"Und es trieb die Rede mich an...": Festschrift zum 65. Geburtstag von Gert Ueding 9783484970830, 9783484108141

On the occasion of his 65th birthday, one of the most prominent German rhetoricians, literary critics and publicists, Ge

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German Pages 347 [348] Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Der Wanderer
Es knattert zu wenig im Karton
Ein langweiliger Brief
Über Schiller und Cassirer zu Heideggers verminter Katholizität
Telegramm aus London
Schreibschule, Lebensschule, Literaturförderung
Kunst und Forschung
Auszug aus Samot Legovs Bericht von der „Tafelrunde der Tabakisten“ auch „Gesellschaft der löblichen Beförderer des Edlen und Guten“ genannt. Sie tagte von 1777–1779 einmal wöchentlich
Zum praktischen Gebrauch: Entstaubte Weltliteratur
Zur Diagnose von Vorurteilen in Lessings Frühwerk
Musik im Spiegel der Literatur
Kierkegaard. Pollock. Verspohl.
Der lange Abschied von der eigenen Zukunft im Spätwerk Ibsens
Über die Begriffe „Geschichte“ und „Anthropologie“ bei Gottfried Benn
Greco und Gewitterlicht
Enzensbergers Untergang der Titanic als Paradigma eines „Schiffbruchs mit Zuschauer“
Spiele zwischen Reglement und Freiheit
Similitudo und kulturelles Gedächtnis
Politik der Rhetorik
Anmerkungen zum Fehlen des ‚Knigge‘ in Knigges Über den Umgang mit Menschen
Hermeneutik und Rhetorik: „Man kann über alles reden, und alles, was einer sagt, sollte man verstehen“
Heideggers Weg nach Syrakus
Empfindenkönnen
Hermann Herings homiletische Lehre und ihre rhetorischen Implikationen
Affekt und Figur. Rhetorische Praktiken der Affekterregung und -darstellung
Rhetorik zwischen Historismus und moderner Wissenschaft
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"Und es trieb die Rede mich an...": Festschrift zum 65. Geburtstag von Gert Ueding
 9783484970830, 9783484108141

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„U n d e s t r i e b d i e R e d e m i c h a n …“ Festschrift zum 65. Geburtstag von Gert Ueding

„Und es trieb die Rede mich an …“ Festschrift zum 65. Geburtstag von Gert Ueding

Herausgegeben vom Seminar für Allgemeine Rhetorik, Tübingen unter Federführung von Joachim Knape, Olaf Kramer und Peter Weit

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliografie Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internt über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-484-10814-1 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtllich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Gerrit Knieps, Olaf Kramer Druck und Einband: Hubert & Co, Göttingen

Inhalt

STATT EINES VORWORTS Friedrich Hölderlin Der Wanderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. ANNÄHERUNGEN Lothar Schöne Es knattert zu wenig im Karton. Ein Gespräch über Literatur und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Gerhard Köpf Ein langweiliger Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Friedrich Wilhelm Korff Über Schiller und Cassirer zu Heideggers verminter Katholizität. Ein Brief an meinen Promotionsstipendiaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Zsuzsanna Gahse Telegramm aus London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Walter Hinck Schreibschule, Lebensschule, Literaturförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Burghart Schmidt Kunst und Forschung. Oder über Begreifsweisen des Unbegreiflichen, das Neue und das individuum ineffabile . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Thomas Vogel Auszug aus Samot Legovs Bericht von der „Tafelrunde der Tabakisten“, auch „Gesellschaft der löblichen Beförderer des Edlen und Guten“ genannt. Sie tage von 1777–1779 einmal wöchentlich . . . . . . . . .

39

VI

Inhalt

II. VON DEN SCHÖNEN KÜNSTEN Rolf Hochhuth Zum praktischen Gebrauch: Entstaubte Weltliteratur. Gert Uedings Abenteuer im Wirklichen oder Die Gegenwart unserer Klassiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Manfred Beetz Zur Diagnose von Vorurteilen in Lessings Frühwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Gert Sautermeister Musik im Spiegel der Literatur. Mozart und Don Giovanni zu Gast bei E.T.A. Hoffmann, Eduard Mörike und Hanns-Josef Ortheil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Tim Hagemann Kierkegaard. Pollock. Verspohl. Zur Rhetorik des Abstrakten Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Gerd Enno Rieger Der lange Abschied von der eigenen Zukunft im Spätwerk Ibsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Joachim Dyck Über die Begriffe „Geschichte“ und „Anthropologie“ bei Gottfried Benn. Ein Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Bernd Wirkus Greco und Gewitterlicht. Über Hell-Dunkel-Metaphorik in der Philosophie (Adorno, Bloch, Hegel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Franz-Hubert Robling Enzensbergers Untergang der Titanic als Paradigma eines „Schiffbruchs mit Zuschauer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

III. IM REICH DER REDE Hans Holländer Spiele zwischen Reglement und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Wolfgang Neuber Similitudo und kulturelles Gedächtnis. Zur Rhetorik der Alterität in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Inhalt

VII

Gérard Raulet Politik der Rhetorik. Novalis’ politische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Stefan Nienhaus Anmerkungen zum Fehlen des ‚Knigge‘ in Knigges Über den Umgang mit Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Thomas Schirren Hermeneutik und Rhetorik: „Man kann über alles reden, und alles, was einer sagt, sollte man verstehen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Josef Kopperschmidt Heideggers Weg nach Syrakus. Oder: Heidegger liest Platons Höhlengleichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Peter L. Oesterreich Empfindenkönnen. Fundamentalrhetorische Pathelogie im Ausgang von Heidegger und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Gregor Kalivoda Hermann Herings homiletische Lehre und ihre rhetorischen Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Olaf Kramer Affekt und Figur. Rhetorische Praktiken der Affekterregung und -darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Joachim Knape Rhetorik zwischen Historismus und moderner Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Friedrich Hölderlin

Der Wanderer

Einsam stand ich und sah in die Afrikanischen dürren Ebnen hinaus; vom Olymp regnete Feuer herab, Reißendes! milder kaum, wie damals, da das Gebirg hier Spaltend mit Strahlen der Gott Höhen und Tiefen gebaut. Aber auf denen springt kein frischaufgrünender Wald nicht In die tönende Luft üppig und herrlich empor. Unbekränzt ist die Stirne des Bergs und beredsame Bäche Kennet er kaum, es erreicht selten die Quelle das Tal. Keiner Herde vergeht am plätschernden Brunnen der Mittag, Freundlich aus Bäumen hervor blickte kein gastliches Dach. Unter dem Strauche saß ein ernster Vogel gesanglos, Aber die Wanderer flohn eilend, die Störche, vorbei. Da bat ich um Wasser dich nicht, Natur! in der Wüste, Wasser bewahrte mir treulich das fromme Kamel. Um der Haine Gesang, ach! um die Gärten des Vaters Bat ich, vom wandernden Vogel der Heimat gemahnt. Aber du sprachst zu mir: auch hier sind Götter und walten, Groß ist ihr Maß, doch es mißt gern mit der Spanne der Mensch. Und es trieb die Rede mich an, noch Andres zu suchen, Fern zum nördlichen Pol kam ich in Schiffen herauf. Still in der Hülse von Schnee schlief da das gefesselte Leben, Und der eiserne Schlaf harrte seit Jahren des Tags. Denn zu lang nicht schlang um die Erde den Arm der Olymp hier, Wie Pygmalions Arm um die Geliebte sich schlang. Hier bewegt’ er ihr nicht mit dem Sonnenblicke den Busen, Und in Regen und Tau sprach er nicht freundlich zu ihr; Und mich wunderte des und töricht sprach ich: o Mutter Erde, verlierst du denn immer, als Witwe, die Zeit? Nichts zu erzeugen ist ja und nichts zu pflegen in Liebe, Alternd im Kinde sich nicht wiederzusehn, wie der Tod. Aber vielleicht erwarmst du dereinst am Strahle des Himmels, Aus dem dürftigen Schlaf schmeichelt sein Othem dich auf; Daß, wie ein Samkorn, du die eherne Schale zersprengest, Los sich reißt und das Licht grüßt die entbundene Welt,

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Friedrich Hölderlin

All’ die gesammelte Kraft aufflammt in üppigem Frühling, Rosen glühen und Wein sprudelt im kärglichen Nord. Also sagt’ ich und jetzt kehr’ ich an den Rhein, in die Heimat, Zärtlich, wie vormals, weh’n Lüfte der Jugend mich an; Und das strebende Herz besänftigen mir die vertrauten Offnen Bäume, die einst mich in den Armen gewiegt, Und das heilige Grün, der Zeuge des seligen, tiefen Lebens der Welt, es erfrischt, wandelt zum Jüngling mich um. Alt bin ich geworden indes, mich bleichte der Eispol, Und im Feuer des Süds fielen die Locken mir aus. Aber wenn einer auch am letzten der sterblichen Tage, Fernher kommend und müd bis in die Seele noch jetzt Wiedersähe dies Land, noch Einmal müßte die Wang’ ihm Blüh’n, und erloschen fast, glänzte sein Auge noch auf. Seliges Tal des Rheins! kein Hügel ist ohne den Weinstock, Und mit der Traube Laub Mauer und Garten bekränzt, Und des heiligen Tranks sind voll im Strome die Schiffe, Städt’ und Inseln, sie sind trunken von Weinen und Obst. Aber lächelnd und ernst ruht droben der Alte, der Taunus, Und mit Eichen bekränzt neiget der Freie das Haupt. Und jetzt kommt vom Walde der Hirsch, aus Wolken das Tagslicht, Hoch in heiterer Luft siehet der Falke sich um. Aber unten im Tal, wo die Blume sich nähret von Quellen, Streckt das Dörfchen bequem über die Wiese sich aus. Still ists hier. Fern rauscht die immer geschäftige Mühle, Aber das Neigen des Tags künden die Glocken mir an. Lieblich tönt die gehämmerte Sens’ und die Stimme des Landmanns, Der heimkehrend dem Stier gerne die Schritte gebeut, Lieblich der Mutter Gesang, die im Grase sitzt mit dem Söhnlein; Satt vom Sehen entschliefs; aber die Wolken sind rot, Und am glänzenden See, wo der Hain das offene Hoftor Übergrünt und das Licht golden die Fenster umspielt, Dort empfängt mich das Haus und des Gartens heimliches Dunkel, Wo mit den Pflanzen mich einst liebend der Vater erzog; Wo ich frei, wie Geflügelte, spielt’ auf luftigen Ästen, Oder ins treue Blau blickte vom Gipfel des Hains. Treu auch bist du von je, treu auch dem Flüchtlinge blieben, Freundlich nimmst du, wie einst, Himmel der Heimat, mich auf. Noch gedeihn die Pfirsiche mir, mich wundern die Blüten, Fast wie die Bäume steht herrlich mit Rosen der Strauch. Schwer ist worden indes von Früchten dunkel mein Kirschbaum, Und der pflückenden Hand reichen die Zweige sich selbst.

Der Wanderer

Auch zum Walde zieht mich, wie sonst, in die freiere Laube Aus dem Garten der Pfad oder hinab an den Bach, Wo ich lag, und den Mut erfreut’ am Ruhme der Männer Ahnender Schiffer; und das konnten die Sagen von euch, Daß in die Meer’ ich fort, in die Wüsten mußt’, ihr Gewalt’gen! Ach! indes mich umsonst Vater und Mutter gesucht. Aber wo sind sie? du schweigst? du zögerst? Hüter des Hauses! Hab’ ich gezögert doch auch! habe die Schritte gezählt, Da ich nahet’, und bin, gleich Pilgern, stille gestanden. Aber gehe hinein, melde den Fremden, den Sohn, Daß sich öffnen die Arm’ und mir ihr Segen begegne, Daß ich geweiht und gegönnt wieder die Schwelle mir sei! Aber ich ahn’ es schon, in heilige Fremden dahin sind Nun auch sie mir, und nie kehret ihr Lieben zurück. Vater und Mutter? und wenn noch Freunde leben, sie haben Andres gewonnen, sie sind nimmer die Meinigen mehr. Kommen werd’ ich, wie sonst, und die alten, die Namen der Liebe Nennen, beschwören das Herz, ob es noch schlage, wie sonst, Aber stille werden sie sein. So bindet und scheidet Manches die Zeit. Ich dünk’ ihnen gestorben, sie mir. Und so bin ich allein. Du aber, über den Wolken, Vater des Vaterlands! mächtiger Äther! und du, Erd’ und Licht! ihr einigen drei, die walten und lieben, Ewige Götter! mit euch brechen die Bande mir nie. Ausgegangen von euch, mit euch auch bin ich gewandert, Euch, ihr Freudigen, euch bring’ ich erfahrner zurück. Darum reiche mir nun, bis oben an von des Rheines Warmen Bergen mit Wein reiche den Becher gefüllt! Daß ich den Göttern zuerst und das Angedenken der Helden Trinke, der Schiffer, und dann eures, ihr Trautesten! auch Eltern und Freund’! und der Mühn und aller Leiden vergesse Heut’ und morgen und schnell unter den Heimischen sei.

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Lothar Schöne

Es knattert zu wenig im Karton Ein Gespräch über Literatur und Kritik

(Teilnehmer: Der Kritiker, Die Leserin, Der Autor, Der Verleger. Die Szene spielt bei reichhaltigem Buffet in einem Junginger Privathaus im Wohnzimmer des Kritikers.) Die Leserin: Kritiken …? Also offen gesagt, Kritiken sind mir schnurz oder besser gesagt, sie sind mir schnurz geworden. Der Verleger: Und das sagt sie in Anwesenheit eines der wichtigsten Kritiker! Darf man vielleicht den Grund für das Schnurz erfahren? Die Leserin: Was ist der Mehrwert von Kritiken? Die meisten Bücher werden gelobt, gelobt und noch mal gelobt. Und wenn man dann selbst liest, stellt man fest, daß es großer Mist ist. Der Autor: Bitte, bitte! Bücher wollen differenziert beurteilt werden, vor allem, wenn es sich um Romane handelt. Die Leserin: Das ist ja die Crux. Viele Kritiker differenzieren sich zu Tode und vergessen dabei mich, die Leserin. Wenn ich mal ein Geheimnis verraten darf: Unsereins ist einfach gestrickt. Wir akzeptieren, Konsumenten zu sein und wollen wissen, ob die Ware, die wir kaufen sollen, genießbar ist. Das ist schon alles. Der Verleger: Da hat sie nicht ganz Unrecht. Bücher müssen verkäuflich sein. Der Autor: Wir wollen es uns doch nicht zu einfach machen. Die bunte Menge, bei deren Anblick uns der Geist entflieht – soll sie entscheiden, was und wie wir schreiben?

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Lothar Schöne

Die Leserin: Es hilft hier gar nicht, edle Klassiker zu zitieren. Also Leute, die von den entsprechenden Professoren mumifiziert worden sind und als Schreckgespenste ab und zu hochgehalten werden. In dem irrigen Glauben, es seien Leitfiguren. Außerdem lagen sie schon zu ihren Lebzeiten falsch. Den Dichter will ich sehen, der zu stiller Himmelsenge aufsteigt, weil nur dort ihm reine Freude blüht! Der Autor: Ach, nicht jedes Wort so wörtlich nehmen! Goethe wollte karikieren. Es geht doch darum, daß der Autor frei produzieren kann und sich nicht ständig umdrehen muß, ob eventuelle Leser noch da sind... Der Verleger: Ein Blick aufs Publikum kann auf keinen Fall schaden. Literatur ist schließlich ein Artikel, der sich mitunter schwer verkauft. Ohne Publikum keine Kunst. Wer da weltfremd ist, den beißt ein Kampfhund namens Ruin zu Tode. Der Autor: Der Verleger als Poet, auch nicht übel. Aber die Kunst ist wichtiger als das Publikum. Der Verleger: Wenn das Publikum vor der Kunst einschläft, deute ich das als Kritik. Die absolut tödlich sein kann. Die Leserin: Was sagt unser Kritiker denn zu alldem? Ist sein Schweigen vielleicht ein beredter Kommentar? Der Kritiker: Freunde, das hieße euch zustimmen. Und ihr werdet euch wundern. Ich stimme euch zu. Der Autor: Du gibst mir Recht? Kritiker nickt. Die Leserin: Sie geben mir Recht? Kritiker nickt.

Es knattert zu wenig im Karton

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Der Verleger: Aber du kannst doch nicht beiden recht geben! Der Kritiker: Du hast auch Recht. Die Leserin: Ich weiß schon, was er sagen will. Er hat’s schwer, ein harter Job, er muß es allen recht machen. Der Kritiker: Nicht muß. Ich soll es allen recht machen. Aber dieser Versuch gleicht einem Tanz auf der Rasierklinge. Deshalb verstehe ich unsere Leserin, wenn sie meint, daß ihr Kritiken schnuppe geworden sind. Die Leserin: Aha, ein Eingeständnis des Versagens. Der Kritiker: Ich will damit sagen, daß Literaturkritik mehr und mehr in die Belanglosigkeit gerutscht ist. Und das liegt daran … Der Verleger: … daß zu viele Bücher auf den Markt kommen. Der Kritiker weiß nicht mehr ein noch aus. Der Kritiker: So viele belletristische Neuerscheinungen gibt es gar nicht, und lockende noch viel weniger. Die Verleger sind viel zu ängstlich, etwas zu wagen, das nach Risiko riecht. Der Autor: Ein wahres Wort! Hören Sie genau zu, Herr Verleger. Der Kritiker: Nein, es hat einen anderen Grund, warum die Kritik gelitten hat. Es liegt daran, daß sie nicht entschieden genug ist. Natürlich kann man ästhetische Produkte unterschiedlich beurteilen. Aber warum und wieso? Pro und Contra – darum geht es. Die Leserin: Sag ich doch. Im Fernsehen hör’ ich immer nur Zustimmung, die vor Begeisterung überschwappt.

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Lothar Schöne

Der Verleger: Wenn Sie die Sendung ‚Lesen‘ von der Heidenreich meinen – also, die ist äußerst hilfreich für uns. Die Leserin: Verstehe ich ja. Die gelobten Bücher machen Kasse. Versteh’ auch das ethisch hochwertige Ziel, die Leute überhaupt zum Lesen zu bringen. Für Sie hilfreich, für mich aber nicht. Der Kritiker: Die Frage ist doch, warum ist diese Sendung erfolgreich? Sie befriedigt doch offenbar ein Bedürfnis. Der Autor: Sie befriedigt die Sucht nach einem Urteil. Gelobt wird bei ihr immer. Der Kritiker: Genau, sie bezieht Stellung, wenn auch nur in einer Richtung. Die Leserin: Weil die normalen Rezensenten Hasenfüße geworden sind. Ich meine jene gebildeten Germanisten mit ihren ellenlangen Artikeln. Da sieht man doch regelrecht verschüchterte Menschen vor ihrem Wortsalat sitzen. Die haben die Hosen voll. Viele Wörter und noch mehr Schiß. Angst vor einem Urteil. Angst vor einem Verriß? (lachend zum Kritiker) Sie sind ein Kritiker, also ein Feigling. (besinnt sich) Na ja, bei Ihnen trifft das gerade nicht zu. Der Kritiker (unbeirrt): Nein, nein, genauso ist es, jedenfalls sehr häufig. Kritiker sind oft Angsthasen. Man lebt ja auch viel angenehmer, wenn man Lob verteilt statt zu sagen, was man denkt. Nur ist eben eine Grundbedingung dieses Berufs, Konflikte nicht zu scheuen. Der Kritiker sollte etwas besitzen, was man ihm meist nicht zutraut, nämlich Leidenschaft. Leidenschaft für seinen Gegenstand. Ist die nicht vorhanden, verkommt er zu einem Feld-Wald-und-Wiesen-Journalisten, er wird eine Art Dienst-leister für literarisch Interessierte. Die Leserin: Eben! Und das macht ihn so fad. Der Autor: Leidenschaft ist gut, aber folgt daraus nicht Überheblichkeit, eine gewisse Besserwisserei, ich wittere sogar Größenwahn.

Es knattert zu wenig im Karton

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Die Leserin: Na und? Soll er größenwahnsinnig sein. Ich verzeihe es ihm, wenn er nur originell ist. Und wenn es noch andere Größenwahnsinnige gibt. Der Verleger: Auf jeden Fall müßte ein Gegenpol da sein, Kontrahenten, Rivalen. Daran hapert’s bei uns. Es knattert zu wenig im Karton. In der Weimarer Zeit gab es Kritiker vom Schlage Kerr und Ihering, die haben mit Säbel und Krummschwert gekämpft und weder sich noch den Gegner geschont, vor allem, als es um Brecht ging ... Der Autor: Na und, was hatte Brecht davon? Der Verleger: Sehr viel. Er wurde zum Mittelpunkt des Interesses. Seine Stücke wurden gespielt, seine Gedichte gelesen. Es ist immer äußerst günstig für ein Buch, wenn der eine Kritiker schreibt, hier handelt es sich um Ramsch, und der andere es als Juwel preist. Ganz allgemein ist mir ein großer Verriß lieber als eine kleine Zustimmung. Der Kritiker: Ich glaube, Leidenschaft ist die eine Fähigkeit des Kritikers, Mut die andere. Aber es kommt noch etwas hinzu. Ihr werdet mir nicht glauben, wenn ich sage: der Kritiker sollte auch ein Verführer sein. Die Leserin: Sehr gern! Ich bin dabei. Der Autor: Augenblick mal! Leidenschaft und Mut sind okay, wenn er auch die Fähigkeit besitzt, Urteile zu begründen. Machen wir uns doch nichts vor. Romane können gelungen und mißlungen zugleich sein. Das muß der Kritiker auch sagen. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß … Die Leserin: Für wen schreibt der Kritiker eigentlich? Für den Autor oder für mich? Der verständige und einfühlsame Rezensent, der nachträglich den Roman lektoriert und den Autor auf keinen Fall vor den Kopf stoßen will – das ist doch ein Langweiler. Der Verleger: Wir dürfen eines nicht vergessen. Interessante Kritiker mit eigener Meinung haben meist eine bestimmte Kunstvorstellung. Die Romantiker lehnten Goethe

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Lothar Schöne

ab, Clemens Brentano fand als Rezensent die Literatur seiner Zeit geistlos und impotent. Solche Kritiker wollen eigentlich Literaturpolitik machen. Die Leserin: Akzeptiere ich auch, wenn sie dabei nur witzig sind. Der Autor: Sie akzeptieren wohl alles, wenn es nur zu Ihrem Genuß geschieht. Die Leserin: Sehr richtig erkannt. Deshalb bin ich ja eine Leserin. (sich müde zurücklehnend) Genuß erwarte ich übrigens auch von Ihren Büchern. Der Autor (zum Kritiker): Aber wie war das noch mal mit dem Verführer? Verführen zum … Der Kritiker: Zum Lesen natürlich. Der gute Kritiker besitzt die Fähigkeit, seinen Lesern den Mund wässrig zu machen und läßt sie zu etwas greifen, das nur aus Papier besteht. Nichts als Buchstaben und Worte. Und doch bringt er es fertig, ihnen klar zu machen, daß dieses in zwei Deckel gebundene Päckchen Papier ein Abenteuer verspricht, eine unbekannte Möglichkeit, eine Entführung in eine andere Welt, die sie sonst nie kennen lernen würden. Die Leserin: Wunderbar. Der Kritiker als Magier. Und als Liebender. Ich fasse das als Liebeserklärung an mich auf. Der Kritiker: Nicht nur an Sie. Sie gilt auch der Literatur und denen, die sie schaffen.

Gerhard Köpf

Ein langweiliger Brief

Lieber Gert, was Dich nach Deiner Emeritierung erwartet, weiß ich nicht. Wohl aber weiß ich, und das gehört zu den wenigen Dingen, die ich überhaupt weiß, was Dich nicht erwartet: nämlich Langeweile. Deshalb wage ich ein paar Gedanken zu diesem abseitigen Thema. Die Langeweile scheint so alt wie die Menschheit, und es gibt kaum einen, der sie nicht kennt: der Alte, der Einsame ebenso wie der Wartende, der Spielsüchtige, der Depressive oder der Schlaflose, das hyperaktive Kind und derjenige, der einen immer neuen „Kick“ braucht. Die Psychiatrie spricht in solchen Fällen von einem HSS-Syndrom: high sensation seeking. Die Langeweile ist ein Luxusgeschöpf, und ihr paßt jedes Kostüm: das der Gottesferne wie das der postmodernen Beliebigkeit. Senecas Toga, gewoben aus dem lebensüberdrüssigen Taedium vitae, steht ihr ebenso gut wie die Mönchskutte, die sich, den 91. Psalm im Ohr, der Mittagsdämon des Hl. Hieronymus überstreift, ehe er seine Nase in den Horror vacui steckt. Die saftige antike Humoralpathologie, die sich in die Melencolia eines Dürer hinein schmuggelt, wovon noch Ezra Pound und Günter Grass zehren werden, ist ohne Faltenwurf kompatibel mit den saturnalischen Schnittmustern der Acedia, die bei Thomas von Aquin als sündhafte Trauer, im Purgatorium seines Schülers Dante schon als Accidiosi auftritt. Kurz: Wir haben es beim Thema Langeweile mit einer Konstanten zu tun. Selbst inmitten der tobenden Spaßgesellschaft hat sie sich klammheimlich breit gemacht und sich in den Salons der fröhlichen Apokalypse ihr Spielzimmer eingerichtet. Nein, die Langeweile ist kein spezifisches Phänomen unserer Tage, sondern sie gehört zu den elementaren Befindlichkeiten des Menschen, weil sie auf seinem Verlangen nach einem erfüllten Dasein beruht. Anders gesagt: Die Frage nach der Langweile ist die Frage nach dem Sinn. Das gilt seit Anbeginn. Glaubt man Kierkegaard, so war im Anfang nicht das Wort, sondern die Langeweile: Erst langweilten sich die Götter. Sie schufen den Menschen. Dann langweilte sich Adam. Eva wurde ihm beigegeben. Dann langweilten sich Adam und Eva en famille, schließlich die Menschheit en masse, und als man den Babylonischen Turm baute, war die Langeweile bereits so groß, wie der Turm hoch war. Nietzsche dagegen meinte, in leidenschaftlichem Widerspruch zu Schiller, nicht mit der Dummheit, sondern gegen die Langeweile kämpfen Götter selbst vergebens. Die Zahl der Aphorismen über Langeweile ist Legion.

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Gerhard Köpf

Aber einige sind so gut, daß man sie nicht übergehen darf, weil sie Geschichte und Differenziertheit demonstrieren. So sagte Goethe: Langeweile ist ein böses Kraut, aber auch eine Würze, die viel verdaut. Das böse Kraut, das auch Gutes tun kann: ist das nicht die laienhafte Vorstellung von Pharmakologie? Nietzsche warnt davor, die Langeweile ausschließlich negativ zu sehen: Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch gegen sich selbst. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist die Langeweile je nach Sprachregion verschieden. Während dem Österreicher fad ist, wenn er sich fadisiert, zeigt sich der Schweizer desinteressiert, wenn etwas langfädig ist, indes man jenseits des Mains nur angeödet ist. Unsere gebildeten, sprachgeschichtlich sensiblen Großeltern hätten sich noch ennuyiert, sofern sie bei einer fatiganten oder fastidiösen Lektüre fast eingeschlafen wären. Heutzutage sind die Präfixe derber, denn unseren Zeitgenossen ist entweder stink- oder gleich gar sterbenslangweilig. Langweilig ist für den lauten Reich-Ranicki das schlimmste Verdikt. Zurück zu Goethes Diktum, Langeweile sei ein böses Kraut … Theologisch beleuchtet ist sie ein Laster nahezu alttestamentarischen Ausmaßes. Das wußten die Kirchenväter und legten mit ihrer moralischen Betrachtung des Phänomens eine über Jahrhunderte eherne Koordinate bei der Bewertung fest. Langeweile paßte auch nicht ins dichotomische Schema von Vita activa und Vita contemplativa. Noch Blaise Pascal schrieb: Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung. Zum moralischen Verdikt ist eine medizinische Komponente getreten, denn es fällt auf, wie Pascal hier bereits auf die medizinisch relevante Symptomatik verweist. Das Zitat demonstriert aber auch: Langeweile ist eine Domäne der Philosophie. Für Kant ist sie die Anekelung seiner eigenen Existenz aus der Leerheit des Gemüts an Empfindungen, zu denen es unaufhörlich strebt. Sie ergebe sich daraus, daß man auf sein Leben und die Zeit aufmerksam sei. Das Leben sei eben ein Antrieb, jeden Zeitpunkt, darin wir sind, zu verlassen und in den folgenden überzugehen. Die in der Langeweile wahrgenommene Leere an Empfindungen errege ein Grauen (horror vacui). Langeweile sei dort, wo wenig Wechsel der Vorstellungen bestehe. Wo die Leere beschrieben wird, ist die Definition des Nichts nicht fern, das dem Spötter Abbé Ferdinando Galiani angesichts seiner unfreiwilligen Abberufung aus dem Paris eines Diderot zur Mutter der Langeweile wird. So sei es auch verständlich, daß einer im Zustand der Langeweile schlichtweg nichts empfinde. Als Gegenmittel empfiehlt der Abbé nicht die Zerstreuung, sondern eine Erziehung, die auf das Ertragen der Langeweile pädagogisch vorbereite. Bei Schopenhauer wird die Langeweile endgültig zum Symptom eines Lebens ohne positives Ziel (Scherer). Somit trägt sie zum Elend dieses Daseins bei. Das

Ein langweiliger Brief

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Lähmende in ihr wird wortreich beschrieben und beklagt, denn es erzeuge Mangel, der in Schmerz münde. Da alles Glück hienieden flüchtig sei, bleibe dem Menschen nur ein mattes Sehnen ohne bestimmtes Objekt. Bedürfnis und Illusion halten nach Schopenhauer eine leer laufende Maschinerie in Gang, die erst recht dazu geeignet ist, die Wertlosigkeit des Daseins zu demonstrieren. Lediglich im Alter reduziere sich die Langeweile, weil dem Greis die kürzer werdenden Tage schneller dahingehen als dem Jüngling. Noch der rumänischfranzösische Philosoph Emile Michel Cioran verbindet mit Langeweile das konventionalisierte Gefühl der Leere und der Substanzlosigkeit, sieht darin aber zugleich paradoxerweise die Initiation seiner philosophischen Reflexionen und versichert, man erfahre auf dem Gipfel der Langeweile den Sinn des Nichts und somit die Möglichkeit, das Absolute zu erfahren, so etwa wie den letzten Augenblick. Damit rücken Langeweile und Tod einander näher. Der Gedanke ist nicht neu: Graf Giacomo Leopardi, aufgrund seiner pessimistischen Weltsicht oft Schopenhauer zur Seite gestellt, ist in seinen 1817 begonnenen Aufzeichnungen mit dem Titel Zibaldone dem Phänomen auf den anthropologischen wie biologischen Grund gegangen und zu dem Ergebnis gelangt, Langeweile sei nicht nur eine Tochter der Nichtigkeit, sondern gleichzeitig Mutter des Nichts. Scheinbar paradox klingt seine Schlußfolgerung, Langeweile sei nichtsdestotrotz eine Leidenschaft, eben weil es in der menschlichen Psyche keine absolute Leere gebe und der Geist nie ohne Leidenschaft sein könne. Vor diesem Hintergrund kommt Friedhelm Decher zu folgender Bewertung: Vor nichts, so könnte man Leopardis Analyse der Langeweile zusammenfassen, fürchtet sich der Mensch mehr als vor dem Nichts – vor allem vor dem Nichts in der eigenen Seele, vor das einen die Langeweile führt. Denn dann fühlt er seine eigene Nichtigkeit, dann läßt ihn der Vorgeschmack des eigenen Todes erschauern. Überschauen wir die Reihe unserer Gewährsmänner, so stellen wir einen Primat der Philosophie fest. In ihr scheint sie reflektorisch beheimatet. Wo freilich Walther Rehm zufolge Wesen und Grund der Langeweile eine wirklich gültige und literarische Form gefunden haben, ist der Roman Oblomow (1859) von Iwan Gontscharow. Die Oblomowerei repräsentiert ein komplexes System, das weder nur mit Faulheit noch mit Langeweile hinreichend erfaßt wäre. Es handelt sich vielmehr um ein ganzheitliches Lebensprinzip, das vor dem Hintergrund der absterbenden russischen Feudalgesellschaft zu deuten ist. Oblomows Zentrum ist sein Bett. Allein der Versuch, dieses unter tätiger Mithilfe von sieben wohlmeinenden Besuchern zu verlassen, ist dem Autor mehr als 200 Seiten wert. Meistens liegt Oblomow im Schlafrock auf seinem geliebten Petersburger Diwan. Ursache sind weder Krankheit noch genußvolle Faulenzerei, sondern es war sein normaler Zustand. Der Landedelmann freut sich, keinen Vortrag hören und keine Schriftstücke bearbeiten zu müssen. Aufregende Unternehmungen sind ihm ein Gräuel. Das aktive Leben kennt er von seiner früheren Tätigkeit auf einem Amt. Es brachte nur Angst und große Langeweile über ihn. Jetzt zieht er es vor, sich Zeit für seine Gefühle und Einfälle zu nehmen, die er zwar ständig produziert, aber nie ausführt. Die geschäftige

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Umwelt, allen voran sein geschäftiger Freund Stolz, langweilt ihn – wie er sich auch selbst langweilt: Die Langeweile hatte sich in seine Augen hinein gefressen und schaute aus ihnen wie eine Krankheit heraus. Die Gegenwelt besteht aus Träumen von einer glücklichen Kindheit sowie von einem künftigen paradiesischen Landleben – ein Blick, der sich freilich erst aus dem Rückzug von der Vita activa einstellt. Nicht einmal den seelischen Anstrengungen der Liebe ist Oblomow mehr gewachsen. So verliert er Olga an den tüchtigen Geschäftsmann Stolz. Die Figur des Oblomow geht jedoch weit über eine bloß verzerrte Darstellung einer Erkrankung des Willens und der menschlichen Tatkraft hinaus. Sie ist so vieldimensional und kontrovers gedeutet, wie es nur eine Figur der Weltliteratur sein kann. Die schon von Gontscharow gebrauchte Bezeichnung Oblomowist wurde durch Masciochi und Dietrich in die Psychiatrie eingeführt, wo sie einen willensschwachen Psychopathen bezeichnet, der wegen Apathie, Faulheit und Parasitismus meist untätig im Bett liegt und andere für sich sorgen läßt, obgleich er in intellektueller Hinsicht normal ist. Mit Gontscharow hat sich die Langeweile als Philosophem endgültig in die Literatur eingeschrieben. Schönstes Beispiel ist vielleicht Anton Tschechows Langweilige Geschichte. Baudelaires Begriff für sie lautet Ennui und umreißt die Affektlage des damaligen Großstadtmenschen, unentschieden pendelnd zwischen Citoyen und Bohemien. Seine einzigen Konstanten scheinen Entfremdung, Ekel und Abscheu, wenngleich christlich-platonisch die Sünde stets dann wie im Palimpsest durchscheint, sobald es um Fascinosum et Tremendum des Bösen geht. Folgerichtig rechnet Baudelaire die Langeweile zur schändlichen Menagerie unserer Laster. Für ihn sind die Begriffe Ennui und Spleen identisch. Spleen geht zurück auf das mittelenglische splen und bedeutet zunächst Milz und Milzsucht. Die Milzkrankheit heißt auch Hypochondrie. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts ist bereits von der Englischen Krankheit die Rede, die im privaten wie im gesellschaftlichen Leben eine bedeutende Rolle spielt. Es geht um Übellaunigkeit und Nörgelei, Verdrießlichkeit und Trübsinn. Affektierte Müdigkeit und Überdruß gehen Hand in Hand und bewirken Rückzug und Weltflucht. Freilich wird die selbst gewählte Einsamkeit zugleich kultiviert und ins Hypertrophe, später ins Blasierte stilisiert. Für Baudelaire aber heißt Spleen: Ennnui de toutes choses. Die sich darauf berufenden Dandys möblieren ihre blasierte Langeweile so kultiviert wie ihren verspiegelten Salon. Deshalb neigen sie zu Ausstattungsorgien, wie sie uns in den Filmen des DécadenceSpezialisten Visconti dokumentiert sind. Werner Sombart beschrieb 1912 in seiner Studie Liebe, Luxus und Kapitalismus die Geburt der Moderne aus dem Geiste der sinnentleerten Verschwendung. In seiner Habilitationsschrift Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne hat Hartmut Rosa 2005 darauf aufmerksam gemacht, daß die periodischen Klagen über die Erhöhung des Lebenstempos von einem Subtext begleitet werden, der die Ereignislosigkeit im rasenden Stillstand beklagt: L’ennui wird zum Schlagwort just zu einer Zeit, in der die industrielle Revolution die Geschwindigkeit in allen Bereichen der menschlichen Erfahrung vervielfachte. Unter einer sich rasch wandelnden Oberfläche

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sieht Rosa die Verlangsamungskräfte als paradoxe Kehrseite neuzeitlicher Dynamisierungsprozesse mit den Ausprägungen von ennui und existentieller Langeweile am Werk. Die kulturelle Diagnose beginnt mit der Acedia in der Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, säkularisiert sich als Melancholie, geht über in die ennui, um als Neurasthenie von Alfred de Musset zum mal du siècle erklärt zu werden, womit zum aktuellen Kontext von Depression aufgeschlossen wird. Verwunderlich ist, daß sich ausgerechnet die 68er Generation mit Langeweile beschäftigt. Man vermutet sie weit eher in hitzig ideologischen Grundsatzdiskussionen und Demonstrationen. Mit dem Theaterstück Magic Afternoon gelang dem Grazer Dramatiker Wolfgang Bauer 1968 der Durchbruch. Zwei Paare, Charlie und Birgit, Joe und Monika, auf den ersten Blick Typen einer hyperrealistischen Milieustudie aus der Bohème, wissen herzlich wenig mit einem angebrochenen Nachmittag anzufangen. Im Grunde genommen ist ihnen fad. Über ihren Geplänkeln und Gesprächen liegt gerade deshalb von Anfang an eine nervöse Unruhe, die sich schließlich zur Aggressivität steigert, analog dem Gewitter, das draußen aufzieht. Jeder Held hat sein Wetter. Das Lebens- und Zeitgefühl gelangweilter Orientierungslosigkeit mündet in Gewalt, denn die Personen langweilen sich im buchstäblichen und im übertragenen Sinne zu Tode. Fast zeitgleich äußert sich der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel über die Langeweile und gewinnt ihr einen produktiv-künstlerischen Aspekt ab. Als schlechter Fußballspieler habe er sich in seiner Kindheit ständig gelangweilt und deshalb begonnen, sich aus der Stadtbibliothek die Werke der Weltliteratur auszuleihen – und auch zu lesen. Auch so kann man Schriftsteller werden. Die literarische Gegenwart scheint von solcher Motivation weit entfernt. Insbesondere Schriftstellerinnen der Generation Golf, aufgewachsen im Wohlstand, scheinen mit der ihnen zur Verfügung stehenden vielen Zeit ihre liebe Not zu haben. So drehen sich die an der Grenze zum Disgrammatischen angesiedelten Erzählungen in dem Band Sommerhaus, später (1998) der im Spiegel als Neues Fräuleinwunder identifizierten Autorin Judith Hermann überwiegend um das, was Langeweile mit sich bringt und nach sich zieht. Das abgeschmackt Abgestandene wird, geschminkt mit Gender-Attitüde, zum Thema einer handlungsleeren Short-Cut-Literatur (Vorbild: Raymond Carver) der Belanglosigkeit, in welcher der Kritiker Karasek beflissen den Sound einer Generation erkennt.

Therapie: In seinen Reflexionen über den Besuch vom Mittagsdämon diskutiert Friedhelm Decher unterschiedliche historische Therapiemodelle. Erfolglos ist etwa die Reisewut, worauf schon Seneca verweist, denn wer sich selbst flieht, trägt schwer am eigenen Gepäck. Champagner und Kartenspiel in geselliger Runde? Schopenhauer warnt eindringlich davor, denn Langeweile macht per se einsam, und er ist sich mit Pascal darin einig, daß in der sinn- und gottfernen oberflächlichen Zerstreuung kein Heil liegt. Das therapeutische Konzept mit den größten

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Erfolgsaussichten kommt von Montaigne. In seinem Essai Über die Erfahrung zielt er nicht auf den Zeitvertreib, mit dem die Zeit eben vertrieben, d.h. nicht genutzt wird. Er rät zu einer grundsätzlich lebensbejahenden Einstellung, um die vielerlei Chancen und Möglichkeiten sinnvoll zu nützen, die uns das Leben anvertraut hat. Auf eine Kurzformel gebracht heißt dies bei Friedhelm Decher: Nicht die Langeweile vertreiben, sondern erst gar keine aufkommen lassen. Der tätige Mensch ist, dem Philosophen Claude Adrien Helvéticus zufolge, der glückliche Mensch, wobei er tätig sein kann durchaus auch ohne jenen Stachel namens Schmerz, auf den Kant abhebt. Ein weises Rezept stellt auch Sir Bertrand Russel mit der Empfehlung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Einförmigkeit und Anregung nach dem Muster von Ebbe und Flut des irdischen Lebens. Als Grundsubstanzen eines Antiennuikums gelten Zerstreuung, Aktivität und schließlich eine gelassene, heiter kontemplative Haltung nach Montaigne. Sinngebung ist und bleibt unverzichtbar. Sie wird nicht ohne Transzendenz auskommen. Der Beipackzettel sollte darauf hinweisen, daß es sich jeweils nur um eine symptomatische Therapie handeln kann: Linderung ohne endgültige Beseitigung. Denn nicht einmal das stoische Ertragen der Langeweile kann darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei ihr um einen Bestandteil der Conditio humana handelt, in welcher Verkleidung sie uns auch immer begegnet. Und bekanntlich paßt der Langeweile jedes Kostüm, vor allem das des Glamours, definiert durch Luxus, Selbstzerstörung und empor geschminktes Spießertum. Der Große Gatsby ist nur das literarische Substrat. Seither ist sie, wie so vieles, auf den Hund gekommen. Derzeit tritt sie auch unter dem Namen Paris Hilton auf. Wir sind ihrer längst überdrüssig. Herzlichst Dein alter Köpf

Friedrich Wilhelm Korff

Über Schiller und Cassirer zu Heideggers verminter Katholizität Ein Brief an meinen Promotionsstipendiaten Lieber Benjamin, von der Weltreise zurück und den Stapel Briefe sondierend, finde ich das Schreiben vom 26. 1. 2007. Ich verspüre geisteswissenschaftliche Weltferne im Projekt, und die will ich sanft austreiben. 1.) Cassirer ist eine gute Adresse. Klar, gründlich und vom Zeitgeist einigermaßen ungetrübt, historisch aus den Sachen und wenig an sie herantragend. Ich habe mich immer geärgert, daß Heidegger Cassirer beeindrucken konnte, mit seiner aus Kierkegaard und Husserl zusammengebastelten, vom „eigentlichen Sein ergriffenen“ Ontologie, der eine darum wenig bekümmerte und sich den NAZIS anbequemende Professorenpraxis folgte. Heidegger verweigerte das Risiko, „Untermenschen“ zu unterstützen, und nahm Verrat an seinem alten Lehrer Husserl in Kauf. Als „anthropologische Wende“ in der Philosophie hat sogar Cassirer „Sein und Zeit“ gelobt, aber, ihrer Folgen noch nicht gegenwärtig, hat er sie über seine alte aristotelische Ethik in der von Thomas akzeptierten Form christlicher Lebensdisziplin gestellt. Das war ein Fehler, denn diese ist über 2000 Jahre alt, belebt immer noch, und ist auch meine. 2.) Theorie praktisch zu nennen, ist eine Illusion, der vermutlich Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ im großen Stil erlegen ist. Sie ist sogar in den Händen der Mediokren kaum mehr als eine Etikettenfälschung gewesen, der besonders unsere 68-iger verfielen, als sich ihre Mitläufer an der Hochschule nicht um ihr sozialistisches Gewissen und um die Studenten kümmerten, sondern um ihre Pfründen. Das nannten sie „Praxis“ oder „Besitzstandswahrung“ (obwohl sie vom Eigentum nichts hielten), aber der Zufall und nicht irgendwelche Notwendigkeit in der von ihnen in Hörsälen besetzten Geschichte will es, daß in jeder Praxis der Teufel im Detail steckt (worum sich die Theorie zunächst nicht zu kümmern braucht, damit aber dann wenig später beschäftigen muß. Und wenn sie Glück hat, ist sie bereits etabliert und hält eine gewisse Zeit mit Macht nieder. Und wenn sie kein Glück hat, stirbt die Theorie an ihrer Praxis sofort.) Widersprüche und Schwierigkeiten werden also handelnd in tatsächlicher Praxis und nicht in herrschaftsfreier Diskussion oder gar auf dem bedruckten Papier sichtbar, so daß die Verkaterung über eine so schlimm geschaffene Gegenwart, angesichts herrlicher prophetischer Prophezeiungen aus

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Friedrich Wilhelm Korff

der Vergangenheit, die energische Rückbesinnung auf eine menschenwürdige Praxis zum Tod sozialistischer Theorien geworden ist. S. die DDR, UDSSR, Kuba etc. Folgerung daraus: Achtung auf die Eigendynamik der Begriffe! 3.) Dies gilt auch für das Verhältnis von Ästhetik und Moralphilosophie. Will man Schiller nur historisch in seiner Zeit darstellen, nun gut, das gibt eine Studie mehr unter vielen. Will man aber, wie Benjamin L., mehr, (ein mehr, das ich Schillers Bestrebungen nicht absprechen will), so müssen die Gedanken an den Realisationen gemessen werden und nicht am Utopiequantum, das als bloßes „Gedankending/noumenon“ sowieso auf keiner Waage meßbar ist. Daß Schiller die Kantische Erkenntnis auf einen Dualismus von Geist und Stoff, Freiheit und Notwendigkeit reduziert, halte ich für einen gewaltigen Mißgriff und für eine Reprimitivierung Kants, dessen multiple Ansätze seiner Vernunftbegriffe im Kategoriensystem und Urteilstafel stets einander ergänzend, angrenzend und ineinander übergehend, niemals aber sich ausschließend von ihm gesehen wurden (und wenn, dann als Trugschluß im Urteil, „Kritik der reinen Vernunft“ B 422 „Euthanasie der reinen Vernunft“ oder B 434 „Mißverstand der rationalen Vernunft“). Denn sieht man es so wie Schiller, werden die Begriffe Freiheit und Notwendigkeit schon auf dem Papier einer abstrakten Versöhnung in „Anmut und Würde“ bedürftig, wie sie sehr selten in einer historischen Praxis erblickt, und schon gar nicht in der heutigen, da solche Lebensanweisungen den Konsum- wie Lebensspaßdemokraten abwegig und lächerlich erscheinen, also in der Regel trivialrhetorisch formuliert, altväterlich wirken, allenfalls von Zeit zu Zeit nach der Herrschaft quälender Machtausübung in unserem theoretischen Wunschdenken ersehnt worden sind. In diesem Sinne ist der „Klassiker“ Schiller sowohl von preußischen Schulmeistern des 19. Jh. und der Weimarer Klassik, wie von den Star-Ästheten des Sozialismus wie Lukács u.a. mißbrauchbar, das heißt als „Vorschein“ positiv interpretierbar gewesen. Anmut und Würde werden dann zu Programmen aus Begriffsschmieden, klingende Begriffe, wie sie an keinem Honecker oder einem anderen Parteifunktionär glaubhaft, und nur in den Schulbüchern vorhanden waren. Wenn sie aber wirklich auftreten, so treten diese Eigenschaften bescheiden praktiziert und stets theorielos in Menschen wie Albert Schweitzer, Gandhi und Mutter Theresa auf, die in der Diaspora litten und nicht auf der Bühne als „Don Karlos“ glänzten. Den Tadel, rhetorische Vorzeigestücke zu sein, müssen mittlerweile auch Brechts „Mutter Courage“ und „Galilei“ ertragen. Wie sich eine „Kultur von der praktischen Orientierung auf das ästhetische Selbstverständnis“ zurückwendet, kann man also nicht an der Aufklärung zeigen. Sie hat, rückwärts gewandt, ihre Staub abblasenden Meriten, vorwärtsgewandt wenig Schönes, Stärkendes und Selbststabilisierendes, vielmehr kalte Positivisten und Besserwisser ohne Lebensachtung und Gottesfurcht wie Voltaire hervorgebracht. Um nur aus zahlreicher Literatur zwei konträre Bücher zur Einführung auszuwählen: Th.W. Adorno „Dialektik der Aufklärung“ und Herrmann Lübbe „Religion nach der Aufklärung“. Die Religion läßt sich nicht einfach abschalten, wenn man nicht ihre Lücke wie aus gefallenen Früchten zu Alkohol vergä-

Über Schiller und Cassirer zu Heideggers verminter Katholizität

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ren lassen will. Die gegenwärtige Jugend verkommt mit ihrem ungestillten Bedürfnis danach in Sekten. Und für uns gilt: Akribie im Wissenschaftlichen ersetzt keine präzis verläßliche Lebensführung, ist aber als Einübung in Disziplin überhaupt unerläßlich. Die wichtigsten Dinge erledigen sich von selbst, wenn man sie so lange übt, bis man sie ausführend vergessen hat und Gewohnheit an die Stelle der Überlegungen getreten ist. Wenn ich auf dem Kontrabaß das Oldtimestück „New Orleans“ spiele und durch den Quintenzirkel muß, wissen meine Finger, daß ich eine Treppe von der G-Saite zur A-Saite hinuntersteige. Beim langsamen Heruntersteigen habe ich die Töne vergessen, die ich spiele. Ich orientiere mich nur am Ausgangston und den gegenüberliegenden Stufen der Quarten. Nicht mein Kopf, sondern mein Körper mit der Fußspitze achtet darauf, mit dem Banjo und dem Schlagzeug im Takt zu bleiben. Und wenn dann im selben Stück ein Tonartwechsel erfolgt, bleibe ich im gleichen Ritus, spiele aber dann in der um einen Ganzton versetzten Quartentreppe die Töne richtig, die ich nicht einmal geübt habe und die ich daher auch nicht kenne. Sollte es mir einfallen, sie während des Stücks kennen zu lernen, bin ich sofort neben und außerhalb Takt und Rhythmus. Aufklärung über Rituale und Gewohnheiten irritieren also und stoppen ihren Ablauf und lassen das wenige an vorbildhafter Humanität wieder scheitern, was über Jahrhunderte in den Kirchen geübt wurde und gelang. Der Weg war also eher der von der „Rezeptivität der Aufklärung“ in ihre gestörte „Produktivität“. Dies war offenbar damals Cassirer (1874–1945) nicht klar. Ich vermute, er hat als Gelehrter den Schwanengesang christlichen Lebenshalts inmitten der Veitstänze konkurrierender Ideologien der Weimarer Republik nicht nur nicht gehört, sondern auch gar nicht hören wollen. Dagegen war er vom intellektuell bengalischen Feuerwerk roter, brauner und schwarzer Genossen (mit „schwarz“ meine ich Heideggers verminte Katholizität) fasziniert. Das war ihm bislang beim Zusammenstellen „symbolischer Formen“ so noch nicht vorgekommen. Lichtenberg vermerkt im „Sudelbuch“-Heft L 270 (1796 postrevolutionär gestimmt): „Kant sagt irgendwo einmal: Die Vernunft ist mehr polemisch als dogmatisch.“ Dieser Satz, ohne Beispiel schon einleuchtend, trifft Cassirer. Von der anvisierten Dogmatik seiner Lehrer Cohen und Natorp und seinen eigenen „transzendentalphilosophischen Untersuchungen über Kant“ ausgehend, mußte der rezeptive Schwung aufklärerischer Dogmatik – weil ihm das Publikum und diesem ein allgemeines Verständnis im Breiten und gar erst in der Tiefe des Neukantianismus fehlte – auf absehbare Weise polemisch werden. Ich selber habe den „Vernunftgebrauch“ eher polemisch kennengelernt, – bis ich mit Euch in sieben Semestern die „Kritik der reinen Vernunft“ Zeile für Zeile las –, zu beobachten etwa bei Lukacs „Die Zerstörung der Vernunft“, ein Buch, dessen Arroganz mich immer noch ärgert, weil ich dem einige Plausibilität abgewann, stand doch damals ¾ der Welt im Bann des Kommunismus. Inzwischen weiß ich durch meine eigenen Augen, wie furchtbar er in wenigen Jahren Afrika her- und hingerichtet hat. Das haben selbst die katholischen Spanier und Portugiesen seit dem 16. Jahrhundert in Südamerika so nicht

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Friedrich Wilhelm Korff

geschafft. Die Bestialität wird immer schneller. Aber ich höre hier auf, weil meine Mahnung an Benjamin L. schon abgesendet ist, ähnlich übrigens auch der Botschaft Ernst Cassirers, der vielleicht im Ernsten zu weitläufig, gelassen aber wenig geschrieben hat. Herzlich, Ihr F.W. Korff

Zsuzsanna Gahse

Telegramm aus London

Am liebsten möchte ich Dir jetzt zum Geburtstag danken, während eher Glückwünsche angebracht wären. Hier die liebsten Wünsche daher, zunächst. Aber dann doch der Dank für die Ideen, für Deine Gedanken, die wie ein Hefekuchen aufgehen und deren Geschmack sich Jahr für Jahr mehr entfaltet. So ist convincere. Leuchtet ein. Ein Vergnügen ist es, Dir hinterher zu stolpern, mit unseren Unterhaltungen im Hinterkopf, lieber Gert. Auch hier in London sind sie präsent, was im Stadtdurcheinander oft hilfreich ist. Herzlichen Dank, bin delectiert, auch an Deinem Geburtstag. Deine Zsuzsanna

Walter Hinck

Schreibschule, Lebensschule, Literaturförderung

In dem von Walter Jens herausgegebenen Band Schreibschule,1 der Sammlung von Texten eines Schreibseminars an der Universität Tübingen, das Jens als eine Abwandlung der amerikanischen creative-writing-Studien verstanden wissen wollte, fiel Gert Ueding und mir das Amt des Warnens vor allzuviel Optimismus zu. Während Ueding von einem aktuellen „Unbehagen an der Hypertrophie unserer Schriftkultur“ sprach, faßte ich meine Skepsis im Titel des Beitrags „Diplom-Schriftsteller mit Pensionsanspruch?“ zusammen, verwies aber auch auf Jens’ einschränkenden Satz „Seminare können keine Pflanzstätten für Dichter sein.“ Trotzdem sei vor Jahren „ein Schreibseminar-Eleve aus Tübingen“ beim Ingeborg-Bachmann-Preis „dekoriert worden“. Aber unter den Texten des Bandes von 1991 findet man heute keinen, dessen Verfasser sich im letzten anderthalb Jahrzehnt als Schriftsteller einen Namen gemacht hätte. Und es war gewiß nicht mein Verdienst, sondern lag an der Begabung des Autors, daß in den „Übungen zu schriftstellerischen Versuchen von Studenten“, die ich an der Universität Köln gehalten habe, einer saß, der sich heute längst als Lyriker profiliert hat: Norbert Hummelt. Was ich mit meinen sommerlichen Semesterübungen hoffte erreichen zu können, war: die Phantasie zu mobilisieren, Sensibilität für die literarische Sprache zu wecken und die Kritikfähigkeit zu fördern. Diese Übungen fallen in die Zeit, in der Gert Ueding und ich Freundschaft schlossen. Seit 1982 gehörten wir für mehrere Jahre gemeinsam der Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt an. Hier lasen Autoren, die nicht mehr in die Schreibschule gingen, und – von Ausnahmen abgesehen – wohl auch nie einen Kurs für creative writing besucht hatten. Sie waren zumeist auf Anregung der Verlagslektoren von Jurymitgliedern vorgeschlagen worden, also bereits „gesiebt“. Daß auch da gelegentlich jemand, mit Hilfe zweifelhafter Protektion, hatte durchschlüpfen können und sein Fiasko spätestens bei der kritischen Beurteilung im Anschluß an seine Lesung erlebte, steht auf einem anderen Blatt. Alles in allem gab und gibt es keinen literarischen Wettbewerb mit solch breiter Auswahl von Autoren und solcher öffentlichen Resonanz wie den Klagenfurter. Unausbleiblich war die Enttäuschung, die auf die Mehrzahl der 28 lesenden Autoren wartete (nur vier Preise konnten vergeben werden). Ein Honigschlecken war der Wettbewerb selbst für die Mitglieder der Jury nicht, die –––––––— 1

Walter Jens (Hg.), Schreibschule, Frankfurt a.M. 1991.

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sich hier als Kritiker auf dem Prüfstand sahen. Dennoch waren die Klagenfurter Tage auch Festtage. In genauer Erinnerung geblieben sind mir die Busfahrt aller Teilnehmer des Wettbewerbs nach Maria Saal, aufwärts zur wehrhaften, im 15. Jahrhundert gegen Türkeneinfälle zur Burg ausgebauten Kirche, weiter zum Empfang des Bürgermeisters von Klagenfurt im Kärntner Freilichtmuseum, und später das obligatorische Schiffsfest auf dem Wörther See am Abend nach dem Ende des Wettbewerbs. Viele Bekanntschaften, viele Freundschaften wurden in der Klagenfurter „Woche der Begegnung“ geschlossen. Eine Fortsetzung ganz anderer Art fand Gert Uedings und meine Mitarbeit in der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung. In Leipzig war das zur Zeit der DDR gegründete Johannes R. Becher Institut der neuen kulturellen Situation anzupassen und unter neuen Perspektiven der Lehre und mit anderem Lehrpersonal fortzuführen. Es wurde schließlich unter dem Namen „Deutsches Literaturinstitut“ wiedergegründet. Gert Ueding und ich waren von der Universität Leipzig in die Gründungskommission berufen worden. Das Leipziger Institut hatte den Gedanken der „Schreibschule“ professionalisiert, es hatte junge Talente aufgenommen und mit den für die schriftstellerische Laufbahn wichtigen Fächern vertraut gemacht – viele namhafte Autoren der jüngeren Generation in der DDR sind durch das Johannes R. Becher Institut gegangen. Zum Abschluß des Studiums hatte der Absolvent eine größere Arbeit abzuliefern. Sieht man von den alten ideologisch-politischen Vorgaben und der neuerlichen Bindung an die Philosophische Fakultät ab, so war am Grundcharakter des Instituts nichts zu ändern. Die in zeitlichen Abständen zusammentretende Kommission beschäftigte sich mit der Nominierung der Fächer – neben den Verschiedenen Sparten/Gattungen der Literatur die Literaturgeschichte und die philosophische Ästhetik –, ließ die Bewerber für die ausgeschriebenen Stellen ihre Vorstellungen von der Lehre entwickeln und machte Vorschläge für die Berufung. Im übrigen war die Einladung stets wechselnder Gastdozenten oder -professoren vorgesehen. Als glücklichen Moment erlebten wir die Neueröffnung des Leipziger „Deutschen Literaturinstituts“ unter seinem ersten Direktor Bernd Jentzsch. Bei den vielen Besuchen Leipzigs habe ich die Stadt lieben gelernt (es ist wohl Gert Ueding nicht anders ergangen). Gerade durch den Kontrast zu Dresden, der Stadt aristokratischer Kultur, der Stadt des Barock und Augusts des Starken, hat mich Leipzig als Inbild bürgerlicher Kultur, als die Stadt Bachs einerseits und der Aufklärung andererseits fasziniert. Die Mitarbeit in der Kommission zeigte Gert Ueding und mir ein Beispiel, wie Schreibschule und creative-writing-Studium auch institutionell in die deutsche Universität eingebunden werden können. Meine Skepsis konzentriert sich inzwischen auf eine andere Art von Förderung junger schriftstellerischer Talente, und sie ist kürzlich verstärkt worden

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durch Dieter Wellershoffs Essay „Der riskante Beruf des Schriftstellers“.2 Wellershoffs Thema ist hier das Problem der sprunghaft gewachsenen Zahl von jungen Schriftstellern, die ihr Dasein nur mit Hilfe eines weitverzweigten Netzes von Stipendien und Förderpreisen, Workshops, Wettbewerben und kulturellen Festivals fristen, also von Staat und Gesellschaft eine Art „Grundversorgung“ erwarten. Die Verlage nutzen diese Entlastung von finanzieller Fürsorge für ihre Autoren, „durchaus in der Absicht, ein lebendiges literarisches Leben zu fördern, aber letzten Endes auf Widerruf“. Als langjähriges Mitglied im Kuratorium einer der großen Kultur-Stiftungen, der Jürgen-Ponto-Stiftung zur Förderung junger Künstler – mit einem Schriftsteller zuständig für den Bereich Literatur –, kann ich die Eindrücke Wellershoffs nur bestätigen. Überhaupt nicht in Frage gestellt sei die Unterstützung junger Talente, die Wichtigkeit einer Starthilfe. Sie hat sich in dem Umkreis, den ich überblicke, in vielen Fällen „ausgezahlt“, in manchen sogar auf glänzende Weise. Daß sich nicht alle Erwartungen erfüllen, kann kein Einwand gegen die Förderungsinstitutionen sein. Die Kunst, besonders die Literatur, ist viel zu inkommensurabel, also zu wenig meß- und auf den Erfolg hin berechenbar, als daß sie mathematisch-naturwissenschaftliche Voraussagen erlaubte. Zu reden aber ist über eine Arbeits- und Lebenshaltung, die durch das Förderungssystem begünstigt wird. Dabei erbringt eine Berufung auf die Unterstützungssysteme, mit denen der Staat in der DDR den Schriftstellern das Schreiben erleichterte und zugleich erschwerte, nur wenig. Denn dort war das Versprechen der Existenzsicherung verknüpft mit der Erwartung eines Einverständnisses mit den politischen Zielen der Regierung und den Gesetzen einer – wie weit auch immer gefaßten – sozialistisch-realistischen Schreibweise. Eine Vorzensur setzte schon bei der Bearbeitung des Manuskripts im Verlag ein, sofern sich der Autor nicht vorsorglich in bußfertiger Selbstzensur geübt hatte. Daß dies weniger für die erfolgreichen Autoren zutraf und daß die Zensur in den letzten Jahren der DDR die Zügel lockerer lassen mußte, ändert nichts an der grundsätzlichen Verpflichtung des Autors gegenüber dem Staat. In der Bundesrepublik, in Österreich und in der Schweiz besteht weder eine Literaturdoktrin noch ein Verbot der offenen politischen Meinungsäußerung (ausgenommen die Leugnung des Holocaust und eine völkerverhetzende Tendenz), also auch keine Verpflichtung des Autors zu einer bestimmten Schreibweise, zur „Linientreue“ oder zu umfassender „Dankbarkeit“ gegenüber den mäzenatischen gesellschaftlichen oder staatlichen Institutionen. Der geförderte Anfänger, der Stipendiat oder Literaturpreisträger, ist frei in der Wahl seines Themas und seines Schreibstils. Diese Freiheit gibt dem jungen Talent Selbstsicherheit, aber sie verleitet den Anfänger, der sich im Netz der mäzenatischen Einrichtungen aufgefangen sieht, leicht auch zum Realitätsverlust. Dies in doppelter Weise. Da er sich der Notwendigkeit, einer anderen Erwerbstätigkeit als dem Schreiben nachzugehen, –––––––— 2

In: Dieter Wellershoff, Der lange Weg zum Anfang. Zeitgeschichte, Lebensgeschichte, Literatur, Köln 2007, 176–180.

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Walter Hinck

enthoben glaubt, zieht er sich – wogegen an sich nichts zu sagen ist – so weit wie möglich an seinen Arbeitsplatz, den Schreibtisch, zurück. Er genießt den Vorteil, ausschließlich das machen zu können, was er am liebsten tut: Gedichte oder andere literarische Texte zu verfassen. Haben ihm erst mehrere fördernde Institutionen unter die Arme gegriffen, festigt sich seine Zuversicht, von seiner Schreibtischarbeit „ganz gut“ leben zu können. So trübt sich der Blick für die harte Realität des Schriftstellerberufs, die ihn einmal ereilen wird. Der Schreibtisch wird zur Zuflucht, ist aber keine Stätte der Kommunikation, er isoliert den einzelnen aus dem breiten Strom des Lebens, er ist ein schlechter Ort, Anregungen zu empfangen und produktiv werden zu lassen. Er kann, auch bei starker dichterischer Phantasie, zur ausschließlichen Konzentration des Autors auf sich selbst, zum Ungleichgewicht zwischen Selbstreflexion und Wahrnehmung des Lebensstroms führen, also zum Realitätsverlust in einem zweiten Sinne. Instruktiv ist das Beispiel des Diplomaten Erwin Wickert, der nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Rückkehr aus der Internierung in Japan zwangsläufig das Schreiben zum Broterwerb der Familie benutzte, aber dann doch in den diplomatischen Dienst, ins Auswärtige Amt, zurückkehrte. Seine Begründung: Ich sehe die Welt nur noch über meinen Schreibtisch. Ich kenne sie gar nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, was wirklich vor sich geht. […] Ich will nicht mehr zur Zunft derer gehören, die in der Literatur leben und die nur Literatur denken, ohne die Welt zu sehen.3

Hier ist genau die Gefahr der „Weltlosigkeit“ beschrieben, in die der junge Schriftsteller geraten kann, wenn er sich durch Förderungen wie in einem Hort aufgehoben glaubt. Wickert, Gesandter in London, Botschafter in Bukarest und Peking, Unterhändler in Geheimverhandlungen mit der sowjetischen Delegation, vertiefte sein Wissen von westlichen, östlichen und fernöstlichen Staaten und gewann durch Anschauung und Wahrnehmung Mittel und Maßstäbe zur kritischen wie gerechten Beobachtung der unterschiedlichsten Kulturen. Auch wenn solche Erfahrungsschätze nur Stoffgrundlage für Dichtung – Wickert hat Hörspiele, Romane und bedeutende autobiographische Bücher geschrieben – und noch kein Garant für eine angemessene künstlerische Form sein können, ist ihre Mitgift doch eine Weltoffenheit des Erzählens. Deutlich wird am Beispiel Wickerts, daß weder Stipendien noch Schreibschulen die Lebensschule ersetzen können. Das haben alle in mäzenatischen Gremien Mitwirkenden und alle literarischen Debütanten mitzubedenken. So viele „Talente“, wie die Schreibschulen und Workshops bevölkern, kann es in Wahrheit nicht geben, und gäbe es sie, so würden die meisten an den Konkurrenzbedingungen scheitern oder würde der Buchmarkt an ihnen ersticken. So bleibt die Förderung schriftstellerischer Talente eine Notwendigkeit in einer lebendigen Kultur, hat aber auch ihre Tücken. Ich kenne Fälle, in denen junge Schriftsteller, nachdem sie einen Literaturpreis erhalten hatten, „abhoben“, ihren Erwerbsberuf oder Nebenberuf aufgaben und schon nach kurzer Zeit –––––––— 3

Erwin Wickert, Mut und Übermut. Geschichten aus meinem Leben, Stuttgart 1991, 489.

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hilfesuchend wieder bei der Institution anklopften, deren Satzung eine Weiteroder gar Dauerförderung der Preisträger ausschließt (daß in Härtefällen nach Wegen für Ausnahmen gesucht wird, sollte freilich nicht ausgeschlossen werden). Bei allen Vorbehalten gegen ein Förderungssystem, das auch die Selbstüberschätzung junger „Schreibender“ fördert, kann dennoch das Ergebnis aller Überlegungen nur ein Plädoyer für die optimale Unterstützung jener Schreibversuche sein, die als ein Versprechen für die Zukunft erkennbar werden. Denn Literatur, die es verdient, „ein Medium zur Erweiterung und Vertiefung unserer Wahrnehmung des Lebens“4 genannt zu werden, gerät zunehmend in den Schatten der Unterhaltungsindustrie. Selbst bei den führenden Feuilletons beobachten wir zur Zeit ein schwindendes Interesse für eine Literatur, die nicht einem aktuellen Bedürfnis nach dem Erleben eines „Ereignisses“ entspricht. Diese neue „event“-Bewegung, hervorgerufen und verstärkt durch die audiovisuellen Medien, hat in auffallender Weise selbst schon auf das katholische Weltjugendtreffen und den evangelischen Kirchentag (beide in Köln) übergegriffen. Man konnte den Eindruck gewinnen, daß große Massen der Jugendlichen weniger um des Glaubens willen und mehr in der Hoffnung auf große (zumeist musikalische) Rahmenveranstaltungen gekommen waren, daß sie hier spektakuläre Begegnungen, Ereignisse, „events“ erwarteten. Die großen Shows im Fernsehen sind „events“ in großen Hallen und lassen Millionen von Zuschauern mit teilnehmen. Und in den Feuilletons selbst der bedeutenden Zeitungen engen die Medien-Seiten die Literatur-Seiten ein. Musikshows und Talkshows werden besprochen wie wichtige Theaterpremieren und wie Bücher, ihre Stars wie Anwärter auf den Nobelpreis behandelt. Niemand kann ernsthaft verlangen, daß Kulturredaktionen und literarische Öffentlichkeit die Veränderungen im Zeitalter der „Medien“ nicht zur Kenntnis nehmen. Entwicklungen lassen sich nicht einfach zurückdrehen. Literatur, die nicht nur der Unterhaltung dienen will und sich an den individuellen Leser richtet, muß sich wohl oder übel in ihrem Reservat einrichten. Umso dringlicher aber ist es, die zu fördern, auf die unsere Hoffnungen für eine zukünftige Literatur ruhen.5

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Dieter Wellershoff, Der lange Weg, 158. Dieser Beitrag überschneidet sich mit Überlegungen, die der Verfasser auch in seinem im Herbst 2008 (bei Bouvier in Bonn) erscheinenden Buch Wahrnehmung des Lebens. Vom Schreiben im Nebenberuf entwickelt.

Burghart Schmidt

Kunst und Forschung Oder über Begreifsweisen des Unbegreiflichen, das Neue und das individuum ineffabile Mit dem Jubilar Gert Ueding verbindet mich eine lange Geschichte der Kooperationen vom Umkreis um Ernst Bloch in Tübingen bis zu den Zügen durchs Karl-May-Land Sachsen, genauer Vogtland und Plauen in Sachen e.o.-plauenGesellschaft. Dazwischen lag etwa Blaubeuren, das einen sofort an Wilhelm Hauffs Ritterroman Schloß Liechtenstein erinnert. Ich fühle mich darum verpflichtet, hier einem Problem nachzugehen, das wir uns beide in Nachdenken und Grübeln schon während ganz früher Zeiten unserer Freundschaft nachhaltig stellten. Und da verfiel ich auf eines, über das lange Gespräche mit unserem gemeinsamen Freund Hans Holländer aus der Kunstgeschichte stattfanden, so ganz aus der Tübinger Studienatmosphäre heraus: Kunst und Forschung. Es ist dieses eines, das uns nie mehr ganz losgelassen hat seit jenen frühen sechziger Jahren vorigen Jahrhunderts. Gewiß, Ueding orientierte sich mehr zur Literatur hinüber und ich beschäftigte mich wachsend mit den bildnerischen Künsten. Doch auf beiden Gebieten stellt sich das Problem zum Teil gleich und zum Teil anders, aber im nämlichen Engagement. Zu dem Problem wurden in den letzten Jahren viele Untersuchungen veröffentlicht, es rauscht durch den Blätterwald. Wenn man sich auf die Lektüre dessen einläßt, erfährt man allerdings laufend von funktionalen Zusammenhängen, das Künstlerische unterstütze wissenschaftliches Forschen, das Künstlerische sei ein Element der Forschungsprozesse, das Künstlerische mache Forschungseinsichten und Forschungswege vermittelbar, alles Abstrakte brauche Design, das Künstlerische beflügele die Forschungsphantasie, immerhin könne es ja auch Entspannung aus den Verspannungen innerhalb der angestrengten Forscherhaltung versprechen und so viele andere Gesichtspunkte mehr, die alle die Kunst bei der Problemlage in Frage stellen, nicht aber die Forschung, etwa im Sinn eines „Die Forschung soll auch anders werden“. In der festzustellenden Einstellung drückt sich freilich das leitende Interesse dieser Zeiten aus. Weil Forschungsergebnisse wirtschaftliche Anwendbarkeiten bewährt haben und ankündigen, während anderes Kulturelles zu Sackgassen hin zu verlaufen scheint, fließt derart immer mehr Geld in die Forschungskanäle, während es anderer kultureller Produktion entzogen wird. Das gilt ja für die Forschung selber, daß nur Anwendbarkeitsanzeige Mittelbeschaffung genügend leicht macht, damit man noch Zeit gewinnt für die Forschungsarbeit selber, während Forschungsarbeit, die sich dem Verdacht der Nichtanwendbarkeit aussetzt, wie ein frevelhafter Luxus von Einsparung bedroht wird. Wenn Künste sich also in

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solcher Zeitgeistlichkeit dem eingerichteten Forschungsbetrieb anähneln und andienen wollen durch die Menge der Untersuchungen zu Kunst und Forschung, statt von andersartiger Forschung zu sprechen, dann geht es um die Aussicht auf die Fleischtöpfe der betrieblich abgesegneten Forschung, die immer schneller gefüllt werden, und die Hirsebreitöpfe des Sichbemühens um andere Forschungsweisen als die betrieblich akkreditierten werden immer leerer. Nahezu allein steht ein Buch mitten in den sprudelnden Mengen der Veröffentlichungen zu unserem Problem, das sich nicht auf den skizzierten Trend einläßt und nicht um die Zugänge zur Mittelbeschaffung buhlt, das vor wenigen Jahren erschienene Buch von Christian Reder „Forschende Denkweisen. Essays zu künstlerischen Arbeiten“ (Springer Verlag Wien / New York, 2004). Reder, sicher, er ist Österreicher und behandelt darum vor allem österreichische Künstler. Entlang von deren Arbeitsverläufen in paradigmatischen Phasen behandelt er aber das künstlerische Forschen mit künstlerischen Mitteln, nicht ein Sichanpassen der Künste an die Phänomenalitäten der eingerichteten Forschungsbetriebe. Was zunächst beim Sicheinlesen der Erkenntnis aufgedrängt wird an Beispielen etwa von Werkphasen der Bildhauer Bruno Gironcoli und Walter Pichler, des Malers Kurt Kocherscheidt, der Malerin Maria Lassnig, zeigt sich als der Umstand, daß die Künste sich Probleme stellen, wie sie sich der eingerichtete Wissenschaftsbetrieb wegen seiner auf Akkreditierung angewiesenen Methodologien und seines in Künsten äußerster Spezifikation doch durchsetzen müssenden Verallgemeinerns gar nicht zu stellen vermag. Und trotzdem werden diese Probleme bei Reder deutlich als solche, wie sie unsere forschende Wahrheitssuche nicht von sich abschütteln kann und nicht von sich abschütteln will, weit über die davon betroffenen Künstler hinaus. Nur mit diesem Buch wegen seiner andersartigen Einstellung zum Thema wird Folgendes diskutieren. Der Zusammenhang von Kunst und wissenschaftlicher Forschung hat in Europa eine lange Geschichte, und zwar sehr wohl als ein aktiver Zusammenhang von der Seite der Künste her, die in dem Zusammenhang keineswegs nur den abhängigen Faktor ausmachten. Man nehme einmal das Mittelalter Europas. Gewiß, die wissenschaftliche Forschung jener Zeit hat wenig zu tun mit der der Neuzeit. Es war die Theologie, die alle Wissens-Welt-Anschauung von damals so umfing wie durchzog. Aber das war eben die forschende Wissensweise der Zeit. Und zu der trugen die Künste erheblich bei, bis zu einer Kritik der Kirchenreligion im Bild durch das dem Franz von Assisi gewidmete Werk Giottos oder bei dem spätgotisch-manieristischen Hieronymus Bosch, schon in Renaissance-Zeiten stehend. Und dann die Renaissance selber in ihrem aus der Klassik der Antike übernommenen Naturpathos während der loslegenden Naturwissenschaften. Die Renaissance begann ja gleichsam mit einer gestalthaften Geographie der Landschaften, zu der auch die Gesichtslandschaften des Porträts zu gehören scheinen. Ihre Künste trugen bei zu der sich entwickelnden Anatomie. Für die Optik gewannen sie, die Künste, die Einsichten in die Zentralperspektivität unseres

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Sehens auf qualitativ-darstellerische Weise. Aber den Renaissancekünsten ging es im Bezug auf Naturwissenschaft nicht nur um das Wissen, sondern auch um dessen technische Anwendbarkeiten in aller Anschaulichkeit, man denke an den Maschinenerfinder und Maschinenzeichner Leonardo da Vinci. Der Manierismus im Gefolge der Renaissance wiederum wirkte zusammen mit einer Optik, die nun neue Sehapparaturen zu erfinden begann und damit experimentierte. Durch den Manierismus trat die Einsicht ein, daß wir nur in einem ganz kleinen Binnenfeld unseres Sehens korrekt zentralperspektivisch sehen. Um dieses Feld herum setzt Beugung ein. Damit experimentierten die manieristischen Künstler gleich Wissenschaftlern und mit den Verzerrungen wie Brechungen durch Sehapparaturen. Der Barock brachte die Dynamik zu ihrer illusionierenden Sichtbarkeit, das nicht zuletzt durch Vervollkommnung und Überspannung der Zentralperspektive, die ja mit ihrem Fluchtpunkt rastlos sich zeigt, was bis zur Malerei des trompe d´oeil führte, der 3-D-Simulation sozusagen. Erst der Klassizismus reduzierte das Verhältnis der Künste zu den wissenschaftlichen Forschungen auf eine ideologische Entsprechung statt direkten Zusammenwirkens: Übersicht, wenn auch noch so komplizierte, man denke an Denis Diderot zum Erhabenen, übers Mannigfaltige und Durchsicht durchs Mannigfaltige, in dieser Zielintention begegneten sich Künste und systematisch werden wollende Wissenschaften. Dabei blieb direkte Bezogenheit nur auf die erwachende Archäologie. Doch der Klassizismus war immerhin der Boden für den kritischen bürgerlichen Realismus der Künste, der sich nun auf das Ineinanderwirken mit anderen im Entstehen begriffenen Wissenschaften richtete, den Geschichtswissenschaften, der Politologie, der Soziologie, der politischen Mythologie. Solches gilt weiterhin für den Naturalismus unter Abzug der politischen Mythologie durch forschendes Entmythologisieren, nun auch die religiöse Mythologie in die Entmythologisierung hereinholend. Der Impressionismus aber, in gewissem Sinn durchaus Frucht des Naturalismus, nahm wieder das Zusammenwirken mit den Naturwissenschaften und ihrem gekommenen Positivismus auf, insbesondere mit der Optik, etwa durch die Einsichten darein, daß farbige Bilder durch ein Farbgemenge von Punkten oder Strichelungen zustande kommen entgegen der Lokalfarbe als bloßer Sehabstraktion, Sehvereinfachung, verglichen mit dem tatsächlichen natürlichen Sehen. Das Ineinander von Kubismus und geometrischer Drehkörpertheorie ist so bekannt wie das von magischem Realismus oder Surrealismus und der startenden Tiefenpsychologie Sigmund Freuds. Und da ist auch die parallele Entfaltung von Konkreter Kunst und Gestalttheorie bei gegenseitiger Beeinflussung im weiteren zu beobachten bis zum Entdecken der räumlichen Wirkungen bloß der Farben an ihnen selber ohne Zentralperspektive, man schaue auf die Bildwelt des niederländischen Neoplastizismus, der ja deswegen zu diesem Namen griff. Die politologisch-soziologischen Komponenten regen sich in dem Prozeß vom Jugendstil zum Bauhaus, besonders als angewandte Experimentfunktion der beiden Wissenschaften Soziologie und Politologie nun.

