird. Selbst in Frankreich gibt es solche Bemühungen um religionskulturelle „Identitätsbehauptung“, weil der ideologische Überschuss der Laizität in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts allmählich an Substanz verloren hat. Schließlich wird auch in Deutschland immer öfters ein „diskretes“ Kulturchristentum gegen die dichte Präsenz des Islam in der Öffentlichkeit als Identitätsmarker in Stellung gebracht. Die identitätspolitische Vereinnahmung der Demokratie durch das Christentum erschwert in gewisser Weise die Annahme und Anverwandlung der Demokratie durch Muslime. Auch wenn eine solche Gefahr in der Analyse Tocquevilles durchaus angelegt ist, kann man dennoch mit Tocqueville gegen einseitige Zuschreibungen und falsche Frontstellungen andenken, zeigt sich doch bei näherem Hinsehen, dass er mehrere Akteure und Faktoren für die Entwicklung der Demokratie in der Geschichte Europas verantwortlich machte. Demokratie ist eine voraussetzungsreiche Hervorbringung der europäischen Geschichte, die teilweise vom Christentum begünstigt, teilweise verhindert wurde. Tocqueville weiß zwar um die politische Bedeutung der Sitten und Religion, vergisst darüber aber nicht, dass die Menschen keine Gefangene ihrer Geschichte und Kultur sind; wir sind relativ freie Wesen, nicht zuletzt auch deshalb, weil wir dazu begabt sind, voneinander zu lernen. An der Fähigkeit von Menschen und Gesellschaften voneinander zu lernen, hängen unsere besten politischen Hoffnungen, auch wenn die bisherige Geschichte uns zur Vorsicht und Skepsis anmahnt. Ermu-

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tigend ist immerhin, dass Tocqueville Demokratien im Vergleich zu anderen politischen Ordnungen eine größere Lernfähigkeit attestiert; der große Vorzug der Amerikaner bestünde nicht nur darin, dass sie aufgeklärter seien als andere, sondern dass sie „die Gabe besitzen, Fehler zu begehen, die sie gutmachen können.“58 Demnach könnte die Zukunft der Demokratie zu einem guten Teil davon abhängen, ob Gesellschaften bereit und fähig sind, aus eigenen und fremden Fehlern zu lernen. Hierfür ist eine Erweiterung unseres Erfahrungshorizontes und Blickfeldes über den europäischen Tellerrand hinaus unabdingbar, übrigens auch in der Politikwissenschaft, die nach wie vor eine bedeutende staatsbürgerliche Erziehungsaufgabe zu erfüllen hat. Auf der Suche nach einer Lösung des Demokratieproblems in der islamischen Welt und darüber hinaus kann es jedenfalls heute nur hilfreich sein, die langwierigen und schmerzvollen demokratischen und religionspolitischen Lernprozesse Europas und der USA zu vergegenwärtigen.59 Dazu wiederum könnte uns Tocqueville als ein großer Denker der Vermittlung wichtige Impulse liefern, wie kaum ein zweiter vor oder nach ihm, wenn wir uns auf ein kritisches Gespräch mit ihm einlassen.

58 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 259. Siehe dazu auch die aufschlussreichen Überlegungen von Peter Graf Kielmansegg, „Von der Lernfähigkeit der Demokratie. Bemerkungen zu einem vernachlässigten Thema“, in: Peter Koslowski (Hg.), Individuelle Freiheit und demokratische Entscheidung. Ethische, ökonomische und politische Theorie der Demokratie, Tübingen: Mohr 1989, S. 84−97. 59 Ahmet Cavuldak, Gemeinwohl und Seelenheil.