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So sehr gab es Zusammenhänge und parallele Entfaltungen zwischen den Künsten und den Wissenschaften, daß ideengeschichtlich immer wieder die Frage am Platz ist, wie oft die Künste den Wissenschaften voraus waren, Spezialfrage einiger Forschungen von Hans Holländer, dem mein gerade eben gezeichneter Abriß oder besser Anriß Einiges verdankt sowie eben Gert Ueding. In Christian Reders Buch findet man die Ahnung einer solchen Fragestellung so viel später wieder auf, indem der Autor der Beschreibung von künstlerischen Unternehmungen bisweilen zitierend-materialreiche Exkurse folgen läßt, in denen er theoretische Problemstellungen beleuchtet in lauter Antworten auf die angezeigten künstlerischen Unternehmungen. So als wäre in den künstlerischen Unternehmungen das dargestellt gestartet, was in Theoriediskursen diskutiert werden muß. Etwa hängt Reder an die Arbeiten von Walter Pichler, in denen sich Archaisches zeigt und damit verbunden Darstellung für Ritualität, die mit Verborgensein im Sinn von Gefängnis, Kammer, Gang, Tunnel, Grube zu tun hat, einen Einschubs-Exkurs über die Restaurierungen der „Heiligen Lanze“, jener Lanze, mit der der Legende nach in Jesu Leib gestochen wurde, in der Schatzkammer der Wiener Hofburg aufbewahrt und inventarisiert. Dieser Exkurs hat überhaupt nichts mit Pichlers Arbeiten zu tun, wohl aber mit deren Motivik, dem Erinnern von Ritualem in der Symbolik aus Herrschaft und Kontinuität, um sich herauszuwinden aus diesem Unterirdischen. Oder wo davon gesprochen wird, daß Pichler hinter dem Religiösen in der Kunst selber, nicht in Kunst für Kult, her ist, schiebt Reder einen Exkurs über die Liebesphasen zu Russen ein, nicht aber geht es dabei um Lenin und Trotzki, sondern um die Austäusche zwischen Dostojewski, Turgenjew und Bakunin, mit Bezügen zu Puschkin. Weiter: Pichler beschäftigt sich darstellerisch mit Zeitökonomie, Widerstandsmöglichkeiten gegen bestimmte Zeitweisen, um zur Zeit selber vorzustoßen, im Sinn einer Aufhebung von Zeitökonomie. Reder schiebt dazu eine theoretische Diskussion anarchistischer, dadaistischer, surrealistischer Kunst von Hugo Ball über Luis Bunuel zu Brancusi ein, mögliche Hintergründe zu Pichlers Arbeit in Sachen Zeitformenüberwindung, vielmehr notwendige, und sei es dem Künstler nicht bewußt, dann vom Unbewußten her, waren also vom Künstler gemeint. Und Ähnliches mehr bis zu einem Skelett von Wortreihungen, dessen Wörter alle etwas mit Pichlers Darstellungsmotiven zu tun haben. Doch das Alles bewegt sich immer noch auf Ebenen einer Funktion von Kunst für die Wissenschaften, nämlich etwa im Feld des Geschäfts der Hypothesenbildungen, der Hypothesenfindungen, erinnernd an den von Thomas S. Kuhn behaupteten Freispielraum einer Art künstlerischen Phantasierens während der Hypothesenbildung auch in der exaktesten Forschung, besonders für das Gewinnen von Leitbildern zu konkretem Forschen. Eine wichtige Sache gewiß, auf der ich besonders heute immer wieder bestehe. Aber Reder geht es darum, daß, wo Wissenschaft und Theoriebildung nicht mehr weiter wissen, künstlerisches Forschen weitermachen kann, genau so wie es wissenschaftliche Diskussionen zu initiieren vermag, wobei es nicht um die wissenschaftliche

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Diskussion der Künste selber allein geht. Darüber hinaus und von dorther eröffnet Reder den Blick auf jenen anderen Rayon, in dem künstlerisches Forschen sich auf Problemfelder bezieht, denen die institutionalisierte Wissenschaftlichkeit sich entziehen muß, um nicht zu einem einzigen Versagen zu werden. Das sind aber durchaus Problemfelder unseres Triebs zur Wahrheitssuche (bleibender Kern wissenschaftlicher Einstellung), denen nur durch Verdrängung auszuweichen ist. Ludwig Wittgenstein sagte ja einmal so schön, daß die Wissenschaft auf so viele Fragen, die sie stellt, eine Antwort findet, das seien aber alles Fragen, die uns eigentlich gar nicht interessieren. Nun die anderen Fragen, die uns wirklich und engagierend interessieren? Reder weist Einiges davon auf im Individuellen, im ganz Singulären, das Solches nicht wäre, wenn es sich fassen ließe in der wissenschaftlichen Verallgemeinerung. Also das individuum ineffabile (Theodor W. Adorno). Daß es sich darum der Wissenschaft doch nicht ganz entzöge, hat der Sänger des individuum ineffabile, Adorno, ebenso angezeigt. Doch dazu müsse die Wissenschaft, so Adorno, eine Kehre machen, in der sie nicht mehr darauf aus ist, ihre Verallgemeinerungen zu bestätigen, zu bewähren, zu stabilisieren und so auf Anwendbarkeit zu trimmen, sondern sie müsse ihre Verallgemeinerungen darauf anwenden zu bestimmen, was Alles nicht unter deren Hüte passe. Das wäre aber gerade ein Heraus aus dem Wissenschaftsbetrieb zu anderer „wissenschaftlicher“ Forschung. Und darin täten sich weitere Problemfelder auf, die der Wissenschaftsbetrieb von sich weist oder bis zur Unkenntlichkeit zurüstet. Das Unendliche, das Ewige, das Unbegreifliche und das Symbolisieren, mitten im Kern unserer Existenz sich regend, wie diesem Reder auf der Spur ist in den Unternehmen künstlerischen Forschens. So ungefähr, wie wenn man sich den Kopf zerbräche darüber, daß doch Alles irgendwie abzählbar sei, nur die Zahl selber könne man nicht abzählen und nicht auszählen (Reder: „Wörter und Zahlen. Das Alphabet als Code“, ein anders Buch von ihm (Springer Wien-New York 2000), das klärt, Wesen der Zahl im Verhältnis zum Buchstaben eröffne sich nur künstlerischem Forschen zunächst). Bei derartig verlaufenden Analysen und Destinationen fällt einem vielleicht bei, was man gelesen haben mag in Paul Virilios „Ästhetik des Verschwindens“ dort, wo es um die Unergründlichkeit des Einfalls geht, durch den wirklich neue Verbindungen hergestellt werden. Denn in der Tat, ein zentrales Thema bei Reder, das Neue ist durch sein Wesen von nirgendwoher ableitbar. Wer hätte das stärker hervorgekehrt als Ernst Bloch durch sein ganzes Werk. Also versagt demgegenüber begründendes Wissen des Forschenwollens? Und man sollte sich solcher Problemsichten enthalten in einer effizienten Gesellschaft? Virilio betont demgegenüber, daß man dem Unfasslichen von seinen Rändern her sich zu nähern vermöchte und so ließe es sich umkreisen, ja man könnte es in Spiralisierungen einfassen, wenn diese Spiralisierungen in Bewegung blieben. Selbstverständlich steht hinter solchen Überlegungen die Konstatierung von Immanuel Kant, immerhin hätten wir zu Unbegreiflichem doch Begriffsbilder

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wie das Unendliche und demnach hätten wir doch irgendeinen Bezug dazu, der es vielleicht nicht begreiflicher macht, aber es doch irgendwie angreift, im Sinn von antastet, anrührt. Wir können also das Unendliche denken, also vorstellen, also darstellen. Mit derartigen Überlegungen hat der nüchterne Kant die Romantik befeuert und beflügelt. Und die Romantik läßt uns ja nicht in Ruhe. Spätestens jüngst kehrte sie mit Richard Rorty aus dem trockenen amerikanischen Pragmatismus wieder ins Wissenwollen. Ein anderer Wissensdrang, den wir nicht loswerden, liegt in der Frage nach dem letzten Grund der Welt, der dann der letzte Grund unserer Existenz wäre. Man wird ja mit der Weltformelsucherei selbst aus der Physik heraus weltberühmt. Das steht für die Not der Frage. Jedoch naturwissenschaftliches Wissen löst sie nicht an dem Ort des Umschlags in unsere Existenz. Henri Bergsons Einspruch vom Ende des 19. Jahrhunderts bleibt bis zu unserem Heute gültig, daß die Darlegung physikalischer, chemischer, physiologischer, neurophysiologisch-elektronischer Prozesse nie den Umschlag zu den qualitativen Bildwelten des Menschen begreiflich machen könnte, in denen wir unsere Existenzgründe suchen. Hinzu treten Fragestellungen nach psychologischen, sozialethischen, individualethischen, therapeutischen Problemlagen individuierender Art. In Reders Buch geht es um lauter Fallbeispiele des forschenden Arbeitens der Künstler in dieser verdrängten Fragewelt. Der Autor legt dar, wie sie mit künstlerischen Verfahren die Fragen artikulieren, die zum Teil einstmals sehr wohl der Theorie angehörten und heute weiterhin dem unterschlagenen Theoriebedarf, und wie sie darstellerisch Antworten suchen, Antworten finden oder Beantwortbarkeiten ad absurdum führen bei bleibendem InteressiertheitsEngagement. Weiterungen im Sinn eines Engagements für forschende Kunst gemäß einer Entsprechung zur Wissenschaft, ohne daß sie in deren Funktionskreis sich auflöse, stehen als Anliegen der Zeit an. Wie steht es heute damit, wenn man diesesmal das Heute als die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts samt Beginn des 21. versteht? Das ist ja die eigentliche Zeit der ausgreifenden Verwissenschaftlichung euro-amerikanischer Gesellschaft. Und in diesem Prozeß wurde aus dem Zusammenwirken von Kunst und wissenschaftlicher Forschung zunächst offensichtlich eine Abhängigkeit der Kunst von Wissenschaftstrends. Der Haupttrend der neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit besteht aber in der Suche nach der Generalisierbarkeit von Aussagen über empirische Absicherungen. Die Pop-Art hielt sich daran in ihrem Erforschen der Symbolisierungsprozesse einer über empirische Daten globalisierend-generalisierenden Konsumwelt aller in aller Welt. Ich will hier gar nicht den dennoch bleibenden Forschungscharakter bezweifeln, auch nicht den Wert solcher sich vom Grundcharakter der Verwissenschaftlichung ableitenden und bestimmen lassenden Kunsthaltungen und Kunstrichtungen mindern, zumal sie teilweise großen Spaß gemacht haben in einer Art von fröhlicher Wissenschaft. Denn ich stehe entgegen Ästhetiken des 19. Jahrhunderts, extrem der Friedrich Nietzsches, auf dem Standpunkt, die Kunst habe viele Aufgaben, Perspek-

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tiven und Horizontmarken. Pluralismus ist nun einmal eine nicht mehr zurückzunehmende eingekehrte Realität unserer Gesellschaft, ob wir sie schätzen oder wenigstens akzeptieren oder beides nicht. So muß auch Pluralismus in den Künsten gelten, andernfalls würden sie sich aus unserer Realität anschlußlos herausziehen und Religionscharakter, vielmehr Sektencharakter bekommen. Experimente allerdings auf Letzteres gehören meiner Pluralismussicht nach auch zu den vielen Perspektiven und Facetten der Kunst, ohne freilich die anderen ausschalten zu dürfen. So spannt sich also der Bogen der vielen Perspektiven von der Illustration im Dienst der Wissenschaftlichkeit einer sich verwissenschaftlichenden Gesellschaft bis zur Kunstreligion. Kurz vor dieser liegt aber in der Pluralität der Kunstsinne ein Kunstsinn, der sich ausdrücken läßt als ein Forschen im Gegenlauf zum Grundtrend der Wissenschaftlichkeit hin auf Generalisieren. Damit geraten wir wieder zu Reders Buch. Demnach geht es also neben anderen Fragestellungen insbesondere um das Forschen nach dem Singularen, dem Einzigartigen. Dieser Perspektive möchte ich mich hier in Kürze vor allem noch einmal widmen, nicht, weil ich doch die anderen Perspektiven ablehnen würde oder mindestens für von geringerem Wert hielte, sondern weil sie genügend schon von den Anderen debattiert werden. So sehr, daß der mir angelegen seiende Kunstsinn dabei überflutet, untergebuttert, untergepflügt zu werden erscheint. Allein dieser Umstand macht ihn mir zu einem Wert, für den ich mich mehr engagiere als für andere Werte. Meine Überlegungen gehen dabei aus von der Erinnerung an einen philosophischen Vorgang oder Ablauf. Seit dem 19. Jahrhundert wurde ein Gebiet nach dem anderen aus dem philosophischen Kanon herausgenommen oder herauspräpariert und zu einer Einzelwissenschaft verwandelt, schließlich gar die Psychologie durch die Tiefenpsychologie Sigmund Freuds und ihre Folgen. Das war der Grund zum Existenzialismus, wenn nicht Philosophie auf Wissenschaftstheorie und analytische Sprachtheorie reduziert werden sollte. Der Existenzialismus wollte nämlich die Individualexistenz verstehen machen, damit gewann er genau das Thema, das sich per se dem Generalisieren der exaktifizierten Wissenschaftlichkeit von vornherein entzieht, den Gegenlauf des Forschens, den Gegenentwurf des Wissens meint das. Und so glaubte man auch, über den Existenzialismus die Philosophie eine Verwissenschaftlichung überdauern, überwintern lassen zu können. Der Ansatz wurde noch einmal überrundet durch eine Philosophie der Kritik von politischer Ökonomie einerseits, durch Wissenschaftstheorie wie Sprachanalytik überschreitende Systemtheorie anglophon andererseits und durch die französische Reobjektivierung des Philosophierens, die Strukturalismus heißt und Verwandtschaften zur Systemtheorie aufweist, mindestens in dem Grundsatz, daß das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, immerhin. Alle drei Richtungen legten noch einmal auch die Philosophie auf das Generalisieren fest statt des Gegenlaufs, Gegenwurfs, sehen wir von der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos hier einmal ab. Um diese Reobjektivierung aber haben die Künste der Zeit solcher geistigen Bewegungen sich zu einem Teil nicht gekümmert. Mit so genannten „privaten

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Mythologien“, mit Aktionismen und Perfomances bewahrten sie den Ansatz des Existenzialismus mindestens und auch durch die Entwicklungen in Malerei wie Bildhauerei, diesen Weg also des Forschens zum Individualen und Singularen hin mitten in Generalisierungsprozessen sondergleichen. So griffen sie vor auf die postmoderne Wende des Philosophierens, ich denke dabei an den Italiener Umberto Eco, den Franzosen Michel Foucault, den Amerikaner Richard Rorty. Die Wende hieß philosophisch allerdings nicht eine klare Rückkehr zum Existenzialismus. Der Existenzialismus ging vom Personal-Individualen aus („Sich-in-Existenz-verstehen“), um so auf die Singularität der Situationen in ihrem Wechsel zu stoßen, durch die sich das Individual-Personale je und je anders realisieren muß contra Schicksal und Charakter. Die drei genannten Denker aber gehen von der Singularität der Situationalitäten aus, in denen das Personal-Individuale allerdings einen Faktor ausmacht, einen Faktor der Regelstörungen, Regelkorrekturen und Regelinnovationen von höchst vergänglichen Regeln, die nur für Momente gelten. Insofern keine Wiederkehr des Existenzialismus („Sich-in-Existenz-verstehen“), sondern ein Sich-in-Situation-verstehen. Und doch müssen um des personal-individualen Faktors willen Einsichten des Existenzialismus wiederkehren. Daher die genuine Nähe aller drei Denker zur Kunst, aber in wirklicher Vertrautheit mit ihr, in Beschäftigung mit ihr, nicht wie alte philosophische Ästhetiker, die, weil Ästhetik/Kunst ein Gebiet der Philosophie sei, ihre Pflichtübungen machten und immer wieder Kant auflegten, etwa Nicolai Hartmann, nach ihm Andere. Die gemeinten drei Denker zogen ihre Problemstellungen aus der Kunst ihrer Gegenwart. Und da sahen sie, daß auch in dieser Gegenwart der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Haupttrend der Kunst das Forschen nach der Singularität geblieben war, mindestens das Forschen nach den Bedingungen der Möglichkeit von Singularität mitten in der Generalisierung. Hier spürt man wieder enges Zusammenwirken zwischen Kunst und Forschung. Und dann noch das von der Kunst her motivierte Einsetzen des Dekonstruktivismus durch Jacques Derrida, das alle Generalisierung von Texten unterlaufen will durch jenen permanenten unbewußten Widerspruch des Menschen zu seinen Generalisaten, wie ihn Jacques Lacan gelehrt hatte. Doch Derrida bewährte noch einen anderen Hintergrund, jenen hier schon angedeuteten, Theodor W. Adorno, der in der Einleitung zum „Autoritären Charakter“ betonte, daß in einer Forschung entgegen Max Weber gemäß der Wahrheitsintention Generalisate nur den Wert hätten, durch den mittels ihrer die Abweichungen vom Generalisat festzustellen wären, Adornos „Falsifikationstheorem“. Das wäre dann jener Wert, den für Derrida die Texte haben, ohne sie keine Ansatzmöglichkeit der Dekonstruktion. Es geht eben im Engagement für Gegenlauf-Forschung nicht um eine Parteinahme für Ignoranz im Namen des allerdings eben auch von Adorno ins Spiel gebrachten individuum ineffabile. Das wäre Esoterik, zu leicht einerseits durch Ignoranz, zu schwer andererseits durch ihr Erkenntnisziel des „ganz Anderen“, wo sie sich ernst nimmt und nicht bloß faul ist. Trotzdem bleibt an der Esoterik, sowenig sie selbst dazu beibringen kann, weil sie das Unerweisliche verallge-

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meinern will über Alles, zu ihr bleibt trotzdem ein Forschungsinteresse auch für den von mir hier angezeigten Gegenlauf, nämlich die Frage nach dem Bedarf an Esoterik unter Menschen. Und das bleibt also auch ein Forschungsinteresse der Kunst in ihrem Gegenlauf zum Generalisieren, ebenso eines der von Kunst inspirierten Philosophie. Der Gegenlauf muß aber, statt vorm wissenschaftlichen Generalisieren zu flüchten, sich genau auskennen in dem, wogegen er anläuft. Das meint so ungefähr das, was mir den großen Unterschied macht zwischen europäischer Mystik und der Esoterik, bei Verwandtschaft durchaus. Die Mystik hat sich stets ausgekannt in dem, wogegen sie sich wandte, ob Meister Eckhart oder Bonaventura oder die Victoriner oder Andere. Und so meine ich das für die Kunst im Gegenlaufsforschen nach dem Singularen mittels des Generalisierens entgegen dem Generalisieren. Die im Skizzierten gemeinte Forschungsrichtung, die zum Wesen der Kunst gehört, bietet sich allerdings kaum den üblichen Anwendungen an im Sinn der ökonomischen Verwertbarkeiten, außer vielleicht für Psychotherapien oder Kreativitäts-Übungen (neudeutsch trainings). Aber aus ihr müßten die Wertvorstellungen auftauchen für Budgets (Investitionen) und Bilanzen (Effizienzen bis ins Relative), wenn nicht reiner Ökonomismus alles zu Zahlentransformationen der Einsätze und Gewinn-Ausschüttungen verwandeln soll, dem der existierende Mensch nur einen Produktions- und Konsumptionsfaktor darstellt, in seinem Dazwischen die quantfizierbaren Gewinne hochschleunen lassend. Letzteres wäre die infame Heiligkeit der Mathematik, die Metaphysik des Kapitalismus. Der verrechnete Mensch ist weggerechnet, bevor er stört, oder hinzugerechnet, sofern man mit ihm drohen und dumpen kann (Reservearmee der Arbeitslosen). Die Forschung nach dem Singularen auslöschen wollen, weil nicht unmittelbar verwertbar, und damit der Kunst den ihr genuinen Forschungssinn nehmen, das heißt ein Wiederhervorkehren Heiliger Mathematik, diesesfalls ohne Heiligkeit, vielmehr mit abstraktem Terror des Generalisationstriumphs. Ich habe mich auf fünf Denker berufen, die, weiß Gott!, als Wissenschaftler anerkannt wurden, doch fahrend in der anderen Forschungsperspektive. Das tat ich, um zu klären, die Kunst habe in ihrer wichtigsten Forschungsweise auf der Wissenschaftsseite ihre Partner. Von Thomas S. Kuhns hier schon notierter These über das Entsprechen eines Erfassens von findungspotenten Leitbildern in den großen Umbrüchen der Naturwissenschaften zu dem Erfinden von Bildern in den Künsten durch Darstellen einmal abgesehen, also von dieser These des Naturwissenschaftlers bisweilen als Künstlers. Trotzdem verleitet das nun doch zu einer Aufstellung von möglichen Funktionen der Kunst im Verhältnis zu wissenschaftlicher Forschung über meine Überlegungen zum Retten des Singularen hinaus. In Summe der Demonstration: Da ist einmal das Veranschaulichen abstrakter Gedankenverhältnisse durch Darstellen, da ist andererseits das Entwerfen von Hypothesen aus der Veranschaulichung heraus, da ist zum weiteren die anschauliche Korrektur von Veranschaulichungen auf beiden Ebenen, da ist zum wieder weiteren der Entwurf von Hypothese aus den visionären Darstellungen der Künste bis ins

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Science-fictionale und neuerlich dazu die künstlerische Korrektur. Und dann erst, doch last not least, das Rückrufen der Generalisate durch die Kunst aufs Singuläre von Situation hin und auf Individualität in Situation. Komplex gewordene Wissenschaft kann ohne Cross-over mit den Künsten in deren Drang zum Singulären keinen Schritt mehr tun. Künste im Drang zum Singulären können am Generalisieren der Wissenschaften in ihrem Gegenlauf nicht vorbei, ohne in ignorante Esoterik zu fallen. Hier handelt es sich um ein Pendant-Verhältnis. Adorno behält recht, von Verfahren und Sinn her. Und die Kunst hat stets in ihrem Forschen das Generalisieren der Wissenschaften beim Wort genommen und ad hominem der singularen Situation zu demonstrieren unternommen. Ohne das wäre unsere euro-amerikanische Welt blind und leer geworden.

Thomas Vogel

Auszug aus Samot Legovs Bericht von der „Tafelrunde der Tabakisten“ auch „Gesellschaft der löblichen Beförderer des Edlen und Guten“ genannt. Sie tagte von 1777–1779 einmal wöchentlich ,,Es Kant gleichzutun“, pflegte Tieftrunk das Gespräch zur blaulila Dämmerstunde einzuleiten, „es Kant gleichzutun ist wie Samenkörner legen in die Furchen der Wellen auf der Wasserscheide.“ Wir nickten wohlgefällig, dreierlei wohl wissend, einmal, daß wir nichts verstanden hatten, zum zweiten, daß er wußte, daß wir nichts verstanden hatten, und schließlich, daß auch er nicht wußte, wovon er sprach. Doch an diesem Abend sollte alles ganz anders kommen. Es begann schon damit, daß nichts aus Tieftrunks Mund kam, kein Bonmot, kein weises Wort, nichts, was den Gesprächsfluß hätte in Gang setzen können. Nein, das reine Schweigen war die uns vereinende Kraft, oder soll ich sagen, die alles zersetzende. Längst waren alle Pfeifenköpfe gestopft, mit den erlesensten Tabaken aus aller Herren Länder, längst war auch der Langsamste in der Runde mit dem genüßlichen Anzünden seiner Pfeife fertig, da ergriff endlich Mimososthenes, genannt der Grantige, das Wort. Es sei durchaus nicht unsere Art, sich mit Selbstgefertigtem, in Tagebüchern eingemachtem, anderen aufzudrängen. Denn nichts sei gemeinhin so lächerlich zu nennen als solche, im Augenblicke des Schreibens für wichtig und weltbewegend gehaltene Gedankenergüsse meist unbekannter Provenienz. „Und doch soll solches unser heutiges Abendcolloquium erheitern.“ Ein jeder hatte also sein Tagebuch aus den Tiefen der ausgebeulten Jackentaschen zu kramen, wobei, wie Mimososthenes präzisierend hinzufügte, dem kurzen Wort der Vorzug vor dem seitenlangen Erörtern und Traktieren zu geben sei. Mein Gott, dachte ich voll Schrecken, was soll auch ich, Jüngster in dieser Runde weiser Fabulierer und wortallgewaltiger Rhetoriker, zum besten geben. Ist mir doch bis heute nicht ersichtlich, welches Verdienst mich in diese erlauchte und höchst löbliche Zunft der Edlen Tabaksbruderschaft befördert hat. Wohl bin ich seit jungen Jahren leidenschaftlicher Pfeifenraucher, und längst hatte ich auch alle nur irgendwie erreichbaren Tabaksorten durchprobiert, und wohl bin auch ich Anhänger aller systematischen Philosophien ebenso wie aller philosophischen Systeme, spekulierte in Reih und Glied mit Kantianern und Skeptikern, mit Peripatetikern ebenso wie mit Olfaktorikern, mit Spinozisten, Ästhetizisten, Occasionalisten, Leibnizianern und endlich auch den Praemodernisten. Und wohl war es mir jederzeit möglich, jedwedes Stichwort des soeben erschienenen neuen philosophischen Wörterbuchs kreuz und quer durch alle

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Systeme hindurchzudeklinieren. Doch durfte ich, sollte, wollte und konnte ich denn überhaupt preisgeben, was nur heimlich ich mir eingestand? Die Entscheidung wurde mir leicht gemacht, denn ich wurde erst gar nicht gefragt, Mimososthenes hatte in der Regel das zweite und das letzte Wort der Tafelrunde, geradeso wie Tieftrunk in aller Regel das erste hatte und das vorletzte. Die anderen, zu denen ich mich seit nunmehr bereits 17 Monden zählen durfte, wußten sich schicklich zu benehmen und redeten auf Geheiß. Nein, so fuhr Mimososthenes fort, es seien keine philosophischen Stilübungen an diesem Abend zu absolvieren, vielmehr soll der Kür des getanzten, des taumelnden und des sich hoffnungslos zu einem unentwirrbaren Knäuel verstrickenden Gedankens ein Türspalt geöffnet werden. Es soll, ganz und gar zum Ergötzen der hier durchaus doch in ein und demselben Kahn sitzenden Tabakconnaisseure heimtückisch-lustvoller Verrat an der eigenen Sache geübt werden. Ein Tanz der schlitternden Formulierungen. Ein Fest der Wortakrobatiken, eingehüllt im allgemeinen Tabaksqualm. Selten sah ich den Grantigen mit solchem Eifer das Thema des Abends in die Runde schleudern. Wir bewunderten ihn und er wußte es. ,,Euch zu gefallen, Tieftrunk zur Ehr und meinem tiefsten Anliegen gehorchend, will ich gleich als erster beginnen. Ihr wißt, die Welt wäre ein Nichts, wäre sie nicht aus dem Geist der Antike genährt. Aus Attika auch kommen meine Väter, insgeheim wohl wahre Anhänger olympischer Götter. Und außerdem liegt in diesem Land mein Hund begraben. Wie ihr wißt, bin ich auf der Suche nach der Tragödie, verfaßt im Geiste der griechischen, die ich wieder ins Bewußtsein aller zu befördern gedenke. Vor wenigen Nächten nun erreichte mich, angeregt vom Nebel der Nicotiana tabacum, jene Mythe aus attischer Zeit und hat sich mir in wenigen Zeilen wie von selbst formuliert.“ Und mit diesen Worten begann Mimososthenes aus seinem Journal zu lesen: „Dionysius, Tyrann von Syrakus, kam in die Jahre der schwindenden Kraft. Also begann er Verse zu schmieden und gab sie öffentlich zum besten. Philoxenos, der von den Göttern geliebte und vom Volk verehrte Dichter, fand diese Verse – ebenso öffentlich – zum Erbrechen ungesund und landete, ob dieser Unvorsicht seinem Tyrannen gegenüber, zur Zwangsarbeit in den Steinbrüchen. Viele Monde gingen ins Land, bis er Gnade fand und wieder bei Hofe zugelassen war, wo er bald schon von neuem zugegen sein mußte, wenn der Tyrann selbstverfertigte Verse zum Vortrag brachte. Philoxenos saß reglos, mit gesenktem Haupte in der Reihe der Anwesenden, hörte eine Weile ruhig zu, erhob sich dann lautlos, um, wenn möglich unbemerkt, den Saal zu verlassen. Doch Dionysius, wohl registrierend, was vor sich ging, stockte mitten im Reim: ‚Wohin des Wegs?‘ lautete unwirsch die Frage. Knapp und lapidar war die Antwort des Dichters: ,Zurück in den Steinbruch‘“. Als Mimososthenes so geendet hatte, war jedem in der Runde klar, daß ihm fraglos ein Geniestreich gelungen war. Sprachlos saßen wir und doch war unser

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Nichtssagen mehr als beredt. Zuerst fand Salomon Zadig die Sprache wieder und räsonierte: „Ojojoj, was a meschuggener Poet. Nu was verschließt er net seine Ohren. Im Steinbruch wird er sich noch anlupfen einen Bruch.“ Mißvergnügt – und dies konnte nur der vertrauteste der vertrauten Beobachter an den Mundzügen des Mimososthenes erkennen – mißvergnügt mußte dieser einmal mehr zur Kenntnis nehmen, daß der Rebbe von der griechischen Tragödie nicht die leiseste Ahnung hatte, überhaupt war dieser der einseitigste Denker in dieser philosophischen Runde, was er jedoch ganz und gar nicht als einen Mangel empfand, da er ja – seiner Meinung nach – zum größten Philosophen aller Zeiten einen sehr persönlichen Kontakt pflege. So habe ihm nämlich der Allerhöchste schon vor Jahr und Tag das Du angeboten. Ich muß gestehen, ich mochte den Salomon Zadig, ohne daß ich dies jedoch über die Maßen kundtun wollte, denn war man auch eine Bruderschaft, so waren uns doch Verbrüderungen, wie sie an Wirtshaustischen zuweilen gang und gebe sind, völlig fremd. Da außer dem Rebben mit seiner Äußerung keiner sich in der Lage sah, auf die Tagebuchaufzeichnung des Griechen einzugehen, und auch ich mir jede vorschnelle Bemerkung verbat, ergriff an diesem Abend zum ersten Mal Tieftrunk das Wort, indem er dieses nicht unklug und mit einer gewissen Folgerichtigkeit eben dem Rebben erteilte, wohl wissend, daß es sein würde wie immer, denn unter Umschiffung aller Klippen philosophischer Systeme würde Salomon Zadig mit aller Wahrscheinlichkeit wieder von sich und dem Allerhöchsten erzählen. Und nicht ohne heimliche Bewunderung murmelte dann jedes Mal Charles Picpoul, ein aus Frankreich entflohener Enzyklopädist und radikaler Verfechter Charmeur’scher Prinzipien, in inzwischen erstaunlich gutem Deutsch: „Keiner, und gewißlich auch nicht Casanova mit allen seinen weiblichen Wesen hatte halb so viele Experience wie der Zadig mit seinem Allerhöchsten.“ Der Aufforderung Tieftrunks nun gehorchend, verschwand zuerst des Rebben Hand, schließlich sein ganzer Arm in den Tiefen seiner Manteltasche, wie einen Korkenzieher drehte er ihn hin und her, bis der Arm nach und nach wieder zum Vorschein kam, sodann stülpte die noch in einem Loch der Manteltasche steckende Hand die Tasche nach außen, wobei so Mancherlei heraus- und zu Boden fiel: ein zu einem verkrusteten Knäuel verformtes Taschentuch, in viele, ungleich große Stücke zerbrochene Lakritzestangen, mehrere aus Stoff, Tabakskrümel und Staub zusammengesetzte Fussel, wie sie letztlich jeder von uns aus seiner eigenen Kitteltasche wohl zu kennen pflegt. All dies also wurde bei dieser Suchaktion zu Tage befördert und schließlich fand mit einem beherzten Ruck auch wieder die ganze Hand heraus, so daß jedem einsichtig wurde: des Rebben Mantelsaum war zu einer einzigen großen Mantelinnentasche geworden. Die nun wieder aufgetauchte Hand hielt etwas umklammert, was durchaus noch eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Buch hatte. Ein kleines, in Leder gebundenes Werk, das so aussah, als hätten darin schon des Rebben Vorfahren ausgiebig ihre langen Lebensjahre tagtäglich festgehalten. Er befeuchtete mit

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der Zunge Zeigefinger und Daumen, diese beiden durchblätterten sodann die abgegriffenen Seiten, und bei dieser Gelegenheit bereits fand Salomon Zadig die einleitenden Worte zu seinen Notizen: ,,Nu hatte ich nicht einen Schnupfen seit Tagen schon zu erleiden und war verschleimt und habe ganze Leintücher gefüllt mit den Sekreten, die ich mir aus den weit verzweigten Höhlungen der Nase trompetete. Und auch die Ohren waren so verstopft, daß mir insgesamt Riechen und Hören vergangen war. In meiner Not und auch sonst, wie ihr wißt, melde ich mich bei IHM – sein Name sei geheiligt – und ER, er hat mir eingegeben dieses Mal so schöne Wörter, die ich zu ihm sagen soll, daß ich hab das Ganze aufgeschrieben: Herr, dein Name sei geheiligt, der du dich nie und nimmer von keinem anstecken läßt, der du also immer gesund bist und eine freie Nase hast, sie überall hineinzustecken, und gesunde Ohren hast, alles mitzuhören, und den Mund für DEIN WORT, verschließe dich nicht meinem Rufen, denn ich hab, wie du hörst, die Nase voll. Mach mich also als dein Ebenbild so schnell wie du es schaffst, wieder gesund. Folgendes: Wie von deiner Hand geführt lesen meine tränenden Augen doch ausgerechnet im Talmud folgenden Satz: ‚Drei Mittel helfen gegen Schmerzen, als da sind das Schweigen, das Warten in Geduld und das Gebet‘. Also hilf endlich!“ Rabbi Salomon Zadig hob den Kopf, schaute in die vor Spannung gänzlich erstarrte Runde und hatte geendet. „Und... und weiter?“ klang es fast gleichzeitig aus mehreren Richtungen, „wie hat ER auf eure Worte reagiert?“ fügte mit süffisant spöttischem Unterton der Geheime Rat Radzivil hinzu, der als Aristoteliker am allerwenigsten etwas von Alfanzereien hielt. ,,Nu was soll er gemacht haben? Er hat’s eingesehen und hat mich augenblicklich erhört. Zuerst einmal hat er geschwiegen, dann hat er gewartet in Geduld, bis ich hatte beendigt mein Gebet, und nicht genug damit hat er mir auch noch gegeben zu lesen den Talmud Jeruschalmi, wo geschrieben steht: Die kalten Steine, auf welchen wir in unserer Jugend gesessen, piesacken gegen uns im hohen Alter.“ Der alte Zadig schaute von seinem Buch auf. „Und also habe ich diese Erleuchtung gleich hier in dieses Buch notiert, und nicht genug damit, was tut der Engel des Herrn? Er lenkt meinen Blick auf so schöne Verse, die geschrieben hat der Lessing, und welche ich dann hab notiert hinein in mein Buch: Dich, Tabak, lobt der Medicus, Weil uns dein fleißiger Genuß An Zahn und Augen wohl kurieret Und Schleim und Kolster von uns führet...

Und also hab ich gesucht meine Bettpfeife aus Meerschaum, hab’ sie gestopft mit holländischem Knaster und hab’ mich aufs Bett gelegt bis der Rauch hat genommen weg alles Übel, was war gekommen noch von der Jugend her.“

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„Mon Dieu, quelle audace!“, bemerkte Charles Picpoul, als der Rabbi sein Buch wieder in der Versenkung seiner Manteltasche verschwinden ließ, „grandios“, „raffiniert“ und Ähnliches mehr war von den Anderen in der Runde zu hören, und wie immer vermied man es tunlichst, tiefer in die Rebbeschen Häresien einzudringen, „rational völlig unordentlich“, hörte ich Mimososthenes dem Tieftrunk zuflüstern, überhaupt war es nicht Stil der Tabakisten, viele Wort zu machen. In Rabulistik ausartende Dispute paßten nicht zum genüßlichen Tobakschmauchen, führt doch ereiferndes und durcheinander gehendes Reden allzu oft zu unruhigem und von Nervosität gekennzeichnetem Ziehen an den Pfeifen und somit zu weniger Achtsamkeit, was das Nachstopfen des Tabaks im Pfeifenkopf angeht, und was wiederum zu einem starken Soßen in der Pfanne führt, welches den Rauchgenus leicht in sein Gegenteil verkehren kann. Nie, soweit mir erinnerlich, hatte es zu einem warnenden Verweis auf die Nicotianischen Tabaks-Reglements kommen müssen, wo es heißt: „zuerst war da die Pfeife, dann das Wort“. Und erst wenn dann endlich die Handinnenflächen den wohlgeformten Pfeifenkopf umschmeichelten, und dieser seine endgültige Position in der Hand gefunden hat; und erst wenn dann endlich nach dem Anzünden mit dem aus unmakuliertem Papier formierten Fidibus genüßlich und ruhigen Atems bläulich-grauer Tabaksqualm über das Tischrund geblasen wurde, der vom darüber hängenden Lampenschirm alsbald begierig eingesogen werden konnte, dann, ja dann erst legte sich Ruhe auf die Gemüter, dann erst konnten die heftigen Wogen des hinter uns liegenden Tages sich glätten, und dann erst konnte auch das Erzählen und Philosophieren seinen Lauf nehmen. Was Wunder, daß, ob dieser unbestreitbaren Zärtlichkeit den Pfeifen gegenüber, allenthalben von gelegentlichen Eifersuchtsszenen häuslicher Rivalinnen zu hören war, deren Domestizierungsversuche vor der Allmacht der Pfeife gänzlich kapitulieren mußte. Und waren es nicht auch geharnischte Vorwürfe und Eifersuchtsszenen kapriziöser Gattinnen, welche einen französischen Literaten zu jener Äußerung verleiten konnte, die auch hierzulande weibliche Gemüter heftigst in Rage versetzen mußte: „Alles in allem ist der Liebesrausch doch nur Grobsinnliches verglichen mit der Geistigkeit des Tabakqualms.“ Endlich wurde der wortkarge Sebastian Schumacher, ehemaliger Studiosus der Theologie aus dem schwäbischen Tübingen, jener mit atheniens’scher Urbanität gesegneten Stadt der Weingärtner und Gelehrten, wo die Wissenschaften und die Künste die schönsten Früchte tragen, aufgefordert, aus seinen Tagebuchnotizen zu lesen. Er ließ sein Buch geschlossen, machte dafür den Mund auf, um uns kund zu tun, er hätte gestern erst folgende vier Zeilen notiert: Ganz Mann von Welt kaum Herr seiner Selbst.

Das war sie also wieder, die Tübinger Schule: Nein, Vergleichbares war nicht aus Jena und nicht aus Weimar, nicht aus Paris und nicht aus Lodz zu er-

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warten. Tieftrunk wußte, daß er jetzt etwas sagen mußte. Er blies den glimmenden Span, den er in der Hand hielt, aus, legte ihn auf den Porzellanteller und nahm die Pfeife aus dem Mund. „‚De homine‘, 1662, Verehrter, das ist es! Der substantielle Unterschied, extensio und cogitatio, hie Mann, da Herr, hie Welt, da Selbst. Es ist ‚dare et distincte‘!“ Fürwahr, das Kolleg der Tabakisten war nichts für empfindsame Gemüter nachmittäglicher Tee- und Kaffeekränzchen, wo sich Hofrat und Domherr estimierten, der Baron neben der Baron saß und das Fräulein lispelte. Starker Tobak machte an diesem Abend einmal mehr im doppelten Sinn des Wortes die Runde. Wir tauchten in die Wechselbäder des Geistes und der Seele und des Geschmacks. Die Ergriffenheit ob der Allgewalt der Sprache und des Denkens war das alle gleichermaßen beherrschende Gefühl. Da Radzivil, auf Tieftrunks Aufforderung hin, beteuerte, er trage seine Notizen nur selten bei sich, aus Angst, er könne sie verlieren, war Charles Picpoul als nächster an der Reihe. Charles Picpoul, nicht nur dem Schwärmertum und den Schönen Wissenschaften leidenschaftlich zugeneigt, sondern auch den Frauenzimmern, die er, wie er offenherzig einzugestehen bereit war, bloß wegen ihrer Vorzüge an Schönheit, Liebreiz und dergleichen lieben könne, alle anderen Vorzüge, wie Gelehrsamkeit und so weiter bei ihm lediglich Hochachtung hervorzubringen vermochten, Charles Picpoul also ergriff das Wort und bat, da er soeben von einer Italienreise zurückgekommen sei, seinem Tabakistenbruder Lorenzo Mezzacorona eine der dort notierten Impressionen widmen zu dürfen. Dieser zeigte sich gleichermaßen erstaunt wie auch hocherfreut, nicht ahnend, was Picpoul nun zum Besten geben würde. Am Busen der Natur Milchkühe Grasen am Bosento Leise tanzt der Papst Bostella Ein Lendenschurz umhüllt die Scham Inbrünstig schwellen Äpfel vor sich hin Die Sonne küßt die Nabelschnur Am Busen der Natur.

Es war schon lange ein offenes Geheimnis, daß zwischen dem Italiener und dem Franzosen nicht gerade die beste Entente herrschte. Ratlosigkeit und besorgtes Schweigen stand in den Gesichtern geschrieben. In der lautlosen Runde war nur das leise Knistern des Knasters zu hören. Da legte der Italiener langsam und vorsichtig sein Rauchzeug auf den Tisch, stand lächelnd auf, ging auf Picpoul zu, und gab ihm von der Seite einen schmatzenden Kuß auf die rechte Wange: ,,Amico! Magnifico Amico! Molto bello! Solch göttliches Dichten muß euch der Dante Alighieri eingeflüstert haben!“ Die Spannung in der Runde löste sich in allgemeiner Heiterkeit auf, und auch wenn Sympathiebekundungen dieser Art bislang nicht dem Stil unserer

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Compagnie entsprachen, so war die Erleichterung allseits doch so groß, daß auch Mimososthenes gelassen die Contenance bewahrte. Tieftrunk, der ob der allgemeinen Heiterkeit aus seiner gewohnten Schläfrigkeit aufgeschreckt war, neigte sich mir mit gewichtiger Miene zu und meinte, ohne dabei die Pfeife aus dem Mund zu nehmen: „Vergiß nicht: es Kant gleichzutun, ist wie Samenkörner legen in die Furchen der Wellen auf der Wasserscheide.“ Ich nickte wohlgefällig, dreierlei wohl wissend ...

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Zum praktischen Gebrauch: Entstaubte Weltliteratur Gert Uedings Abenteuer im Wirklichen oder Die Gegenwart unserer Klassiker Kam vor Gert Ueding schon jemand auf die Idee – ich wüßte nicht –, anhand der Literatur aller Zeiten und Zonen sechzig Lebensbereiche zu „rezensieren“? Also umgekehrt wie üblich nicht einzelne Titel zu untersuchen, sonder jene Bücher aufzufinden, auszubeuten, die Problemen und Ereignissen auf den Grund gehen, wie sie fast jedem im Lauf seines Lebens begegnen? ‚Begegnungen‘ heißt denn auch der erste der fünf Haupttitel, ihm folgen: ‚Zwangslagen‘, ‚Raubmenschen‘, ‚Glückswechsel‘, ‚Abenteuer im Wirklichen‘. Sie subsumieren je neun Kapitel, etwa: ‚Abschied von den Eltern‘, ‚Streit und Versöhnung‘, auch ‚Die Pest der Epoche‘ oder ‚Affentheater‘, ‚Armut schändet doch‘, ‚Deutsch-italienische Mißverständnisse‘, ‚Angst vor der Krankheit‘, ‚Bettelstudent‘, ‚Schaubühne des Todes‘, ‚Nachrichten aus der Türkei‘, ‚Die Erde bebt‘: Immer nur wenige Seiten kurz, belegen sie so spannend wie oft überraschend mit Überliefertem, hier stets Entstaubtem aus der Weltliteratur, die fast zeitlose Gültigkeit dessen, was Ueding entdeckt und darstellt. Oft auch untermauert mit Büchern, Stücken, Gedichten, die erst in der Gegenwart geschrieben wurden. Manchmal sind es Ereignisse unserer Tage, die Ueding veranlaßt haben, einen Themenbereich anzugehen: So Angela Merkels Ankündigung, sich im Fernsehen vor ihrer Wahl 2005 einem von den Sendern pathetisch als „Rededuell“ aufgewerteten Gespräch zu stellen, wobei „im Anfang gewiß das Bewußtsein dafür fehlte, welche Nuancen, ja mehr: welch untergründige Bedeutungen virulent würden, sobald sich erstmals eine Frau als Herausforderin des bis dahin mächtigsten Mannes in Deutschland meldete. Wer zuerst damit angefangen hat, die Frau in Waffen das bis dahin allein den Männern zukommende politische Geschäft führen zu lassen, liegt im mythologischen Dunkel. Aus ihm ragen einige Gestalten von archetypischer Durchsetzungskraft hervor. Da ist allen voran die biblische Judith, die bis in unsere Tage hinein in der Literatur vor allem die dramatische Phantasie beschäftigt. Die junge schöne Witwe aus Judäa schlug bekanntlich dem babylonischen Feldherrn Holofernes den Kopf ab, um ihr Volk zu retten.“ Dies erhellt Uedings Verfahren: Den Lesern – einst denen der WELT, für die zuerst diese durchaus „narrativen“, oft chronistischen Essays verfaßt wurden –, in zwei oder fünf Zeilen Ursprung und Handlung eines Textes in Erinnerung zu rufen, also die Ur-Anekdote, die ihm meist zugrunde liegt. Dann interpretiert

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Ueding das Wesentliche, das noch später Dichter über die „Frau in Waffen“ beigesteuert haben; wobei man sehr viel mehr findet, als Ueding in seiner Überschrift anbringen kann. So wenn er – jetzt auch nur knapp angedeutet – von Penthesilea zur Iphigenie kommt: „welch eine Kluft tut sich auf zwischen dieser leidenschaftlich Entfesselten in Waffen und Iphigenie, die Goethe auf Tauris zur Politikerin reifen läßt, deren Strategie aber in humanistischer Unterwanderung des Inselstaates besteht.“ Und Ueding erzählt, wie sehr die bewaffnete Frau mindestens in darob entsetzten Männeraugen eines der pikantesten Sujets blieb: Nur weil Schiller auch gewagt hat, uns heute jedoch als Wagnis gar nicht mehr vorstellbar, ‚Jungfrau von Orleans‘ zu schreiben, wurde er fast 200 Jahre lang von den „Herren der Schöpfung“ verleumdet: Frauen habe er nicht schildern können – der Dichter immerhin auch der anrührenden Luise Millerin und Theklas! Und ‚Das Geheimnis‘ schrieb, das intimste Ehebruchgedicht der Klassik… Ueding schließt dies immer lustige Kapitel mit Goethes Seufzer, er nehme als bekannt an, „daß eine Frau herrscht und herrschen muß; daher, wenn ich ein Frauenzimmer kennen lerne, gebe ich nur darauf acht, wo sie herrscht; denn daß sie irgendwo herrsche, setze ich voraus.“ Überhaupt hat Ueding als Höchstbelesener Funde gemacht, die man nicht vergißt; so in einem Brief Goethes an Pückler, ebenso wie in einem Hofmannsthal-Essay eine deutsch-europäische Hybris dieser zwei Halbgötter, die einem den Atem nimmt: Goethe konnte sich zu dem Wahnwitz hinreißen lassen, schon deshalb würden „die andern Nationen Deutsch lernen, weil sie sich innewerden müssen, daß sie sich damit das Lernen fast aller anderen Sprachen ersparen können“! Und er „begründet“ noch umständlich diese Albernheit – knapp 40 Jahre nur, bevor schon 1872 Jacob Burckhardt jeden „ruchlosen Optimismus“, sein berühmtes Wort gegen das ganze 19. Jahrhundert, zurückweist in dem beklemmenden, bis heute noch nicht gedruckten Basler Vortrag in der Aula des Alten Museums: ‚Von der kommenden Weltherrschaft der englischen Sprache‘ – mit der lähmenden Prophezeiung: „Die Rettung eines deutschen Buches kann nur seine Übersetzung sein“… Und bei Hofmannsthal steigert sich das Umgebungsblindsein, dem zugegebenermaßen kein Zeitalter, kein Individuum je entgangen sind, zu dem hochgemuten Kontinent-Wahn: „Wo ein großer Gedanke gedacht wird, ist Europa.“ Doch Ueding, selten nur ein Zustimmer, zitiert auch, wie Enzensberger sozusagen unser Erschrecken ob des gegenwärtigen kontinentalen Größenwahns „erdet“. Enzensberger durchschaut nämlich ausgenüchtert das herrschende Globalisierungs-Pathos als Verhängnis: „Wenn dieser Kontinent […] überhaupt eine Chance hat, dann liegt sie […] in seiner Komplexität und in seinem Reichtum an Überlieferungen, Haltungen und Qualifikationen. In diesem Sinne bin ich voller Zuversicht: das eurokratische Projekt ist zum Scheitern verurteilt. Brüssel oder Europa – vor diese Alternative gestellt, wird den Europäern die Wahl nicht schwerfallen.“ Ach, hätte doch Enzensberger recht mit seiner Hoffnung, „Brüssel“ scheiterte! Und es bliebe uns erlaubt, Gaullisten zu blei-

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ben, und noch unsere Enkel lebten in einem nicht vereinten, weil das immer heißt: Vereinfachten Europa, wie das als Mode, als gefährliche, längst obenauf kam, sondern in de Gaulles „Europa der Vaterländer“... Unmöglich, auch nur anzudeuten, wie viel Aufregendes, dank stets uns neuer Aspekte, Ueding in den knapp 60 Streiflichtern erhellt! Die Wucht seines Wissens könnte erschrecken, wäre da auch nur eine Spur gelehrter Hochnasigkeit – doch Ueding schreibt, wie er mit uns spricht, so gewinnend. Und so liest man ihn, wie uns Hermann Broch, auch das erzählt Ueding, dazu auffordert: „Im Bett liegen, krank sein, nicht in die Schule gehen und Karl May lesen zu dürfen, hat ja stets seine trostreichen Reize gehabt!“ Ueding, der sich bekanntlich nicht zu fein war, als Philologe May – wie sachlich – in die große Epik einzureihen, bringt auch fertig, schreibt er über ‚Streit und Versöhnung‘, uns die „Konflikte zwischen Staaten und Staatsmännern, die öfter als man glauben sollte, persönliche Gründe haben“, so lebendig vorzuführen als sähen wir Theater-Szenen: „Das Zerwürfnis zwischen Trojanern und Griechen begann mit der Entführung von Priamos’ Schwester nach Griechenland, fand seine Fortsetzung in der Flucht von Paris und Helena“ – und Ueding macht den Sprung zum „Nachweis, daß Homers Menschen hiermit schon das Verhalten ihrer Götter kopierten.“ Wie Ueding das erzählt, das ist auch so unterhaltend wie Fetzen aus Bühnenstücken. Ich persönlich, wenn ich das hier erzählen darf, wurde durch Uedings Unbefangenheit, zum Beispiel auch Homer-Figuren neu zu sehen, noch bestärkt, in meiner uralten Unverschämtheit, sie in Gedichten so zu kommentieren, wie zum Beispiel DER SPIEGEL den Besserwisser mimt, wenn er angeblich neue Mommsen-Funde hat: Helena über Aeneas Wer Tragödien überlebt, war nie ihr Held – meist der Verräter. Geschichte lügt! Wenn überhaupt, erfährt die Welt, was war – nicht: wahr – verziert, verzerrt viel später. Homer, bezahlter Werbetexter für Onkel Antenor, schrieb auf sein Geheiß, was die Troer restlos entehrt: Hätten, schon technisch absurd, durch ein Tor in (!) ihre Stadt sogar selber bugsiert das gigantische Pferd... So idiotisch sollen 9 (!) Jahre vergebens Belagerte sein? Das Pferd steht noch jetzt 10 Speerwürfe vor die Stadt gebracht. Aeneas ließ den Stoßtrupp des Odysseus durch Kanäle ein; während Antenor mit Sohn 3 Wachen gekillt. Mondlos die Nacht. Homer: Nur noch für die reifere Jugend! Reichsschrifttumkammer:

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Trostlos, was von dem früher rebellischen Autor geblieben! Verleumdet ganz Asien – korrumpiert. Hellenischer Drummer: Nur wir Griechen – die Troer nie durchtrieben... Und war als alter Twen – unser Fan. Auch sein Quatsch mit dem Gaul: Wann wurden Weltstädte durch Tore besiegt, über Mauern? Nie! Via Wasser-, Abwässerlabyrinth... Foul war stets was Aeneas getan... Lange dauern wird’s nicht, bis die ganze mare nostrum erfährt – ich ging ihm in Troja stets aus dem Weg! –, wie absurd Homer diesen Lügner verklärt. Einziger Mann mit Antenor, der nicht ermordet – Beleg: Beide haben Troja für freien Abzug verraten! Aeneas natürlich wieder ganz obenauf – jetzt in Karthago. Ja, das konnte er immer und wie: Einheiraten! – in statu nascendi bei Fürstin Dido... Das natürlicherweise Indiskret-Profundeste – „solches Schreiben ist gefährlich“ zitiert er einen berüchtigten Journal-Autor –, ist Uedings Thema: Tagebücher und Autobiographisches. Ebenso anregend wie abschreckend, besonders für die, und deren Zahl, bekanntlich, ist Legion, denen Journalschreiben immer auch eine Ersatzhandlung war. Sogar mit einem Zitat bestätigt Ueding das an Trotzki, als der – vergebens – bis nach Mexiko geflohen war, sich vor Stalin zu retten. Bevor ihn dort einer mit der Spitzhacke erschlug, der sich im Auftrag des Kremls „als Gärtner“ bei dem Exilierten eingeschmuggelt hatte, war dieser bedeutende Aktivist schon für viele Jahre von jedem politischen Handeln ausgeschlossen – und nur deshalb wieder Journal-Schreiber geworden; und notierte resigniert: „Nun gilt es wieder zum politischen Tagebuch Zuflucht zu nehmen. Auf wie lange?“ Und eine Ersatzhandlung ist Tagebuch-Schreiben ganz gewiß auch denen, Beweise dafür ebenfalls bei Ueding, die lieber Literatur machten, doch aus Mangel an Formungskraft sich mit Notizen begnügen, statt Gedichte, Prosa, Szenen zu schreiben… Bezeichnend, daß Thomas Mann als disziplinierter Arbeiter nie die Vormittage mit Journalschreiben „vergeudet“ hätte! Das wäre ihm so absurd vorgekommen, als habe er, frisch ausgeschlafen, eine Zeitung gelesen, statt gleich nach dem Frühstück zu schreiben; Journal schrieb er stets erst einige Minuten am Spätnachmittag. Und nahm literarisch seine Notizen nicht für voll. Die heikelste aller Fragen ans Tagebuch, nämlich die Wahrheits-Frage, stellt Ueding mit André Gide: „Die Aussicht auf eine wenn auch nur teilweise Veröffentlichung meines Journals hat seinen Sinn entstellt.“ Es gehört mehr

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Gutgläubigkeit dazu, als den Menschen zumutbar ist, wenn man Gide hier für ehrlich halten soll: Der hat zweifellos niemals ins Tagebuch geschrieben, ohne seine Gewißheit, das werde, sogar zu seinen Lebzeiten schon und in Fortsetzungen, publiziert … Übrigens gibt es von ihm, ich glaube mehrfach, die Aussage, sein Journal sei sein Hauptwerk; sicher ein bedeutender Irrtum. Stichworte müssen hier genügen, doch in jedem tritt schon die Signatur dieses großen Autors Gert Ueding zutage, der sich vorgenommen hatte: „Nicht die geschichtliche Entwicklung der Literatur von der klassischen Antike bis heute interessiert uns, sondern die Antworten stehen im Zentrum, die klassischen Werke auf unsere Probleme zu geben haben […]. Hier behandelt, als wären sie gerade geschrieben.“ Und das macht sie hier so neu, sogar für jene, die Einiges von dem, was Ueding so bewundernswert ausbeutet, schon selbst gelesen haben. Da „Abenteuer im Wirklichen oder Die Gegenwart unserer Klassiker“ auch ein Nachschlage-Buch ist, stellt man es nach der Lektüre nie für immer weg. Ich erlaube mir, mein bescheidenes Geburtstagsgeschenk hier uraufzuführen: Sapphos Tod – auch sie mußte von ihren Gedichten die intimen restlos vernichten. Als Ehefrau, auch Politikerin stets erpressbar – galt’s als Wahnsinn schriftlich, was man sich leiblich gab, festzuhalten: Verschwieg’s bis zum Grab. Total, wenn man Palaiphatos, 4. Jh. v. Chr. glaubt, hat Fährmann Phaon Sappho der Contenance beraubt... Gottschön, auf Lesbos: Leuchtend wie Aphrodites Sohn: Praxiteles in shorts! Jede Generation – allenfalls mit einem so Geglückten verwöhnt, bedichtete Sappho ihn, wie sie’s machten: Verpönt! Da so viel älter, verließ sie ihn in seinem Daseinszenit: Mitleid! Auch Panik, werde eifersucht-krank zur Xanthippe. Größe! Jungen sich nicht zumuten, selber alt – Suizid. Warf sich ins Meer von der leukadischen Klippe.

Manfred Beetz

Zur Diagnose von Vorurteilen in Lessings Frühwerk

Den bis dato wenig erforschten, dunklen Kontinent der Vorurteile hat erstmalig die europäische Aufklärung in seinen Dimensionen erschlossen. In der „Aufklärung von Vorurteilen“ sah sie von Beginn an ihr ureigenstes Geschäft. Mit dem Räsonnement über ungeprüfte, aber gleichwohl fest verwurzelte Einstellungen und Annahmen hat die Aufklärung ein Thema angeschnitten, das bis heute kaum an sozialpolitischer Brisanz verloren hat und auf Theorieebene im wissenschaftlichen Paradigmenwandel sich spiegelt. Ähnlich wie heute stellte auch in der Aufklärungsepoche das praejudicium ein fächerübergreifendes Thema dar, das einschlägig für die Fachdiskussion in der Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Politik, Anthropologie wird und auch literarische Stellungnahmen provoziert. Im 18. Jahrhundert liegen die Schwerpunkte der Vorurteilsdiskussion in der Philosophie und Theologie; in der Politik geht es um das Verhältnis von Wissen und Macht, um Volksaufklärung und obrigkeitliche Zensur. Nach Werner Schneiders philosophischer Habilitationsschrift von 1983 Aufklärung und Vorurteilskritik hat die Vorurteilsforschung seit den 90er Jahren neue Impulse gewonnen.1 –––––––— 1

Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983; Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Raffael Ciafardone (Hg.), Die Philosophie der Aufklärung. Texte und Darstellung, Stuttgart 1990, 407–458, hier: 427 ff.; Karl Menges, Vom Vorteil des Vorurteils. Zur Rehabilitierung eines kritischen Aufklärungsbegriffs, in: Yoshinori Shichiji (Hg.), Begegnungen mit dem „Fremden“. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, München 1991, X 161–170; Michel Delon, Réhabilitation des préjugés, Revue germanique internationale 3 (1995) 143–156; Michael Albrecht, Moses Mendelssohn über Vorurteile, in: Friedrich Grunert / Friedrich Vollhardt (Hg.), Aufklärung als praktische Philosophie, Tübingen 1998, 297–315; Hans Adler, Aufklärung und Vorurteile oder: Philosophie und Volksbetrug, in: Edward Bialek / Manfred Durzak / Marek Zybura (Hg.), Literatur im Zeugenstand. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2002, 657–676; Rainer Godel, „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“. Zur Widerständigkeit von Empfindungen und Vorurteilen in der deutschen Spätaufklärung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76, 4 (2002) 542–576; Manfred Beetz, Wunschdenken und Realitätsprinzip. Zur Vorurteilsanalyse in Wielands Agathon, in: Jörn Garber / Heinz Thoma (Hg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, 263–286; ders., Aufklärung über Vorurteile in Engels Roman Herr Lorenz Stark, in: Alexander Košenina (Hg.), Johann Jakob Engel (1741–1802). Philosoph für die Welt, Ästhetiker und Dichter, Hannover 2005, 77–95; ders., Aporien der Aufklärung. Wezels Dis-

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1. Lessing und der Vorurteilsdiskurs Die ersten Autoren, die sich nachhaltig im frühen 18. Jahrhundert mit Vorurteilen befaßten, schnitten in ihrer Analyse der Entstehung und Wirkung von Vorurteilen anthropologische Probleme an. C. Thomasius erkannte die Verwurzelung von Vorurteilen im Willen und in prärationalen Schichten der Seele. Das machte für den Halleschen Juristen und Philosophen ihre Therapie so schwierig.2 Die theoretische und literarische Reflexion von Vorurteilen verändert sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts in ihren sozial- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen. Von der philosophischen Vernunftlehre verlagert sich die Diskussion auf anthropologische Fragestellungen der praxisnäheren Popularphilosophie. Auch die aufklärerische Literatur reflektiert in fiktiven Erfahrungssimulationen Strukturen, Typen, Voraussetzungen und Funktionsweisen von Vorurteilen. In der Spätphase der Selbstreflexion der Aufklärung machen sich Autoren die Grenzen und Möglichkeiten der Vorurteilskritik bewußt. Die Ausdifferenzierung der Anthropologia (physica und moralis) in empirische Psychologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Ästhetik hat Auswirkungen auf die Vorurteilsbehandlung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ersetzt teilweise ein formaler Vorurteilsbegriff den kritischen. ‚Vorurteil‘ wird als ungeprüfte Vorannahme definiert; Meier, Abbt, Feder, Herder unterscheiden unentbehrliche von vermeidbaren Vorurteilen. Zur Relativierung eigener Standpunkte tragen wesentlich die Erkenntnistheorie, die vergleichende Anthropologie und das Geschichtsdenken bei. Das Vorurteil wird zu einem gewissen Grade rehabilitiert. Auch der junge Lessing und Mendelssohn schalten sich in die Diskussion ein – Lessing mehr, als die neuere Forschung wahrhaben will.3 Das Thema begleitet ihn von seiner Jugend bis in die letzten Lebensjahre. Im Brief vom 30.5.1749 an den Pastorenvater schreibt der Zwanzigjährige: „Die Xstliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treu und Glaube annehmen soll. Die meisten erben sie zwar von ihnen [...]“.4 Das emanzipatorische –––––––—

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kussion von Vorurteilen in seiner Anthropologie und in Belphegor, in: Jutta Heinz / Cornelia Ilbrig (Hg.), Wezel-Jahrbuch 8 (2005) 9–41; ders. / Rainer Godel, Entdeckte Vorurteile auf der Weltreise. Zu Georg Forsters empirischer Anthropologie und Anerkennung des Fremden, in: Ulrich Kronauer / Wilhelm Kühlmann (Hg.), Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse, Eutin 2007, 9–37; Rainer Godel, Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert, Tübingen 2007. Vgl. Manfred Beetz, Transparent gemachte Vorurteile. Zur Analyse der praejudicia auctoritatis et praecipitantiae in der Frühaufklärung, Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 3 (1983) 7–33, hier: 9, 15, 17–21. In M. Ficks verdienstvollem Lessing Handbuch fehlt im Sachregister das Lemma „Vorurteil“, obwohl die Verfasserin auf die Vorurteilsbehandlung Lessings zu sprechen kommt. Vgl. Monika Fick, Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2. Aufl., Stuttgart / Weimar 2004. Gotthold Ephraim Lessing, Briefe. Von und an Lessing 1743–1770, hg. v. Helmuth Kiesel, Frankfurt 1987, XI/1 26, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in 12 Bänden, hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt a. M. 1985ff.

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Aufbegehren gegen den Vater, der sich vom Sohn belehren lassen muß, steht inhaltlich im Einklang mit Beobachtungen der Frühaufklärung zur Vorurteilsprägung durch die Sozialisation.5 Noch in den Fragmenten eines Ungenannten publiziert Lessing Reimarus’ Überlegungen, „wie mächtig die Vorurteile der Kindheit und angeerbten Religion über die Menschen sind“. Jeder sähe in der Religion, in der er erzogen wurde, die beste und wahre, so daß ein jeder „bei der Religion seiner Voreltern bleibe, und ein jetziger eifriger Christ, eben ein so guter eifriger Türke und Jude würde gewesen sein, wenn er darin von gleichen Eltern auf solche Weise wäre erzogen worden.“6 Ähnlich wird Nathan in der Ringparabel gegenüber Saladin argumentieren – hier freilich nicht ohne Verständnis für das Fortschreiben von Traditionslinien und für die Vorurteile, die uns die eigene Biographie diktiert.7 Der junge Lessing hat den Vater auch im Visier, wenn er 1749 in den Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters „das Vorurteil wider das Theater, und wider die, die daran arbeiten“, geißelt.8 Das Motto für die Mehrzahl seiner Jugendkomödien, die bekanntlich verschiedene Vorurteilstypen mit ihren Vertretern dem Spott der Satire aussetzen, könnte eine selbstbewußte rezeptionsgeschichtliche Betrachtung aus den Rettungen des Horaz abgeben, die ihrerseits den römischen Klassiker und programmatischen Eklektiker vor dem Vorwurf der Unsittlichkeit und Religionslosigkeit in Schutz nehmen.9 Die ewige Weisheit, heißt es da, erweckt von Zeit zu Zeit Leute, die sich ein Vergnügen daraus machen, den Vorurteilen die Stirne zu bieten, und alles in seiner wahren Gestalt zu zeigen, sollte auch ein vermeinter Heiliger dadurch zum Bösewichte, und ein vermeinter Bösewicht zum Heiligen werden.10

Vermeintliche Bösewichte waren etwa Epikur, Cardano oder Spinoza, denen Bayle zum Teil ausführliche Ehrenrettungen in seinem Dictionnaire historique et critique gewidmet hatte.11 Lessing studierte es seit 1749 intensiv. Seine Gedanken über die Herrnhuter von 1750 richten sich gegen die Falschheit orthodoxer Vorurteile, mit denen man die Pietistengemeinde des Grafen Zinzendorf ausgrenzte.12 Lessings Absage an „unerforschliche“ theologische Spekulationen und sein Plädoyer für ein tätiges Urchristentum lenkt nicht zufällig den Blick auf Sokrates und seine Ermahnung –––––––— 5 6 7 8 9 10 11

12

Vgl. Beetz, Vorurteile, 18. Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, 8 Bde., Darmstadt 1970, VII 332, 369. Ebd. II 278. Ebd. III 362. Ebd. III 619. Ebd. III 592. Pierre Bayle, Historisches und kritisches Wörterbuch, hg. v. Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Darmstadt 2003, 91, 385. Lessings akademischer Lehrer J. F. Christ verfaßte bereits eine knappe Rettung des Cardano, vgl. Erich Schmidt, Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, 2 Bde, Hildesheim / Zürich / New York 1983, I 45f. Zu Lessings Verteidigung Epikurs vgl. Lessing, Werke, V 136f. Vgl. Lessings Rezension eines theologischen Angriffs gegen die Herrnhuter in der Berlinischen privilegierten Zeitung 1751 (Lessing, Werke, III 49f.).

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Manfred Beetz Törichte Sterbliche, was über euch ist, ist nicht für euch! Kehret den Blick in euch selbst! In euch sind die unerforschten Tiefen, worinnen ihr euch mit Nutzen verlieren könnt. Hier untersucht die geheimsten Winkel. Hier lernet die Schwäche und Stärke, die verdeckten Gänge und den offenbaren Ausbruch eurer Leidenschaften!13

Introspektion und Selbsterkenntnis werden in der Vorurteilstheorie der Aufklärung als unumgängliche Voraussetzung angesehen, um die uns bestimmenden affektiven Triebkräfte und Werturteile bewußt zu machen, denn oft genug beruhen Vorurteile auf Selbsttäuschungen.14 In der Duplik wendet sich Lessing dem „Vorwurfe mutwilliger Verstockung“ des Wolfenbütteler Superintendenten J. H. Reß zu.15 Ein Mann, der Unwahrheit, unter entgegengesetzter Überzeugung, in guter Absicht, eben so scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist unendlich mehr wert als ein Mann, der die beste edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidiget. Will es denn Eine Klasse von Leuten nie lernen, daß es schlechterdings nicht wahr ist, daß jemals ein Mensch wissendlich und vorsätzlich sich selbst verblendet habe? Es ist nicht wahr, [...] weil es nicht möglich ist.16

Zum Vorurteil gehört für Lessing nicht anders als für die zeitgenössische Vorurteils-Theorie Opazität. Das anthropologische Wissen, daß eine „unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“ die Seele nach G. F. Meier und Sulzer regieren, erklärt die Widerständigkeit von Vorurteilen.17 Meier bezeichnet es als geradezu aussichtsloses Unterfangen, die eigene Verblendung zu erkennen.18 Lessings psychologische Vorstöße nähern sich sozialpsychologischen Einsichten der Moderne. Haß setzt nach Lessings Analyse die Annahme einer scharfen Diskrepanz zwischen Akteur und Gegenspieler voraus. Sie wird als Opposition von Vollkommenheit und Unvollkommenheit festgehalten. „Wir freuen uns folglich nicht über des Feindes Unvollkommenheit, sondern über unsere Vollkommenheit, die wir uns bei jener gedenken“.19 Auf die durch Vorurteile ausgedrückte Selbstaufwertung hat Horkheimer hingewiesen.20 Mendelssohn drang 1783 in seiner psychologischen Analyse von Aggressionen zu Erkenntnissen vor, die der psychoanalytischen Sicht der autoritären Persönlichkeit nahekommen; ihr Stigma ist nach Adorno gerade Ich-Schwäche: Es gehört Nachsinnen dazu, wenn wir begreifen sollen, daß Haß und Rachsucht Neid und Grausamkeit, im Grunde nichts anders als Schwachheit, lediglich Wirkungen der Furcht sind. Furcht, mit zufälliger, unsicherer Ueberlegenheit verbunden, ist die Mutter aller die-

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18 19 20

Lessing, Werke, III 684. Vgl. Beetz, Vorurteile, 21. Lessing, Werke, VIII 32. Ebd. Vgl. Godel, „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“, 549, 553, 558–562; Moses Mendelssohn, Vorrede zu Manasseh Ben Israels „Rettung der Juden“, in: Ders., Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, hg. v. David Martyn, Bielefeld 2001, 15. Godel, ebd. 555. Lessing, Werke, VIII 514f. Beetz , Vorurteile, 19.

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ser barbarischen Gesinnungen. [...] Wer sich seiner Ueberlegenheit mit Sicherheit bewußt ist, findet weit größre Glückseligkeit in Nachsicht und Verzeihung. 21

Gleichfalls im Einklang mit dem Vorurteilsdiskurs reflektiert Lessing die leichte Instrumentalisierbarkeit des Praejudizvorwurfs.22 Dessen Beliebigkeit nimmt er in der Rettung des Hier. Cardanus 1754 aufs Korn: Es wäre ein Wunder, wenn ein so seltner Geist dem Verdachte der Atheisterei entgangen wäre. Hat man oft mehr gebraucht, ihn auf sich zu laden, als selbst zu denken und gebilligten Vorurteilen die Stirne zu bieten?23

Das Bemühen um Vorurteilslosigkeit fällt hier einem Vorurteil, dem notorischen Atheismusverdacht, zum Opfer. Ähnlich entlarvt Lessing in der Debatte um die Publikation der Fragmente eines Ungenannten das angebliche „Ärgernis“ der Bibelkritik. Es sei „nichts als ein Popanz, mit dem gewisse Leute gern allen und jeden Geist der Prüfung verscheuchen möchten […].“24 Für Lessing und seinen dynamischen Wahrheitsbegriff ist damit ein neuralgischer Punkt an Vorurteilen getroffen: Sie stellen die dialektische Denkbewegung still, wiegen uns in einer falschen Zufriedenheit. Lessing pflegte nach Mendelssohns vertrauenswürdigem Bericht zu sagen: Mit seichten Gründen behauptete Wahrheit ist Vorurtheil, nicht minder schädlich, als offenbarer Irrtum, und zuweilen noch schädlicher; denn ein solches Vorurtheil führt zur Trägheit im Nachforschen und tötet den Untersuchungsgeist.25

Genau dagegen revoltiert er in Wie die Alten den Tod gebildet (1769) mit einer temperamentvollen Verteidigung der Streitkultur. Sei es, daß die Wahrheit noch durch keinen Streit ermittelt wurde, so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen.26

Vorurteil und Ansehen! Lessing kennt konform mit der Typologie des aufklärerischen Vorurteilsdiskurses nicht nur den negativen Vorurteilsbegriff – Vorurteil gegen etwas oder jemanden –, sondern auch den Begriff der positiven Voreingenommenheit für etwas oder jemanden. Zu letzteren zählen in der Tradition die Vorurteile der Autorität und Präzipitanz. Ersteres widerspricht der Maxime des Selbstdenkens. Auf ihr besteht Lessing im 10. und 11. Literaturbrief gegenüber Wielands Plan einer Akademie zur Bildung von 1758. –––––––— 21 22 23 24 25

26

Mendelssohn, Jerusalem, 116. Zu Adorno vgl. Beetz, Vorurteile, 19. Vgl. ebd. 13; Godel, Vorurteil, 359. Lessing, Werke, VII 9. Lessing, Werke, VII 494. Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, begonnen von Ismar Elbogen u. a., fortgesetzt von Alexander Altmann / Eva J. Engel, Berlin 1929–1932 / Breslau 1938 / Stuttgart-Bad Cannstatt 1971ff., III/2 132. Lessing, Werke, VI 407.

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Lessing wendet sich gegen Wielands Idealisierung der antiken Bildung in einem pädagogischen Konzept, das „die Jugend nicht zum eigenen Nachdenken gewöhnet“ und damit die zentrale Erziehungsaufgabe versäumt.27 Der polemisch überzogene Vorwurf trifft Wieland in einer lebenszeitlichen Krise und Phase der Umorientierung. Wieland hatte 1754 Bodmers Haus verlassen und distanzierte sich in den kommenden Jahren über die Lektüre namhafter französischer Aufklärer – u.a. von Hélvetius – mehr und mehr von seiner „seraphischen Phase“. Schon am 16. 7. 1753 hatte er an J. G. Müchler geschrieben. Die Hauptbemühung der Lehrer sollte seyn, die Irrthümer, Vorurtheile, Phantomen der Erziehung u: Gewohnheit aus den Köpfen der Schüler zu räumen und ihre Herzen zu bilden.28

Die Voreingenommenheit aufgrund des Prestiges und Rufes, den sich ein Autor erworben hat, findet keine Gnade in Lessings Rezension von Holbergs Fabeln. Dem dänischen Autor haben einige gute Arbeiten, das glückliche Vorurteil verschafft [...], als ob alles, was aus ihrer beschäftigten Feder fließt, vortrefflich sein müße. Trotz diesem Vorurteile aber wagen wir zu sagen, daß seine Fabeln überhaupt erbärmlich [...] sind.29

Das Autoritätsargument spielt auch in der theologischen Kontroverse mit Goeze eine Rolle. Lessings Position: Das Evangelium sollen wir aufgrund seiner inneren Wahrheit glauben, nicht wegen der Autorität der Evangelisten. Ebenso wenig glaubt man ein geometrisches Theorem, weil es von Euklid stammt. Daß es im Euklides steht, kann gegründetes Vorurteil für seine Wahrheit sein; so viel man will. Aber ein anders ist die Wahrheit aus Vorurteil glauben; und ein anders, sie um ihrer selbst willen glauben.30

Neben dem praejudicium auctoriatis kennt Lessing auch das der praecipitantia. In seiner Abhandlung Von den lateinischen Trauerspielen [...] des Seneca wirft er dem Jesuitenpater Brumoy „leichtsinnige Übereilung“ bei dessen Kritik an Seneca vor.31 Auch in Lessings Trauerspielen gelten das Unvernünftige und Böse als Produkte der Übereilung, der Hybris.32 Sowohl hinter ablehnenden Vorurteilen wie affirmativen Voreingenommenheiten steht in der Frühaufklärung ein gemeinsamer kritischer Vorurteilsbegriff. Er wird zur Jahrhundertmitte ergänzt durch einen neutralen Begriff des Vorurteils, der dessen Unumgänglichkeit einkalkuliert. Finden sich Spuren der Rehabilitierung des Vorurteils in Lessings Oeuvre? –––––––— 27 28 29 30 31 32

Lessing, Werke, V 52f. Thomas C. Starnes, Christoph Martin Wieland. Leben und Werk, 3 Bde. Sigmaringen 1987, I 47 Lessing, Werke, III 57. Ebd. VIII 151 Ebd. IV 85. Gisbert Ter-Nedden, Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik, Stuttgart 1986, 182.

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Vor allem im Dialog mit Mendelssohn werden Lessing Grenzen der Vorurteilskritik bewußt. Bei der Lektüre von A. Fergusons Essay on the History of Civil Society (dt. 1768) überdenkt Lessing im Brief an Mendelssohn vom 9. 1. 1771 seine frühere Skepsis gegen geschichtsphilosophische Thesen und entdeckt beim Schotten wiederum Wahrheiten, die er längst für keine Wahrheiten mehr gehalten. Doch ich besorge es nicht erst seit gestern, daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen.33

Einen Monat später kündigt er Mendelssohn am 9. 2. 1771 an, er werde einige ältere Vorurteile wieder aufnehmen.34 Mendelssohn schreibt 1784 im Andenken an seinen Freund Über die Frage: was heißt aufklären?: Wenn die Verbreitung von Wahrheiten „Grundsätze der Religion und Sittlichkeit“ gefährdet, so wird der tugendliebende Aufklärer mit Vorsicht und Behutsamkeit verfahren und lieber das Vorurteil dulden, als die mit ihm so fest verschlungene Wahrheit zugleich mit vertreiben.35

Insofern Vorurteile die Plattform für Sittlichkeit und Geselligkeit bilden oder die Chance einer kulturellen Weiterentwicklung eröffnen, sind sie nach Mendelssohn unverzichtbar.36 Darum kann er folgern: „Die Bestimmung des Menschen überhaupt ist: die Vorurtheile nicht zu unterdrükken, sondern sie zu beleuchten“.37 Sie gehören für Mendelssohn zur conditio humana, insofern sie eng an Erziehung, Interessen, Lebensform, Weltbilder geknüpft sind, aus denen wir unsere Urteile speisen.38 In dieser Sicht sind Voltaire und Helvétius zu weit gegangen; sie haben durch ihre „Zügellosigkeit“ der Aufklärung einen Bärendienst erwiesen, Und so haben diese Herren Encyclopedisten so manches Vorurtheil gestärkt, indem sie die Wahrheit nicht verschonet haben, die einigen derselben anhängt.39

Auch Lessing äußert sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt eher moderat und behutsam gegenüber einer Abstempelung konfessioneller Frömmigkeitspraxis als abergläubisch und vorurteilsbasiert. Seinen Bruder Karl, der Anstoß an Emilia Galottis Religiosität genommen hatte, belehrt er mit rhetorischen Fragen –––––––— 33 34 35 36 37 38

39

Lessing, Briefe, XI/2 144f. Vgl. Mendelssohn, Schriften, XII/2 1f. Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, hg. v. Ehrhard Bahr. Stuttgart 1994, 7. Albrecht, Mendelssohn, 303f. Mendelssohn, Schriften, VI/1 141. Vgl. ebd. Mendelssohn, Schriften, II 205. Mendelssohn an Lavater 1770: Unsere Urteilskraft hängt von „vorgefaßten Meinungen und anerzogenen Grundsätzen [ab], daß zwey Menschen, wie Hr. L. und ich, die nach so entgegengesetzten Grundsätzen erzogen [...] sind, in vielen Urtheilen und Meinungen ganz ungleich gestimt seyn müssen.“ (Mendelssohn, Schriften, VII 47). Mendelssohn an Abbt, 16.2.1765, in: Mendelssohn, Schriften, XII/1 74f.; ders., Jerusalem, 131: „Auch die Ohngötterey hat [...] ihren Fanatismus.“

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Manfred Beetz Zeigt denn jede Beobachtung der äußerlichen Gebräuche einer positiven Religion von Aberglauben und schwachem Geiste? Wolltest Du wohl alle die ehrlichen Leute verachten, welche in die Messe gehen, und während der Messe ihre Andacht abwarten wollen, oder Heilige anrufen?40

Lessing scheut sich im Alter nicht, eigene Thesen – etwa zur Seelenwanderung – mit dem praejudicium auctoritatis zu stützen. Daß die alten Ägypter, Perser und Griechen an die Seelenwanderung glaubten, so heißt es im Nachlaßfragment Daß mehr als fünf Sinne, „dieses muß ein gutes Vorurteil dafür wirken“.41

2. Vorurteilskritik im Freigeist und in den Juden Dramen können sich die spezifische Leistungsfähigkeit des literarischen Diskurses gegenüber dem philosophischen Vorurteilsdiskurs zunutze machen. Sie bieten die Chance, nicht nur inhaltlich Vorurteile und ihre Auswirkungen zu diskutieren, sondern auch auf struktureller Ebene im Präsentationsmodus literarischer Verfahren, im einzelnen über Figurenzeichnung, Handlungsführung, Sympathiesteuerung, sich relativierende Dialogperspektiven, Tropen und rhetorische Figuren, Ironie dem Rezipienten differenzierte Aufschlüsse über seine Vorlieben und Ressentiments, über Ambivalenzen moralischer Maximen und psychologische Motivationen zu vermitteln. Daß Lessing als Dramaturg gezielt Vorurteile des Publikums anvisierte, bekräftigt er im programmatischen 1. Stück der Hamburgischen Dramaturgie: Wenn sich der anspruchsvolle Dramatiker zum „Pöbel“ herabläßt, dann ausschließlich, „um ihn zu erleuchten und zu bessern, nicht aber ihn in seinen Vorurteilen [...] zu bestärken“.42 Lessing will den literarischen Erwartungshorizont einschließlich seiner moralischen Normen durchbrechen. Er will es an Provokationsmut und dramatischen Lösungen mit seinen Vorgängern aufnehmen. Im deutschen Drama des 18. Jahrhunderts werden schon vor Lessing religiöse Einstellungen und Vorurteile aufs Korn genommen. Die Gottschedin unternimmt es in ihrer Konfessionsatire der Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736), das Erbauungstreiben pietistischer Konventikel in seiner Verblendung, Unduldsamkeit und Anmaßung zu entlarven. Der esoterische Mystizismus wird als Verschleierung materieller Interessen sprach- und ideologiekritisch enthüllt. J. C. Krügers frivole Standessatire Die Geistlichen auf dem Lande (1743) prangert in kompromißloser Schärfe die Heuchelei und Korruption protestantischer Geistlichkeit an, die sich abergläubischer Vorurteile zur Disziplinierung der Sexualität und zur Diffamierung philosophischer Vernunft bedient. In Gellerts sächsischer Typenkomödie Die Betschwester wird die Frömmelei der scheinheiligen Titelheldin ihrer Intoleranz und der Verbohrtheit ihrer Erzie–––––––— 40 41 42

Lessing, Werke, II 706. Lessing, Werke, VIII 560. Ebd. IV 238f.

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hungsmethodik überführt. J. Stenzel nennt als weitere Stoffvorlagen Thomas Otways The Atheist (1683) sowie ins Deutsche übersetzte Komödien von L. Holberg, u.a. Die Irrthümer (deutsch 1746).43

Der Freigeist Im Freigeist Lessings wird ein tugendhafter Libertin und Rationalist von seinen Vorurteilen gegenüber Geistlichen kuriert und in die Gesellschaft integriert. Die Komödie vermittelt polemische Standpunkte, indem sie Vorurteile relativiert, die in konträren Lagern verbreitet sind. Vorurteile – dies weiß der Dramatiker – beruhen oft genug auf Gegenseitigkeit. Wenn der Freigeist Adrast dem Theologen Theophan zu Beginn Scheinheiligkeit und Heuchelei unterstellt, so ist ihm gleichzeitig klar, daß er sich als Freigeist dem Verdacht der Sittenlosigkeit aussetzt.44 In der sozialen Interaktion kann die wechselseitige Konditionierung Lessing zufolge bis zur selbst erfüllenden Prophezeiung gehen. Im Freigeist begegnet Adrast Theophan derart uneinsichtig mit einem notorischen Mißtrauen, daß dieser am Ende fast schon verzweifelt ausruft: „Ich will mich bestreben, daß Sie den Theophan so finden sollen, als Sie ihn sich vorstellen.“45 Der Freidenker Adrast demonstriert die von den Vorurteilstheoretikern beachtete Hartnäckigkeit von Vorurteilen mit exemplarischer Konsequenz. Selbst als der Bankier Theophans noble Bürgschaft dem Adrast eröffnet, bleibt er seinen Vorurteilen treu.46 Eine derart großzügige Noblesse vermag der Freigeist einem Theologen schlicht nicht zuzutrauen.47 Gerade Freigeistern, die glauben, die Aufklärung gepachtet zu haben, schreibt Lessing eigene Voreingenommenheiten zu und trifft sie so in ihrer Selbstwahrnehmung. Doch entscheidend bleibt die doppelseitige Stoßrichtung der Argumentation: Mit dem verbreiteten Vorurteil, daß Moralität ohne Offenbarungsreligion kein tragfähiges Fundament hat, räumt das Stück ebenso auf wie mit der notorischen Verdächtigung der Frömmigkeit als Unehrlichkeit oder Selbsttäuschung. Im Entwurf lautet Adrasts provokante Charakterisierung: „ohne Religion, aber voller tugendhafter Gesinnungen“.48 Die Aktualität der zeitgenössischen Debatte um Freigeisterei bezeugen die 1749 anonym in Leipzig erschienene Schrift Der wider die Freygeister verteidigte geistliche Stand oder ein Beitrag in Mylius’ Wochenschrift Der Wahrsager vom 6. 2. 1749, der eine engere und weitere Begrüffsverwendung von „Freigeist“ differenziert.49 Die Forschung hat anhand des Handlungsver–––––––— 43 44 45 46 47 48 49

Lessing, Briefe, I 1141. Lessing, Werke, I 477. Ebd. I 544. Ebd. I 541f. Ebd. I 543. Lessing, Briefe, I 348. Ebd. I, 1132–1140. Die Begriffsextension von ‚Freigeist‘ im weiteren Sinn umfaßt „Naturalisten, Atheisten“ und ‚Freigeister‘ im engeren Sinn, d. h. „practische Atheisten“, „welche so leben wie das Vieh, und ihre Vernunft so wenig brauchen, als ob sie keine hät-

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laufs der „Liebe über Kreuz“ überzeugend Lessings anthropologische Lösung verhärteter Extrempositionen erläutert.50 Die zwei Geschlechterpaare finden sich nach dem Prinzip der Komplementarität von Kopf und Herz, so daß am Ende jedes Paar einen „ganzen Menschen“ ausmacht. „Der ganze Mensch“ muß in seiner leibseelischen Einheit betrachtet werden, um seine Natur zu erkennen, die uns Aufschlüsse über seine Einstellungen, seine Vorurteile gibt.51 In der Doppelhochzeit des Komödienschlusses verbinden sich Liebeshandlung und Religionsthematik über den Zusammenhang von Erkennen und Fühlen. Die Viererkonstellation unterläuft feministische Vorurteile, da die Geschlechterpositionen gegensätzlich besetzt werden: ‚männlich‘ ist nicht auf ‚Verstand‘ und ‚weiblich‘ auf Gefühl festgelegt. Die wahre Aufklärung des Verstandes verläuft bei beiden Paaren synchron mit der Entdeckung der jeweiligen wahren Herzensbedürfnisse. Auf weiblicher Seite verkörpert die Zusammengehörigkeit von Emotion und ratio zudem ein Geschwisterpaar. In seinem verstockten Rationalismus charakterisiert sich der Deist Adrast bereits zu Beginn, wenn er ‚argumentiert‘: „Ich weiß, was ich weiß“.52 Adrast decouvriert unfreiwillig die zirkuläre Struktur von Vorurteilen, wenn er tautologisch auf seinem Wissen vom Wissen insistiert. Ähnlich ironisiert im Misogynen der verkleidete Lelio die Argumentationsevidenz des Weiberfeindes. „Einem Manne, der es mit drei Weibern versucht hat, kann man es doch wohl endlich glauben, daß die Weiber insgesamt – insgesamt Weiber sind“.53 Tautologisch formulierte Vorurteile begründen als analytische Urteile sich selbst. Die tautologische Begründung im Freigeist demonstriert nicht nur die Verbohrtheit seines Vorurteils, sondern in der Verkehrung der sokratischen Selbsterkenntnis gerade deren Defizit. Als intellektueller Aufklärer mßtraut er Gefühlen. Als Theophan Adrast am Ende die Augen öffnet über Julianes Herz, gerät der aufgewühlte Freigeist in starke Turbulenzen: Er weiß, „Es ist eine menschliche Schwachheit, sich dasjenige leicht überreden zu lassen, was man heftig wünscht“.54 Die Logikautoren Johann F. Schneider und Johann Jakob Syrbius konstatierten Anfang des 18. Jahrhunderts in ihren lateinischen Vernunftlehren die Tendenz zur Übereilung, wenn eine Auffassung der von uns gehätschelten Lieblingsvorstellung entspricht.55 Nicht anders wird Georg F. Meier in seinen Beyträgen zu der Lehre von den Vorurtheilen“ (1766) die Bedeutung des –––––––—

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ten“. Lessings Freigeist fällt demnach nicht unter den Begriff sensu stricto, sondern sensu lato zu den „Naturalisten“ oder „theoretischen Atheisten“ , denen Natur und Vernunft die Richtschnur vorgeben und die „keines lasterhaftigen Wandels beschuldigt werden können“ (Ebd. I 1134f.). Vgl. Paul Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung, Hamburg 1967, 533f.; Fick, Lessing-Handbuch, 69–72. Vgl. Godel, Vorurteil, 94ff. Lessing, Werke, I 477. Ebd. I 430. Ebd. I 546. Vgl. Beetz, Vorurteile, 16.

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Wunschdenkens herausstellen: „Was das Herz wünscht, glaubt der Verstand, aber aus Uebereilung“.56 Adrast verkennt schon zu Beginn, worauf Jürgen Stenzel aufmerksam machte, den Affekt uneingestandener Eifersucht gegenüber dem Rivalen als Vorurteilsmotiv.57 Explizit besteht er darauf, sein generelles Vorurteil gegen den geistlichen Stand nicht durch Erfahrungskorrektur einzuschränken, wobei sowohl ihm wie dem degradierten Standesvertreter die sozialen Implikationen seiner Einstellung – Adrast bezeichnet sich als „Verächter seines [Theophans] Aberglaubens, und also auch seines Ansehens“ – schneidend bewußt waren.58 Wenn Lessing seinen Freigeist räsonieren läßt, Man lasse daher dem Pöbel seine Irrtümer; man lasse sie ihm weil sie ein Grund seines Glückes und die Stütze des Staates sind [...] Ihm die Religion nehmen, heißt ein wildes Pferd auf der fetten Weide los binden,59

erweist er sich auf der Höhe des Diskussionsstandes seiner Zeit, ja er nimmt die berühmte Preisfrage der Preußischen Akademie von 1780 vorweg. Mit seinem elitären Anspruch vertritt der Freigeist Maximen Voltaires und Friedrichs II., wie dieser sie in jungen Jahren brieflich dem Philosophen gegenüber äußerte.60 Die Frage der „Vorurteile, die Ehrerbietung verdienen“, stellte im Rahmen der Debatte um Volksaufklärung die Patriotische Gesellschaft in Bern in den 60er Jahren.61 In scharfer politischer Zuspitzung erfuhr sie ihre Formulierung im wesentlichen durch Friedrichs II. Vorschlag „Peut-il etre utile au peuple de le tromper, soit en l’induisant en erreur, soit en l’entretenant dans celle q’il peut avoir?“62 Die politische Fragestellung erzielte Anfang der 80er Jahre eine enorme Resonanz in der akademischen Welt mit über 40 Einsendungen.63 In Lessings Liebesdialog von IV/3 gesteht Adrast am Beginn einer Debatte um wahre, bzw. „verhältnismäßige“ Aufklärung Religion als Zierde auch dem schönen Geschlecht zu, dessen fromme Vertreterin Juliane sich dafür bedankt und ihn mit zugleich christlichen und aufklärerischen Argumenten zurechtweist: –––––––— 56

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Georg Friedrich Meier, Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts. Halle 1766, 54; ders., Philosophische Sittenlehre, 5 Theile, Halle 1753–1761, IV (1758) 382. Vgl. Rainer Godel, Georg Friedrich Meiers formaler Vorurteilsbegriff zwischen Universitätsphilosophie und Moralischen Wochenschriften, Archiv für Begriffsgeschichte 49 (2007) 99–129. Lessing, %riefe, I 1141. Lessing, Werke, I 477f. Ebd. I 527f. Vgl. Gonthier-Louis Fink, Nationalcharakter und nationale Vorurteile bei Lessing, in: Wilfried Barner / Albert M. Reh (Hg.), Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang, München 1984, 91–119, hier: 101; Adler, Aufklärung und Vorurteile, 669f. Adler, Aufklärung und Vorurteile, 671; Godel, Vorurteil , 149ff. Adler, Aufklärung und Vorurteile, 668f. Ebd. 670; Hans Adler (Hg.), „Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au Peuple d’être trompé?“ Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780, Stuttgart-Bad Cannstatt 2007.

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„Religion ist ein Zierde für alle Menschen“ – genauso wie die Wahrheit für alle sei und nicht nur für den esoterischen Zirkel einer intellektuellen Avantgarde.64 Durch den Handlungsverlauf und in der Wahl seiner Partnerin erfährt Adrast daß Liebe an Achtung und sittlichen Respekt geknüpft ist. Der aufgeklärte Theologe wiederum entdeckt an der Attraktivität der schnippischen Henriette, wie existentiell die sinnliche Erfüllung der Liebe gegenüber einer blassen Tugendverehrung den Menschen betrifft.

Die Juden Lessings Jugenddrama Die Juden hat unter dem Vorurteilsaspekt die Aufmerksamkeit namhafter Lessingkenner auf sich gezogen.65 Karl S. Guthkes und Wilfried Barners Beiträge können als überzeugende „Rettungen“ der Eigenständigkeit des Jugenddramas gegenüber dem erdrückenden Nathan eingestuft werden. Ihre kenntnisreichen Untersuchungen erhellen die soziale Relevanz der antisemitischen Vorurteile im Stück, aber keiner der fünf genannten Beiträge geht anhand der Juden auf interdiskursive Zusammenhänge mit der Vorurteilstheorie und -diskussion im 18. Jahrhundert ein. Im Rückblick von 1754, in der Vorrede zum 3. und 4. Teil von G. E. Lessings Schriften berichtet der inzwischen Fünfundzwanzigjährige von der Entstehung des Lustspiels 1749: Es war das Resultat einer sehr ernsthaften Betrachtung über die schimpfliche Unterdrükkung, in welcher ein Volk seufzen muß, das ein Christ, sollte ich meinen, nicht ohne eine Art von Ehrerbietung betrachten kann. Aus ihm, dachte ich, sind ehedem so viel Helden und Propheten aufgestanden, und jetzo zweifelt man, ob ein ehrlicher Mann unter ihm anzutreffen sei?

Aus einer großen „Lust am Theater“ erwuchs der Wunsch zu testen, „was es für eine Wirkung auf der Bühne haben werde, wenn man dem Volke die Tugend da zeigte, wo es sie ganz und gar nicht vermutet“.66 –––––––— 64

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Lessing, Werke, I 527f.; Gerhard Sauder, „Verhältnismäßige Aufklärung“. Zur bürgerlichen Ideologie am Ende des 18. Jahrhunderts, Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, hg. v. Kurt Wölfel, 9 (1974) 102–126; Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik, 241. Vgl. Karl S. Guthke, Lessing und das Judentum. Rezeption. Dramatik und Kritik. KryptoSpinozismus, in: Vorstand der Lessing-Akademie (Hg.), Judentum im Zeitalter der Aufklärung, Bremen Wolfenbüttel 1977, 229–271; Wilfried Barner, Lessings Die Juden im Zusammenhang seines Frühwerks, in: Ehrhard Bahr / Edward P. Harris / Laurence G. Lyon (Hg.), Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht, München 1982, 189–209; ders., Vorurteil, Empirie, Rettung. Der junge Lessing und die Juden, Bulletin des Leo-Baeck-Intitutes 69 (1984) 29–51; Fink, Nationalcharakter; der Autor bezieht sich allerdings in erster Linie auf Lessings Stellungnahmen zur kulturellen Dominanz Frankreichs vor Deutschland; Gerhard Freund, Erkenntliche Wahrheit. Anregungen Lessings zum Dialog zwischen Christen und Juden, in: Peter Freimark / Franklin Kopitzsch / Helga Slessarev (Hg.), Lessing und die Toleranz, Detroit / München 1986, 131–145. Lessing, Werke, III 524f.

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Angestrebt ist mit dem Experiment eine Provokation des christlichen Publikums. Doch Lessing will weniger den lauten, vordergründigen Skandal als den christlichen Zuschauer zur Überprüfung eigener Ressentiments anregen. Die Analyse eines sozial differenzierten Antisemitismus, der trotz schichtenspezifischer Unterschiede auf das nämliche Grundmuster hinausläuft,67 führt die Dramenhandlung durch Anschauung vor. Vor den kriminellen falschen Juden wird der Baron von einem wahren Juden gerettet. Stereotypen verkehren sich: Der gebildete Jude handelt „christlich“, die Christen „jüdisch“. Nicht nur Maskeraden werden entlarvt, sondern auch Vorurteile. Ihre Haltlosigkeit erweist die Handlungsführung. Sie macht im illusionslosen Schluß bewußt, daß soziale Diskriminierung und juristische Präjudizien in christlicher Apartheidspolitik sich als machtvoller erweisen als die verdiente Anerkennung und Zuneigung, die ein einzelner Jude erfährt. Warum wählt Lessing für die Diskussion eines ernsten gesellschaftlichen Problems die Komödienform? Hans Mayer hat 1973 an ihr Anstoß genommen.68 Sie verfehle, indem sie einen assimilierten Juden als Philanthropen feiere, die eigentlichen Intentionen des echten Judentums und gebe die jüdische Identität preis. Der Schluß demonstriere am Ausnahmeverhalten des betuchten Außenseiters dessen Integrationsmöglichkeit in die Gemeinschaft.69 Mayer verwechselt offensichtlich die Perspektive der Baron-Figur mit der des Stücks. Letzteres besteht gerade auf der realen Desintegrierbarkeit der Juden. Der „psychologische Irrealis des Vorurteils“ im Ausruf des Barons („O wie achtungswürdig wären die Juden, wenn sie alle Ihnen glichen!“70) besagt nach Guthkes treffender Analyse eine Anerkennung der Integration – unter der unmöglichen Prämisse, daß alle Juden sich als barmherzige Samariter erwiesen.71 Die Lust an der Durchbrechung zeitgenössischer Denkmuster und Normen setzt auf eine Publikumsdramaturgie, in der Lachen als Befreiung von Einstellungszwängen erfahren werden kann. Dem Verlachen werden in Lessings Lustspiel nicht die Juden, sondern allenfalls die falschen Christen ausgesetzt, die dummdreist Juden spielen, um ihre christliche Kriminalität zu tarnen, und so antisemitische Vorurteile bestätigen können. –––––––— 67 68

69 70 71

Barner, Lessings Die Juden, 198. Hans Mayer, Der weise Nathan und der Räuber Spiegelberg, Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 17 (1973) 253ff.; ders., Außenseiter, Frankfurt a. M. 2007, 333. Lessings Lustspiel zeuge von „einem profunden Mißverstehen der Judenfrage als eines Zentralthemas [...] der Aufklärung“. Das unangebrachte Schema der „Typenkomödie mit ihrem Klischee der Verlachung von Vorurteilen“ führe Lessing an die Grenzen der bürgerlichen Aufklärung (ebd. 335f.). Guthke, der schon 1971 Vorurteile als zentrales Problem von Lessings Freigeist und den Juden ausmachte, bewertet Lessings Versuch, „Lustspiel und Problemstück einander anzunähern“ noch weit weniger geglückt als in der Minna von Barnhelm (Lessing, Werke, II 634). Im späteren Beitrag von 1977 (Guthke, Lessing und das Judentum), revidiert er de facto sein Urteil. Mayer, Außenseiter, 334. Lessing, Werke, I 414. Guthke, Lessing und das Judentum, 243.

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Daß Lessings Stück selbst für aufgeklärte Zeitgenossen noch genügend Sprengstoff bot, zeigt Johann David Michaelis’ kritische Rezension.72 Der von Lessings Stück provozierte Orientalist greift die deutliche Sympathiesteuerung für den Juden an, der in allen Stücken so vollkommen gut, so edelmütig, so besorgt, [...] gebildet [ist], daß es zwar nicht unmöglich, aber doch allzu unwahrscheinlich ist, daß unter einem Volke von den Grundsätzen, Lebensart und Erziehung, das wirklich die üble Begegnung der Christen auch zu sehr mit Feindschaft oder wenigstens mit Kaltsinnigkeit gegen die Christen erfüllen muß, ein solches edles Gemüt sich gleichsam selbst bilden könne.73

Der Aufklärer Michaelis erkennt durchaus die Verhaltenskonditionierung der Juden aufgrund ihrer bitteren Erfahrungen mit einem unchristlichen Christentum an und führt „Grundsätze, Lebensart und Erziehung“ ins Feld, die Voreingenommenheiten präformieren. Aus der kaufmännischen Lebensform leitet er den berufsbedingten Hang zum Betrug ab.74 Untersucht wird im Vorurteilsdiskurs der Aufklärung in der Tat der erwähnte Zusammenhang von Lebensform und Vorurteil. Erziehung, Umgang und Lebensform hatten Thomasius, Budde, Klemm schon in ihren frühaufklärerischen Vernunftlehren als Quellen von Vorurteilen namhaft gemacht.75 G. F. Meier, Sucro, Thomas Abbt, Garve, Thümmel, erkennen später den engen Konnex von Gesellschaftsstruktur und sozial geprägtem Denken und Verhalten.76 Ähnlich hängen nach Mendelssohn, der nur zu gut weiß, daß er als Jude auch nach Vorurteilen erzogen wurde, metaphysische Vorurteile von manifesten Interessen ab, insofern sie die „Lebensart, Glückseligkeit und Meynungen“ betreffen.77 An dieser grundlegenden aufklärerischen Position rüttelt auch Lessing nicht. In seiner Antwort auf Michaelis’ Rezension differenziert er zwei Einwände, deren Entkräftung im Grunde auf die gleiche Argumentationslinie hinausläuft: 1. Daß „ein rechtschaffener und edler Jude“ eine Unwahrscheinlichkeit darstelle; Lessing widerlegt dies durch das angefügte Antwortschreiben von Moses Mendelssohn.78 Den eingeräumten Seltenheitswert einer solchen Figur, wie er im übrigen auch für das Christentum gelte, begründet Lessing mit sozialen Verhältnissen und der Diskriminierung durch Christen: „die Verachtung und Unterdrückung, in welcher dieses Volk seufzet, und die Notwendigkeit [...], bloß und allein von der Handlung zu leben“, erklären, warum edle Juden selten in Erscheinung treten.79 Hier greift der junge Autor eine Anregung Gellerts auf, –––––––— 72 73 74 75 76 77 78 79

Lessing, Werke, I 415f. Ebd. I 415f. Ebd. Vgl. Beetz, Vorurteile, 18. Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik, 213, 220, 238; Beetz, Aporien, 16–19; Godel, Vorurteil, 127ff., 149ff. Mendelssohn, Schriften, II 205; Albrecht, Mendelssohn, 300. Vgl. Lessing an Michaelis, 16. 10. 1754, in: Lessing, Werke, II 646. Lessing, Werke, I 416

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der nicht nur einen vorbildlichen polnischen Juden in seinem Leben der schwedischen Gräfin von G*** präsentiert, sondern bereits die Interdependenz von christlichen und jüdischen Verhaltensmustern analysiert.80 Einerseits erkennt Lessing wie sein gelehrter Opponent die Juden auferzwungene Lebensform als verhaltensdeterminierend, andererseits betont das eingerückte Briefzeugnis Mendelssohns gegenüber Michaelis, daß Tugend weder an Stand noch Nation gebunden sei, ja selbst bei sozialer Diskriminierung sich behaupten könne. Anders als der Göttinger Theologe und Hermeneutiker bescheidet sich Lessing nicht bei resignativen Klagen darüber, sondern appelliert mit der Folgerung, „daß die Unwahrscheinlichkeit wegfalle, so bald diese Umstände sie zu verursachen aufhören“, für eine Aufhebung der sozialen Repressionen.81 Vorurteile gegen Juden haben sich in Reglements wie in Pogromen niedergeschlagen.82 In seiner Rettung des Cardanus zitiert Lessing aus dessen Werk De subtilitate: Bei Muslimen wie Christen werde ein Jude nicht höher geschätzt, als der verworfenste Hund: er wird verspottet, verfolgt, geschlagen, geplündert, ermordet, in die Sklaverei gestoßen, durch die gewaltsamsten Schändungen gemißhandelt, und mit den unsaubersten Arbeiten gemartert, so daß er von einem Tiger, dem man die Jungen geraubet, nicht so viel auszustehen haben würde.83

2. Das zweite Problem sieht Lessing in seinem Theaterjuden, der als reisender Philanthrop dramaturgisch unwahrscheinlich ausfalle. Lessings Erwiderung beruft sich gleichfalls auf die genaue Berücksichtigung der Umstände: Gerade weil er deren habituelle Prägungen durch Lebensform und soziale Situation ernstnehme, habe er seinem Reisenden Wohlhabenheit und Bildungsinteresse verliehen, damit er der Verachtung der Christen weniger als ein jüdischer Hausierer oder Trödler ausgesetzt sei. Besteht man aber darauf, daß Reichtum, bessere Erfahrung, und ein aufgeklärterer Verstand nur bei einem Juden keine Wirkung haben könnten: so muß ich sagen, daß dieses eben das Vorurteil ist, welches ich durch mein Lustspiel zu schwächen gesucht habe; ein Vorurteil, das nur aus Stolz oder Haß fließen kann, und die Juden nicht bloß zu rohen Menschen macht, sondern sie in der Tat weit unter die Menschheit setzt.84

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81 82 83 84

Christian Fürchtegott Gellert, Leben der schwedischen Gräfin von G***, hg. v. Jörg-Ulrich Fechner, Stuttgart 1968, 114f.: „Der rechtschaffene Mann! Vielleicht würden viele von diesem Volke beßre Herzen haben, wenn wir sie nicht durch Verachtung und listige Gewalttätigkeiten niederträchtig und betrügerisch in ihren Handlungen machten [...]“. Vgl. Franklin Kopitzsch, Lessing und seine Zeitgenossen im Spannungsfeld von Toleranz und Intoleranz, in: Walter Grab (Hg.), Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation (Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Beiheft 3), Tel-Aviv 1980, 37. Lessing, Werke, I 416f. Vgl. Kopitzsch, Lessing, 33–38, 43; Guthke, Lessing und das Judentum, 242; Leo Trepp, Geschichte der deutschen Juden, Stuttgart 1996, 78f. Lessing, Werke, VII 12. Ebd. I 417.

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Vor diesem Textbefund schloß sich Gert Ueding 1978 Mayers umstrittener These an, daß nach Lessing Besitz und Bildung die Grundlage für eine Emanzipation der Juden abgeben.85 In ihren menschlichen Reaktionsweisen auf Lebensumstände und soziale Bedingungen unterscheiden sich Juden nicht von Christen, sondern gegebenenfalls Juden von Juden. In seinem Revidierten General-Privilegium und Reglement für die Judenschaft im Königreich Preußen von 1750 differenziert Friedrich II. sechs absteigende Klassen von Juden, die von der schmalen Schicht der Generalprivilegierten über die ordentlichen und außerordentlichen Schutzjuden, über „publique Bedienstete“, bloße „Tolerierte“ bis hinab zu den Privatdienstboten reichte. Sie waren nach Status und Rechten klar unterschieden.86 Ein reicher gebildeter Schutzjude besitzt nach Lessing Privilegien, die ihn vom „lüderlichen Gesindel“ der Vaganten wünschenswert unterscheiden und für eine edle Denkungsart und Handlungsweise prädisponieren können.87 Wie Thomasius, für den Lessing sein Leipziger Lehrer Johann Friedrich Christ erwärmte, hatte auch Gellert die Eigenliebe als eine Hauptwurzel von Vorurteilen ermittelt.88 Die Abwertung des Fremden kommt der Aufwertung der In-group zustatten, ohne daß noch besondere Anstrengungen für sie zu erbringen wären. Mendelssohn nimmt am Konkurrenzkampf der Religionen wahr, daß hier die Mechanikgesetze der Balkenwaage gelten: Er schreibt in seinem von Lessing veröffentlichten Brief an Gumpertz: Theologen „denken der christlichen Religion einen großen Vorschub zu tun, wenn sie alle Menschen, die keine Christen sind, für Meichelmörder und Straßenräuber erklären“.89 Was Lessings Stück selbst betrifft, so deutet der generische Plural des Titels an, daß an dem, was dem einzigen Vertreter des Judentums auf der Bühne widerfährt, kollektive Vorurteile aufgezeigt werden. „Die Juden“ darf das Lustspiel heißen, weil es um keinen Einzelfall geht, sondern um nationale und religiöse Vorurteile. Bezogen auf den spezifischen Handlungsplot stellt der Titel eine ironische Verallgemeinerung dar: Die im Stück aktiven Juden sind gar keine. Somit zitiert der Titel bereits Vorurteile. Als ihre zentralen Charakteristika werden in einem Dialog zwischen einem Christen und einem in seiner Identität noch unausgewiesenen Juden ungeprüfte Generalisierungen und eine brüchige, oft zirkuläre Begründungsstruktur bloßgelegt.90 Der Reisende bleibt höflich, auch nachdem er ausführliche Expektorationen mit ethnologischen und physiognomischen Verallgemeinerungen über sein Volk hinnehmen mußte: „Ich bin kein Freund allgemeiner Urteile über ganze Völker [...]. Ich sollte –––––––— 85 86 87 88 89 90

Gert Ueding (Hg.), Materialien zu Hans Mayer, „Außenseiter“, Frankfurt a. M. 1978, 18, 35. Trepp, Geschichte, 78f. Lessing, Werke, I 418. Zu Thomasius vgl. Lessing, Werke, V, 760; Beetz; Aporien, 14. Zu Christ vgl. Schmidt, Lessing, I 45. Lessing, Werke, I, 420. Barner, Lessings Die Juden, 194.

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glauben, daß es unter allen Nationen gute und böse Seelen geben könne.“91 Lessings vorrangige Intention war es weniger, sich als Philosemit in der Öffentlichkeit einen Namen zu machen; viel entschiedener strebte er einen Bewußtseinswandel des christlichen Publikums an. Unter den Gattungsnormen der Satire – in einem längeren Epigramm auf Voltaire und seine Finanzaffäre mit dem Schutzjuden Hirschel – konnte Lessing durchaus mit antisemitischen Stereotypen hantieren.92 Es ging ihm keinesfalls um eine pauschale Idealisierung der Vertreter einer unterdrückten Minorität, sondern um eine kritische, gerechte Betrachtung des typischen Einzelfalls. Am Ende des Lustspiels Die Juden, nachdem der Reisende sich selbst als Jude geoutet hat, bittet er den überraschten Gesprächspartner, „daß Sie künftig von meinem Volke etwas gelinder und weniger allgemein urteilen“.93 Seine Bescheidenheit sticht angenehm von der Arroganz der Christen ab. Die Namensgebung „Ein Reisender“ kann als Anspielung auf Ahasver und als Korrektur an den Vorbehalten gegen Vaganten verstanden werden. Lessing geht es im Sinn der Ästhetik des 18. Jahrhunderts offensichtlich schon in seinen frühen Typenkomödien nicht nur um Typen, sondern um eine individualisierende und differenzierte Einschätzung mancher Figur. Die Unterschiede zwischen den Individuen eines Volkes sind sprechender als die zwischen den Völkern.94 Lessing führt beides vor: am reisenden Juden eine angemessene Wachsamkeit gegenüber sich aufdrängenden, möglicherweise übereilten Schlüssen und am christlichen Baron das typische Vorurteilen-Aufsitzen. Als die wichtigsten Typen der praejudicia galten Thomasius die Vorurteile der Übereilung und der Autorität. Letzteres resultiert aus einer allzu großen Verehrung für andere, ersteres basiert auf zu großem Selbstvertrauen und der Eigenliebe. In Lessings Juden sucht der Reisende vorbildlich, sich gerade vor dem Vorurteil der Übereilung zu hüten. Als handfeste Indizien – ein falscher Bart beim Vogt mit dem sprechenden Namen „Krumm“ – auftauchen, ermahnt sich der Reisende selbst zur behutsamen Prüfung des Verdachtsmoments.95 Mehrfach kontrolliert er sich, um nicht „übereilt“ zu schließen.96 Er möchte keine Vorverurteilung des Vogts: In der Tat ist es nichts Geringes, einem Herrn seine Untergebnen so verdächtig zu machen. Wenn er sie auch unschuldig befindet, so verliert er doch auf immer das Vertrauen zu ihnen.97

Zurückhaltung des Urteils im Sinn einer sorgfältigen Prüfung hatte schon die Frühaufklärung empfohlen. Das Rezept steht in einer bis auf die Stoa zurückrei–––––––— 91 92 93 94 95 96 97

Lessing, Werke, I 389. Vgl. Lessing, Werke, I 45f. Vgl. auch Barner, Vorurteil, 35. Lessing, Werke, I 413. Fink, Nationalcharakter, 102f. Lessing, Werke, I 405. Ebd. I, 406, 409–411. Ebd. I 407.

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chenden Tradition. Man verweigert die Epoché, die Entscheidung zur Zustimmung eines Urteils, um ein unüberlegtes zu vermeiden.98 Als Gegenbeispiel demonstriert Lessing eine fadenscheinige Beweisführung, in der singuläre Erfahrungen, ungeprüfte Gerüchte und eigene Voreingenommenheiten sich zirkulär zu massiven Vorurteilen verdichten, im 6. Auftritt am Gesprächsbeitrag des Barons. Dieser beteuert gegenüber dem Reisenden, daß ihn „wirkliche Juden“ angefallen haben. Der Schulze habe vor einigen Tagen ihrer drei auf der Landstraße angetroffen. Wie er sie mir beschreibt haben sie Spitzbuben ähnlicher, als ehrlichen Leuten, gesehen. Und warum sollte ich auch daran zweifeln? Ein Volk, das auf den Gewinst so erpicht ist, fragt wenig darnach, ob es ihn mit Recht oder Unrecht, mit List oder Gewaltsamkeit erhält – Es scheinet auch zur Handelschaft, oder deutsch zu reden, zur Betrügerei gemacht zu sein.99

Vorurteile gelten in der Tradition als ungeprüfte Annahmen oder Einstellungen, aus denen sich Verhaltenskonsequenzen ergeben. Zu einer vorsichtigeren Einschätzung der Beweislage und zum Zweifel an der Täterkategorisierung hätte der Baron allen Grund. Er übernimmt vom Schulzen die Vermutung, daß die Gesehenen überhaupt Juden waren, sowie die eingefärbte Beschreibung, daß die verdächtigten Juden Spitzbubengesichter hatten. Ebenso wenig stört den Baron, daß es dem Schulzen zufolge drei Vaganten und nicht nur zwei waren und daß sie vor einigen Tagen gesehen wurden. Erhärtet werden generelle Aussagen durch ein einziges Exempel: „Die Juden haben mir sonst schon nicht wenig Schaden und Verdruß gemacht“. Daß ein Jude vom Baron die zweimalige Bezahlung eines unterschriebenen Wechsels erzwang, reicht diesem für die generelle und gnadenlose Verurteilung: „es sind die allerboshaftesten, niederträchtigsten Leute“.100 Die singuläre Erfahrung erlaubt dem Ressentimentgeladenen unter Mißachtung jeder erkenntnistheoretischen Reflexion die induktive Generalisierung. Ähnlich hatte Voltaire seinen Antisemitismus durch Experienz legitimiert.101 Lessing führt im nämlichen Auftritt der Juden vor, wie Ressentiments unsere Wahrnehmung beeinflussen: DER BARON

Und ist es nicht wahr, ihre Gesichtsbildung hat gleich etwas, das uns wider sie einnimmt? Das Tückische, das Ungewissenhafte, das Eigennützige, Betrug und Meineid, sollte man sehr deutlich aus ihren Augen zu lesen glauben – Aber, warum kehren Sie sich von mir?

DER REISENDE

Wie ich höre, mein Herr, so sind Sie ein großer Kenner der Physiognomie; und ich besorge, daß die meinige –

–––––––— 98 99 100 101

Beetz, Vorurteile, 17, 21f. Lessing, Werke, I 388. Ebd. I 388. Barner, Vorurteil, 45.

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DER BARON

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O! Sie kränken mich. [...] Ohne ein Kenner der Physiognomie zu sein, muß ich Ihnen sagen, daß ich nie eine so aufrichtige, großmütige und gefällige Miene gefunden habe, als die Ihrige.102

Lessing schneidet eine Diskussion über Physiognomik an, die im späteren Verlauf des 18. Jahrhunderts – etwa 1777/78 zwischen Lavater und Lichtenberg – an Brisanz gewann. Die physiognomische Vorurteilsstruktur wird an der Beobachtung selektiver Wahrnehmung verdeutlicht. Die semitische Gesichtsbildung wirkt auf den Antisemiten abstoßend, er liest – darin ein Vorgänger von Julius Streicher – den Augen Verschlagenheit ab. Lessing macht deutlich, wie sehr die körpersprachliche Interpretation eine Projektion darstellt. Solange der Blick des Barons unbefangen bleibt und er noch nicht ahnt, daß sein Gesprächspartner Jude ist, kann er an ihm keinerlei semitische Merkmale feststellen.103 Die überraschende Enthüllungspointe des Reisenden setzt für ihr Gelingen zum einen voraus, daß es sich um einen assimilierten Juden handelt,104 sie erhellt schlaglichtartig zum andern, daß hier von verschiedenen Rassen gar nicht mehr die Rede sein kann. Vom manipulierbaren Äußeren – das erweisen die Theaterrequisiten der jüdischen Bärte – wie von der erworbenen Pathognomik – der Baron betont die „aufrichtige, großmütige und gefällige Miene“ des Reisenden – läßt sich nur bedingt auf die ethnische Zugehörigkeit und die moralische Qualität eines Menschen schließen. Wie Vorurteile unsere Sinneswahrnehmung bestimmen, zeigt Lessing gleichfalls im Misogynen. Da der „Wumshäter“ allergisch auf die holde Weiblichkeit reagiert, kann vor ihm Hilaria nur in der Hosenrolle des Lelio reüssieren. Der Frauenhasser ist blind für die personale Identität, ja selbst für die täuschende Ähnlichkeit der Doppelrolle Lelio/Hilaria. Er bestreitet sie, weil Vorurteile wie gefärbte Gläser Sichttrübungen bewirken.105 Der Misogyne beruft sich auf sein verläßliches Augenmaß, das ihn die Unterschiede der Personen erfassen lasse: Der virtuelle Lelio erscheint ihm eine Handbreit größer als seine Schwester, „besser gewachsen und schlanker“ als sie.106 – Ein Musterfall für eine Wahrnehmungsverzerrung durch Vorurteile. Die schon dem englischen Empirismus vertraute Metaphorik der Optik für Vorurteile nutzt Lessing im Freigeist.107 Theophan erklärt Adrast, er hätte längst Julianes Augensprache, die ihre Zuneigung verrät, entziffern können,

–––––––— 102 103 104 105 106 107

Lessing, Werke, I 388. Vgl. Fink, Nationalcharakter, 102. Guthke, Lessing und das Judentum, 244. Lessing, Werke, I 468f. Vgl. Beetz, Vorurteile, 16f. Ebd. I 463. Beetz / Godel,, Entdeckte Vorurteile, 17f.; Godel, Vorurteil, 246ff.

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Manfred Beetz wenn Adrast gelassen genug wäre, richtige Blicke zu tun. Er betrachtet alles durch das gefärbte Glas seiner vorgefaßten Meinungen, und alles oben hin; und würde wohl oft lieber seine Sinne verleugnen, als seinen Wahn aufgeben.108

Der „Wahn“ konstituiert die empirische Wahrnehmung. Provozierend nicht nur für eine Komödie ist der Dramenschluß der Juden. Gesellschaftliche Barrieren und Vorurteile verhindern, daß Liebende sich verbinden. Die von Vorurteilen beherrschten christlichen Repräsentanten unter den Figuren werden von ihnen nicht geheilt. Der Diener mit dem scheinheiligen Namen Christoph fühlt in sich „die ganze Christenheit beleidigt“, weil er so spät erfährt, daß er einem Juden diente.109 Als er allerdings neben dem Versprechen der Entlohnung die entwendete Dose zurückerhält, dämmert ihm eine ‚neue‘ Einsicht, die über alte Ansichten freilich nicht hinaus kommt: „es gibt doch wohl auch Juden, die keine Juden sind“.110 In diesem mißglückten Differenzierungsversuch bestätigt die Ausnahme nur die Regel: Auf die Majorität der Juden trifft weiterhin der Schimpfname ‚Jude‘ zu. Der Baron hätte allen Grund zum Umdenken. Doch auch er revidiert sein antisemitisches Vorurteil nicht. Der „Himmel“ verhindert angeblich, daß er seinem Lebensretter seine Tochter, die ihn liebt, zur Frau gibt.111 Es siegt das juristisch bindende Präjudiz gegen eine Mischehe von Juden und Christen.112 Institutionelle Barrieren, die nicht vom Himmel errichtet sind, verhindern eine Integration und die Emanzipation der Juden in der Gesellschaft. Lessing prangert nicht „den teuflischen Mechanismus der Diskrimination“ an, wie Barner formuliert,113 sondern deren gesellschaftliche Bedingungen. Die Forschung – u. a. Barner selbst – hat nachdrücklich auf die sozialen und politischen Repressionen in Sachsen und Brandenburg-Preußen Mitte des 18. Jahrhunderts hingewiesen, denen die Juden ausgesetzt waren.114 Anders als im Nathan spielt Religiöses im Jugendwerk Lessings kaum eine Rolle.115 Martin Krumm, der den willkommenen Sündenbock für seine Untaten bei dem „gottlosen Gesindel“ der Juden findet, schließt: „Darum ist es auch ein Volk, das der liebe Gott verflucht hat“.116 Der Reisende räsoniert in der 3. Szene darüber, daß sich Juden und Christen in ihrem Verhalten nichts an Bosheit schenken. „Wie aber, wenn es bei der einen [Völkerschaft, M. B.] ein Religionspunkt, und beinahe ein verdienstliches Werk wäre, die andere zu verfolgen?“117 –––––––— 108 109 110 111 112 113 114

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Lessing, Werke, I 546. Ebd. I 413. Ebd. I 414. Ebd. I 413. Fink, Nationalcharakter, 103. Barner, Vorurteil, 43. Kopitzsch, Lessing, 33, 35, 43; Horst Möller, Aufklärung, Judenemanzipation und Staat, in: Grab (Hg.), Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation, 119–153, hier: 138ff.; Barner, Vorurteil, 31, 36, 40, 44f.; Freund, Erkenntliche Wahrheit, 133; Trepp Geschichte, 78f. Barner, Vorurteil, 39; Barner , Lessings Die Juden, 192. Lessing, Werke, I 380. Ebd. I 382.

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Auch Lessings Nathan kann zurecht als Drama der Verständigung über Vorurteilsschranken gelesen werden. Zur Sprache kommen nicht nur religiöse, kulturelle oder soziale Vorurteile, sondern vor allem ihre gefährlichen Wirkmechanismen. An Protagonisten, die von Ressentiments geheilt werden und an obstinaten Gegenspielern, deren Starrsinn bloßgestellt wird, trägt das anthropozentrische Lehrstück zur Erziehung des Menschengeschlechts bei. Das utopische Schlußtableau gibt sich auch hier keinen Illusionen über die geschichtlichen Realisierungschancen einer Integration der Juden hin.

Gert Sautermeister

Musik im Spiegel der Literatur Mozart und Don Giovanni zu Gast bei E.T.A. Hoffmann, Eduard Mörike und Hanns-Josef Ortheil Verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Musik und Dichtung sind gelegentlich Gegenstand konzentrierter Reflexionen geworden. Zu den eindringlichsten gehören jene, die Leonard Bernstein in sein Werk Musik – die offene Frage eingestreut hat.1 Ein Herzstück musikalischer – und sinngemäß auch dichterischer – Komposition ist für Bernstein die „Wiederholung“,2 beispielsweise die variierende und transformierende Wiederholung eines Motivs, durch Vorgänge wie „Umkehrung, Vergrößerung, Krebsgang, Verkleinerung, Modulation, Gegenüberstellung von Konsonanz und Dissonanz“.3 Bedenkt man etwa, welche Umwandlungen ein Motiv in einem lyrischen Gebilde erfahren kann oder mit welchem Nachdruck Thomas Mann für seine Motivkunst Richard Wagners Opernmusik als Modell namhaft gemacht hat, so springen die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen musikalischer und dichterischer Komposition sogleich ins Auge – und ins Gehör. Im übrigen ist es interessant, daß Bernstein die der Wiederholung eigentümlichen Verwandlungsvorgänge „metaphorische Resultate“ nennt und so eine ehrwürdige Stilfigur der literarischen Rhetorik auf musikalische Bauprinzipien anwendet.4 Auch die Nomenklatur bekräftigt die Tiefenbeziehungen zwischen den künstlerischen Gattungen! Wo Wesensverwandtschaft besteht, entsteht auch wechselseitige Erhellung, Anregung, Inspiration: sei es, daß die Musiker sich über Jahrhunderte hindurch von Lyrikern zu „Liedern“ anregen ließen, die wiederum eine gesellige Kultur der Salons und der häuslichen Soirées begleiteten,5 sei es, daß Schriftsteller von Komponisten zu Gedichten, Erzählungen, Romanthemen inspiriert wurden, wie etwa Thomas Manns Doktor Faustus von Schönbergs Zwölftonmusik oder von Beethovens Neunter Sinfonie; in spiegelbildlicher Umkehrung läßt Manns Protagonist, der Komponist Adrian Leverkühn, von Gedichten Klopstocks und Brentanos sich zu musikalischen Exerzitien beschwingen. Musik als Inspirationsquelle des literarischen Werks – das ist jedenfalls ein unerschöpfliches und noch wenig ausgeschöpftes Thema. Gewiß, es sind bemerkenswerte Arbeiten zu –––––––— 1 2 3 4 5

Leonard Bernstein, Musik–die offene Frage, Wien / München / Zürich / Innsbruck 1979. Ebd. 153. Ebd. 157. Zur Komplexität der Metapher vgl. den einschlägigen Artikel von E. Eggs in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 2001, V Sp. 1099–1183. Vgl. dazu Wolfgang Promies, Lyrik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur III/ II, hg. v. Rolf Grimminger, München 1980. 569–604.

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einzelnen Werken zu verzeichnen, dafür machen werk- und epochenübergreifende Studien viel zu selten ihre Aufwartung.6 Im Falle Mozarts hat die Feier seines 250. Geburtsjahrs manchen offenen Wünschen entsprochen und das Interesse an der literarischen Rezeption seines Werks neu motiviert, hoffentlich über den zeitgemäßen Anlaß hinaus.7 Erwünscht ist ein zeitloses Interesse zu Ehren der Musik und ihrer belletristischen Resonanz. Die literarisch-ästhetische Darstellung des großen Komponisten eröffnet dank ihrer vieldeutigen Komplexität Lesern und Interpreten eine ganze Reihe verschiedenartiger Zugänge, unabhängig von Jubiläen. Drei literarischen Werken gilt meine Aufmerksamkeit: den Erzählungen Don Juan von E.T.A. Hoffmann aus dem Jahre 1813 und Mozart auf der Reise nach Prag von Eduard Mörike aus dem Jahre 1855 sowie dem Roman Die Nacht des Don Juan von Hanns-Josef Ortheil, erschienen im Jahre 2000. Die drei Werke ergänzen einander: Während sich Hoffmanns Don Juan ganz auf die Oper selbst konzentriert, interessieren Mörike darüber hinaus auch die Lebensumstände Mozarts. Ortheil vereinigt beides – die Oper Mozarts und biographische Ereignisse, wobei er sich sowohl von Hoffmann wie von Mörike anregen läßt. Das literarische Triptychon, das durch diese Auswahl entsteht, zeichnet sich durch eine Reihe weiterer Gemeinsamkeiten aus. Beispielsweise dadurch, daß die Themen Eros und Tod in allen drei Werken im Vordergrund stehen, und vor allem dadurch, daß die drei Autoren in der Begegnung mit Mozarts Oper jeweils eine außerordentliche Erfahrung machen. Eine ästhetische Erfahrung, die sie existentiell berührt. Die literarische Rezeption der Musik und biographischer Begebenheiten zeugt von einer Modernität, die modellhafte Züge besitzt.

1. E.T.A. Hoffmann: „Don Juan“ Negative Theologie Eine der frühesten Deutungen des Don Giovanni, zweifellos aber die interessanteste, stammt aus der Feder E.T.A. Hoffmanns, des Schriftstellers und Komponisten. Dreißig Jahre nach der Uraufführung der Oper Mozarts verfaßte er eine Erzählung mit dem Titel Don Juan, der er den Untertitel beigab „Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen“.8. Und ein Enthusiast, ein höchst tiefsinniger, ist der Erzähler in der Tat. Er hat das Glück, –––––––— 6

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Einen Versuch hat Vf. vor einiger Zeit unternommen. Vgl. Gert Sautermeister, >Musik< im literarischen Werk. Dionysische Erbschaft und architektonisches Gefüge, in: Thomas Koebner (Hg.), Laokoon und kein Ende: Der Wettstreit der Künste, München 1989, 10–57. Verwiesen sei u.a. auf die überaus lesenswerte Studie von Dieter Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, Frankfurt a.M. / Leipzig 2005. Im folgenden zitiert nach: E.T.A. Hoffmann, Poetische Werke in sechs Bänden, Berlin 1958, I 8.

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auf einer Reise der „Oper aller Opern“,9 wie er sich ausdrückt, beizuwohnen, in einer Loge, die für ihn allein reserviert ist. Und so exklusiv wie sein Logenplatz ist auch seine Deutung der Oper. Schon zur Zeit Hoffmanns kursieren ja triviale Auslegungen der Handlung des „Don Giovanni“. Man erzählt sich, daß hier ein Weiberheld sein Unwesen treibt, der gleich zu Beginn des Stücks den Vater der von ihm verführten Donna Anna niedersticht, nach einigen Abenteuern dem Geist dieses Vaters in Gestalt einer Statue begegnet, die kurzzeitig zum Leben erwacht, den Verführer vergeblich zu Buße und Reue ermahnt, so daß der zuletzt zur Hölle fahren muß. Wie? fragt sich der Erzähler, ein „Bonvivant, der Wein und Mädchen über die Maßen liebt“ und bei einem Duell aus Notwehr den Gegner ersticht – ist der es denn wert, „daß die unterirdischen Mächte ihn als ein ganz besonderes Kabinettstück der Hölle auszeichnen“?10 Nein, Mozarts hinreißende und von schneidenden Dissonanzen durchzogene Musik lädt den Erzähler zu einem tieferen Verständnis der Oper ein. Und er entwickelt eine phantasievolle Auslegung, die auf der Bibel und der europäischen Geistesgeschichte fußt.11 Ich darf sie mit eigenen Worten hier resümieren. Die Natur habe Don Juan, so deutet ihn der Erzähler, durch Körpergestalt, Bildung und Gemüt so „herrlich“ ‚ausgestattet‘, daß er eine „nähere Verwandtschaft mit dem Göttlichen“ bezeuge. Seit dem Sündenfall im Paradies jedoch erliege der Mensch der uralten Versuchung, wie Gott sein zu wollen. Der Teufel selbst, der schon Eva und Adam verführt hat, habe dieses diabolische Streben nach Gottgleichheit in Don Juan verlegt und seine an sich „göttliche Natur“ mit schlimmen „Fallstricken“ versehen.12 Ein „ewiges brennendes Sehnen“ habe Don Juan ergriffen,13 und er habe sich angemaßt, eine gottgleiche Existenz schon auf Erden führen zu wollen. Diese Gottgleichheit habe er durch Frauenliebe angestrebt. Die ewige Seligkeit, die doch nach Auskunft der Bibel dem Menschen erst in einem jenseitigen Paradies gewährt sein kann, habe Don Juan mittels der Liebe schon hier und heute, im Diesseits, zu erlangen gehofft: „In Don Juans Gemüt“, so formuliert es der Erzähler,

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Ebd. 139. Ebd. 140f. Vgl. Borchmeyer, Mozart. Borchmeyer verweist mit Recht darauf, daß hier eine Mythenbildung entstanden ist, die dem Original, dem Text der Oper, widerspricht. Die Tradition dieser bis in die Gegenwart reichenden Mythenbildung zeigt Borchmeyer kritisch auf (142 ff.). Mein Erkenntnisinteresse richtet sich darauf, Hoffmanns ‚legendäre‘ Umdeutung interpretierend darzustellen und ihre psychologische Komplexität zu erfassen. Es handelt sich um die doppelsinnige Rezeption einer voll entfalteten Subjektivität, deren mythisierende Parteilichkeit auch dank ihrer Traditionsbildung aufschlussreich ist. Sie besitzt eine vom Original hinweg führende Wahrheit. Hoffmann, Werke, I 141. Ebd.

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Gert Sautermeister kam durch des Erbfeindes List der Gedanke, daß durch die Liebe, durch den Genuß des Weibes schon auf Erden das erfüllt werden könne, was bloß als himmlische Verheißung in unserer Brust wohnt.14

Die Sehnsucht nach einer absoluten Liebes-Erfüllung, habe von nun an den Don Juan umgetrieben und sei ihm zum Verhängnis geworden. E.T.A. Hoffmanns Erzählung unterscheidet also zwischen einem ursprünglichen Don Juan mit idealen Anlagen und einem Don Juan nach dem Sündenfall. Im übrigen ist er nicht der einzige Vertreter jener Gattung von Menschen, die von einer „unendlichen“ Liebes-Sehnsucht umgetrieben werden. Durch die Geschichte des Abendlands, vom mittelalterlichen Epos über Tristan und Isolde bis zu Richard Wagners gleichnamiger Oper, von Shakespeares Romeo und Julia bis zu Gottfried Kellers davon inspirierter Novelle und modernen Liebestragödien zieht sich der Reigen jener Herzensgemeinschaften, die den Anspruch auf eine absolute Erfüllung mit dem Liebestod bezahlten. Sie alle scheiterten an den Bedingungen des realen Lebens, das jeden Absolutheitsanspruch abweist. Nur die freie Einsicht in die Unvollkommenheit der Realität kann den zwanghaften Wunsch nach Vollkommenheit mäßigen. Eben diese Einsicht ist es, die Don Juan nach Auskunft des Erzählers unerträglich findet und die er mit Aggressionen gegen Gott und seine mangelhafte Schöpfung quittiert. Er fühlt sich genarrt durch die vollkommen scheinende Gestalt mancher Frau, deren Wesen sich ihm nach kurzer Zeit als unvollkommen enthüllt. So stößt sein rastloser Drang nach absoluter Erfüllung immer wieder auf eine Grenze, für die er Gott und seine Schöpfung nach Kräften verwünscht. Hohn und Rache für die erlittenen Enttäuschungen sind seine Antwort. Jede Frau, deren Reize er genießt, erniedrigt er zugleich, um das „Ungeheuer“ namens Gott zu provozieren, das seinem ursprünglichen Streben nach Vollkommenheit übel mitgespielt hat.15 Dergestalt wird Don Juan, so verstehe ich E.T.A. Hoffmann, zum Vollstrekker einer negativen Theologie. Dieser Liebesheld sieht seinen metaphysischen Drang nach Teilhabe an einem göttlichen Glück so radikal entzaubert, daß er, in seinem narzißtischen Stolz verletzt, die Verführung der Frau nurmehr zu ihrer Demütigung nutzt. Auf diese Weise triumphiert er über die kläglichen Geschöpfe eines nichtswürdigen Schöpfers. Der metaphysische Drang nach dem Höchsten verkehrt sich zur widergöttlichen Rebellion. Don Juan tritt als Luzifer auf, der die verführte Frau nur momentan beglückt, um sie dämonisch zu zerstören. Diese dämonische Kraft aber macht ihn vollends unwiderstehlich, so paradox das klingen mag. „Es ist“, so heißt es bei E.T.A. Hoffmann, „als könnten die Weiber, von ihm angeblickt, nicht mehr von ihm lassen und müßten, von der unheimlichen Gewalt gepackt, selbst ihr Verderben vollenden.“16 Eine einzige Frau nur, so der Erzähler, kreuze die Bahn des Don Juan als ebenbürtige Gegenspielerin und rette die Ehre des weiblichen Geschlechts, –––––––— 14 15 16

Ebd. 142. Ebd. Ebd. 133.

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wenn auch auf Umwegen: Donna Anna. Nicht allein der durch Don Juan herbeigeführte Tod ihres Vaters mache sie zur gleichwertigen Gegnerin Don Juans. Nein, „so wie Don Juan ursprünglich ein wunderbar kräftiger, herrlicher Mann war“,17 so sei Donna Anna ursprünglich „ein göttliches Weib“ und „vom Himmel dazu bestimmt“, „den [Don] Juan in der Liebe […] die ihm innewohnende göttliche Natur erkennen zu lassen und ihn der Verzweiflung seines nichtigen Strebens zu entreißen […].“18 Doch mit dieser Mission scheitere die Donna Anna, weil sie, um es salopp zu sagen, auf einen Don Juan in dämonischer Höchstform trifft, dessen einzige Lust darin besteht, sie, Donna Anna, „zu verderben […].“19 Noch heute ringen Opernbesucher ja mit der Frage, ob Don Juan die Donna Anna verführt habe oder nicht. Hoffmanns Erzähler hat zu dieser Streitfrage durch seine dezidierte Stellungnahme den Anstoß gegeben. Donna Anna, so erläutert er, erliege der Verführungskunst dieses Mannes und entdecke in sich selbst eine abgründige Leidenschaft, obgleich sie bereits mit einem anderen Mann verlobt ist. Ihr Selbstverständnis als sittliche Frau werde durch Don Juan erschüttert, sie erleide eine qualvolle Konfrontation mit einem ihr unbekannten Ich, es drohe ihr die Gefahr einer Ich-Spaltung. Mit Don Juans Verführung und ihrer leidenschaftlichen Hingabe, so sieht es der Erzähler, wird ihr die Liebe zu ihrem Verlobten Octavio als oberflächlich bewußt, doch zugleich erspürt sie auch das diabolische Element in dem Verführer und erlebt empört seine Flucht und seine Schuld am Tod ihres Vaters: Die „im Innersten ihres Gemüts in verzehrender Flamme wütende Liebe, die in dem Augenblick des höchsten Genusses aufloderte,“ brennt nun „gleich der Glut des vernichtenden Hasses“.20 In dieser Situation eines fundamentalen Zwiespalts, eines Liebeshasses, der „ihre Brust“ „zerreißt“, beschließe Donna Anna „Don Juans Untergang“, der allein ihrer gemarterten „Seele“ wieder „Ruhe verschaffen“ könne.21 E.T.A. Hoffmanns Erzähler erschließt dieses innere Drama der Donna Anna nicht aus dem Text des Libretto, der nur die Oberfläche ihres Seelenzustandes streift, er entwickelt es vielmehr aus der Tiefensprache der Musik Mozarts; sein Interesse gilt „den die Brust zerreißenden Akkorden des ersten Rezitativs“ Donna Annas und den „geheimen Anklängen“ „an die verzehrende Stimmung“ ihrer Seele.22 Erst jetzt, nach dieser musikalischen Selbstaussprache, könne Donna Anna die Verfolgung Don Juans aufnehmen, könne sie ihr „Rächeramt“23 durch seinen Untergang erfüllt sehen und ihre Integrität wiederherstellen; ihre ursprüngliche Lebenskraft jedoch werde sie nicht wiederfinden. Ihre Vitalität bleibe für immer versehrt. –––––––— 17 18 19 20 21 22 23

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Intensität und Psychologie der ästhetischen Erfahrung Als dritte Hauptfigur nach Don Juan und Donna Anna präsentiert sich bei dieser Opernaufführung der Erzähler selbst. Schon der Umstand, daß er dem Werk in einer Loge ganz für sich allein beiwohnen darf, ist vielversprechend genug. So kann er den „herrlichen Moment der poetisch-musikalischen Begeisterung“ voll ausschöpfen.24 Er tut dies mit allen seinen Sinnen. Dieser musikalische Enthusiast empfindet nicht nur das Gehörte mit allen Fibern und Fasern seines Gemüts, er sieht das Gehörte auch, er visualisiert es mit allen Mitteln seiner Vorstellungskraft. Wenn Donna Anna eine Arie intoniert, dann hört er den metallenen Klang und sieht gleichzeitig die Leuchtkraft ihrer Stimme: „Durch den Sturm der Instrumente leuchten wie glühende Blitze die aus ätherischem Metall gegossenen Töne!“25 – Diese synästhetische Verschränkung von Hören und Sehen entspringt einer besonderen Intensität des Erlebens. Der akustische Eindruck ergreift das Seelenleben mit solcher Macht, daß daraus eine optische Vision, ein Bild entsteht. Die Gleichzeitigkeit des Hörens, Sehens und Empfindens ist ein Zeugnis für die hingebungsvolle Empfänglichkeit des wahrnehmenden Subjekts und für die schöpferische Kraft seiner Sinne. Hier äußert sich eine neue Art empfangender und tätiger Subjektivität. Von der klassischen Kunstauffassung eines Goethe und eines Schiller unterscheidet sich das romantische Subjekt darin, daß es jede Distanz zum Kunstwerk aufhebt. Es zieht das Werk gleichsam in sein eigenes Leben hinein, wie der Erzähler bekennt: „Ich war so glücklich, mich allein in der Loge zu befinden, um ganz ungestört das so vollkommen dargestellte Meisterwerk mit allen Empfindungsfasern, wie mit Polypenarmen, zu umklammern und in mein Selbst hineinzuziehn!“26 Hier ereignet sich eine Identifikation zwischen Subjekt und Kunstwerk, die einer unio mystica gleicht, der ästhetischen unio mystica der nachreligiösen Moderne. Das Leben schlägt gleichsam seinen Sitz im Kunstwerk auf, das seinerseits vollkommen in das Leben eintritt. Bei aller Emotionalität, Sinnenkraft und Selbsthingabe beharrt E.T.A. Hoffmanns Musik-Enthusiast auf der geistigen Tätigkeit des Subjekts. Er entwirft ja, wie wir gesehen haben, eine ganz bestimmte, anspruchsvolle Interpretation der Gestalten Don Juans und Donna Annas. Mit letzterer stellt er darüber hinaus ein gewagtes Experiment an. In einem Akt identifikatorischer Hingabe verdoppelt er die hinreißende Darstellerin der Donna Anna und läßt die Doppelgängerin in seine Loge treten, wo er ein intimes Zwiegespräch mit ihr führt. Aus der Sphäre der Kunst versetzt er die fiktionale Donna Anna direkt in die des Lebens. Die „geheimen Beziehungen“, so deutet er selbst diesen Vorgang, „die mich so innig mit ihr verbanden“, hätten „eine Art Somnambulismus“ herbeigeführt, so daß „ihre Erscheinung auf dem Theater“ und zugleich in seiner Loge bruchlos –––––––— 24 25 26

Ebd. 134. Ebd. 133. Ebd. 134.

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ineinander spielten.27 Die auf der Bühne agierende und singende Donna Anna, so dürfen wir erläutern, hat in seinem Innenleben Wurzeln geschlagen und tritt als selbständiges Wunsch- und Traumbild daraus hervor, eine romantische Grenzgängerin zwischen Realität und Einbildungskraft. Indem der Erzähler einen Dialog mit ihr führt, gewinnt er eine höhere Bewußtseinsstufe, er hat den Eindruck, „als öffneten sich mir nun erst die Tiefen des Meisterwerks“.28 Es handelt sich um jenes vertiefte Verständnis der Oper und ihrer Hauptakteure, das wir eingangs dargelegt haben. E.T.A. Hoffmann demonstriert am Beispiel seines Erzählers eine moderne ästhetische Grunderfahrung – die dialogische Identifikation mit dem Kunstwerk, um es in einem Paradoxon auszudrücken. Sie bedeutet emotionale Einverleibung des Werks bzw. seiner Gestalten und zugleich analytische Erkenntnis. Diese Grunderfahrung besitzt den Doppelcharakter der Realität und des Traums oder des Wunsches. Damit hat die Szene jedoch nicht ihr Bewenden. Der Erzähler führt sie auf einen weiteren Höhepunkt hin. Daß er „jetzt erst das herrliche Werk des göttlichen Meisters“ – Mozarts Don Giovanni – „in seiner tiefsten Charakteristik richtig aufzufassen“ glaubt, beruhe auf einer gleichsam religiösen Wesens-Verwandtschaft: „nur der poetisch exaltierte Geist, der mitten im Tempel die Wahrheit empfing, (kann) das verstehen, was der Geweihte in der Begeisterung ausspricht.“29 Die Kunst und ihr Rezipient säkularisieren, geistesgeschichtlich gesprochen, die bisher durch die Religion überlieferte göttliche Botschaft. Hier greift Hoffmann ein aus der GenieÄsthetik des Sturm und Drang vertrautes Thema auf und verleiht ihm eine mystische Dimension. Als Vermittlerin der Tiefenbeziehung zwischen dem quasireligiösen künstlerischen Schöpfer und dem quasireligiösen „poetisch exaltierten“ Empfänger30 tritt Donna Anna auf. Sie ist dafür wie geschaffen. In einem Akt überraschender Offenbarung bekennt sie dem Erzähler, der seinerseits Opernkomponist ist: Ging nicht der zauberische Wahnsinn ewig sehnender Liebe in der Rolle der *** in deiner neuesten Oper aus deinem Innern hervor? – Ich habe dich verstanden: dein Gemüt hat sich im Gesange mir aufgeschlossen! – Ja (hier nannte sie meinen Vornamen), ich habe dich gesungen, so wie deine Melodien ich sind.31

Nicht allein zwischen dem Erzähler, dem Komponisten und Mozarts Oper, auch zwischen ihnen und Donna Anna herrscht Wesensverwandtschaft. Man könnte diese Trias wie eine verweltlichte Dreifaltigkeit begreifen, besitzt doch jedes ihrer Glieder das Attribut des „Göttlichen“ und „Überirdischen“ (Mozart – der „göttliche Meister“,32 Donna Anna – „ein göttliches Weib“33, der „mit dem –––––––— 27 28 29 30 31 32

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Überirdischen in unmittelbarem Rapport“ sich setzende Erzähler.34). So wird die geistesgeschichtliche Wende der Säkularisierung der Religion noch einmal profiliert. Es ist jedoch darauf zu achten, daß das „Göttliche“ oder „Überirdische“ jetzt in einen engen „Rapport“ zum Dämonischen,35 zur „Kunst der Hölle“ und zum „irdischen Verderben“ tritt.36 Während die Religion die beiden Reiche streng voneinander trennt, führt die neuere Kunst sie zusammen. Daraus erwachsen die rhetorischen Stilfiguren des Paradoxons und des Oxymorons, die Hoffmanns Erzählwerte maßgeblich mitprägen. An Don Juan hebt der Erzähler von Anfang an das konfliktreiche Ineinanderspiel der „göttlichen“ „und der dämonischen Kräfte“ hervor,37 das in die Vorherrschaft Luzifers mündet. Die Musik selbst, die diesen Umschlag zum Ausdruck bringt, ruft das „wunderbare, romantische Reich“ herauf, „wo die himmlischen Zauber der Töne wohnen“,38 und erregt fast im selben Atemzug „die Schauer des furchtbaren, unterirdischen regno all pianto“,39 Diese Verschränkung extremer Gegensätze steigert die Erlebnisintensität des Hörers und verbürgt den „herrlichsten Genuß des Meisterwerks“,40 Seither bildet in der Geschichte der ästhetischen Werke die Polarität und die Verschränkung des Übersinnlichen und Dämonischen, der Göttlichkeit und der Verdammnis eine der wirkungsvollsten Kontraste und Widersprüche. Ihre eigentliche Inkarnation in Mozarts Oper erblickt der Erzähler in Donna Anna. Ihr „frommes Gemüt“ rette sie zwar davor, dem Don Juan für immer zu verfallen und „des Satans geweihte Braut zu bleiben“, aber für eine kurze Spanne Zeit werde sie gleichwohl ein Opfer seiner „übermenschlichen Sinnlichkeit“.41 „Glut aus der Hölle durchströmte ihr Innerstes“, „wollüstiger Wahnsinn“, so heißt es weiter, zog sie zu ihm hin und drohte ihr Selbst aufzuspalten in eine „göttliche“ Bestimmung und die satanisch „verzehrende Flamme wütender Liebe“,42 ehe sie durch die Rache an dem Verführer und Mörder ihres Vaters ihr besseres Selbst wiederfindet, wenngleich diese Selbstfindung nach der Deutung des Erzählers durchpulst bleibt von der Unruhe, in die Don Juan sie versetzt hat. „Sie wird“, prophezeit der Erzähler, „dieses Jahr nicht überstehen“.43 An diesem Punkt trennt sich das Schicksal Donna Annas von dem ihrer Darstellerin. Letztere erleidet den Tod noch in der Nacht, die auf die Opernaufführung folgt. Der Grund? Sie hat sich vollkommen mit dem Elend ihrer Bezugsperson identifiziert und sich ihm biographisch anverwandelt, sich gleichsam –––––––— 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Ebd. 143. Ebd. 142. Vgl. ebd. 132. Ebd. 143. Ebd. 141. Ebd. 137. Ebd. 132. Ebd. Ebd. 144. Ebd. Ebd.

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darin aufgelöst. „‚Unglückliche Anna‘“, so hatte sie gesagt, als sie den Erzähler in seiner Loge verließ, „‚jetzt kommen deine fürchterlichsten Momente‘“, wobei „eine schnelle Blässe“ ihr Gesicht „entfärbte“ und ihre Hand „nach dem Herzen“ fuhr, „als empfände sie einen plötzlichen Schmerz“.44 Es ist denkbar, daß diese Opernsängerin niemals „jene innere, alles irdische Glück verzehrende Stimmung der Seele“ überwinden konnte, die der Verführer in Donna Anna und, nachhaltiger noch, in ihr selbst erweckt hat. So nimmt sie den vom Erzähler prophezeiten Tod ihrer fiktionalen Bezugsperson vorweg. Die darstellende Künstlerin übertrifft auf dem Weg der Identifikation die Fiktion, sie verliert Leib und Leben an sie. An der Darstellerin der Donna Anna macht die Erzählung den idealen Glücksfall und zugleich die äußerste Gefahr ästhetischer Rezeption transparent. Den Glücksfall der erkenntnisreichen Entäußerung des Subjekts an das Werk und die Gefahr des Selbst- und Realitätsverlusts. Die Opernsängerin gesteht dem Erzähler, „ihr ganzes Leben sei Musik, und oft glaube sie manches im Innern geheimnisvoll Verschlossene, was keine Worte aussprächen, singend zu begreifen“.45 In vollkommener Entsprechung zu dieser Erkenntnistiefe scheint es dem Erzähler, „als würden die geheimsten Ahnungen der entzückten Seele in Tönen festgebannt und müßten sich zur wunderbarsten Erkenntnis seltsamlich gestalten“.46 Zweifellos ist bei diesem Vorgang auch Eros im Spiel. Darauf deutet schon der „Ausdruck des dunkelblauen Auges“ der Sängerin: „jeder daraus leuchtende Blitz“, so erlebt es der Erzähler, „goß einen Glutstrom in mein Inneres, von dem alle Pulse stärker schlugen und alle Fibern erzuckten.“47 Analog dazu hat der Erzähler, der sich als Opernkomponist enthüllt, den Eros der Sängerin schon vor einiger Zeit erweckt: „‚dein Gemüt hat sich im Gesange mir aufgeschlossen [...] ich habe dich gesungen, so wie deine Melodien ich sind“.48 Dieser erkenntnis- und hingabefähige Eros ist das Gegenteil des selbstbezogenen Eros Don Juans, der die Frau verführt und sie sich auf demütigende Weise unterwirft. Gleichwohl droht der Eros der Sängerin, unbeschadet aller Erkenntnistiefe, sich zu verirren. Der „zauberische Wahnsinn ewig sehnender Liebe“49 neigt zum Realitäts- und Selbstverlust, ja zum Tode. So überzieht denn „Todesblässe“ das Antlitz der singenden Künstlerin auf der Bühne,50 Vorbotin ihres faktischen Tods wenige Stunden später. Welches Verhältnis entwickelt der Erzähler zu dieser Rezeptionsart der Donna-Anna-Darstellerin? Ein doppelgesichtiges! Sie ist ja nicht nur einen reale Person, sondern auch ein Wunsch- und Phantasiegebilde des Erzählers, das ihm zur Erkenntnis und zur existenziellen Erfahrung des künstlerischen Werkes verhilft; in diesem Wunsch- und Phantasiegebilde bannt er auch die ihm persön–––––––— 44 45 46 47 48 49 50

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lich drohende Gefahr der Selbstauflösung, die durch Überidentifikation mit dem Werk entsteht. Indem er in der Donna Anna-Darstellerin seinen Eros und seine Todesneigung spiegelt, kann er sich von letzterer befreien und dem erkenntnisfähigen Eros uneingeschränkt Raum gewähren. Für diesen Spiegelungs- und Befreiungsakt des Erzählers bezahlt die Opernsängerin mit ihrem Leben. Als der Erzähler um Mitternacht in seine Loge zurückkehrt, hofft er die wiederzusehen, die „mein ganzes Wesen erfüllt“.51 Die Hoffnung ist vergebens, stattdessen inspiriert ihn sein Eros zur Niederschrift jener Erkenntnisse über Mozarts Werk und seine Hauptakteure, die er unter anderem der Donna Anna-Darstellerin verdankt. Als er die Schrift um zwei Uhr morgens abschließt, glaubt er ihre unmittelbare Nähe zu spüren, ihre Stimme zu hören, und es ergreift ihn „ein seliges Gefühl“, das ihm das „ferne, unbekannte Geisterreich“ ankündigt, dessen „Herrlichkeit“ Gegenstand seiner Sehnsucht ist.52 Genau um diese Zeit, um zwei Uhr morgens, stirbt, wie er wenig später erfährt, die Sängerin. Die Koinzidenz der Ereignisse zum selben Zeitpunkt bezeugt die Wesensverwandtschaft zwischen dem Erzähler und ihr. Aber diese Verwandtschaft durchzieht auch eine wesentliche Differenz. In der Stunde ihres Todes verschafft die Sängerin ihm, dem Erzähler, das Erlebnis der Seligkeit. Im Augenblick des Sterbens öffnet sie sich ihm in einem Hingabe-Akt, den er über die räumliche Trennung hinweg erspürt. Gleichzeitig ist ihr Tod das Opfer, das sie um seinetwillen, um seines Überlebens willen, stellvertretend darbringt. Sie schützt ihn vor jener Überidentifikation mit der Kunst, die sie das Leben kostet. So lernt er in einer hochdramatischen Nacht auf die feine Grenze zwischen Kunst und Leben zu achten, die zu überschreiten er versucht war. Diese These läßt sich von einer anderen Seite her stützen. Vergleicht man den Erzähler mit dem Don Juan, so fällt eine wesentliche Ähnlichkeit auf. Dem Liebeshelden gleicht der Erzähler darin, daß er ein emphatischer Glückssucher ist. Auch er will, in einer Art säkularisierten Theologie, hier im Diesseits eine Erfüllung finden, die dem Menschen eigentlich erst im Jenseits gewährt werden soll. Die Musik ist seine Religion, durch die er in ein irdisches Paradies eintreten will. Aber er macht die Erfahrung, daß die Musik nicht mit dem Leben identisch ist. „Es war“, sagt er beim Hören der Oper, „als ginge eine lang verheißene Erfüllung der schönsten Träume aus einer anderen Welt wirklich in das Leben ein“53 – aber die Erfüllung steht im Zeichen des Konjunktivs, des ‚Als ob’; es war nur so, als ginge sie in das Leben ein. Der Eros, den der Erzähler in der Musik sucht, kommt ihm entgegen, aber er bleibt doch nur ein Klanggebilde: In Donna Annas Szene fühlte ich mich von einem sanften, warmen Hauch, der über mich hinwegglitt, in trunkener Wollust erbeben; unwillkürlich schlossen sich meine Augen, und

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ein glühender Kuß schien auf meinen Lippen zu brennen: aber der Kuß war ein wie von ewig dürstender Sehnsucht lang ausgehaltener Ton.54

Der Kuß, den der Erzähler durch die Musik zu empfangen glaubt, ist kein leibhaftiger, ist nur ein sublimierter Kuß, weniger noch, er ist die Sehnsucht nach einem Kuß. Nur in sublimierter, körperloser Gestalt kann die Kunst dem Glücksucher das ersehnte göttliche Erlebnis gewähren. Daher erträumt sich der Erzähler „alles auf Erden Verheißene“ nur in der Sphäre – des „Traums“, „wenn der Schlaf den Körper in bleiernen Banden festhält“.55 Nur der Traum, die Phantasie und die Kunst gewähren den Eintritt in die „ätherischen Gefilde“, die der „entzückten Seele“ für Augenblicke eine paradiesische Erfahrung gewähren.56 Es ist für Hoffmanns Erzählung bezeichnend, daß sie auch diese Erfahrung nicht als eitel Harmonie vorstellt, sondern als Durchmischung der Extreme, wie das Oxymoron „ein unaussprechlicher, himmlischer Schmerz“ zu erkennen gibt.57 Entgegen dem hergebrachten theologischen Verständnis der paradiesischen Erfüllung insistiert Hoffmanns Erzählung auf einer weitgespannten Polarität, die der Konsonanz wie der Dissonanz Raum gewährt und so das Erleben des Kunstwerks aufs Äußerste steigert. In die ästhetische Erfahrung des Paradiesischen hat E.T.A. Hoffmann den Sündenfall einkomponiert: Zeichen einer modernen Rezeptionshaltung.

Parva aesthetica Ist es verwunderlich, daß E.T.A. Hoffmanns Erzählung, deren Hauptthema die Musik ist, ihrerseits eine musikalische Komposition aufweist? Den von Leonard Bernstein genannten Wiederholungen und Verwandlungen eines musikalischen Motivs – wir haben sie anfangs zitiert – begegnen wir auch in der novellistischen Textur, dort vor allem im Bereich des Doppelmotivs Eros und Tod. Die erste Erzählsequenz, die dem ersten Akt des Don Giovanni gewidmet ist, pointiert in Streiflichtern den dämonischen Eros Don Juans und schlägt – mit dem Vater Donna Annas – das Todesmotiv an. Die zweite Sequenz transponiert das Eros-Motiv in die persönliche Begegnung zwischen dem Erzähler und der Darstellerin der Donna Anna, die dritte läßt es musikalisch wiederaufleben in der „trunkenen Wollust“ des Hörers während „Donna Annas Szene“,58 ehe der Tod sich in der „Totenblässe“ ihrer Darstellerin ankündigt und in dynamischen Steigerungen Don Juan selbst heimsucht, „unter den entsetzlichen Akkorden der unterirdischen Geisterwelt“.59 Die folgende vierte Sequenz führt den Erzähler –––––––— 54 55 56 57 58 59

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nach dem Ende der Oper vor; er spiegelt das Eros-Motiv noch einmal an sich selbst wider, wendet es dann expressiv, in einer abgestuften und variationsreichen Charakteristik, auf Don Juan und Donna Anna an, schlingt es gleichsam um die beiden Gestalten und verknüpft es durch diese Engführung mit dem Motiv des Todes: die „von tödlichen Martern beängstete Seele“ Donna Annas findet nur durch „Don Juans Untergang“ ihre Identität wieder.60 Diese Selbstfindung ist ihrer Darstellerin, der Opernsängerin, versagt, deren Tod die letzte Erzählsequenz mitteilt. Die Erzählung verknüpft diese vielfachen Spiegelungen und Brechungen eines Doppelmotivs mit einer partienweise unkonventionellen Erfindung von Geschlechterrollen. Mit der Donna Anna-Darstellerin setzt der Erzähler eine Gestalt seines Innern in Szene, eine weibliche Wunsch-Gestalt, die ihm neue Erkenntnisse vermittelt, wie umgekehrt diese Gestalt ihn, den Künstler, zum Organ ihres Kunst- und Selbstverständnisses wählt. Gelingende Kunst, so ließe sich sagen, überschreitet hergebrachte Geschlechtergrenzen, sei dies im rezeptiven Prozeß der Aneignung oder im produktiven der Hervorbringung. Das zweckfreie Spiel der Kunst übergreift die im Alltag herrschende Hierarchie und die zuweilen überdehnte Polarität der Geschlechter. Das verweist auf den utopischen Vorschein der Kunst und der ästhetischen Erfahrung in Anbetracht fortbestehender problematischer Geschlechterdifferenzen. Die Modernität der in Hoffmanns Erzählung dargestellten Ästhetik tritt am Ende vor dem Hintergrund des allgemeinen Kunstverständnisses in seiner Zeit markant hervor. Ironisch zitiert der Erzähler die Kommentare der Theaterbesucher zum Bühnengeschehen. Ihrem Bedürfnis nach Zerstreuung und ihren „dummklugen“ Allerweltsweisheiten61 setzt er eine andere Erlebnisqualität entgegen. Er deutet die Vorgänge auf der Bühne wachen Geistes und mit aufgeweckten Sinnen, er bringt ein existentielles Interesse ins Spiel, läßt sich begeistern bis zur Ekstase und erschrickt vor Dämonen, er schwebt auf Wolken und erschauert vor Tod und Teufel. E.T.A. Hoffmanns Don Juan bildet den Auftakt zu einem neuen Kunstverständnis. Das Kunstwerk kann die Menschen provozieren, in ihr Leben eingreifen, ihre Sinnlichkeit und ihren Geist freisetzen und sie über den Alltag hinausführen. Die Erzählung zeigt zugleich die ästhetische Produktivkraft des erkennenden Eros auf und die Gefahr der Überidentifikation des Hörers / Betrachters / Interpreten mit dem Werk. Der Erzähler erfährt an sich selbst, daß die Sphäre der Kunst und die des Lebens nicht kongruent sind und daß ihr Beziehungsreichtum auch subtiler Unterscheidungen bedarf. Hoffmanns romantisches Bravourstück schlug eine kräftige Bresche für aufregende und erregende Begegnungen mit Mozarts Don Giovanni. Man sollte den Autor Hoffmann nicht mit seinem Erzähler gleichsetzen, unbestreitbar jedoch ist, daß dessen Deutung der Gestalten Donna Annas und Don Juans Schule –––––––— 60 61

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gemacht hat und bis ins 20. Jahrhundert fortwirkte, bis zu Wolfgang Hildesheimers Mozart-Biographie.62

2. Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag Polyphonie der Lebensverhältnisse Der nächsten bedeutenden Mozart-Deutung in der deutschen Literatur begegnen wir 42 Jahre später, 1855, bei Eduard Mörike. Seine Erzählung Mozart auf der Reise nach Prag63 ist eine der schönsten und bewegendsten in der Geschichte der deutschen Novellistik. Der schwäbische Schriftsteller errichtet darin seiner Passion für Mozarts Musik ein reichverziertes Denkmal. Er versetzt uns in den Herbst des Jahres 1787, als Mozart in Begleitung seiner Gemahlin Konstanze mit der Postkutsche nach Prag fährt, um dort den Don Giovanni zur Uraufführung zu bringen. Mörike nutzt die Fahrt des Ehepaars zur eingehenden Darstellung ihres Ehelebens und der Persönlichkeit Mozarts. Nicht dessen Genie allein, auch seine häuslichen Umstände, sein Temperament, sein Charakter und seine Lebensweise ziehen Mörikes Aufmerksamkeit auf sich. So stellt denn seine Erzählung eine vorzügliche Ergänzung zu E.T.A. Hoffmanns musikalischer Deutung dar. Obgleich Mörikes Schrifttum in den Epochen des Biedermeier und des Poetischen Realismus verankert ist, haftet seiner Darstellungsweise nichts Biedermeierliches und nichts poetisch Verklärendes an. Den Geist des Biedermeier atmet allenfalls Mörikes Liebe zum Detail, wenn er beispielsweise Mozarts Postkutsche oder seine Kleidung beschreibt, und biedermeierliche Atmosphäre atmet auch die Familienidylle in freier Natur, die Mozart einmal, von Sehnsucht erfüllt, entwirft. Aber der Entwurf bleibt ein Traum, dem Mozart sich und seiner Familie nie zur Realität verhelfen kann. Sein Leben mutet auf beinahe unerhörte Art modern an, gezeichnet von einer Unruhe, die an Unrast grenzt. Denn Mörike erkennt in Mozart einen der frühen Repräsentanten des freien Künstlers, der nur nebenbei mit der Gunst eines Mäzens rechnen kann, ansonsten jedoch seine Werke auf dem Markt anbieten muß. Eine schmale Pension des Kaiserlichen Hofs bewahrt Mozart nicht vor anstrengender Tätigkeit: „Ein Teil der Nacht war stets der Komposition gewidmet. Morgens früh, oft lange noch im Bett, ward ausgearbeitet. Dann machte er von zehn Uhr an, zu Fuß oder im Wagen abgeholt, die Runde seiner Lektionen, die in der Regel noch einige Nachmittagsstunden wegnahmen.“64 „Und wenn er nun, durch diese und andere Berufsarbeiten, Akademien, Proben und dergleichen abgemüdet, nach frischem Atem schmachtete, war den erschlafften Nerven häufig nur in neuer Aufregung eine scheinbare Stärkung vergönnt“.65 Die Erholung, die –––––––— 62 63 64 65

Vgl. Anm. 11. Im folgenden zitiert nach: Eduard Mörike, Werke, I, Leipzig o. J. Mörike, Werke, 548. Ebd. 549.

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Mozart sucht, hat ein doppeltes Gesicht. Sie entspricht einerseits seiner „außerordentlich“ entwickelten „Neigung […] für gesellige Freuden“,66 auf der anderen Seite bedeutet sie Anspannung, Konzentration und Werbung für das eigene Künstlertum, sind es doch „die vornehmen Häuser“ der Stadt Wien, die „sein unvergleichliches Talent“ auf „Festen, Zirkeln und Partien“ sehen und hören, vorzeigen und zur Schau stellen wollen.67 Dazu gesellt sich bei Mozart ein Erlebnishunger, der aus einer Vielfalt von „Bedürfnissen“ hervorgeht, wie man sie entweder nur in den zerstreuungsbegierigen Adelskreisen seiner Zeit kennt oder in der modernen Erlebnisgesellschaft. Mörike erweist sich als feiner Beobachter, der Mozarts ungestüme Erlebnissuche detailverliebt schildert: Er fuhr und ritt sehr gern in Gesellschaft über Land, besuchte als ein ausgemachter Tänzer Bälle und Redouten und machte sich des Jahres einige Male einen Hauptspaß an Volksfesten, vor allem am Brigitten-Kirchtag im Freien, wo er als Pierrot maskiert erschien.68

Nicht nur seines rastlosen Erlebnishungers wegen wirkt Mozart wie ein Vorläufer modernen Lebens. Er wirkt so auch aufgrund seiner Bereitschaft, sich bei seinen Unternehmungen ganz und gar dem jeweiligen Fest, dem jeweiligen Anlaß, kurz: dem Augenblick hinzugeben. Denn im modernen Leben ist der kontinuierliche Gang der Existenz und der Geschichte in einzelne herausragende Augenblicke aufgesprengt, in exeptionelle Ereignisse, neuerdings auch „events“ genannt. Gleichwohl ist in Mozarts Erlebnisfähigkeit ein Zug enthalten, der ihn grundlegend von den Vergnügungspilgern der Gegenwart unterscheidet. Suchen diese bloß ihren eigenen „Hauptspaß“, also die kurzweilige Befriedigung ihrer persönlichen Belange, so durchwirkt ein ausgesprochen sozialer Zug Mozarts Vergnügungen. Seine Geselligkeit entfaltet sich mit Vorliebe im Medium der „Gastfreundschaft“, dergestalt, daß er sonntags gern eine musikalische Soiree bei sich zuhause veranstaltet oder „zwei-, dreimal in der Woche“ einigen „Freunden und Bekannten“ ein „ungezwungenes Mittagsmahl an seinem wohlbestellten Tisch“ anbietet.69 Diese extrovertierte Großzügigkeit paart sich bei Mozart mit einer ganz unbürgerlichen Sorglosigkeit, wenn er etwa Bekannten in ihrer Not unbedenklich Geld borgt, ohne auf seinen eigenen ärmlichen Hausstand zu achten, oder wenn er Bürgschaften leistet, ohne Sicherheiten zu fordern.70 Mörike hebt die Schattenseite dieser an sich schönen „Großmut“ Mozarts71 kritisch hervor. Er hätte, meint er, „mit etwas mehr Umsicht und Klugheit noch immer einen sehr ansehnlichen Gewinn von seiner Kunst“72 ziehen und so seiner Frau allerhand wirtschaftliche Sorgen ersparen können. Allerdings räumt Mörike ein, daß der dem freien Markt eigentümliche Konkurrenzgeist immer –––––––— 66 67 68 69 70 71 72

Ebd. 547. Ebd. Ebd. 548. Ebd. 547. Vgl. ebd. 549f. Ebd. 550. Ebd.

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wieder das materielle Wohlergehen Mozarts einschränke und daß darüber hinaus der Publikumsgeschmack „noch weit davon entfernt“ ist, „sich entschieden für Mozarts Musik zu erklären. Diese lauterste Schönheit, Fülle und Tiefe befremdete gemeinhin gegenüber der beliebten, leicht faßlichen Kost“.73 So habe das Wiener Publikum den Figaro mit eklatantem Desinteresse abgefertigt, weshalb Mozart seine nächste Oper, eben den Don Giovanni, den Prager Musikfreunden widmete, die den Figaro mit herzlichem Beifall aufgenommen hatten. Kurz, Mozart kann trotz seines „wachsenden Rufs“74 noch keineswegs mit sicheren Einkünften aus seiner Tätigkeit rechnen, er muß, anstatt „ungeteilt seiner wahren Bestimmung nachleben“ zu dürfen, „die Hälfte seiner Kraft und Zeit dem bloßen Gelderwerb […] opfern“.75 Welches Resümee zieht der Erzähler aus den Lebensumständen Mozarts? Was bedeutet es für Mozart, wenn er die Hälfte seiner Zeit und Energie für die leidige Brotarbeit verbraucht, wenn er sich dann mit umso größerem „Kraftaufwand“ auf die unerledigten Kompositionen stürzen muß und wenn er danach dem „lang gespannten Geist […] die nötige Rast“ durch eine Reihe rastloser „Vergnügungen“ gewähren möchte?76 Mörikes Antwort ist ambivalent. Sie unterscheidet zwischen der Kunst und dem Leben. Sie gibt zu verstehen, daß die von Mozart gesuchte Erholung, so anstrengend sie ist, auch künstlerisch produktiv sein kann, weil sie die „geheimnisvollen Wege“ geht, „auf welchen das Genie sein Spiel bewußtlos treibt“ und weil es auf diese Weise die „feinen flüchtigen Eindrücke“ empfängt, „wodurch es sich gelegentlich befruchtet“.77 Es kennzeichnet den Zartsinn und die Delikatesse Mörikes, daß er auch in Mozarts Vergnügungs- und Zerstreuungsbedürfnis künstlerische Impulse zu entdecken vermag. Auf der anderen Seite ist sich der Erzähler bewußt, daß Mozarts Zersplitterung in schöpferische Tätigkeit, Arbeitsfron und Erholungssuche die nachteiligsten Folgen für sein Leben hat, genauer: für sein Lebens- und Selbstgefühl. Es drängt sich dem Erzähler die schmerzliche Betrachtung auf, daß dieser feurige, für jeden Reiz der Welt und für das Höchste, was dem ahnenden Gemüt erreichbar ist, unglaublich empfängliche Mensch […] ein stetiges und rein befriedigtes Gefühl seiner selbst doch lebenslang entbehrte.78

Wollte Mozart in seinem Selbst ruhen und sich seiner Identität kontinuierlich vergewissern, so müßte er nicht nur seiner Selbstbestimmung gemäß leben, was ihm schon aus ökonomischen Gründen verwehrt ist. Er müßte auch Maß halten, was ihm sein Temperament und sein Naturell versagen. „Genießend oder schaffend, kannte Mozart gleichwenig Maß und Ziel“, resümiert der Erzähler –––––––— 73 74 75 76 77 78

Ebd. 550. Ebd. 552. Ebd. Ebd. 548. Ebd. Ebd. 547.

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knapp und prägnant.79 – Das „Maß“ ist ein klassisches und erst recht ein biedermeierliches Ideal. Der Erzähler nennt es bewußt als ein durch Tradition legitimierter Maß-Stab, um davon Mozarts Neigung für das Extrem abzuheben, seine Empfänglichkeit für das „Höchste“, seine bis zum Äußersten strebende Produktivität, sein unstillbares Verlangen nach Lebensgenuß. Der geniale Komponist erscheint als exzentrischer Charakter, der den Lebensvorstellungen seiner Zeit und nachfolgender Epochen auffällig widerspricht, ein Nonkonformist ohne jede Koketterie, vielmehr aus Veranlagung und aufgrund der ihm aufgedrungenen Lebensumstände. Mozarts diskontinuierliche, in Extreme aufgespaltene und rastlose Existenz reißt ihn während der Reise nach Prag zu dem Seufzer hin: „‚Allmittelst geht und rennt und saust das Leben hin – Herr Gott! bedenkt mans recht, es möchte einem der Angstschweiß ausbrechen!‘“80 Es ist mehr als das Bewußtsein der Vergänglichkeit, das sich hier Ausdruck verschafft. Nein, hier bricht sich das Krisenbewußtsein eines Menschen Bahn, der sich unentwegt selbst verzehrt, eines Grenzgängers des Lebens, den die Gewißheit streift, jetzt schon, im jugendlichen Mannesalter, auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod zu balancieren. Der Erzähler verleiht seinem körperlichen und seelischen Kräfteverschleiß eindringlich Sprache: Seine Gesundheit wurde heimlich angegriffen, ein je und je wiederkehrender Zustand von Schwermut wurde, wo nicht erzeugt, doch sicherlich genährt an eben diesem Punkt und so die Ahnung eines frühzeitigen Todes, die ihn zuletzt auf Schritt und Tritt begleitete, unvermeidlich erfüllt. Gram aller Art und Farbe, das Gefühl der Reue nicht ausgenommen, war er als eine herbe Würze jeder Lust auf seinen Teil gewöhnt.81

Der Zustand der Schwermut, der Mozart periodisch heimsucht, führt ein weiteres Extrem mit sich, das er nicht zu steuern vermag: eine anhaltende Untätigkeit, worin er „tagelang verharrte, […] keinem Trost zugänglich, indem er mit Seufzen und Klagen neben der Frau oder stumm in einem Winkel vor sich hin den einen traurigen Gedanken, zu sterben, wie eine endlose Schraube verfolgte“.82 Dergestalt gesellt sich zur anstrengenden schöpferischen Tätigkeit Mozarts und zur rastlosen Vergnügungssuche von Zeit zu Zeit eine lähmende Depression, auch dies ein Zeugnis für sein in extremen Gegensätzen zerrissenes Leben. Es ist die Wesensverwandtschaft des Melancholikers, die es Mörike ermöglicht, Mozarts depressive Anfälle und sein frühzeitiges Todesbewußtsein so hellsichtig aufzuspüren. Mörikes fragile körperliche Verfassung, seine Neigung zur Hypochondrie, seine Gewißheit – als Pastor erst, dann als Lehrer – seine poetische Berufung zu verfehlen: all dies macht ihn empfänglich für Mozarts periodisch wiederkehrende Schwermut. Aber Mörike weiß auch, daß die Verzweiflung am Leben und an sich selbst auf Umwegen, jenseits der bewußten –––––––— 79 80 81 82

Ebd. 548. Ebd. 546. Ebd. 549. Ebd. 551.

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Kontrolle des Künstlers, zu einer Inspirationsquelle werden kann. Das Unglück selbst kann dem Schaffen zum Glück ausschlagen: Doch wissen wir, auch diese Schmerzen rannen abgeklärt und rein in jenem tiefen Quell zusammen, der, aus hundert goldenen Röhren springend, im Wechsel seiner Melodien unerschöpflich, alle Qual und alle Seligkeit der Menschenbrust ausströmte.83

Es zeichnet das Mozart-Porträt Mörikes aus, daß es eine Vielfalt von Gründen für die tragische Lebensgeschichte des großen Komponisten namhaft macht. „Schicksal und Naturell und eigene Schuld“ nennt Mörike selbst in einem Atemzug, ergänzend führt er die „Ungunst der Zeit“ und die Konkurrenzsituation an.84 Diese mehrstimmige Motivation eines Künstler-Porträts zeugt von einer außerordentlichen Tiefensicht und einem seltenen Weitblick gleichzeitig. Am Beispiel Mozarts demonstriert Mörike, auf welche Weise ein rückblickender Betrachter die Anteile der Individualität und des Gesellschaftlichen, des angeborenen Temperaments und der Zeitumstände, der eigenen Verantwortung und des Zufalls gegeneinander abwägen und in ein schwebendes Spannungsverhältnis versetzen kann. Soweit ich beurteilen kann, hat diese mehrstimmige Betrachtungsart aus dem 19. Jahrhundert bis heute niemand übertroffen. Nur der Begriff dafür, „Polyperspektivismus“, ist auftrumpfender geworden.

Unwillkürliche Erinnerung und Spiel der Sinne Zurück zur Reise nach Prag. Als das Ehepaar Mozart an einem schönen Herbsttag Mittagsrast hält und der Musikus sich in einem Schloßgarten ergeht, ereignet sich unversehens eine höchst malerische und eigentlich ‚unerhörte Begebenheit‘. Sie führt direkt in das Geheimnis künstlerischen Schaffens hinein. Mozart hält an einem Springbrunnen inne, bei dem ein Orangenbaum „voll der schönsten Früchte steht“.85 „Durch diese Anschauung des Südens“, so bemerkt der Erzähler, fühlt er sich unversehens an eine Szene aus seiner Knabenzeit erinnert, in Italien, am Golf von Neapel. Er weiß nicht, wie ihm geschieht, alle seine Sinne erwachen.86 Während sein Gehörsinn mit dem Geplätscher des Springbrunnens den Wellenschlag des Meers verknüpft, vertieft sich sein Gesichtssinn in eine unmittelbar vor ihm hängende Frucht, empfindet der Tastsinn seiner Hand ihre, so heißt es, „herrliche Runde“ und „saftige Kühle“, erwacht sein Geruchssinn, indem er die „duftige Frucht beständig unter der Nase hin und her“ wirbelt,87 ehe er intuitiv, ohne sich dessen bewußt zu sein, mittels eines kleinen Messers die Orange „von oben nach unten langsam durch–––––––— 83 84 85 86

87

Ebd. 549. Ebd. 550. Ebd. 559. Meine Deutung der Szene, unabhängig von der Borchmeyers (Anm. 7) entstanden, berührt sich mit dieser da und dort. Ich sehe darin ein Zeugnis für die Eindringlichkeit und Einprägsamkeit der szenischen Gestaltungskunst Mörikes. Mörike, Werke, 559.

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schneidet“,88 wobei sein Geschmackssinn nur angeregt, nicht gestillt wird. Mit der „Einatmung des köstlichen Geruchs“ sich begnügend, fügt Mozart die getrennten Hälften der Orange „sachte wieder zusammen, ganz sachte, trennt und vereinigt [er] sie wieder“.89 Bei diesem ganzen Vorgang, erfahren wir, ist eine „längst verwischte musikalische Reminiszenz“ wach geworden, weshalb er „bald den Anfang, bald die Mitte einer Weise unhörbar zwischen den Lippen“ bewegt.90 Was hat sich hier zugetragen? Man pflegt immer wieder auf Marcel Proust zu verweisen, wenn von der Rolle der unwillkürlichen Erinnerung für den Künstler die Rede ist, namentlich auf seinen Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, wo der Erzähler durch den Geschmack der Madeleine, eines französischen Gebäcks, unversehens an seine Kindheit erinnert wird und sich dorthin zurückversetzt sieht. Man sollte, statt an die berühmte Madeleine, gelegentlich auch an Mörikes und Mozarts Orange denken. Wir wohnen der Entstehung einer Komposition bei dank der schöpferischen Energie der Erinnerung und der stimulierenden Kraft der Sinne. Mozart versetzt sich, angeregt durch das fließende Wasser und einen Orangenbaum, in ein Jugenderlebnis im fernen Süden zurück, bei dem ein Wasserspiel mit Orangen, begleitet von melodischen Gesängen, seine Aufmerksamkeit fesselte. Jetzt, 17 Jahre danach, versenkt er sich mit aller seelischen Intensität in die Szene von damals und vermeint, „wieder dieselbe Musik“ zu hören, ergänzt durch eigene Melodien. Unbewußt setzt er alle Sinne ein, um das Vergangene zu vergegenwärtigen. Gesichtssinn, Tastsinn, Geruchssinn, motorische Bewegung dienen ihm als Stimulantien, gleichsam als Opiate, um Psyche und Erinnerung in Schwung zu halten und die „musikalische Reminiszenz“ zu erneuern. Und, so bekennt er, „von ungefähr springt ein Tanzliedchen hervor, Sechsachteltakt, mir völlig neu. – Halt, dacht ich, was gibt’s hier? Ich sehe näher zu – alle Wetter! das ist ja Masetto, das ist ja Zerlina!“91 Im ersten Akt des Don Giovanni war eine kleine Szene „unerledigt“ geblieben, „Duett und Chor einer ländlichen Hochzeit“.92 Unbewußt hat Mozart seither nach einer passenden Melodie gesucht, heute hat sie sich ihm endlich geschenkt, ist sie zur Welt gekommen, angefeuert durch das Spiel seiner Sinne, gestützt auf sein visuelles Gedächtnis, das ihn zurückführt in die „lachende Landschaft am Golf von Neapel“, inspiriert durch sein musikalisches Erinnerungsvermögen, das die „fröhlichen Melodien“ von damals wieder heraufklingen läßt, während seine erfinderische Phantasie ihm gleichzeitig den „Tanz der Zerline“ vor Augen zaubert.93 Dergestalt hat ein an sich geringfügiger Anlaß, Wassergeplätscher und eine reife Frucht, die Totalität seiner kontemplativen und produktiven, seiner intuiti–––––––— 88 89 90 91 92 93

Ebd. 560. Ebd. Ebd. 559f. Ebd. 577. Ebd. Ebd. 578.

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ven und musischen Kräfte entbunden. Mozart ist in das glückliche Stadium getreten, in dem Arbeit und Spiel sich wechselseitig durchdringen.

Eros und Tod. Geselligkeit Nimmt es bei dieser idealen Konstellation wunder, wenn auch Eros seine Aufwartung macht? Das ländliche Brautlied beginnt mit den Verszeilen: Liebe Schwestern, zur Liebe geboren, Nützt der Jugend schön blühende Zeit! Hängt ihr’s Köpfchen in Sehnsucht verloren, Amor ist euch zu helfen bereit. 94

Mit dem hilfsbereiten Gott der Liebe ließe sich in der Tat die wunderbare Begebenheit abschließen, wäre da nicht dem Komponisten ein Mißgeschick widerfahren, als er die Orange unabsichtlich, von seiner Intuition gelenkt, in zwei Hälften aufgeschnitten hat. Eigentlich hat er damit eine schöne symbolische Handlung vollbracht, denn die beiden Hälften, die er sachte trennt und wieder vereinigt, deuten auf Braut und Bräutigam, die, im Augenblick noch getrennt, nach Vereinigung streben. Aber zum Leidwesen Mozarts handelt es sich um eine der Orangen jenes Baums im Schloßgarten, der ausgerechnet heute dem Schloßfräulein zum Verlobungsfest geschenkt werden sollte. Die vorzeitig gepflückte und aufgeschnittene Frucht – ist sie jetzt nicht ein vorwitziges Sinnbild dafür, daß die Braut nicht ganz so unberührbar ist, wie es sich damals vor der Hochzeit gehört? Daß sie vorzeitig von der Frucht Amors zu kosten trachtet, also einer unschicklichen, ja unsittlichen Unternehmung zuneigt? Mozart selbst bringt diese Sinngebung ins Spiel, wenn er den biblischen Sündenfall zitiert und die Orange zum Apfel umbenennt, den er „im Paradiese“ des Schloßgartens unerlaubterweise gekostet hat. Der Eigentümer jedoch, ein Graf und seine Gemahlin, verzeihen, in schönstem Einverständnis mit dem Fräulein Braut, ihrer Tochter, dem berühmten Komponisten seinen Frevel, und dies umso lieber, als Mozart sein Brautlied in Noten faßt und daraus ein Brautgeschenk macht, das in die aufgeschnittene Frucht zu liegen kommt. So wird aus dem Sündenfall ein Glücksfall. Mozart deutet das biblische Geschehen neu und erhebt es zur Wirkungsstätte nicht des zürnenden alttestamentarischen Gottes, sondern des lebensfrohen Amors, des Gottes der Liebe. Im selben Atemzug läßt Mozart, dank Mörikes genialem Einfall, eine weitere Bedeutung seines Brautgeschenks aufblitzen. Das musikalische Werk, das er hervorbrachte, hat seinen Ursprung im Gott der Liebe; das Brautlied zeigt es eindringlich. Amor bzw. Eros war es, der den Komponisten Mozart angeregt hat. Schon das Wasserspiel im fernen Süden, das er als Dreizehnjähriger erlebt

–––––––— 94

Ebd.