AUTORINNEN UND AUTOREN Auderset, Juri, Lektor im Studienbereich Zeitgeschichte an der Université Fribourg/Schweiz. Letzte Buchveröffentlichung: Juri Auderset, Transatlantischer Föderalismus. Zur politischen Sprache des Föderalismus im Zeitalter der Revolutionen, 1787- 1848, Berlin/Boston: de Gruyter 2016. Korrespondenzadresse: Dr. Juri Auderset, Université de Fribourg, Faculté des Lettres, Miséricorde, Büro 5120, Av. de l'Europe 20, 1700 Fribourg/Schweiz. Email: [email protected] Cavuldak, Ahmet, Mitarbeiter am Lehrstuhl Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Letzte Buchveröffentlichung: Ahmet Cavuldak, Gemeinwohl und Seelenheil. Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie, Bielefeld: Transcript Verlag 2015. Korrespondenzadresse: Dr. Ahmet Cavuldak, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. Email: [email protected] Dzur, Albert W., Professor für Political Science an der Bowling Green State University, Ohio/USA. Letzte Buchveröffentlichung: Albert W. Dzur, Ian Loader, Richard Sparks (Hg.), Democratic Theory and Mass Incarceration, New York: Oxford University Press 2016. Korrespondenzadresse: PH. D. Albert W. Dzur, Bowling Green State University, Bowling Green, Ohio/USA, 111 Williams Hall. Email: [email protected] Hidalgo, Oliver, Lehrstuhlvertretung am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften der Universität Münster. Letzte Buchveröffentlichung: Oliver Hidalgo, Politische Theologie. Beiträge zum untrennbaren Zusammenhang zwischen Religion und Politik, Wiesbaden: Springer VS 2017. Korrespondenzadresse: PD Dr. Oliver Hidalgo, Universität Münster, Institut für Politikwissenschaft, Scharnhorststr. 100, 48151 Münster. Email: [email protected] Hurtado, Jimena, Profesor Asociado an der Universidad de los Andes. Letzte Buchveröffentlichung: Jimena Hurtado, Claire Pignol (Hg.), Rousseau: Philosophie et économie, Paris: Editions L’Harmattan 2007. Korrespondenzadresse: PH. D. Jimena Hurtado, Universidad de los Andes, Ubicación Bloque W, Piso 8, Oficina 813, Extensión 3473, Bogotá/Kolumbien. Email: [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Jörke, Dirk, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Letzte Buchveröffentlichung: Dirk Jörke, Kritik demokratischer Praxis. Eine ideengeschichtliche Studie, Baden-Baden: Nomos 2011. Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Dirk Jörke, Technische Universität Darmstadt, Institut für Politikwissenschaft, Landwehrstraße 50a, 64293 Darmstadt. Email: [email protected] Kahan, Alan S., Professor für British Civilization an der Université de Versailles/St. Quentin-en-Yvelines/Frankreich. Letzte Buchveröffentlichung: Alan S. Kahan, Tocqueville, Religion, and Democracy. Checks and Balances for Democratic Souls, Oxford: Oxford University Press 2015. Korrespondenzadresse: PH. D. Alan S. Kahan, Université de Versailles Saint-Quentin-en-Yvelines (UVSQ), 55 Avenue de Paris, 78000 Versailles/France. Email: [email protected] Krause, Skadi Siiri, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Letzte Buchveröffentlichung: Skadi Siiri Krause, Eine neue politische Wissenschaft für eine neue Welt. Alexis de Tocqueville im Spiegel seiner Zeit, Berlin: Suhrkamp 2017. Korrespondenzadresse: Dr. Skadi S. Krause, Rue de Gerlache 37, B-1040 Bruxelles/Belgien. Email: [email protected] Schaefer, David Lewis, Professor für Political Science am College of the Holy Cross, Worcester/USA. Letzte Buchveröffentlichung: David Lewis Schaefer (Hg.): Democratic Decision-Making: Historical and Contemporary Perspectives, Lanham: Lexington Books 2012. Korrespondenzadresse: PH. D. David L. Schaefer, College of the Holy Cross, 1 College Street, Worcester, MA/USA 01610. Email: [email protected] Schulz, Daniel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut, Ludwig-Maximilians-Universität München. Letzte Buchveröffentlichung: Daniel Schulz, Die Krise des Republikanismus, Baden-Baden: Nomos 2015. Korrespondenzadresse: PD Dr. Daniel Schulz, Ludwig-Maximilians-Universität München, Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft, Oettingenstr. 67, 80538 München. Email: [email protected]

Alexis de Tocqueville ist einer der großen Klassiker der politischen Ideengeschichte. Vor allem in den USA und Frankreich übt der französische Staatsmann und Demokratietheoretiker einen nachhaltigen Einfluss auf Historiker, Philosophen, Politikwissenschaftler, Soziologen, Theologen und progressive Reformer aus. Die Rezeptionsliteratur ist heute so vielfältig, dass sie selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten wurde. Eine klare, theoretische oder politische Einordnung Tocquevilles kann und soll angesichts dessen nicht Ziel dieses Bandes sein. Im Fokus

steht vielmehr die Frage, ob und inwiefern Tocqueville auch für die zeitgenössische Demokratietheorie anschlussfähig ist. Die Autorinnen und Autoren widmen sich daher zum einen denjenigen Aspekten seines Werks, in welchen die moderne Demokratie auf ihre gleichheits- und freiheitsgefährdenden Tendenzen untersucht wird. Zum anderen gehen sie der Frage nach, welche Bedeutung der französische Staatsmann für die aktuellen Reformdebatten hat, etwa bei der Diskussion um Religionsfreiheit, im Strafrecht, der Föderalismusreform oder in der Sozialpolitik.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-11835-4

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7835 1 5 1 18354