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hatte, war vom Geist und vom Begehren des geflügelten Gottes beschwingt worden.95 Heute durfte er eine musikalische Renaissance erleben. Man tut der Szene im Schloßgarten keine Gewalt an, wenn man sie so freundlich interpretiert. Aber man sollte eine andere, kritische Deutung nicht ausschließen. Mörike ist ein Meister in der Präsentation ambivalenter Bedeutungen. Mozart verfolgt sein Ziel immerhin mit einer gewissen Unbedenklichkeit. Er wirbt um die ersehnte Melodie, die ihn lockt und ihm von ferne sich ankündigt, die ihn anzieht und die sich ihm halb entzieht, mit allen Fasern seiner Existenz, als gelte es, sich einer Geliebten zu bemächtigen. Und er ergreift zuletzt die Melodie, indem er sich vergreift – eben an jenem fremden Eigentum namens Orangenbaum. So führt sich Mozart denn hier wie ein musikliebender Don Juan auf, ein Don Juan in Noten. Und wie sein Liebesheld zahlt er einen Preis für seine Werbung und seine erfolgreiche Suche – nämlich die Übertretung der geltenden Ordnung. Bei weniger kultivierten Gastgebern hätte er seinen „Frevel“ leicht mit einer Haftstrafe abbüßen müssen: „um ein Haar“, so sagt er selbst, „säß ich jetzt, statt hier vergnügt zu tafeln, in einem abgelegenen Arrestantenwinkel des gräflichen Schlosses“.96 Mörike hat solche und andere Deutungsmöglichkeiten nicht offengelegt. Er hat sie vielmehr in Anspielungen versteckt und dem Leser nur zum Erraten überlassen. Auch eine zweite Bedeutung des Orangenbaums hat er nur andeutungsweise, gleichsam mit dem Filigranstift, umrissen. Der Baum hat eine wechselvolle Geschichte erlebt, in deren Verlauf er einmal erkrankt ist und abzusterben drohte. Eugenie, dies der Name der Braut, die den Baum zu ihrem Zögling und Liebling erkoren hatte, mußte diesem Prozeß hilflos zusehen, ehe eine Art Wunderheilung dem Baum neues „Wachstum“ und neue „Fruchtbarkeit“ schenkte. So war sie Zeugin eines drohenden Todes geworden. Und diese Zeugenschaft ist es, die sie mit Mozart noch intensiver als bisher verbindet. Eugenie steht als Braut nicht nur, wie Mozart selbst, in einem vertrauten Verhältnis zu Eros, worauf Mozarts Gastgeschenk eindringlich hinweist, sie steht auch mit dem Tod auf vertrautem Fuß, und bezeugt dadurch ihre doppelte Wesensverwandtschaft mit Mozart. Mörike zeigt nun im weiteren Handlungsverlauf, daß Mozarts Musik nicht nur im Eros fundiert ist, daß der Tod ihre zweite wesentliche Inspirationsquelle darstellt. Aber Mörike zeigt dies nicht sogleich, mit eilfertiger Unverzüglichkeit. Kunstbewußter Erzähler, der er ist, schlägt er einen heiter-geselligen Umweg ein, um desto dramatischer das Kontrastbild des Todes zu erzeugen. Mörike versetzt Mozart in die gastliche Adelsgesellschaft, die den Komponisten verehrt, er verhilft dem Erzähltalent Mozarts, seinem Klavierspiel und seinen Tanzkünsten zu vollem Glanz, er läßt die Liebenswürdigkeit und spielerische Improvisationsgabe seiner Gastgeber aufleuchten, und läßt sie gemeinsam mit Mozart köstliche Verse aus dem Stegreif dichten. So entfaltet sich das Verlo–––––––— 95 96

Borchmeyer (Anm. 7) hebt die erotische und die musikalische Symbolik dieser Szene überzeugend hervor (297). Mörike, Werke, 570.

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bungsfest Eugeniens mit heiterer Ausgelassenheit; zwei Jahre vor Beginn der Französischen Revolution skizziert Mörike ständeübergreifende Gemeinsamkeiten zwischen Aristokratie und Bürgertum. Die Kunst, die Mozart repräsentiert, findet in den geselligen Umgangsformen gebildeter Adelskreise ein lebhaftes Echo; man huldigt zwanglos-unbefangen dem Genius des bürgerlichen Künstlers und erlebt die persönliche Begegnung mit ihm als Auszeichnung. Mörike zeigt die Anfänge einer Genie-Verehrung, die bis heute das Verhältnis des Publikums zu Mozart bestimmt. Allerdings hat die in der kultivierten Aristokratie entwickelte Verehrung einen originellen Grundzug. Wenigstens sieht das Mörike so. Mozarts Gastgeber sind für ungewöhnliche Zumutungen aufgeschlossen und zu nachhaltiger Erschütterung fähig. Und Mozart mutet ihnen in der Tat Ungewöhnliches zu. Er läßt auf dem Flügel das Finale des „Don Giovanni“ widertönen, in das er seine persönlichen Todesvisionen einfügt hat. Die ihn bedrängende „Ahnung eines frühzeitigen Todes“ und die Angst vor seiner Unausweichlichkeit übersetzt Mozart in die Begegnung Don Giovannis mit dem von ihm erschlagenen Komtur, dessen Stimme „vom Grabe […] her urplötzlich das Gelächter“ des durch die Nacht schwärmenden Helden „unterbricht“.97 Die Erscheinung des Erschlagenen als Gespenst bei Don Giovannis „Nachtmahl“, der „lange, entsetzenvolle Dialog“ zwischen beiden, die Aufforderung des Geistes zu „Buße“ und Umkehr, der erhabene Trotz des Helden, der sich „im ungeheuren Eigenwillen“ der Hölle ausliefert – diese Variationen des Sterbens und des Todes treffen den Hörer, nach Mörikes Auskunft, „wie elektrisch“; sie vertreiben ihn „aus seinem gewöhnlichen Selbst“ und machen ihm seine Endlichkeit schlagartig bewußt.98 Selbst der „Nüchternste“ werde in der Begegnung mit dem „Übersinnlichen“, dem Jenseits des Lebens, über „die Grenze menschlichen Vorstellens […] hinaus gerissen“.99 Wenn Don Giovanni endlich untergeht, „noch mit dem vollen Ausdruck der Erhabenheit in jeder Gebärde“ – „wem zitterten“, fragt Mörike, „nicht Herzen und Nieren vor Lust und Angst zugleich?“100 Vor Angst, daß Don Giovannis Untergang unabwendbar, vor Lust, daß er dem Tod seinen unbeugsamen Stolz entgegensetzt und als „blinde Größe“ den „Schmerz“ der „Selbstvernichtung“ in Kauf nimmt. Seele und Körper werden durch die Musik elementar erschüttert, gleichsam zu Tode erschreckt: „jener furchtbare Choral ‚Dein Lachen endet vor der Morgenröte!‘ erklang durch die Totenstille des Zimmers“, so erzählt Mörike. „Wie von entlegenen Sternenkreisen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, Mark und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht“.101 Das physische und psychische Erlebnis des Mozartschen Finales, „Mark und Seele durchschneidend“, ist zugleich ein metaphysisches – ist die „übersinnliche“ Erfahrung des Todes mitten im Leben. –––––––— 97 98 99 100 101

Ebd. 608. Ebd. 605. Ebd. 605. Ebd. 610. Ebd. 609.

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Es ist vor allem Eugenie, die in Mozarts Finale wie in seiner gesamten Erscheinung die Ankündigung seines frühzeitigen Todes erspürt. Sie ist es denn auch, die nach Mozarts Weiterreise Richtung Prag auf ein Gedicht stößt, das in eindringlichen Bildern die Unvermeidlichkeit des Todes nahe rückt.102 Nicht nur der Schatten des Todes führt in Mörikes Blickrichtung von der Lebensgeschichte Mozarts zum Finale seines Protagonisten. Auch sonst kann der Leser dieser Erzählung nicht umhin, von sich aus Verbindungslinien zwischen Mozarts Biographie und seiner Oper zu ziehen. Namentlich die von Mörike hervorgehobene Unrast Mozarts, eine Unrast im Komponieren wie in der Vergnügungssuche, lenkt einen bei der Lektüre assoziativ auf einen Grundzug Don Giovannis hin – auf jene Unrast, die ihn im Reich des Eros umhertreibt. Sie ist das Stigma seiner Existenz, und sie wäre es nicht, hätte Mozart sie in seiner Lebenspraxis als Komponist und Vergnügungssuchender nicht selber zutiefst erfahren.

3. Ortheil: Die Nacht des Don Giovanni E.T.A. Hoffmann und Mörike – diese bedeutenden Mozart-Darsteller der schönen Literatur haben einen nicht weniger bedeutenden Fortsetzer und Erneuerer gefunden in Hanns-Josef Ortheil, dem Romancier unserer Gegenwart. Im Jahre 2000 ist Ortheils Roman Die Nacht des Don Giovanni103 erschienen, ein literarischer Wurf mit kühnen Einfällen. Von Mörike übernimmt Ortheil, um es vorwegzunehmen, das lebhafte Interesse an Mozarts Lebensumständen, an seiner Ehe mit Constanze, an seinem Haushalt und seinen materiellen Wechselfällen als freier Künstler, so daß wir in Rückblenden miterleben, wie der in Wien zunächst gefeierte Komponist allmählich vernachlässigt wurde, seinen großbürgerlichen Lebensstil mit einem kleinlich-armseligen vertauschen mußte, und nun in Prag, anläßlich der Uraufführung des Don Giovanni, auf eine Lebenswende hofft. Ortheil knüpft also dort an, wo Mörike aufgehört hatte: bei Mozarts Prager Aufenthalt nach der gemeinsamen Reise mit Ehefrau Constanze. Wiederholt läßt Ortheil während dieses Aufenthalts eine langjährige Verehrerin Mozarts zu Wort kommen, die Josepha Duschek, die mit kokettem Eifer von Mozarts gespanntem Verhältnis zu seinem jüngst verstorbenen Vater erzählt. Einem Vater, der seinen Sohn mit Hingabe, ja unter vielen Opfern förderte, aber ihm auch einen Lebensernst und eine Zielstrebigkeit abverlangte, gegen die Mozart mehr und mehr rebellierte, gegen die er seinen Freiheitsdrang ins Feld führte, seinen Willen zu einer ungebundenen, unbürgerlichen Selbstbehauptung, so daß sich eine klassische Vater-Sohn-Opposition entwickelte, die mit dem Tod des Vaters keineswegs ihr Ende gefunden hat. Denn seither fühlt sich Mozart eines Kontrahenten beraubt, der ihn aggressiv geliebt hat, seither ist sein –––––––— 102 103

Das Gedicht Ein Tännlein grünet wo stammt aus Mörikes Feder. Im folgenden zitiert nach: Hanns-Josef Ortheil, Die Nacht des Don Giovanni, München 2002.

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eigener Liebeshaß gleichsam verwaist, seither kreist er wie gebannt um diesen Tod, muß er sich ihm stellen und ihn durch seine Musik meistern. So verschafft uns Ortheil nicht nur Einblick in Mozarts familiale Sozialisation, er macht auch, über Mörike hinaus, ein wesentliches Motiv für das Finale seiner Oper transparent, für seine musikalische Auseinandersetzung mit dem Tod. Und es leuchtet ein, daß Mozart mit dem Tod des Vaters mehr als je zuvor sich auf Constanze angewiesen sieht, seine vertrauteste Lebensbegleiterin, die einzige, die seine merkwürdige Schaffensweise versteht, ein in Sprüngen sich vollziehender, unregelmäßiger Arbeitsprozeß, der von Ablenkungen und Zerstreuungen unterbrochen werden kann. Mozarts Kompositionsweise ist regellos unbürgerlich und wird von einer unterirdisch wirkenden Kraftquelle mitgefördert, wie ihn Mörike am Beispiel der Orangenepisode so eindringlich beschrieben hat. Die wichtigste Figur in Ortheils Roman aber ist, abgesehen von Mozart selbst, Giacomo Casanova, der große Abenteurer, der im reifsten Mannesalter sich in Prag eingefunden hat, just als die Proben zu Mozarts Oper in vollem Gang sind. Zwar ist der historische Casanova tatsächlich um diese Zeit in der Hauptstadt Böhmens gewesen, aber die bedeutende Rolle, die er bei der Inszenierung der Oper gespielt hat, ist erfunden.104 Es handelt sich um eine der glücklichsten Erfindungen der Literatur- und Musikgeschichte. Denn dieser Casanova entfacht einen Wirbel, dem kaum ein Leser widerstehen dürfte. In Abwesenheit des Grafen Pachta, der ihm seine großzügige Gastfreundschaft gewährt, räumt er dessen Palais um, setzt dessen Dienerschaft in Bewegung und inszeniert ein venezianisches Maskenfest mit einem köstlichen Nachtmahl und einer Sensation sondergleichen. Der Mittelpunkt dieser Sensation ist Signore da Ponte, der Verfasser des Libretto von Mozarts Oper, ein alter Freund Casanovas, vielmehr ein Freundfeind, den Casanova in Prag zu seinem Hauptfeind erhebt. Erhebt und erniedrigt im selben Atemzug. Denn da Ponte ist der Verantwortliche für die Figur des Don Juan, die er sich aus älteren Quellen herausgefischt und nach seinen eigenen Bedürfnissen zurechtgemacht hat. Dieser Don Juan trägt die bekannten Züge des traditionellen Liebeshelden und zugleich die des Verführers da Ponte, eines „Unholds“ der Liebe, eines gemeinen Süßholzrasplers, der die Frauen zu umgarnen und zu täuschen pflegt, sie zur Unzeit bedrängt, womöglich mit Gewalt, jedenfalls mit unanständiger Eile, bis sie ihm zu Willen sind, worauf er ihnen die kalte Schulter und den nackten Hintern zeigt, sie bloßstellt und sich zum nächsten Fischzug aufmacht, seine unsauberen Netze auswerfend mit verfänglichen Schmeichelreden, immer mit brünstigem Tempo und hochgeschwelltem Segel. Diesen Dunkelmann des Liebesgewerbes erkennt Casanova auf der Bühne im Don Juan wider. Es handelt sich um jenen luziferischen Eroberungstypus, wie ihn E.T.A. Hoffmann nach seinem Sündenfall beschrieben hat, um jenen enttäuschten und rachsüchtigen Don Juan, der die –––––––— 104

Daß Casanova sich für Mozarts Oper nachhaltig interessiert hat, beweist ein von ihm selbst verfaßter (aus seinem Nachlaß stammender) Text, der das Sextett des zweiten Akts umgestaltet.

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Verführung der Frau mit ihrer Erniedrigung verknüpft und die ursprüngliche Noblesse eingebüßt hat, die ihn einmal auszeichnete. Gegen diesen Typus macht Casanova Front, indem er ihn entzaubert, ja ihn bloßstellt, und zwar auf dem Fest, das er haarfein durchkalkuliert hat, so haarfein, daß da Ponte, von Casanovas feurigen Gerichten erregt, eine skrupellose Verführung riskiert, bei der er aufs schändlichste ertappt und bestraft wird, vor aller Augen, besonders vor den Augen der anwesenden Opernsängerinnen. Seines Bleibens in Prag ist nicht länger, und seine Funktion als Librettist übernimmt, dank der akrobatisch ausgeklügelten Intrige, Casanova selbst. Er übernimmt sie und er dehnt sie aus auf die Gestaltung des Bühnenbilds und die Führung der Opernsängerinnen und -sänger. Mit dem ganzen Gewicht seiner Lebenserfahrung gibt sich Casanova der neuen Aufgabe hin, und diese Lebenserfahrung macht ihn zum Antitypus des Don Juans traditionellen Gepräges, des Verführers in der Manier da Pontes. Casanova verkörpert den ursprünglichen Don Juan, den Don Juan, wie ihn E.T.A. Hoffmanns Erzählung vor dem Sündenfall skizziert hat, jenen Glücksucher, der den göttlichen Funken der Liebe immer wieder zu entzünden weiß, nicht nur um seiner selbst willen, nein auch um des Glücks der Frau willen. „Die Liebe“, so resümiert Casanova in einem inneren Monolog seine Erfahrung, keiner verstand mehr davon als er, […] er hatte nichts anderes sein Leben lang studiert, in Hunderten, Tausenden von Fällen, und er hätte nicht sagen können, daß irgendeiner dem andern gleich gewesen wäre. […] Jedes Mal erschien die Liebe einem neu, unverbraucht, frisch, sie verwandelte einem die Welt. Aber war sie wirklich jedes Mal etwas Neues? Nicht im geringsten, die Liebe blieb immer dieselbe. Man genoß sie, und nach dem Genuß hatte man allen Grund, sich betrogen zu fühlen, hereingelegt, von einem alten Zauber getäuscht. War es denn so? Aber nein, man liebte die Illusion, nichts konnte einem die Lust verderben, diese Illusion wachsen zu sehen, sie anzuschüren und sie erneut auszukosten, im Glauben, diesmal für immer glücklich zu sein. Und es war ja auch ein Glück, ja, das war es. Es gab kein größeres Glück als die Liebe, sie war die Vervollkommnung aller menschlichen Regungen. Wenn er geliebt hatte, war er froh gewesen, wenn er geliebt worden war, sogar glücklich, er hatte es sich selbst immer wieder gesagt und dieses Glück auch bekannt, und er hatte gelacht über die faden Moralisten, die behaupteten, es gebe kein wahres Glück auf dieser Erde. Auf dieser Erde! Als ob man es noch anderswo suchen könnte!105

Casanovas Liebes-Credo hat den Elan bewahrt, der den Don Juan ursprünglich beseelte, das Verlangen nach einer paradiesischen Erfahrung, nach einer Glückseligkeit auf dieser Erde. Aber diesen Casanova trennt auch ein feiner, ein subtiler Unterschied von jenem ursprünglichen Don Juan. Er ist für die Realität offen, für die Erfahrung, daß der erstrebte Liebeszauber sich immer wieder als eine Illusion erweisen kann, aber nicht etwa als eine enttäuschende und deprimierende Illusion. Denn solange der Zauber währt, verschafft er den Liebenden einen Schutzraum, ermöglicht er ihnen die „Vervollkommnung aller menschlichen Regungen“, stiftet er Glück. Casanova kann, im Unterschied zum Don –––––––— 105

Ortheil, Nacht, 267f.

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Juan E.T.A. Hoffmanns, nie so enttäuscht werden, daß er die Frau erniedrigen möchte. Er ist der realitätsoffene, der erfahrene Don Juan vor dem Sündenfall. Sein Begehren ist nicht absolut und kann folglich nicht in abgrundtiefe Enttäuschung münden. Es ist vielmehr wissend und vermag den Zauber der Illusion bewußt als Quelle des Glücks zu nutzen. Man wird sich vielleicht wundern, daß Mozart in Ortheils Roman sich so bereitwillig der Liebesphilosophie Casanovas öffnet und ihn zum Mitspieler bei den letzten Aufführungsproben wählt. War das von da Ponte verfaßte Libretto nicht fast abgeschlossen? Hatte Mozart sich mit seiner Musik nicht auf den Text da Pontes – und damit auf dessen Don Juan – festgelegt? Durchaus nicht… Mozarts Musik besitzt, das erriet Casanovas ästhetisches Empfinden sogleich, einen über den Wortlaut des Textes hinausweisenden Überschuß. Die häufig simple Sprache da Pontes tritt durch den Reichtum und die Fülle der Melodien Mozarts in den Hintergrund. „Là ci darem la mano“ beispielsweise – dieser sprachlich schlichte Wechselgesang: ist er nicht, so empfand es Casanova, musikalisch „vollkommen“, enthält er nicht „alles, was die Liebe ausmacht[e], das anwachsende Begehren, die süchtigmachende Illusion, den Gleichklang der Empfindungen?“106 Don Juans musikalisches Potential, diese Entdeckung macht Casanova, ist weitaus vielfältiger als seine Textgestalt, und Casanovas theatralisches Bühnen-Spiel sollte von nun an dieser Vielfalt entsprechen, es sollte Elemente der Liebeskunst Casanovas mimisch und gestisch in sich aufnehmen, sollte sie in Bewegung und Kostümierung widerspiegeln, sollte sie mit einer neuen Dramaturgie des Genießens, mit den erlesenen Vergnügungen des Gaumens, verbinden. So würde Don Juans Attraktivität bis in jede Gebärde, bis in das Bühnenbild und bis in seine Tafelfreuden hinein spürbar. Mit anderen Worten: der Don Juan im Text da Pontes läßt sich nicht mehr verdrängen, aber er kann durch die Musik Mozarts und die Dramaturgie Casanovas sich selbst stellenweise übertreffen, so daß sich eine Balance zwischen dem Don Juan des Textes und dem theatralisch agierenden Casanova ergibt. Diese Mischform aber taufen Mozart und Casanova gemeinsam auf den Namen Don Giovanni. Und Casanova, der neue Dramaturg, erläutert dem Komponisten diese Mischgestalt aufs anschaulichste: ‚Don Giovanni muß die Zuschauer auch glauben machen, daß die Frauen ihn liebten […] er muß um sie werben, seine starke Anziehungskraft muß so fühlbar werden, daß man sich fragt, ob nicht auch seine Verfolgerinnen sich immer noch nach ihm sehnen. Donna Elvira zum Beispiel – sie träumt, auch wenn sie hinter ihm her ist, von nichts anderem, als bald wieder in seinen Armen zu liegen.‘107

So ist denn Mozarts Don Giovanni eine „Kreuzung aus vielerlei Phantasien“,108 mit Ortheil zu sprechen, wir könnten auch sagen eine „Kreuzung“ zweier abendländischer Mythen, die sich um den dämonischen Don Juan einerseits, um den Glückstifter Casanova andererseits ranken. Man könnte argwöhnisch –––––––— 106 107 108

Ebd. 269. Ebd. 271f. Ebd. 372.

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anmerken, daß diese Mischgestalt am Ende nichts weiter als eine „Theaterfigur“109 und noch dazu eine aristokratische ist, die vom Lauf der Geschichte längst überholt wurde. Man würde sich indes täuschen. Denn Mythen sind nicht lebensfern, sie sind poetische Erzählungen von Menschheitsträumen und Lebenserfahrungen. Und Ortheil, der moderne Romancier, betont diese Dimension der Mythen dadurch, daß er jeden Mythos mit der Lebensgeschichte seiner Romanfiguren verknüpft, mit den Biographien da Pontes und Casanovas. Am meisten jedoch bewegt den Leser, daß Ortheil diese beiden Gestalten mitsamt Mozarts Oper auf das Leben anderer Personen seines Romans einwirken läßt, Personen, die zunächst der Oper gänzlich fernstehen. Namentlich die Gestalt der jungen Gräfin Pachta ist hier zu nennen. Von ihrem Vater in einem frommen Damenstift untergebracht, erleidet sie eines Nachts den Andrang schwerer Träume, die von ihrer erwachenden Sexualität, vor allem aber von ihrer Angst davor künden. Im Fortgang der Handlung wird diese Angst durch abenteuerliche Begebenheiten auf atemberaubende Weise genährt. Auch das Auftreten da Pontes berührt die junge Gräfin unheimlich, während die Gegenwart Casanovas ihrem Eros schmeichelt und ihr Selbstvertrauen einflößt. Ortheils faszinierender Einfall besteht darin, den Angsttraum der jungen Gräfin so zu gestalten, daß er der sexuellen Offensive gleicht, die Don Giovanni bei Donna Anna ergreift. Am Abend der Uraufführung des Don Giovanni entkommt sie unerkannt dem Damenstift, dank ihres Dieners Paolo, mit dem sie die Kleider getauscht hat, und erlebt in der Oper angesichts der Liebesgeschichten des Helden noch einmal dramatisch den eigenen Konflikt zwischen den natürlichen Regungen des sexuellen Erwachens und der noch fortwirkenden Angst davor. Zunächst ergreift die Angst sie von neuem: All das, was sie jetzt erkannte, war ihr zu nahe, als handelte es sich beinahe um Szenen ihres eigenen Lebens. […] Ähnelte Donna Annas Furcht nicht ihrer eigenen Furcht nach dem dunklen Traum? Und hatte sie, Anna Maria, nicht genau von diesem Eindringling geträumt, der jetzt seinen Degen zog, um sich mit Donna Annas Vater zu duellieren?110

Die junge Gräfin nimmt im Theater die Gelegenheit wahr, ihr Trauma aufzulichten und aufzulösen, indem sie seinen Urheber in Don Giovanni und dessen Untergang hineinphantasiert: Wie befreit hatte sie dieses Ende verfolgt, als hätte sie ihm selbst den letzten Todesstoß hinab in die Hölle versetzt! Mit eigenen Augen hatte sie ihn stürzen und sich auflösen sehen in der verzehrenden Glut […]!111

Erst durch diesen Befreiungsakt wird die junge Frau empfänglich für die andere anziehende Gestalt, die Casanova gleichzeitig dem Don Giovanni einkomponiert hat: jene „wendige Gestalt eines jungen verführerischen Mannes, der den Degen funkeln ließ, die Frauen umarmte“112 – und der so agierte und sang, als –––––––— 109 110 111 112

Ebd. 372. Ebd. 357. Ebd. 377. Ebd. 358.

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dürfe sie ihren „standhaften“ Selbstschutz gegen die „Verführung“ endlich aufgeben.113 Die Musik Mozarts und die Inszenierung Casanovas entbinden in der jungen Frau eine kathartische Wirkung, dergestalt, daß sie, in das Damenstift, das züchtige, zurückkehrend, den auf sie wartenden Paolo ohne Zögern seiner Verkleidung beraubt und mit ihm ihr erstes Liebesfest feiert. Mit dieser Feier schafft Ortheil eine Kontrafraktur zum Finale in E.T.A. Hoffmanns Don Juan. Dort wirkt das Beispiel der Donna Anna tragisch in das Leben hinein: ihre Darstellerin vertieft ihren Liebesschmerz in einem Akt der Überidentifikation und macht aus der theatralischen Fiktion tödlichen Ernst. Anders Ortheil, der die Kunst zur schöpferischen Lebenskraft erhebt. Einer schöpferischen und ständeübergreifenden Lebenskraft. Das Liebesfest, das er inszeniert, ereignet sich zwischen der Gräfin und ihrem Diener, einem Bauernsohn mit musikalischen Neigungen, dem Casanova zuvor schon zum Selbstbewußtsein verholfen hat und dem an Mozarts Oper seine Berufung zum Musiker aufgegangen ist. So tritt die Kunst unter der Regie Mozarts und Casanovas in doppelter Weise ins Leben ein: indem sie die Menschen zur Liebe erweckt und indem sie Standesgrenzen sprengt. Klingt das nicht wie ein Märchen? Ja, aber wie ein wahres, der Wirklichkeit vorgreifendes Märchen. Denn kaum zwei Jahre nach der Uraufführung des Don Giovanni brach die Französische Revolution, die ständesprengende, aus. Länger sollte es dauern, viel Wasser sollte die Moldau in Prag und die Donau in Wien hinunterfließen, bis Frauen sich erkühnten, nach dem Beispiel der Gräfin Pachta, in Angelegenheiten der Liebe selbst Initiativen zu ergreifen und Regie zu führen. Lassen wir die drei literarischen Werke Revue passieren, so fällt uns unter ihren zahlreichen Gemeinsamkeiten eine besonders auf: die außerordentliche Erfahrung, die Mozarts „Don Giovanni“ inspiriert. E.T.A. Hoffmanns Erzähler gerät beim Hören in eine dionysische Ekstase, Mörike sieht sich durch den Dialog zwischen Don Giovanni und Komtur über „die Grenze menschlichen Vorstellens […] hinaus gerissen“, „wo wir das Übersinnliche“, Tod und Jenseits, „schauen und hören“ und unserer selbst nicht mehr mächtig sind,114 für Casanova kann ein einziges Lied die Essenz der Liebe suggestiv zusammenfassen.115 Die Kunst erschüttert die Menschen in ihren Grundfesten, sie eröffnet ihnen unbekannte Seiten ihres Ichs oder spiegelt das ihnen Vertraute faszinierend wider. Und sie tut dies, indem sie Geist und Körper, Seele und Leib durchdringt. Ganz gleich, ob Hoffmanns Erzähler „in Donna Annas Szene“ wie „von einem sanften, warmen Hauch“ elektrisch berührt wird und „in trunkener Wollust“ erbebt,116 ob der „furchtbare Choral“ des Finales „Mark und Seele“ des Hörers durchschneidet,117 ob die Gräfin Pachta von den „brennenden, sich –––––––— 113 114 115 116 117

Ebd. Mörike, Werke, 609. Ebd. 305. Hoffmann, Werke, 62. Ebd. 609.

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in ihr Inneres einbrennenden Klängen“ erfaßt wird118 und den beschleunigten Pulsschlag ihres Herzens spürt:119 stets ist die Erfahrung der Musik auch ein körperliches Ereignis. Ein Ereignis, das folgenreich sein kann. Die junge Gräfin sieht und hört in der Oper nicht nur „bedrohliche Bilder und Szenen ihres eigenen Lebens“,120 nein, die Musik ändert von Stund an auch dieses Leben und macht sie zur liebesfähigen Frau. Am Beispiel von Mozarts Musik entfalten die Schriftsteller den Traum von der Magie und Verwandlungskraft der Kunst. Sie erschüttert den Menschen wie in früheren Jahrhunderten nur das Wort Gottes es vermochte und ihrem „mächtigen Zauber“ kann sich, wie es in Ortheils Roman heißt, höchstens „die Liebe“ vergleichen.121 Gleichzeitig stiftet sie den Geist des Hörers zum Ideenschwung an und führt ihn auf interessante Reflexionsstufen, denen wir begegnen in E.T.A. Hoffmanns Deutung der Hauptakteure, in Mörikes mehrstimmigem, reich motivierten Mozart-Porträt, in Ortheils Umgestaltung des Don-Juan-Mythos. Manches davon mag wissenschaftlich anfechtbar sein, doch nicht darum geht es in erster Linie, sondern um die Offenheit und Intensität des miterlebenden Hörens und Sehens. Daß Miterleben auch zur Überidentifikation mit dem Kunstwerk verführen, daß es die Grenze zwischen Kunst und Leben verwischen kann, zum Nachteil des hörenden oder lesenden Subjekts, legt E.T.A. Hoffmanns Erzählung mit subtiler psychologischer Sonde offen. So skizzieren die hier besprochenen Werke höchst produktive wie auch problematische Seiten modernen Rezeptionsverhaltens. Vielleicht wirkt dieses Verhalten in postmodernen Zeitläufen nachgerade altmodisch und wird von einer neueren ‚Event‘-Kultur überlagert. Ein grandioses ‚Event‘ war das Mozart-Jahr. Es hatte Sonderfahrten und Sonderausstellungen ermöglicht, Taktstöcke und Konditoreien beschwingt. Und bemerkenswerte Publikationen gezeitigt.122 Zu einem wirklichen Ereignis wird das ‚Event‘ jedoch nur in dem Maße, wie sich die Hörer, Betrachter und Leser den überlieferten Werken öffnen und sich von ihnen, nach dem Beispiel Hoffmanns, Mörikes und Ortheils, herausfordern lassen: mit ihren Sinnen, ihren Seelenkräften und ihrer Geistesgegenwart. So könnten sie auf die ‚Kultur‘ der Zerstreuung durch eine kontemplative Gegenbewegung antworten.

–––––––— 118 119 120 121 122

Ortheil, Nacht, 375. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. 306. Nachdrücklich sei verwiesen auf den Band Mozart. Experiment Aufklärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Essayband zur Mozart-Ausstellung, Wien 2006.

Tim Hagemann

Kierkegaard. Pollock. Verspohl. Zur Rhetorik des Abstrakten Expressionismus

Ob es sich um die Blickführung, um die Auszeichnung des Auges als Emotionsträger, um perspektivische Konstruktionen oder um die von Alberti eingeführte Mittlerfigur, die kommunikative Figurenkomposition überhaupt, die Gestik und Mimik oder sogar den Rahmen als Mittel der Distanzierung und Überleitung in einem handelt, ob man die bildlichen Entsprechungen tropischer Schmuckmittel wie Metapher, Metonymie oder Allegorie entschlüsselt oder die Wirkung der Gedächtnisbilder und imagines agentes, die selbsttätigen Bilder, durch die Epochen verfolgt, immer bewegt man sich, ob bewusst oder unbewusst, im Bannkreis der rhetorischen Kunstlehre.1

Die rhetorische Durchdringung der europäischen Kultur, die Gert Ueding hier aus bildrhetorischer Perspektive aufzeigt, ist noch im 18. Jahrhundert so allumfassend, daß sie mit der Philosophie als ihr eigentliches Signum gelten kann. Neben die gesellschaftliche Beredsamkeit des freien Herrn Knigge tritt die Gesprächsrhetorik für das Privatissimum, neben den Redekünstler der Kunstredner, neben die Bildrede von Malerei und Zeichenkunst die Klangrede der Musik. Ein Sujet wandert von der einen Kunst zur andern, und so verbindet es den älteren Breughel und den älteren Mozart, das der Bauernhochzeit in ihrer Zeit jeweils am wirkungsmächtigsten zur Darstellung gebracht zu haben. Leopold Mozart ist, das sei vermerkt, ein Musterbeispiel an rhetorischer Künstlerbildung, von der nicht nur sein Briefstil zeugt. Der Abschied sei ihm schwer gefallen, schreibt Mozart am 4. Oktober 1755 aus Salzburg an J. J. Lotter d. J. in Augsburg, „und so vergnügt ich in Ihro Behausung eingetreten; so betrübt habe ich sie verlassen“.2 Gottsched liegt bei der Abfassung der Violinschule (1756) auf dem Schreibtisch, und es hat sich gar eine Order an Lotter bewahrt, für den er in Salzburg als Kommissionsbuchhändler tätig war, mit der Mozart Vater vornehmlich Gottsched-Werke und dabei die Redekunst an erster Stelle anfordert.3 Diese Verbindung mit der Rhetorik ist keineswegs nur äußerlich, geschäftlich, zu sehen. Ist heute von einer historisch sensiblen Interpretation eines Werks dieser Zeit die Rede, so attestiert man gern den rhetorischen Musizierstil, und Antithesen, wie in der eben zitierten Briefstelle, finden sich in der Musik beispielsweise im Wechselspiel von Solo und Tutti, im Chiaroscuro oder in der Beziehung von erstem und zweitem Thema in der Sonatenhauptsatzform. Diese Nähe zur Rhetorik entspringt mithin nicht der zufälligen histori–––––––— 1 2 3

Gert Ueding, Dialog-Inszenierung. Zur Rhetorik des Bildes, in: Joachim Knape (Hg.), Bildrhetorik, Baden-Baden 2007, 181–199; hier: 191f. Stadtarchiv Augsburg, Autographensammlung. Ebd.

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schen Konstellation allein, diese Nähe liegt in der Sache der Künste selbst begründet, und während die rhetorische Künstlerbildung der Geschichte angehört und die Mozartsche Symbiose nurmehr ein museales Relikt ist, lebt die alte Verbindung in der Sache fort. Deshalb können auch Kunstäußerungen und Kunstprogramme, die keinen bewussten Bezug mehr [zu den Ideen der rhetorischen Kunstlehre] haben, dennoch, und sei es nur im persuasiven Gestus, weiterhin von ihr zeugen.4

Ueding erinnert an das Manifest von Rothko und Newman: „Als Künstler ist es unsere Aufgabe, den Betrachter dazu zu bringen, die Welt in unserer Weise zu sehen, nicht in seiner.“5 Ihre Farbfeldmalerei will zur meditativen Versenkung anhalten und ein religiöses Erleben ermöglichen, und wir haben angesichts dieser Wirkungsintention keinerlei Anlaß, Rothko und Newman von einer Interpretation durch die rhetorische Theorie des Erhabenen auszunehmen. Wenn wir den Blick von den panrhetorischen Gefilden des 18. Jahrhunderts ab- und der Malerei des 20. Jahrhunderts zuwenden, drängen sich indes, aus rhetorischer Perspektive, zwei Fragen auf, denen wir hier am Beispiel von Number 32, 1950 von Jackson Pollock nachgehen wollen. Die erste lautet: Ist der persuasive Gestus für die Malerei auch der Moderne verbindlich? Begann Jackson Pollock in der Schule Thomas Hart Bentons und des Regionalismus vergleichsweise konventionell, so entwickelte er doch rasch, nicht zuletzt durch die stete Auseinandersetzung mit dem Werk Picassos,6 eine eigene Formensprache. In dem Maße, in dem Pollock seine bildnerischen Mittel entkonventionalisiert, scheint die Rhetorik ihre Deutungsgrundlage zu verlieren. Ist Going West, 1934–35, noch mühelos als ein Enkomion auf die amerikanische Eigenart zu lesen, so lassen die späteren All over eine vergleichbare Interpretation immer weniger und schließlich, bei den Hauptwerken aus dem Jahre 1950, kaum mehr zu, wenn es auch nicht an Versuchen fehlt, die von Pollocks Werk ausgehenden Irritationen aufzulösen. Lavender Mist: Number 1, 1950 legt durch den Obertitel die Möglichkeit zu einer ikonologischen Interpretation nahe, und Ellen G. Landau hat Pollock hier in einer impressionistischen Traditionslinie gesehen und eine Verwandtschaft zum späten Monet der Seerosenbilder konstatiert.7 Während aber Monet auch dort, wo das Ergebnis an eine abstrakte Komposition erinnert, von den Sinnesdaten ausgeht, werden diese in Number 1, 1950 nachträglich hineingelesen. Der – im übrigen nicht von Pollock, sondern von dem Kritiker Clement Greenberg stammende – Obertitel verrät daher mehr über die Sehgewohnheiten des Betrachters als über das Werk, und „Lavender Mist“ steht dementsprechend für eine undurchdringliche Bildstruktur und eine gewisse Vorherrschaft eines bestimmten Farbtons. –––––––— 4 5 6 7

Ueding, Dialog-Inszenierung, 192. Ebd. Vgl. Pepe Karmel, A Sum of Destructions, in: Kirk Varnedoe / Pepe Karmel (Hg.), Jackson Pollock. New Approaches, New York 1999, 71–99. Ellen G. Landau, Jackson Pollock, New York 1989, 192.

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Wenn auch Autumn Rhythm: Number 30, 1950 und One: Number 31, 1950 eine weitere Reduzierung der Farbskala zeigen, so sind sie doch durch die verschiedenen Farbaufträge zumindest teilweise gestisch nachvollziehbar. Hier eröffnet sich die Möglichkeit einer Deutung Pollocks als Action Painting, wie sie Harold Rosenberg aufgebracht hat.8 Ist auch kein Gegenstand faßbar, faßbar mag doch der künstlerische Prozeß als solcher bleiben: Die Aktion ist das Werk, dessen angemessene Rezeption im gestischen Nachvollzug der Tathandlung des Künstlers besteht. Nicht zuletzt durch den Verzicht auf jeden einen Gegenstandsbezug herstellenden Titel, die Monochromie und die Drip-Technik verschließt sich Number 32, 1950, wie wir noch genauer sehen werden, sowohl der ikonologischen als auch der gestischen Interpretation. Der Malvorgang ist nicht in seine einzelnen Prozesse differenzierbar, und wenn es Pollock durch die Wahl der Drip-Technik vermeidet, mittelbar, wie beim Pinselauftrag, in Berührung mit der Leinwand zu kommen, dann verweigert er sich, wie Regine Prange schreibt, „einer […] Aufschlüsselung in vitale Elemente“.9 Von einem abstrakten Expressionismus kann so eigentlich nicht gesprochen werden und wird es hier doch, denn es ist stets mißlich, mit der Deutung zugleich auch den Begriff variieren zu wollen. Eine biographisch-psychologische Analyse bedarf nicht notwendig der Spur gewordenen Lebensäußerung auf der Leinwand, doch ist die Analyse der persönlichen Bedingtheit eines Werks auch nicht mit einer Interpretation desselben zu verwechseln. Sie kann immer nur Protreptikum zu einer Werkinterpretation sein, den Zugang jedoch durch eine erneute Vergegenständlichung des Ungegenständlichen etwa durch die Herleitung der Drip-Technik aus Bettnässerproblemen10 auch verstellen. So könnte man versucht sein, Number 32, 1950 in Ermangelung eines interpretationsleitenden Ordnungsmusters chaotisch zu nennen. Diese Charakterisierung des Pollockschen Schaffens träfe indes nicht nur auf den vehementen Widerspruch seines Urhebers: „No chaos damn it!“,11 sie übersähe vor allem, dass die Deutungsschwierigkeiten sich hier nicht gleichsam beiläufig ergeben, sondern vielmehr kontrolliert hervorgerufen werden. Walter Kambartel: Was insbesondere die Erwartung des Chaotischen anbetrifft, so resigniert der Beschauer schließlich nicht, wie Barbara Rose angenommen hat, vor dem Chaos, sondern vor der Unmöglichkeit, Pollocks Bild als Chaos zu erweisen.12

Es gelingt nicht, eine Wirkungsintention zu erfassen, die, im Sinne Rothkos und Newmans, darauf abzielte, den Betrachter die Welt mit Pollocks Augen sehen zu lassen. Der Pollocksche Gestus ist nicht persuasiv. –––––––— 8 9 10 11 12

Harold Rosenberg, The American Action Painters, Art News, Dezember 1952. Regine Prange, Jackson Pollock. Number 32, 1950. Die Malerei als Gegenwart, Frankfurt a. M. 1996, 11. Steven Naifeh / Gregory White Smith, Jackson Pollock. An American Saga, New York 1989, 540ff. Jackson Pollock, Letter to the Editor, Time, 11. Dezember 1950, 10. Walter Kambartel, Jackson Pollock. Number 32, 1950, Stuttgart 1970, 23.

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Die zweite Frage muß folglich lauten: Erlaubt allein der persuasive Gestus eine rhetorische Bildinterpretation? Franz-Joachim Verspohl ist der von Kambartel ausgelegten Spur gefolgt und hat gerade in der erzwungenen interpretatorischen Resignation des Betrachters die Grundlage einer angemessenen Werkinterpretation gefunden. Wenn Number 32, 1950 als nicht deutbar zu deuten ist, so wird sich das Paradox bei einer näheren Betrachtung der verschiedenen Begriffe der Deutung auflösen. Verspohl hat die Mittel herausgearbeitet, durch die sich Number 32, 1950 der objektivierenden Wahrnehmung, wie sie in den oben vorgestellten Ansätzen versucht wurde, entzieht, und dabei eine nicht-relationale, informelle und dekompositionelle Werkstruktur identifiziert. Nicht-relational ist das Werk, da sich die Farbspuren auf der Leinwand weder aufeinander noch auf ihre Gesamtheit, noch auf den Bildrand beziehen. Der Bildrand wird im Prozeß des Aufziehens der Leinwand auf einen Keilrahmen erst definiert, nachdem der Malvorgang abgeschlossen ist.13 Nicht einmal die vom Format vorgegebene Bildgrenze wirkt also relationsstiftend. Es gibt „keinen Bezug zum Bildrand“,14 da der Malvorgang den Bildrand noch nicht kennt und über diesen hinausreicht. Genau jene Partien aber, die durch die natürliche Begrenzung der auf dem Atelierboden ausgelegten Leinwand eine Relation zum Bildrand aufweisen könnten, werden bei der Aufkeilung abgeschnitten. Informell ist es, da „die bildlichen Elemente […] weder Symbole noch Zeichen“ sind und „nicht einmal die Spur einer inhaltlichen Information“ enthalten, zumal „die schwarzen Spuren [als graphische Formen] keine Binnenflächen [umschreiben]“.15 Auf einen gegenständlichen Bezug wird hier nicht lediglich verzichtet, er wird als Folge einer bewussten Anstrengung verweigert. Da sich bei einem scheinbar freien Schaffen aus dem Unterbewussten immer wieder gegenständliche Bezüge einstellen, verlangt „[g]erade das Anarbeiten gegen Bildformen, die gegenständlich sind, […] außerordentliche Konzentration.“16 Dekompositionell schließlich ist Number 32, 1950, da der Bildaufbau keine Zentren und damit keine Hierarchien aufweist. „Die Farbspuren […] verhalten sich zueinander gleichwertig, aber auch gleichgültig.“17 Eine jede Ordnung des Bildmaterials entspringt damit der Willkür des Betrachters, im Werk selbst ist jene nicht angelegt. Die genannten Charakteristika dienen nicht einer gleichsam physikalischtechnischen Werkbeschreibung, sie zielen vielmehr, und sei es in negativer Form, auf eine kalkulierte Rezeption. Eine nicht-relationale, informelle und dekompositionelle Struktur kennzeichnen das Werk aus der Sicht des Betrachters. Es handelt sich mithin um eine rhetorische Interpretation von Number 32, –––––––— 13 14 15 16 17

Franz-Joachim Verspohl, Die Moderne auf dem Prüfstand. Pollock, Wols, Giacometti (Funkkolleg Moderne Kunst, Studienbegleitbrief 10), Weinheim / Basel 1990, 31. Ebd. Ebd. Ebd. 30. Ebd. 31.

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1950. Indem Pollock jedoch gerade jeden Zugang sabotiert, der mit Pollocks Augen sehen will, ist sein Gestus nicht nur nichtpersuasiv, sondern antipersuasiv. Damit ist, anders als bei einer ‚objektiven‘ Interpretation, die Deutung des Werks indes nicht schon an ihr Ziel gelangt. Verspohl: „,Number 32, 1950‘ lenkt den Betrachter nicht suggestiv, sondern bezieht ihn als Dialogpartner in seine Ereignisstruktur mit ein“.18 Die antipersuasive Deutung meint also hier nicht Abschluß, sondern Beginn, nämlich der persönlichen Aufgabe eines jeden Betrachters. Trotz seiner rhetorischen Wirkungsintention läßt sich Pollock mit den Kategorien der klassischen Rhetorik nicht recht fassen. Es wäre in der Tat auch überraschend, wenn die Rhetorik angesichts einer radikal veränderten Kunstwelt bruchlos an ihr großes Erbe anknüpfen und auf diesem Wege ihre Bedeutung für die Kunst zurückgewinnen können sollte. Aber die Rhetorik hat ja während ihres gleichsam unterirdischen Weiterlebens im 19. Jahrhundert doch, wie die meisten anderen Disziplinen auch, einen entscheidenden Modernitätsschub erfahren. Kierkegaard war auf der Suche nach einer genuin christlichen Beredsamkeit zu einer antipersuasiven Rhetorik vorgedrungen. Dem Verstand nicht zugänglich und der Lebensklugheit widersprechend, setzt sich das Christentum in völligen Gegensatz zum Natürlich-Menschlichen. Nur darum kann es den Anspruch einer Neugeburt, die der Christ an sich erfahre, erheben. Sind aber die Kreuzigung des Verstands und das Fahrenlassen weltlicher Glückserwartung Voraussetzungen des Heils, so darf der Redner das Christentum nicht, wie in der klassischen Rhetorik, durch den Appell an die Wünsche und Werte des Menschen, so wie er ist, zu vermitteln suchen. Das Christentum ist dem natürlichen Menschen ein Ärgernis, das der christliche Redner gerade nicht hinfortnehmen darf. Denn die Möglichkeit der Ärgernisnahme an der christlichen Botschaft ist Bedingung der Möglichkeit des Glaubens.19 Jeder Persuasionsversuch aber muß das Ärgernis notwendig relativieren. Der Glaube ist ein Wagnis gegen alle Wahrscheinlichkeit, er ist „das Wagestück des Herzens“,20 das eben darum die Herzen offenbar macht. Die Entscheidung des Einzelnen für oder gegen das Christentum darf daher auch nicht emotional gelenkt werden, noch kann der Redner den je individuellen Sprung in den Glauben in irgendeiner Weise ‚vermitteln‘. Die christliche Rede muß also antipersuasiv sein, um den Hörer selbsttätig werden, d.h. ihn sein Selbst in der Begegnung mit Gott finden zu lassen. Von der Ineinssetzung qualitativer Gegensätze bei gleichzeitiger Unkenntlichkeit der Verfasserabsicht in der ‚Doppel-Reflexion‘ der pseudonymen Schriften bis zur Sabotage einer lediglich ästhetischen Lektüre in der longinquitas der christlichen Reden hat Kierkegaard eine Fülle von rhetorischen Mitteln, –––––––— 18 19 20

Ebd. 30. Søren Kierkegaard, Kjerlighedens Gjerninger (1847), in: Ders., Samlede Værker, Kopenhagen 1903, IX 60f. Søren Kierkegaard, Fire opbyggelige Taler (1844), in: Ders., Samlede Værker, Kopenhagen 1902, V 152.

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über die ich an anderer Stelle berichtet habe,21 entwickelt, die eben diese Selbsttätigkeit befördern. Ohne daß ein direktes Einflussverhältnis behauptet werden soll, ist die Parallele doch nicht zufällig. Die geistige Nähe des Abstrakten Expressionismus zur von Kierkegaard geprägten Existenzphilosophie ist oft betont worden. So wie diese Kierkegaards Denken säkularisiert und den Gottesbezug in der Selbstwahl streicht, finden wir bei Pollock eine säkularisierte Form der antipersuasiven Rhetorik. Hier wie dort richtet sie sich gegen einen objektiven, durch das Wissen bestimmten Zugang zum Text oder Bild, und Kierkegaard wie Pollock suspendieren daher den Gegenstand,22 um so die Subjektivität des Lesers oder Betrachters entbinden zu helfen. Das Christentum ist keine Lehre, sondern eine Existenzmitteilung. Das Bild ist keine Darstellung, sondern eine Schule des poietischen Sehens, das ebenfalls in seiner existentiellen Dimension begriffen wird: „Die Erkenntnis des Sehens als imaginierender Akt verschafft dem Betrachter die Genugtuung festzustellen, dass er sich in jedem Moment des Sehens fortlaufend neu entwirft.“23 In Anlehnung an Kierkegaard: Die Subjektivität des Betrachters ist die Wahrheit des Werks.

–––––––— 21 22

23

Tim Hagemann, Reden und Existieren. Kierkegaards antipersuasive Rhetorik, Berlin / Wien 2001. Kierkegaard hat in dem Vorlesungsentwurf Die Dialektik der ethischen und der ethischreligiösen Mitteilung (1847), Bodenheim 1997, 22ff., vorgeführt, was die Abschaffung des Gegenstands für die Mitteilung bedeutet, und auf diesem Wege die Differenzierung von Wissens- und Könnensmitteilung gewonnen. Verspohl, Die Moderne auf dem Prüfstand, 30. Eine Könnensmitteilung im Kierkegaardschen Sinne.

Gerd Enno Rieger

Der lange Abschied von der eigenen Zukunft im Spätwerk Ibsens

Im Unterschied zum Sophokleischen Ödipus ist nach Szondi die Vergangenheit in Ibsens John Gabriel Borkman nicht Funktion der Gegenwart, vielmehr sei diese „nur Anlaß zur Heraufbeschwörung der Vergangeheit“.1 Dies ist sicher nicht falsch, könnte aber doch schärfer gefaßt werden. Die dramatische Handlung wird in den späten Stücken Ibsens zunehmend zur Darstellung eines Bewußtseinsprozesses, in der die zeitliche Spannung von Gegenwart und Vergangenheit an Bedeutung verliert. Selbst wenn auf genaue Zeitangaben Wert gelegt wird, ist nicht zu verkennen, daß die traumatischen Erfahrungen, denen die handelnden Personen ausgesetzt sind, den Zeitablauf relativieren. Szondi spricht von einer Wahrheit der Innerlichkeit. „In ihr ruhen die Motive der zu Tage tretenden Entschlüsse, in ihr verbirgt sich und überlegt alle äußeren Veränderung deren traumatische Wirkung.“2 Allerdings hat diese Innerlichkeit, von der Szondi hier spricht, einen handfesten sozialpsychologischen Rahmen, aus dem sie nicht herausgelöst werden kann. Gerade ein Stück wie John Gabriel Borkman, das Szondi als Beleg zur Stützung seiner Einsichten heranzieht, macht dies mehr als deutlich. Die traumatische Erfahrung, die Borkman vor 16 Jahren gemacht hat, ist der Angelpunkt, um den sich das dramatische Geschehen dreht. Das „Weltereignis“3 auf welches Borkman in all den Jahren wartet, ist ein Ereignis, das vor 16 Jahren durchaus in Erfüllung hätte gehen können. Einer realen Grundlage entbehren die Träume Borkmans nicht. Ich stand knapp vor dem Ziel. Nur acht Tage Frist, um mich zu rangieren, und alle Depositen wären wieder eingelöst worden. Alle Wertpapiere, die ich mit kühner Hand angegriffen, die hätten wieder auf dem alten Platz gelegen. Um ein Haar wären die riesigen Aktiongesellschaften damals zustande gekommen. Kein einziger Mensch hätte einen Pfennig verloren.4

Heute würde man sagen, Borkman habe das richtige timing verpaßt. Aufstieg oder Untergang in der kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hängen mehr oder weniger vom Zufall ab. Warum eine Erwartung nicht in Erfüllung –––––––— 1 2 3

4

Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880–1950), Frankfurt a. M. 1970, 28. Ebd. 29. Ibsen im Gespräch mit einem Kopenhagener Journalisten, hier zitiert nach Dichter über ihre Dichtungen, Henrik Ibsen II, Übertragen und herausgegeben von Verner Arpe, München 1972, 227. Die Übersetzungen der Zitate aus Ibsens Stücken sind der zwischen 1898 und 1904 erschienenen deutschen Gesamtausgabe in 10 Bänden entnommen. SW IX 120.

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geht, eine Intention nicht zu einem bestimmten Ergebnis führt, läßt sich rational nicht nachvollziehen. Gerade weil die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft die unwahrscheinlichsten Träume hat Wirklichkeit werden lassen, kann Borkman sich nicht damit abfinden, daß sein Traum nun gerade nicht in Erfüllung gegangen ist. Das Gefühl von Recht oder Unrecht tritt dabei völlig in den Hintergrund. Auch ob er sich an seiner unmittelbaren Umwelt, Ella Rentheim und ihrer Schwester, seiner Frau, vergangen hat, spielt keine Rolle. Entscheidend ist für ihn allein, daß seine Pläne wirtschaftlicher Expansion nicht in Erfüllung gegangen sind und er dafür zur Rechenschaft gezogen worden ist. Rechtmäßiges Handeln ist für ihn keine Alternative, weil er gar nicht anders hätte handeln können, als er gehandelt hat. „Die Menschen begreifen nicht, daß ich das mußte, weil ich eben ich war, – weil ich John Gabriel Borkman war, – und nicht ein anderer.“5 Insofern ist er auch nicht bereit, seine Schuld anzuerkennen und zu bereuen. Er ist nach wie vor das sich als absolut begreifende Individuum, das nur deswegen Anklage gegen sich selbst erhebt, weil es die traumatische Erfahrung der Unvereinbarkeit von Traum und Wirklichkeit nicht hat bewältigen können. Ich habe den ganzen Rechtsfall wieder aufgenommen, zu erneuter Prüfung – vor mir selber. Zu wiederholten Malen hab’ ich ihn wieder aufgenommen. Ich bin mein eigener Ankläger gewesen, mein eigener Verteidiger und mein eigener Richter. Unparteiischer als irgend ein anderer, – das darf ich wohl sagen. Im Saale da oben bin ich hin und her gegangen und habe prüfend jede meiner Handlungen nach allen Seiten gedreht und gewendet. Habe sie von vorn betrachtet und von hinten – ebenso schonungslos, ebenso unbarmherzig wie nur irgend ein Advokat. Und der Rechtsspruch, zu dem ich immer wieder komme, lautet so: der Einzige, gegen den ich mich vergangen habe, – das bin ich selbst.6

Ein sich in dieser Weise absolut setzendes Individuum fühlt keine Verantwortung für die Menschen, die ihm anvertraut sind. Den Einwand seiner Frau, ob er sich nicht auch gegen sie und ihren Sohn vergangen habe, wischt Borkman zur Seite. Du und er, Ihr seid mit einbegriffen, wenn ich von meiner Person rede. Frau Borkman. Und die vielen hundert andern? Die Du ruiniert haben sollst, wie die Leute sagen? Borkmann (heftiger). Ich besaß die Macht! Und dann das unbezwingbare Gebot in meinem Innern! Da lagen die gefesselten Millionen übers ganze Land, in der Bergestiefe, und riefen nach mir! Schrieen um Befreiung! Keiner von all den andern hörte es. Nur ich allein.7

Besessen von den Gedanken wirtschaftlicher Expansion, werden die Menschen zu Werkzeugen seines unermeßlichen Machtstrebens. Der Materie hingegen spricht er durchaus ein Recht zu, zum Leben erweckt zu werden, allein deswegen, weil er ohne sie sein Machtstreben nicht erfüllen könnte. Die Mythisierung der Materie, die in den Träumen Borkmans stattfindet, hat ihre Entsprechung in gesellschaftlicher Verantwortungslosigkeit. Personen werden zu Objekten degradiert, die ausgetauscht werden können. –––––––— 5 6 7

Ebd. 144 Ebd. 145 Ebd. 145

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Du darfst aber nicht vergessen, daß ich ein Mann bin. Als Weib warst Du für mich das Teuerste auf Erden. Allein wenn’s sein muß, so kann doch ein Weib durch ein anderes ersetzt werden.8

Das absolute Machtstreben Borkmans führt dazu, daß selbst die intimsten Gefühle sich nicht entfalten können. Borkman schneidet die Kommunikation zu seinen Nächsten selbst ab. Die schließliche Vereinsamung ist dann nur die logische Konsequenz. Die poetische altertümelnde Genetivkonstruktion „des Goldes schlummernde Geister“9 hat Borkman vollen Ernstes gebraucht, sie war Rechtfertigung und Incitament seines Machtstrebens zugleich. Die Mythisierung ist also von vornherein Bestandteil der Träume Borkmans. Da Borkman das gesellschaftliche Scheitern als die traumatische Erfahrung erlebt, von der er sich nicht mehr befreien kann, wird die Mythisierung seiner Expansionsträume zur Darstellungsmittel der Unvereinbarkeit von Traum und Wirklichkeit. Die Mythisierung, von welcher Borkman sich nicht lösen kann, wird so zum Indiz einer nicht bewältigten Realität. So ist es auf der andern Seite nur folgerichtig, daß für Borkman die Möglichkeiten zur Kommunikation mit seiner Umwelt auf ein Minimum geschwunden sind. Mysthisierung und soziales Versagen sind und waren von Anfang an nicht voneinander zu trennen. Die dramentechnische Intrige, die hier von Ella Rentheim ausgeht, ist nur Anlaß, dies noch einmal unter Beweis zu stellen. Selbst als er stirbt, kann Borkman nicht Abschied von seinen Träumen nehmen. Eine Hand von Eis, die nach seinem Herzen greift, stilisiert er zu einer Hand von Erz um. Der Realitätsverlust, der von vornherein angelegt war, erfährt hier seine letzte Bestätigung. Je weniger die Mythisierung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu vereinbaren war, desto stärker trat ihr Reminiszenzcharakter in den Vordergrund. Sie wurde schließlich der letzte Rettungshaken, an dem sich der vereinsamte Borkman festhielt. Von Utopie ist hier insoweit nur noch etwas zu spüren, als in der Mythisierung etwas von einer Realisierungschance, die zu einem Zeitpunkt einmal bestanden haben mag, bewahrt wird. Der Reminszenzcharakter des Utopischen wird vor allem deswegen deutlich, weil Borkman nicht in der Lage ist, sich von der traumatischen Erfahrung seines gesellschaftlichen Scheiterns zu lösen. Trotz der Zeitspanne, die verflossen ist, hat diese traumatische Erfahrung nichts von ihrer Intensität eingebüßt. Das Analytische dieses dramatischen Geschehens besteht eben nicht darin, daß Borkman durch die Analyse seiner Situation an Einsicht gewinnt. Einsicht gewinnt die Umwelt, repräsentiert vor allem durch die beiden Schwestern, die sich die Hände über dem toten Borkman reichen. Mit ihnen gewinnt Einsicht der Zuschauer, der etwas von dem Zusammenhang zwischen Kommunikationslosigkeit und rücksichtslosem Gewinnstreben wahrnimmt, einem Gewinnstreben, das sich auch durch Mythisierung nicht rechtfertigen läßt. –––––––— 8 9

Ebd. 134 Vgl. die Rolle eines ähnlichen poetischen Genetivs in Die Wildente: „Des Meeres Grund“. Wenn in der deutschen Gesamtausgabe das norwegische „havsens bund“ mit „Meeresgrund“ (SW VIII, 276) wiedergegeben wird, geht die Poesie, die dem bestimmten Artikel des Genitivs liegt, verloren.

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Gesellschaftlicher Erfolg, der sich noch nicht einmal mit dem Verzicht auf Kommunikation erkaufen läßt, verliert so seine letzte Legitimation. Die Mythisierung in den späten Stücken Ibsens wird man nie isoliert von gesellschaftlich bedingten Verdrängungen sehen können. Gerade weil in der Mythisierung etwas von Utopie, die zu einem Zeitpunkt einmal möglich gewesen wäre, nachschwingt, spielt sie in der Analyse von Bewußtseinsprozessen eine wichtige Rolle. Der dramentechnische Aspekt darf nicht übersehen werden. Deutlich wird dies vor allem, wenn gesellschaftlich bedingte Verdrängungen sich in einem Bild kristallisieren, das als zentrales Indiz in der Darstellung eines Bewußtseinsprozesses gleichzeitig auch eine wichtige Funktion in dramentechnischer Hinsicht erfüllt. So umschreibt „Weinlaub im Haar“ die Verdrängungen, die für Hedda Gablers Gefühlsleben bestimmend gewesen waren. Dieses Bild verweist auf die Partnerschaft mit Lövborg, die zu einem Zeitpunkt möglich gewesen war, zu der Hedda Gabler aber aus Gründen der Konventionalität nicht den Mut gehabt hatte. „Weinlaub im Haar“ enthält einmal einen Hinweis auf die bacchantische Lebensweise Lövborgs, andererseits ist in diesem Bild etwas von der kreativen Aureole enthalten, die Lövborg gerade im Vergleich zu Heddas Mann, dem Stubengelehrten Tesman, auszeichnet. Durch die Verheiratung mit Tesman hat sich Hedda Gabler in eine psychische Misere begeben, der sie sich nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise immer mehr bewußt wird. Durch die von ihrer Umwelt, namentlich von Tante Juliane unterstellte Schwangerschaft wird sie in einer unerträglichen Weise auf die Partnerschaft mit ihrem Mann festgelegt, die ihrem Streben nach Selbstverwirklichung keinen Raum mehr läßt. Selbst die Hoffnung, daß ihr Tesman einen Lebensstandard bieten könnte, den sie als Kompensation für ein mangelndes emotionales Engagement akzeptieren würde, rückt nach dem Wiederauftauchen Lövborgs als eines potentiellen Konkurrenten ihres Mannes in weite Ferne. Daß sie nun Lustgefühle aus der Vorstellung entwickelt, ihr Mann könnte in einem Wettbewerb mit Lövborg unterliegen, kann nur als Entschuldigung für die Niederlage interpretiert werden, die sie sich durch die Wahl Tesmans zu ihrem Ehemann selbst zugefügt hat. Daß es dagegen zwischen Hedda und Lövborg nicht zu einer Partnerschaft gekommen ist, begründet Hedda mit ihrer schrecklichen Angst vor dem Skandal. Mut und Tapferkeit, Eigenschaften, durch welche sich gerade der Stand auszeichnet, aus dem Hedda stammt, haben ihr im entscheidenden Augenblick gefehlt, weil sie nicht imstande war, spontanes Handeln über die Regeln der Konvention zu stellen. Individualpsychologisches Incitament der Intrige Heddas ist die Eifersucht auf Thea Elvsted, die in ihrem Engagement für Lövborg den Skandal nicht gefürchtet hat. Hedda Gabler braucht die Rivalitätssituation, um vor sich selbst ihre Intrige zu rechtfertigen. Hier kann sie die Spannung finden, die ihr in der Ehe mit Tesman abgeht. Daß es sich in Wirklichkeit um einen Konkurrenzkampf mit all seinen bitteren Konsequenzen handelt, will und kann sie nicht wahrnehmen. Für sie ist das eine Art Sport, der sich im Rahmen der Vorstellungen bewegt, die durch ihre Herkunft geprägt sind. In diesem Vorstellungen ist sicher ein spielerisches Moment enthalten, jedoch ein spielerisches Moment,

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das in Ernst umschlagen kann. Zwischen dem Schauspiel auf dem Turnierplatz und dem Zweikampf, in dem sich der Gedemütigte eine persönliche Genugtuung für eine erlittene Rechtsverletzung schafft, ist die Trennungslinie nicht immer strikt zu ziehen.10 Insofern ist es Hedda wohl auch gar nicht von vornherein bewußt, welche Konsequenzen die Intrige, die sie in Gang setzt, nach sich ziehen kann. Eine wichtige Rolle spielen dabei die von ihrem Vater ererbten Pistolen, die gleichzeitig in ihrem Verweischarakter als wichtige Indizien für das Ablaufen von Heddas Bewußtseinsprozeß angesehen werden müssen. Daß sie diese Pistolen von ihrem Vater geerbt hat, deutet darauf hin, in welchem Maße sie durch die Herkunft von ihrem Vater festgelegt ist. Daß es sich dabei um ein Paar von Pistolen handelt, zielt auf die Duellsituation. Die Vorstellung eines Duells, in dem sich zwei gleichwertige Partner aneinander messen, hat für Hedda etwas Verführerisches, dem sie sich nicht entziehen kann. Dies bestimmt sie auch in ihrer Haltung zu Thea Elvsted. Deswegen gewinnt sie der Konkurrenzsituation, in welche ihr Mann durch das Wiederauftauchen Lövborgs gerät, einen besonderen Reiz ab. Dahinter liegt die Vorstellung, daß die umworbene Dame dem Sieger in einem Zweikampf zufällt. Durch den Sieg über seinen Gegner hat sich der Sieger das Recht auf die Zuneigung der von ihm geliebten Dame erworben. Er ist für sie ein Partner geworden, den sie akzeptieren kann. Die Rivalitätssituation, der die Männer um Hedda Gabler ausgesetzt sind, ist etwas von ihr Gewolltes bzw. etwas, das ihren innersten Wunschvorstellungen entspricht, weil sie auf diese Weise die Festlegung auf Ehe und Mutterschaft am ehesten verdrängen kann. Das Spiel, welches sie mit den von ihrem Vater ererbten Pistolen treibt, spiegelt ihr noch eine Wahlfreiheit vor, die sie in Wirklichkeit schon längst verloren hat. Ohne es zu wissen, ist sie zur Sklavin der Konkurrenzsituation geworden, die in ihrer Erbarmungslosigkeit kennzeichnend für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist. Der Comment des Zweikampfes ist außer Kraft gesetzt, weil der Konkurrenzdruck eine Anerkennung des Gegners als gleichwertigen Partners nicht mehr zuläßt. Bei aller Sicherheit in Stilfragen kann auch Hedda sich den Mechanismen dieser Gesellschaft nicht entziehen. Sie empfindet die Konkurrenz Theas als so stark, daß ihr jedes Mittel recht ist, sie auszuschalten. Thea hat in der Tat durch die Mitarbeit an dem neuen Buch Lövborgs etwas von der Partnerschaft verwirklicht, zu der Hedda aus Gründen der Konvention nicht den Mut gehabt hat. Auch hat Thea es auf sich genommen, ihren Mann zu verlassen, nur um Lövborg nicht zu verlieren. Dies hätte Hedda nie gewagt. Auf dem Hintergrund dieser Situation wird man auch das von Hedda beschworene „Weinlaub im Haar“ interpretieren müssen. Sie greift erst zu diesem Bild, nachdem sie den von Thea auf den Pfad der Tugend zurückgeführten Lövborg durch ihre Intrige dazu gebracht hat, doch noch auf das Junggesellenfest bei Brack zu gehen. Wenn also Hedda dieses Bild in diesem Kontext –––––––— 10

Vgl. den Artikel „Zweikampf“, in : Meyers Großes Konversations-Lexikon, Leipzig 1905– 1909, XX 1038–1039.

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verwendet, hat dies auch eine dramentechnische Funktion: Hedda gibt zu verstehen, daß sie tatsächlich Macht über Lövborg gewonnen hat, daß sie glaubt, die Intrige sei ihr geglückt. FRAU ELVSTED (ist aufgestanden und geht unruhig durch das Zimmer). Hedda, – Hedda, – was soll aus alledem werden! HEDDA. Um zehn – dann kann kommt er also. Ich seh’ ihn vor mir. Mit Weinlaub im Haar. Heiß und voll Freude – FRAU ELVSTED. Ja, wenn’s doch nur so wäre! HEDDA. Und, sieh mal, dann – dann hat er über sich selbst wieder Macht bekommen. Dann ist er ein freier Mann für sein ganzes Leben. FRAU ELVSTED. Ach Gott, ja, – wenn er nur so kommen möchte, wie Du ihn Dir vorstellst. HEDDA. So und nicht anders kommt er! (Steht auf und nähert sich ihr.) Zweifle Du an ihm so viel Du willst. Ich glaube an ihn. und nun werden wir mal sehen – FRAU ELVSTED. Du führst was im Schilde, Hedda! HEDDA. Allerdings. Ich will ein einziges Mal in meinem Leben die Herrschaft haben über ein Menschenschicksal. FRAU ELVSTED. Hast Du das denn nicht? HEDDA. Hab’ es nicht – und hab es nie gehabt. FRAU ELVSTED. Aber doch über Deinem Manne seins? HEDDA. Das wäre wohl der Mühe wert! Ach, könntest Du nur begreifen, wie arm ich bin. Und Dir soll’s vergönnt sein, so reich zu sein! (Umarmt sie leidenschaftlich.) Ich glaube, ich senge Dir doch noch das Haar ab!11 Heddas Intrige – dies wird hier ganz deutlich – hat ihre individualpsychologische Motivation in der Rivalität zu Thea Elvsted, der sie sich auch im Aussehen, besonders was den Haarwuchs betrifft, unterlegen fühlt. Heddas Vision („Ich seh’ ihn vor mir. Mit Weinlaub im Haar.“) ist ohne die Rivalitätskomponente nicht denkbar. Hedda, die ein einziges Mal Macht über ein Menschenschicksal haben will, ist ebenso dazu bereit, ihrer Rivalin die Haare abzusengen. Das Konstruktive kann jederzeit ins Destruktive umschlagen. Das Kreative, welches sich Hedda im Innersten ersehnt, ist unter den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht zu verwirklichen. Die Chance, die es vielleicht einmal für eine mögliche Kommunikation gegeben hat, hat Hedda aus Gründen der Konventionalität nicht wahrgenommen. Ein Abglanz ihrer geheimen Wünsche ist in dem Bild „Weinlaub im Haar“ wohl noch zu spüren. Dennoch wird das, was an Möglichkeiten in diesem Bild noch mitschwingt, durch den weiteren Handlungsablauf relativiert. Ja, noch mehr: Hedda greift erst zu diesem Bild, nachdem die Verwirklichung in nicht mehr zu erreichende Ferne gerückt ist. –––––––— 11

SW 8, 293 f.

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In einer der Notizen, die Ibsen vor und während der Niederschrift des Stücks gemacht hat, spielt das „Unerschwingliche“ eine wesentliche Rolle: Das Stück soll vom ‚Unerschwinglichen’ handeln, vom Streben und Trachten nach etwas, das der Konvention, dem Herkömmlichen, im Bewußtsein widerspricht – auch bei Hedda.12

Ibsen, der diesen Begriff in ein Spannungsverhältnis zur Konvention, zum Herkömmlichen setzt, gebraucht Anführungszeichen. Damit soll wohl kenntlich gemacht werden, daß wegen dieses nicht zu überwindenden Spannungsverhältnisses die Utopie in unerreichbare Ferne rückt. Die Darstellung des Bewußtseinsprozesses, dem Hedda Gabler ausgeliefert ist, wird so gleichzeitig zur Darstellung der Unvereinbarkeit gesellschaftlicher Konvention mit dem Streben nach dem Absoluten. Die Utopie, die aufgrund gesellschaftlicher Gegebenheiten immer mehr an Konkretheit verliert, rückt in die Ferne der Vergangenheit, aus der sie nur als Zitat hervorgeholt werden kann. Reminiszenzen sind die übriggebliebenen Bruchstücke von Hoffnungen, die sich nicht mehr verwirklichen lassen. Wenn Hedda Gabler diese Erinnerungsfragmente („Weinlaub im Haar“) zudem für ihre Intrige nutzbar machen will, zeigt sich nur noch deutlicher, daß vom ehemaligen Wunschbild lediglich ein Ornament übriggeblieben ist. Im weiteren Handlungsverlauf wird das von Hedda beschworenen „Weinlaub im Haar“ zum dekorativen Abstraktum, das keinen Bezug zur Wirklichkeit mehr hat.13 Die Macht, die Hedda über Lövborg ausüben wollte, hat sich als Illusion erwiesen. Aus dieser Einsicht heraus setzt sie seinem Destruktionstrieb keinen Widerstand mehr entgegen. Wenn sie ihm eine der Duellpistolen mit dem Auftrag überreicht, in Schönheit zu sterben, ist dies eine Ersatzvornahme für ihre gescheiterte Intrige. Die Pistolen werden zu Insignien ihrer Machtlosigkeit. Wenn sie auf dem Tod in Schönheit besteht, entspricht dies ihrer Herkunft. Selbst in der Destruktion ist sie immer noch die Tochter ihres Vaters, des Generals Gabler. So wird der Rückgriff auf den Tod in Schönheit, den sie hier vornimmt, zu dem ihrer Herkunft und Erziehung angemessenen Eingeständnis ihrer Machtlosigkeit. Es ist nur folgerichtig, wenn sie unmittelbar nach der Übergabe der einen Pistole an Lövborg sein zufällig in ihre Hände gelangtes Manuskript, das von den Kulturmächten der Zukunft handelt, verbrennt. Damit hat sie endgültig Abschied von ihrer eigenen Zukunft genommen. Lövborg ist auch nicht in der Lage, den eigenen Tod in Schönheit zu vollziehen. Nachdem Hedda Schritt für Schritt die widrigen Begleitumstände seines Tods aufgedeckt werden, sie selbst in Gefahr gerät, hineingezogen zu werden und somit dem gesellschaftlichen Skandal, den sie fürchtet, nicht zu entgehen, bleibt ihr keine andere Wahl, als selbst in Schönheit zu sterben. Sie schießt sich mit der ihr –––––––— 12 13

Zitiert nach: Dichter über ihre Dichtungen, II 177. Die Nähe des Jugendstils ist hier deutlich. Vgl. den Brief Adornos an Benjamin vom 2.8.1935 (Walter Benjamin, Briefe, Frankfurt a. M. 1966, II 681).

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verbliebenen Pistole in die Schläfe.14 Zum ersten Mal in ihrem Leben handelt sie für sich selbst, weil es niemanden gibt, der für sie handeln könnte. Das Weinlaub im Haar, das Hedda Gabler beschwört, ist auch im Werk Ibsens eine dichterische Reminiszenz. Dieses Bild taucht erstmalig in seinem weltgeschichtlichen Schauspiel Kaiser und Galiläer auf, das er Anfang der 70er Jahre in Dresden geschrieben hat. Kaiser Julian zieht im Dionysoszug durch die Straßen von Konstantinopel. Ein Mann auf dem Dach eines Hauses sieht ihn kommen und ruft: „Ich kann ihn sehen … Kaiser Julian. Mit Weinlaub im Haar.“15 Der Dionysoszug, den Kaiser Julian in Szene setzt, kann an seiner Niederlage gegen das Christentum nichts mehr ändern. Schon aus der Beschreibung in den Regieanweisungen wird der Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit deutlich: Der Dionysoszug kommt die Straße herab. Flötenspieler voran; betrunkene Männer, zum Teil gekleidet wie Faune und Satyre, tanzen nach dem Takte. Mitten im Zuge sieht man Julian, auf einem Esel reitend, über den ein Pantherfell geworfen; er ist wie der Gott Dionysos gekleidet, trägt ein Pantherfell um die Schultern, einen Kranz von Weinlaub um die Stirn und in der Hand einen mit Grün umwundenen Stab, an dessen oberstem Ende ein Pinienzapfen befestigt ist. Halbnackte geschminkte Weiber und Jünglinge, Tänzer und Gaukler umringen ihn; die einen tragen Weinkannen und Trinkschalen, andere schlagen Tamburine und ziehen einher unter wilden Sprüngen und Gebärden.16

Der Dionysoszug, den Kaiser Julian hier inszeniert, geht an der Wirklichkeit vorbei. Die Vergangenheit läßt sich nicht neu beleben. Sie ist durch den historischen Prozeß zu einer Reminiszenz an eine untergegangene Religion geworden. Immerhin ist das Weinlaub im Haar, das Kaiser Julian in einem Kranz um die Stirn trägt, Gegenstand der Darstellung, wenn auch parodiehafte Züge nicht zu verkennen sind. Bei Hedda Gabler wird der Reminiszenzcharakter noch deutlicher. Das Weinlaub im Haar ist zu einem Zitat erstarrt und kann nicht mehr darstellbar gemacht werden. Als Indiz psychischer Verdrängungen verweist es auf traumatische Erfahrungen, die Hedda Gabler gesellschaftlich determinieren. Die Sehnsucht nach Kreativität, nach Selbstverwirklichung, die in diesem Bild noch mitschwingt, rückt durch den Handlungsablauf in unerreichbare Ferne. Das Streben nach dem Unüberwindlichen läßt sich mit gesellschaftlicher Konvention nicht vereinbaren. „Der Widerspruch zwischen Können und Streben, zwischen Willen und Möglichkeit“, den Ibsen in dem Vorwort zur Neuauflage seines Jugendstücks Catilina 1875 schon in seinen frühesten Anfängen erkennen will,17 wird in den analytischen Gegenwartsdramen sozialpsychologisch begründet. Der individualpsychologische Bewußtseinsprozeß, dem die handelnden Personen durch die Konfrontation mit ihrer Vergangenheit ausgesetzt sind, wird zum Darstellungsmittel sozialpsychologischer Mechanismen. Die Mythisierung von Reminiszenzen, die für die letzten Stücke der 90er Jahre –––––––— 14 15 16 17

Mayer, Außenseiter, Frankfurt a. M. 1975, 92, formuliert sehr treffend: „Der Skandal liegt in Hedda Gablers Todesart.“ SW 5, 168 Ebd. 169 Zitiert nach: Dichter über ihre Dichtungen, Henrik Ibsen I, 18.

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kennzeichnend werden soll, macht deutlich, daß die Realisierbarkeit von Utopien in eine nicht mehr zu belebende Vergangenheit gerückt ist. Der Drang hingegen, sie zu realisieren, hat nichts von seiner Intensität eingebüßt. Wenn Ibsen so die Unvereinbarkeit von Traum und Wirklichkeit, in der Art der Darstellung bis an die Grenze der Absurdität gehend, herausarbeitet. ist damit der Boden für das Drama des 20. Jahrhunderts bereitet.

Joachim Dyck

Über die Begriffe „Geschichte“ und „Anthropologie“ bei Gottfried Benn Ein Essay Die Süddeutsche Zeitung berichtet in der Ausgabe vom 18. September 2007, daß der polnische Staatspräsident im russischen Dorf Katyn der mehr als 4.000 polnischen Offiziere gedachte, die 1940 vom sowjetischen Geheimdienst ermordet wurden: Stalin persönlich hatte im Frühjahr 1940 die Ermordung von 22.500 kriegsgefangenen Polen angeordnet, die fast alle der intellektuellen Elite angehörten, weil er in ihnen Klassenfeinde sah.

Außerdem meldete die Zeitung, die kolumbianische Guerilla-Armee Farc habe mehr als 4.000 Geiseln in ihrer Macht. Auch seien bei einem Selbstmordanschlag im Süden Afghanistans mindestens acht Menschen getötet worden, zudem habe die türkische Polizei im Zusammenhang mit einem vereitelten Anschlag sieben Verdächtige festgenommen. Im Irak kamen mindestens vierundzwanzig Menschen ums Leben. Dutzende sunnitischer Aufständischer nahmen ein schiitisches Dorf nördlich von Bagdad ein und töteten dabei mindestens fünfzehn Menschen. Leibwächter der Firma Blackwater erschossen acht Iraker und verletzten dreizehn. Der Spiegel assistierte: „Mehr als 50 Menschen sind bei den Gefechten unter Schiiten in der Pilgerstadt Kerbela ums Leben gekommen, mindestens 40.000 Menschen sind seit Ende der achtziger Jahre in einem Guerillakrieg gestorben, den muslimische Rebellen gegen die indische Armee angezettelt haben.“1 Der Blick in Tageszeitung und Wochenblatt bestätigt Benns Meinung: Die Gesellschaft tut so, als ob sie nicht wüßte, was Geschichte ist. Jeder aber weiß, sie ist reiner Mord und Totschlag von jeher u. in aeternum u. es hat gar keinen Sinn, sie mit moralischen oder intellectuellen Vokabeln zu verzieren. Man höre endlich mit dieser Geschichts-,philosophie‘ auf, diesem unsauberen Feigenblatt vor dem filzläusebepackten Unterleib des Pithekanthropos.2

Benn hat seine Einsicht in den Ablauf der Geschichte im Essay Weinhaus Wolf so formuliert: Wer auf dem Tiger reitet, kann nicht herab. Chinesisches Wort. Auf Handeln angewendet: es führt zu Geschichte. Handeln ist Kapitalismus, Rüstungsindustrie. Malplaquet –

–––––––— 1 2

Der Spiegel, 37 (2007), 122, 154. Gottfried Benn, Briefe an F.W.Oelze, 3 Bde., Wiesbaden / München 1977–1979, II 46.

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Borodino – Port Arthur – 150.000 Tote, 200.000 Tote, 250.000 Tote – niemand kann die Geschichte mehr anders sehen denn als die Begründung von Massenmorden.3

Und an Friedrich Wilhelm Oelze schreibt er im April 1938: Ach, manchmal einen Augenschlag lang überblickt man die Erde, die viertausendjährige vom Zwischenstromland bis heute, von Ur bis Champs Elysées, vom Leuchtturm von Pharos bis zum Blinklicht der Flak (1 1/2 Milliarden Kerzenstärke) und man sieht überall nur Beile und Lanzen, Knechtung, Verrat, Schande und Mord, Horden und Viecher, eine Gondel auf dem Nil, eine Gondel auf dem Canale Grande, die meisten Lümmel, selten ein Herr, immer Bestechung, alles Zufall. Alexander der Grosse lag in Honig einbalsamiert während der ganzen hellenistischen Epoche im Mausoleum in Alexandrien, jetzt seit 100 Jahren Napoleon im Invalidendom – wie ähnlich ist das alles!4

Ein paar Jahre später rechnet er im Essay Zum Thema Geschichte (1943) mit den Deutschen und ihrem nationalsozialistischen Terror-Regime ab und fragt sich nach dem Inhalt der Geschichte: Um mich zu belehren, schlage ich ein altes Schulbuch auf, den sogenannten kleinen Plötz: Auszug aus der alten, mittleren und neuren Geschichte, Berlin 1891, Verlag G.A. Plötz. Ich schlage eine beliebige Seite auf, es ist Seite 337, sie handelt vom Jahre 1805. Da findet sich 1x Seesieg, 2x Waffenstillstand, 3x Bündnis, 2x Koalition, einer marschiert, einer verbündet sich, einer vereinigt seine Truppen, einer verstärkt etwas, einer rückt heran, einer nimmt ein, einer zieht sich zurück, einer erobert ein Lager, einer tritt ab, einer erhält etwas, einer eröffnet etwas glänzend, einer wird kriegsgefangen, einer entschädigt einen, einer bedroht einen, einer marschiert auf den Rhein zu, einer durch ansbachisches Gebiet, einer auf Wien, einer wird zurückgedrängt, einer wird hingerichtet, einer tötet sich –, alles dies auf einer einzigen Seite, das ganze ist zweifellos die Krankengeschichte von Irren.5

Bestätigen die tagespolitischen Nachrichten der Süddeutschen Zeitung vom 18. September 2007 oder die Bemerkungen im Spiegel diesen Eindruck? Mehr als vierzig Jahre ist es her, daß sich Beda Allemann mit dem Problem der Geschichte bei Benn beschäftigte. Der Abschnitt „Die anti-historische Tendenz“ beginnt er mit dem Satz: „Die Ablehnung, mit der Benn dem Komplex des Geschichtlichen begegnet, ist jedem Leser seiner Essays vertraut“.6 Eine solche Formulierung bleibt ungenau, denn Benn lehnt ja nicht einen „Komplex des Geschichtlichen“, was immer das ist, ab, sondern er lehnt Auffassungen ab, die in der Geschichte, soweit sie uns bekannt ist, eine Entwicklung des Menschen zum Höheren, zum Besseren, zur Verminderung seiner Leiden entdecken wollen: „Was soll man denn zu einem Geschehen sagen? Geschähe es nicht so, geschähe es ein wenig anders. Leer würde die Stelle nicht bleiben.“7 Allemann stützt seine Argumentation auf moralische Einschätzungen, wenn er weiter behauptet, Benn habe einen „Abscheu vor der Geschichte als Handlungsver–––––––— 3 4 5 6 7

Gottfried Benn, Sämtliche Werke, Stuttgart 1986ff, IV 228. Benn, Briefe, I 190. Benn, Sämtliche Werke, IV 298f. Beda Allemann, Gottfried Benn. Das Problem der Geschichte, Pfullingen 1963, 19. Benn, Briefe, II 17 f.

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lauf“ gehabt8 oder die Beschäftigung mit Geschichte als einen „Mangel an Tiefe“ gebrandmarkt. Allemann bringt Beispiele für Benns „antihistorische Tendenz“, zieht Nietzsche, Spengler und Evola heran, spricht von einem „deutlich antihistorischen, antigeisteswissenschaftlichen Geschichtsbegriff“,9 will dann aber eine Erklärung für Benns Eintreten für den Neuen Staat 1933 finden und bemüht einen „positiven Geschichtsbegriff“, in „der einzigen Phase seines Lebens, in welcher Benn sich auf die Politik einließ“.10 Und bei Christoph Eykmann geht es ähnlich unklar zu. „Anti-historische Einstellung“, „Geschichtsfeindlichkeit“, „das Spiel“ sollen als Modell einer „pessimistischen Wirklichkeits- und Geschichtsbetrachtung“ gelten,11 Benns Auffassungen seien durch einen Verlust des geschichtlichen Bewußtseins auf der Grundlage einer bewußtseinsfeindlichen, biologisch ausgerichteten Anthropologie gekennzeichnet“.12 Der Wissenschaftler, der sich mit der Historie beschäftigt, sollte bei den Quellen bleiben. Benn tritt 1933/1934 in zwei Rundfunkreden,13 die gleichzeitig in Zeitungen gedruckt werden, für eine neue Staatspolitik, für eine neue Staatsverwaltung, für einen totalitär geführten Staat ein, wobei er nicht an die terroristische Parteiherrschaft der NSDAP denkt. Aber was haben Aufsätze wie Der neue Staat und die Intellektuellen mit seiner Auffassung von der Sinnlosigkeit des geschichtlichen Prozesses zu tun? Benn erwartet vom totalen Staat eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die Deutschen und bringt das auch zum Ausdruck: „Alle müssen den Staat stützen, unser Aller Leben und Existenz hängt davon ab“. Als Benn diesen Satz an Carl Werkshagen am 23. April 1933 schreibt, redet in der gleichen Woche Johannes Popitz, Staatsminister und Preussischer Finanzminister, vor der Berliner Mittwochsgesellschaft, einem Privatclub bedeutender Persönlichkeiten. Popitz gehört zu den Opfern des 20. Juli und ist über den moralischen Vorwurf des Opportunismus und Mitläufertums erhaben. Popitz läßt keinen Zweifel daran, daß er im Nationalsozialismus eine folgerichtige und notwendige Entwicklung sieht, die gleichzeitig eine Chance zur Überwindung der Krise bietet, denn die „pluralistischen, interessemäßig eingestellten, jeder totalen Idee entbehrenden Kräfte“ hätten staatliches Handeln in der Republik unmöglich gemacht.14 –––––––— 8 9 10 11 12 13

14

Allemann, Gottfried Benn, 20. Ebd. 36. Ebd. 31. Christoph Eykman, Geschichtspessimismus in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, Bern / München 1970, 100. Eykmann, Geschichtspessimismus, 110. „Der neue Staat und die Intellektuellen“, Rundfunk 24. 4. 1933, Berliner Börsen-Zeitung vom 25. 4. 1933 – „Antwort an die literarischen Emigranten“, Rundfunk 24. 5. 1933, Deutsche Allgemeine Zeitung 25. 5. 1933. Am 26. 4. 1933. Vgl. ausführlicher Joachim Dyck, Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929– 1949, Göttingen 2006, 96.

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Benn teilte diese Überzeugung mit Popitz. Aber nicht erst 1933. Denn er äußert sich ja bereits ab 1929 deutlich, wenn er der stalinistischen Linken und ihren politischen Verlautbarungen seine eigene Auffassung entgegensetzt: Becher und Kisch gehen davon aus, daß Jeder, der heute denkt und schreibt, es im Sinne der Arbeiterbewegung tun müsse, dem Aufstieg des Proletariats seine Kräfte leihen? Warum eigentlich? Soziale Bewegungen gab es doch von je her. Die Armen wollten immer hoch und die Reichen nicht herunter. Schaurige Welt, kapitalistische Welt, [...] aber nach drei Jahrtausenden Vorgang darf man sich wohl dem Gedanken nähern, dies sei Alles weder gut noch böse, sondern rein fänomenal.15

Die Tatsache der menschlichen Gesellschaft als funktionaler Prozeß bringt keinen Sinn hervor: Die Geschichte ist ohne Sinn, keine Aufwärtsbewegung, keine Menschheitsdämmerungen; keine Illusionen mehr darüber, kein Bluff. Die Geschichte ist der Schulfall des Fragmentarischen, ein Motiv Orient, eine Myte [sic] Mittelmeer; sie übersteht den Niagara, um in der Badewanne zu ertrinken; die Notwendigkeit ruft und der Zufall antwortet. Ecce historia! Hier ist das Heute, nimm seinen Leib und iß und stirb. Diese Lehre scheint mir weit radikaler, weit erkenntnistiefer und seelisch folgenreicher zu sein als die Glücksverheißungen der politischen Parteien. Ja, es erscheint mir geradezu angebracht, nach den 10 Jahren, die wir hinter uns haben, und nach Allem, was man aus Rußland hört, dem einmal ins Gesicht zu sehen: dem Typischen des proletarischen Prozesses, der Immanenz des revolutionären Schocks, dem reinen Umschichtungscharakter der neuen Machtlage bei gleichgebliebener imperialistischer und kapitalistischer Tendenz. Aber dazu gehört natürlich mehr Mut, als den Nachklängen der französischen Revolution zu lauschen ... und Träume zu beschwören, die doch Andere verwirklichen sollen.16

Von den Folgen der stalinistischen Politik, etwa den toten Kulaken, wußte man damals noch nichts. Die „Große Säuberung“ erfolgte unter der direkten Regie des Politbüros. Mit dem Befehl 00447 von Juli 1937 wurden für alle Regionen des Landes Planziffern für Liquidierungen zugewiesen.17 Nach diesem Plan sollten 259.450 Menschen verhaftet werden. Mit dem Beschluß des Politbüros vom 2. Juli 1937 wurden dann in der so genannten Kulaken-Operation 670.000 Menschen verhaftet und mehr als 400.000 erschossen.18 Die Geschichte, die sich der Mensch macht, der der Mensch unterliegt, man könnte auch sagen, in der er aufwächst, kann, überblickt man Jahrtausende menschlichen Lebens, keinen Sinn vermitteln. Benn wirft Oelze vor: Ihre Auffassung muß entstehn, wenn man die Geschichte ideologisch sieht, an sie glaubt, hinter ihr was vermutet. Das tat ich nie. Der Hintergrund blieb für mich immer das letzte mühselige Sichbehaupten einer alten Rasse, von den Slawen u. Mongolen bedroht. Es gibt Pausenzeichen in der Geschichte, die hört man sich an und denkt, wie klingt das reizend und hoffnungsvoll, direkt aus einer Löweschen Ballade, aber dann setzt die Geschichte selber wieder ein und des ‚Unaufhörlichen‘ Motiv beginnt: Hinan, hinab.19

–––––––— 15 16 17 18 19

Benn, Sämtliche Werke, III 220. Ebd. III 221f. Wehner, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 8. 1997. Ebd. Benn, Briefe, I 31.

Über die Begriffe „Geschichte“ und „Anthropologie“ bei Gottfried Benn

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Benn zitiert aus dem Oratorium Das Unaufhörliche, und nachdem festgestellt ist, das „das Gesetz des Unaufhörlichen“ herrscht, stellt er die wichtige und für das Individuum die einzig wichtige Frage: „Wie begegnet der Mensch von heute dieser allgemeinen Trauer des Seins?“20 Benn wendet sich gegen die Auffassung, daß Komfort, Hygiene und technischer Fortschritt die Perspektiven für eine Gesellschaft sein können, die keine Lösung für die Probleme, die den Menschen betreffen, darstellt. Seiner Meinung nach sind es die „inneren Leistungen, für die wir das Bewußtsein eingeprägt erhielten, für Kräfte der Ordnung und des individuellen Verzichts.“21 Allerdings fühlt sich Benn mit dieser Einstellung zur Geschichte alleingelassen, denn „nirgends sieht man eigentlich das wirklich tiefe kalte Grinsen über die Sache“.22 Er benutzt Begriffe für den Geschichtsablauf wie „das Geschehen“,23 „ein verwehender Reflex“, „ein ferner Rhythmus, der sich verborgen hält“.24 „Dies alles, was sich da abspielt, sind Mächte“,25 „leicht und jedes sich erfüllend gehn die Geschlechter dahin, ein Tag mit Schnee und ein Tag mit Apfelblüten – dahin und wir altern leise“.26 Es gibt einige Untersuchungen zu Benns Geschichtsauffassung, sie sind bei Christian M. Hanna27 verzeichnet. Auch liegen die Ergebnisse zu Benns geschichtsphilosophischer Positionsbestimmung im Vergleich zu Schillers Geschichtsteleologie jetzt vor.28 Büssgen faltet aus, daß Benns Kritik an Schiller als Geschichtstheoretiker sich auf dessen Postulat einer kontinuierlichen Verwirklichung bestimmter Vernunftideen in der Geschichte richtet.29 Ich spare mir hier weitere Belege für die Ansicht Benns, daß der menschliche Erklärungswille, ja geradezu der Wille zur Gestaltung, zum Ausdruck, der den Künstler beherrscht, im Falle der Geschichte an seine Grenzen stößt und ohnmächtig bleiben muß. Geschichtliche Vorgänge bleiben ein Rätsel, das der menschlichen Geschichte immanent und nicht auflösbar ist. Denn die Geschichte geht weiter, hinab, hinan, aus den Ereignissen der Jahrtausende lassen sich für den denkenden Geist keine Gesetze ableiten, die Ursprünge bleiben im Dunkel.

Benn denkt über das Rätsel des menschlichen Lebens nach. Er spielt sein Wissen und seine gesellschaftlichen Erfahrungen aus, er stellt zuerst eine Idee vor und später eine andere, bemüht verschiedene Denkmodelle, ganz unsystematisch, als Philosoph und Aphoristiker, und Oelze muss sich anhören: –––––––— 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Benn, Sämtliche Werke, VII/1 189. Ebd. VII/1 189. Benn, Briefe, 1 57. Ebd. I 331. Ebd. II 54. Ebd. I 81. Ebd. I 160. Christian M. Hanna, Gottfried Benn Bibliographie. Sekundärliteratur 1957–2003, Berlin / New York 2006. Antje Büssgen, Glaubensverlust und Kunstautonomie. Über die ästhetische Erziehung des Menschen bei Friedrich Schiller und Gottfried Benn, Heidelberg 2006. Büssgen, Glaubensverlust, 375.

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Sie schreiben: ‚alles klar und alles zu Ende‘? Nein, das finde ich nicht! Es ist garnichts klar. Die Augen öffnen sich im Unklaren u. schließen sich im Verdunkelten; warum auch nicht; warum so wach, warum so voller Dränge; etwas ist wahrscheinlich da u. lebt, aber was es ist, werden wir nie wissen.30

Und was hat es mit der Sinnfälligkeit des Begriffs „Anthropologie“ für das Bennsche Werk auf sich? Wir suchen Auskunft bei dem renommierten Philosophen Odo Marquardt. Er ist keineswegs mehr jung, als er dem Anmerkungsteil seines Aufsatzes Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie folgendes Heinezitat voranstellt: „Und doch ist das Zitieren alter und neuer Bücher das Hauptvergnügen des jungen Autors, und so ein paar grundgelehrte Zitate zieren den ganzen Menschen.“31 Daß dem alten Wissenschaftler Marquardt das Zitieren jedoch Freude bereitet, zeigt das Verhältnis des Textes zu den Anmerkungen: Zwanzig Seiten Text stehen fünfunddreißig Seiten Anmerkungen gegenüber, wobei manche Anmerkungen mehr als eine ganze Seite umfassen und nur aus Literaturhinweisen bestehen. Aus der Arbeit von Marquardt wird dem Nicht-Philosophen sofort deutlich, daß es keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Inhalt des Begriffs „Anthropologie“ geben kann. Und man braucht nur den mit großer Kenntnis und Schwung geschriebenen Artikel von Wolfgang Riedel Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung32 zu studieren, um zu verstehen, daß das Problem des Begriffs und seines Inhalts ungelöst bleiben muß. Denn auch Riedel macht sich ein Vergnügen daraus, in langen Anmerkungen die wissenschaftliche Literatur zu benennen, auf die er sich bezieht und mit der er sich auseinandersetzt. Diese methodisch überzeugende Haltung wird der Literaturhistoriker anerkennend wahrnehmen, denn der Wissenschaftler Riedel hebt sich eindrucksvoll von seinen Kolleginnen und Kollegen ab, die mit den schaumigsten Formulierungen glänzen wollen, ohne für ihre Assoziationskunst auch nur die Spur eines Belegs beizubringen. Sie drücken sich aus wie die Gemüsefrau, die Erich Kästner im Dezember 1949 in den Stuttgarter Nachrichten unter der Überschrift „Marktanalyse“ sagen läßt: Der Kunde zur Gemüsefrau: Was lesen sie denn da, meine Liebe? Ein Buch von Ernst Jünger? Die Gemüsefrau zum Kunden: Nein, ein Buch von Gottfried Benn. Jüngers kristallinische Luzidität ist mir etwas zu prätentiös. Benns zerebrale Magie gibt mir mehr.33

Nachdem ich mir auf diese Weise, wie Benn an Thea Sternheim anläßlich ihrer Auswanderung 1932 schrieb, das Ressentiment gegen diejenigen abgestoßen habe, die den Wissenschaftsfeuilletonisten mit dem Wissenschaftler vertauschen, trage ich Ihnen zum Schluß vor, was ich in Vorbereitung dieses Kongres–––––––— 30 31 32

33

Benn, Briefe, III 220. Odo Marquardt, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973. Wolfgang Riedel, Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung, in: Wolfgang Braungart / Klaus Ridder / Friedmar Apel (Hg.), Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie (Bielefelder Schriften zu Linguistik und Literaturwissenschaft Bd. 20), Bielefeld 2004, 337–366. Stuttgarter Nachrichten vom 29. 12.1949.

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ses als Antwort auf die Frage herausgefunden habe, die Benn stellt: „Was ist der Mensch“. Ich erwähne einige Äußerungen, da Benn sich mit dieser Frage sein Leben lang herumgeschlagen und dies und jenes als Antwort probiert hat. Benn steht natürlich mit dieser Frage in einer alteuropäischen Tradition, die in Jahrhunderten eben diejenigen Wissenschaften – oder sollen wir sagen Philosophien – entwickelt hat, die sich Anthropologie nannten. So jedenfalls Kant, der die Rückführung der drei philosophischen Grundfragen nach Wissen, Tun und Hoffen auf die vierte Frage nach der Anthropologie „Was ist der Mensch“ zurückführt. Der alte Benn hat zwei Jahre vor seinem Tode, im Juni 1954, im Gedicht Melancholie, die Antwort so gefaßt: Was ist der Mensch – die Nacht vielleicht geschlafen, doch vom Rasieren wieder schon so müd, noch eh ihn Post und Telefone trafen, ist die Substanz schon leer und ausgeglüht, ein höheres, ein allgemeines Wirken, von dem man hört und manches Mal auch ahnt, versagt sich vielen leiblichen Bezirken, verfehlte Kräfte, tragisch angebahnt: man sage nicht, der Geist kann es erreichen, er gibt nur manchmal kurzbelichtet Zeichen.

Das klingt nach Unernst des Alters, nach Ausweichen in die Ironie. „Aber“, schreibt Benn an Oelze, „was ist der Mensch, wir wissen es ja nicht“.34 Wissen heißt, in gesicherten Erkenntnissen zu denken. Das wird uns heutzutage von den Naturwissenschaften vorgegaukelt, die zusammen mit Industrie und Wirtschaft den gesellschaftlichen Deutungsdiskurs vollständig übernehmen wollen. Es wird gemessen und analysiert und im Fernsehen können wir dann die Ergebnisse in der 3sat-Sendung Nano zur Kenntnis nehmen. Der Mensch ist in diesem Prozeß allerdings dem analysierenden Blick entschwunden: Je älter ich werde, umso rätselhafter wird mir, was der Mensch als zoologische Erscheinung eigentlich bedeutet. Er ist kein Tier, aber was er ist, ist so unheimlich und heimtükkisch, daß ich tagelang in kein Gesicht mehr sehen kann.35

Und selbst das individuelle Schicksal entbehrt einer dem menschlichen Geist oft unterstellten Rationalität, die Sigmund Freud in Frage stellte und Benn auch: Eine weitere Frage ist die: glauben Sie, daß wir unser Schicksal in der Hand haben? Nein, es führt uns und treibt uns weiter und wir selber bereiten uns unseren Untergang aus unseren Werken.36

Aus dieser Bemerkung gegenüber Oelze ergäbe sich die Frage nach der Selbstbestimmung des Menschen, weil damit die Frage nach einer Anthropologie unmittelbar berührt ist. –––––––— 34 35 36

Benn, Briefe, II 174. Ebd. II 177. Ebd. II 208.

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Benn kannte die Barock-Tradition als Kind eines Pfarrers, das durch Konfirmationsunterricht und Gottesdienstbesuch mit den christlichen Glaubensinhalten und den protestantischen Kirchenliedern vertraut war: Was ist mein ganzes Wesen von meiner Jugend an als Müh und Not gewesen? Solang ich denken kann, hab ich so manchen Morgen, so manche liebe Nacht mit Kummer und mit Sorgen des Herzens zugebracht.

Das ist die Antwort Paul Gerhardts37 auf die Einsicht des Barock, des contemptus mundi und des vanitas-Glaubens dieser Zeit, der ja auch die Frage nach dem Menschen stellt, darauf allerdings eine theologische Antwort gibt. Wir können nichts wissen: Das hat schon der junge Benn gemeint: Ignorabimus. Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, vielleicht unseres Lebens, kann es keine Antwort geben, denn es handelt sich um eine Frage, die ein Zeichen von Unreife ist. Wird sie von einem Erwachsenen gestellt, ist sie der Ausdruck einer psychischen Regression:38 Durch so viel Formen geschritten, durch Ich und Wir und Du, doch alles blieb erlitten durch die ewige Frage: Wozu? Das ist eine Kinderfrage. Dir wurde erst spät bewußt, es gibt nur eines: ertrage – ob Sinn, ob Sucht, ob Sage – dein fernbestimmtes: Du mußt.

Die Unmöglichkeit einer Antwort führt gleichwohl nicht einfach zur Resignation. Im Gegenteil. Sie gebiert Benns Heroismus, der weder militant noch militärisch ist, sondern der die Entscheidung zur Sprache bringt, dieses Leben auf sich zu nehmen und es ohne Hoffnung auf transzendente Inhalte zu leben: Hoffen heißt: Vom Leben falsche Vorstellungen haben, von dem, was es fordert, und von dem, was es bieten kann und vor allem von dem, was man ohne Hoffnung zu leisten und zu tragen hat.39

Benns Dennoch-Motiv wäre hier zu entfalten: „Dennoch die Schwerter halten vor die Stunde der Welt“,40 tapfer zu sein angesichts der Übel: ,Tapfer‘ wäre ein Wort, daß in einem Sachregister der Oelzebriefe eine bedeutende Stelle einnehmen würde: Benn war bereits achtundzwanzig Jahre alt, als er in den Ersten –––––––— 37 38 39 40

Evangelisches Kirchengesangbuch Nr. 326: „Ich bin ein Gast auf Erden“. Benn, Sämtliche Werke, I 320. Ebd. VI 121. Ebd. I 174.

Über die Begriffe „Geschichte“ und „Anthropologie“ bei Gottfried Benn

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Weltkrieg zog, 1917 versuchte er als Arzt in Berlin Fuß zu fassen, in der Weimarer Republik lebte er von einem Existenzminimum, von 1935–1945 war er wieder beim Militär, und nach der Befreiung Deutschlands begann sich der sechzigjährige in der Trümmerlandschaft Berlins einzurichten. Allerdings läßt sich eine Paradoxie nicht auflösen, diejenige Paradoxie nämlich, die in der Einsicht besteht, keine Antwort zu bekommen und trotzdem nicht aufzuhören, die Frage zu stellen. Das wird deutlich in Benns letztem Gedicht, das er am 6. Januar 1956 im Manuskript abzeichnete mit dem Titel: Kann keine Trauer sein.41 Warum kann keine Trauer sein? Es kann keine Trauer sein, weil Sinnlosigkeit nicht betrauert werden kann. Andererseits bleibt im selben Gedicht die Frage gestellt: Wer trennte sie: die Worte und die Dinge, wer mischte sie: die Qualen und die Statt auf der sie enden.

Verglichen mit unserem friedlichem Leben in der westlichen Zivilisation und ihrem alltäglichen Luxus wurde Benn und seine Generation allein schon durch das ständige Leiden an der gesellschaftlichen Realität der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Besatzungszeit gezwungen, sich die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen. Benn hat keine Antwort gefunden. Und wir, wenn wir die Zeitungen aufschlagen? Hat die Auffassung von der Geschichte als Mord und Totschlag im Zeichen des Terrorismus nicht noch mehr Berechtigung gewonnen? Und die Frage nach dem Wesen des Menschen, hat sie im Konsumrausch der westlichen Welt ihren Sinn verloren?

–––––––— 41

Ebd. I 7.

Bernd Wirkus

Greco und Gewitterlicht Über Hell-Dunkel-Metaphorik in der Philosophie (Adorno, Bloch, Hegel)1

1. Begriff und Metapher Seit den Anfängen der Philosophie vollzieht sich philosophisches Denken primär und in erster Linie in Begriffen und durch Begriffe, im Gegensatz zur metapherngesättigten Dichtung. Wurde die ursprünglich auch in der Philosophie beheimatete Metapher durch die fortschreitende philosophische Abstraktion auch immer weiter an den Rand gedrängt, so konnte sie doch nicht völlig eliminiert werden und behielt in gewisser Hinsicht eine exponierte Position. Platon im besonderen erhebt den Vorwurf der Unwahrheit und Lüge gegen die Dichtung, setzt aber trotzdem an zentralen Stellen seines Werkes den Mythos, die metaphorische und gleichnishafte Beschreibung ein, um den inneren Zusammenhang seiner Philosophie zu verdeutlichen. Sein „Höhlengleichnis“ wurde geradezu zum Urgleichnis der Philosophie. In dem bis in die Gegenwart andauernden endlosen Streit um Grundaufgaben und -bestimmungen des philosophischen Denkens, den Platon selber schon mit der „Gigantomachie“, dem Kampf der Götter mit den Giganten, verglich,2 tritt die Metapher als eher unwillkommener Begleiter der philosophischen Begriffe auf und wird in dem scheinbar linearen Entwicklungsgang der Philosophie vom Mythos zum Logos immer weiter in den Hintergrund gedrängt, weil als erkennendes Instrument suspekt. In dem vom „Eröffner der neuzeitlichen Philosophie“, René Descartes als methodisches Ideal philosophischer Erkenntnis verkündeten Grundsatz einer perceptio clara et distincta,3 waren bestimmte normative Vorgaben und Erwartungen impliziert, an die philosophische Wahrheiten gebunden sein sollten. Der absolute Glaube an die Autonomie des menschlichen Geistes führte in der Folge zu einem grenzenlosen Optimismus und ließ das wissenschaftliche Denken an die Stelle religiösen Glaubens als Ersatzreligion treten. Goethe hat diese Weltanschauung in der Figur des Baccalaureus verspottet: Ich aber frei, wie mir’s im Geiste spricht, Verfolge froh mein innerliches Licht, Und wandle rasch, im eigensten Entzücken, Das Helle vor mir, Finsternis im Rücken.

–––––––— 1 2 3

Für Gert als kleine Erinnerung an unsere gemeinsame Lektüre von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ in Tübingen vor über 40 Jahren. Platon, Sophistes, 246 a. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, III, 33.

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Im Überschwang aufklärerischer Vernunftverherrlichung erschien Dunkles nur noch als Inszenierung von „Dunkelmännern“. So formuliert der Aufklärer Kant treffend das Unbehagen der damaligen Zeit an dunkler Überlieferung: Sogar wird studierte Dunkelheit oft mit gewünschtem Erfolg gebraucht, um Tiefsinn und Gründlichkeit vorzuspiegeln; wie etwa in der Dämmerung oder durch einen Nebel gesehene Gegenstände immer größer gesehen werden als sie sind. Das Skotison (mach’s dunkel) ist der Machtspruch aller Mystiker, um durch gekünstelte Dunkelheit Schatzgräber der Weisheit anzulocken.4

Kants Zeitgenosse Friedrich der Große dachte ähnlich: Unsere Philosophie ist im Grunde nichts als die Gewohnheit, dunkle, uns beinahe unverständliche Ausdrücke und Wörter zu brauchen, und ein tiefes Nachforschen über Wirkungen, deren Ursachen uns sehr unbekannt und sehr verborgen bleiben[...]. Es ist immer dieselbe Dunkelheit, dieselbe Finsternis.5

In der Helligkeit des Lichts anderseits erscheinen die Dinge nah und vertraut, konturiert, präzise und schließlich auch beherrschbar. Die Luzidität des mathematischen und naturwissenschaftlichen Denkens gilt wegen der Evidenz der Erkenntnisresultate in der rationalistischen Argumentationsform allgemein als vorbildlich bis ins 20. Jahrhundert in der Phänomenologie Edmund Husserls, der quasi als später Nachfahre Descartes’, Philosophie als „strenge Wissenschaft“ begründen will, da solchem Anspruch „die Philosophie in keiner Epoche ihrer Entwicklung zu genügen vermocht“.6 Ideale normative Prinzipien wie die der Mathematik könnten von keinerlei historisch-empirischen Tatsachenwissenschaften auf ihre Gültigkeit hin, die überzeitlicher Natur sei, überprüft werden. Darum müsse die phänomenologische Wesenwissenschaft analog zur reinen Mathematik eine Rationalisierung der geistigen Sphäre in die Wege leiten. Nachklänge des Aufklärungsdenkens schwingen darin mit und werden durch die Erfolge der Naturwissenschaften speziell im 19. Jahrhundert noch mächtig verstärkt. Dennoch war auch Husserls Versuch, die philosophische Misere ein für alle Mal zu beenden, schließlich gescheitert. Aus nominalistischpositivistischer Sicht blieben vom Traditionsbestand philosophischen Denkens nur pejorative Konnotationen wie „Begriffsdichtung“ oder „Leerformeln“ übrig. Über Dignität und Leistung des philosophischen Begriffsinstrumentariums wurde daher bis heute keine befriedigende Lösung gefunden. Die scheinbar voraussetzungslos denkenden Wissenschaften und die sich daran orientierende transzendentalphilosophische Denkform, die scheinbar unwiderlegbare Erfolge seit der Aufklärung erzielen konnten, haben gleichsam immanent einen „blinden Fleck“, der sowohl ihre Herkunft wie ihr Selbstverständnis betrifft, sehen sie doch nicht Ungleichzeitigkeiten, Überlagerungserscheinungen, Inkonsistenzen –––––––— 4 5 6

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Neu herausgegeben von Reinhard Brandt, Hamburg 2003, 22. Zit. nach Oswald Bumke, Gedanken über die Seele, Berlin 1941, 11, Anm. 4. Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), in: Gesammelte Werke, Den Haag 1984, XIX 3.

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und Inkonsequenzen, die der historische Boden, auf dem die Wissenschaften notgedrungen stehen, ihnen aufoktroyiert und der das systematische Gesamtgefüge der theoretischen Kategorien mitprägt. Die erreichte begriffliche Klarheit war in Wirklichkeit eine scheinhafte, von den eigenen Suggestionen der Sprache gleichsam hypnotisch erzeugte, so daß sich im 20. Jahrhundert und seinen revolutionären Umwälzungen auch im physikalischen Weltbild Zweifel an den scheinbar unumstößlichen Erkenntnisgewißheiten einstellten. So fragte etwa der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker selbstkritisch: Könnte es nicht sein, daß es Wirklichkeiten gibt, die sich der Erkenntnis in der Form einsehbarer Gewißheit gerade verschließen, sei es, daß sie sich anderen Weisen des Denkens oder Erfahrens öffnen, sei es, daß sie zur Verborgenheit bestimmt sind?7

Die von Georg Wilhelm Friedrich Hegel zuerst aufgestellte Forderung, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären, da sie zwar die wahren Hintergründe des Glaubens und der Religion aufdecken wollte (écrasez l’infâme), aber „ebensowenig über sich selbst aufgeklärt“8 war, wurde Programm historisch argumentierenden Philosophierens. Dabei wurde immer deutlicher, daß begriffliches Denken, um sich im Selbstverständnis seiner selbst zu versichern und in Szene zu setzen, über den eigenen methodologischen Horizont hinaus auf geschichtlich bewährte Bilder, d.h. auf die fundamentalen „Realitätsvokabeln“9 Licht und Dunkel, Helligkeit und Finsternis, Tag und Nacht, die den elementaren Lebensrhythmus der Menschen vorgeben und bestimmen, zurückgreifen muß. Die apodiktischen Abgrenzungsversuche der szientistisch-positivistischen Ansätze in der Philosophie, die schließlich in dem dekretierenden Satz Ludwig Wittgensteins: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“10 enden, konnten nur einen intellektuellen Überraschungseffekt erzielen, aber keine befriedigende Lösung für die Sprachnöte des Menschen, als eines auf sprachliche Kommunikation hin angelegten Wesens, bieten. So versuchte der Philosoph Hans Blumenberg seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch eine „Theorie der Metaphorologie“ die Legitimation des nichtdefinitorischen Sprechens in der Philosophie zu erweisen, mit der Frage, ob nicht gerade vollkommene Begriffe den Ansprüchen und Bedürfnissen der Vernunft konträr laufen.11 Mit der Erfüllung der Descartesschen Methode wäre eine „Universalität der Deckung von Sprache und Denken“ erreicht, wie es nach –––––––— 7 8 9 10 11

Carl Friedrich von Weizsäcker, Voraussetzungen des naturwissenschaftlichen Denkens. Freiburg 1972, 22. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Berlin 1832ff, II 435. Zit. nach Wolfgang Rothe, Der Expressionismus. Theologische, soziologische und anthropologische Aspekte einer Literatur, Frankfurt am Main 1977, 16. Dies ist der letzte Satz in Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1921). Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt am Main 2007, 11.

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Blumenberg der „letzte Cartesianer“ Husserl formuliert hatte,12 die allerdings Utopie bleiben muß. Die Metapher als ästhetisches Medium nun ist Blumenberg zufolge selbst in der „Ursprungssphäre des Begriffs beheimatet“13 und hat für dessen Unzulänglichkeiten fortwährend einzustehen. Sie kann „extrem auseinander liegende Bereiche miteinander“ verbinden.14 Metaphern füllen die Lücke, die der niemals zu beseitigenden „Inkongruenz von Sprache und Begriff“15 und der Unmöglichkeit einer aus eindeutiger Zuordnung der Dinge und Verhältnisse entstehenden vollkommenen Begrifflichkeit entspringt. Ohne Verflechtung und Verzahnung von natürlichen und geschichtlichen Vorstellungen im menschlichen Bewußtsein läßt sich darum wissenschaftliches und speziell philosophisches Denken nicht begreifen. Der wahre Wert der Wissenschaft, so meinte Hegels Zeitgenosse Wilhelm von Humboldt, liege in der Bildung des menschlichen Geistes, dahingehend, „daß er den schwer zu entdeckenden Punkt nicht verfehlt, auf welchem Gedanke und Wirklichkeit sich begegnen und freiwillig ineinander übergehen“.16 Dieser Punkt könnte die Metapher sein, die gespeist aus der Kraft der Vergangenheit neue Horizonte eröffnet. Metaphern, die sich einer objektivierenden Sichtweise entziehen und sich überhaupt nicht in die Dimension der Logik transformieren lassen, nennt Blumenberg „absolute Metaphern“: Sie widersetzen sich der Einordnung in logische Kontexte, also der abschließenden Konsequenzlogik, erschließen statt dessen die Vorstellung einer Totalität der Wirklichkeit und repräsentieren dabei „das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität“.17 Die Metapher kann darum nicht als bloßer ornatus im Sinne der klassischen Rhetorik verstanden werden: in diesem Falle wäre sie nur ein Hindernis auf dem Wege zur wahren Erkenntnis, und Aristoteles hätte mit seiner rhetorischen Maxime: „Was einer schreibt, muß leicht zu lesen sein“,18 sicherlich recht. Kein Wunder also, daß er die Philosophie des Vorsokratikers Heraklit wegen der Doppeldeutigkeit ihrer stark verdichteten, aphorismusartigen Sentenzen für „unlesbar“ und ein „Verwirrspiel ohne Anfang und Ende“ hielt.19 Vor allem wegen seines metaphernreichen Denkstils erhielt Heraklit bereits in der Antike den teils lobend, teils tadelnd gemeinten Beinamen „Skoteinós“, der Dunkle, oder auch der „Rätselersinner“.20

–––––––— 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Ebd. Ebd. 28. Ebd. Ebd. 65. Zit. nach Helmuth Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Reinbek 1963, 9. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, 20. Zit. nach Franz Josef Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 2004, 20. Aristoteles, Rhetorica, 1407 b 11. Zit. nach Luciano De Crescenzo, Alles fließt, sagt Heraklit, Gütersloh 1997, 60. Ebd.

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2. Weltphilosophie oder Panlogismus? Besteht aber die Dunkelheit der Rede nur im Verschleiern der Gedanken, in der Vortäuschung von Tiefe, in jenem „Skotison“ der Mystiker? In der Neuzeit ist es insbesondere die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels, der die Eigenschaft des Dunklen, Unverständlichen in Sprache und gedanklichem Aufbau, teils anerkennend, größtenteils jedoch aus Mißtrauen oder gar Verachtung zugesprochen wurde. Schon Karl Marx hatte nach der Lektüre Hegelscher Schriften in einem Brief an seinen Vater dem Unbehagen an der „grotesken Felsenmelodie“ von Hegels Stil Ausdruck gegeben,21 änderte aber nach näherer Bekanntschaft mit der Hegelschen Philosophie im Kreis der Junghegelianer seine Meinung darüber mit den Worten: Nun „offenbarte sich manche widerstrebende Ansicht, und immer fester kettete ich mich selbst an die jetzige Weltphilosophie, der ich zu entrinnen gedacht“.22 Tatsächlich läßt sich Hegels Philosophie toto genere als eine „Weltphilosophie“, nicht allein im politischen Sinne, sondern primär und vor allem im genuin philosophischen Verstande auffassen. Noch im Jahr 1870, anläßlich Hegels hundertstem Geburtstag, widmete ihm einer seiner letzten getreuen Anhänger, Carl Ludwig Michelet, eine Schrift mit dem Titel „Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph“. Dies war und ist mehr als eine unkritische Eloge oder gar Floskel: sah es doch Hegel als die zentrale Aufgabe der Philosophie (und damit auch seiner eigenen) an, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen, nicht sie jedoch im reinen Denken aufzulösen und zu vergessen. Das revolutionär Neue an Hegels philosophischem Weltbild war die Abkehr von der aristotelischen Auffassung der Philosophie als „Denken des Denkens“,23 die sich auch noch in der Ouvertüre des Rationalismus, Descartes’ „cogito ergo sum“, widerspiegelt und die schließlich in extremen Positionen eine solipsistische Abkapselung von der Welt bedeutet, so daß sich zurecht sagen läßt: Hegel hat nicht „die Welt selbst als Denken, sondern das Denken der Welt gedacht“.24 Die meisten Vorurteile gegen Hegels Philosophie resultieren aus der offensichtlichen Unfähigkeit, diese Grundrichtung des Hegelschen Denkens überhaupt in den Blick zu bekommen. Daran sind trotz seiner Verdienste um die Erforschung vor allem des jungen Hegel gerade auch die von Wilhelm Dilthey initiierten hermeneutischen Geisteswissenschaften nicht schuldlos: erschien doch Dilthey Hegels Dialektik wie eine „gewaltige Maschine [...], die im Leeren arbeitet“.25

–––––––— 21 22 23 24 25

Karl Marx, MEGA, I, 2 218. Franz Mehring (Hg.), Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, Berlin 1902, I 20. Aristoteles, Metaphysik, XII, 9. Werner Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz: Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992, 136. Clara Misch, Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852–1870, Leipzig / Berlin 1933, 87. Zit. nach Stegmaier, Fluktuanz, 132.

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Die von dem Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer begonnene Erneuerung der Hermeneutik, vor allem seit seinem Werk Wahrheit und Methode (1960), wollte dagegen wieder einen Weg zum genuinen Denken Hegels bahnen, dessen Dringlichkeit von ihm bereits 1940 in seiner Antrittsrede an der Universität Leipzig „Hegel und der geschichtliche Geist“ unmißverständlich formuliert worden war: Seit Hegel das letzte allgemein anerkannte philosophische System im Bewußtsein seiner Zeit verankerte, sei die Philosophie zu einer „akademischen Schattenwelt von wieder kommenden Geistern (die dann Kantianismus, Hegelianismus u. ä. heißen)“ verkümmert und nur noch von weltbewegenden Ausnahmeexistenzen wie Kierkegaard und Nietzsche getragen worden. Durch Hegel habe sich der Geist als geschichtliches Bewußtsein selbst erkannt und daher sei die Verbindung Hegel und der geschichtliche Geist kein beliebiger Einzelgegenstand philosophisch-historischer Forschung, auch nicht einmal ein für die gegenwärtige Philosophie besonders lebendiges Kapitel ihrer Geschichte – es ist die Frage nach Sein und Möglichkeit der Philosophie überhaupt, die uns von diesem Gegenstande her lebendig ergreift, eine Frage, die dem philosophischen Bewußtsein gegenwärtig ist, seit dieses zugleich ein geschichtliches Bewußtsein geworden ist.26

Die Sterilität der Hegel-Rezeption war nicht zuletzt dem seit Mitte des 19. Jahrhunderts herumgeisternden Schlagwort „Panlogismus“ zuzuschreiben, mit dem man unter bequemer Umgehung der Hegelschen „Anstrengung des Begriffs“ ein passendes Etikett für alles zur Hand hatte, was irgendwie nach der Hegelschen Identifikation von Vernunft und Wirklichkeit aussah. Diese populäre Phrase setzte sich immer mehr im Bewußtsein der Zeit als communis opinio über Hegel fest, diskreditierte nicht nur nachhaltig dessen Ansehen, sondern setzte in der Folge eine Reihe weiterer unglückseliger Vorurteile in Umlauf. Erst der von Georg Simmel beeinflußte Neukantianer Richard Kroner wollte mit seiner groß angelegten historischen Studie Von Kant zu Hegel (1924) das „Unheil“, welches dieses Schlagwort angerichtet hatte, wiedergutmachen, freilich um den Preis, daß er den Panlogisten Hegel zum „größten Irrationalisten der Philosophie“27 mutieren ließ. Das Verdikt des angeblichen Panlogismus Hegels operiert jedoch selbst mit einer Begriffssprache, die – wie der geniale Hölderlin-Forscher Norbert von Hellingrath über das Problem der Übersetzung antiker Texte bemerkte – „sich auf Kosten des Lebendigen vom Worte befreit und mit einer gewissen vorausverständlichen Logik durchtränkt hat“.28 Davon waren nicht allein die notorischen Hegel-Gegner, sondern auch diejenigen, die mit seinem Denken sympathisierten oder sogar eine innere Affinität fühlten, affiziert. Kann man vom heutigen Stand der Hegel-Forschung den Vorwurf des Panlogismus als nicht mehr aktuell bezeichnen,29 so bot sich vor 50 Jahren noch –––––––— 26 27 28 29

Hans-Georg Gadamer, Hegel und der geschichtliche Geist, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 100 (1940) 25–37, hier: 25. Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, Tübingen 1924, II 271f. Norbert von Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis, 2. Aufl., München 1936, 31. Stegmaier, Fluktuanz, 136.

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ein ganz anderes Bild. So war auch die Hegel-Interpretation damals tonangebender, dem Marxismus verbundener deutscher Philosophen wie Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Georg Lukács und Herbert Marcuse durchgängig von zwiespältiger Attraktion wie Repulsion der Hegelschen Philosophie durchzogen. Diese Ambivalenz resultierte hauptsächlich aus dem in die HegelRezeption eingeschleppten Panlogismus-Klischee, das nach ihrem Erfinder J. E. Erdmann ein System bezeichnen sollte, „nachdem Vernunft Alles, oder was dasselbe heißt die Unvernunft nichts Wirkliches ist“.30 Daß insgeheim bei diesen Philosophen jedoch zugleich Vorbehalte gegen diese dogmatische Behauptung bestanden, scheint Herbert Marcuse am deutlichsten gefühlt zu haben, wenn er bemerkt: Sein [Hegels] ‚Panlogismus‘ kommt nahe an sein Gegenteil heran: man könnte sagen, daß er die Prinzipien und Formen des Denkens von den Prinzipien und Formen der Wirklichkeit ableitet, so daß die logischen Gesetze jene Gesetze reproduzieren, denen die Bewegung der Wirklichkeit gehorcht.31

In seiner umfangreichen Auseinandersetzung mit Hegel formuliert Theodor W. Adorno insgesamt die eindeutigste und doch, aufs Ganze gesehen, auch zwiespältigste Hegel-Kritik. Da ihm anscheinend selbst nicht ganz wohl war bei der Betrachtung der Resultate seiner Beschäftigung mit Hegel, findet der Leser am Anfang seiner Hegel-Studie Skoteinos oder wie zu lesen sei eine Art captatio benevolentiae: „Daß er dort aufhörte, wo erst zu beginnen wäre, mag manche der offenbaren Unzulänglichkeiten entschuldigen, die ihn verdrießen.“32 Dies hält ihn freilich im weiteren Verlauf seiner Ausführungen nicht davon ab, in apodiktischem Ton die Quintessenz seiner Hegel-Interpretation obstinat zu wiederholen: Hegels System sei von einer verhängnisvollen Identität von Vernunft und Sein geprägt, die ihn zwinge, das Ganze, welche nicht das Wahre sei, für sich und seine Philosophie zurechtzubiegen. Zwar weisen viele von Adornos Bemerkungen in die Richtung, in der Hegel wirklich denkt: nämlich weg von einer Ontologie und Erkenntnistheorie der Letztbegründung,33 doch liegt die Hauptstoßrichtung seines Angriffs auf das Hegelsche Systemdenken in der Linie der Kantischen Transzendentalphilosophie, deren Terminologie er sich zueigen macht.34 Adorno wird daher Hegels Grundgedanken, das Wahre sei das Ganze, überhaupt nicht gerecht. Er bezieht sich vielmehr auf ein imaginäres –––––––— 30 31 32 33 34

Johann Eduard Erdmann, Grundriss der Geschichte der Philosophie, Berlin 1878, 568. Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Neuwied 1962, 33. Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, in: Werke, Frankfurt am Main 1971, V 249. Theodor W. Adorno, Aspekte der Hegelschen Philosophie, Frankfurt am Main 1957, 29. So bedient er sich des Kantischen Dualismus Apriori – Aposteriori, spricht von „Setzung“ oder neukantianistisch „Erzeugung“ (Cohen), um damit Hegels Denken zu beschreiben. Wenn Adorno in der Hegelschen Sprache „die Unangemessenheit der Philosophie an die Terminologie“ findet (Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, Frankfurt am Main 1973, I 41) so schlägt diese Behauptung auf sein eigenes Denken zurück, das sich nur partiell von den Fesseln der definitorischen Logik und den Kategorien und Schemata der Kantischen Transzendentalphilosophie lösen kann.

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Ganzes und gelangt von daher zu dem Resultat, Hegels Philosophie repräsentiere ein geschlossenes System, das keinerlei Kritik zulasse.35 Zu Recht wirft Adorno der meisten Hegel-Literatur vor, lediglich „in der Zone umschreibender Unverbindlichkeit angesiedelt“ zu sein, bloße „Standpunktphilosophie“36 zu treiben und statt in die Sache selbst einzugehen, diese immer nur zu umkreisen.37 Zuvor hatte Adorno angemerkt, daß die meisten kritischen Bemerkungen gegen Hegels Philosophie ins Leere laufen und gerade daraus ihre Popularität beziehen. Dem daraus folgenden Postulat (nota bene auch an sich selbst): Will man nicht mit dem ersten Wort von ihm abprallen, so muß man, wie unzulänglich auch immer, dem Wahrheitsanspruch seiner Philosophie sich stellen, anstatt sie bloß von oben und darum von unten her zu bereden,38

wird er selber leider nur in seltenen Fällen gerecht. Adorno findet daher schließlich den Kern der Hegelschen Philosophie in der absoluten Identität.39 Identitätsdenken sei nolens volens identisch mit Konsequenzdenken, was bedeute: Alles in einem bruchlosem Zusammenhang zu entwickeln, um dadurch dem logischen Ideal der Konsequenz genüge zu tun.40 Entgegen seiner treffenden Einsicht, Hegel habe „Subjekt und Objekt nicht als zu scheidende, sondern als nur in der Vermittlung existente“ angesehen,41 war er dann abschließend doch der Meinung, die Anstrengungen des Begriffs durch Hegel hätten dann allein Erfolg, wenn das Subjekt erlischt. „Hegels Haß“42 habe darum der aus der Bahn des Systems ausscherenden Nichtidentität und Negativität, die der Unmittelbarkeit der Erfahrung das Recht der Wahrheit zuerkennen will, gegolten. Indem Adorno jedoch die Vermittlung bei Hegel nur als Identität zu begreifen vermag, gerät er selbst wieder in den Bannkreis der Geisteswissenschaften eines Wilhelm Dilthey, der nicht zuletzt mit Blick auf Hegel „von dem Panlogismus der deutschen Identitätsphilosophie“ sprach.43 Mit großer Klarheit zeichnete Hegel hingegen schon in seinem philosophischen Erstling, der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801), die Grundlinie seiner eigenen Philosophie gegenüber der Kants: In jener Deduktion der Verstandesformen ist das Prinzip der Spekulation, die Identität des Subjekts und Objekts, aufs Bestimmteste ausgesprochen. Diese Theorie des Verstandes ist von der Vernunft über die Taufe gehalten worden. – Hingegen wenn nun Kant diese Identität selbst, als Vernunft, zum Gegenstand der philosophischen Reflexion macht, verschwin-

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Adorno, Aspekte, 9. Ebd. 7. Ebd. 8. Ebd. 7. Adorno, Studien, 35. Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, I 184. Adorno, Aspekte, 14. Ebd. 56. Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Leipzig 1914, I 320.

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det die Identität bei sich selbst; wenn der Verstand mit Vernunft behandelt worden war, wird dagegen die Vernunft mit Verstand behandelt.44

Die Anmaßung der sogenannten Hegel-Renaissance zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fein säuberlich Lebendiges und Totes, Dialektik und System trennen zu können, wofür schon Friedrich Engels das Vorbild abgab, war auch letzter Orientierungsmaßstab für Adorno geworden. So wirkt es geradezu paradox, wenn Adorno auf der einen Seite fordert, um Hegel zu verstehen, müsse man dem Ganzen bei Hegel selbst folgen, andererseits jedoch fast im gleichen Atemzug das Ganze als das Unwahre anprangert. Liest man es einerseits so: Danach wird Hegel ehren einzig der, welcher sich von der Angst vor jener gleichsam mythologischen Verstricktheit eines kritischen Verfahrens, das es auf jeden Fall falsch zu machen scheint, nicht einschüchtern läßt und, anstatt ihm gnädig oder ungnädig Verdienste zu- oder abzusprechen, dem Ganzen nachgeht, auf das er selber ging,45

so wird Hegels philosophischen Ambitionen die endgültige Aburteilung dergestalt beschieden: Mißlingt Hegels Philosophie nach dem höchsten Kriterion, dem eigenen, so bewährt sie sich zugleich dadurch. Die Nichtidentität des Antagonistischen, auf die sie stößt und die sie mühselig zusammenbiegt, ist die jenes Ganzen, das nicht das Wahre sondern das Unwahre, der absolute Gegensatz zur Gerechtigkeit ist. Aber gerade diese Nichtidentität hat in der Wirklichkeit die Form der Identität, den alleinschließenden Charakter, über dem kein Drittes und Versöhnendes waltet. Solche verblendete Identität ist das Wesen der Ideologie, des gesellschaftlich notwendigen Scheins.46

Adorno reduziert damit Hegels Theorie der Wahrheit als des Ganzen auf eine Gesellschaft des liquidierten Individuums und schließlich akkomodiert er sich durch die Thesen von einer angeblichen „Apologie des Bestehenden“ und der „Vergötzung des Staates“ in Hegels Rechtsphilosophie47 der Unterstellung des liberalen Staatsdenkers Hermann Heller: Nicht der nationalistische Historiker Heinrich von Treitschke sei der Urheber der Lehre von der Politik als Machtkampf, sondern die nationale Machtstaatsideologie ist sogar selbst das Kind der idealistischen Philosophie und kein anderer als Hegel ihr Vater. [...] [S]o daß man Hegels Willen zur staatsnationalen Macht geradezu als Quelle und konstruktiven Mittelpunkt seiner sozialen Philosophie überhaupt bezeichnen kann.48

Für Heller gilt Hegel als „dunkelster der deutschen Philosophen“, weil er die „Entwicklung des deutschen Volkes von der Kulturnation zur Machtstaatsnation“ vorbereitet habe, indem er „in abstrusen dialektischen Abstraktionen die –––––––— 44 45 46 47 48

Hegel, Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, I 162. Adorno, Aspekte, 9. Ebd. 36f. Ebd. 34. Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte [1921], Aalen 1963, V–VI.

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Welt aus einem Begriffe entstehen und die so entstandene durch Begriffe vergewaltigen lässt.“49 Zusammenfassend gelangt Heller zu dem Ergebnis: „Der Machtstaatsgedanke ist der kurze Ausdruck für eine geschlossene Weltanschauung, kein zufällig zusammengewürfeltes Parteiprogramm.“50 Dieses aus der Kantischen Moralphilosophie und dem naturrechtlichen Staatsbild entstandene Denken konnte mit der Philosophie eines Hegel, der aus dem durch die französische Revolution herbeigeführten Bruch der historischen Kontinuität zu der Erkenntnis gelangt war, daß die traditionellen Paradigmen und statischen Konzepte der klassischen politischen Philosophie zum Begreifen der Gegenwart untauglich geworden sind und deshalb die Historizität, das Denken des geschichtlichen Wandels, in die politische Philosophie eingeführt hatte, nichts anfangen und schritt lieber zu Verdächtigungen und Unterstellungen, wie zum Beispiel der von Ernst Cassirer, Hegel habe davon geträumt, ein zweiter Machiavelli zu werden.51 Von einer solchen Denkweise, die von einer vorausgesetzten Vorstellung von Logik und Philosophie ausgeht, meinte Hegel, daß sie den Geist nur als Bewußtsein auffaßt und nur eine Bestimmung der Phänomenologie, nicht aber der Philosophie enthalte.52 Hegels Ansicht, die wahre Philosophie müsse sich in einem System wiederfinden, verleitet ihn nicht zu dem Schluß, das nun das konkret Individuelle, die Subjektivität unter ein abstrakt Allgemeines subsumiert werden müsse, sondern ihr soll im Gegenteil überhaupt erst in dem Ganzen ihr wahres Recht erwachsen. Indem bei Hegelkritikern das Moment abstrakter Nichtidentität gegen eine ebensolche Identität ausgespielt wird, werden gerade jene Momente ausgeblendet, die für Hegels dialektische Philosophie ausschlaggebend sind, das heißt: den Übergang von einer Begriffsebene in die nächsthöhere durchsichtig zu machen. So kann der Staat vor dem Hintergrund einer Funktionalität als bloßes Mittel und Instrument zur Erreichung ökonomischer Interessen der Gesellschaft, aber auch auf der anderen Seite als Ausdruck der „grundlegenden allgemeinen Natur des Menschen, über die individualistischen Interessen hinauszugehen“, angesehen werden, wodurch es Hegel möglich war, die Bereiche Kunst, Religion und Philosophie als Sphären zu begreifen, die den Staat transzendieren und gleichzeitig dennoch in seinem Rahmen verbleiben.53 Bei Hegel kann „allgemeiner Wille“ nur „als Resultat eines langen Prozesses, der vermittels Differenzierung und Entgegensetzung aus den verschiedenen Elementen des menschlichen Kampfes um Anerkennung das politische Bewußtsein erzeugt,“54 entstehen. Die in der Reflexion „bei sich selbst“ verschwindende Identität –––––––— 49 50 51 52 53 54

Ebd. V. Ebd. VI. Zit. nach Shlomo Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, Frankfurt am Main 1972, 256. Reinhard Heede / Joachim Ritter (Hg.), Hegel-Bilanz. Zur Aktualität und Inaktualität der Philosophie Hegels 1973, 8. Avineri, Hegels Theorie, 115. Ebd. 126.

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schneidet sich dagegen die wesentliche Dimension zur Vermittlung von Welt, die Metaphysik, ab. Wie der Philosoph Hans Blumenberg in seiner „Theorie der Metaphorologie“ verdeutlichte, sind Metaphern ein unverzichtbarer Teilbereich der Begriffsgeschichte selbst, Hilfsmittel zur Versinnlichung, Dolmetscher zwischen dem Mensch und Außermenschlichem,55 und oft scheint Philosophie qua Metaphysik nur eine „beim Wort genommene Metaphorik“ zu sein.56 Die absoluten metaphysischen Metaphern manifestieren sich gerade in den elementaren „Realitätsvokabeln“, die den Lebensrhythmus der Menschen konturieren. Sie entziehen sich daher jedem planen theoretischen Zugriff, sind sozusagen widerständige Sprachmittel, kontextresistent, weil sie auf Totalitäten verweisen, von denen der Sprecher, der Denker, oder der Beobachter selbst Teil ist.57 Metaphern und Gleichnisse sind daher mehr als nur aus willkürlichen Zeichen entstandene „natürliche Phänomene“,58 ihren Wert beziehen sie in erster Linie als durch Geschichte aufgeladene Energiepunkte mit einer immer über die Zeit hinausreichenden Ausstrahlungskraft, wofür Platons „Höhlengleichnis“ als eindrucksvollstes Beispiel steht.

3. Licht- und Dunkel-Metaphysik des Neuen und Freiheit Es ist vor allem dieser überschäumende Reichtum an Metaphern, der Ernst Blochs Werk und darin eingeschlossen seine Hegel-Deutung scharf von der Adornos und anderer zeitgenössischer Philosophen trennt: Seine Philosophie ist durch und durch metaphysisch, und will es auch sein: „ohnedies wird bei mir ja alles zur Metaphysik“, schreibt er in einem Brief an Max Scheler daher scheinbar beiläufig und doch als philosophisches Bekenntnis gedacht.59 Dieser metaphysische Grundzug Blochs inspiriert sein ganzes Werk, ist schließlich auch Quelle seiner unübertrefflichen Metaphorik, mit der er in nuce die Wesensmomente eines Denkers erfassen kann. Das Lebendige in Hegels Philosophie mit seiner eigenen Metaphysik aufgespürt und bewahrt zu haben, ist daher sicherlich eines der größten Verdienste von Blochs Hegel-Interpretation, auch wenn er sich gleichfalls des zu seiner Zeit wie „gängige Münze“60 gehandelten Topos –––––––— 55 56 57 58 59 60

Franz Josef Wetz, Hans, Blumenberg. Eine Einführung, Hamburg 2004, 37. Ebd. 25. Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt am Main 2007, 65. Ebd. 107. Ernst Bloch, Briefe 1903–1975, Frankfurt am Main 1985, I 253. „Das Wahre und Falsche gehört zu den bestimmten Gedanken, die bewegungslos für eigene Wesen gelten, deren eines drüben, das andere hüben ohne Gemeinschaft mit dem andern isoliert und fest steht. Dagegen muß behauptet werden, daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann. Noch gibt es ein Falsches, sowenig es ein Böses gibt.“ (Hegel, Werke, II 29).

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vom angeblich „panlogischen Hegel“61 bedient, was vermutlich mit seiner Herkunft aus der Tradition des erkenntnistheoretischen Neukantianismus und dessen antimetaphysischem Impetus zusammenhängt.62 Ernst Bloch lebt in einer Zeit des durch die positivistischen Naturwissenschaften erzwungenen, aber nicht zuletzt in der Philosophie nachvollzogenen Schwunds oder gar Endes der Metaphysik, seit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Hegelsche metaphysische Systemdenken für überwunden gehalten wurde. Bloch aber schwimmt in jeder Hinsicht gegen den Strom der Zeit, sei es politisch, sei es philosophisch. Der Panlogismus-Gedanke, für Bloch auch Synonym des Vergangenen, Abgeschlossenen und Gewordenen kollidiert mit der emphatischen Philosophie des Noch-Nicht, des Offenen und der Zukunft, die den Kern seines Denkens bilden. Die Entscheidung in dieser philosophischen Aporie fällt dann bei Bloch zu Gunsten Hegels aus, was sich in dem programmatischen Motto seines Hegel-Buchs Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel (1951) niederschlägt: „Hegel leugnete die Zukunft, keine Zukunft wird Hegel verleugnen.“63 So ist es schließlich der echt metaphysische Zug in Blochs Denken gegenüber Adorno, der ihn die drohende Verkrustung der Begriffe im Prokrustesbett der Schulphilosophie durch seine befreiende Metaphorik sprengen läßt. Blochs Metaphorik zeigt die richtige Spur zu Hegels eigener Philosophie. Denn sie knüpft an das Zentrum von Hegels Denken, das Wahre als das Ganze zu begreifen, an.64 Im Gegensatz zu Adorno hält Bloch immer an einer Philosophie des Ganzen, der Wahrheit und Totalität fest, kann es doch für ihn ohne „Bewußtsein des Totum [...] weder konkrete Theorie noch Praxis“ geben. Und dieses Totum – fügt er hinzu als das unserer Freiheit und ihrer Gegenstände, ist nicht fix, sondern im Prozeß. So ist es freilich mit der bisher gewordenen Welt nicht abgeschlossen; die im dialektischen Prozeß anhängige Sache steht noch offen.65

Möglich ist es mit Blumenberg Metaphorik als „authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen“ aufzufassen, skeptisch sollte man aber trotzdem gegenüber seiner These bleiben, daß der „Schwund der Metaphysik [...] die Metaphorik wieder an ihren Platz“ rufe.66 Denn die Metapher „Licht“ steht in der Geschichte der Philosophie selbst für Wahrheit an sich. Bereits in den Schöpfungsmythen der Weltreligionen erhält die Licht-Metaphorik eine zentrale Funktion zur Symbolisierung der Macht der Götter; im Buch Genesis –––––––— 61 62

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Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt am Main 1962, 193. So findet man in seiner Dissertation Rickert und das Problem der modernen Erkenntnistheorie (1908) „in der Tat Grundlegendes zum Späteren“, so Burghart Schmidt, Ernst Bloch, Stuttgart 1985, 39. Bloch, Subjekt-Objekt, 12. „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ Hegel, Werke, II 15. Bloch, Subjekt-Objekt, 11. Zit. nach Wetz, Blumenberg, 25.

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der Bibel ist das Licht Gottes erste Schöpfung. Das Licht der Gottheit wird als ein strahlendes, ruhiges, die Ewigkeit verkörperndes Element dargestellt. Dies ist die Vorderseite der Mythen, die Lichtverehrung, wie sie allenthalben in den verschiedensten Religionen begegnet.67 Die Entgegensetzung und der Wechsel von Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht, dieser omnipotente Lebensrhythmus wird zum Beispiel in der iranischen Zoroaster-Religion mit den moralischen Gegensätzen von Gut und Böse verknüpft und gewinnt daraus seine Ausstrahlung. Das zum Guten erhobene Licht und das zum Bösen gewordene Dunkle, die Nacht, stehen im dauernden Kampf bis zur Vernichtung und darüber hinaus ins Jenseits. Damit verbunden war eine Geographie von Licht und Finsternis: das helle Hochland Iran gegen das dunkle Tiefland Turan,68 in der phantastischen Geographie Karl Mays: Dschinnistan und Ardistan.69 Der Konkretion des Wahren als Ganzem verleiht Ernst Bloch mit einem überraschenden und kühnen Bild, in dem zugleich Hegels Denkstil charakterisiert werden soll, Ausdruck: Und wird dem Leser bei einiger Bemühung nicht jeder Satz klar, so bedenke er: es gibt auch undurchsichtige Edelsteine. Soll heißen: Dunkles, das exakt als solches ausgedrückt wird, ist ein ganz Anderes wie Klares, das dunkel ausgedrückt ist; das Erste ist wie Greco oder Gewitterlicht, das Zweite ist Stümperei. Das Erste ist adäquate Präzision des Auszusagenden und Aussagbaren, ist vollkommen sachliche Kostbarkeit, wie oft bei Hegel, das Zweite dilettantisch und Schwulst.70

Blochs Metaphorik sprengt bewußt die kategorialen Schemata, überschreitet die Demarkationslinien der akademischen Philosophie und schafft damit freie Blicke, die den geschlossenen Raum konstruierter philosophischer Systeme hinter sich lassen. Sie konkretisiert damit sein Grundverständnis, Denken bedeute immer Antizipation, Transzendieren und habe den Charakter eines „Vor-scheins“.71 Vieler Art von sprachlichen und gedanklichen Assoziationen drängt sich dabei auf: Atmosphärisches, Ästhetisches, Metaphysisches. Der Umkreis der so entstehenden Gedanken ist fast übermächtig, kaum zu ermessen. Bloch gibt dem in seinen weiteren Ausführungen Ausdruck: „Hegels Sprache ist ihm und seiner Sache fast überall notwendig, so auch dem Leser, der die weite–––––––— 67 68 69

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Otto Henne am Rhyn, Illustrierte Religions- und Sittengeschichte aller Zeiten und Völker, Stuttgart 1911, 49. Ebd. 125. Zwei Länder, die nach Karl May auf dem der Phantasie des Autors entsprungenen Stern „Sitara“ liegen, der für die Erde steht. Zentrales Thema von Karl Mays Spätwerk Ardistan und Dschinnistan ist die Entwicklung des Menschen vom niedrigen Anfang (Ardistan = Tiefland) zum geistigen Hochland Dschinnistan. Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, 20f. „[S]o erweist sich gerade in ihrer philosophischen Reflexion die Ästhetik des Vor-Scheins als Wissenschaft der zum Möglichen offenen Wirklichkeit und ihrer Tendenzgestalten in ästhetischer Form oder Potenz. Sehr genau entspricht die Kunst der Philosophie: Utopie ist Stoff und Form der künstlerischen Träume.“ Gert Ueding im Vorwort zu Ernst Bloch, Ästhetik des Vor-Scheins, hg. v. Gert Ueding, Frankfurt am Main 1974, 21.

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ste Reise erfahren will, die es bisher gibt.“72 Der Horizont der möglichen Bezüge in Blochs Hegel-Zitat ist sehr weit gespannt: er berührt die elementarsten Fragen menschlichen Seins und damit zusammenhängend auch die Möglichkeiten, es schriftlich in Begriff und Metaphorik zu artikulieren. Gewitterlicht kann Verschiedenes bedeuten: den plötzlich in der Nähe mit Donner und Getöse einschlagenden Blitz, wie auch das ferne Wetterleuchten, mit seinem geräuschlosen Flackern, das Unruhe, baldiges Unwetter, aber auch Beruhigung in der Atmosphäre signalisieren kann. Im Wetterleuchten kann Verstärkung des Lichts oder Abschwächung bis zur völligen Dunkelheit eintreten. Mögliche kommende Gefahren, künftige Stürme, können sich andeuten, aber auch Beruhigung und Vorüberziehen der Gefahr. Symbolisch steht es für Ahnung und mögliche Gegenwart eines Neuen. Von Goethes „Wilhelm Meister“ schreibt z. B. Thomas Mann: „Es wetterleuchtet in dem Werk von Ideen, die weit ab führen von allem, was man unter bürgerlicher Humanität versteht [...].“73 Bedeutet „Blitz“ grausam zerschneidende, unabwendbar verbrennende, vernichtende Realität, so offenbart und verhüllt das Wetterleuchten im selben Moment, entschwindet doch sein plötzlicher flüchtiger Lichtimpuls schnell wieder im Dunkel der Nacht. Wetterleuchten ist manifeste Negation des konstanten und kontinuierlichen Seins, Symbol des permanenten Wechsels in der Welt, dessen Licht aus dem Dunkel kommt und wieder dahin zurückfällt. Steht das helle und ruhige Licht stellvertretend für das sich immer kontinuierlich denkende Bewußtsein, so wird in der Metapher vom Gewitterlicht die Stetigkeit des Denkens negiert. Der Blitz scheint aus dem Nichts zu kommen, überraschend und erschreckend, also von einem Außen und Jenseits menschlicher Maßstäbe und doch scheint er auch geeignet – wie bei dem Aphoristiker Georg Lichtenberg – zur Charakteristik menschlichen Denkens: Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; Andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.74

Die Anregung zu diesem „blitzgescheiten“ Gedanken bekam Lichtenberg wahrscheinlich durch seine physikalischen Untersuchungen zum Blitzphänomen. Doch bleibt auch er letztlich im Vorhof der Hegelschen Gedankensphäre stehen, weil sein bildlicher Vergleich sich lediglich auf den Prozeß der Entstehung des Denkens bezieht, nicht aber die Vermittlung zwischen Denken und Welt als Problem denkt, wie es erst bei Bloch mit dieser großartigen Metapher zur Hegel-Philosophie ausdrücklich thematisiert wird. Ein theoretischer Vorgriff darauf findet sich in Ernst Blochs Formel vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“, die bereits in seinem Frühwerk Geist der Utopie (1918) eine –––––––— 72 73 74

Ebd. Zit. nach Arnold Bauer, Thomas Mann und die Krise der bürgerlichen Kultur, Berlin 1946, 119. Georg Christoph Lichtenberg’s Vermischte Schriften, Göttingen 1853, I 99.

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zentrale Rolle spielt. Dort erscheint – unverkennbar mit Anklängen an Kantische Terminologie – für Bloch das Ding an sich, noch allein in geistlicher Sehnsucht ‚erscheinend‘ und so auch der Musik vorgeordnet, ist, was in der nächsten Ferne, im actualiter Blauen der Objekte treibt und träumt; es ist dieses, was noch nicht ist, das Verlorene, Geahnte, unsere im Dunkel, in der Latenz jedes gelebten Augenblicks verborgene Selbstbegegnung, Wirbegegnung, unsere durch Güte, Musik, Metaphysik sich zurufende, jedoch irdisch nicht realisierbare Utopie.75

Bei Hegel wird die Wirklichkeit aus einer Dynamik geboren, in der „fixe Formeln“„ sich als leere Abstraktionen erweisen. Daher entspringt es einem zu kurzen Hegelverständnis, System und Dialektik als Begriffe einer einheitlichen Methode zu verstehen. Nicht darauf bezieht sich Hegels Begriff der Totalität, in dem Allgemeines und Besonderes vermittelt sind, sondern manifestiert sich vor allem darin, „daß jede besondere Form nur durch die Totalität antagonistischer Beziehungen bestimmt werden kann, in der diese Form existiert.“76 Die Mär von der „Hegelschen Idee der Philosophie als eines geschlossenen und vollendeten Systems“ wurde bis in jüngste Zeit unendlich oft kolportiert.77 Bloch hat dagegen zu Recht darauf hingewiesen, daß die Vorstellung der Stetigkeit der Veränderungen allein der Mathematik entspringt, nicht aber sich auf die Geschichte spezifizieren läßt, die dem mathematischen Kalkül unzugänglich bleibt: Nicht aber bleibt historisches Werden der Dialektik unzugänglich, wie Hegel sie zuerst in der Phänomenologie verwendet. Will diese Methode doch nichts anderes ausdrücken als die historische Genesis selber, und zwar als sprunghafte Veränderung, niemals als stetige.78

Diese treffliche Bemerkung wird aufs beste bestätigt durch eines der markantesten Hegel-Zitate, in dem die laut Bloch „jäheste Anschaulichkeit“ hervorbricht: „Mit der Anschaulichkeit, wie sie ein Blitz, aus keineswegs wolkenleerem Himmel, verleiht, wenn er mit einem Schlag die ganze Landschaft erleuchtet, präzisiert, zusammenfaßt.“79 Denn in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes hatte nach Bloch Hegel am schönsten seine Zeit als die eines Übergangs und „Triumph des Neuen“ dargestellt, wenn er schreibt: Wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht, – ein qualitativer Sprung, – und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und still der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baus seiner vorhergehenden Welt nach dem anderen auf; ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet: der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des

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Ernst Bloch, Geist der Utopie. Erweiterte Fassung 1923, Frankfurt am Main 1964, 201. Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie. Neuwied 1962, 33. So z.B. Mihailo Djuric, Nietzsche und die Metaphysik, Berlin / New York 1985, 82. Bloch, Subjekt-Objekt, 66. Ebd. 19.

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Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.80

Im Lichte dieser und ähnlicher Beschreibungen der Hegelschen Philosophie muß man daher die im Vergleich zu Adorno gänzlich andere Bewertung Blochs über die Wahrheit des Ganzen lesen: Hegel ist ein Lehrer der lebendigen Bewegung im Gegensatz zum toten Sein. Sein Thema war das Selbst, das zur Erkenntnis kommt, das Subjekt, das mit dem Objekt, das Objekt, das mit dem Subjekt sich dialektisch durchdringt, das Wahre, das das Wirkliche ist. Und das Wahre ist kein stillstehendes oder ausgemachtes Faktum, so wenig wie Hegel selbst. Das Wahre als Wirkliches ist vielmehr Resultat eines Prozesses; dieser muß geklärt und gewonnen werden.81

Und an anderer Stelle wird Bloch über Hegels Dialektik noch deutlicher: Ebensowenig wie die Lehre vom Fluß hat die darin einbegriffene Lehre von der Mündung, also die dialektische Totalität, etwas für die Bequemen übrig; sie ist deshalb nicht bloß lehrreich, sondern mahnend. Denn erstens hält sie die Augen dafür offen, daß das politische Dasein in allen seinen Akten weitverzweigt und vermittelt ist. In jedem einzelnen Moment der Geschichte, besonders der Befreiungsgeschichte, sind alle enthalten, ist die Ganzheit des zu Befreienden enthalten. Wird das Ganze, besonders das Alles ausgekreist, werden Klein- oder Teilziele verabsolutiert und nur sie betrieben, so bringt die theoretische Kurzsichtigkeit eine praktische Niederlage, selbst dann, wenn das isolierte Ziel erreicht werden sollte. Es gibt keine Trennung zwischen Weg und Endziel; dessen Totum befindet sich vielmehr in jedem Moment des Weges, sofern es überhaupt einer ist und nicht bloß eine Sackgasse.82

Die „flüssige Natur“ der Begriffe, von der Hegel spricht, orientiert sich nicht nur am Bild des Flusses als kontinuierlich gleichmäßigem Strom, sondern weckt auch Assoziationen an Katarakte oder plötzliches Versickern der Wasser und unvermutetes wieder ans Tageslicht Treten, ferner auch Verflüssigung, Auflösung des Fixen, relativiert, konkretisiert und widerlegt zuletzt die Vorstellung einer gleichmäßig strömenden Kontinuität, die Vorstellung also, daß „von vornherein nichts Sprunghaftes, also nichts Neues in seiner [des mechanistischen Denkens] Welt geschieht“.83 Neues bei Bloch meint immer auch Freiheit: eine Freiheit, die weit mehr der Hegelschen Denkart entspricht als der transzendentalphilosophischen Freiheitsdefinition von einem ursprünglichen, durch nichts bedingten Akt der Selbsttätigkeit des transzendentalen Ich, einem Handeln, das sich nach Kant als „Kausalität aus Freiheit“ ansehen läßt, d.h. der intelligiblen Fähigkeit entspringen soll, „einen Zustand von selbst anzufangen“.84 Dagegen wäre mit Hegel zu betonen: Nicht die Möglichkeit Kausalität von selbst zu beginnen, scheint Grundcharakteristikum von Freiheit zu sein, sondern weit mehr das Moment, die stets aus –––––––— 80 81 82 83 84

Hegel, Werke, II 10. Ebd. 12. Ebd. 146. Bloch, Subjekt-Objekt, 361. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 533, B 561.

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der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragende Kausalität zu beenden, im Befreiungsakt menschlicher Entscheidung. Denn nur aus möglichem Umschwung, Unterbrechung läßt sich der Entwicklungsprozeß der Geschichte begreifen, der niemals als bloßer kontinuierlicher Entwicklungsgang begriffen werden kann. Bei Kant ist Freiheit nur eine transzendentale Idee, während Hegel dagegen das Resultat von Geschichte, in deren Verlauf erst aus Heterogenität und Entfremdung heraus das Subjekt zu sich selbst kommen kann, und zwar nicht zwangsläufig und automatisch, sondern durch Erfahrungen, die den Diskontinuitäten der geschichtlichen Entwicklung entstammen, ins Zentrum der Philosophie rückt. Blochs Metaphorik wendet sich auch gegen den Vitalismus in der Psychologie, der seelisches Erleben „pulslos fließen“ läßt und psychisches Leben als kontinuierlichen Strom versteht, wie z.B. der Lebensphilosoph Henri Bergson die Kontinuität der Erlebniszeit durch den Terminus „durée“ verdeutlichen wollte. Bloch hebt dagegen den „punktuellen Puls“, den „schlagenden Puls“ gegen den unterschiedslosen Lebensstrom heraus, betont die Unterbrechungen und Diskontinuitäten im Leben, welche er mit Hegel als „Puls der Lebendigkeit“85 apostrophiert. Der innere Zusammenhang, der die Hegelsche Philosophie durchzieht, ist der zwischen einem Verhältnis von Geschichte und Natur, dergestalt, daß sich nicht ein stufenloser Übergang von der einen Sphäre in die andere geräuschlos vollzieht, oder schichtenweise sich eines auf dem anderen aufbaut. Aus der Naturunmittelbarkeit herausführt nur die „Arbeit des Geistes“ durch einen bewußten Bruch mit dem Gegebenen, durch den „einschlagenden“ Blitz „des Ideellen in das Reelle“, aber so, daß „die Intelligenz, als ein reeller Faktor, zugleich die ganze Selbstkonstruktion der Natur auf der andern Seite mit sich herübernimmt“,86 denn die „Dialektik versteigt, vielmehr plebejiziert sich aus dem mehr allgemeinen ‚Puls der Lebendigkeit‘ sogar zum ‚Maulwurf sous terre‘, Krusten aufwühlend“,87 verhindert eine einfache Rückkehr; ein Ende der Geschichte ist nur scheinbar, der unendliche Reichtum der Formen erzeugt diesen Schein, aber Freiheit ist kein bloß intellektueller Akt; als geistige Form entsteht sie auch aus elementaren Lebensäußerungen aus Trieb und Äußerem als Vermittlungsinstanz: „Ding“ sagt Hegel dazu im Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft“ der Phänomenologie des Geistes,88 wodurch aus Arbeit etwas Neues entsteht, ein Bewußtsein als Selbstbewußtsein und Vernunft. Die Gegenwart, ist für Hegel darum nicht das Ende der Geschichte, weil die Geschichte in ihr permanent selbst erst entsteht. Es war allein der geisteswissenschaftliche Historismus, der eine antiquarische Position zur Geschichte einnahm und daher und für seinen Standpunkt selbst die Vorstellung vom Ende der Geschich-

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Bloch, Subjekt-Objekt, 49. Wörtlich heißt es bei Hegel: „denn das Herz drückt den einfachen Puls der lebendigen Geistigkeit aus […].“ (Hegel, Werke, XII 317). Ebd. I 268f. Bloch, Subjekt-Objekt, 474. Hegel, Werke, II 135–145.

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te für sich benötigte. Hegel war jedoch weder ein Panlogist noch ein Historist.89 Gerade um seiner geschichtsphilosophischen Aufgabe, seine Zeit im Gedanken zu erfassen, gerecht zu werden, müssen die Wendepunkte deutlich markiert werden. Wo vom Menschen her Kausalität abgebrochen wird, gibt es auch neuen Entwurf. Der Entwurf auf Zukunft hin geschieht aber nicht wie bei Sartre aus der reinen Möglichkeit, sondern immer auf dem Boden des Gegebenen, und wenn der Mensch verneint, kann er zwar mit Max Schelers Formulierung als ein „Neinsagenkönner“ angesprochen werden, doch nur im partiellen, das heißt gegen die vorhandene Kausalität sich wendenden Sinne, nicht jedoch als totaler Verweigerer oder gar Nihilist. So erscheint das Wetterleuchten als Vorbote einer Zeitenwende, in der sich symbolisch die Ahnung eines Kommenden, eines Noch-Nicht verdichtet. Schon bei Platon richtet sich das Augenmerk der Dialektik auf die plötzlichen Übergänge, so wenn im Höhlengleichnis einer der Gefangenen plötzlich von den Fesseln befreien kann. Im Phänomen der Plötzlichkeit (Ħ̤ďÏ˦Â) ereignet sich somit bei Platon der entscheidende Akt der (Selbst-)Befreiung des Menschen.90 Im VII. Brief spricht Platon von der Plötzlichkeit der Entstehung eines Feuers, „das von einem springenden Funken entfacht“ wird.91 Und plötzlich leuchtet das Licht der Wahrheit in der Seele auf, sagt Platon an anderer Stelle.92 Dem Naturphänomen zu Seite steht das Rätsel Mensch. Bei der Erwähnung des Malers El Greco denkt Bloch offensichtlich zunächst an El Grecos berühmtes Gemälde „Gewitter über Toledo“ (1597). Doch steht „Greco“ in übertragenem Sinne auch als Chiffre und Schlüsselbegriff für einen Umbruch in der Kunst und darüber hinaus auch in der Zeit selbst. Der in seiner Zeit wie in Spanien fremde Grieche, der immer mit griechischen Buchstaben signierte und so ganz außerhalb des Rahmens des allgemeinen Zeitgeschmacks in Spanien stand, wird von dem Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe als einer der Ahnherrn der modernen Kunst entdeckt. Auf seiner spanischen Reise 1910 ist er von El Greco überwältigt: Greco aber kommt wie der Blitz. In dem Moment, wo die großen Erlebnisse, ich will nicht sagen zu Ende, aber eingetroffen sind [...]. Da kommt er und schlägt wie eine Bombe ein [...]. Mit Rembrandt, Rubens, Michelangelo, mit allen anderen Großen wächst man auf [...] Greco ist wohl das größte Erlebnis, das unsereinem blühen konnte [...]. Nicht, weil Greco so groß ist, sondern weil er neu ist.93

Greco ist eine Gestalt in der Kunst, die wie vom Mond gefallen scheint, symbolisch für das Fremde und Neue stehend, befreit von den Fesseln der Konvention –––––––— 89 90 91 92 93

Vgl. Reinhart Clemens Maurer, Hegel und das Ende der Geschichte. Interpretationen zur Phänomenologie des Geistes, Stuttgart 1965, 118. Egil A. Wyller, Henologische Perspektiven. Bd. I/I–II: Platon – Johannes – Cusanus, Amsterdam / Atlanta 1995, 257 f. Vgl. Alexander Aichele, Philosophie als Spiel: Platon, Kant, Nietzsche, Berlin 2000, 44. Wolfgang Scheuermann-Peilicke, Licht und Liebe: Lichtmetapher und Metaphysik bei Marsilio Ficino, Hildesheim 2000, 221. Zit. nach Petra Kipphoff, Feuchte Blicke im fahlen Licht, Die Zeit 21 (2001).

Greco und Gewitterlicht

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das sinnliche Material der Kunst vergeistigend. Grecos visionäre Malerei sprengt die Grenzen der konventionellen Sehweise. Trotz seiner Fremdheit gelingt es ihm aber, bedeutende Aufträge zu erhalten, doch nach seinem Tod ist er bald vergessen und wird erst im Impressionismus (Manet) wieder geschätzt. In den Steigerungen seiner religiösen und mystischen Zustände schaut Greco auf sein „inneres Licht“, fühlt sich vom Tageslicht gestört. Der Künstler als Prophet und gesellschaftlicher Außenseiter wird zum Leitbild der Moderne. In Expressionistenkreisen wurde daher El Greco als „Vater der Moderne“ verehrt.94 Das Austragen und Zuendetreiben der Charaktere, besonders ihrer dramatischen Handlungen, geschieht in der Kunst, und deren Allegorien intendieren im Vor-Schein eine Veränderung der Welt, ohne daß sie aufhört.95

4. Epilog zum Hegel-Verständnis Wie Bloch treffend bemerkt, gibt es bezüglich Hegels Werk eine „erstaunliche Kunst des Schlechtlesens“, von der nun freilich niemand, nicht nur der oberflächlich Lesende, sondern auch der, welcher sich mit intensiver Leidenschaft in Hegel hineinarbeitet oder – dialektisch gesprochen – hineinwühlt, ganz freizusprechen ist. Denn das System Hegels ist ja keineswegs so abgeschlossen, wie es immer wieder kolportiert wurde: Dies sei hier zum Schluß noch einmal mit Hegels eigenen Worten in Erinnerung gerufen, die zwar nicht als Testament expressis verbis gedacht waren, aber doch so wirken müssen, da sie kurz vor seinem plötzlichen Tod am 11. November 1831 geschrieben wurden. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner „Logik“ begründet Hegel die Notwendigkeit einer Überarbeitung eines seiner Hauptwerke. Sie sind das letzte schriftliche Zeugnis seines Denkens überhaupt: Bei der Erwähnung Platonischer Darstellung kann, wer ein selbständiges Gebäude philosophischer Wissenschaft in modernen Zeiten neu aufzuführen arbeitet, an die Erzählung erinnert werden, daß Platon seine Bücher über den Staat siebenmal umgearbeitet habe. Die Erinnerung hieran, eine Vergleichung, insofern sie eine solche in sich zu schließen schiene, dürfte nur um so mehr bis zu dem Wunsche treiben, daß für ein Werk, das, als der modernen Welt angehörig, ein tieferes Prinzip, einen schwereren Gegenstand und ein Material von reicherem Umfang zur Verarbeitung vor sich hat, die freie Muße, es siebenundsiebzigmal durchzuarbeiten, gewährt gewesen wäre. So aber mußte der Verfasser, indem er es im Angesicht der Größe der Aufgabe betrachtet, sich mit dem begnügen, was es hat werden mögen, unter den Umständen einer äußerlichen Notwendigkeit, der unabwendbaren Zerstreuung durch die Größe und Vielseitigkeit der Zeitinteressen, sogar unter dem Zweifel,

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Kirchner, Kokoschka, Jaeckel, um nur einige zu nennen, in Deutschland, Picasso in Spanien lassen sich von El Grecos Manierismus, vor allem der Überlängung seiner Körper inspirieren. Ernst Bloch, Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, Frankfurt am Main 1975, 21.

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ob der laute Lärm des Tages und die betäubende Geschwätzigkeit der Einbildung, die auf denselben sich zu beschränken eitel ist, noch Raum für die Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis offen lasse. Berlin, den 7. November 1831.96

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Hegel, Werke, III 25.

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Enzensbergers Untergang der Titanic als Paradigma eines „Schiffbruchs mit Zuschauer“

1. Im Jahre 1978 publizierte Hans Magnus Enzensberger ein umfangreiches Gedicht in Buchlänge mit dem Titel Der Untergang der Titanic. Der Text traf in der Bundesrepublik auf eine Situation politisch-gesellschaftlicher Umorientierung. Die Hoffnungen der Studentenbewegung auf soziale Veränderungen hatten sich nicht erfüllt. Nur die wenigsten Teilnehmer des Aufbruchs von 1968 fanden jetzt noch den Mut zum kräftezehrenden Marsch durch die Institutionen. Eine Minderheit entschloß sich zum bewaffneten Kampf mit terroristischen Mitteln gegen das Establishment und seine Repräsentanten, die Mehrheit wandte sich jedoch von der aktiven Politik ab und zog sich ins Privatleben zurück. Auch Enzensberger hatte sich nach einer Phase deutlicher Affinität zum Marxismus, die allerdings jeden politischen Dogmatismus und Propagandismus vermied, von den Erwartungen der Linken verabschiedet. Ausdruck dieser Haltung war die Tatsache, daß er 1975 die Leitung des von ihm gegründeten und unter den linken Intellektuellen sehr einflußreichen Kursbuchs niederlegte.1 1978 veröffentlichte er den Essay Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang, in dem er gnadenlos mit der dogmatischen Weltfremdheit der Marxisten abrechnete. Er forderte sie dazu auf, die bedrohlichen Entwicklungen der Gegenwart wie die ungebrochene Weltexpansion des Kapitalismus, inner- und außerstaatliche Aufrüstung, Genmanipulation und zunehmende Umweltzerstörung als permanente Krisenerscheinungen und Merkmale einer „negativen Utopie“ zur Kenntnis zu nehmen, welche die positive Utopie der sozialistischen Verbesserung aller Lebensverhältnisse längst abgelöst und sich statt dessen im allgemeinen Bewußtsein ausgebreitet habe. Die Apokalypse habe als Endpunkt aller Verhältnisse ausgedient; sie sei heute zum Dauerzustand geworden. Außerdem, so Enzensberger, „ist der Untergang kein Gleichmacher mehr, im Gegenteil. Er ist von Land zu Land, von Klasse zu Klasse, von Ort zu Ort verschieden; während er die einen ereilt, betrachten die andern ihn auf dem Fernsehschirm.“2

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Frank Dietschreit / Barbara Heinze-Dietschreit, Hans Magnus Enzensberger, Stuttgart 1986, 102ff., 107. Hans Magnus Enzensberger, Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang, 1978, in: Ders., Der Fliegende Robert. Gedichte, Szenen, Essays, Frankfurt a.M. 1989, 281–293; hier: 282, 284.

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2. Diese kollektiven und individuellen Erfahrungen der Siebziger Jahre hat Enzensberger im Gedicht vom Untergang der Titanic verarbeitet. Die Titanic stieß auf der Jungfernfahrt von Southampton nach New York in der Nacht zum 15. April 1912 bei der Großen Neufundlandbank mit einem Eisberg zusammen. Obwohl sie als unsinkbar galt, ging sie in weniger als drei Stunden unter. Von den 1308 Passagieren und 898 Mann Besatzung konnten nur 703 gerettet werden. Dieser Untergang läutete das Ende des naiven Glaubens an die Allmacht der Technik und den unaufhaltsamen Fortschritt ein. Enzensberger hat das Ereignis zum Gegenstand eines Poems und zugleich zu einer Allegorie für seine Art des Abschieds von den politischen Hoffnungen der Studentenrevolte gemacht. Mehrere Themenkreise lassen sich im Gedicht unterscheiden.3 Da wird zunächst die Welt auf dem Luxusschiff beschrieben: Passagiere und Besatzung aus verschiedenen Ländern, die kostbare Ausstattung der Räume, Vergnügungen und Zeitvertreib, die Speisefolge der illustren Diners.4 Wie ein Kaleidoskop entfaltet sich das Ganze noch einmal nach der Kollision des Dampfers mit dem Eisberg, als das Wasser unaufhaltsam in den Schiffskörper eindringt, das Bewußtsein von der herannahenden Katastrophe aber erst langsam bei den Menschen um sich greift und dann die einen sterben müssen, die anderen sich retten können und „ganz am Ende […] der dunkle Bug“ lotrecht versinkt „wie ein absurder Turm“.5 Daneben thematisiert das Gedicht Biographisches aus dem Leben des Autors und die Entstehung des Poems selbst. Der Leser erfährt, daß Enzensberger die erste Fassung des Textes schon auf einer Reise nach Kuba zu schreiben begann. Das Manuskript ging ihm aber auf dem Postweg nach Europa verloren. Später, in Berlin, hat er das Gedicht dann vollendet.6 Eingesprengt in Schilderungen und Rückblicke sind Orientierungsund Deutungsversuche zur politischen, kulturellen und sozialen Gegenwart des lyrischen Ichs, also zu Fragen der wissenschaftlichen Erkenntnis, zu politischen Hoffnungen und Illusionen der 68er-Generation, zu allgemeiner Apathie bzw. Ratlosigkeit, grassierender Endzeitstimmung und den Surrogaten der Flucht aus diesen Gefühlslagen.7 Ein letzter Themenkreis des Gedichts gilt der Kunst selbst und dem Untergang als ästhetischem Thema. Hier werden Gemälde mit apokalyptischen Motiven und der malerische wie auch der poetische Schaffensvorgang behandelt. Provokativ wirkt dabei auf den Leser der Hinweis, daß die Darstellung der Schrecknisse dem Künstler selbst großes ästhetisches Vergnü-

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Vgl. Hans-Thies Lehmann, Eisberg und Spiegelkunst. Notizen zu Hans Magnus Enzensbergers Lust am Untergang der Titanic, 1978, in: Reinhold Grimm (Hg.), Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a.M. 1984, 312–334; hier: 314ff. Hans Magnus Enzensberger, Der Untergang der Titanic. Eine Komödie, Frankfurt a.M. 1981, z.B. im 2., 4., 10., 22., 25. Gesang. Ebd. 56. Ebd. 21, 26. Z.B. die Glossen „Erkenntnistheoretisches Modell“, 73ff.; „Forschungsgemeinschaft“, 87f.; „Fachschaft Philosophie“, 93f.; „Schwacher Trost“, 57ff.; „Nur die Ruhe“, 69f.

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gen bereite.8 Wie sich zeigt, vereinigt das Gedicht also sehr disparate, nicht leicht auf einen Nenner zu bringende Themen und Aspekte. Doch der Ariadnefaden zum Verständnis des Textes findet sich beim Blick auf die zugrundeliegende Darstellungskonstellation: den „Schiffbruch mit Zuschauer“. 3. Im Jahr 1979, ein Jahr nach Enzensbergers Untergang der Titanic, veröffentlichte Hans Blumenberg seine kleine Schrift Schiffbruch mit Zuschauer, die den Untertitel Paradigma einer Daseinsmetapher trägt. Darin verfolgt er die Bedeutungsentwicklung dieser Metapher in Literatur und Philosophie von der Antike bis heute als Ausdruck der elementaren Situation des Menschen, der sein Leben zwar im allgemeinen auf dem Lande führt, „die Bewegung seines Daseins im ganzen jedoch [...] bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahrt zu begreifen [sucht].“ Der Schiffbruch ist dabei „so etwas wie die ‚legitime‘ Konsequenz der Seefahrt“; das Gegeneinander von festem Land und unstetem Meer das leitende Schema für „das Paradox der Daseinsmetaphorik.“9 Drei von Blumenberg zur Illustration seines Vorhabens ausgewählte antike Texte können die Darstellungskonstellation von Enzensbergers Poem erläutern, da sie die hier eingenommenen Perspektiven freilegen. Der erste ist ein Gedichtfragment des Alkaios. Es beschreibt die Situation des vom Schiffbruch Bedrohten auf dem Meer: „Wir inmitten / treiben im Sturme auf schwarzem Schiffe. / Das Ungewitter bracht’ uns in Todesnot“, lauten die entsprechenden Zeilen.10 Der zweite Text nimmt dieses Motiv in abgewandelter Form aus der Sicht des Zuschauers auf. Es ist Horazens Ode über das auslaufende, vom Untergang bedrohte Schiff: „Trägt von neuem, o Schiff, dich in das Meer die Flut? / O, was tust du? Mit Macht strebe dem Hafen zu! [...] [Kein Gott ist mehr da,] den du rufest, wenn dich neue Gefahr umdrängt! [...] Du, erst neulich mir noch Ärgernis und Verdruß, / Jetzt sehnsüchtigen Drangs, ängstlicher Sorge Ziel, / Flieh die Wogen des Meers, das / Durch die hellen Kykladen braust!“11 Hier spricht jemand wie nach überstandenem Schiffbruch und voll Furcht, die Katastrophe könnte sich bei erneuter Ausfahrt wiederholen. Seine Haltung ist die des Klagens und Warnens. Sie ermöglicht Aussagen in drei Zeitstufen: zum gegenwärtig ablaufenden, zum vergangenen und zum künftigen Geschehen, wogegen das aus der Perspektive des Beteiligten geschriebene Gedicht des Alkaios nur Vergangenheit und Gegenwart (das Heraufziehen und Wüten des Sturmes) kennt.12 Der dritte Text stammt aus dem Epos De rerum natura des Lukrez und –––––––— 8

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Vgl. etwa die Glossen „Apocalypse. Umbrisch, etwa 1490“, 12f.; „Abendmahl. Venezianisch, 16. Jahrhundert“, 31ff.; „Der Raub der Suleika. Niederländisch, Ende 19. Jahrhundert“, 81 ff. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1997, 9, 13. Alkaios, Fragment 46aD. übers. von Max Treu., in: Ders. (Hg.), Alkaios. Griechisch und deutsch, 2. Aufl., München 1963, 41. Horaz, Oden I, 14, übers. von Hans Färber, in: Ders. (Hg.), Horaz, Sämtliche Werke, lateinisch-deutsch nach Kayser, Nordenflycht und Burger, 2. Aufl., Darmstadt 1967. Ein anderes Fragment des Alkaios, 119/120/122D, das mit 46aD in Zusammenhang steht, legt den Gedanken nahe, daß das Sturmgedicht paränetischen Charakter hatte und zu den

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beschreibt die Situation des Schiffbruchs mit Zuschauer als genußvoll distanzierte Beziehung: „Wonnevoll ist’s bei wogender See, wenn der Sturm die Gewässer / aufwühlt, ruhig vom Lande zu sehen, wie ein andrer sich abmüht [...].“13 Hinter dieser Haltung steckt, wie Lukrez erklärt, keine Schadenfreude über den Unglücklichen, sondern das Lustgefühl dessen, der sich als Unbeteiligter der Betrachtung eines Geschehens hingibt. Die ganze Konstellation kann zugleich als Metapher für die Einstellung des Philosophen gegenüber der Wirklichkeit gelten, denn sie demonstriert bei Lukrez augenfällig den moralischen Gewinn der Sicht auf das Leben von einer festen philosophischen Position aus, und zwar der Lehre Epikurs. Kennzeichnend für diese Zuschauerhaltung ist das ästhetische Vergnügen bei der Betrachtung selbst schrecklicher Ereignisse, ein Affekt, den später Schiller, Mendelssohn und selbst die Popularphilosophen des 18. Jahrhunderts sowie die Theoretiker des Erhabenen analysiert haben.14 Auch die Gedichte von Alkaios und Horaz werden traditionell als Metaphern gelesen, und zwar für das bedrohte Staatsschiff. Bei dem griechischen Dichter geht es um die Situation in Mytilene auf Lesbos, wo ein gewisser Myrsilos die Alleinherrschaft an sich gerissen hatte und mit seiner Tyrannis das friedliche Zusammenleben der Menschen störte.15 Der römische Dichter denkt an die politischen Wirren des Bürgerkriegs gegen Ende der römischen Republik zurück und warnt vor einer Wiederholung ähnlicher Ereignisse auch in den scheinbar friedlichen Zeiten des Kaisertums. Seine Sorge erklärt sich daher, daß er die schlimme Zeit selbst miterlebt hat und eine erneute Havarie des „Staatsschiffs“ befürchtet.16 Was Blumenberg in seinem Buch Schiffbruch mit Zuschauer als drei Varianten der Daseinsmetaphorik präsentiert, läßt sich auch zur Analyse von literarischen Darstellungsweisen verwenden. Er hat seltsamerweise die literarischwirkungsästhetische Dimension der Schiffbruchmetapher kaum berücksichtigt, obwohl das Thema an verschiedenen Stellen seines Buches anklingt.17 Nach –––––––—

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Kampfliedern des Dichters gehörte, also auch auf Zukünftiges gerichtet war. Doch für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ist nur die Perspektive des Beteiligten interessant. Vgl. Treu, Alkaios, 43 und 163. Lukrez, Von der Natur I, 1f., lateinisch-deutsch hg. und übersetzt von Hermann Diels, München 1993, vgl. Blumenberg, Schiffbruch, 28f. Ebd. 31f., 65ff. Vgl. Friedrich Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Sämtliche Werke, 4. Aufl., München 1967, V 358–372. Zum Problem siehe Carsten Zelle, Schiffbruch vor Zuschauer. Über einige popularphilosophische Parallelschriften zu Schillers Abhandlung über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft Bd. XXXIV, 1990, 289–316 sowie Gert Ueding, Katastrophenliteratur oder die Lust am Untergang – auf dem Papier, in: Horst Dieter Becker, Bernd Domres, Diana von Finck (Hg.): Katastrophen-Trauma oder Erneuerung? Tübingen 2001, 163–182. Vgl. Treu, Alkaios, 161. Vgl. Blumenberg, Schiffbruch, 14f., 46ff. Diese allegorische Deutung wurde zuerst von Quintilian, Institutio oratoria VIII, 6, 44 vorgetragen. Zum Problem vgl. auch Otto Seel, Zur Ode I, 14 des Horaz. Zweifel an einer communis opinio, in: Doris Ableitinger / Helmut Gugel (Hg.), Festschrift Karl Vretska zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1970, 204–245. Vgl. Blumenberg, Schiffbruch, 21, 43f.

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seiner Vorgabe kann man den Untergang eines Schiffes von drei Perspektiven aus betrachten: vom unmittelbar betroffenen Akteur, vom positiv oder negativ kommentierenden und vom genußvoll das Schauspiel betrachtenden Zuschauer aus. Dazu kommen als vierte und fünfte Perspektive die des Autors bzw. des lyrischen Ichs und die des Lesers, obwohl diese beiden sich von den ersten drei qualitativ unterscheiden: Sie beziehen sich auf die Vorstellungsebene (das „Wie“), wogegen Akteur, Kommentator und Zuschauer die Realitätsebene (das „Was“) repräsentieren – natürlich wiederum nur für Autor und Leser, was zeigt, daß alle fünf Perspektiven verschränkt sind. Wenn man davon ausgeht, daß das ästhetische Vergnügen am Schrecklichen eines der stärksten und ältesten literarischen Wirkungsmittel ist, wie ebenfalls schon seit der Antike die Debatte um die tragische Katharsis belegt, dann wird Enzensbergers Wahl des Schiffbruchstopos für sein Gedicht von einem ähnlichen Wirkungskalkül her motiviert sein.18 Damit bietet sich ein rhetorisch-literarischer Interpretationsansatz an, der die poetische Aussage vor allem von der Wirkungstechnik her zu entschlüsseln sucht. Doch zuvor sei kurz die Form des Textes genauer bestimmt. 4. Enzensberger hat sein Poem im Untertitel Eine Komödie genannt. Wer aber jetzt ein Drama mit Akteinteilung erwartet, sieht sich getäuscht. Statt dessen findet der Leser eine „poetische Großform“ vor, wie Enzensberger einen ähnlich komponierten Text von William Carlos Williams bezeichnet hat, „die spezifisch modern ist und keine erzählerischen Absichten verfolgt“.19 Sie besteht aus 33 „Gesängen“ und aus dazwischengeschalteten Glossen, die das in den „Gesängen“ dargestellte Geschehen oder die begleitenden Reflexionen erklären und kommentieren.20 Die „Gesänge“ enthalten mal Strophen, mal durchlaufenden Text. Verse und Liedform gibt es nur in zwei „Gesängen“, wo Kirchenlied, Schlager und Folksong imitiert werden.21 Sonst herrscht Prosa vor in allen Schattierungen von einfacher Alltagssprache bis zum Duktus kunstvoller Rhythmisierung. Gern verwendet der Autor auch permutierende lexikalische und syntaktische Stilmittel der Konkreten Poesie. Durchgehendes Bauprinzip des Textes ist die Montage, welche die verschiedensten Augenzeugenberichte, Nachrichten, Buchtitel, eine Tabelle, Schlager und politische Slogans, Begriffe aus den marxistischen Klassikern, Zitate aus Enzensbergers Werken sowie Sprich- und Fremdwörter collagiert. Auch das Untergangsmotiv als Teil des Themas „Tod und Sterben“ kommt in vielen Variationen vor. All das macht den Text zu einem poetischen Gebilde, das weder „dramatisch“ noch „episch“, auch –––––––— 18

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„Es gibt keine Kunst ohne das Vernügen“, heißt es in der Glosse „Abendmahl“, die sich auf ein Gemälde bezieht. „Das gilt auch für die endlosen Kreuzigungen, / Sintfluten und Bethlehemitischen Kindermorde, / die ihr [sagt der Maler zu seinem Publikum], ich weiß nicht warum, / bei mir bestellt.“ Enzensberger, Untergang, 32. Hans Magnus Enzensberger, William Carlos Williams, in: Ders., Einzelheiten II. Poesie und Politik, Frankfurt a.M. 1963, 29–49; hier: 42. Vgl. zu den Glossen die Beispiele in Anm. 7 und 8. Im 13. und 20. Gesang.

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nicht einfach traditionell „lyrisch“ genannt werden kann, sondern erst in der Kombination des Heterogenen sowie in der Sprengung der Gattungsgrenzen zur modernen Lyrik gerechnet werden muß und daher als Gedicht zu bezeichnen ist.22 Vor allem der Untertitel Komödie verweist auf das Überschreiten der Gattungsgrenzen im Gedicht. Enzensberger bezieht sich damit auf die Divina Commedia Dantes, die auch kein Drama, sondern ein Epos ist, das die Wanderung des Dichters von der Hölle über den Läuterungsberg bis zum Paradies beschreibt. Dante versteht unter „comoedia“ eine erzählende Dichtung, die die Handlung vom Negativen zum Positiven führt und – anders als die „tragoedia“ – im niedrigen Stil geschrieben ist. Jede der drei „Canticas“, in denen Dante die Stationen seiner Wanderung darstellt, besteht aus 33 Gesängen in gereimten jambischen Dreizeilern (Terzinen).23 Auch Enzensbergers Text umfaßt 33 „Gesänge“, wobei allein der erste Gesang, der den Beginn der Katastrophe schildert, Dreizeiler – aber ohne Reim – enthält. Erzählerisch verfährt er nur streckenweise, da der Bericht über den Ablauf des Schiffsunglücks immer wieder durch reflektierende Einschübe unterbrochen und auch die Chronologie der Ereignisse nicht respektiert wird. 5. Zur Erschließung der Botschaft dieses labyrinthischen, aus heterogensten Elementen und verschiedensten Sprachformen montierten Gedichts werden jetzt die darin vorkommenden Zuschauerperspektiven und ihre rhetorische Gestaltung exemplarisch analysiert. Dazu sei zunächst die Szene im 1. Gesang herangezogen, die allerdings nicht aus der Seh-, sondern aus der Hörerfahrung gestaltet ist: der des einsamen Funkers in seiner Kabine. „Einer horcht. Er wartet. Er hält / den Atem an [...]“, heißt es einleitend. Dann etwas später: „Jetzt aber! Jetzt: / Ein Knirschen. Ein Scharren. Ein Riß. / Das ist es. Ein eisiger Fingernagel, / der an der Tür kratzt und stockt. / Etwas reißt.“24 Dies ist die Wahrnehmung eines von dem Unglück Betroffenen, der einem unheimlichen Ereignis ausgeliefert ist. Doch der Darstellungston bleibt nicht lange nah am Geschehen, sondern geht bald auf Distanz: „Das war der Anfang. Der Anfang vom Ende ist immer diskret. / Es ist elf Uhr vierzig / an Bord. Die stählerne Haut / unter der Wasserlinie klafft, / [...] aufgeschlitzt / von einem unvorstellbaren Messer. / Das Wasser schießt in die Schotten.“25 Zwar ist im Gebrauch der Metapher vom „unvorstellbaren Messer“ immer noch das Entsetzen spürbar, aber die vorhergehende kühl feststellende Sentenz „Der Anfang vom Ende ist immer diskret“ hat die Erlebnisebene schon durchbrochen und den Vorgang zum Thema intellektueller Reflexion gemacht. Mit Ausrufen, Aufzählung und –––––––— 22

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Zum Verhältnis moderner Gedichte gegenüber der Tradition vgl. etwa Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1968, 166f. Barbara Wiedemann-Wolf, Die Rezeption Dantes und Ungarettis in Enzensbergers Untergang der Titanic, arcadia 19 (1984) 252–268; hier: 253f. Enzensberger, Untergang, 7, 8. Ebd. 9.

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Metaphorik wirkt die Sprache zunächst affektiv-pathetisch, dann durch die distinktiv schärfende definitio, in der „Anfang“ und „Ende“ zusammengespannt werden, intellektuell-distanzierend, ja sogar leicht sarkastisch. Rhetorisch gesehen verbinden sich hier movere und docere, jedoch so, daß ihr Wirkungsaffekt gegenseitig durchkreuzt wird. Die Sicht des ästhetisch genießenden Zuschauers zeigt sich am besten in der Glosse „Der Eisberg“, die sozusagen dem ‚Stein des Anstoßes‘ und Anlaß der Katastrophe gewidmet ist. „Der Eisberg kommt auf uns zu / unwiderruflich“, heißt es einleitend. „Siehe, er löst sich ab / von der Gletscherstirn [.. .]. [J]a, er ist größer / als alles was sich bewegt / auf dem Meer, / in der Luft / oder auf der Erde.“ Die exclamatio am Satzanfang, die anthropomorphe Metaphorik und die parallele Setzung von Meer, Luft und Erde als Repräsentanten der Elemente, die einen biblischen Ton anschlägt, verweisen auf das Außerordentliche der Erscheinung. „‚Man glaubt, das Sonnenfeuer / sich in den Fenstern / von hundert Palästen / spiegeln zu sehen‘“, heißt es im einmontierten Zitat. Größe und Schönheit dieses Naturphänomens kennzeichnen es als einen erhabenen Gegenstand: „‚Dieses Schauspiel / hebt die Einbildungskraft, / erfüllt aber auch das Herz mit einem Gefühle unwillkürlichen Schauders.‘“26 Verlebendigung und Detaillierung, also die stilistischen Wirkungsmittel rhetorischer evidentia,27 erschaffen die Szenerie gleichsam vor den Augen des Lesers. Aber es bleibt nicht bei dem feierlichen Eindruck. „Der Eisberg hat keine Zukunft“, heißt es weiter. „Er läßt sich treiben. / [...] Er ist nichts wert. / Die Gemütlichkeit / ist nicht seine starke Seite. / [...] Er geht uns nichts an, / treibt einsilbig weiter, / braucht nichts, / pflanzt sich nicht fort, /schmilzt.“28 Damit ist die Erhabenheit dahin; das vorherige Pathos von Schilderung und Metaphorik kontrastiert mit der Nüchternheit alltagssprachlicher Feststellungen; das Banale setzt sich antithetisch gegen die Größe und ironisiert sie. Eine Kombination von Akteurs- und kommentierender Zuschauerperspektive bietet der 10. Gesang. „Das ist also der Tisch, an dem sie saßen“, heißt es einleitend. „Du siehst, von außen, durchs Bullauge, B. / im Rauchsalon, einen russischen Emigranten, / wie er gestikulierend, eingehüllt / in blaues Gewölk aus guten Zigarren, [...] den Umsturz predigt. [...] Nun aber bemerkst du, am Nebentisch, / einen anderen Herrn, der sich voll Zorn / erhebt. Ein Textilfabrikant ist es, / aus Manchester, der sich beherrschen muß, / wenn er diesen Unsinn hört.“ Er predigt die Disziplin: „Unbedingt sagt er, müsse sie sein / mit zitterndem Schnurrbart, und eisern, / besonders an Bord eines Schiffes.“29 Hier wird zunächst eine ‚reale‘ kleine Erzählung fingiert, als ob zwei Passagiere an Bord, ein Sprecher und ein mit „du“ Adressierter, durch ein Bullauge in den Rauchsalon schauten und der eine dem anderen dort zwei Reisende ins Streitgespräch vertieft zeigte. Diese beiden sind der Anarchist Bakunin und Friedrich Engels, –––––––— 26 27 28 29

Ebd. 27f. Ansgar Kemmann, Evidentia, Evidenz, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1996, III Sp. 33–47; hier: Sp. 40. Enzensberger, Untergang, 28f. Ebd. 42f.

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einer der Väter des wissenschaftlichen Sozialismus. Bakunin und Engels sind natürlich ebenfalls fiktive Personen auf der Titanic, aber sie repräsentieren eines der zentralen Themen des Gedichts: das Verhältnis zum Sozialismus. Gegen Ende der kleinen Szene folgt eine belehrende Maxime: „Am liebsten möchten alle gerettet werden, / auch du. Aber ist das nicht allzuviel verlangt von einer Idee?“30 Der Bericht des einen der zuschauenden Passagiere wandelt sich jetzt zur direkten Anrede des lyrischen Ichs an den Leser. Es nimmt Stellung zum Thema „Sozialismus“, und zwar, wie die rhetorische Frage zeigt, skeptisch gegenüber den sozialistischen Heilsversprechungen, über die wohl auch Bakunin und Engels gestritten haben. Der synkritische Vergleich, der die beiden Akteure charakterisiert, verleiht der kleinen Erzählung etwas Unterhaltsames, wodurch die Maxime am Ende nur um so wirkungsvoller plaziert werden kann. Das delectare-Element der Synkrisis, eines beliebten Darstellungsmittels rhetorisch geformter Literatur, diente in der Tradition dazu, moralische Grundsätze kurzweilig und mit einer gewissen Dramaturgie arrangiert vorzutragen.31 Akteurs- und kommentierende Zuschauerperspektive werden schließlich im 6. Gesang zur Sichtweise des lyrischen Ichs verschmolzen, und zwar insofern, als sich der Akteur vom in der Realität Handelnden zum über seine Erinnerungen Reflektierenden wandelt. „[I]ch frage mich“, heißt es dort, „wie es wohl aussah im Rauchsalon der Titanic [...]. Wie war es in Wirklichkeit? Wie war es in meinem Gedicht? War es in meinem Gedicht?“32 Der Autor spielt hier auf seinen Kuba-Aufenthalt zehn Jahre vor der endgültigen Niederschrift des Gedichts an, als er noch glaubte, daß sich wenigstens auf der Zuckerinsel die sozialistische Utopie verwirklichen ließe, als sich aber auch dort schon erste Zweifel meldeten und ihm die Idee zu dem Poem von der Titanic kam. „Damals dachte kaum einer an den Untergang [...]“, lautet ein Satz im 3. Gesang, und: „Wir wußten nicht, daß das Fest längst zu Ende [...] war [...]. [...] [I]ch war zerstreut und blickte hinaus [...] auf die Karibische See, und da sah ich ihn [...], ich allein sah ihn und niemand sonst, [...] da sah ich den Eisberg, unerhört hoch / und kalt [...] trieb er langsam, unwiderruflich, / weiß, auf mich zu.“33 Durch das Stilmittel der emphatischen Wiederholung wie retardiert entsteht hier die Vision des Titanic-Eisbergs, der dem lyrischen Ich zur Chiffre für das Ende der revolutionären Hoffnungen wird. Diese Erfahrung kann es aber erst später poetisch verarbeiten, und zwar, wie der 6. Gesang mitteilt, dort, „wo Europa am dunkelsten ist, in Berlin, vor zehn Jahren, d.h. heute […].“34 Damit wechselt jedoch zugleich die metaphorische Ebene: der Schiffbruch ist plötzlich nicht mehr nur ein Bild für das Scheitern der Revolution, sondern auch für eine Krise –––––––— 30 31

32 33 34

Ebd. 43. Das literarische Muster sind Plutarchs Parallelviten. Vgl. dazu Alexandru Nicolae Cizek, Imitatio et tractatio. Die literarisch-rhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter, Tübingen 1994, 315ff. Enzensberger, Untergang, 26. Ebd. 17. Ebd. 26.

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im dichterischen Schaffensprozeß geworden.35 Anlaß ist ein biographisches Faktum: der Verlust der ersten Fassung des Titanic-Gedichts auf dem Postweg von Kuba nach Europa. Dieser Text muß jetzt in Berlin rekonstruiert werden: „Verse hole ich aus der Flut, / aus der dunklen, warmen Flut / der Karibischen See,“ heißt es im 4. Gesang, „in der die Haie wimmeln, / geborstene Verse, Rettungsringe, / wirbelnde Souvenirs.“36 Der Schiffbruch ist zum Symbol des Untergangs aller Erwartungen und des frühen Gedichts geworden. Die Vision des Eisbergs fungiert als Zeitklammer; sie spannt Akteurs- und Zuschauerperspektive bzw. Gegenwart und Vergangenheit in poetischer Absicht zusammen und scheut dafür auch nicht das Paradox, sinnfällig ausgedrückt durch die correctio in der Wendung „vor zehn Jahren, d.h. heute“. Doch die poetische Krise bezieht sich nicht nur auf den dichterischen Schaffensprozeß, sondern auch auf den Aussage- bzw. Wahrheitsgehalt des Gedichts. Skeptisch konstatiert das lyrische Ich im „Berliner Zimmer“: „[W]ährend sich ringsum die Stadt immer schneller verdunkelt, / unterhalte ich mich damit, einen Text wiederherzustellen, / den es vielleicht nie gegeben hat. Ich restauriere Bilder, / ich fälsche mein eigenes Werk.“37 – nämlich die verlorengegangene erste Fassung des Gedichts, die der Autor zu retten sucht, aber mit ebensolchen Zweifeln, wie er sich nach dem Aussehen des Rauchsalons der Titanic fragt. Die Kunst selbst, die anders als der sozialistische Realismus es wollte, auch in der raffiniertesten Ausgestaltung der evidentia nie der Wirklichkeit unmittelbar habhaft wird, spielt dieser Skepsis in die Hände. „[W]ie beredt ich bin, mit meinen Lügen“, stellt der Maler Salomon Pollock, von dem das Gemälde im Palmensaal der Titanic stammt, selbstironisch fest. „Die Wahrheit, / das dunkle Fenster dort in der Ecke, / die Wahrheit ist stumm.“38 Die Herstellung eines Kunstwerks als Produktion von Abbildern, denen die Wirklichkeit immer wieder entweicht – dieses Thema behandelt ironisch der 26. Gesang, der die filmische Nachbildung eines Gemäldes vom Meer im Stil eines Drehbuchs parodiert. Zunächst der Entwurf der Kulisse: „Weite blaue Wasserfläche. / Super-Totale. / Ein Halbkreis von Eisbergen [...]“. Dann: „In der Entfernung wird eine kleine Flotte / von Rettungsbooten sichtbar (Modelle). / [...] Sprecher (off): / Die ersten Möwen / von den Neufundlandbänken! / Boten der Rettung, / des Lebens! / Musik [...]“.39 Was hier gezeigt wird, sind nur Klischees, die die Realität beschönigend wiedergeben. Die lakonische Kürze der Protokollsätze unterstreicht das Unglaubwürdige dieser Zeilen. Die Erzeugung von evidentia wird hier erneut problematisiert, diesmal aber nicht als poetisches, sondern als –––––––— 35

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Der gesamte Bedeutungskomplex „Schiff“ scheint überhaupt bei Enzensberger für das Verfertigen von Poesie zu stehen. In diesem Zusammenhang spricht er einmal von der „Navigationsmetapher“. Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1963, 72. Enzensberger, Untergang, 23. Ebd. 26. Ebd. 84, vgl. 79. Ebd. 89.

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mediales Verfahren, das die Kunstanstrengung dem massensuggestiven und ökonomischen Diktat unterwirft. Am Ende, im 33. Gesang, präsentiert sich Enzensbergers Gedicht am klarsten als ein „Schiffbruch mit Zuschauer“, diesmal aber in Form einer Groteske. Noch einmal werden Akteurs- und Betrachterperspektive in der Sicht des lyrischen Ichs verbunden. „Ich mache, bis auf die Haut naß, Personen mit nassen Koffern aus,“ heißt es eingangs. „Auf schiefer Ebene seh ich sie stehen, gegen den Wind gelehnt / im schrägen Regen, undeutlich am Rande des Abgrunds. [...] Ich warne sie, ich rufe z.B. Die Bahn ist schief, / meine Damen und Herren, Sie stehen am Rande des Abgrunds. Jene freilich / lachen nur matt und rufen tapfer zurück: Danke gleichfalls.“40 Die Darstellung wechselt von der Sicht des erlebenden zu der des beschreibenden Ichs; historische Realität und Fiktion sind jetzt nicht mehr zu trennen. Die Untergangsbewegung hat die Passagiere und den Betrachter erfaßt. Er ist einer der Ihren – also auch Akteur – geworden, wie sie ihm – gewissermaßen in einer verkürzten retorsio argumenti – klarmachen. Dabei durchbricht der ironische Tonfall, in dem sie ihm Antwort geben, das Gefühl der Beklemmung, das diese furchtbare Situation im Leser auslöst. Der Ernst der Lage wird immer wieder verdrängt: „Diese Personen sind voller Hoffnungen“, fährt das beschreibende Ich fort. „Im strömenden Regen [...] öffnen [sie] ihre Koffer und schließen sie wieder und singen im Chor: ‚Am 13. Mai ist der Weltuntergang, / wir leben nicht mehr lang [...].‘“41 Skurrile Details überspielen das Bedrohliche der Situation, wie das sinnlose Hantieren mit den Koffern und das Absingen einer populären Schlagermelodie aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen. Der Betrachter muß zwar zusehen, wie seine Mitreisenden ertrinken, gerät auch selbst ins Wasser „unter Tausende und Abertausende von klatschnassen Koffern“, stellt zuletzt aber fest: „Ich schwimme und heule [...], alles unter Kontrolle [...], macht nichts, zum Heulen, auch gut, undeutlich, schwer zu sagen, warum, heule und schwimme ich weiter.“42 Wieder pendelt die Darstellung zwischen erlebender und beschreibender bzw. kommentierender Ichperspektive hin und her. Die Groteske hat ihren Höhepunkt erreicht: kein tragisches Sterben beim Schiffsuntergang wird vorgeführt, sondern die Schwimmbewegung eines Davonkommenden, der zwar nicht glücklich ist, aber trotzdem noch „alles unter Kontrolle“ hat. Nimmt man diesen Schluß als provokatives Requiem auf die politische Thematik des Gedichts, läßt sich sogar sagen: Am Ende steht der Katzenjammer des gescheiterten Revolutionärs. 6. Fragt man sich aufgrund des bisher Dargelegten am Schluß nocheinmal nach der Bedeutung des Untertitels Eine Komödie, den Enzensberger seinem Poem gegeben hat, so erscheint der Untergang der Titanic weder als komisches noch tragisches, sondern als tragikomisches Geschehen. Kennzeichen des Tragikomi–––––––— 40 41 42

Ebd. 114. Ebd. 115. Ebd.

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schen ist die Verbindung und Kontrastierung der beiden elementarsten dramatischen Haltungen des Künstlers gegenüber dem menschlichen Schicksal.43 Die Tragikomik als Synthese des Gegensätzlichen zeigt sich bei Enzensberger in der Mischung der Perspektiven, wobei die Involviertheit des Akteurs das tragischpathetische, die Distanz des kommentierenden sowie des ästhetischgenießenden Zuschauers aber das komisch-unterhaltsame Moment ermöglicht. Dem entsprechen die kontrastierende Montage der Elemente und der ständige Wechsel der Stilebenen im Gedicht. Die wichtigste rhetorische Funktion hat dabei die ironische Brechung des Pathos, das prima vista zunächst der Behandlung des Themas „Untergang“ angemessen ist, jedoch immer wieder durch Antithese, Parodie, Paradoxie und Groteske ins Komische verschoben wird.44 Unter tragikomischem Aspekt erscheint Enzensbergers Poem als allegorischer45 Abgesang auf die gescheiterten politischen und sozialen Hoffnungen der 68erGeneration, und zwar als Schiffahrts- bzw. Schiffbruchsmetapher. Diese gehört, wie schon die zitierten Gedichte von Alkaios und Horaz belegten, zur Topik des tradierten Staatsdenkens, wobei hier meist die Bedrohung des „Staatsschiffs“ beklagt wurde.46 Doch Enzensberger zeigt in der Handhabung dieser Metapher keine Sorge mehr um den sehnlich erwarteten Erfolg einer politischen Bewegung und kennt also auch nicht mehr das Pathos eines Alkaios oder Horaz. Stattdessen herrscht in seinem Gedicht die Desillusionierung: „Wir glaubten noch an ein Ende, damals / (wann: ‚damals‘? 1912? 18? 45? 68?), / und das heißt: an einen Anfang,“ steht im 29. Gesang. „[...] Aber das Dinner geht weiter, der Text geht weiter.“47 Die große Veränderung ist ausgeblieben, es gab keinen –––––––— 43 44

45

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Karl S. Guthke, Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, Göttingen 1961, Kap. I. Vgl. dazu Enzensbergers Aussage in: Hans Bender (Hg.), Mein Gedicht ist mein Messer, 2. Aufl., München 1969, 145f. „Die Sprache ist durch die ganze Temperaturskala von der äußersten Hitze bis zur extremen Kälte zu jagen, und zwar möglichst mehrfach. Dazu ist ein ständiger Wechsel des Pathos erforderlich. Zwischen Hyperbel und Andeutung, Übertreibung und Understatement, Ausbruch und Ironie, Raserei und Kristallisation, äußerster Nähe zum glühenden Eisen des Gegenstandes und äußerster Entfernung von ihm fort zum Kältepol des Bewußtseins ist die Sprache einer unausgesetzten Probe zu unterziehen.“ Allegorisch lassen sich manche Passagen des Gedichts verstehen, wenn man sie als Sinnbilder für das Scheitern des Revolutionsprojekts der 68er-Generation ansieht. Die Allegorie unterscheidet sich vom Symbol dadurch, daß sie in der Repräsentanz die allgemeine Bedeutung eines Gegenstands oder Sachverhalts wirklich erschöpft und nicht durch Verweis auf Unsagbares nur partiell darstellt. Ein Beispiel ist der untergehende Rauchsalon mit Bakunin und Engels am Tisch. „Am liebsten möchten alle gerettet werden,“ heißt es am Ende des 10. Gesangs, „auch du. Aber ist das nicht allzuviel / verlangt von einer Idee? Die Partie / bleibt unentschieden. Kein Mensch / hat die beiden Herren erblickt / in einem der Rettungsboote, kein Mensch / hat je wieder von ihnen gehört. / Nur der Tisch, der leere Tisch / treibt immer noch auf dem Atlantik.“ (Enzensberger, Untergang, 43) Der Salon ist verschwunden, die beiden Kontrahenten auch und mit ihnen ihre Revolutionsideen. Nichts wurde gerettet, weder konkret noch im übertragenen Sinn, nur der leere Tisch treibt als tabula rasa im Wasser. Vgl. Eckart Schäfer, Das Staatsschiff. Zur Präzision eines Topos, in: Peter Jehn (Hg.), Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M. 1972, 259–292. Enzensberger, Untergang, 97, 99.

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Nullpunkt der geschichtlichen Situation, an dem der Kapitalismus besiegt wurde und man hätte neu einsetzen können.48 Vor diesem gewissermaßen weltanschaulichen Hintergrund des Gedichts wandelt sich die von Blumenberg beschriebene Daseinsmetapher des „Schiffbruchs mit Zuschauern“ zu einer künstlerischen Darstellungsmetapher. Inhaltliches Agens der Gestaltung, die das Geschehen im Gedicht unter wechselnden Perspektiven präsentiert, ist für Enzensberger die Skepsis gegenüber der Verläßlichkeit von revolutionärem Standpunkt und sozialistischer Sicht.49 Dadurch ergibt sich im Text anstelle einer festen politischen Position, die die Vorgänge als beklagenswertes Unglück begreifen will, ein ästhetisch höchst anspruchsvolles Spiel mit verschiedenartigen Stationen des „Untergangs“, realisiert aus den Perspektiven des darin involvierten Akteurs sowie des die Vorgänge mal kommentierenden, mal genießenden Zuschauers. Das Wirkungspotential des tradierten Topos vom Schiffbruch, der zum Schauspiel wird, benutzt der Autor, um die Leseraufmerksamkeit mit ständig neuen Facetten der literarischen Gestaltung zu fesseln. Doch das affektive Potential dieses Topos, der Qual und Vergnügen zugleich zu mobilisieren vermag, kann sich durch das ironisch gebrochene, die Geschehnisse verfremdende Pathos nie ganz entwickeln, sondern es wird immer wieder gestört. Wie schon Brecht in seinem epischen Theater will auch Enzensberger keine einfühlende, sondern eine distanzierte Haltung des Lesers zum Text und seiner Aussage. Von daher ist diese Adaption der Schiffbruchmetapher eine konsequent moderne Behandlung des alten Topos. Enzensbergers Version des Schiffbruchs als Darstellungsmetapher kann aber auch erneut als Daseinsmetapher gelesen werden, wenn man die poetische Thematik wieder aufgreift und dem wichtigsten der intertextuellen Bezüge des Gedichts nachgeht: dem zu Dantes Divina Commedia.50 Dante wird öfter in Enzensbergers Poem genannt. Noch im Schlußgesang steht er unter den Passagieren an Deck, weiß gekleidet, mit einem Manuskipt, das „in schwarzes Wachstuch gewickelt“ ist.51 Inhaltlich entsprechen sich bei Dante und Enzensberger Läuterungs- und Eisberg.52 Dante muß in seinem Poem den Weg von der Hölle über den Läuterungsberg (Purgatorio) nehmen, um zum Paradies zu gelangen. Bei Enzensberger löst der Eisberg im Gedicht die Katastrophe aus, –––––––— 48

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Zu Enzensbergers Geschichtsauffassung vgl. Susanne Komfort-Hein: „Der Text bricht ab, und ruhig rollen die Antworten fort.“ Enzensbergers Mausoleum der Geschichte, in: Cornelia Blasberg / Franz Josef Deiters (Hg.), Geschichtserfahrung im Spiegel der Literatur. Festschrift für Jürgen Schröder zum 65. Geburtstag, Tübingen 2000, 421–439; hier: 428. Vgl. als Gegenposition etwa Wolfgang Fritz Haug, Die Bedeutung von Standpunkt und sozialistischer Perspektive für die Kritik der politischen Ökonomie, Das Argument 74 (1972) 561–585; hier: 565, 573, 583. Neben Dante spielt noch Edgar Allan Poe mit seiner Erzählung The Narration of Arthur Gordon Pym of Nantucket eine gewisse Rolle als Referenztext. Vgl. Enzensberger, Untergang, 71, 85. Ebd. 114. Dante erscheint auch auf S. 22, 71, 78 (hier in einer Glosse betitelt „Erkennungsdienstliche Behandlung“). Wiedemann-Wolf, Die Rezeption Dantes, 255f., 258.

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repräsentiert aber auch den heilsamen Schock der Desillusionierung, so daß sich als verborgener Untertitel ergibt: „Eine Komödie der Läuterung von falschen Hoffnungen“. Nimmt man dazu die ersten Verse von Dantes Purgatorio, ergibt sich als literarische Anspielung der Aufbruch des lyrischen Ichs zu neuen Ufern auch in der Produktion von Dichtung: Zu fahren bessere Wasser, hebt die Segel Nunmehr von neuem meines Geistes Kahn, Der hinter sich gebracht so grausen Pegel. Besingen werd ich jetzt den zweiten Plan: Hier läutert sich des Menschengeistes Streben, Bis daß er würdig für des Himmels Bahn. Der toten Poesie gebt neues Leben, Ihr heiligen Musen, da ich euer Sohn [...].53

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Dante Alighieri, Die göttliche Komödie. Übertragen von Wilhelm G. Hertz, Frankfurt a.M. / Hamburg 1955, 145. Eine weitere literarische Variante des Aufbruchs nach dem Schiffbruch zeigt Goethes „Tasso“ in den letzten Versen (5. Aufzug, 5. Auftritt): „Ich kenne mich in der Gefahr nicht mehr, / Und schäme mich nicht mehr es zu bekennen. / Zerbrochen ist das Steuer und es kracht / Das Schiff an allen Seiten. Berstend reißt / Der Boden unter meinen Füßen auf! / Ich fasse Dich mit beiden Armen an! / So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“ Anders als am Schluß von Enzensbergers Poem wird der Schiffbrüchige hier doch gerettet, freilich um einen hohen Preis: „[d]aß dem modernen Künstler als Paradigma der Moderne überhaupt zuletzt für sein empirisches Dasein keine andere Rettung bleibt als die Identifikation mit dem feindlichen Prinzip (‚So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.‘). Das Arrangement mit den Kräften, die ihn zerstören, geht über bloße Resignation hinaus und zielt auf jenen Goetheschen Begriff der aktiven Versagung oder Entsagung, die dennoch eine Bestätigung des Lebens ist […].“ Gert Ueding, Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1815 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart IV, hg. von Rolf Grimminger), München 1987, 209.

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Spiele zwischen Reglement und Freiheit

Der Begriff Spiel entzieht sich der Verfestigung. Alle Versuche, ihn präzise zu definieren, landeten in Sackgassen, auch der Ansatz von Johan Huizinga,1 auch der von Roger Caillois,2 und das waren die wichtigsten. Das liegt zum Teil am Sprachgebrauch. Als Spiel wurden sehr unterschiedliche, auch sehr gegensätzliche Phänomene bezeichnet. Wer versuchte, eine allgemeine Theorie zu entwerfen, war gezwungen, eine Auswahl zu treffen, mit dem Ergebnis, daß die Theorie nicht mehr allgemeingültig sein konnte. Daher ist es zweckmäßig, auf eine vorgeschaltete Selektion des Materials zu verzichten und alles, was im Laufe der uns zugänglichen Geschichte irgendwann Spiel genannt wurde, auch als Spiel zu betrachten und keine aus aktuellen Bedürfnissen oder Hypothesen folgenden Ausnahmen zuzulassen. Nur so können wir vermeiden, daß wir in den Definitionen festklemmen. Es ist auffällig, daß weite Bereiche dessen, was man mit guten Gründen und gemäß alter Traditionen Spiel nennt, in neueren Arbeiten ebenso wenig vorkommen wie die Tatsache, daß es eine bedeutende mittelalterliche und neuzeitliche Literatur zum Thema gibt, auch Spielekataloge und Überlegungen über Sinn und Zweck des Spielens. Nur Friedrich Schiller wird bis heute regelmäßig zitiert. Im 27. seiner Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) schreibt er: Mitten im furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.3

Im Spiel und durch das Spiel gewinnt der Mensch diejenige Freiheit, die ihm sonst versagt ist. Es ist dennoch seltsam, daß Schiller die ihm wohlbekannte Bedeutung der auch im Spiel anwesenden Zwänge und Regeln nicht erwähnt, obgleich sein universaler Spielbegriff auch für alle Künste gelten soll, in denen gerade die Kunstregeln immer auch Stimulanz und Herausforderung waren. Indessen hat er bereits im 15. Brief (1793) erklärt: „Der Mensch spielt nur, wo –––––––— 1 2

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Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956. Roger Caillois, Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige, Paris 1958. Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, übers. von Sigrid von Massenbach, Frankfurt a.M. / Berlin 1982. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen herausgegeben von Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, 27. Brief.

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er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“4 Es gibt wahrscheinlich keinen Satz über die Bedeutung des Spiels, der häufiger zitiert worden wäre als dieser. Er steht fast wie ein Monument da, wie ein allgemeines anthropologisches Gesetz, und da er auch mit seiner selbstbezüglichen und reziproken Formulierung in sich geschlossen ist, kann man ihm nur zustimmen. Widerlegbar ist er jedenfalls nicht. Für Spiel kann man auch Freiheit einsetzen, ohne daß der Sinn sich ändern würde: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er frei ist, und das ist es ja, was Schiller meint. Merkwürdigerweise blieb Schillers Position für lange Zeit ganz vereinzelt. In den ästhetischen Theorien des 19. Jahrhunderts gibt es den Spielbegriff nicht, schon gar nicht bei Hegel, für den die Kunst neben der Philosophie und der Religion der absolute Ernstfall war. Erst im 20. Jahrhundert kommt die Diskussion, vor allem durch Huizinga, wieder in Bewegung. Währenddessen schwebt Schillers Postulat als unanfechtbares klassisches Zitat über den vergeblichen Versuchen, in das Chaos der Spieldefinitionen und der Mannigfaltigkeit der Phänomene Ordnung zu bringen, denn jeder Versuch führte in Widersprüche, und die Lösung dieser Widersprüche wird, wie bei Huizinga schon, durch eine gewaltsame Horizontverengung erkauft. Johan Huizinga hat zwar als erster in seinem Werk Homo Ludens den engen Zusammenhang zwischen Kultur und Spiel erkannt und an dem von ihm ausgewählten Phänomenen auch nachgewiesen, aber dennoch diesen Gedanken wieder relativiert und eingeschränkt, denn Spiel ist für ihn eine heitere und gesellige Tätigkeit, auf deren Regeln man sich einigt, und die außerhalb des Spielverlaufs keine oder nur eine eingeschränkte Bedeutung haben. Spiel, so Huizinga, ist von ernsten Tätigkeiten, die dem Erwerb und der Produktion dienen, grundsätzlich verschieden. Auch sind Spiele, die zuviel Aufwand an Kenntnissen und handwerklichen Fertigkeiten erfordern, für ihn nicht wirklich Spiele. Wissenschaft ist daher ebenso wenig Spiel wie Malerei und Bildhauerei, die überdies ja das Ziel haben, ein Resultat, ein Werk, hervorzubringen. Mit der Einschränkung auf heitere Geselligkeit, auf Kulte, Rituale und Wettkämpfe – er wählt als Beispiele vor allem archaische Kulturen – hat er sich den Weg zu historischen Zusammenhängen verbaut, die eigentlich aus seinem Ansatz hätten abgeleitet werden können. Dann nämlich hätte sich gezeigt, daß der historische Wandel von Spielen, Spielgewohnheiten und Spielbegriffen sehr eng mit all den Entwicklungen und Tätigkeiten zusammenhängt, die er aus seinem Spielbegriff ausschließt. In seiner Werteskala gibt es eigentliche Spiele und solche, die kulturell unproduktiv sind und eigentlich keine Spiel mehr sein dürften. Der kulturelle Wert von Spielen ist für Huizinga durch Begriffe wie Fest und Feier und durch religionsgeschichtliche Verwandtschaften eindeutig definiert. Am Anfang steht immer ein archaischer Kult mit einem Ritual, das zur Spielregel und zur gesellschaftlichen Institution wird. Zum Ritual gehört der Wettkampf. Interessant –––––––— 4

Schiller, 15. Brief.

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daher, daß er auch da, wo er den Spielbegriff berechtigt findet – wie bei der Musik und der Dichtung – sogleich entweder die kultische Bindung und den Sängerwettstreit oder dergleichen zum Beweis heranzieht, nicht aber die Tatsache, daß Musik und Dichtkunst vor allem auf Dauer berechnete Werke hervorbringen, und das sogenannte Spielerische vielleicht vor allem in den Prozessen ihrer Herstellung steckt und nicht so sehr in ihrer sozialen Zweckbestimmung für Kirche und Staat. Ich zitiere einige Sätze, die charakteristisch sind für die immer wieder variierten Bewertungsformeln von Huizinga: Die Würfelspiele sind an sich merkwürdige Kulturobjekte, für die Kultur selbst muß man sie jedoch unfruchtbar nennen. Sie bringen dem Geist und dem Leben keinen Gewinn. Anders wird es, sobald das Wettspiel Gewandtheit, Kenntnisse, Geschicklichkeit, Mut und Kraft erfordert. Je ‚schwieriger‘ das Spiel ist, desto größer wird die Spannung bei den Zuschauern. Schon das Schachspiel fesselt die Umstehenden, obgleich dieses Spiel für die Kultur ganz unfruchtbar bleibt und keinen äußeren Reiz in sich birgt.5

Und am Ende des Absatzes sagt er über das Spiel im Allgemeinen: Je mehr es dazu geeignet ist, die Intensität des Lebens des einzelnen oder der Gruppe zu erhöhen, umso mehr steigt es zu Kultur auf. Die heilige Schaustellung und der festliche Wettkampf sind die beiden überall wiederkehrenden Formen, in denen Kultur als und in Spiel aufwächst.6

Mit diesen Bewertungen und Einschränkungen ist Huizinga in eine selbstgestellte Falle geraten und hat sich den Zugang zu solchen Spielphänomenen verbaut, die keinen religiös-kultischen Ursprung haben und nicht in ritualisierte gesellschaftliche Formen münden. Inzwischen ist die Literatur zum Thema Spiel, gewiß angeregt durch den Vorstoß Huizingas, sehr umfangreich geworden. Allerdings fällt auf, daß neben den spezialisierten Untersuchungen zu einzelnen Spielen und ihrer Geschichte und den modernen mathematischen Spieltheorien der weitaus größte Teil der Arbeiten pädagogisch orientiert und zum Beispiel mit der Frage nach dem Nutzen der Spiele für die Schule beschäftigt ist. Dabei wird weiterhin darüber diskutiert, wie man die verschiedenen Tätigkeiten, die man als Spiel zu bezeichnen pflegt, klassifizieren und von anderen Tätigkeiten abgrenzen könne. Roger Caillois hat in seinem Buch Die Spiele und die Menschen (1958)7 die Spiele nach den Verhaltensweisen der Spieler zu ordnen versucht und ist dabei auf ein Schema gekommen, das folgendermaßen aussieht: Agon Alea Mimikri Ilinx

Wettkampf. Dazu gehören z.B. Boxen, Billard, Schach und allgemein alle Sportwettkämpfe. Würfel, Zufall, Glücksspiele Maske, Verkleidung, Theater Dreh- und Tanzspiele bis Alpinismus, Kunstsprünge

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Huizinga, Homo Ludens, 53. Ebd.

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Die Skala von Caillois reicht in jedem Falle von einfachen, regellosen Spielen bis zu hochkomplizierten, kunstförmigen und stark reglementierten Formen. Mit dieser Skala erreicht Caillois tatsächlich eine Überwindung der Einschränkungen Huizingas, aber er nimmt dafür in Kauf, daß er in den einzelnen Rubriken gegensätzliche Varianten unterbringen muß, die einander ausschließen. Unabhängig von den Ansätzen Huizingas und den Klassifikationen von Caillois hat Vilém Flusser in einem kurzen und präzisen Essay das lange vernachlässigte Problem der Differenz und Übereinstimmung von Spiel und Kunst diskutiert.8 Auch ist zu begrüßen, daß Stefan Poser und Karin Zachmann einen Band unter dem Titel Homo Faber Ludens herausgegeben haben, der den Nachweis enger Beziehungen von Technikgeschichte und Spielgeschichte gewidmet ist.9 In erheblichem Umfang war Technik ein experimentierendes Spiel mit Möglichkeiten, die ihrerseits oft ausdrücklich zu Spielformen führten. Einigkeit dürfte, bei aller Differenz der verschiedenen kulturhistorischen Hypothesen, darin bestehen, daß die geregelten Spiele Raum und Zeit strukturieren und ihre Wahrnehmung steuern. Für eine allgemeine Definition reicht das zwar nicht aus, weil die Feststellung für fast alle menschlichen Tätigkeiten, für Arbeit wie für Muße, gilt, doch um ein bestimmendes Merkmal handelt es sich gewiß, dafür sorgen schon entsprechende Vorschriften in den Spielregeln. Wie steht es dann aber mit den Spielen, die nicht durch Spielregeln definiert sind? Da sie in den kulturhistorischen Spieltheorien entweder gar nicht oder nur als unbedeutende Ausnahmen vorkommen, blieb diese Frage auf der Strecke. Also gibt es auch keine Aussagen über ihre Struktur oder ihre Bauweise. Die geregelten Spiele haben zeitliche Begrenzungen. Innerhalb dieser Grenzen hat die Zeit eine andere Funktion als außerhalb. Das kennen wir von den Kampfsportarten und Wettrennen. Doch gibt es Unterschiede. Entweder ist die Zeit des Spieles von vorneherein festgelegt, etwa durch die Dauer von Spielrunden, der Halbzeiten usw., oder aber die Dauer des Spieles folgt aus dem Spielverlauf. Wenn der Gewinner feststeht, ist das Spiel, etwa die Schachpartie, zu Ende. Innerhalb dieser Zeitgrenzen aber ist tatsächlich ein anderes Zeitmaß in kraft als außerhalb. Zum Beispiel reagiert, denkt, rennt oder handelt man während des Spieles schneller und konzentrierter als davor und danach. Das ist nicht das freie und von allen Alltagszwängen losgelöste Vergnügen, sondern gesteigerte Intensität und Anstrengung. Allerdings bringt man sich freiwillig in diese Situation. Viele Spiele benötigen bestimmte Orte. Das folgt einerseits aus dem Bedarf an Raum, aber auch aus ihrer unterschiedlichen Struktur. Man muß nicht alle diese Orte aufzählen. Jeder kennt die Arena, das Theater, den Fußballplatz. Es ist auch offensichtlich, daß nicht wenige Spiele und Spielformen schon deswe–––––––— 7 8 9

Caillois, Les jeux, 46 und 65. Vilém Flusser, Gesellschaftsspiele, Kunstforum International 116 (1991). Stefan Poser / Karin Zachmann (Hg.), Homo faber ludens. Geschichten zu Wechselbeziehungen von Technik und Spiel, Frankfurt a.M. 2003.

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gen unübersehbare Komponenten der Kulturgeschichte sind, weil sie in ihrer Epoche so wichtig waren, daß nur große Architekturen ihren Ansprüchen genügten. Nicht nur das Kolosseum war ein Spielort. Auch viele Gartenanlagen des Barock muß man sich als Teile einer großen Architectura Recreationis vorstellen und als Spielorte, als Ort möglicher Spiele, zu denen auch die Maison des Jeux (1640) von Sorel10 und die Harsdörfferschen Frauenzimmer=Gespräch=Spiele (1640–1649)11 gehören. Das waren überwiegend Spiele mit der Sprache und dem Wissen und mit den durch sie vermittelten gesellschaftlichen Rollen, von der gespielten Disputation bis zu Rollen- und Gesellschaftsspielen in der Art von improvisierten Theaterstücken. Man muß sich vergegenwärtigen, daß auch bestimmte Literaturformen dazugehörten. So ist das berühmte Buch vom Hofmann, der Corteggiano des Baldassare Castiglione (das 1528 erschien),12 ausdrücklich ein fiktives, langes Gesprächsspiel über ein vereinbartes Thema mit der Frage, wie der vollkommene, universal gebildete Hofmann beschaffen sein müsse. Auch der Spielort gehört natürlich dazu. In diesem Falle ist es der Palazzo von Urbino. Überhaupt sollte man sich jene Schlösser immer auch als Spielorte vorstellen, in denen die Architektur den Rahmen und den Raum bildet für alle möglichen mehr oder weniger öffentlichen Spiele und jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die man damals als Spielformen betrachten konnte. Dazu gehörte auch die Jagd, und das nicht nur als fürstliches Vergnügen, sondern auch als eine Tätigkeit mit einem ausgedehnten literarischen und mythologischen, ja sogar kosmologischen Kontext. Wir kennen Programm und Bedeutung von Fontainebleau, Jagdschloß und Residenz von François Ier, und seine nähere Verwandtschaft ähnlich mit Bedeutung aufgeladener Bauten, zu denen auch das von Jan Pieper erforschte Maulnes gehört.13 Jagdschlösser der Neuzeit sind Spielorte wie ihre Gärten und Parks, deren Geometrie fast wie diejenige von Brettspielen aussehen kann und Spielbarkeit signalisiert. Das ist besonders dann offensichtlich, wenn ein Heckenlabyrinth als quasi-architektonisches Rätsel den Besucher zur Erkundung und zur Lösung des Problems auffordert. Das Labyrinth ist selbst die verdichtete Gestalt dessen, was in der Welt als endloser Irrweg oder als Bündel von Verwirrungen erscheint. Das kann der Wald sein oder auch die große unübersichtliche, gefährliche Stadt. Parklabyrinthe sind sozusagen Abstraktionen einer Realitätserfahrung, wobei das wesentlichste Merkmal, die Möglichkeit des Verirrens oder aber auch die Möglichkeit des Versteckspiels herausdestilliert und meistens auch geometrisiert erscheint. –––––––— 10 11 12 13

Charles Sorel, La Maison des Jeux, où se trouvent les divertissement d’une compagnie, par des narrations agréables, Paris 1642, Slatkine Reprint 1977. Georg Philipp Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, 8 Bände, Nürnberg 1644 – 1649, Reprint hg. v. Irmgard Böttcher, Tübingen 1968. Zum Corteggiano vgl. Peter Burke, Die Geschicke des Hofmann. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996. Zu Maulnes vgl.: Jan Pieper (Hg.), Das Château de Maulnes und der Manierismus in Frankreich, München / Berlin 2006.

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Diese großen, oft weiträumigen Anlagen und Spielfelder behalten ihre Struktur auch in der Verkleinerung zum Brettspiel. Alle Brettspiele kann man auch als miniaturisierte Verdichtungen anderer, größerer Spiele betrachten, als Spiele, die Spiele abbilden. Beim Labyrinth ist das offensichtlich. Aber man muß bedenken, daß auch das Schachspiel ein Labyrinthspiel ist und seine Bretter die Welt bedeuten. In diesen Fällen bildet ein Spiel ein anderes nicht nur ab, sondern entwickelt es weiter. Sehr schön sieht man das bei den Wett- und Rennspielen, bei denen bestimmte Wege zurückgelegt werden müssen und ein Sieger ermittelt wird. In „Lebensgröße“ sind das Reiterspiele, Pferderennen, Wagenrennen usw., bei denen es auf Geschwindigkeit und Geschicklichkeit ankommt. Man benötigt dafür sehr viel Raum, mindestens eine Arena, unter Umständen eine ganze Landschaft. In kleinem Format gibt es entsprechende Brettspiele. Sie sind frühzeitig nachweisbar, es gibt sie schon bei den alten Ägyptern. In Europa war lange das Gänsespiel besonders beliebt. Auch Menschärgere-Dich-nicht gehört in diese Gruppe von Spielen. Interessant ist dabei, daß die Brettspiele meistens komplizierter sind als die realen Vorbilder. Zum Beispiel gibt es Bedingungsfelder, die den Spieler aufhalten oder vorwärtsbringen, und man kann rausgeworfen werden. Die Geschwindigkeit der Fortbewegung wird immer vom Würfel bestimmt. Die Rennspiele haben daher einen beträchtlichen Zufallsanteil, sind aber dennoch keine reinen Glücksspiele. Sie entsprechen der Zwischenlage zwischen Kalkül und Zufall, die bereits Alfons X. von Kastilien, genannt el Sabio – der Weise – in seinen 1283 vollendeten Libros de Acedrex, Dados e Tablas charakterisiert hatte.14 Dieses Werk ist der umfangreichste illuminierte Codex des Mittelalters. Er handelt ausschließlich von Brettspielen, vor allem aber mit über hundert Diagrammen vom Schachspiel. In seinem Vorwort schrieb oder vielmehr diktierte Alfonso dies: Gott hat gewollt, daß die Menschen untereinander auf natürliche Weise allerlei Freuden genießen sollen, damit sie, wenn ihnen Kummer und Sorgen zustoßen, diese leichter ertragen können. Deshalb suchen die Menschen mancherlei Wege, um diese Freuden auch gebührend zu genießen. Aus diesem Grunde erfanden und erdachten sie mancherlei Spiel und Kurzweil, um sich daran zu erfreuen. Die einen übten beim Reiten das Lanzenstechen und –werfen, mit Schild und Lanze und das Zielen mit Armbrust und Bogen. Oder andere Spiele von beliebiger Art, die man zu Pferde treibt. Und wenngleich dies zur Vervollkommnung im Waffenhandwerk gereicht, nennt man es, weil es doch etwas anderes ist, Spiel. Es gibt auch Spiele zu Fuß, wie Fechten, Kämpfen, Laufen, Springen, Stein- und Speerwurf, Ballspiel und viele andere Spiele, bei denen die Menschen ihre Glieder üben, damit sie dadurch kräftiger werden und Freude empfinden. Andere Spiele, bei denen man sitzt, sind Schach-, Brett- und Würfelspiel und andere Kurzweil von vielerlei Art. [...] Weil aber das Schachspiel vornehmer und kunstreicher ist als die beiden anderen, werden wir zuerst von ihm sprechen. Bevor wir jedoch beginnen, wollen wir einige Erzählungen

–––––––— 14

Alfonso el Sabio, Libros de Acedrex, Dados e Tablas, Das Schachzabelbuch König Alfons des Weisen, nach der Handschrift J.T. 6 Fol. hg. v. Arnald Steiger, Genf / ZürichErlenbach 1941.

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anführen, in denen die alten Weisen berichten, wie diese drei Spiele, Schach-, Würfel- und Brettspiel [damit ist vor allem Trictrac, unser Backgammon, und Mühle gemeint] entstanden.15

Er erzählt dann die Legende von einem indischen König, der drei Weise über den Wert von Verstand und Glück im menschlichen Leben befragte. Der erste sagte, Verstand sei mehr wert als Glück, der zweite sagte, gegen die Unberechenbarkeit des Glücks könne der Verstand nichts ausrichten, und der dritte sagte, daß es am besten sei, sich mit Verstand im Glück wie im Unglück richtig zu verhalten und zu versuchen, aus jeder Situation das beste zu machen. Zum Beweis, den der König nun forderte, brachten die Weisen drei Spiele: Das allein auf den Verstand gegründete Schachspiel, den ganz auf den Zufall gegründeten Würfel und Brettspiele wie das Backgammon, bei denen es darauf ankommt, die gewürfelten Konstellationen auf dem Brett richtig zu beurteilen und zum Vorteil zu nutzen oder Schaden zu vermeiden. Alfonso sieht also in den Brettspielen eine Art von Simulation realer Situationen und Experimentierfelder für das Verhältnis von Zufall und Kalkül im menschlichen Leben. Er selbst entscheidet sich für das Schachspiel als dem „vornehmsten“ aller Spiele. Seine Werteskala war im übrigen längst gefestigt und hat sich bis heute nicht verändert. Nach wie vor rangiert das Schachspiel an der Spitze der Werthierarchie. In Japan behauptet sich in dieser Position das vielleicht noch schwierigere GoSpiel. Im übrigen muß man im Gedächtnis behalten, daß Alfonso eine ganze Reihe von Tätigkeiten aufzählt, die er als Spiel betrachtet oder von denen er meint, daß sie als Spiel betrieben werden können. Merkwürdig daher, daß diese alten Spielekataloge, die immerhin zeigen, was im historischen Zusammenhang unter Spiel verstanden wurde, in der neueren Literatur – also weder von Huizinga noch von anderen Autoren – überhaupt als wichtige Quelle wahrgenommen wurden. Ein besonderer Aspekt ist die Geschichte der Spielgeräte und Spielmaterialien. Ich erwähne einige Beispiele: Der Würfel war wohl schon sehr frühzeitig in verschiedenen Formen bekannt und in Gebrauch. Die alten Hochkulturen kannten ihn selbstverständlich, und zwar sowohl als Astragal – das ist der Fußknochen von Schafen und ähnlichen Tieren – als auch in seiner geometrischen Form als Kubus oder als Stab. Er war in der europäischen Tradition immer verdächtig, weil er ausschließlich dem Zufall zugeordnet war, also dem Glücksspiel und damit der unberechenbaren Fortuna.16 Die Versuchung, das Glück durch Mogeln zu erzwingen, war entsprechend hoch, und frühzeitig wurden Würfel manipuliert, indem man die Gewichtsverhältnisse störte. Um die allein durch Geschicklichkeit des Spielers erreichte Verfälschung des Resultats zu vermeiden, gab es schon bei den Römern eine Würfelmaschine. Auch der –––––––— 15 16

Steiger, Schachzabelbuch, 5 – 6. Barbara Holländer, Das Spiel mit dem Würfel, in: Ausst.-Kat. 5000 Jahre Würfelspiel, Institut für Spielforschung und Spielpädagogik an der Universität Mozarteum Salzburg, 13 – 38.

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Knobelbecher sollte verhindern, daß der Spieler dem Würfel einen bestimmten Drall mit auf die Reise gab. Im 14. Jahrhundert bekam der Würfel Konkurrenz. Damals, ab etwa 1370, begann sich das aus dem Orient stammende Kartenspiel in Europa zu verbreiten. Wir wissen das aus den rasch verhängten Spielverboten italienischer und deutscher Stadtregierungen. Die Entwicklung der Kartenspiele setzt voraus, daß ein geeignetes Trägermaterial in hinreichender Menge produziert werden konnte, also die Papierherstellung. Im nächsten Schritt kam dann die Entwicklung der Drucktechniken im 15. Jahrhundert hinzu, und seitdem gibt es die bekannte Mannigfaltigkeit von Spielkartensystemen und zugleich Gesetze, die ihre Herstellung und ihren Gebrauch regulierten. Hier kommen also mehrere technische Entwicklungen so zusammen, daß ein neues Spiel, das es zuvor nicht gab, geschaffen werden konnte. Es übernahm vom Würfel die Einschätzung als Glücksspiel und die Zugehörigkeit zur Fortuna, obgleich Spielkarten auch bald didaktischen Zwecken dienen konnten, und der Verstand auf ähnlichem Niveau herausgefordert wurde wie bei den Brettspielen. Natürlich eröffnete es auch ganz neue Möglichkeiten für Betrüger. Ein anderer Fall der Abhängigkeit des Spiels von technischen Voraussetzungen ist das Billardspiel. In der uns bekannten Form gibt es das Billard seit dem 16. Jahrhundert. Es war vorher gar nicht möglich, weil man erst mit den damals entwickelten neuen Drehbänken Elfenbeinkugeln mit der erforderlichen Präzision drehen konnte. Kugelspiele aller Art gab es natürlich schon lange, aber sie wurden nicht auf einer exakt horizontalen Tischebene gespielt, sondern im Freien, wie etwa Boule oder wie die Spiele, bei denen wie bei Hockey, Cricket etc. die Kugel von einem Schläger vorangetrieben wurde, den man durchaus als einen Vorläufer des Queue ansehen kann. En passant ist zu erwähnen, daß auch alle Ballspiele Kugelspiele sind, aber die im Mittelalter verwendete aufgeblasene Schweinsblase war noch weit von unserem Fußball entfernt. Das Billardspiel stellte die strengsten Anforderungen an das Material und an die Geschicklichkeit – und an den Verstand – des Spielers. Seine Beliebtheit im 18. und 19. Jahrhundert verdankt es einerseits der Kaffeehaus- und Clubkultur der europäischen Aufklärung, denn neben dem Schachspiel gehörte das Billard zum intellektuellen Mobiliar dieser Spielorte, und, in manchen Gegenden – in Belgien und Österreich – sieht man das noch heute: das Billard ist immer noch ein Teil der Ausstattung, sozusagen neben dem Zeitschriftenständer. Ein intellektuelles Spiel ist es aber vor allem auch deshalb, weil es in vollkommener Weise quasi als Versuchsanordnung die Gesetze der klassischen Mechanik (Impulssatz, Trägheitsgesetz etc.) repräsentiert. Aufgeklärte Leser der Newtonschen Himmelsmechanik konnten im Billard die dazugehörige Spielform erblicken einschließlich der Tatsache, daß der Einfluß der Gravitation mit großer Präzision beim Billard ausmanövriert, nämlich austariert werden mußte. Die inflationäre Vermehrung neuer Spiele im Zusammenhang mit der Entwicklung der Computertechnik bestätigt wiederum, in welchem Maße technische Entwicklungen, die zunächst vielleicht ganz anderen Zwecken dienten, sofort und ohne Übergangsfrist in Spielformen einmündeten und neue Spiele

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und Regeln hervorzubringen imstande waren. Das ist jedoch keineswegs der einzige Zusammenhang von Technik und Spiel. Schon die Erfindung neuer und merkwürdiger Geräte und Maschinen zum Beispiel bei Salomon de Caus17 – war lange Zeit ein intelligentes Spiel zum Amüsement fürstlicher Mäzene. Dabei wurden allerdings Erfahrungen mit raffinierter Mechanik gemacht, die dann für die industrielle Technik seit dem 18. Jahrhundert von großem Nutzen waren. Die Aufmerksamkeit der Spieltheoretiker war fast immer auf Spiele gerichtet, die eine deutliche Spielregel haben, aus der auch die räumlichen und zeitlichen Strukturen folgen. Auch Roger Caillois hält sich im wesentlichen an die definierbaren Spiele, für die gilt, daß sie beliebig oft unter gleichartigen Bedingungen wiederholbar sind. Ich zitiere Huizinga: Das Spiel nimmt sogleich feste Gestalt als Kulturform an [...], es wird überliefert und kann jederzeit wiederholt werden, sei es nun unmittelbar nach Beendigung wie ein Kinderspiel, eine Partie Trick-Track, ein Wettlauf, oder nach langer Zwischenpause. Diese Wiederholbarkeit ist eine der wesentlichen Eigenschaften des Spiels.18

Aus dieser Bedingung folgen Spieltheorien, in denen das ganze Spektrum der Möglichkeiten auf eine einzige Farbe reduziert wird. Zwar gibt es zweifellos eine außerordentlich große und variantenreiche Menge von Spielen, denen die Regel wiederholbare Ausgangssituationen garantiert, aber noch größer könnte die Anzahl von Spielen sein, für die diese Bedingung nicht oder nur teilweise gilt: Spiele, die sich nicht wiederholen und die doch identifizierbar bleiben. Spiele, die ein absichtliches oder auch zufälliges Resultat haben, das „spielerisch“ ermittelt und hergestellt wurde und dann überdauert. Das betrifft natürlich auch den ganzen Bereich der Künste, der Wissenschaften. Spiele, in denen die Regel nicht von vorneherein existiert, sondern vielmehr nur nachträglich formuliert werden kann, dann aber weder wiederholt anwendbar noch allgemeingültig ist. Spiele, bei denen die Spielregel selbst zum Spielmaterial gehört, das sich mit jeder Spielphase verändern kann. Bei denen also die Erfindung der Spielregel das eigentliche Spiel ist.

Keineswegs geht es bei diesen Varianten „nur“ um das scheinbar regellose sogenannte Spielerische. Im Sprachgebrauch wird zwar zwischen den Spielen und dem Spielerischen unterschieden, das der Regel nicht unbedingt bedarf, denn zum Spielerischen gehört der Anschein von Leichtigkeit und Mühelosigkeit. Gelegentlich wird daher der Begriff des Ludischen verwendet, ohne daß genauer bestimmt wird, warum etwas Ludisches zugleich ohne Anstrengung zu gelingen scheint und dabei auch noch einen Mangel an Ernsthaftigkeit signalisiert, an dem der Betrachter sein Vergnügen hat. Im Sprachgebrauch hat dieses –––––––— 17 18

Salomon de Caus, Von Gewaltsamen Bewegungen, Beschreibung etlicher so wol nützlichen als lustigen Machiner […], Frankfurt 1615. Huizinga, Homo Ludens, 17

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„Spielerische“ sich fest eingenistet, doch meint es eigentlich nur eine bestimmte Verhaltensweise oder ihre Vortäuschung, die dann selbst allerdings schon wieder eine Spielform wäre. Bei Caillois gehört sie zur Kategorie Mimikri. Innerhalb des diffus ausfransenden Vokabulars zum Spielerischen gibt es ganze Archipele von Spielformen, deren Bedeutung und Schwierigkeitsgrad keineswegs geringer ist als diejenige der geregelten Spiele. Schon die Allusion, die kunstvolle Anspielung, ist zweifellos ein Spiel, und doch gibt es dafür keine allgemein verbindliche Regel. Und wenn Künstler oder Schriftsteller Formulierungen zeichnerisch oder schriftlich „durchspielen“, dann verhalten sie sich nicht anders als Schachspieler, die im Eröffnungsdschungel die Varianten durchprobieren. Diese in allen Künsten und Wissenschaften ganz gewohnten „Spielformen“ im Vorfeld oder als Teil von Ermittlungsprozessen mit dem Ziel eines Werkes oder einer Erkenntnis sind Voraussetzung jeder kulturellen Entwicklung. Es ist völlig unverständlich, warum ausgerechnet Huizinga dies alles aus seiner Spieltheorie ausgeblendet hat mit der Begründung, der Anteil des Spielerischen sei in Künsten und Wissenschaften nicht von Belang, weil erstens die erforderliche Sachkenntnis das Spielerische ganz verdränge, und zweitens ein Ergebnis, ein Werk, angestrebt werde, und das sei unvereinbar mit dem Begriff Spiel. Peter Hutchinson hat in seinem Buch Games Authors Play19 literarische Spiele erkundet und ihre Techniken beschrieben, die auf ganz unterschiedliche Weise die Texte strukturieren, sei es, daß sie beim Leser bestimmte Spiele – etwa Brett- oder Kartenspiele – als bekannt voraussetzen oder zumindest evozieren, weil er sonst die Allusionen nicht erkennt, sei es, daß der Autor sich alter literarischer Praktiken bedient, um Mehrdeutigkeit zu erzeugen und dem Leser Rätsel zu liefern. Hutchinson spricht in jedem der zahlreichen von ihm untersuchten Fälle ausdrücklich von Games und legt Wert auf die Feststellung, daß die übliche Fixierung auf eine Spielregel hier nicht gelten kann. Er widerspricht damit den Ansätzen von Huizinga und Caillois, stimmt aber einer allgemeinen und sehr handlichen Definition von Bernard Suits zu: „Playing a game is the voluntary attempt to overcome unnecessary obstacles.“20 Von diesen selbstgewählten Hindernissen handelt sein Buch. Der erste Teil bietet eine Art Systematik und diskutiert unter anderem: Bekannte Spiele als Handlungsstruktur, den Schlüsselroman mit semantischen Tauschvorgängen, die Gestalt des fiktiven Erzählers, Herausgebers, Kommentators. Der zweite Teil ist wie ein Lexikon angelegt. Hier finden sich Allegorie, Allusion, Montage, Collage, Nonsense, Parodie, Wortspiele, das Spiel mit Namen etc. und kurze Analysen ausgewählter Werke fast aller bedeutenden Autoren der Neuzeit und –––––––— 19 20

Peter Hutchinson, Games Authors Play, London / New York 1983. Bernard Suits, What is a Game?, Philosophy of Science 34 (1967) 148 – 156. Zitiert nach Hutchinson, Games, 7.

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vor allem des 20. Jahrhunderts – natürlich, in prominenten Positionen und an mehreren Stellen, Vladimir Nabokov, Jorge Luis Borges, Franz Kafka. Literarische Spiele, Gesprächs- und Diskussionsspiele, Sprachspiele, Wortspiele und ihre Verwandtschaft in den anderen Zeichensystemen, zumal in den Bildkünsten, dies alles gibt es in den Spieltheorien merkwürdigerweise nicht, obgleich an Literatur über diese deutlich als Spielformen kenntlichen und überdies ziemlich alten Phänomen kein Mangel ist. So handelt zum Beispiel der § 52 der Vorschule der Ästhetik von Jean Paul21 vom Wortspiel. Alle seine Argumente, die auf eine kritische Verteidigung hinauslaufen, können uneingeschränkt bis heute gelten. Es sind drei Eigenschaften, die das Wortspiel rechtfertigen: Spielt denn nicht die ganze Poesie, erstlich mit Bildern, dann mit den Klängen des Reims und Metrums? Sogar von der Wahrheit, welche allen witzigen Ähnlichkeiten unterlegen ist, kommt etwas, obwohl wenig, den wortspielenden zu; denn wenn in der Ursprache stets der Klang des Zeichens der Nachhall der Sache war: So steht einige Ähnlichkeit der Sachen bei der Gleichheit ihres Widerhalles zu erwarten. Daher Sprachforscher – deren Ausbeuten und Einfälle meistens den reizenden Schimmer der Wortspiele gewähren – und Philosophen so gern und so schön die Verhältnisse der Ideen in Verhältnisse der Klänge kleiden. [...] Der zweite wahre Reiz des Wortspiels ist das Erstaunen über den Zufall, der durch die Welt zieht, spielend mit Klängen und Weltteilen. Jeder Zufall, als eine wilde Paarung ohne Priester, gefällt uns vielleicht, weil darin der Satz der Ursachlichkeit (Kausalität) selber, wie der Witz, Unähnliches zu gatten scheinend, sich halb versteckt und halb bekennt. [...] Ein dritter Grund des Gefallens am Wortspiele ist die daraus vorleuchtende Geistes-Freiheit, welche imstande ist, den Blick von der Sache zu wenden gegen ihr Zeichen hin; [...]. Die Erlaubnis der Wortspiele gilt […] unter zwei Bedingungen. Das Wort des Spiels muß ich finden, nicht machen; sonst zeig’ ich häßliche Willkür statt Freiheit, z.B. bei Leere und Lehre, Lügen und Liegen. [...] Ein Wortspiel ist da erlaubt, wie ich glaube, wo es sich mit dem Sach-Witz gattet und die Schar der Ähnlichkeiten verstärken hilft – oder wo überhaupt der Witz strömt mit seiner Goldauflösung und dieses Rauschgold zufällig darauf schwimmt – oder wo aus dem Windei des Wortspiels ganze Sätze kriechen. [...] Zuweilen erobert sich der Wortspielerwitz, bei allen Anstößen gegen den Geschmack, durch vielseitiges Farbenspiel Gehalt. 22

Spielformen der Literatur setzen voraus, daß es elementare Bestandteile der Sprache gibt, die sich frei kombinieren lassen. Das Anagramm zum Beispiel ist eine Veränderung der Anordnung von Buchstaben unter der Bedingung, daß kein Buchstabe weggelassen oder ergänzt werden darf. Viele Pseudonyme sind Anagramme. So hat Herzog August von Braunschweig-Lüneburg, der Gründer der berühmten Bibliothek von Wolfenbüttel, für seine Bücher über das Schachspiel und über Kryptographie das Pseudonym Gustavus Selenus gewählt. Aus Augustus wird Gustavus (wobei v = u ist), und Selenus folgt aus Lüneburg = Lunaburg = Mondstadt. Das führt zur Mondgöttin Selene. Der Vorname wird zum Anagramm, und der Titel des Herzogs ist ein gelehrtes Spiel mit der Bedeutung von Wörtern. –––––––— 21 22

Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, hg. und kommentiert v. Norbert Miller, Nachwort von Walter Höllerer, München 1963. Jean Paul, Vorschule, 193–195.

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Ein anderes Sprachspiel ist das Akrostichon, bei dem die Anfänge von Verszeilen, senkrecht gelesen, ein neues Wort ergeben. Es gibt schon im frühen Mittelalter sehr raffinierte Buchstabenanordnungen, in denen der Name des Schreibers in alle Richtungen gelesen werden kann. Aus einem ähnlichen Prinzip entstand viel später, erst im 19. Jahrhundert, das Kreuzworträtsel. Ein Palindrom ist ein Wort oder ein Satz, der vorwärts wie rückwärts gelesen werden kann, bei dem also die Buchstabenfolge spiegelsymmetrisch ist. Beispiele: Otto, Reliefpfeiler, und ein langes Beispiel: Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie. Für die Herstellung dieser Gebilde gibt es keine Spielregel. Aber die Resultate müssen einer strengen Bedingung genügen. Besonders interessant sind die Schüttelreime. Da wird auf den Reim, der selbst eine Spielform der Poesie ist, eine zusätzliche Komplikation draufgesetzt, und am Ende soll auch eine Art Sinn herauskommen. Die Zusatzbedingung ist einfach, aber sie ist schwer zu erfüllen. Die Anfangskonsonanten der letzten Silben oder Wörter sollen in der nächsten Zeile vertauscht werden können. Etwa so: „Der wär ein rechter Schweinehund, dem je der Sinn für Heine schwund.“ Oder – etwas korrekter – der Vers von Erich Mühsam: „Sie würden mir eine große Freude bereiten, wenn sie meinen Hund von der Räude befreiten.“23 In allen diesen Fällen geht es um Anordnungen, um Platzvertauschungen und daraus entstehende Überraschungseffekte. Diese Spiele sind eigengesetzliche Kunstformen, die mit der Sprache experimentieren und aus ihren Elementen neue Gebilde ermitteln, die nicht einfach herzustellen sind. Wenn man zu diesen Elementen andere Zeichen hinzufügt, Bilder oder Signale, auch geometrische Figuren, dann gewinnt man weitere Möglichkeiten der Kombination hinzu, zum Beispiel im Rebus,24 bei dem an die Stelle von Silben und Wörtern Bildzeichen treten können und es darauf ankommt, sie richtig zu lesen. Die Emblematik25 ist ein Wort-Bildspiel höherer Ordnung, das vom 15. bis zum 18. Jahrhundert Auswirkungen auf alle Bildkünste gehabt hat und nicht selten eine Erfindungskunst wurde, in der die Konkurrenz von Malerei und Literatur aufgehoben wurde. In der näheren Nachbarschaft finden wir sodann die Erfindung künstlicher Hieroglyphen,26 und schließlich die ganze Welt der Kryptographien, der Codierungen, der Verschlüsselungen, die sämtlich zu den kombinatorischen –––––––— 23

24 25

26

Zu poetischen Sprachspielen: Alfred Richard Meyer, die maer von der musa expressionistica, Düsseldorf-Kaiserswerth 1948, 84; Klaus Peter Dencker (Hg.), Deutsche Unsinnspoesie, Stuttgart 1978; ders., Poetische Sprachspiele vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 2002; Herbert Schuldt (Hg.), Glossolalie, Literaturmagazin 18 (Sondernummer), Reinbek bei Hamburg 1986. Beispiele bei Gilbert Obermair, Die lustigsten Bilderrätsel, Rastatt o.J. Zur Emblematik vgl. Arthur Henkel / Albrecht Schöne (Hg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunde, Stuttgart 1967; Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 1964 / 1968; Carsten Peter Warncke, Sprechende Bilder – Sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987. Ludwig Volkmann, Bilderschriften der Renaissance, Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen, Leipzig 1923; Eva-Maria Schenck, Das Bilderrätsel, Hildesheim 1973; Hans Holländer, Die Welt als Hieroglyphe, in: Dietrich Wildung / Moritz Wullen, Hieroglyphen!, Berlin 2005, 13–18.

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Spielen gehören, weil das Muster fast immer eine Regel für die Veränderung von Anordnungen distinkter Elemente war. In jeder Sprache gibt es mehrdeutige Wörter, Homonyme, die zwei oder mehr Bedeutungen haben, die einander ausschließen, wobei zwar die Buchstabenfolge, die Schreibweise, sich geringfügig verändern kann, die Aussprache aber nahezu konstant bleibt. Homonyme sind natürlich hervorragend geeignet für Wortspiele und Wortwitze. Zum Beispiel zeigt nur der Kontext, was mit dem Wort „Wurzel“ jeweils gemeint ist, ob Baumwurzel, Mohrrübe oder mathematische Wurzel. Man kann zusammengesetzten Wörtern Mehrdeutigkeit auch unterstellen. Zum Beispiel könnte der Gänsesäger ein Mensch sein, der Gänse zersägt, und man wird sich beim Zitronenfalter fragen, wie der sein schwieriges Kunststück zustande bringt. Dagegen ist die Erklärung für das Schulzen-Trum relativ einfach. Das war im späten Mittelalter ein gewaltiger Humpen, den der Dorfschulze zu seiner Amtseinführung überreicht bekam. Daß diese Wortspiele zum Teil in Kalau erfunden wurden, ist evident, aber man soll sie nicht unterschätzen. Sie sind elementare Spiele jeder Poesie und können Anlaß zu bedeutenden Werken und einer endlosen Kombinatorik sein, etwa dann, wenn sich ein Autor wie Schuldt daraus strenge und nicht überschreitbare Regeln, die nur für ihn selbst gelten und auch nicht einfach wiederholt werden können, ableitet.27 Einer der rätselhaftesten Autoren des 20. Jahrhunderts war Raymond Roussel.28 Für seine umfangreichen Hauptwerke, für Locus Solus (1913) und für die Impressions d’Afrique (1910) gilt, daß jede Berührung mit der Realität zufällig und nicht beabsichtigt war. Grundlage seiner abenteuerlichen Konstruktionen ist die Mehrdeutigkeit von Wörtern. So ist zum Beispiel ein ganzes Kapitel in Locus Solus auf der Mehrdeutigkeit von demoiselle gegründet. Das Wort bedeutet „junges Mädchen“, „Handramme“ (zum Pflastern von Straßen) und „Libelle“. Wenn alle zugeordneten Wörter wiederum mehrdeutig sind – da steckt natürlich die Schwierigkeit der Methode – dann lassen sich daraus mehrere einander überlagernde und durchdringende Handlungsfolgen konstruieren, die zwar völlig absurd, aber zugleich ganz logisch und grammatisch korrekt sogar die ganz normalen Spannungszustände eines Abenteuerromans erzeugen können. Die Sprachspiele Roussels gelten zwar als Extremfälle artistischer Selbstbezogenheit, aber sie haben in der Literatur des 20. Jahrhunderts eine ausgedehnte Nachbarschaft. Dazu kann man James Joyce, Arno Schmidt und die Surrealisten um André Breton zählen. –––––––— 27

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Schuldt, In Togo dunkel und andere Geschichten, Hannover 1981; Leben und Sterben in China, 111 Fabeln nach Lius Wörterbuch, München, Wien 1983; Mamelucken antworten, Linz 1983/84. Raymond Roussel, Locus Solus, Neuwied / Berlin 1965; Eindrücke aus Afrika, München 1980; Comment j’ai écrit certains de mes livres, Paris 1935. Lit. u.a.: Hanns Grössel (Hg.), Raymond Roussel, Eine Dokumentation, München 1977; Michel Foucault, Raymond Roussel, Frankfurt a.M. 1989.

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Vladimir Nabokov sagte in einem Interview: „Ich lasse sie spielen, die Wörter, ich erlaube ihnen herumzutollen.“29 Und auf seine Neigung zu Wortspielen befragt, antwortete er: Aus den Wörtern muß man herausholen, was man kann [...] Wenn ich gerne ein Wort hernehme und es umdrehe, um seine leuchtende oder trübe oder mit einem bunten Durcheinander geschmückte Unterseite zu sehen, die es an der Oberseite nicht hat, dann nicht aus müßiger Neugier: Man findet lauter wunderliche Dinge, wenn man die Kehrseite eines Wortes untersucht – die unverhofften Schatten anderer Wörter, (anderer Bedeutungen), Beziehungen zwischen ihnen, verborgene Schönheiten, die plötzlich etwas über das Wort hinaus enthüllen. Das ernsthafte Wortspiel, wie ich es verstehe, ist weder ein Spiel des Zufalls noch etwa simpler stilistischer Zierrat [...].30

In den Bildkünsten gibt es analoge Spiele, Bildzeichenspiele, die ähnlich funktionieren wie Wortspiele: Montagen, Collagen, Bildwitze, Vexierbilder, umkippende Bedeutungen, Kombinationen aus einander widersprechenden Elementen. Wie beim Capriccio, dem viele dieser Bildspiele zugeordnet werden können, sind die Verbindungen der Teile locker geworden, so daß sich neue Beziehungen bilden können, zum Beispiel Jean Pauls vom Zufall begünstigte „wilde Paarungen ohne Priester“. Die Nähe zu literarischen Künsten ist offenkundig bei Hieronymus Bosch, Pieter Breugel und in ihrer gesamten Nachfolge bis Jacques Callot. Zu Bosch hat ein unbekannter Autor noch eine zusätzliche Pointe geliefert und der Geschichte der Mystifikationen und Fälschungen einen interessanten und bis heute nicht hinreichend aufgeklärten Fall präsentiert. Dieser Anonymus hat ein ganzes Konvolut von Stichen in der Manier von Bosch nicht unter diesem Namen gewinnbringend in den Handel lanciert, sondern kühn und frech behauptet, es handle sich um das letzte Werk des großen (1553 bereits verstorbenen!) François Rabelais. Der Titel dieser Sammlung von Kupferstichen mit 120 Einzelfiguren lautet: Les Songes Drolatiques de Pantagruel, und der Untertitel erläutert, die Figuren seien Erfindungen des Meisters François Rabelais. Das Büchlein erschien 1565 in Paris bei Richard Breton.31 Diese offensichtliche Fiktion zeigt, in welcher literarischen Nachbarschaft der sachkundige Verfasser die Erfindungen von Bosch gesehen und verstanden hat. Die Reize des Grotesken und des artistischen Spiels mit absurden Kombinationen haben damals wie heute den Ruhm des Hieronymus Bosch begründet. Die Bosch-Variationen in Rabelais Manier oder auch Phantasiestücke in Boschs Manier sind Gedankenspiele zwischen Literatur und Graphik, Vexier–––––––— 29

30 31

Vladimir Nabokov in: „Realität ist das allergefährlichste Wort“, in: Eigensinnige Ansichten, herausgegeben von Dieter E. Zimmer, Reinbek bei Hamburg 2004, XXI 76–95, hier: 90. Vladimir Nabokov in: „Heimatlos bin ich überall und immer“, in: Eigensinnige Ansichten, 173–174. Les Songes Drolatiques de Pantagruel ou sont contenues plusieurs figures de l’inuention de maistre Francois Rabelais: & derniere œuvre d’iceluy, pour la recreation des bons esprit, Paris MDLXV, Reprint Berlin 1972.

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spiele in phosphoreszierender Beleuchtung. Es liegt nahe, an die Vorrede E.T.A. Hoffmanns zu seinen Phantasiestücken in Callots Manier zu erinnern: Warum kann ich mich an deinen sonderbaren fantastischen Blättern nicht sattsehen, du kecker Meister! – Warum kommen mir Deine Gestalten, oft nur durch ein paar dünne Striche angedeutet, nicht aus dem Sinn? – Schaue ich deine überreichen aus den heterogensten Elementen geschaffenen Kompositionen an, so beleben sich die tausend und tausend Figuren [...].32

Die Kunst der Zusammenfügung heterogenster Elemente verdankt dieser von E.T.A. Hoffmann so sachkundig bewunderte Meister wiederum Hieronymus Bosch, dessen Praxis immer wieder auch den Weg in die Literatur gefunden hat und natürlich auch zu Rabelais, der seinerseits Spiele mit dem Spiel, gewissermaßen Überspiele, getrieben hat. Eine Art Überspiel ist gewiß sein Katalog der Spiele.33 Vorgeblich handelt es sich um Kartenspiele, Würfelspiele und Brettspiele. 202 Spiele werden genannt, einige erkennt man, weil es ihre Namen noch gibt. Andere mögen damals bekannt gewesen und inzwischen vergessen worden sein. Nicht wenige der ohnehin oft komisch klingenden Spielenamen konnten noch nicht identifiziert werden. Der Verdacht liegt nahe, daß Rabelais die Aufzählung mit fiktiven Spielen angereichert hat. Schon die übergroße Anzahl ist ein Merkmal des Grotesken. Spielformen siedeln sich, jedenfalls im Sprachgebrauch, nicht selten in den Grenz- und Überschneidungszonen von Wissenschaften und Künsten an. Die „mathematischen Spiele“, die ludi matematici, mit denen sich Alberti und Leonardo da Vinci so gerne beschäftigten, haben in der Geschichte der Gedankenexperimente eine gewisse Bedeutung. Wenn Leonardo aus den Kreisteilungen sowohl Blütenformen, Ornamente wie auch Turbinen ableitete,34 dann war diese Tätigkeit eine erkenntnisfördernde ars inveniendi, eine Kunst des Findens und Erfindens, ohne aufzuhören, ein freies Spiel zu sein. Kombinatorische Spiele sind gewiß auch die Bizzarie di varie Figure, die Giovanni Battista Bracelli 1624 in Florenz publizierte.35 In der Einführung zu einer Faksimile-Ausgabe schreibt der Herausgeber, Wolfgang Max Faust: Wir gehen davon aus, daß hinter der Konstruktion der phantastischen Figuren ein systematischer Phantasieimpuls, eine spielende Formengeometrie, eine kuriose Poesie und abstruse Lyrik stecken [...]. Je länger wir uns mit ihnen beschäftigen, umso verschlossener erscheint ihre Bedeutung, und es erhebt sich die Frage, ob die Bizzarie nicht eine Art Rätselcharakter

–––––––— 32 33

34 35

E.T.A. Hoffmann, Fantasiestücke in Callots Manier, in: Ders., Fantasie- und Nachtstücke, München 1964, 12. Der Spielekatalog des Gargantua findet sich, mit zahlreichen Anmerkungen versehen, im Chapitre XXII in: Abel Lefranc (Hg.), Œuvres de François Rabelais, Tome premier: Gargantua (Prologue, Chapitres I–XXII), Paris 1912, 188–214. Zu Leonardos mathematischen Spielen vgl. Augusto Marinoni, Leonardos Schriften, in: Zammatio, Marinoni, Brizio, Leonardo der Forscher, Stuttgart, Zürich 1987. Giovanni Battista Bracelli, Bizzarie di varie figure, Florenz 1624, Faksimile mit einer Einführung von Wolfgang Max Faust, Nördlingen 1981.

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besitzen, ob sie nicht Mitteilungen enthalten, die über das Spiel mit kuriosen Formen, grotesken Einfällen und manieristischen Figuren hinausreichen.36

Das Rätselhafte kann in der Tat ein Spielelement sein, abgesehen davon, daß Rätsel ohnehin selbstverständlich Spiele sind. Wenn aber der Verdacht suggeriert wird, etwas könne ein Rätsel sein, ohne daß dieser Verdacht bestätigt wird, dann handelt es sich um ein Spiel mit der Rätselhaftigkeit und der Vortäuschung einer Verschlüsselung. In allen diesen Fällen handelt es sich um Spiele, bei denen die Erfindung der Spielregel der eigentliche Inhalt des Spieles ist, und der Betrachter zu allererst die Aufgabe und das Problem hat, aus dem Resultat die Spielregel zu ermitteln. Die Surrealisten kannten natürlich die Tradition, in der sie sich bewegten und mit der sie spielten. Breton berief sich auf die Ars Magna des Raimundus Lullus,37 der im 13. Jahrhundert seine instrumental arbeitende Wortkombinatorik entwarf, indem er konzentrische Kreise mit systematisch geordneten Begriffen und Zeichen beschriftete, die dann in Rotation gebracht wurden. Dabei stellten sich, radial gelesen, neue Verknüpfungen ein, die dann interpretiert werden mußten. Die lullische Kunst war ursprünglich als theologischphilosophische Argumentationsmethode entworfen worden, wurde aber später als ein Sprachspiel betrieben und empfohlen.38 Einer der Autoren, die in allen menschlichen Künsten und Wissenschaften kombinatorische Muster erkannte oder vermutete, war Novalis.39 Er umkreiste wie in einem ununterbrochenen Gedankenfluß seine Idee eines enzyklopädischen Weltspiels, einer universellen Kombinatorik, die alles mit allem in begründbare Verbindungen bringt. Und wenn er Verbindung sagt, dann ist damit eine Analogie zur chemischen Verbindung gemeint, die er als Gleichnis für Gedankenverbindungen versteht. Das wiederum ist wie ein Spiel oder einem Spiel analog. „Spielen ist experimentieren mit dem Zufall“,40 sagt er und führt den Gedanken nicht weiter aus. Daß er damit aber auch auf Glücksspiele verweist und natürlich auch auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung, ist hier vorauszusetzen. Entsprechend heißt es an anderer Stelle: Der Poet braucht die Dinge und Worte wie Tasten und die ganze Poesie beruht auf thätiger Ideenassoziation – auf selbstthätiger, absichtlicher, idealischer Zufallsproduktion.

In Klammern dahinter steht das Wort „Spiel“. Und dann wieder: „Spielt Gott und die Natur nicht auch?“ Das ganze Universum ist bei ihm wie ein Spiel. Das –––––––— 36 37 38 39 40

Faust, Faksimile, 6–7. Dazu Hans Holländer, Ars inveniendi et investigandi: Zur surrealistischen Methode, Darmstadt 1982, 244–312. Rosemarie Zeller, Spiel und Konversation im Barock, Berlin / New York 1974. Novalis, Schriften, III: Das philosophische Werk II, hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Stuttgart 1960. Dieses und die folgenden Zitate finden sich in: Novalis, Schriften, III 574, 451, 320, 321, 457.

Spiele zwischen Reglement und Freiheit

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Prinzip der Assoziationen, die Analogie, setzt freilich das Repertoire einer universalen Enzyklopädie voraus. Prompt postuliert er unter dem Stichwort „Enzyklopädistik“: „Analogistik. Die Analogie – als Werkzeug beschrieben und in ihrem mannigfaltigen Gebrauch gezeigt.“ Seine Notizen sind wirklich ein endloses Buch der kombinatorischen Verbindungen und Wortkonstellationen, in seinem Sinne also auch ein Spiel. Jedenfalls benötigt er dieses Wort immer auch, wenn er die artistische Herstellung von Mannigfaltigkeit und die Produktion von Ideen meint. Natürlich kommt auch das Schachspiel zu seinem Recht, freilich sogleich in gesteigerter Form: Vielleicht kann man mittelst eines dem Schachspiel ähnlichen Spiels – symbolische Gedankenkonstructionen zu stande bringen – Das ehemalige Logische Disputirspiel glich ganz einem Bretspiel.

Wie das logische Disputierspiel ausgesehen hat, kann nur Anlaß von Vermutungen sein. Er mag an die regulären Gesprächsspiele des 17. und 18. Jahrhunderts gedacht habe, oder an ältere Disputationsformen, ihre rhetorischen Regeln, die zulässigen Begriffe und die Bewertungskriterien für die Argumente. Wenn er solche quasi scholastischen Hirnduelle mit einem Brettspiel vergleicht, dann ist das nicht abwegig. Als Beispiel fällt ihm denn auch das Schachspiel ein, er meint aber, man könne es als Grundlage verwenden für ein sozusagen höheres Spiel der symbolischen Gedankenkonstruktionen. Es ist anzunehmen, daß er dabei an eine kombinatorische Erfindungskunst im Sinne seiner Poetik dachte. Indessen hat die Idee auch einige Ähnlichkeit mit Hesses Glasperlenspiel.41 Hesse schickt seinem 1943 erschienenen Roman eine umfangreiche Vorrede über das „feuilletonistische Zeitalter“ voraus, beschreibt es als Verfallszeit, in der die kulturellen Werte Europas zu Billigpreisen verschleudert und verramscht werden und eine hochentwickelte Zivilisation durch eine in ihr selbst gezüchtete Hybris in Barbarei zurückzufallen droht. Da Hesse eine der schlimmsten Formen dieser neuen Barbarei gerade miterlebt und beobachtet hatte, ist nicht nur seine Diagnose, sondern auch ihre Wirkung verständlich. In dieser Verfallszeit eines zu Ende gehenden Zeitalters widersetzen sich indessen einige der totalitären Regression und suchen die Erinnerung an die Errungenschaften des Geistes zu bewahren. Eines ihrer Mittel ist ein Gedächtnisspiel in der Art von Memory-Quartett-Spielen. Das System wird dann immer komplizierter, gewinnt eine gewisse Eigengesetzlichkeit und neue Strukturen. Das sind vor allem musikalische Strukturen, denn Musik gilt hier als Universalsprache, und aus dem gleichen Grund kommt auch die Mathematik immer stärker ins Spiel. Daraus entwickelt sich das Glasperlenspiel, das universale Verknüpfungen aller Texte, Bilder, Theoreme erlaubt. Aber es handelt sich bei Hesse um ein endzeitliches Modell. Das universale Spiel bedient sich aller Traditionen aus allen Kulturen und ordnet sie immer wieder neu. Kunst jedoch, die aus ganz –––––––— 41

Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel, Zürich 1943; Volker Michels (Hg.), Materialien zu Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“, Erster Band, Frankfurt a.M. 1973, Zweiter Band, Frankfurt a.M. 1974.

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Hans Holländer

subjektiven Gründen Neues hervorbringt, darf unter gar keinen Umständen entstehen. Aus der Ars inveniendi et investigandi ist eine reine Ars memorativa mit unverkennbar musealem Charakter geworden. Diese pessimistische Einschränkung ist schon deswegen seltsam, weil der intellektuelle Reiz beim Glasperlenspiel ja gerade in seiner auffälligen Ähnlichkeit mit ganz anderen kombinatorischen Spielen und Künsten liegt, die sämtlich in den Künsten des 20. Jahrhunderts erneut gegenwärtig waren und sowohl die Praxis der Künstler wie die theoretischen Konzepte bestimmt haben. André Breton berief sich in seinem Manifest von 1924 nicht nur auf die lullische Erfindungskunst, sondern auch auf Novalis, und meinte damit sowohl die Idee einer kombinatorischen Universalpoetik als auch die Rolle des Zufalls, der neue Verbindungen von Formen, Figuren und Wörtern begünstigt. Was als Gedankenspiel scheinbar regellos beginnt, kann in einem Meisterwerk sein Ziel finden oder eben auch in einer überraschenden Begegnung von Gedanken, die zuvor noch nicht stattgefunden hatte und zu neuen Erkenntnissen führt. Spiele dieser Art sind Abenteuer der Ermittlung von Ideen.

Wolfgang Neuber

Similitudo und kulturelles Gedächtnis Zur Rhetorik der Alterität in der Frühen Neuzeit

Wenn ein Jesuitenpater von einer Indianerin ein Kind bekommen möchte, dann bleibt ihm von zwei Möglichkeiten wohl nur die zweite: Er muß es ihr abkaufen. Mit dem Kindesvater ist der Jesuit bald handelseins; auf das Versprechen, sich des „holdliebenden Bübleins / so mir zugeloffen“, anzunehmen und es „die Zeit seines Lebens [zu] versorgen / zu mir [zu] nehmen / und gantz neu [zu] kleiden“, zeigt „der Barbar gleich sich geneigt“.1 Die Mutter aber widersetzt sich. Als der Jesuit vorschlägt, anstelle des Knaben ihre kleine Tochter mit sich zu nehmen, stößt „sie den Kopff gar um / und verneinte mir auch das Mädlein / so ich schon in meinen Händen verneinte [recte: vermeinte] zu haben.“2 Was den Jesuiten zu überraschen scheint, ist indessen vom Text schon längst erzählstrategisch angelegt. Wenige Seiten vor der Darstellung dieses gescheiterten Handels beschreibt er die Indianerinnen des Stammes Yaro nämlich wie folgt: Das Weiber Volck zu beschreiben / möchte ich lieber den Mahler=Pensel / dann die Federn in die Hand nehmen. Reverendi Patres, Fratres charissimi, günstiger Leser / wann sie ein Höll Furi oder Gespenst / Medusam aut Megæram einmal haben abgemahlt gesehen / so haben sie ein Jndianisches Weib Yaros gesehen. Das Haar kohlschwartz / zerrittet / fliegend / wie die Schlangen zusammen gewunden / henget auf den Rucken hinunter / bedekken darmit auch ihre Stirn / und gehet solches biß über die Augen herab / erschrecklich zu sehen / auch nicht nur den Europäischen kleinen weissen Engelein; sondern auch denen hertzhafftisten Frauenzimmer / Amazoninen und Heldinnen.3

Mit anderen Worten: Von einer Vertreterin solch unzivilisierter Frauen war ohnehin nicht zu erwarten, daß sie einem frommen Mönch ihr Kind anvertrauen würde. – Der solches berichtete, war ein Tiroler Jesuitenpater namens Anton Sepp, der zur Mehrung des katholischen Glaubens in den frühen 1690er Jahren –––––––— 1

2 3

RR. PP. Antonii Sepp, und Antonii Böhm / Der Societät JESU Priestern Teutscher Nation, deren der erste aus Tyrol an der Etsch / der ander aus Bayrn gebürtig / Reißbeschreibung wie dieselbe aus Hispanien in Paraquariam kommen. Und Kurtzer Bericht der denckwürdigsten Sachen selbiger Landschafft / Völckern / und Arbeitung der sich alldort befindenten PP Missionariorum. gezogen Aus denen durch R. P. Sepp, Soc. Jes. mit aigener Hand geschriebenen Briefen / zu mehrern Nutzen Von Gabriel Sepp, von und zu Rechegg. leiblichen Brudern in Druck gegeben. Mit Erlaubnus der Odern [recte: Obern]. Nürnberg / Jn Verlegung Joh. Hoffmanns 1696. 184f. Ebd. 186. Ebd. 177f.

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Wolfgang Neuber

in die Gegend des Rio de la Plata geschickt worden war. Im Jahr 1696 veröffentlichte sein Bruder Gabriel Sepp einen aus den Briefen Anton Sepps gezogenen Reisebericht, der die Begebnisse festhielt, die dieser mit seinem Gefährten, Pater Anton Böhm aus Bayern, erleben konnte oder mußte. Das Buch, das in Nürnberg bei Johann Hoffmann erschien, trägt den Titel RR. PP. Antonii Sepp, und Antonii Böhm / Der Societät JESU Priestern Teutscher Nation [...] Reißbeschreibung wie dieselbe aus Hispanien in Paraquariam kommen. Und Kurtzer Bericht der denckwürdigsten Sachen selbiger Landschafft / Völckern / und Arbeitung der sich alldort befindenten PP Missionariorum. Es geht mir indessen zunächst nicht um den Kinderwunsch eines frühneuzeitlichen Jesuiten. Es geht mir um die Struktur seiner Argumentation, wenn der Text Fremdheit erzeugen oder ausstellen will. Der Text formuliert an den entscheidenden Stellen das, was ich als Erinnerungssätze bezeichnen möchte. Die Imagination des lesenden Europäers braucht keine besondere Anstrengung zu unternehmen, um das vor sein geistiges Auge treten zu lassen, was Sepp gesehen hat und was der Europäer mit einiger Gewißheit selbst nie sehen wird: Die Yaro-Indianerin sieht aus wie eine höllische Furie, wie ein Gespenst, eine Medusa oder eine Megäre, und die hat ein gebildeter Leser vermutlich einmal „abgemahlt gesehen“.4 Der Text mobilisiert in dieser Aussage die ikonographische Erinnerung des europäischen Lesers, er ist eine Erinnerungs-Erinnerung. Er mobilisiert das kollektive Gedächtnis aber nicht nur auf der Ebene der ikonographischen memoria des Rezipienten, er stimuliert auch das kulturelle Gedächtnis des Verfassers. Die Indianerin, heißt es, ist schrecklich anzusehen, nicht bloß für die „Europäischen kleinen weissen Engelein“5 – was aus der Sicht des Jesuiten wohl die europäischen Frauen meint. Die Indianerin ist ein grausiger Anblick selbst „denen hertzhafftisten Frauenzimmer / Amazoninen und Heldinnen.“6 Sogar für Versatzstücke des europäischen kulturellen Gedächtnisses, wie Heldinnen und vor allem Amazonen, böte die Amerikanerin also ein Bild des Schreckens. Der Text selbst mobilisiert in diesen Figuren ein kollektives Erinnerungswissen, das benötigt wird, um die Dimension des Grauens und damit die Fremdheit der Anschauung zu konstruieren. Fremdwahrnehmung braucht also, als konstruktives Verfahren eines Textes verstanden, Anknüpfungspunkte einer kollektiven memoria, um Alterität erzeugen zu können. Mit anderen Worten: Das Neue und das Fremde speist sich notwendigerweise aus einem Inventar des Vertrauten, das aus dem Gedächtnis abrufbar ist und das es erst möglich macht, Fremdes als Fremdes zu beschreiben. Nochmals anders gewendet: Das Fremde kann sich nur durch die Anknüpfung an Bekanntes kenntlich machen und ist damit selbst immer schon Teil der kollektiven memoria. –––––––— 4 5 6

Ebd. Ebd. Ebd.

Similitudo und kulturelles Gedächtnis

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Nirgends wird dies so deutlich wie am Beispiel Amerikas.7 Die Entdeckung einer Neuen Welt konfrontiert die Europäer der Frühen Neuzeit mit dem schlechthin Fremden, sprechen doch weder die Bibel noch die sonstigen antiken Schriften von einem riesigen Doppelkontinent, der im Westen Europas läge und von zahllosen Völkerschaften bewohnt wäre. Entsprechend groß sind die Bemühungen der einschlägigen Reiseberichte, die Differenz herauszustellen, die sich aus der gewohnten Lebenswelt Europas und der Anschauung amerikanischer Regionen, Menschen, Tiere und Pflanzen ergibt. Was den Texten zur Konstruktion des Fremden zur Verfügung steht, stammt aus zwei Bereichen des kollektiven Gedächtnisses. Da ist zum einen die Sphäre imaginärer Formationen, wie sie durch höllische Furien, Gespenster, Medusen, Megären, die Erdrandvölker oder das Paradies beschrieben sind. Und da sind zum anderen reale Wissensinhalte, die sich aus dem Bereich der alltäglichen Erfahrung europäischer Lebenspraxis ergeben. Ich will dies an einem kurzen, exemplarischen Durchgang durch Texte und Bilder aus der Begegnungsgeschichte zwischen der Alten und der Neuen Welt verdeutlichen, durch Quellen, die sich über eine Spanne von zwei Jahrhunderten erstrecken. Es läßt sich dabei zeigen, daß die von mir so genannten Erinnerungssätze das zentrale Element der frühneuzeitlichen Text- und Bildpraxis ausmachen, wenn es um den Versuch geht, das entdeckte Neue als das Fremde verständlich zu machen. Auf der Heimreise seiner ersten Ausfahrt nach Westen schrieb Christoph Columbus an den spanischen Schatzmeister Raphael Sanchez einen Brief, der ab 1493 in ganz Europa verbreitet wurde, und zwar in lateinischen wie in volkssprachlichen Fassungen. Das wesentliche Argument, das Columbus zur Beschreibung der von ihm entdeckten Inseln vorträgt, ist die paradiesische Verfassung der Gegend und ihrer Bewohner. Die Bäume tragen im November Frucht, während sie zur selben Zeit blühen, die Natur gibt freiwillig und im Überfluß. Die Menschen besitzen eine subtile Vernunft und sie gehen nackt, wie sie aus dem Mutterleib kommen; sie kennen keine Waffen und kein Eisen, dafür aber besitzen sie Gold. Schließlich ist ihnen jede Abgötterei fremd, sie glauben vielmehr an ein positives göttliches Prinzip, das sie im Himmel ansiedeln. Auf diese Weise sind sie prädestiniert, den christlichen Glauben anzunehmen. Columbus hat damit einen Erinnerungsraum eröffnet, dessen bekanntes Inventar nach Vollständigkeit verlangt. So vernimmt er in der Karibik auch die notwendigerweise zum Paradies gehörende Nachtigall, einen Vogel, den es in der Neuen Welt gar nicht gibt. –––––––— 7

Vgl. dazu Wolfgang Neuber, Fremde Welt im europäischen Horizont (Philologische Studien und Quellen 121), Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit, Berlin 1991; ders., Amerika in deutschen Reiseberichten des 16. und des 17. Jahrhunderts. in: Gustav Siebenmann / Hans-Joachim König (Hg.), Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum (Beihefte zur Iberoromania 8), Ein Arbeitsgepräch an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 15.–17. März 1989, Tübingen 1992, 37–54; ders., Exotismus, der physiognomische Blick und der Körper des ‚Indianers‘ in der Frühen Neuzeit, Frühneuzeit-Info 6 (1995) 172–180.

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Natürlich lassen sich Gründe namhaft machen, die erklären, warum Columbus das, was er sieht, in den Kategorien des christlichen Paradieses deutet. Zum einen ist auf das zu verweisen, was als Verwertungsstandpunkt bezeichnet worden ist. Wer, wie Columbus, auf eigenen Vorschlag hin von der Krone eine teure Expedition genehmigt bekommen hat, muß belegen, daß die Investition nicht vergeblich war. Zum zweiten kommt christliches Glaubenswissen ins Spiel. Das Paradies galt das gesamte Mittelalter hindurch als ein realer Ort auf der Oberfläche der Erdkugel; die Überlieferung des Alexanderstoffes hat den mazedonischen König auch an das Paradies gelangen lassen, und zwar in Indien. Indien aber ist ein diffuser Begriff, der letztlich auch im 15. Jahrhundert noch das ferne Asien bezeichnet. Columbus war aufgebrochen, um in westlicher Richtung nach Osten zu gelangen. Was er entdeckte, hielt er zeit seines Lebens für einen Teil jenes geographisch nicht ganz konkreten ‚Indiens‘ – die Karibik wird bis heute auch als ‚Westindien‘ bezeichnet, die ‚Indianer‘ tragen dieser Ungenauigkeit wegen ihren fremden Namen. In diesem Kontext ist es nicht weiter überraschend, daß der Columbusbrief Erinnerungssätze formuliert, die sich auf das Paradies beziehen, wie es im kollektiven Gedächtnis der Christenheit verfügbar gehalten wurde. Erinnerungssätze müssen freilich nicht notwendigerweise als sprachliche Zeichen präsent sein, sie lassen sich auch durch Bilder evozieren. Bereits Sepps Reisebericht hatte auf die Ikonographie als Fundus der kollektiven memoria8 verwiesen, wenngleich die dort beschworenen Bilder nicht in die Anschaulichkeit von ikonischen Zeichen getreten waren. Bereits bei Columbus aber gibt es Textillustrationen, Bilder, die den vom Text entworfenen Raum vor Augen führen. Die lateinische Ausgabe Basel 1494 zeigt in einem Holzschnitt mit der Überschrift Jnsula hyspana den Kulturkontakt zwischen den amerikanischen Ureinwohnern und den Europäern. Im Vordergrund liegt ein europäisches Schiff, das die weite Überfahrt markiert. Im Mittelgrund rechts nähern sich die Spanier dem Strand, auf dem sich ein nacktes und offensichtlich scheues, d.h. friedfertiges Volk zeigt. Die vorderste Figur trägt einen Klumpen in Händen, der nach dem Text wohl als Gold zu deuten ist, im Tausch streckt der vorderste Europäer dieser Figur einen Kelch entgegen, der sich als Symbol für das Christentum lesen läßt. Freilich gibt es im Columbusbrief noch andere Erinnerungssätze, beispielsweise solche, die sich nicht auf eine Wissensformation alleine beziehen, sondern bis zu drei Ordnungssysteme überblenden, nämlich die antike Kosmographie, den Amazonenmythos und die europäische Adelserziehung. In einer –––––––— 8

Vgl. dazu Wolfgang Neuber, Die vergessene Stadt. Zum Verschwinden des Urbanen in der ars memorativa der Frühen Neuzeit, in: Jörg Jochen Berns / Wolfgang Neuber (Hg), Seelenmaschinen (Frühneuzeit-Studien N.F. 2), Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, Wien / Köln / Weimar 2000, 91–108; ders.: Artikel „Memoria“, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 2001, V Sp. 1037–1078.

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deutschen Ausgabe des Columbusbriefs, die in Straßburg 1497 erschien, heißt es beispielsweise: Die inßel da die frowen ynn synt da mit sie zuo schaffen hond als ptolomeus schribt hat zwey hundert myl lang vnd breyt. vnd zuo iar eyn mal so farent sie zuo iren mannen. vrsach das sie enpfahen. Darnach ziehent sie wider heim. vnd bringent sie einen knaben so ziehent sie es sechs iar vnd schickent es dan von yn zuo den mannen. Jst es aber ein medlin so behaltent sie es by ynn.9

Ohne die Amazonen beim Namen zu nennen, bezieht sich dieser Erinnerungssatz eindeutig auf sie. Er beruft sich zudem explizit auf die antike Autorität des Claudius Ptolemäus. Die sechs Jahre schließlich, die den Knaben bei ihren Müttern gegönnt sind, scheinen einen Bezug auf die Praxis der europäischen Adelserziehung darzustellen. Trotz solcher Abschweifungen in die antike Mythologie und Geographie sowie adelige Erziehungsformen bleibt das heilsgeschichtliche Wissen der dominante Fundus kultureller memoria, auf den sich die Entdeckungsberichte der Neuen Welt beziehen. Auch bei Vespucci ist dies deutlich erkennbar, wenngleich das Paradiesesthema bei ihm ins Negative kippt. Amerigo Vespucci war mit seinen Berichten über die Neue Welt der erfolgreichere Propagandist als Columbus, das läßt sich an der Tatsache abnehmen, daß der Doppelkontinent seit 1507 als Amerika bekannt wurde und nicht als Christophoria oder Columbia. Erfolgreicher war Vespucci nicht zuletzt deshalb, weil seine Neue Welt nicht mehr als das durchaus wunderbare, aber ebenso langweilige Paradies konstruiert wird. Die heilsgeschichtliche Perspektive behält Vespucci selbstverständlich bei. Aber er entwirft eine Welt n a c h dem Sündenfall, mit allen Implikationen, und die Überlieferung seiner Briefe im europäischen Buchdruck demonstriert dies in Text und Bild gleicherweise. Eine in Rostock im Jahr 1505 gedruckte lateinische Ausgabe macht bereits mit dem Bild auf dem Titelblatt (Abb. 1) nachdrücklich auf die Tatsache aufmerksam, daß man es in der Neuen Welt nicht mit einem Paradies zu tun hat, sondern mit einer eindeutig postlapsalen Welt. Zwei Indianer, ein nackter Mann und eine nackte Frau, werden im Kompositionsschema zeitgenössischer Sündenfallsdarstellungen vorgeführt. Ich kontrastiere den Holzschnitt mit Albrecht Dürers (Abb. 2) nur ein Jahr älterem Kupferstich, der vielleicht nicht unmittelbares, so doch unverkennbar typologisches Vorbild gewesen ist. Dürer zeigt das Paradies im Augenblick unmittelbar vor der Versündigung, als üppige Natur, deren künftiges, karges Gegenbild im rechten Hintergrund in Form einer Felsenlandschaft mit Steinbock nur erahnt werden kann. Dürers Adam und Eva sind ideale, klassisch proportionierte Schönheiten, die ihre Gottesebenbildlichkeit solcherart anschaulich machen. Die Hände des Paares treffen einander in der Gebärde der Zuwendung vor dem Baum der Erkenntnis.

–––––––— 9

Konrad Häbler (Hg.), Der deutsche Kolumbusbrief. (Drucke und Holzschnitte des XV. und XVI. Jahrhunderts in getreuer Nachbildung), Straßburg 1900, Fol. b ijr.

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Abbildung 1: [Indianisches Paar.] Holzschnitt, in: Epistola Albericii. De nouo mundo, Rostock 1505, Titelblatt, in: Mundus Novus. Ein Bericht Amerigo Vespucci’s an Lorenzo de Medici über seine Reise nach Brasilien in den Jahren 1501/02, in Faksimile u. m. Einleitungen hg. v. Emil Sarnow u. Kurt Trübenbach, Straßburg 1903.

Abbildung 2: Albrecht Dürer, [Sündenfall], Kupferstich, vgl. Ders., Das gesamte graphische Werk, Band 2: Druckgraphik, eingel. v. Wolfgang Hütt, München 1988, S. 1897.

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Bei Vespucci ist dieser Baum bereits in die Ferne gerückt, der Sündenfall ist vollzogen. Die Figuren wenden sich nicht länger einander zu; auch wenn sie aufeinander bezogen erscheinen, stehen sie doch vereinzelt. Soweit die ungelenke Schnittführung dies erkennen läßt, sind die Körper noch von Harmonie und Schönheit geprägt, was auch durch den Text des Vespuccibriefs nahegelegt wird, d.h. der sprachlichen Argumentation entspricht. Die Gottesebenbildlichkeit der Indianer ist mithin sichtbar, so daß zugleich ihre Gotteskindschaft erwiesen wird, ihr Status aber ist korrumpiert. Vorgeführt wird dies dadurch, daß der Mann Waffen trägt, ja gar drohend hebt. Anstelle des Lebensbaums, den Dürers Adam erfaßt, hält er nun Tötungsinstrumente. Die Verteilung seiner Körperlast läßt den Indianer als spiegelverkehrten Adam erscheinen. Auf dieses Thema der Verkehrung werde ich noch zu sprechen kommen. Die Frau hält nicht wie Eva die Hand für den Apfel offen, sondern greift an die eigene rechte Brust, die so als Apfel der sexuellen Schuld erscheint. Ihr offenes Haar gerät hier zum Zeichen einer ungehemmten Sinnlichkeit und Sexualität. Auch dies ist eine Korrespondenz zum Text, der die Lüsternheit der Indianerinnen hervorhebt. Insgesamt ist das Paradies latent und erschließbar, aber verloren. Das indianische Paar hat man als verkehrte Adam und Eva zu deuten. Der Raum, in den es sich gestellt findet, hat in seiner steinigen Kargheit eine analoge symbolische Beweiskraft: Er ist nicht reales Abbild der Natur in Amerika, sondern Bildzeichen für den postlapsalen Zustand, er ist Signatur eines verlorenen Paradieses. Selbst der Rostocker Holzschnitt macht deutlich, daß der gesamte Vespuccibrief sich argumentativ gegen den Columbusbrief richtet. Was als einziges vom Columbusbrief geblieben ist, das ist die üppige Natur, von der der Text erzählt. Indem aber Text und Bild nachdrücklich festhalten, daß es sich um eine gefallene Natur handelt, stellen sie auch fest, daß die Menschen als Teil von ihr sich im Zustand der Schuld und der Sünde, im Zustand eines postlapsalen status naturalis befinden. Der Vespuccibrief korrigiert den Text des Columbus, indem er seinen Gegenstand, die Neue Welt, in andere Gedächtnisbereiche einbettet, indem neue Erinnerungssätze formuliert werden. In der Tat stimmt das typologische Bild auf dem Titelblatt der erwähnten lateinischen Ausgabe aus Rostock völlig mit dem Text des Vespuccibriefs überein, der von der sexuellen Unersättlichkeit der indianischen Frauen berichtet: Alius mos est apud eos satis enormis et preter omnem humanam crudelitatem Nam mulieres eorum cum sint libidinose faciunt intumescere maritorum inguina in tantam crassitudinem: vt deformia videantur et turpia: et hoc quodam earum artificio: et mordicatione quorundam animalium venenosorum et huius rei causa multi eorum amittunt inguina que illis ob defectum cure fracescunt: et restant eunuchi10 – Eine andere Sitte ist bei ihnen unge-

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>Amerigo Vespucci@, Epistola Albericii. De nouo mundo. Rostock 1505, in: Emil Sarnow u. Kurt Trübenbach (Hg.) Mundus Novus. Ein Bericht Amerigo Vespucci’s an Lorenzo de

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heuer und außer jeder menschlicher Grausamkeit. Denn ihre Frauen, wenn die lüstern sind, machen die Glieder der Männer anschwellen zu einer solchen Dicke, daß sie entstellt erscheinen und häßlich; und das (geschieht) durch eine bestimmte Kunst (der Frauen) und durch den Biß gewisser giftiger Tiere, und deswegen büßen viele (der Männer) die Glieder ein, die ihnen wegen der fehlenden Behandlung abbrechen, und bleiben Eunuchen.

Was die Männer betrifft, ist der Holzschnitt ebenfalls engstens auf den Text bezogen. „Eorum arma sunt arcus et sagitte“11 – ihre Waffen sind Bogen und Pfeile. Vor allem die älteren Indianer, heißt es kurz davor, beeinflussen die jungen durch ihre Beredsamkeit, das zu tun, was sie wollen; „et ad bella incendunt in quibus crudeliter se mutuo interficiunt“12 – sie treiben sie zu Kriegen an, in denen sie sich grausam gegenseitig töten. Der Grund dafür: „sunt [...] bestijs similes“13 – sie ähneln Tieren. „viuunt secundum naturam: et epycuri potius dici possunt: quam stoici“14 – sie leben nach der Natur und können eher Epikureer genannt werden, als Stoiker. Angesichts der Tatsache, daß für einen Christenmenschen der Begriff ‚epikureisch‘ als ‚zügellos‘ oder gar ‚viehisch‘ zu verstehen war, ist die hier mobilisierte antike anthropologische Erinnerungsformation nicht gerade Ausdruck eines Kompliments. – Die aggressive Haltung des männlichen Indianers auf dem Titelblatt stellt diese Behauptungen in den Kontext eines visuell präsupponierten Erinnerungssatzes, der mit dem Sündenfall argumentiert. Andere Drucke, die auch die restlichen Briefe Vespuccis über seine angeblich insgesamt vier Reisen umfassen, entwickeln diese Beweisführung in Text und Bild weiter. Zu den größten Schrecknissen, die die Neue Welt für die Europäer der Frühen Neuzeit bereithielt, gehört bekanntermaßen die Anthropophagie der amerikanischen Ureinwohner. Jenseits aller Verdächtigungen der Idolatrie, der Hexerei, der Herrschaftslosigkeit bzw. Anarchie, der sexuellen Zügellosigkeit oder der Aggressivität war es der Kannibalismus, der wie kein anderes Fremdheitskriterium die Differenz zwischen Europäern und Indianern markierte. Man könnte vermuten, daß hier keine Erinnerungssätze möglich wären – abgesehen davon, daß Herodot den Skythen unterstellt, sie hätten Menschenfresserei betrieben. Doch angesichts des Affektes, der für die Europäer von der Anthropophagie ausging, ist es nicht verwunderlich, daß auf diesen Teil der kulturellen memoria nicht zurückgegriffen wurde: Das Affizierungspotential wäre zu gering gewesen. In viel größerem Maße nämlich stimuliert ein anderer Erinnerungssatz, der sich in Text und Bild niederschlägt, die europäischen Emotionen. Dieser Erinnerungssatz ist aus der alltäglichen Erfahrung der eigenen Lebenswelt –––––––—

11 12 13 14

Medici über seine Reise nach Brasilien in den Jahren 1501/02, Faksimile u. m. Einleitungen, Straßburg 1903.Fol. a ijv. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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gezogen. Eine deutsche Vespucci-Ausgabe aus Straßburg, 1509 veröffentlicht, beschreibt die anthropophagischen Praktiken der Indianer wie folgt: Ander fleisch anders den von menschen essent sy selten / Jn etlichem menschen fleisch zuo fressen seind sy so vnmenschlich vngezem / das sy in dem alle wilde vnd fyhyschen weisen übertreffen / wann alle ire feind die sy toedten oder gefangen halten mann vnd frawen vnuerscheidenlich / verschlucken sy mit der selbenn wilden art das nüt wilders oder fyhischers geseit oder gesehen werden moecht / welche ich so wild vnd vnmenschlich sein / ich dick so es sich begabe gesehen / sy verwunderten sich auch dz wir vnsere feind nit also essen.15

Das Schicksal, als Feinde verspeist zu werden, widerfährt auch den Europäern: Ein junger Spanier wird gefangen, getötet und in Stücke gehauen. Die Leichenteile werden den Europäern von den Indianern demonstrativ gezeigt. Sie müssen mitansehen, wie sie „bey eim grossen feüwr so sy gemacht hetten“16, gedörrt und danach verspeist werden. „Auch gaben vns die manne zeichen / das sy die andern vnsern zwen christen auch in solcher maß gedoet vnd geessen hetten / zeuerston gebende / welchen wir als sy dann auch die warheit sagten in denselben gelaubten [...]“.17 Bereits das Zerhacken, Dörren und Verspeisen menschlichen Fleisches würde genügen, um als Erinnerungssatz jene Alltagserfahrung wachzurufen. Die bereits zitierte Ausgabe der lateinischen Fassung aus Rostock 1505 ist indessen noch expliziter: „Et item steti diebus vigintiseptem in vrbe quadam: vbi vidi per domos humanam carnem salsam. contignationibus suspensam: vti apud nos moris est lardum suspendere et carnem suillam“18 – und so blieb ich 27 Tage in einer bestimmten Stadt, wo ich in den Häusern menschliches gesalzenes Fleisch am Gebälk aufgehängt sah, wie bei uns die Sitte ist, Speck und Schweinefleisch aufzuhängen.

Die Indianer – so Vespuccis Unterstellung – bedienten sich menschlichen Fleisches in eben derselben Weise, wie die Europäer sich des Fleisches von Tieren bedienen, d.h. sie gebrauchen es als alltägliche Nahrung. Der Akt des Verspeisens von Teilen eines Menschenleibs alleine ist schon erschreckend genug. Man kann ihn etwa auf dem Titelblatt eines Amerika-Reiseberichtes sehen, den Hans Staden im Jahr 1557 in Marburg an der Lahn veröffentlichte (Abb. 3).19 Schrecklicher noch wirkt es allerdings, wenn sich gerade die Alltäg–––––––— 15

16 17 18 19

>Amerigo Vespucci@, Diß büchlin saget wie die zwen durchlüchtigsten herren her Fernandus. K. zuo Castilien vnd herr Emanuel. K. zuo Portugal haben das weyte moer ersuochet vnnd funden vil Jnsulen / vnnd ein Nüwe welt von wilden nackenden Leüten / vormals vnbekant. Straßburg 1509, in: John Grüniger (Hg.), The First Four Voyages of Americus Vespucius. A reprint in exact facsimile of the German edition printed at Strassburg in 1509, New York 1902, Fol. B vv. Ebd. Fol. E vir. Ebd. >Vespucci@, Epistola, Fol. a ijv. Vgl. dazu Wolfgang Neuber, Marburger Menschenfresser - Hans Stadens Brasilienbericht (1557). Über die Verbindung von ‚Indianern‘ und akademischer Anatomie, in: Jörg Jochen

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lichkeit, mit der sich diese Form der Fleischbewirtschaftung vollzieht, als Grundlage eines Erinnerungssatzes ins Bild setzen läßt. So ist denn auch während des gesamten 16. Jahrhunderts die Ikonographie des kannibalischen Indianers deckungsgleich mit jener des europäischen Fleischers.

Abbildung 3: Hans Staden, Warhaftige Historia, Marburg 1557, Titelblatt.

–––––––— Berns (Hg.), Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 52), Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten, Marburg 1995, I. 149–164.

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Abbildung 4: Uon iren leben vnd sitten, Holzschnitt, in: Amerigo Vespucci, Diß büchlin saget wie die zwen durchlüchtigsten herren her Fernandus. K. zuo Castilien vnd herr Emanuel. K. zuo Portugal haben das weyte moer ersuochet vnnd funden vil Jnsulen / vnnd ein Nüwe welt von wilden nackenden Leüten / vormals vnbekant, Straßburg 1509, Fol. Bv, in: The First Four Voyages of Americus Vespucius. A reprint in exact facsimile of the German edition printed at Strassburg, by John Grüniger, in 1509, New York 1902.

Die erwähnte Straßburger Vespucci-Ausgabe des Jahres 1509 enthält am Beginn des zweiten Bogens eine Textillustration (Abb. 4) in HolzschnittTechnik, die Uon iren leben vnd sitten überschrieben ist, also Ethnographisches darstellt. Sie zeigt nicht nur das bereits bekannte üppige Haar der weiblichen Figur links im Vordergrund, das durchaus eine Anspielung auf Botticellis Geburt der Venus sein und damit körperliche Schönheit anzeigen könnte. Das Bild zeigt darüber hinaus im hinteren Mittelgrund eine nackte Frau und einen nackten Mann, der, an einem Tisch stehend, ein Fleischerbeil über menschli-

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chen Leichenteilen schwingt. Der kannibalische Indianer wird als beilschwingender städtischer Fleischer erinnert und repräsentiert.

Abbildung 5: Hans Staden, Warhafftige Historia, Frankfurt 1557, Titelblatt.

Die Szene ist in der Landschaft, d.h. in der freien Natur angesiedelt. In ihrer gesamten Komposition besitzt sie die Gebärde einer Momentaufnahme, einer Wiedergabe nach der Natur. Diese Szene taucht, etwas modifiziert, 1557 neuerlich auf dem Titelblatt (Abb. 5) eines Amerika-Reiseberichtes auf, und zwar auf dem Frankfurter Raubdruck von Hans Stadens Warhafftiger Historia. Ursprünglich stammt das Bild aus einer Edition des Reiseberichtes von Lodovi-

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co Varthema aus dem Jahr 1515. Dort illustriert es das orientalische Heidentum, genauer den Brauch der Altentötung auf Sumatra. Im neuen Kontext eines Berichtes über eine Reise in die Neue Welt wird der Holzschnitt nun in den Sinnhorizont von Stadens Gefangenschaft bei den kannibalischen Tupinamba in Brasilien eingeholt. Die Szene ist zwar noch in den Raum gestellt, hat aber nun, angesichts der Sujet-Übertragung, notwendigerweise den Gestus der reinen Ethnographie verloren. Veranschaulicht wird vielmehr die Art der existentiellen Bedrohung des Verfassers, den man als bärtigen Mann in Melancholikerpose identifizieren kann. Das Kannibalismusthema war für die Europäer des 16. Jahrhunderts das zentrale Argument für die Konstruktion des Eigenen durch ein Anderes, für die Selbstbeschreibung durch die Setzung eines Fremden, das allerdings seinerseits nur in den Kategorien des Eigenen formulierbar war. Die Anthropophagie findet solcherart Eingang in bildliche Darstellungen der Neuen Welt ohne den Zusammenhang mit dem Volltext eines Reiseberichtes. In München erscheint um 1505 ein Einblattdruck, der das von Vespucci her bekannte indianische Milieu ins Bild setzt (Abb. 6). Der Text ist spärlich, enthält aber erneut den bekannten Rekurs auf europäische Praktiken der Fleischbewirtschaftung: „Sy stryten auch mit ainander. Sy essen auch ainander selbs die erschlagen worden vnd hancken das selbig flaisch in den rauch“,20 heißt es in den wenigen Textzeilen. Zwar fehlt hier ein ins Bild gesetzter Metzger, doch war der Münchner Einblattholzschnitt Vorbild für zwei weitere Bilder, die sein AnthropophagenThema auf andere Erinnerungssätze übertragen und im Sinne einer Ähnlichkeitsbeziehung verschieben. Das erste der beiden Bilder entstammt dem Titelblatt von Lorenz Fries’ UNderweisung vnd vßlegunge Der Cartha Marina, Straßburg 1530.21 Hier ist erneut der Fleischer mit seinem Beil aktualisiert. Zudem hat wohl die Küstenlandschaft auf dem Bild des Einblattdruckes aus dem Jahr 1505 zu der Assoziation ‚weit entlegene Gegende = Erdrand‘ Anlaß gegeben, denn die Kannibalen, die sich über menschliche Leichenteile hermachen, entsprechen den Kynokephaloi, den hundeköpfigen Erdrandbewohnern, die in Europa zur Zeit um 1500 gut bekannt waren. Diese Deutung der Kannibalen als hundeköpfiges Erdrandvolk führt zu einer weiteren Verschiebung in unmittelbarer zeitlicher Nähe. Um 1535 veröffentlichte Hans Sachs ein Flugblatt mit dem Titel Ein yeder trag sein joch dise zeit / Vnd vberwinde sein vbel mit gedult. Der Einblattdruck zeigt auf seinem Bild (Abb. 7), einem Holzschnitt von Georg Pencz, wie Hasen den Jäger fangen, zerstücken, braten, kochen und räuchern. Nach dem typologischen Muster der amerikanischen Kannibalen bzw. der Kynokephaloi wird nun ein anderer Erinnerungssatz verbildlicht: die verkehrte Welt. Die Ähnlichkeitsbeziehung, –––––––— 20 21

Dise figur anzaigt vns das volck vnd insel die gefunden ist durch den cristenlichen künig zuo Portigal oder von seinen vnderthonen. Einblattdruck. Nürnberg ca. 1505. >Lorenz Fries@, UNderweisung vnd vßlegunge Der Cartha Marina oder die mercarten / Darin man sehen mag / wa einer in der welt sy / vnd wa ein ytlich Land / wasser vnd stet ligen [...]. (Straßburg: Johannes Grieninger 1530.)

Abbildung 6: Dise figur anzaigt vns das volck vnd insel die gefunden ist durch den cristenlichen künig zuo Portigal oder von seinen vnderthonen, Einblattdruck, Nürnberg ca. 1505.

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Abbildung 7: Georg Pencz: [Verkehrte Welt.] Holzschnitt, in: [Georg Pencz u. Hans Sachs], Ein yeder trag sein joch dise zeit / Vnd vberwinde sein vbel mit gedult, >ca. 1535@.

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aufgrund derer die Modifikation vorgenommen wurde, ist wohl im Tierischen der Hundeköpfigen zu suchen, die, als Hunde wahrgenommen, nun ihrerseits zu Opfern der kannibalischen Hasen werden. Links vorne ist zu sehen, wie ein Hase mit Schürze und Schlachterbeil einen Hund zerlegt, dahinter werden Fleischstücke in den Rauch gehängt. Der ursprüngliche Kannibalismus der Indianer ist in dieser Bilderreihe selbst zum Erinnerungssatz geworden; er verbindet sich schließlich mit dem Komplex der Umkehrung aller natürlichen Ordnung, wie man das in der Tradition des Karnevals als Teil kultureller Erinnerung und kultureller Praxis bestens kennt. Die Abbildung verdeutlicht ihrerseits, daß die Anthropophagie aus europäischer Sicht als Indiz für eine verkehrte Weltordnung interpretiert wurde. In der Tat finden sich entsprechende Belege noch am Ende des 17. Jahrhunderts. Der eingangs zitierte Reisebericht von Anton Sepp zeigt dies mit wünschenswerter Eindeutigkeit, wenn er aus der Neuen Welt berichtet: Dann wo in Europa Mittag / ist bey uns Mitternacht und Nort / und also fort: Der Mittag=Wind oder Sur, ist bey ihnen warm / hier ist er frisch und kalt. Der Nord ist in Europa kalt / in America Badwarm. Und eben dieser Ursachen halber ist hier alles umgekehrt: jetzt da ich dieses schreibe um Johanni nemlichen / seynd wir Mitten im Winter / doch ohne Kälte / Frost / Schnee: Dahero wissen meine Jndianer nicht was Schnee ist / ob er weiß oder schwartz / warm oder kalt. Jn December und Januarii, wo in Europa alles zum Stein gefrieret / essen wir Feigen und brocken Lilien; Mit einem Wort / wie gesagt / alles ist hier verändert / und hat nicht übel gesprochen / der Americam die verkehrte Welt genennet.22

Im Prinzip wird hier nichts Aufregendes dargestellt; der Umstand, daß auf der Südhalbkugel die Jahreszeiten gegenzyklisch verlaufen, ist ein vertrautes Faktum, seit die Kugelgestalt der Erde sowie die wechselnde Neigung der Erdachse gegenüber der Sonne bekannt waren – und das ist bereits im Mittelalter der Fall. Daß „um Johanni“, also um den 24. Juni, auf der südlichen Hemisphäre Winter ist, wäre nicht weiter erwähnenswert. Doch der Text postuliert noch etwas anderes, als bekanntes geographisches Wissen. Wenn Amerika „die verkehrte Welt genennet“ werden kann, dann meint dies auch und gerade in dieser begrifflichen Fassung eine totale Alterität, die durch die umfassende und völlige Spiegelbildlichkeit des Eigenen, d.h. der europäischen Ordnungen, zustande kommt.23 Sepps Text unterstellt nämlich, daß die Wärme des von ihm erlebten Winters nicht durch klimatische Bedingungen verursacht wird, so wie es in Europa sowohl kalte als auch warme Gegenden gibt. Der Winter in Amerika ist vielmehr deshalb warm, weil die Neue Welt eben eine grundlegend verkehrte Welt ist: „Und eben dieser Ursachen halber ist hier alles umgekehrt: jetzt da ich –––––––— 22 23

Sepp / Böhm, Reißbeschreibung, 69f. Eine derartige Wahrnehmung ist offensichtlich sehr viel älter. Bereits die im November Früchte tragenden Bäume bei Columbus lassen sich so verstehen, ebenso die Indianer als verkehrte Adam-und-Eva-Gruppe in der o.a. Illustration zu Vespucci. Auch die Utopia von Thomas Morus, die sich an die Vespucci-Berichte anschließt und in der Neuen Welt angesiedelt ist, operiert mit der Verkehrung europäischer Wertsysteme.

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dieses schreibe um Johanni nemlichen / seynd wir Mitten im Winter / doch ohne Kälte / Frost / Schnee.“ Die Indianer haben dementsprechend Schnee noch nie gesehen, sie können sich an ihn nicht erinnern und ihn daher auch nicht korrekt imaginieren. Im Gegensatz zu den Europäern ist ihnen die Fähigkeit der binären Differenzierung nicht gegeben: Sie wissen nicht, ob Schnee „weiß oder schwartz / warm oder kalt“ ist. Damit sind die Indianer auch in ihrem kollektiven Gedächtnis von europäischen Ordnungen ausgeschlossen und unterliegen solcherart der grundlegenden Notwendigkeit, als verkehrte Europäer von den richtigen wieder zurechtgesetzt zu werden. Das Verfügen über eine kulturelle memoria christlicher Prägung wird erkennbar als die unumgängliche Basis für die Konstruktion von Fremdheit. Wenn aber Fremdheit, am Beispiel der amerikanischen Entdeckungsgeschichte zunächst wesentlich als Neuheit zu verstehen, sich nur in den Kategorien dessen formulieren kann, was ohnehin bekannt und damit der Erinnerung zugänglich ist, wie kann das Neue dann als Neues konstruiert werden? Wenn alle Sätze, die sich auf Fremdes beziehen, nichts als Erinnerungssätze sind, wo ist dann der Platz für das Unbekannte? Das scheinbare Paradox läßt sich auflösen, wenn man die Kategorie der Kombinatorik ins Spiel bringt und das vorgeführte Material unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Das Neue entsteht durch Umordnung, durch ein Neu-Arrangement des Vertrauten. Die Indianer benehmen sich wie europäische Metzger, sind aber keine, weil sie nicht Tiere verspeisen, sondern Menschenfleisch. Die Kombination von Dingen, die aus europäischer Sicht nicht aufeinander zu beziehen sind, läßt erst das Neue zu, ja stellt erst das Neue her. Die Indianer benehmen sich also w i e europäische Metzger, die Menschenfleisch bearbeiten – das Prinzip der Ähnlichkeit verlangt nach dem Prinzip einer Differenz, die sich aus der Kombination ergibt. Salopp formuliert: Es ist alles wie bei uns, nur ganz anders. Präziser formuliert: Es ist die Ähnlichkeit, rhetorisch als similitudo zu fassen, die für die Abweichung von der Norm verantwortlich ist. Ein letzter Blick auf Sepps Reisebericht kann dies nochmals an einem Text verdeutlichen. Immer noch ganz in der Denkfigur der verkehrten Welt befangen, beschreibt er die amerikanischen Pflanzen: Die Blumen zweiffele / ob die Europæische Flora und Chloris wurde erkennet haben: so doch denen Unsrigen nicht fast ungleich. Eine ware / wie unsrige Stein=Negelein: andere hatten die Gestalt des Blümleins je länger je lieber. Diese scheinten ein Wienerischer Saffran zu seyn: andere gleichen denen wilden Salvien.24

Hier liegt eine Fülle, ja ein wahres Bombardement von Erinnerungssätzen vor. Die explizit als „Europæische Flora und Chloris“ erinnerte und mit ihren beiden Namen genannte Göttin der Blumen würde sich in der Neuen Welt mit dem, was eigentlich in ihr Reich fällt, nicht zurechtfinden. Und dennoch sind die –––––––— 24

Sepp / Böhm, Reißbeschreibung, 115f.

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amerikanischen Blumen ‚den unsrigen nicht sehr ungleich‘ – sie sind den europäischen Blumen ähnlich. Ähnlichkeit, similitudo, aber meint Differenz in der Identität. Der Text erinnert den Leser an Bekanntes: an Steinnelken, das Geißblattgewächs Jelängerjelieber, den Wiener Safran und an Salbei. Zugleich bezeichnet er die Unterschiede durch sprachliche Markierungen: Die eine Pflanze ist „wie“ ihr europäisches Muster, eine andere hat dessen „Gestalt“, eine dritte ‚scheint‘ ein europäisches Gewächs zu sein, eine vierte ‚gleicht‘ dem Vorbild. Diese aus dem Fundus der rhetorischen similitudo formulierten Erinnerungssätze machen in ihrer sprachlichen Gestalt deutlich darauf aufmerksam, daß nicht ausschließlich die Erinnerung des Lesers gefordert ist. Auf der Basis einer kulturellen und kollektiven memoria muß die Imagination aus eigenen Stücken das Erinnerte deformieren, muß einen Abstand des geistig vorgestellten Objektes zu sich selbst herstellen, muß Nicht-Identität erzeugen. Damit wird der Leser aber in jene Komplizenschaft mit der verkehrten Welt gezwungen, die der Reisende aufzuheben versucht. Ausgehend von einer Erinnerungsfigur muß der Leser nämlich in seinem Kopf die Unähnlichkeit erzeugen, die zwischen der fremden Welt und seiner eigenen besteht. Der Reisende vor Ort dagegen ist bemüht, aus dem Fundus seiner kulturellen Erinnerung die Fremdheit der Neuen Welt zu beseitigen, indem er sie in eine Welt verwandelt, die mit der europäischen identisch ist. Dafür muß sich bisweilen sogar ein Jesuitenpater wünschen, von einer Indianerin ein Kind zu bekommen.

Gérard Raulet

Politik der Rhetorik Novalis’ politische Theologie

Aus den Überlegungen Novalis’ zum „mystischen Ausdruck“ in den sechs ersten Paragraphen von Glauben und Liebe geht nichts Geringeres hervor als das, was man aus Gründen, die ich hier darlegen will, seine politische Theologie nennen kann. Zwar heißt es zunächst im zweiten Paragraphen, daß die „Tropensprache“ sich an die Eingeweihten wendet und gleichsam nur dazu dient, die Profanen auszuschließen, und dann im dritten Paragraphen, daß sie „ein Gedankenreiz mehr“ ist. Doch schon der Umstand, daß der „Reiz der Neuheit“ alte und vergessene Gedanken neu zu entdecken ermöglicht, verleiht ihr eine Erkenntnisfunktion, die ganz entschieden über die von Lessing thematisierte Funktion der Taten und Reden ad extra hinausgeht, obwohl man immer wieder an die Nähe oder gar an tatsächliche Beziehungen der Romantik zu freimaurerischen und mystischen Traditionen erinnert und gern die Überlegungen „Über die Form der Philosophie“ zitiert, die Friedrich Schlegel 1804 dem „Bruchstück eines dritten Gesprächs über die Freimaurerei“ anhängte: Ja auch wenn Philosophie öffentlich gemacht, und in Werken dargestellt wird, so muß Form und Ausdruck dieser Werke geheimnisvoll sein, um angemessen zu scheinen. Bei der höchsten Klarheit dialektischer Werke im Einzelnen muß die Verknüpfung des Ganzen auf etwas Unauflösliches führen.1

Wenn überhaupt, dann ist tatsächlich ein Mysterium angesprochen: das Mysterium des Politischen. Noch bevor der fünfte Paragraph die Grundsätze des „poetischen Philosophierens“ ausspricht, setzt sie der vierte schon in Praxis um: In ihm steigert sich die Erkenntnisfunktion zur Erfassung des kosmischen Zusammenhangs zwischen Individuellem und Allgemeinem. Weit davon entfernt, bloße Rhetorik zu sein, erweist sich somit die „Tropen- und Rätselsprache“ als Symbolik. Anders ausgedrückt: die Tropen sind alles andere als eine bloße Verkleidung von Sachverhalten, die man ebenso gut mittels der Alltagssprache ausdrücken könnte.

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Friedrich Schlegel, Ernst und Falk. Über die Form der Philosophie, in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler u.a., Paderborn u.a. 1958ff., III 100. (im Folgenden abgekürzt als KFSA)

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1. Wiewohl auch er sich der allgemeinen Verwerfung der Rhetorik allem Anschein nach anschloß – „Poesie ist Poesie. Von Rede(Sprach)kunst himmelweit verschieden“2 – bricht dieses Novalis’sche Programm mit der unwiderstehlichen Verdrängung der Rhetorik und des Ornaments, die schon in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts mit der Verabschiedung der normativen Poetiken und der Abkehr vom Barock eingesetzt hatte. Gegenüber den Tropen verhielt man sich immer mißtrauischer und sie beeindruckten immer weniger. In seinem Traktat Des Tropes meinte etwa Du Marsais 1730 im Hinblick auf die rhetorica, die an der Spitze des Bildungssystems stand, daß „an einem einzigen Markttag mehr Figuren geprägt [werden] als in langwierigen akademischen Debatten“.3 Um 1800, darüber herrscht in der Forschung im großen und ganzen Einstimmigkeit, ist die Rhetorik tot.4 In seiner Kritik der Urteilskraft verzeichnet Kant diesen Verfall, indem er zwischen Rhetorik und ars oratoria unterscheidet, wiewohl beide zu den schönen Künsten gehören: Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner Achtung würdig.5

Diese Kantsche Unterscheidung ist allerdings nicht selbstverständlich. Um ihre Bedeutung angemessen zu erfassen, muß man bedenken, daß sie auf die Spaltung der Rhetorik in ars rhetorica und ars oratoria verweist und das heißt auf den Zustand, in den die herkömmliche Aufteilung in eine rhetorica docens und eine rhetorica utens geraten war und den man schlicht als Zerfallen der Einheit von Theorie und Praxis charakterisieren kann. Dabei geht es nicht mehr nur darum, daß – wie im Grunde seit Plato – die eloquentia oder oratoria verdächtigt wird, die Wahrheit dem Effekt aufzuopfern, sondern genauer um den Umstand, daß, nachdem das ursprüngliche Band zwischen den verschiedenen Operationen der Rhetorik (inventio, dispositio, elocutio) und insbesondere zwischen inventio und elocutio zerrissen und die inventio von der rationalisti-

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4

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Novalis, Fragmente und Studien 1799–1800, in: Ders., Schriften, hg. v. Paul Kluckhohn, Richard Samuel, Darmstadt 1965ff; III 685. César Chesneau du Marsais, Des tropes, Paris 1730; neue Ausgabe von Pierre Fontanier, Les Tropes de Dumarsais avec un commentaire raisonné, Paris 1818, Nachdruck: Genève 1967. S. u.a. Gert Ueding / Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, 2. Aufl., Stuttgart 1986, 3; Karl-Heinz Göttert, Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe, Geschichte, Rezeption, München 1991, 2. Aufl. 1994; Josef Kopperschmidt, „Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik“, in: Ders. (Hg.), Rhetorik I: Rhetorik als Texttheorie, Darmstadt 1990, 5. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke in 10 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1957, § 53, 431.

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schen Philosophie in Anspruch genommen worden war,6 die Rhetorik sich tatsächlich immer mehr auf Eloquenz beschränkte und deshalb auch immer mehr mit ihrer politischen Instrumentalisierung assoziiert wurde. Georg Braungart beschreibt die herrschende Lage wie folgt: Auf der einen Seite die aus dem Humanismus überkommene, an Schulen und Universitäten tradierte Rhetorik antiker Provenienz, die Gelehrtenrhetorik. Auf der anderen Seite die am Hof, in der Kanzlei, in der Poetik und im ganzen gemeinen Leben geübte Redekunst, die keine schulische Vermittlungs- und Tradierungsinstanz hatte. Die Eloquenz der Praktiker.7

Dieser Kontext muß im Hinblick auf Novalis’ politische Erneuerung der Rhetorik im Auge behalten werden. Ich bin der Meinung, daß er den Hintergrund für das neue Bündnis von Politik und Rhetorik darstellt, das die Frühromantiker anstreben. Da die elocutio die Nahtstelle ist, an der Poetik und Rhetorik zusammengefügt sind, kann man sich leicht vorstellen, daß das romantische „Poesie“-Programm gerade da ansetzen mußte. Selbst bei dem rhetorischen Denker par excellence des ausgehenden 18. Jahrhunderts, demjenigen, der in seinen Überlegungen zur ästhetischen Erziehung des Menschen am stärksten an das antike Ideal des vir bonus wieder anknüpft und daher der Rhetorik eine Schlüsselrolle beimißt, wird vor dem Betrug der Ornamente gewarnt, wie es folgende Stelle aus Schillers Demetrius-Fragment belegt: Und kräftiger noch aus seiner schlichten Rede Und reinen Sinn spricht uns die Wahrheit an. Nicht solche Züge borgt sich der Betrug, Der hüllt sich täuschend in große Worte Und in der Sprache rednerischen Schmuck.

Für die Interpretation von Novalis’ politischen Schriften erhält die Kantsche Unterscheidung besondere Brisanz, wenn man bedenkt, daß er seine Abhandlung Christenheit oder Europa als Rede konzipiert hat.8 Er hat sich über die rhetorische Form der Rede Gedanken gemacht und sie in Christenheit oder Europa sozusagen exemplarisch ins Werk gesetzt. Am 31. Januar 1800 schreibt er an Friedrich Schlegel: Die Europa schickt mir wieder – ich habe eine andere Idee damit –. Sie kann mit einigen Veränderungen zu einigen andern öffentlichen Reden kommen und mit diesen besonders gedruckt werden. Die Beredsamkeit muß auch gepflegt werden...

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7 8

Vgl. Gérard Raulet, Art. „Ornament“, in: Ästhetische Grundbegriffe: historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel, Stuttgart / Weimar 2000, IV 656–683. Georg Braungart, Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus, Tübingen 1988, 87. Vgl. hierzu die Studie von Richard Samuel, Die Form von Friedrich von Hardenbergs Abhandlung „Die Christenheit oder Europa“, in: Albert Fuchs / Helmut Motekat (Hg.), Stoffe, Formen, Strukturen. Studien zur deutschen Literatur. Heinrich Borcherdt zum 75. Geburtstag, München 1962, 284–302.

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Seit alters haben sich Stimmen erhoben, die das Verhältnis der Romantik zur Rhetorik als missing link der Romantik-Forschung signalisiert haben.9 Wenn „Romantik und Rhetorik sich auszuschließen“ scheinen,10 so haben Kenner dieser Zusammenhänge – von Ernst Robert Curtius über Klaus Dockhorn11 und Helmut Schanze12 bis hin zu Paul de Man – immer wieder darauf hingewiesen, daß die frühromantische Konzeption der Literatur vielleicht stärker in der rhetorischen Tradition verwurzelt war, als man es aufgrund der engen Beziehung zwischen der Frühromantik und dem deutschen Idealismus anzunehmen bereit war. Dramatisch überzogen mag allerdings Dockhorns Forderung klingen, die „Ubiquität“ der Rhetorik ex negativo aus der Polemik gegen sie und den literarischen Programmen herauszuarbeiten: mehr als dreihundert Aufzeichnungen der „Philosophischen Lehrjahre 1796–1806“ von Friedrich Schlegel handeln expressis verbis von ihr und ihr Herausgeber Ernst Behler behauptet mit vollem Recht, daß „Reflexionen um einen neuen Stil und eine neue Konzeption der Rhetorik“ „ein zentrales Thema der Philosophischen Lehrjahre“ seien.13 Ja er macht die These geltend, daß mit dem Verhältnis der Romantik zur Rhetorik eine ganz andere Auffassung des Verhältnisses zum Absoluten, also des Symbolischen bzw. Allegorischen und somit des romantischen „Poesie“Begriffs, einhergeht „als die in der deutschen Klassik und der idealistischen Philosophie vorherrschende“.14 Friedrich Schlegel, der sich eingehend mit der rhetorischen Tradition beschäftigt bzw. auseinandergesetzt hat, kündigte 1799 einen Werkplan „Vom Werth d[er] Beredsamkeit“ an, der nichts Geringeres anstrebte als eine „absolute Rhetorik“.15 Seine früheren Äußerungen zur Rhetorik ließen ein solches Vorhaben nicht erwarten: hatte er sie doch im großen und ganzen als eine Kunst der Illusion oder gar der Lüge denunziert. Von Plato übernahm er die Gleichsetzung von Rhetorik mit Sophistik, und das heißt mit –––––––— 9

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Vgl. Helmut Schanze, Goethes Rhetorik, in: Gert Ueding (Hg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften, Tübingen 1991, 139. Diese Forderung ist seitdem zum Teil (was Friedrich Schlegel angeht) eingelöst worden durch Peter D. Krause, Unbestimmte Rhetorik. Friedrich Schlegel und die Redekunst um 1800, Tübingen 2001. Helmut Schanze, Romantik und Rhetorik. Rhetorische Komponenten der Literaturprogrammatik um 1800, in: Ders. (Hg.), Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1974, 126. Klaus Dockhorn, Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Idealismus in der Literatur und Geistesgeschichte (1949), in: Ders., Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg v. d. H. / Berlin / Zürich 1968, 46–95. Der die „Unendliche Rhetorik“ bei Schlegel in einem (kurzen) Kapitel seiner Dissertation über Romantik und Aufklärung (1966) behandelte [Helmut Schanze, Romantik und Aufklärung. Untersuchungen zu Friedrich Schlegel und Novalis (Erlanger Beiträge zur Sprachund Kunstwissenschaft 27), Nürnberg 1966, 94–106], danach aber dem Problem weiterhin nachging. KFSA XIX 459f.; vgl. auch 506f. Ernst Behler, Symbol und Allegorie in der frühromantischen Theorie, in: Ders., Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Paderborn 1988, II 251. Friedrich Schlegel, Philosophische Fragmente, Nr. 615, in: KFSA XVIII 244; vgl. auch ders., Fragmente zur Literatur und Poesie, Nr. 246, in: KFSA XVI 105. Zur „absoluten Rhetorik“ vgl. Krause, Unbestimmte Rhetorik, 178–231.

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Künstlichkeit und Untugend, woraus der Verfall der Kultur und des Staates resultieren müsse.16 Noch 1805–06 bezeichnete er sie als eine „Täuschungskunst“, die ausgeübt wird, „um einen praktischen Zweck zu erreichen, wie dies bei bürgerlichen Verhandlungen der Fall war; oder auch in einem philosophischen Streite, um den Gegner durch künstlich versteckte Trugschlüsse zu verwickeln“.17 Vor allem warf er ihr vor, nur zweckhaft zu verfahren und das Streben nach der Wahrheit, das das einzige Ziel der Wissenschaft sein sollte, dem verfolgten Zweck aufzuopfern.18 Insofern behält Dockhorn Recht: Auch und vor allem im Athenäumsfragment 116, das als Manifest des romantischen Literaturprogramms gilt, ist der Bezug auf die rhetorischen Tradition von der Kritik an ihr untrennbar: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und der Rhetorik in Berührung zu setzen.19

Helmut Schanze, der natürlich diese Stelle heranzieht, tut, als ob statt „und die Poesie mit der Philosophie...“ „sondern“ stünde.20 Das hat zur Folge, daß er21 die Rhetorik in der absoluten Rhetorik bzw. in der Poesie aufgehen läßt, während nur von Berührung, und nicht von Verschmelzung die Rede ist. Diese Nüance mag nun sowohl die scheinbaren Widersprüche zwischen den kritischen Äußerungen über die Rhetorik und den Stellen, in denen sie „gerettet“ bzw. „transformiert“22 wird, als auch die Schwierigkeiten erklären, in die man gerät, wenn man versucht, den genauen Sinn von Rhetorik in den einzelnen Fragmenten auszumachen und Befreiung durch Rhetorik von Befreiung von Rhetorik unterscheiden will (wiewohl Schlegel zum Teil systematisiert und zwischen Rhetorik Í und absoluter Rhetorik Í/0 unterscheidet).23 Einfacher wäre es freilich, wenn die Kritik der Rhetorik, an Platons Polemik gegen die Rhetoriker oder noch an Kants Transzendentalphilosophie anknüpfend, eine Erkenntnis der Wahrheit oder zumindest einen festen transzendentalen erkenntnistheoretischen Bezugspunkt voraussetzen könnte, von dem aus sie deren Falschheit entlarven –––––––— 16

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„Für den Niedergang der attischen Kultur macht Schlegel die Macht der Sophisten und ‚Rhetoren‘ über den ‚attischen Pöbel‘ mit verantwortlich. Die Dorier dagegen hätten ‚künstliche Beredsamkeit und Sophistik‘ verabscheut, deshalb länger ihre Hochkultur bewahrt“ (Krause, Unbestimmte Rhetorik, 64). Vorlesungen zur Propädeutik und Logik (1805–06), in: KFSA XIII 192f. „Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer“ (1795–96), in KFSA I 621f. Athenäumsfragment 116, in: KFSA II 182f. Schanze, Romantik und Rhetorik, 130. Wie zum Beispiel auch Thomas Zabka in seinem Aufsatz „Rede und Rhetorik in der deutschen Frühromantik“, Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 12 (1993) 84–93. Helmut Schanze, Transformationen der Rhetorik. Wege der Rhetorikgeschichte um 1800, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 12 (1993) 60–72. So notiert etwa Krause, der die bislang informationsreichste Untersuchung über Schlegels Verhältnis zur Rhetorik geschrieben hat: „Die Einschätzung Schlegels bleibt schwankend, ist von pejorativen Untertönen auch um das Jahr 1805 – in dem er wie selten sonst den systematischen Status der Rhetorik zu klären sucht – nicht frei“ (Krause, Unbestimmte Rhetorik, 247).

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könnte. Daß dies für die Frühromantik eben nicht mehr der Fall ist, begründet die Aktualität, die die Rhetorik für sie wieder erlangt. Wie Peter Schnyder es bemerkt hat,24 wird mit „Berührung“ das Bild eines elektrischen Kontakts evoziert, das Schlegel in den Notizbüchern und den Lyzeumsfragmenten benutzt.25 Wortwörtlich, und dies ist der Sinn der Metapher, verschwindet die Spannung zwischen den Polen Poesie, Rhetorik und Philosophie nicht. Ist doch das Prinzip der romantischen Poesie die Mischung der (von der traditionellen Rhetorik sorgfältig getrennten) Arten26 – ein Imperativ, der die Dynamik der progressiven Universalpoesie auslöst, im Gegensatz zur Vermischung, die die Bewegung zum Stillstand bringen würde.27 Des ungeachtet kann man Schanzes Demonstration im Wesentlichen zustimmen: Es geht nicht um eine bloße Wiederherstellung des Bandes zwischen Poesie, Philosophie und Rhetorik, sondern gerade um dessen Überwindung. Der „Imperativ der Synthetik“, von dem in einem Lyzeumsfragment (Nr. 537) die Rede war und der dort als Witz bezeichnet wird, d.h. als das schöpferische Prinzip der Bewegung,28 zielt auf eine höhere (nicht vollziehbare, aber dennoch anzustrebende) Synthese; Schlegels Programm einer „unendlichen“ oder „absoluten“ Rhetorik weist über eine Vereinigung von Philosophie, Poesie und Rhetorik hinaus, die – hielte man sie für die Lösung – in den Worten von August Wilhelm Schlegel eine „irrazionale Gleichung“ bedeuten würde,29 und erweist sich als grundlegend für die „progressive Universalpoesie“. Die „alte“ Rhetorik, von der Schlegel an zahlreichen Stellen sagt, daß sie bei den Griechen ihr Ziel verfehlt habe,30 soll in der „Synthetik“ sich aufheben bzw. sich – ohne auf ihre rhetorischen Wirkmittel zu verzichten – in eine neue Rhetorik verwandeln, mit der Schlegel ein neues Verhältnis zwischen Rhetorik und Politik verbindet: „Ihre Bestimmung ist, die Philosophie praktisch zu realisieren, und die praktische Unphilosophie und Antiphilosophie nicht bloß dialektisch zu besiegen, sondern real zu vernichten“ (Athenäumsfragment Nr. 137). Allenfalls könnte sie unter dieser Bedingung die Hoffnung des Lyzeumsfragments 65 auf eine republikanische Rede erfüllen – „eine Rede, die ihr –––––––— 24 25 26 27

28 29 30

Peter Schnyder, Die Magie der Rhetorik. Poesie, Philosophie und Politik in Friedrich Schlegels Frühwerk, Paderborn 1999, 18. Worauf Schanze selber hinweist (Schanze, Romantik und Rhetorik, 130), aber ohne daraus die Konsequenzen zu folgern. „Witz, ars combinatoria, Kritik, Erfindungskunst, ist alles einerlei“ (Philosophische Lehrjahre III, Fragm. 20, in: KFSA XVIII 124). Wie Schanze es an anderer Stelle entwickelt: Helmut Schanze, Friedrich Schlegels Theorie des Romans, in: Ders., Friedrich Schlegel und die Kunsttheorie seiner Zeit, Darmstadt1985, 385f. Zur Theorie der Mischung – im Zusammenhang mit dem Bezug auf die Chemie – vgl. Peter Kapitza, Die frühromantische Theorie der Mischung. Über den Zusammenhang von romantischer Dichtungstheorie und zeitgenössischer Chemie, München 1968. Vgl. hierzu Schanze, Schlegels Theorie des Romans, 386. An anderer Stelle heißt Witz „Rhetorik der Rhetorik“, s. Zur Physik (1802–03), Fragm. 71, in: KFSA XVIII 555. Athenäum I, 1 (1789) 150. Vgl. u.a. Philosophische Lehrjahre XII, Fragm. 289, in: KFSA XIX 237.

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eigenes Gesetz und ihr eigener Zweck ist, wo alle Teile freie Bürger sind, und mitstimmen dürfen“. Und dabei ist die Formel „alle Teile“ zweideutig genug, um sich sowohl auf eine Polyphonie der Bürgerstimmen als auch auf eine „progressive“ Kooperation aller Gattungen und Stilarten (im Gegensatz zu ihrer normativen Unterscheidung in der rhetorischen Tradition) und den Rückgriff auf eben alle rhetorischen Wirkmittel zu beziehen. Novalis’ Überlegungen zur Rede sind nun um so wichtiger, als die Form der Rede für die politische Romantik zu einem strategischen Anliegen wurde – in erster Linie natürlich in Fichtes „Reden an die deutsche Nation“. Aber auch Adam Müller, der Novalis so viel verdankt und der seine Anregungen sozusagen „systematisiert“ und zu einer eigentlichen Staatslehre ausgearbeitet hat, hat nicht von ungefähr sechs Jahre nach der Schlacht von Jena und im Jahre des erwachenden preußischen Widerstands, 1812, „Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland“ gehalten. Sein Vorhaben war geradezu pädagogischer Natur: nationale Aufrüstung durch die Wiederbelebung der Beredsamkeit, die Frankreich gleichsam konfiziert und zu einer politischen Waffe gemacht habe. Davon unterscheidet sich allerdings Novalis’ politische Schrift grundsätzlich. Mit Walter Jens,31 der Müllers Schrift herausgab, hat Helmut Schanze auf den Kontrast zwischen dem utopischen Charakter, der Novalis’ Entwurf nicht minder als Schlegels Konzept der „unendlichen Rhetorik“ bzw. der „Universalpoesie“ auszeichnet, und dem resignativen, oder gar restaurativen Charakter von Müllers Reden aufmerksam gemacht. Wenn Müller noch an Schlegels Programm einer republikanischen Rede erinnert, dann nur um festzustellen, daß die Beredsamkeit besonders in Republiken gedeiht, aber daß eine solche Hoffnung eben nicht mehr an der Tagesordnung ist: „Vorherrschend ist nicht der geschichtsphilosophisch fundierte Optimismus, etwa des Novalis, sondern vielmehr der Gestus der Klage.“32 Reden über die Beredsamkeit zu halten erinnert, wie Schanze sehr richtig sagt, „an Münchhausens Verfahren, sich am eigenen Zopfe aus dem Sumpf zu ziehen“. Müller stößt sich an einem performativen Widerspruch, den Schlegel und Novalis nicht kannten oder über den sie sich bewußt (bzw. programmatisch) hinwegsetzten. Während Müllers restauratives Unternehmen an der Problematik seiner praktischen Bedingungen und seiner Effekte scheitern muß – und das heißt an der Problematik der Wirkung, die der rhetorischen Tradition zugrunde liegt und der es insofern wieder unterliegt –, stellte sich das Problem der „republikanischen“ (in Schlegels Worten) Gemeinschaft, an die sich die progressive Rhetorik bzw. die „Poesie“ wandte, völlig anders. Christenheit oder Europa ist ja nur eine fingierte Rede, eine Rede, die nie öffentlich gehalten wurde – oder eben nur privat vor Friedrich Schlegel. Ihr kann nicht der Vorwurf gemacht werden, ausschließlich auf einen Zweck –––––––— 31 32

Walter Jens, Von deutscher Rede, erw. Ausgabe, München / Zürich 1983. Schanze, Romantik und Rhetorik, 140.

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ausgerichtet und an eine schon existierende Hörerschaft gerichtet zu sein. Der Plan einer Redensammlung, in die Novalis sie aufzunehmen gedachte, nachdem sie von der Redaktion des Athenäums zurückgewiesen worden war, bestand aus „öffentlichen“ Reden in Buchform, deren Publikum ein imaginiertes war: ein Publikum, das bereit wäre, das Abenteuer eines „Symphilosophierens“ mitzumachen. Wiederum kann man diesbezüglich Helmut Schanze zustimmen: Entscheidend für die neue Rhetorik ist, daß sie nicht mehr eigentlich von der Situation eines wirklich öffentlichen Redners abhängt, sondern vielmehr ein neues Kommunikationssystem voraussetzt. Sie ist ein – durchaus ernst gemeintes – Gedankenspiel, ein Experimentieren mit ernsten politischen Gedanken, ja mit Gedanken, die in vielerlei Hinsicht politischen Sprengstoff enthalten. Mit Schlegels Paradoxon der Unverständlichkeit als Anregung zum Symphilosophieren weist sie eine unübersehbare Verwandtschaft auf. Schon der rasche Überblick über die strategischen Funktionen der esoterischen Redeweise, den Novalis in den einleitenden Paragraphen seiner Rede gibt, bringt aber auch unmißverständlich zum Ausdruck, daß er zwar das esoterische Moment wie Schlegel als Initiation zu einer höheren Wahrheit für notwendig hält, aber gleichsam direkter zu Werke geht und die sehr mühsame und umständliche Rehabilitierung der rhetorischen Mittel und ihre Konvertierung zu einer „absoluten Rhetorik“ sozusagen verkürzt, indem er sich keineswegs verbietet, sie zu verwenden und vor allem das „unauflösliche“ Mysterium eindeutig zu einem politischen Anliegen macht. Ja es sieht so aus, als kehrte er hier die von Schlegel 1796 aufgestellte Hierarchie um: „Es giebt nur zwei Sprachen, die logische und die poetische. Die politische und die rhetorische sind nur aus diesen gemischt.“33 Diese Schlegelsche Äußerung drückt sozusagen nur den Idealzustand aus, der einer ihrer selbst sicheren Poesie einen ebenso sicheren kritischen Standpunkt bieten würde, wie ihn die Philosophie gegenüber der Rhetorik darzustellen beansprucht(e). Wie wir es aber erinnert haben, verhält es sich gar nicht so einfach: Der kritische Standpunkt der Poesie kann nur einen „progressiven“ Allgemeinheitsanspruch ausweisen und nur „unendliche Annäherung“ an die Wahrheit beanspruchen. Nimmt man dies in Betracht, oder in Kauf, dann konzentriert sich das Augenmerk auf die „Mischung“ Rhetorik und Politik. Während Schlegel, seinem idealen Programm34 getreu, dazu neigt, die Rhetorik Í nur als untergeordnete Darstellungstechnik auf der Ebene der Anwendung – „Alles Angewandte ist rhetorisch“ – zuzulassen, solange die philosophische Intention nicht mit bloßer Rhetorik endigt, weil das Rhetorische „der Tod des MV[Philosophischen], Hist[orischen] und MO[Philosophischen] ist“,35 sieht es hingegen beinahe so aus, als ob für Novalis der Schwerpunkt – –––––––— 33 34 35

Friedrich Schlegel, Philosophische Fragen, Nr. 8, in: KFSA XVIII 19. Dessen Resultat Schanze gleichsam postuliert. Friedrich Schlegel, Fragmente zur Literatur und Poesie, Nr. 14, in: KFSA XVI 86. Schlegel hält an dem Gegensatz von Rhetorik und Dialektik fest. Letztere ist die eigentliche philosophische Disziplin. Rhetorik und Dialektik werden zwar als „Gattungen der MV[Philosophie]“ (KFSA XIX 27) angesehen, aber die Rhetorik ist nur zuständig für die Vermittlung,

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zumindest in Christenheit oder Europa – auf dem Zusammenhang zwischen Rhetorik und Politik läge. Man kann nicht ausschließen, daß dies einer der Gründe ist, weshalb seine Rede – unter Berufung auf Goethes Autorität – vom Herausgebergremium des Athenäum abgelehnt wurde. Man kann auch nicht umhin festzustellen, daß diese Entscheidung sich gravierend ausgewirkt hat. Während Schlegel eine Neubestimmung und Aktualisierung des Topos eines genuinen Zusammenhangs zwischen republikanischer Freiheit und rhetorischer Kultur36 intendiert, mündet Novalis’ Rede – zumindest äußerlich gesehen37 – in ein Lob der Monarchie nicht nur als „Geist“, sondern auch als System. Damit einhergehend neigt seine „praktische Anwendung“ zu einer Bestätigung und restaurativen Festigung des Zusammenhangs zwischen Macht und Rhetorik, die zu den bekannten Aburteilungen geführt hat, deren Erinnerung sich hier erübrigt. Zugleich aber bewirkt diese gleichsam direkte und ungedeckte Herangehensweise einen absolut entscheidenden Effekt, um den es hier gehen soll: sie durchbricht politisch den Topos vom Kausalnexus zwischen Republik und Rhetorik, sie unterhöhlt und komplexifiziert nicht nur seine Hinüberrettung in die schon verwickelten politischen Auffassungen der Romantik, sondern sie pocht auf ein Moment, das sonst in der „Verflüssigung“ der Referenzen durch die „progressive Universalpoesie“ unterzugehen drohte: Wie ist es eigentlich bewandt mit „dem Politischen“? Was macht den Kern des Politischen aus? Wenn sich also Novalis’ Anliegen unmißverständlich von demjenigen Adam Müllers unterscheidet, so darf deshalb nicht daraus geschlossen werden, daß er trotz grundsätzlicher Übereinstimmungen mit dem Schlegelschen Programm identisch sei oder gar, wie Schanze es unglücklicherweise suggeriert hat, „einen Fall ‚praktischer‘ romantischer Rhetorik“ nur sei.38 Für Novalis gilt es offensichtlich beim Zusammenhang zwischen Rhetorik und Politik anzusetzen, um zum Wesen des Politischen durchzudringen. „Die Unmöglichkeit, das Höchste durch Reflexion positiv zu erreichen“, meint Friedrich Schlegel, der ja selber die Politik als den „innersten Geist“ der Rhetorik hielt,39 „führt zur Allegorie“.40 –––––––—

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die Popularisierung. Überdies muß sie teils dialektisch, teils historisch sein, um überhaupt dieser Beteiligung an der Philosophie würdig zu sein (KFSA XVIII 497). Vgl. insbesondere Herder im 42. Theologie-Brief: Die Beredsamkeit „wohnte nur da, wo Republik war, wo Freiheit herrschte, wo öffentliche Berathschlagung die Triebfeder aller Geschäfte“ war (Johann Gottfried Herder, Briefe, das Studium der Theologie betreffend, in: Sämmtliche Werke, hg. v. B. Suphan, XI, 36). Daß es sich in der Tat um einen Topos handelt, der sich zum Teil auf die Idealisierung der Antike gründet und zum Teil die vermeintliche rhetorische Misere Deutschlands „an einer idealisierten revolutionären Rhetorik in Frankreich“ mißt, hat Krause im zweiten Teil seiner Dissertation Unbestimmte Rhetorik ausführlich dargelegt. Und das heißt, wenn man ihren utopischen Charakter in die Interpretation nicht einbezieht und wenn man das äußerst komplexe Problem der Auffassung der „Republik“ (das ich in anderen Texten behandle) hier ausgrenzt; wegen der Komplexität der Zusammenhänge kann ich nur hoffen, daß diese beiden grundlegenden Bestimmungen der Problematik wenigstens am Rande des vorliegenden Aufsatzes deutlich genug anklingen werden. Schanze, Romantik und Rhetorik, 128. Friedrich Schlegel, Philosophische Lehrjahre V, Nr. 819, in: KFSA XVIII 389. KFSA XIX 25.

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Das Unverfügbare, das bei den Frühromantikern insgesamt die Aufwertung des Poetischen begründet, wird von Novalis rhetorisch-allegorisch als das Politische benannt und zur Diskussion gestellt. Wie rhetorisch, ja „spielerisch“ – wie Carl Schmitt sicher, und ganz zu Unrecht, gesagt hätte – Novalis mit seinem politischen Experiment verfährt,41 geht aus seinen Überlegungen zum Genre der Rede hervor. Kurz nach dem Brief vom 31.1.1800 an Schlegel entwarf er ein Fragment, in dem er „den Charakter einer wahren Rede“ skizzierte: In einer wahren Rede spielt man alle Rollen – geht durch alle Charaktere durch – durch alle Zustände – nur um zu überraschen – um den Gegenstand von einer neuen Seite zu betrachten, um den Zuhörer plötzlich zu illudieren, oder auch zu überzeugen. Eine Rede ist ein äußerst lebhaftes, und geistreiches, abwechselndes Tableau der innern Betrachtung eines Gegenstandes. Bald frägt der Redner, bald antwortet er, dann spricht er und dialogiert, dann erzählt er, dann scheint er den Gegenstand zu vergessen, um plötzlich auf ihn zurückzukommen, dann stellt er sich überzeugt, um desto hinterlistiger zu schaden, dann einfältig, gerührt, muthig – er wendet sich zu seinen Kindern – er thut, als ob alles vorbey und beschlossen wäre – bald spricht er mit Bauern, bald mit diesen, bald mit jenen, selbst mit leblosen Gegenständen. Kurz, eine Rede ist ein monologes Drama. Es giebt bloß offne, gerade Redner – die schwülstigen Redner sind gar nichts wehrt. Die ächte Rede ist im Styl des hohen Lustspiels, nur einzeln mit großer Poësie verwebt – Sonst recht klare, einfache Prosa des gemeinen Lebens – Dialogen styl. Der Redner muß jeden Ton annehmen können.42

Der Redner muß jeden Ton annehmen können: Novalis setzt – soweit seine Übereinstimmung mit dem Schlegelschen Programm einer Rettung und Konversion der rhetorischen Tradition – tatsächlich alle „Arten“ der Rhetorik ins Werk. Inwiefern er sich an die Tradition hält, oder aber die Mischung auf eine neue Organisation hintreibt: das ist die eigentliche Frage, die der Anspruch auf eine „echte“ Rede aufwirft. „Echt“ bedeutet ja nicht „Traditionsechtheit“, sondern im Vokabular der Frühromantik ziemlich genau dasselbe wie „absolut“, „progressiv-universell“, oder eben „romantisch“. Dieses Problem würde eine ausführlichere Analyse erfordern, als im Rahmen dieses Aufsatzes möglich ist. Aber die Eigenschaften der „echten Rede“, wie sie Novalis umrissen hat, lassen sich in der Europa-Rede unschwer wiedererkennen. Bis zu § 11 ist sie ein Monolog, der eine Geschichte bzw. – in den ersten Paragraphen – ein Märchen erzählt. Hier erfolgt das Überreden durch den apodiktischen, nicht nachweisbaren Charakter der Darstellung. Darauf läßt sich die gleichsam metapoetische Aussage anwenden: „Kindliches Zutrauen knüpfte die Menschen an ihre Verkündigungen“.43 Zur „Prosa des gemeinen Lebens“ kehrt Novalis nicht von ungefähr da zurück, wo die Darstellung zu einer bedeutsamen Wende gelangt – –––––––— 41

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Und das entgegen seiner eigenen Warnung: „Die Rhetorik ist eine falsche Kunst, wenn sie nur zur Heilung von Volkskranckheiten, und Wahnsinn gebraucht wird. Affecten sind Arzneyen – man darf nicht mit ihnen spielen“ (Novalis, Schriften, III, 560). Novalis, Schriften, III 648f. Novalis, Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa, Stuttgart 1984, 67.

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zum Beispiel: „Mit der Reformation war’s um die Christenheit getan“.44 Hingegen kennzeichnet sich die Stelle über den Jesuitenorden, diejenige, in der Novalis’ historische Belesenheit am deutlichsten zum Vorschein kommt, durch einen sachlich faktischen Stil in geordneten Perioden. Dieses rhetorische Mittel alterniert mit poetischen Höhenflügen, wenn sich die Aussicht auf die Erneuerung des religiösen Sinns öffnet und die „Zeit der Auferstehung“ sich nähert: Der Geist Gottes schwebt über den Wassern, und ein himmlisches Eiland wird als Wohnstätte der neuen Menschen, als Stromgebiet des ewigen Lebens zuerst sichtbar über den zurückströmenden Wogen.45

In der zweiten Hälfte der Rede neigt der Vortragsstil dann eher zu einem Dialog mit den Zuhörern, die es mitzureißen gilt. Novalis gebraucht dann häufig das demagogische Mittel der rhetorischen Frage, um nicht nur diese, sondern wohl auch sich selbst zu überzeugen – wie Lessing46 es am Ende der „Erziehung des Menschengeschlechts“ getan hatte, wo es darauf ankam, den Leser von der Gewißheit des „dritten Evangeliums“ zu überzeugen: „Haben die Nationen alles vom Menschen – nur nicht sein Herz?...“47 – bis zu dem Schlußparagraphen, in dem eine letzte rhetorische Frage dem Fragen ein Ende setzt: „Wann und wann eher? Darnach ist nicht zu fragen“.48 Aus alledem geht hervor, daß Novalis ebenso scharfsinnig wie geschickt die seit der Antike überlieferten Charakteristika und Regeln des Genres der Rede sich zu eigen macht und anwendet. Er versteht die Rede als pistis. Es gilt, den Zuhörer zu überzeugen, oder genauer: zu überreden – ggfs. mit den Mitteln der Illusion („illudieren“). Er will warnen, bilden und zur Erweckung aufrufen. Es gilt, die Deutschen aufzurütteln und ihren „Eskapismus“ zu durchbrechen, indem zwischen Rhetorik und „Poesie“ eine Verbindung (oder „Berührung“, folgt man Schlegel) hergestellt wird, die die inzwischen „eingebürgerte“ Kluft zwischen praktischer (d.h. politischer bzw. „technologischer“ – Walter Jens) und echter, humanistischer Rhetorik, wie Kant sie, wie gesehen, registrierte, schließen würde und insofern die Rhetorik in einem guten Sinn wieder politisieren würde. Walter Jens faßt die Situation, in die Novalis und das gesamte „Rhetorik-Projekt“ der Romantik – wenn man es so bezeichnen darf – eingreifen, folgendermaßen zusammen: Rhetorik paßt nicht in das Konzept der bürgerlichen Eskapismus-Ideologie; ihre WirkungsAkzentuierung widerstrebt dem Theorem von der reinlichen Trennung der Welten: der einen der Realität, von der man sich, ohnmächtig, abkehrt, und der anderen der Poesie. Die

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Ebd. 74. Ebd. 80. Dessen theologisch-geschichtsphilosophische Spätschriften der 80er Jahre – schon wegen ihres Doppelcharakters – für Schlegel und Novalis, wie schon erwähnt, vorbildlichen Charakter besitzen. Novalis, Fragmente, 87. Ebd. 89.

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man auf Kosten der Einheit für autonom erklärt und in deren Bezirk man absolute Konzeptionen entwirft, um dem mangelnden Einfluß im bürgerlichen Leben zu kompensieren.49

2. Die Tropen sind deshalb bei Novalis keine bloßen Ornamente der Rede. Sie werden vielmehr mit einem Wahrheitsanspruch belastet und mit der Funktion beauftragt, das Allgemeine im Individuellen zu erfassen und auszudrücken. Damit wird klar, worauf die „ernsten, mystisch-philosophischen Philosopheme“ – als welche in der Tat Novalis’ „politische Gedanken“ in Glauben und Liebe anzusehen sind – aus sind: Aber woher die ernsten, mystisch-politischen Philosopheme? Ein Begeisterter äußert sein höheres Leben in allen seinen Funktionen; also philosophiert er auch, und zwar lebhafter als gewöhnlich, poetischer.50

Angestrebt ist eine „Poetik der Politik“, die sich zum Ziel setzt, das Wesen des Politischen zu erfassen. So wird die Monarchie als „schönste poetische Gesellschaftsform“ bezeichnet.51 Wichtig ist in dieser Hinsicht der Komparativ „also philosophiert er auch poetischer“. Die Steigerungsform weist darauf hin, daß es sich hier wie in Christenheit oder Europa nicht nur darum handelt, eine existierende Regierungsform zu verherrlichen (vgl. „Wer hier mit seinen historischen Erfahrungen angezogen kömmt, weiß gar nicht, wovon ich rede“52), sondern vielmehr diese an dem Wesen der Herrschaft, das sie symbolisieren soll, zu messen; damit ist sogar, wie wir noch sehen werden, eine implizite aber nicht minder scharfe Kritik an der realen Herrschaft verbunden. Die „schönste poetische Gesellschaftsform“53 ist diejenige, die sich dem Wesen des Politischen am meisten nähert, d.h. die es am vollkommensten symbolisiert. Diese Rehabilitierung des Zierats durch das „poetische Philosophieren“ und die symbolische Funktion, die ihm zugeschrieben wird, stehen insofern im Mittelpunkt von Novalis’ politischen Auffassungen. Mit seiner Forderung der Tropensprache trifft Novalis den Kern des Problems der Souveränität; das Geheimnis, das die Rätselsprache in Worte faßt, ist nichts anderes als das Mysterium der Herrschaft. Der irdische Herrscher vertritt bzw. verkörpert das Wesen der Herrschaft. Genauer: er symbolisiert es, und genauer noch: er soll es symbolisieren. –––––––— 49 50 51 52 53

Walter Jens, Rhetorik, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl., Berlin / New York 1977, III 433. Novalis, Fragmente, § 5, 43. Ebd. 46. Ebd. 45f. Ebd. § 16, 46.

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Bedarf der mystische Souverän nicht, wie jede Idee, eines Symbols, und welches Symbol ist würdiger und passender als ein liebenswürdiger trefflicher Mensch?54

Dieses symbolische Wesen des Königtums wird auch noch im 18. Paragraphen durch den Satz ausgedrückt: „Der König ist ein zum irdischen Fatum erhobener Mensch“.55 Achtet man auf diesen Steigerungsgestus, der im Endeffekt Moral und Ästhetik kurzschließt und das zerfallene Verhältnis zwischen Rhetorik und Wahrheit wiederherzustellen anstrebt, dann leuchtet der nur scheinbar lockere Aufbau von Glauben und Liebe ein. Der 18. Paragraph bildet mit seiner Heraufbeschwörung eines „absoluten Mittelpunkts“ den – freilich sehr problematischen – Mittelpunkt von Novalis’ politischen Konzeptionen. Die Souveränität muß sichtbar sein: „Ein großer Fehler unserer Staaten ist es, daß man den Staat zu wenig sieht“.56 Die äußeren Zeichen der Herrschaft müssen wieder mit einer „poetischen“ und symbolischen Bedeutung versehen werden. Wenn Novalis zum Beispiel sagt, daß alle Äußerungen des politischen Lebens „so poetisch als möglich“ sein müssen, meint er damit, daß dies mit einer Restauration – ich unterstreiche absichtlich die Provokation – der in Verruf geratenen Hofetikette zu beginnen hat: „Ohne Etiquette kann kein Hof bestehn“.57 Ihm schwebt sogar eine Art von Staatsreligion vor, die er sofort mit der unmittelbaren Präsenz der antiken Gottheiten im Leben der Polis vergleicht, also eine neue Mythologie: etwa „eine bedeutungsvolle Huldigungszeremonie der Königin“,58 d.h. sozusagen ein Kult, der „das gewöhnliche Leben veredeln [würde], wie sonst die Alten es mit ihren Göttern taten“.59 Damit hängt die Forderung einer sichtbaren Kirche60 zusammen. Am katholischen Glauben lobt er „seine Allgegenwart im Leben“,61 und seinen Vorzug vor dem protestantischen Kult sieht er darin, daß er „weit sichtbarer – verwebter und familiärer“ ist, während man von der protestantischen Religion nichts sieht „außer den Kirchthümern und der geistlichen Kleidung“.62 Novalis spricht sich gegen das Bilderverbot des „ältern Judaisms“ und gegen Kants Auffassung der unsichtbaren Kirche aus. Ja, eine geplante Fortsetzung des Ofterdingen sollte der „Aussöhnung der kristlichen Relig[ion] mit der heydnischen“ gewidmet sein.63 Ein Blüthenstaubfragment behauptet, „daß das Wesen der Religion wohl nicht von der Beschaffenheit des Mittlers abhänge, sondern lediglich in der Ansicht derselben, in den Verhältnissen zu ihm bestehe“. „Götzendienst im weitern –––––––— 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

Ebd. § 15, 45. Ebd. 47. Ebd. § 19, 47. Vgl. auch § 26 über die Orden und Auszeichnungen (Novalis, Fragmente, 49f.). Ebd. 47. Ebd. § 30, 53. Ebd. Ebd. 88. Ebd. 87. Novalis, Schriften, II 612. Ebd., I 347.

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Sinne“ mag es zwar sein, „wenn ich diesen Mittler in der That für Gott selbst ansehe“, umgekehrt sei es aber zweifelsohne „Irreligion, wenn ich gar keinen Mittler annehme“.64 So verstanden kann das königliche Ehepaar durchaus zum irdischen Mittler des zugleich religiösen und politischen Prinzips der Liebe erhoben werden. Mit dieser Forderung der Sichtbarkeit der Macht und ihrer göttlichen Legitimität kehrt Novalis allem Anschein nach zu jener Tradition zurück, die Jürgen Habermas als repräsentative Öffentlichkeit bezeichnet hat. In seiner Untersuchung Strukturwandel der Öffentlichkeit benutzt Habermas die zunehmende Problematisierung der Repräsentation als Indikator, um den Übergang von der prämodernen Auffassung der Herrschaft zu den modernen Verhältnissen zu rekonstruieren, in welchen die Öffentlichkeit nicht mehr das öffentliche repräsentative Auftreten des Fürsten ist, sondern sich jetzt aus einem Publikum zusammensetzt, das diese Darstellung des Göttlichen nicht mehr passiv empfängt, sondern sich als eine politische Öffentlichkeit gegenüber der etablierten Macht konstituiert und über grundsätzliche politische Orientierungen debattiert. Mit der Entstehung dieser politischen Öffentlichkeit hört die Legimität auf, eine Tatsache „von Gottes Gnaden“ zu sein; an ihre Stelle tritt die Problematik der Legitimation. Um nichts anderes geht es in Kants berühmter Abhandlung „Was ist Aufklärung?“. Der späte Schlegel wird sich aus diesem Grund in seiner Philosophie des Lebens (1827) – im Gegensatz zu seinen Schriften der 90er Jahre und der Jahrhundertwende – auf unzweideutige Weise wieder zur traditionellen Monarchie von Gottes Gnaden bekennen und nicht von ungefähr den gewählten Volksrepräsentanten jede Repräsentativität absprechen: Nach dem hier gewählten Wege einer göttlichen Grundlage, und christlichen Begründung des Staates, welche ich aus der symbolischen Bedeutung des Lebens und symbolischen Bestimmung des Menschen in seinem Verhältnis gegen Gott selbst herzuleiten versuchte, ist also der oberste Staatsherrscher und König oder überhaupt der Monarch, sowohl als der Geistliche oder Priester, ein Stellvertreter der höhern göttlichen Macht, die er auf Erden repräsentiert [...]. Es hat also die eine sowohl als die andre Gewalt, nach dem christlichen Begriff von den zwei Gewalten, der weltlichen und der geistlichen, einen repräsentativen Charakter, der aber freilich sehr von dem gewöhnlichen Begriff dieses repräsentativen Wesens und einer solchen Verfassung abweicht, und vielmehr den entschiedensten Kontrast damit bildet.65

Ganz ähnlich scheint es schon mit Novalis’ Restauration der äußeren Zeichen der Legitimität bewandt zu sein, da er ja die republikanische Repräsentation deshalb verwirft, weil sie eine Konstruktion ist, die nur den Verstand anspricht, während das Ziel ein „blühendes Land“ ist, „ein Land, das Herz und Geist befriedigt“.66 Novalis scheint sich somit, wie der spätere Schlegel, schon 1799 zur „repräsentativen Öffentlichkeit“ des alten Regimes zu bekennen.

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Novalis, Fragmente, 22. Friedrich Schlegel, Philosophie des Lebens, in: KFSA X 253. Novalis, Fragmente, § 7, 43.

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Im politischen System des Ancien régime diente das Ornament zur Repräsentation der Macht. Es trat dabei das Erbe des antiken prepon oder decorum an (prepon bedeutet ja im Griechischen zugleich das Ziemende und das Auszeichnende),67 aber mit einer religiösen Bedeutungssteigerung, an die Novalis offensichtlich anknüpft. „Das den Römern vertraute Wort [Repräsentation]“, schreibt Hans Georg Gadamer in Wahrheit und Methode, „erfährt im Lichte des christlichen Gedankens der Inkarnation und des corpus mysticum eine ganz neue Bedeutungswendung. Repräsentation heißt nun nicht mehr Abbildung oder bildliche Darstellung, [...] sondern es heißt jetzt Vertretung“ und sogar „bis ins 17. Jahrhundert hinein die dargestellte Gegenwart des Göttlichen selbst.“68 Infolgedessen vertritt der Monarch nicht das Volk, sondern er repräsentiert Gott vor dem Volk. Der König ist der Stellvertreter, franz. „lieutenant“ Gottes, wie es Ludwig XIV. in seinen Mémoires ausdrückt: Il en est sans doute [parmi les différentes fonctions des rois] où tenant, pour ainsi dire, la place de Dieu, nous semblons être participants de sa connaissance aussi bien que de son autorité, comme, par exemple, en ce qui regarde le discernement des esprits, le partage des emplois et la distribution des grâces.69

„Dei estis!“ sagt Bossuet, der dies in seiner Politique tirée des propres Paroles de l’Ecriture sainte wie folgt erörtert: Considérez le Prince dans son cabinet. De là partent les ordres qui font aller de concert les magistrats et les capitaines, les citoyens et les soldats, les provinces et les armées par mer et par terre. C’est l’image de Dieu qui, assis sur son trône au plus haut des cieux, fait aller toute la nature.70

Diese göttliche Macht wird von Ornamenten sichtbar gemacht – wobei Bossuet kennzeichnenderweise nicht das griechische Maß, sondern das „asianische“ Vorbild der orientalischen Pracht am Hofe Salomons heraufbeschwört: Les dépenses de magnificence et de dignité ne sont pas moins nécessaires [...] pour le soutien de la majesté aux yeux des peuples étrangers. [...] Le roi Salomon était servi en vaisselle d’or. Tous les vases de la maison du Liban étaient de fin or. [...] Dieu défendait l’ostentation que la vanité inspire, et la folle enflure d’un coeur enivré de ses richesses, mais il voulait cependant que la Cour du roi fût éclatante et magnifique, pour imprimer aux peuples un certain respect. Et encore aujourd’hui, au Sacre des Rois [...] l’Eglise fait cette prière: ‚Puisse la dignité glorieuse et la majesté du palais faire éclater aux yeux de tous la grande splendeur de la puissance royale, en sorte que la lumière, semblable à celle d’un

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ŅÍčŅª Åď¤ ŅÔªÀªË (sich von allen anderen unterscheiden); ŅÍčŅª ĦÎÁġÀ§ ȤŨ ÈÎʌ (durch Kleidung und Schmuck hervortreten). Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 134, 476. Zur Zurücknahme dieser Entwicklung bei Novalis und Schlegel vgl. Ethel Matala de Mazza, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg 1999. Mémoires pour l’instruction du Dauphin. 1667, Paris 1960, 177. Jacques Bénigne Bossuet, Textes choisis et commentés, hg. v. Henri Brémond, Paris 1913, II 122.

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éclair, en rayonne de tous côtés.‘ Toutes paroles choisies pour exprimer la magnificence d’une Cour royale qui est demandée à Dieu comme un soutien nécessaire de la royauté.71

Die „repräsentative Öffenlichkeit“ des Ancien régime ist, so resümiert Habermas, „an Attribute der Person geknüpft: an Insignien (Abzeichen, Waffen), Habitus (Kleidung, Haartracht), Gestus (Grußform, Gebärde) und Rhetorik (Form der Anrede, förmliche Rede überhaupt), mit einem Wort – an einen strengen Kodex ‚edlen‘ Verhaltens. Dieser kristallisiert sich während des hohen Mittelalters im höfischen Tugendsystem, einer christianisierten Form der aristotelischen Kardinaltugenden, die das Heroische zum Chevaleresken, Seigneuralen mildert“.72 Daraus erklärt sich übrigens auch die zentrale Bedeutung der Bekleidung in der ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts. An dieser Auffassung der Herrschaft und der Repräsentation hielt der aufgeklärte Despot Friedrich II. fest, den ich an dieser Stelle nur deshalb erwähne, weil er im Hintergrund des Diskurses der politischen Romantik eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Friedrich II. hat sie freilich „modernisiert“, da er sich ja als Atheist nicht mehr auf Gottes Gnaden berief. In seinem auf Französisch abgefaßten Essai sur les formes de gouvernement (1777) schreibt er: „Le souverain représente l’Etat“ – eine fast wörtliche Abschreibung von Ludwigs XIV. berühmtem Spruch: „L’Etat, c’est moi“. Und bei aller Absage an das Prinzip der göttlichen Legitimität eignet er sich darüberhinaus das christliche organizistische Modell an: „Lui et ses peuples ne forment qu’un corps, qui ne peut être heureux qu’autant que la concorde les unit. Le principe est à la société qu’il gouverne ce que la tête est au corps. “ Im Lichte dieser Tradition wird der aus zwei Wortgruppen, einer abstrakten – Glauben und Liebe – und einer konkreten, personifizierten – der König und die Königin – zusammengesetzte Titel von Novalis’ Rede verständlich. Es handelt sich allem Anschein nach um eine Allegorie. Sobald man aber diese Bezeichnung verwendet, öffnet man die Büchse der Pandora. Ernst Behler hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Romantiker oft „gerade an der Stelle, an der wir das Wort Symbol erwarten würden, die Bezeichnung Allegorie“ gebrauchen.73 Er zitiert an erster Stelle Friedrich Schlegels „Gespräch über die Poesie“, wo es heißt: Mit andern Worten: alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen.74

Wie Behler es erinnert, hat dann Schlegel selbst 1823 bei der Toilettierung seiner Sämtlichen Werke „allegorisch“ durch „symbolisch“ ersetzt. Daß er sich damit im Nachhinein der Klärung des Gegensatzes von Allegorie und Symbol, –––––––— 71 72 73 74

Ebd., livre X, 1ère proposition. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt / Neuwied 1962, 20f. Behler, Symbol und Allegorie in der frühromantischen Theorie, 249. KFSA II 324.

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die unter dem Einfluß von Goethe und Schelling sich durchsetzte, angeschlossen habe, hält Behler allerdings zu Recht für eine nicht befriedigende Erklärung, zumal da Schlegel es unterlassen hat, das Substantiv zu substituieren. Vielmehr sei anzunehmen, daß die zum Teil durchgehaltene Austauschbarkeit des Allegorischen und des Symbolischen von einem anderen Verhältnis zum Absoluten zeugt als im main stream des deutschen Idealismus und daß dieses andere Verhältnis mit dem romantischen „Poesie“-Begriff zusammenhängt. Gerade bei Novalis läßt sich zeigen, daß es darauf ankommt, die Trennungslinie zwischen Allegorie und Symbol nicht nur durchlässig zu machen bzw. zu halten, sondern dem Allegorischen selbst seine tiefere symbolische Bedeutung abzugewinnen, ohne dafür den höheren Bezugspunkt, auf welchen das Symbol verweisen soll, endgültig absolut zu setzen. Dementsprechend ist zwar das Mysterium des Politischen in der sichtbaren Monarchie erfaßt, aber von ihm gilt wie von jedem Absoluten, daß es in ihr bloß dargestellt wird. In Schlegels Worten: „Jedes System kann nur Approximation sein. [...] Jedes System ist nur Approximation seines Ideals. [...] Alle Wahrheit ist relativ. Alles Wissen ist symbolisch.“75 Überträgt man dieses Schlegelsche Bekenntnis zur Skepsis („Die Skepsis ist ewig“), dann verstärkt sich noch die grundsätzliche Ambiguität von Novalis’ Lob auf die Monarchie: So wie diese hier angesprochen wird, erscheint sie zugleich als eine (etwas überschwängliche – qua Rehabilitierung aller Ornamente der Rede) Allegorie des vollendeten monarchischen Prinzips, oder aber als eine bloße Allegorie ihrer symbolischen Idee, nämlich des Mysteriums des Politischen. Behler zieht ganz zu Recht folgende Überlegung von Novalis heran: „Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren – Das Hörbare am Unhörbaren – Das Fühlbare am Unfühlbaren. Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren.“76 Sie läßt sich umkehren: Das Undenkbare haftet am Sichtbaren und ist nur durch dieses, also allegorisch und symbolisch zugleich, einigermaßen zu erfassen. Im 15. Paragraphen von Glauben und Liebe setzt Novalis die gleichsam unmittelbar einleuchtende symbolische Bedeutung des „wahrhaften Königspaars“ der „Anhänglichkeit an Zeichen“ entgegen. Im 16. Paragraphen heißt es anschließend: „Meinethalben mag jetzt der Buchstabe an der Zeit sein“.77 Während die Konstruktionen des Verstandes auf bloßen Zeichen aufbauen und insofern arbiträr bzw. künstlich sind, schreibt er den Zeichen eine tiefere Bedeutung zu: Sie sind „ein schönes Bild“ – anders ausgedrückt ein Symbol. Novalis tritt also bewußt das Erbe der repräsentativen Tradition an, aber er verwandelt sie ebenso dezidiert in eine Symbolik. Der liebenswürdige König verkörpert die Idee der Souveränität. In dieselbe Richtung geht in der Vermischten Bemerkung Nr. 75 die Definition des Regenten, des „ersten Beamten des Staats“: er ist der „sichtbare Geist“ des Volks. Wichtig ist zugleich an dieser Stelle der Hinweis, daß für –––––––— 75 76 77

KFSA XVIII 413, 417. Novalis, Schriften, II 487. Novalis, Fragmente, 46.

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das Volk alles „Schauspiel“ ist – Repräsentation. Auf die Bedeutsamkeit dieses Schauspiels kommt es aber an.

3. Anstelle von Carl Schmitts pauschalem Angriff gegen den Occasionalismus der „politischen Romantik“ scheint es uns deshalb viel ergiebiger, auf Walter Benjamins Kritik des romantischen Symbolbegriffs zurückzugreifen. Der Vorwurf des Occasionalismus trifft nämlich nur die Oberfläche der Effekte eines Denkens, das bemüht ist, das Verhältnis zwischen der Oberfläche und einer intendierten Tiefe anders zu formulieren als in der barocken Allegorese, mit der Schmitt es zu Unrecht implizit gleichsetzt, wenn er die berühmte Stelle „Das Universum ist die Elongatur meiner Geliebten...“ als Beispiel der absoluten Willkürlichkeit des Verhältnisses zwischen Bild und Bedeutung, also als eine Erscheinungsform des „Occasionalismus“ interpretiert: So ist jeder Vorgang in eine phantastische und traumhafte Vieldeutigkeit verwandelt und kann jeder Gegenstand alles werden. Das ‚Universum ist die Elongatur meiner Geliebten‘, aber auch umgekehrt, ‚die Geliebte ist die Abbreviatur des Universums‘, ‚jedes Individuum ist der Mittelpunkt eines Emanationssystems‘, die Emanationen sind statt mystischer Kräfte geometrische Linien, die Welt löst sich auf in Figuren und der Zweck ist ‚die Handhabung des Universums‘. Die substanzlosen Formen lassen sich zu jedem Inhalt in Beziehung setzen; in der romantischen Anarchie kann jeder sich seine Welt gestalten und jedes Wort und jeden Ton zum Gefäß unendlicher Möglichkeiten erheben, jede Situation und jeden Vorgang romantisch verwandeln [...]. Würde diese allgemeine Auflösung, diese spielerische Zauberei der Phantasie in ihrer eigenen Sphäre verbleiben, so wäre sie in der Geschlossenheit ihres Kreises unwiderleglich. Sie vermischt sich aber beliebig und willkürlich mit der Welt der gewöhnlichen Realität. In einer allgemeinen Vertauschung und Vermengung der Begriffe, einer ungeheuerlichen Promiskuität der Worte, wird alles erklärlich und unerklärlich, identisch und gegensätzlich, und kann allem alles unterschoben werden. Auf Fragen und Diskussionen der politischen Wirklichkeit wurde die Kunst angewandt, ‚alles in Sofien zu verwandeln und umgekehrt‘.78

In Schmitts Urteil klingen die Vorwürfe nach, die die Aufklärer gegen die barocke Allegorie geltend gemacht hatten: zum Beispiel Mendelssohn, der in Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (1757) die sinnlose Willkürlichkeit der zur bloßen „poetischen“ Schreibweise verkommenen Allegorie anprangerte: Soll ein Schmetterling die Seele, ein goldnes Herz, das auf der Brust einer Person hängt, ein gutthätiges Herz, ein gewisser Baum die Weisheit, ein Hirsch bald das nagende Gewissen, bald ich weiß nicht was bedeuten: so sind dieses bloß symbolische Zeichen, und weit weniger anschauend als die willkürlichsten Worte.79

–––––––— 78 79

Carl Schmitt, Politische Romantik, 7. Aufl., Berlin 1998, 86f. Moses Mendelssohn, Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (1757), in: Ders., Gesammelte Schriften, Leipzig 1843, I 290f.

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Im Gegensatz zu den willkürlichen Zeichen der rein formalen wissenschaftlichen Sprachen sollen für Mendelssohn die Zeichen in der Kunst natürlich sein, und „natürlich sind sie, wenn die Verbindung des Zeichens mit der bezeichneten Sache in den Eigenschaften des Bezeichneten selbst gegründet ist“.80 Novalis’ Verständnis der Allegorie erscheint hingegen gleichsam als die Probe aufs Exempel des von Benjamin kritisierten romantischen symbolischen Denkens, weil die Zeichen für ihn eine natürliche Sprache sind, die zugleich über sich hinausweist und ein „bedeutsames“ unmittelbares Verhältnis herstellt zwischen der Naturerscheinung und ihrem transzendenten bzw. „transzendentalen“ Sinn. Es ist diese Eigenschaft des romantischen Symbols, von der Benjamin im Abschnitt über „Symbol und Allegorie in der Romantik“ seines Ursprungs des deutschen Trauerspiels ausgeht – und die er in Frage stellt. Im Symbol, sagt Benjamin, strebet das Wesen nicht zum Überschwenglichen hin, sondern, der Natur gehorchend, füget es sich in deren Form, durchdringet und belebet sie. Jener Widerstreit zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen ist also aufgelöset.81

Aufgelöst ist der Widerstreit freilich nicht – das muß man der eigensinnigen Benjaminschen Kritik entgegenhalten. Aber im Gegensatz zu Schmitts Urteil, das der Romantik diese Verwurzelung in der Natursprache absprach und in dem hergestellten Verhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit nur Willkür sah, geht sie wenigstens nicht an dem Kurzschluß vorbei, den die Romantiker zwischen den sichtbaren Zeichen, dem Symbolisch-Absoluten und einer Natursprache, die beides vereinigen würde, herzustellen anstreben.82 Novalis hat nicht von ungefähr im Mai 1798 Bausteine einer Theorie der Allegorie entworfen. Er unterscheidet im Fragment Nr. 214 zwischen künstlicher und natürlicher Poesie. Unter künstlicher Poesie versteht er „zur Poesie gewordne Philosophie“, d.h. eine Poesie, die zu einem philosophischen Satz die passende Begebenheit komponiert. Die natürliche Poesie ist demgegenüber zweckfrei und absolut „flüssig“. Sie appelliert zwar wie die Allegorie in der seit der Antike bis zum Barock herrschenden Tradition an die Reflexion bzw. an das Vorwissen des Rezipienten, der die Bedeutung nachvollziehen soll, aber der große Unterschied besteht darin, daß diese Bedeutung nicht mehr feststeht, daß sie nicht mehr in einem konventionellen Wissen von etablierten allgemeinen Lehrsätzen besteht. „Das allegorisierende Verfahren der ‚Tropensprache‘ gibt –––––––— 80 81

82

Ebd. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1978, hier: I-1, 341; Zitat aus: Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, Leipzig / Darmstadt 1819, 63. Wobei dieser Kurzschluß – und hier gebietet es sich, wieder an das Bild der elektrischen Spannung zu erinnern – nie zur einer Gleichschaltung der Pole gelangt (Mischung vs. Vermischung).

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also der Aktivität des Lesers einen konstitutiven Spielraum.“83 In der Vermischten Bemerkung Nr. 125 bezeichnet Novalis den „wahren Leser“ als einen „erweiterten Autor“.84 An die Stelle der Bedeutung tritt die Bedeutsamkeit. Diesen Unterschied inszeniert Novalis bewußt am Anfang von „Glauben und Liebe“. Und schon deswegen ist sein quasi katholisch-emblematisches Lob auf das preußische Königspaar nicht als bare Münze zu nehmen. Es ist nur ein „romantisches Spiel“ damit und weist über die barocke Allegorie der Macht hinaus. Novalis’ „Tropensprache“ markiert sowohl die Überwindung der prämodernen Allegorie als Ornament als auch einen Bruch mit dem klassizistischen Allegoriebegriff. Nachdem Winckelmann in seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke (1755) gegen die Exzesse der barocken Allegorie protestiert hatte, setzte eine allmähliche Differenzierung von Allegorie und Symbol ein, aus welcher der Gegensatz von Bedeutung und Bedeutsamkeit resultiert. Am Anfang des 19. Jahrhunderts erreichte dieser Prozeß in den Auseinandersetzungen über klassische und romantische Kunst seinen Höhepunkt. Noch 1792 macht freilich Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste keinen Unterschied zwischen Symbol und Allegorie, ebensowenig 1793 das Wörterbuch von Adelung, das unter „Allegorie“ jegliche bildliche oder figürliche Ausdrucksweise faßt.85 Die Entstehung einer differenzierten Theorie erfolgte in drei Schritten,86 deren Bedeutung für das Verständnis der Novalisschen „Tropen- und Rätselsprache“ entscheidend ist. Zunächst setzte sich bei Wolff und den Wolffianern, bei Baumgarten, Georg Friedrich Meier, Mendelssohn, der Unterschied zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen durch, der eine Verabschiedung der Episteme der Renaissance bedeutete. Er führte freilich zunächst nur dazu, daß man – so noch Mendelssohn – die „symbolischen“, willkürlichen aber eindeutigen Zeichen der Mathematik denjenigen der „schönen Wissenschaften“ gegenüberstellte. Erst Kant erhob im 59. Paragraphen der Kritik der Urteilskraft den Einwand, daß „es ein von den neuern Logikern zwar angenommener, aber sinnverkehrender, unrechter Gebrauch des Wortes symbolisch ist, wenn man es der intuitiven Vorstellungsart entgegensetzt, denn die symbolische ist nur eine Art der intuitiven. Die letztere (die intuitive) kann nämlich in die schematische und in die symbolische Vorstellungsart eingeteilt werden. Beide sind Hypotyposen, d.i. Darstellungen (exhibitiones: nicht bloße Charakterismen, d.i. Bezeichnungen der Begriffe durch begleitende sinnliche Zeichen, die gar nichts zu der Anschauung des Objektes Gehöriges enthalten“. Kant betonte also das Sinnliche am Symbol und schrieb –––––––— 83 84 85

86

Hermann Kurzke, Romantik und Konservatismus. Das politische Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983, 200. Vgl. Novalis, Framgmente, 36. Vgl. Bengt Algot Sörensen, Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1972; Tzvetan Todorov, Théories du symbole, Paris 1977, 179ff. Vgl. Gérard Raulet, Espérance et sécularisation chez Ernst Bloch, Habil. Paris 1985, 406ff.

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diesem eine Darstellungsfunktion zu, die er nicht zögerte, mit der Erkenntnisfunktion der schematischen Vorstellungsart zu vergleichen. Daran knüpfte Goethes Auffassung des Symbols an, die Kants Unterscheidung zwischen der schematischen und der symbolischen Hypotypose durchbricht im Hinblick auf eine Versöhnung des Geistes und der Natur, deren Aufgabe der Kunst obliegt. Ein Spruch aus den Maximen und Reflexionen drückt zugleich den Erkenntniswert des Symbols und Goethes Ablehnung aller Theorien aus, die die Allegorie nur als Schmuck oder als Beispiel behandeln: Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt, die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie: sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen.87

Auf den ersten Blick paßt diese Definition nur mittelbar zu der Novalisschen, die ja durchaus „ans Allgemeine denkt“. Doch dieses bleibt ohne das Besondere undarstellbar und insofern stimmt seine Entgegensetzung der „natürlichen Poesie“ und der künstlichen Allegorie im Fragment Nr. 214 mit Goethes Unterscheidung von Symbol und Allegorie überein. Aus zahlreichen Stellen geht hervor, daß Goethes Unterscheidung nicht zuletzt gegen Schillers moralischen Dualismus gerichtet war, weil Schillers Festhalten an Kants kritischen Grenzlinien zwischen Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft bei ihm gerade dazu führte, daß bei jedem Vermittlungsversuch (ob Anmut, schöne Seele oder Pathetisch-Erhabenes) das Verhältnis der Darstellung zur Idee immer wieder zum sinnlichen „Kenntlichmachen“ (Schiller) des Idealen, also zur Allegorie wird. Grundsätzlich waren sich Schiller und Goethe darüber einig, daß es um die Darstellung des Undarstellbaren, um das Aussprechen des Unaussprechlichen geht; doch trennte sie „die Verschiedenheit der Mittel, wodurch wir [jenen einen Zweck] zu erreichen strebten“.88 Schiller, so könnte man Goethes Vorwurf resümieren, stellt die ästhetische Darstellung allzu sehr in den Dienst des moralischen Anliegens, so daß sie zu dessen „Allegorie“ wird und es zu eindeutig, „direkt“ ausdrückt, im Gegensatz zum Symbol, dessen Bezug auf das von ihm Gemeinte „indirekt“, oder wie Tzvetan Todorov sagt, „intransitiv“ bleibt.89 In dem 1797 für den ersten Band der Propyläen geschriebenen, aber erst posthum erschienenen Aufsatz „Über die Gegenstände der bildenden Kunst“,90 hat –––––––— 87 88 89 90

Benjamin, Gesammelte Schriften, I-1, 338. (Ursprung des deutschen Trauerspiels) Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 751, in: Ders., Werke, Hamburger Ausg., XII 471. Vgl. Todorov, Théories du symbole, Paris 1977, 237. Johann Wolfgang von Goethe, Über die Gegenstände der bildenden Kunst, in: Goethes Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in 40 Bdn., hg. v. Eduard von der Hellen, Stuttgart / Berlin 1902–1907, XXXIII 94.

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Goethe seine Kritik an der allegorischer Schreibweise noch pointierter formuliert. Von den allegorischen Werken, die sich durch „Vernunft, Witz und Galanterie“ auszeichnen, sei nichts Gutes zu erwarten, weil sie das Interesse an der Darstellung zerstören und den Geist vom Dargestellten abwenden. Während das Symbol „geistig-sinnlich“ ist, richtet sich die Allegorie nur an den Verstand. In einer Maxime aus der Spätzeit heißt es entsprechend: Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei.91

Das Symbol hingegen „verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe“.92 Goethe ging aber noch einen Schritt weiter, der ihn in die Nähe seiner romantischen Zeitgenossen brachte. Schon in den Aufzeichnungen seiner Italienischen Reise (1. Römischer Aufenthalt) meinte er am 28. Januar 1787: „Ich habe eine Vermutung, daß [die griechischen Künstler] nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin.“ Und im Oktober schrieb er an Knebel: „Glücklicherweise hab ich auch eine Combination der Kunst mit meiner Vorstellungs Art der Natur gefunden und so werden mir beide doppelt lieb.“ Als er im Zusammenhang der Arbeit an der „Metamorphose der Pflanzen“ 1790 Kants Kritik der Urteilskraft gleich nach ihrem Erscheinen studierte, interessierte er sich in erster Linie für die Teleologie, in der er eine Bestätigung seines Gedankens fand, nach dem die unlösbare Einheit der Teile eines Organismus aus einem besonderen „Prinzipium“, aus einer organisierenden Kraft hervorgeht.93 Daraus – aus der teleologischen, nicht der ästhetischen Urteilskraft – leitete er die Auffassung des autonomen Kunstwerks als eines Organismus und der ganzen Kunstgeschichte „als ein Lebendiges (Zoon)“94, in dem „das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur der schöne Mensch“ ist.95 Beiden liegt ein Grundprinzip bzw. „Grundphänomen“ oder noch „Urphänomen“ zugrunde, das dem „Grundorgan“ der „Metamorphose der Pflanzen“ vergleichbar ist. So ließe sich etwa zeigen, daß „die dorischen Tempel von Sizilien und Großgriechenland alle nach einer Idee aufgebauet [sind] und doch sehr verschieden voneinander“.96 Damit wird in der Kunstgeschichte wie in der Naturgeschichte der drohenden Sinnlosigkeit Einhalt geboten und der Zusammenhang zwischen Idee und Erfahrung vor der „millionenfachen Hydra der Empirie“, wie Goethe im sog. „Symbolbrief“ vom 16./17. August 1797 an Schiller schreibt, gerettet. Die „Erfahrung in der Breite“ –––––––— 91 92 93 94 95 96

Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 750, in: Ders., Werke, XXII 471. Ebd., Nr. 749, 470. S. insb. § 66. Goethe, Werke, XXII 111. Ebd. 102; vgl. hierzu Kant, Kritik der Urteilskraft, § 80. Goethe, Werke, XII 37.

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weicht einer „Erfahrung in die Tiefe“, die „aufs Bedeutende ihre Aufmerksamkeit richtet“, d.h. auf „symbolische Gegenstände“. Diese sind „eminente Fälle“, weil sie „in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit als Repräsentant von vielen anderen dastehen, eine Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, ähnliches und fremdes im Geist aufregen, und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen“. Gerade diesen Weg schlug die Romantik ein. Insgesamt war der lange Prozeß, der zur Unterscheidung von Symbol und Allegorie geführt hat, von dem Protest gegen eine allegorische Kunst, in der die Allegorie zum Schmuck oder zum bloßen Beispiel verkommen war, getragen. Die klassizistischen und romantischen Symboltheorien versuchten beide zugleich die Willkürlichkeit und die allzu große Eindeutigkeit der Bedeutung zu überwinden – genau das, was Benjamin dem romantischen Symbolbegriff vorwirft: nämlich den Abgrund, den diese doppelte Ablehnung aufgetan hat, durch das Postulat der Bedeutsamkeit wieder schließen zu wollen. Bei Creuzer, bei dem nach Benjamin diese Tendenz zum Äußersten getrieben wird, wird der Unterschied zwischen symbolischer und allegorischer Darstellung folgendermaßen formuliert: Diese [die allegorische Darstellung] bedeutet blos einen allgemeinen Begriff, oder eine Idee, die von ihr selbst verschieden ist; jene ist die versinnlichte, verkörperte Idee selbst. Dort findet eine Stellvertretung statt... Hier ist dieser Begriff selbst in diese Körperwelt herabgestiegen.97

Dagegen ist Benjamins „Rehabilitierung“ der Allegorie gerichtet. Für ihn drückt diese nämlich den Bruch zwischen dem göttlichen Sinn und der profanen Welt aus, die in der allegorischen Betrachtung „sowohl im Rang erhoben wie entwertet“ wird – eine „Antinomie“, „deren dialektische Behandlung sich nicht umgehen läßt“.98 Einerseits werden nämlich die profanen Dinge der Willkür des sie deutenden Menschen ausgeliefert, so daß das Verhältnis zwischen Ding und Begriff zur reinen Konvention wird (von daher die Willkürlichkeit der Allegorie). Vom Allegoriker heißt es, daß „in seiner Hand das Ding zu etwas anderem [wird], er redet dadurch zu etwas anderem und es wird ihm ein Schlüssel zum Bereich verborgenen Wissens, als dessen Emblem er es verehrt. Das macht den Schriftcharakter der Allegorie“.99 Die Allegorie tendiert deshalb zum Schema. Anderseits und zugleich verwandelt aber der Allegoriker die profanen Dinge in „erregende Schrift“, in Ausdruck, und erhöht so ihre Würde. Diesen Charakter der Allegorie hätten die Romantiker mit ihrem Symbolbegriff überstrapaziert, während das Wesen der Allegorie darin besteht, dem Weltzustand nach dem Sündenfall, der die Kontinuität zwischen der Sprache und der ganzen Schöpfungswelt aufgelöst hat, Ausdruck zu verleihen. –––––––— 97 98 99

Benjamin, Gesammelte Schriften, I-1 341; Zitat aus Creuzer, Symbolik und Mythologie, 70f. Benjamin, Gesammelte Schriften, I-1 350f. Ebd. I-1 359.

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Während im Symbol mit der Verklärung des Unterganges das transfigurierte Antlitz der Natur im Lichte der Erlösung flüchtig sich offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem, was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein in einem Totenkopfe aus.100

Auch Benjamin hofft auf eine „Reinigung und Erhöhung“101 der Allegorie, welche die Sprache vor der Willkürlichkeit der Babylonischen Sprachverwirrung, vor dem „Abgrund des Geschwätzes“ retten würde.102 Er spricht aber dem romantischen Symbol die Fähigkeit ab, diese Rettung zu bewerkstelligen. Das mystische Nu der Symbolerfahrung verklärt nur den Untergang, indem es die Geschichte stillstehen läßt, während die Allegorie der „weltlichen, geschichtlichen Breite“ verhaftet bleibt – und bleiben muß – und als „weltliche Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt“ die „Stationen des Verfalls“ dokumentiert.103 Vom Allegoriker ist keine Rettung zu erwarten; die allegorische Intention fällt vielmehr „von Sinnbild zu Sinnbild dem Schwindel ihrer grundlosen Tiefe anheim“.104 Indem seine absolute Willkür über die Phänomene unumschränkt herrscht und ihnen ihre Bedeutungen diktiert, erweist sie sich zwar als dem richtenden Wort Gottes verwandt, aber in ihrer Entscheidungsgewalt über die Bedeutungen sieht Benjamin nur eine extreme Übersteigerung der neuzeitlichen Subjektivität, die er am Ende des Trauerspielbuchs als Höllensturz interpretiert.105 Ihr bodenloser Tiefsinn führe „in den leeren Abgrund des Bösen hinab“. Und doch erwacht der Allegoriker plötzlich in Gottes Welt – eine Denkfigur, die Benjamin später als „positive Barbarei“ bezeichnen wird. Dem Urteil des Anfangs, der Vertreibung aus dem Paradies der reinen Sprache, entspricht am Ende durch einen dialektischen Umschlag, „wie Stürzende im Fallen sich überschlagen“,106 das rettende Gericht. Solange dessen Urteil aber nicht gefallen ist, bleibt allerdings die Allegorie die Sprache bzw. die Schrift der Verfallsgeschichte – die einzige Sprache, in der Geschichte geschrieben werden kann. Benjamins überzogene und deshalb „ungerechte“ Kritik am romantischen Symboldenken erweist sich als die höchste Gerechtigkeit, die ihm in der Kritik verschafft wurde: Im Gegensatz zur allgemeinen Tendenz, das Allegorische vom Symbol her zu deuten und die Rhetorik Í in der absoluten Rhetorik aufgehen zu lassen, trifft sie den wunden Punkt und wird der Spannung (der Berührung, die in keiner Gleichschaltung aufgeht) gerecht. Zugleich wird klar, warum Benjamin bei Creuzer ansetzt und was er eigentlich an dem romantischen –––––––— 100 101 102 103 104 105 106

Ebd. I-1 343. Ebd. II-1 153. Ebd. II-1 154. Ebd. I-1 342f. Ebd. I-1 405. Dies ist sozusagen seine messianische Alternative zu Carl Schmitts Occasionalismusthese; bekanntlich fühlte sich Benjamin damals Schmitt nahe. Benjamin, Gesammelte Schriften, I-1 405.

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Symbolbegriff auszusetzen hat: Dieser verkennt, daß „gewaltig in diesem Abgrund der Allegorie die dialektische Bewegung braust“.107 Ließe es sich erfüllen, dann würde sich das mystische Postulat der Bedeutsamkeit des Profanen über die Dialektik und die Geschichte hinwegsetzen. Deshalb wirft Benjamin den Romantikern vor – und dieses Argument stimmt cum grano salis mit dem Schmittschen Vorwurf überein –, daß sie ein „Buhlen [...] um glänzende und letztlich unverbindliche Erkenntnis eines Absoluten“ betreiben.108 Unter ihnen sei allerdings Creuzer derjenige, der die Unterscheidung zwischen Symbol und Allegorie mit der Geschichte in Zusammenhang gebracht habe, indem er die Auffassungen des Athenäum-Kreises so weiterentwickelte, daß er die Kategorie der Zeit in das Gebiet der Semiotik einführte.109 Für ihn unterscheiden sich Symbol und Allegorie grundsätzlich dadurch, daß ersteres eine „momentane Totalität“ erfaßt und ausdrückt, während letztere „Fortschritt in einer Reihe von Momenten“ erfaßt, „dessen Wesen das fortschreitende Epos am vollkommensten ausspricht“.110 Damit wird dem romantischen Symbol seine mystische Dimension zuerkannt und seine geschichtsphilosophische Relevanz zugleich abgesprochen. „Das Zeitmaß der Symbolerfahrung ist das mystische Nu“.111 Aber Benjamin zweifelt gerade an deren Echtheit. Für ihn verklären die klassizistischen und romantischen Symboltheorien die Geschichte und den Zerfall des Sinns. Das Symbol ist eine über sich selbst täuschende Allegorie, eine Allegorie, die das Stigma der Verfallsgeschichte durch phantastische Bedeutsamkeit vergessen machen will. Deshalb hält er dem romantischen Symbol entgegen, daß es dann am Bedeutsamsten ist, wenn es gerade die Spannung und Entzweiung, und nicht ihre Überwindung, zum Ausdruck bringt: Wo die Romantik in dem Namen der Unendlichkeit, der Form und der Idee das vollendete Gebilde kritisch potenziert, da verwandelt mit einem Schlage der allegorische Tiefblick Dinge und Werke in erregende Schrift. [...] Das Bild im Feld der allegorischen Intuition ist Bruchstück, Ruine.112

Diese Kritik kann zweifelsohne der Novalisschen Semiotik und Symboltheorie entgegengehalten werden. Ihr liegt nämlich eine Entgegensetzung der „natürlichen“ und der „arbiträren“ Zeichen zugrunde, die eine symbolische Natursprache postuliert, auf deren Basis sich eine neue Metaphysik etablieren soll. Damit ist nicht etwa eine Rückkehr zu einer natürlichen Motivierung der sprachlichen Zeichen gemeint, sondern vielmehr – wie etwa bei Hamann – die Überzeugung, daß es vor oder jenseits der künstlichen Sprachen eine kosmische „Sprache“ gibt, ein „Buch der Natur“, das grundlegendere Zusammenhänge enthält, als die –––––––— 107 108 109 110 111 112

Ebd. I-1 342. Ebd. I-1 336. Ebd. I-1 342. Ebd. I-1 341. Ebd. I-1 342. Ebd. I-1 352.

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künstlichen menschlichen Sprachen, die Sprachen des Verstandes, sie je erfassen können. Bei Hamann ist die Symboltheorie eine Ontologie, das Symbolische umfaßt die Natur, die Sprache und die Kunst. So wie bei Herder hat „jede echte Convention in der Natur ihren Grund“.113 Hamann und Herder nehmen die Willkürlichkeit der Zeichen zurück.114 Sie kehren am Ausgang des 18. Jahrhunderts und des modernen Säkularisierungsprozesses zum „Großen Buch der Natur“ zurück, im Symbol haben für sie Zeichen und Bezeichnetes in der Natur ihren Grund, so daß das Symbol zum Sein gehört. Bei Novalis besteht diese Natursymbolik darin, daß er in den irdischen Erscheinungen einen Reflex des kosmischen Universums sieht: „Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten“.115 Die Natur wird ihm zu jener geheimnisvollen Chiffrenschrift, von der es in den Lehrlingen zu Sais heißt: Mannichfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffrenschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Krystallen und in Steinbildungen auf gefrierenden Wassern, Im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Thiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Conjuncturen des Zufalls, erblickt.116

Dadurch wird „dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehen“ und umgekehrt dem Höheren „einen geläufigen Ausdruck“ gegeben (Logologische Fragmente, Nr. 105, N II, 545). Weil er, wie wir vorhin sagten, direkter zu Werke geht, erscheint Novalis sozusagen als der ideale Sündenbock für Benjamins Kritik der romantischen Symboltheorie.

4. Gerade weil Novalis’ Titel Glauben und Liebe sich aus einem Abstraktum und einem Konkretum zusammensetzt, knüpft er an die Problematik der barocken Allegorie an, und zugleich öffnet er wieder die Kluft zwischen Sinn und Darstellung. An seinem Versuch, sie wieder zu schließen, ist der „reaktionäre“, „restaurative“ oder im Gegenteil progressive, ja republikanische Charakter seines gewagten rhetorisch-politischen Gedankenexperiments zu messen. Die erklärte Bevorzugung der erblichen Monarchie gründet sich bei Novalis auf deren symbolischen Charakter: Wenn ein geborener König besser ist als ein –––––––— 113

114 115 116

Herder, „Kalligone. Vom Angenehmen und Schönen“ (1800), in: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877–1913, Nachdruck Hildesheim / New York 1968–1969, XXII 323. Vgl. Sörensen, Allegorie und Symbol; Raulet, Espérance et sécularisation, 418. Novalis, Fragmente, § 4, 43. Novalis, Schriften, I 79.

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gemachter,117 dann weil beim geborenen König die symbolische Bedeutung, der verbindliche Bezug auf einen Sinn im Gegensatz zur Zerstreuung und Willkürlichkeit der allegorischen Veranschaulichungen durch die Person des alleinigen Herrschers gleichsam verbürgt ist. Wie es allerdings bei den Romantikern, die ja auch Erben der Aufklärung sind, üblich ist, wird das Bekenntnis zur erblichen Monarchie auf sehr raffinierte Weise begründet. Zum einen will Novalis die Geburt und das Prinzip der Erbfolge als freie, wenn auch stillschweigende Wahl verstanden wissen – vgl. die Vermischte Bemerkung Nr. 75: „er wird einstimmig, durch ein lautes oder stilles Einverständnis gewählt“. Zum anderen wird das Bildungsideal der Aufklärung zur Begründung der Legitimation mobilisiert. Die „politischen Romantiker“ sind ja um eine Aufklärung hoch zwei bemüht, bzw. sie bemühen sich, das aufklärerische Erbe in ihr neues politisches System zu übersetzen. Wie bei Schiller ist bei Novalis das Ziel der ganze Mensch: „Ein wahrhaftes Königspaar ist für den ganzen Menschen, was eine Konstitution für den bloßen Verstand ist“.118 Nach Novalis besteht der Vorzug der Erbmonarchie darin, daß der große Haufen der gemeinen Menschen nicht gebildet genug ist, um die Last der königlichen Funktion auf sich zu nehmen, während „Wer so geboren ist, dem schwindelt nicht“.119 Das Argument mag als schwach erscheinen, aber auf der anderen Seite kann der entscheidende Wert, den die Romantiker als Erben der Aufklärung, auf die individuelle und allgemeine Bildung legen, nicht ignoriert werden. In jeder Hinsicht, auch in dieser, enthält der zentrale 18. Paragraph von Glauben und Liebe den Kern von Novalis’ politischer Auffassung. Zugleich konzentrieren sich in ihm ihre Ambiguitäten: Auf der einen Seite soll die (absolute) Monarchie den „absoluten Mittelpunkt“ darstellen, auf der anderen Seite sieht es aber doch so aus, als wäre sie selbst nur das Symbol (bzw. die bloße Allegorie) von etwas Höherem, ja eine transitorische politische Form, die nur ein „allgemeines Königtum“ des Menschen – mit einem großen M – antizipiert und vorbereitet. Denn „alle Menschen sollen thronfähig werden“.120 Der eigentliche König ist die Menschheit – mit großem M –, so daß Novalis auf einem besonders verwickelten Weg eine Art von Naturrecht aufrechterhält, das freilich nicht politisch umgesetzt werden kann, weil ja nur wenige Menschen das Gepräge ihrer naturrechtlichen königlichen Herkunft und Berufung tragen. In gewisser Weise „überbietet“ Novalis Schillers Diagnose über die Defizite der Aufklärung, indem er daraus schließt, daß es noch lange dauern wird, bis eine Gemeinschaft von gebildeten Einzelnen vorausgesetzt werden kann, während es aber unter dem Druck der Zeiten zunächst darum geht, die durch die Französische Revolution verursachte allgemeine Verunsicherung zu stabilisieren (vgl. den 21. Paragraphen: „unentbehrlich ist es jedoch, diese Krisis zu mildern“121). –––––––— 117 118 119 120 121

Novalis, Fragmente, 45. Novalis, Fragmente, § 15, 45. Ebd. 45. Ebd. 47. Ebd. 48.

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Für die Überlegenheit der Monarchie erweist sich aber bei genauerem Hinsehen vor allem ein ganz anderes Argument als entscheidend: das ästhetische. Dieses Argument ist erst vor dem Hintergrund der vorhin erinnerten Repräsentationsproblematik verständlich. Novalis verbindet es im Fragment 122 der Vermischten Bemerkungen ausdrücklich mit dem Problem der Zahl derjenigen, die den Souverän bilden: „Wo die Majorität entscheidet – herrscht die Kraft über die Form – Umgekehrt, wo die Minorität die Oberhand hat“.122 Das letzte Kriterium, das die Monarchie von der Republik unterscheidet, ist ihre Symboleignung. Der ästhetische (symbolische) Vorzug der Monarchie besteht darin, daß ein alleiniger Herrscher „ein kürzerer, schönerer Ausdruck eines Geistes als ein Collegium“123 ist, d.h. daß im Gegensatz zur allegorischen Zerstreuung, bei der alles auf alles verweisen kann, eine symbolische Konzentration erforderlich ist. Dietrich Naumann hat dies im Hinblick auf den 15. Paragraphen von Glauben und Liebe, den wir ebenfalls als den Kern von Novalis’ politischer Theorie ansehen, auf die Formel gebracht, daß die Rousseausche volonté générale ins Ästhetische umgebogen wird.124 Aufgrund dieser symbolischen bzw. „ästhetischen“ Forderung weicht freilich Novalis’ „poetisches“, d.h. symbolisches Verständnis des Politischen von der Tradition der Monarchie von Gottes Gnaden in dreierlei Hinsicht merklich ab. Erstens deutet es darauf hin, daß das monarchische System nichts anderes ist als die Realisierung des philosophischen Systems – eine zweifelsohne sowohl gewagte wie auch entscheidende Behauptung, die an dieser Stelle nicht weiter begründet wird, obwohl sie den Kern des Problems anspricht: Inwiefern kann das Bekenntnis zur Monarchie als die logische Konsequenz des philosophischen Idealismus, wie ihn die Romantiker zu überbieten sich anmaßen, betrachtet werden? Zweitens – und dies ist schon ein Teil der Antwort – beruht die Monarchie „auf der freiwilligen Annahme eines Idealmenschen“. Was auf dem religiösen Gebiet gilt, nämlich daß der Mensch in der Wahl seines Mittlers „durchaus frey sein“ muß, gilt auch für die politische Herrschaft. Sie setzt also keineswegs das Aufopfern der Freiheit voraus, sondern soll in Novalis’ Konzeption vielmehr das Ergebnis des richtig verstandenen Prinzips der Freiheit sein. Erst Hegel wird diese Demonstration zu Ende führen. Novalis begnügt sich mit dem Argument, daß „ich mir unter meinesgleichen keinen Obern wählen“ kann, also daß das Prinzip der Freiheit sich an einer Grenze stößt: an der grundsätzlichen Gleichheit aller Freiheiten, aus der keine Einstimmigkeit resultieren kann, wenn man sie nicht auf einen „absoluten Mittelpunkt“ bringt. Friedrich Schlegel hat sich hingegen 1796 in seinem „Versuch über den Republikanismus“ um eine „Deduktion des Republikanismus“ bemüht, die gleichsam ein Konkurrenzunternehmen zu Fichtes Grundlage des Naturrechts nach –––––––— 122 123 124

Ebd. 35; Hervorh. v. mir, G. R. Ebd. 45. Dietrich Naumann, Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen Aufklärung, Heidelberg, Winter 1977, 345.

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Principien der Wissenschaftslehre (1796–97) darstellt. Wie Fichte geht er von der unbedingten Freiheit des Ichs aus, die er als „reinen praktischen Imperativ“ definiert. Wie er versteht er die Politik als eine „spezifische Modifikation“ dieses Imperativs, bei der es um die gegenseitige Anerkennung der Iche geht: Der Satz: das Ich soll seyn; lautet in dieser besondern Bestimmung: Gemeinschaft der Menschheit soll seyn, oder das Ich soll mitgetheilt werden. Diese abgeleitete praktische Thesis ist das Fundament und Objekt der Politik.125

Hierzu Fichte: Das Verhältnis freier Wesen zueinander ist [...] das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen; und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln.126

Und genauso wie Fichte stößt er sich an der „Quadratur des Zirkels“, wie Novalis sie bezeichnet, die die praktische Anwendung der transzendentalphilosophischen Prämisse des absoluten Ichs nach sich zieht. Zunächst gilt der praktische Imperativ unbedingt, und zwar zugleich als ein ethischer und politischer: Politische Freiheit [ist] eine nothwendige Bedingung des politischen Imperativs, und ein wesentliches Merkmal zum Begriff des Staats: denn sonst würde der reine praktische Imperativ, aus dem sowohl der ethische als der politische abgeleitet ist, sich selbst aufheben.127

Daraus folgt auch, daß „politische Gleichheit eine nothwendige Bedingung des politischen Imperativs“ ist. Die Unbedingtheit der beiden Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit begründet die Unbedingtheit der Staatsvereinigung, die sich „von politischen Orden und Assoziationen, welche besondere Zwecke haben“ und „nur einzelne zerstreute Mitglieder“ verknüpfen, unterscheidet. Die verfassungsrechtliche Formel, die dem praktischen, sowohl ethischen als auch politischen Imperativ Folge leistet, ergibt sich gleichsam von selbst: es ist der Republikanismus: „Die Gleichheit und Freiheit erfordert, daß der allgemeine Wille der Grund aller besondern politischen Thätigkeiten sey [...]. Dies ist aber eben der Charakter des Republikanismus.“128 Das ist alles gut und schön. Wie schon Kant selbst muß aber Schlegel sofort einräumen, daß „der absolut allgemeine Wille im Gebiete der Erfahrung“ nicht existiert und daß man sich mit einem „Surrogat“ (die Formulierung, die Kant in bezug auf die Möglichkeit eines weltweiten Republikanismus im dritten Definitivartikel von „Zum ewigen Frieden“ benutzte) begnügen muß: –––––––— 125 126 127 128

Friedrich Schlegel, „Versuch über den Begriff des Republikanismus“, in: KFSA VII 15. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, in: Ders., Werke, hg. v. Fritz Medicus, Leipzig 1911, III 44. Friedrich Schlegel, Versuch über den Begriff des Republikanismus, in: KFSA VII 15. Ebd.

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Da [...] der absolut allgemeine (und also auch absolut beharrliche) Wille aber im Gebiete der Erfahrung nicht vorkommen kann, und nur in der Welt der reinen Gedanken existirt, [ist] das Einzelne und das Allgemeine durch eine unendliche Kluft von einander geschieden, über welche man nur durch einen Salto mortale hinüber gelangen kann. Es bleibt hier nichts übrig, als durch eine Fikzion einen empirischen Willen als Surrogat des a priori gedachten absolut allgemeinen Willens gelten zu lassen.129

Diesem Surrogat setzt Schlegel freilich sofort Grenzen. Einerseits darf es nicht dem Imperativ widersprechen: „So ist diese höchste fictio juris nicht nur gerechtfertigt, sondern auch praktisch nothwendig; jedoch nur in dem Falle gültig, wenn sie dem politischen Imperativ (der das Fundament ihrer Ansprüche ist) und dessen wesentlichen Bedingungen nicht widerspricht“,130 andererseits kann der Fiktion, daß der individuelle Privatwille den allgemeinen Willen ausdrückt oder repräsentiert, nur eine vorläufige Geltung zugebilligt werden: daß er „für alle künftige Generationen als Surrogat des allgemeinen Willens gelten solle, ist widersprechend und ungültig“.131 Daß eine „provisorische Regierung nothwendig seyn muß“, kann man nur insofern dulden, als sie „wider [ihr] Wissen und Wollen den Keim eines ächten Staats in sich trägt, und den Republikanismus allmählich zur Reife bringt: so könnte man ihn als einen Quasistaat, nicht als eine echte Art, aber doch als eine Abart des Staats gelten lassen“.132 Grundsätzlich gilt aber, daß „der Despotismus den Schein des allgemeinen Willens usurpirt“.133 Die Radikalität dieser Aussagen, insbesondere gegen den Despotismus und das Erbprinzip, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schlegel seine transzendentalphilosophische Deduktion als eine Fiktion versteht, genauso wie Novalis in Christenheit oder Europa und in Glauben und Liebe den Abgrund zwischen der philosophischen Forderung und der konkreten Verwirklichung durch eine Fiktion überbrückt. Wenigstens ist beim frühen Schlegel diese Fiktion noch republikanisch wie bei Kant, oder gar revolutionär wie beim Fichte der Revolutionsschriften der ersten Hälfte der 90er Jahre, während sie bei Novalis ihr Heil in der Heraufbeschwörung einer idealen Monarchie sucht. Nichtsdestoweniger offenbart sie auch bei ihm dieselbe Kluft zwischen Sittlichkeit und Moral. Das führt uns zum dritten Punkt. Drittens appelliert nämlich Novalis an die Moral – und hier klaffen die ersten zwei Prämissen (die Freiheit – die „freiwillige Annahme“ – und die Behauptung der Realisierung des philosophischen Systems) auseinander. Der moralische Anspruch greift da ein, wo die symbolische Forderung die Kluft schließen sollte, die der allegorische Titel zwischen sinnlicher Veranschaulichung und Sinn wieder geöffnet hat. Während für einen Bossuet der König seinen „repräsentativen“ Charakter von Gott – durch Gottes Gnaden – erhielt, so daß an der –––––––— 129 130 131 132 133

Ebd. 16. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Legitimität seiner Herrschaft keinen Augenblick gezweifelt werden konnte, verhält es sich bei Novalis geradezu umgekehrt: der König soll das Wesen der Herrschaft symbolisieren, um ihrem göttlichen Charakter gewachsen zu sein. Nur der vollkommene Herrscher vermag das. Was Glauben und Liebe entwirft, ist das Bild des idealen Herrschers. Ein Distichon der Blumen von 1798 vergleicht Preußen mit dem gelobten Land nach dem Verlaufen der Sintflut: Land Jenes himmlische Paar schwimmt hoch auf der Flut, wie die Taube Und der Ölzweig; es bringt Hoffnung des Landes, wie dort.134

Friedrich Wilhelm und Luise erscheinen als die Vorboten des neuen, von der alten Sünde reingewaschenen Landes nach der Sintflut. Deshalb sind die kritischen Töne – wie vorsichtig und verhüllt sie auch geäußert werden (dazu dient ja auch die „Rätselsprache“!) – unüberhörbar; offensichtlich hat sich die Zensur darüber nicht getäuscht. Der preußische König wird idealiter mit dem idealen Herrscher identifiziert, in Wirklichkeit wird er mit dem Ideal der Herrschaft konfrontiert. Wie der § 13 es schon eindeutig ausdrückt, geht es nicht um irdische, sondern um „moralische Erdhöhen“. Der letzte Satz von § 36 klingt beinahe kantisch: so wie bei Kant der moralische Mensch sich an dem gestirnten Himmel über ihm und an dem moralischen Gesetz in sich selbst zu orientieren hat, heißt es: „Uneigennützige Liebe im Herzen und ihre Maxime im Kopf“. Friedrich Schlegels Philosophische Vorlesungen von 1804–1806, die an entscheidenden Stellen die Vermutung nahe legen, daß er Novalis’sche Auffassungen sich zu eigen machte und weiter verarbeitete, stellen ein charakteristisches Dokument der idealistischen, „transzendentalphilosophischen“ Konversion zum Prinzip der Monarchie dar: „Nur der König [ist] der wahre Repräsentant der Nation – er ist der gemeinschaftliche Ausdruck des Ganzen; sein Charakter und der der Nation muß eins seyn. Dieses ist aber kein politisches, sondern ein moralisches Verhältniß, kann daher nicht übertragen werden.“135 Dieser Satz erinnert an die modernisierte Fassung des Absolutismus bei Friedrich II. Das absolutistische monarchische System „modernisierte“ Friedrich II., indem er die Berufung auf Gottes Gnaden durch die moralische Verantwortung ersetzte. Während der König im überlieferten christlichen Verständnis der Herrschaft seine Legitimität von Gott bezog, ist er nun nur noch vor sich selbst, d.h. vor seinem eigenen moralischen Gewissen verantwortlich. Für Schlegel wie für Novalis muß offensichtlich die Repräsentation dieser moralischen Forderung genügen.

–––––––— 134 135

Novalis, Fragmente, 41. Friedrich Schlegel, Philosophische Vorlesungen (1804–06), in: KFSA XIII 165; Hervorh. von mir.

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Der Appell an die Moralität nimmt im zweiten Teil von Glauben und Liebe einen so großen Platz ein, daß er durch die Verhüllung in ein Lob auf die symbolische Bedeutung des Königtums kaum ausbalanciert wird. Dieses Lob begnügt sich ja nicht, etwa darauf hinzuweisen, daß das Königtum eine von Gott gewollte Institution ist, die schon als solche den Inbegriff der moralischen Vollkommenheit darstellt. Der Maßstab einer idealen „Haushaltung“,136 an dem Novalis es mißt, hat zur Folge, daß er sich nicht mit der prinzipiellen Legitimätsbehauptung begnügt, sondern diese mit einer konkreten Realisierung konfrontiert. In § 30 überwiegt der Konjunktiv – „sollte“, „hätte“, würde“, „ließe“, „könnte“. Der Hof soll „das große Muster einer Haushaltung“ sein.137 Novalis versteht nicht, wie die Königin, die als Hausfrau für diese musterhafte Haushaltung bürgen soll, das frivole Hofleben und insbesondere den totalen Mangel an Geschmack, der in der Dekoration sowie in den geselligen Hofdivertissements (Schauspiele und Konzerte) herrscht, dulden kann. Darüberhinaus soll die Königin einem „häuslichen Wirkungskreis im großen“ genügen,138 sie soll sich als „gebildete Frau“ und „sorgfältige Mutter“ zugleich für die Erziehung, für die Verpflegung der Armen und Kranken und für die Bekämpfung der Prostitution einsetzen. Erziehung und Erhöhung der öffentlichen Gesinnung ist ebenfalls die allererste Aufgabe des Königs: „Von der öffentlichen Gesinnung hängt das Betragen des Staats ab. Veredlung dieser Gesinnung ist die einzige Basis der echten Staatsreform“.139 Die Kritik am Luxus bildet im zentralen Teil des § 36 ein entscheidendes Moment von Novalis’ Kritik nicht nur am Hof, sondern an der Gesinnung und Kultur des ganzen 18. Jahrhunderts, in dem „mit wachsender Kultur die Bedürfnisse mannigfaltiger werden“ und „grober Eigennutz zur Leidenschaft“ geworden ist. Davon geht Novalis’ Generalabrechnung mit allen politischen Theorien seiner Zeit aus. Reichtum und Luxus sind Angelegenheiten, um welche sich Novalis’ Reflexion dreht und an welchen sie sich entzündet, weil es ja beim Übergang vom prämodernen zum modernen Repräsentationssystem um nichts anderes geht als um den Stellenwert und die Funktion der Zeichen des „Luxus“ als auszeichnenden Merkmalen des sozialen und vor allem des politischen Status. Nicht eigentlich um „Reichtum“ oder um Reichtümer, etwa um deren gerechtere Verteilung, ging es dabei, sondern vor allem um den Statuswandel des in der prämodernen repräsentativen Öffentlichkeit absolut grundlegenden Ornaments. In dieser Hinsicht erscheint Novalis’ symbolische Auffassung der Herrschaft, wie gesehen, als eine radikale Neubestimmung des repräsentativen Ornaments.

–––––––— 136 137 138 139

Novalis, Fragmente, § 29. Ebd. § 29, 51. Ebd. § 27. Novalis, Fragmente, § 28, 51.

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Novalis’ recht zweideutiges Lob auf das idealisierte Königspaar unterscheidet sich deshalb auch von dem späteren Luisenkult,140 der in den Monaten vor und nach der preußischen Niederlage in Jena im Oktober 1806 entstand und in Sinngedichten, die man zweifelsohne als schlechte Ausgeburten einer politisierten Rückkehr zur barocken Allegorie ansehen darf, aus der Königin die Symbolfigur einer konservativen nationalen Regeneration machte. Charakteristisch für diese Luisenlegende sind etwa Zacharias Werners Sonett „Zueignung zur Weihe der Kraft. An Luise Königin von Preußen“ vom Ende 1806 oder Kleists Geburtstagssonett „An die Königin Luise von Preußen zur Feier ihres Geburtstags den 10. März 1810“. Zacharias Werner: Du Zier Teutoniens, sey seine Blüthe! Du bist zur Weihe deutscher Kraft erkoren: Im Schmerz ein Reich der Schönheit zu begründen!

Gefeiert wird hier eine ganz andere Blüte als in Novalis’ „Blumen“ vom Jahre 1798. Zur Legende wird Luise nicht als „gebildete Frau“ und „sorgfältige Mutter“, auch nicht nur als Inbegriff der Schönheit und als Verheißung des Friedens (vgl. „Land“) und des irdischen Paradieses, sondern vor allem, weil die zarte Unschuld sich als Staatsfrau enthüllte: um sie und um Prinz Louis Ferdinand versammelte sich die Opposition gegen die vorsichtige Politik des Königs. Luise begab sich sogar auf das Schlachtfeld und traf Napoleon. Kurzum: sie gehörte zu den „Falken“. Daß sie vorzeitig am 19. Juli 1810 verstarb, vollendete die Legende. Brentano, Arnim, Fouqué, wiederum Zacharias Werner, aber auch Adam Müller und andere mehr verfaßten Totenklagen. Nicht von ungefähr wurde das Eiserne Kreuz im März 1813 an Luises Geburtstag gestiftet. Luise wurde zum symbolischen Schutzengel der Befreiungskriege, wie aus Arnims „Stiftungslied“ zur Gründung der christlich-deutschen Tischgesellschaft im Januar 1811 hevorgeht: Nimmer sollen Fremde herrschen Über unsern deutschen Stamm, Allen wilden Kriegesmärschen Setzt die Treue einen Damm. Unsres Volkes treue Herzen Bindet eine Geisterhand, Und wir fühlen Sie in Schmerzen, Sie, die uns von Gott gesandt, Daß sich Glaub’ und Liebe finde, Und in Hoffnung sich verkünde, Ewig lebt die Königin.

Auch Adam Müller unterzieht in seiner Schrift „Zum Gedächtnis der verewigten Königin von Preußen“ (1810) die Novalisschen Prinzipien Glauben und Liebe einer ähnlichen politischen Instrumentalisierung, und zwar ganz ausdrücklich unter Berufung auf Novalis, dessen frühen Tod er mit demjenigen von Luise in Verbindung bringt: –––––––— 140

Vgl. hierzu Hermann Kurzke, Romantik und Konservatismus, 173–178.

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Nicht ohne Wehmut erinnern wir uns des unvergeßlichen Novalis, der vom Auslande her Sie mit solchen Ahndungen bey Ihrer Thronbesteigung begrüßte, und bald darauf frühe vollendet, wir möchten glauben, als ein Herold seiner Königinn, Ihr in das Land vorangieng, wohin Sie jetzt gefolgt ist.141

Daß diese Instrumentalisierung – mitsamt der Rehabilitierung der Rhetorik und der Allegorie, die sie impliziert – dem wie auch immer ungedeckten Novalisschen Experiment einer „Politik der Rhetorik“ nicht Rechnung trägt, sondern wortwörtlich seine Beerdigung bedeutet, hoffen wir, plausibel gemacht zu haben.

–––––––— 141

Adam Müller, Vermischte Schriften, Wien 1812, Microfiche-Ausg. München 1994, I, 6.

Stefan Nienhaus

Anmerkungen zum Fehlen des ‚Knigge‘ in Knigges Über den Umgang mit Menschen

I Ce qu’ils nomment un être supérieur est un être qui s’est trompé. Pour s’étonner de lui, il faut le voir, – et pour être vu il faut qu’il se montre. Et il me montre que la niaise manie de son nom le possède. Ainsi, chaque grand homme est taché d’une erreur. Chaque esprit qu’on trouve puissant commence par la faute qui le fait connaître. En échange du pourboire public, il donne le temps qu’il faut pour se rendre perceptible, l’énergie dissipée à se transmettre et à préparer la satisfaction étrangère. (Paul Valéry, Monsieur Teste)

Wer heute einen Buchhändler nach dem „Knigge“ fragt, wird ohne Zögern sogleich zu einer eigenen Abteilung geführt, wo er von Der neue große Knigge. Gutes Benehmen und richtige Umgangsformen über den Ess- und Tischknigge. Nie wieder peinlich! (aus der Reihe Business clever leben) bis zu Darf man per E-mail kondolieren? Der Knigge des 21. Jahrhunderts Ratgeberbücher mit praktischen Hinweisen und Tricks für das richtige Benehmen in fast allen Lebensbereichen finden kann. Gibt man einem Chinesen bei der Begrüßung die Hand? Wendet man sich am Tisch zuerst an den rechts sitzenden Nachbarn oder an den zur Linken? Darf man bei einer Verhandlung die Rede des Partners unterbrechen? – Alles wohl wichtige Tips, um Mißverständisse und Fettnäpfchen zu vermeiden, und alle finden sich in irgendeinem ‚Knigge‘ – nur in dem Buch, das zur Chiffre für diese Benimmbücher geworden ist, wird man davon wenig oder fast nichts entdecken. Nahezu alle Forscher, die sich mit dem Umgang mit Menschen beschäftigt haben, betonen daher zunächst einmal, welches Buch der Freiherr Adolph von Knigge nicht schreiben wollte, und daß es sich bei all den späteren ‚Knigges‘ eben um Produkte einer jene ursprüngliche Intention verfälschenden Wirkungsgeschichte handele. Knigge hatte keineswegs die Absicht gehabt, ein „Komplimentierbuch“1 zu verfassen, sondern – so unterstreicht Gert Ueding – „ein Erziehungsbuch […], das den Moral- und Tugendbegriffen des Bürgertums und damit auch seinen sozialen und politischen Vorstellungen verpflichtet die Ausbildung des bürgerlichen Individuums organisieren sollte“.2 Dem ungleich höheren Anspruch des ‚Urknigge‘ entspricht auch ein solider Unterbau philoso–––––––— 1 2

Adolph Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen, hg. v. Gert Ueding, Frankfurt a.M. / Leipzig 2001 (Geb. Sonderausgabe der Ausg. Frankfurt a.M. 1977), 24. Gert Ueding, Die Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit. Nachwort zu Knigges „Über den Umgang mit Menschen“, in: Knigge, Umgang, 439.

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phischer, rhetorisch-humanistischer Tradition. Nicht etwa sollen Verhaltensregeln vermittelt werden, die auch Täuschung, Betrug und Lüge zum Erfolg verhelfen könnten, sondern umgekehrt geht es darum, dem redlichen, guten Menschen in einer nicht unbedingt moralisch grundierten Gesellschaft Geltung zu verschaffen. Knigges Bildungsideal basiert auf bürgerlichen Moralbegriffen, verknüpft diese allerdings mit einer Wiederentdeckung einer sich auf empirische Daten berufenden Rhetorik. Er weiß es aus der Lektüre der Alten, vor allem aber aus eigener – oft schmerzhafter und zugegebenermaßen oft vom Mißerfolg geprägter – Erfahrung, daß nur die ausgesprochene und zwar stilvoll und dem Ton der Hörer angemessen formulierte Wahrheit wirken und ihren Vertreter ins richtige Licht setzen kann. Das offene ehrliche Wort kann Wunder wirken – es vermag je nach Stimmung, Situation und Verletzlichkeit desjenigen, an den es in der besten Absicht gerichtet ist, genauso gut als unhöfliche Aggression auf peinlich berührte oder bestenfalls taube Ohren treffen. Den wichtigen Hinweis auf Knigges explizite Anknüpfung an Christian Wolffs frühaufklärerische Ethik Vernünfftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen zu Beförderung ihrer Glückseligkeit kann man vielleicht, das Verhältnis der beiden Grundprinzipien umkehrend, zuspitzen: während Wolff schon „Weltklugheit nicht ohne moralische Grundlage anerkennen“3 mochte, versuchte Knigge seinen Zeitgenossen die Einsicht zu vermitteln, daß Moral ohne Weltklugheit zu solipsistischer Wirkungslosigkeit verdammt bleibt. Rechtschaffenheit vorausgesetzt, fehlt es am „esprit de conduite“, an der Kunst sich bemerkbar, geltend, geachtet zu machen, ohne beneidet zu werden; sich nach den Temperaturen, Einsichten und Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu sein; sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft stimmen zu können, ohne weder Eigentümlichkeit des Charakters zu verlieren, noch sich zu niedriger Schmeichelei herabzulassen.4

Die Moral entnimmt Knigge den ethischen Idealen des Bürgerstandes, ihre Prinzipien von Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, Treue usw. werden eher nur nebenbei und als bei seinem biedermännischen Publikum allgemein geteilte erinnert; daß er aber ebendiesem Bürger eine Anleitung vermitteln will, wie er sich Geltung verschaffen könnte, verleiht dem 1788 erschienenen Buch eminent politische Implikationen. Seinen ungeschickten, provinziell dünkelhaften und eifersüchtig selbstbezogenen Mitmenschen der zerstückelten deutschen Kleinstaaterei stellt Knigge das revolutionäre Ideal einer nationalen Geselligkeit entgegen: „Sein gesellschaftsbewußter, überregionaler Bürger ist die Präfiguration einer deutschen Nation, eine Präfiguration mit ausgesprochen republikanischer, ständeübergreifender

–––––––— 3

4

Karl Heinz Göttert, Nachwort zur Ausgabe von: Adolph Freiherr Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Stuttgart 1999, in: Wirkungen und Wertungen. Adolph Freiherr Knigge im Urteil der Nachwelt (1796–1994), hg. v. Michael Schlott, Göttingen 1998, 493. Knigge, Umgang, 23 f.

Anmerkungen zum Fehlen des ‚Knigge‘

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Tendenz.“5 Seinen in den Jahren der Französischen Revolution verfaßten Roman Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien leitet er mit folgenden programmatischen Sätzen ein: „Glückseligkeit ist Lebens-Genuß, und um des Lebens genießen zu können, muß man frey sein.“6 Das nur notdürftig in die Erzählform gekleidete politische Pamphlet enthält einen ausführlichen Verfassungsentwurf, dessen Skizzierung einer konstitutionellen Monarchie Knigge sogar der Pariser verfassungsgebenden Versammlung empfehlen wollte7 und die ihm als Verfassungsgrundlage für den noch zu realisierenden deutschen Nationalstaat vorschwebte. Sein Ausgangspunkt ist jedenfalls mit der prinzipiellen Abschaffung von Erbmonarchie und des Erbadels überhaupt revolutionär genug. Die zum Glück in den heute greifbaren Ausgaben wieder zitierbaren, von den früheren Bearbeitern des Umgangs hingegen nach und nach vollständig getilgten oder sinnentstellten Bemerkungen über die an die Volkssouveränität gebundene Macht der Herrschenden sprechen eine eindeutige Sprache: Nütze aber die Zeit ihrer Gunst, um sie zur Gerechtigkeit, Treue, Wahrheit und Menschenliebe zu ermuntern. Stimme ihnen nicht bei, wenn sie je vergessen wollen, daß sie, was sie sind und was sie haben, nur durch Übereinkunft des Volks sind und haben; daß man ihnen diese Vorrechte wieder nehmen kann, wenn sie Mißbrauch davon machen; daß unsre Güter und unsre Existenz nicht ihr Eigentum, sondern daß alles, was sie besitzen, unser Eigentum ist, weil wir dafür alle ihre und der Ihrigen Bedürfnisse befriedigen und ihnen noch obendrein Rang und Ehre und Sicherheit geben […]; endlich, daß in diesen Zeiten der Aufklärung bald kein Mensch mehr daran glauben wird, daß ein einziger, vielleicht der Schwächste der ganzen Nation, ein angeerbtes Recht haben könnte, hunderttausend weisern und bessern Menschen das Fell über die Ohren zu ziehn, daß sie aber ohne Trabanten und Wachen ruhig schlafen können, wenn das dankbare Volk, dessen treue Diener sie sind, sie liebt und für das Wohl der Edlen Segen vom Himmel erfleht.8

Als am 14. Juli 1790 in Hamburg der Kaufmann Georg Heinrich Sieveking zu einem Fest zum Jahrestag der Französischen Revolution einlädt, ist Knigge dann als einer der wenigen Männer nichtbürgerlicher Herkunft dabei.9 Mit seiner Entscheidung, als Adeliger die journalistisch-schriftstellerische Arbeit als existenzsichernden, bürgerlichen Brotberuf zu wählen, machte Knigge für sein persönliches Leben Ernst mit seinen politischen Überzeugungen. Doch gerade in seinen enttäuschenden Erfahrungen beim radikalen Bruch mit den Vorurteilen seiner aristokratischen Ursprungskaste, in seinen trotz höchsten Fleißes als freier Autor kaum zu überwindenden Finanzproblemen (die erst in seinen letzten Lebensjahren – wie im Falle Lessings – durch eine staatliche Anstellung überwunden werden können), wird Knigge die ernüchternde Bestätigung der Ansicht gefunden haben, daß politische Ideale und Utopien zwar ein unverzichtbares Element aufgeklärten Denkens sind, sich im Überle–––––––— 5

6 7 8 9

Gert Sautermeister, Schöne Geselligkeit. Die Stiftung einer urbanen Kultur von Knigge bis Schleiermacher, in: Adolph Freiherr Knigge. Neue Studien, hg. v. Harro Zimmermann u. Mitarb. v. Walter Weber, Bremen 1998, 50. Adolph Freiherr Knigge, Gesammelte Werke, hg. v. Paul Raabe, München 1993, XIV 159. Vgl. Ingo Hermann, Knigge. Die Biographie, Berlin 2007, 231. Knigge, Umgang, 300f. Vgl. Hermann, Knigge, 175.

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benskampf des Alltags hingegen jene gedanklich wohl schon längst überholte gesellschaftliche Realität nicht ignorieren und umgehen läßt. Machtwillkür, Arroganz, Hochmut und Ignoranz sind die bestimmenden Koordinaten einer Welt, in der sich der Bürger mit Weltklugheit durchlavieren muß, ohne seine moralischen Überzeugungen gänzlich zu verraten. In seinem tief pessimistischen Tableau der deutsche Gesellschaft(en)10 läßt Knigge keine Hoffnung aufkommen, daß vor allem unter den „Großen“ ein anständiger Charakter mehr als nur eine erfreuliche Ausnahme bilden könnte: nicht aufgrund persönlicher Schuld, sondern aufgrund einer verfehlten Erziehung, die sie „verwahrlost, von Jugend auf durch Schmeichelei verderbt, durch andere und sich selbst verzärtelt“.11 Der Umgang mit derart seelisch und moralisch verkrüppelten, durch ihre Macht aber gefährlichen Menschen kann nicht anders als durch höchste Vorsicht bestimmt sein. Bei der Lektüre dieser Passagen des Umgangs mit Menschen stellt sich unwillkürlich die Erinnerung an das Diktum Adornos ein: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“! Die angeratene Verbergung der persönlichen Ansichten und Urteile tendiert zur Verstellung, die rhetorische Anpassung an den jeweiligen (Hof-)Ton setzt sich der Gefahr aus, zur schmeichelnden Unterwürfigkeit zu degenerieren. Der Autor ist sich dessen klar bewußt, seinen pragmatischen Hinweisen stellt er daher immer wieder mahnende Erinnerungen an die Verteidigung der moralischen Integrität zur Seite, versucht sich stets aufs neue in dem schwierigen Geschäft, zwar einerseits die nützliche und zum sozialen Erfolg führende bewegliche Anschmiegsamkeit an der Stelle der spießbürgerlichsteifen Unbeholfenheit zu empfehlen, doch andererseits vor der Gefahr der Einschläferung des moralischen Bürgergewissens zu warnen. Daß dies eine Wanderung auf einem äußerst schmalen Grat ist und daß ein höfliches Benehmen nur gar zu leicht in ein höfisches zurückfallen kann, hat schon Gert Ueding als eine „gewisse Widersprüchlichkeit“12 in Knigges Argumentation angemerkt, die allerdings durch die unüberbrückbaren Standesschranken der damaligen deutschen Gesellschaft bedingt sei: Knigge rät, der Hofgesellschaft möglichst fernzubleiben und anständigere Geselligkeiten vorzuziehen, aber da er die –––––––— 10

11 12

Im Positiven wie im Negativen will Knigge ja ein Ratgeberbuch für den Umgang mit Menschen im allgemeinen, d. h. also u.a. auch aller Stände schreiben. Entnimmt er seine Moralprinzipien nun dem mittleren Stande, so läßt er doch keinen Zweifel daran, daß auch dieser positive Wertekanon nur in Ausnahmefällen vom Bürger tatsächlich gelebt wird. Er beklagt in seinen Einleitungskapiteln den mangelnden Einfluß der „Kaufmannschaft“ auf „die übrigen Klassen“ (Knigge, Umgang, S. 25), denn das „Ideal“ (folgende Zitate ebd., 367) eines großen Kaufmanns ist ihm gleichbedeutend mit einem Mann „von feinem, vorausschauendem, weit umfassendem Geiste“ und „von edlen, erhabnen Gesinnungen“, d. h. man hat es in diesen Fällen „mit weisen und guten Menschen“ zu tun. Knigge betont, daß er davon „in Frankfurt am Main und den benachbarten Gegenden deren einige kennengelernt“ – eben: „deren einige“, und von diesen sind dann weit entfernt jene Kaufleute „von gemeinem Schlage“, vor denen man sich gleichermaßen, wenn auch nach anderen Regeln, in Acht nehmen muß wie vor dem falschen Hofmann. Knigge, Umgang, 284. Ueding, Kunst, 450.

Anmerkungen zum Fehlen des ‚Knigge‘

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bestimmende Rolle jener bis hin zu ihren karikaturartigen Ausprägungen in den kleinen deutschen Residenzstädten ja nicht einfach wegleugnen kann, so möchte er das Heulen der Wölfe zumindest in die Richtung auf „Bescheidenheit, Höflichkeit, Delicatesse“ und „Grazie“13 lenken – und damit im Grunde zurück zum alten Castiglionischen14 Ideal des vollkommenen Hofmannes, der sich mit Leichtigkeit, Anmut, Grazie und Zwanglosigkeit auf dem Parkett der höfischen Geselligkeit zu bewegen weiß.

II Wenn Knigge mit einem Hauch von Selbstkoketterie einen anspruchsvolleren Titel wie „Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit andern Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen“ als „prahlerisch“15 ablehnt, so liegt der wahre Grund darin, daß ein großer Teil seiner Ratschläge doch eher auf eine Vermeidung von unangenehmen Erlebnissen als auf die Bereitung von Glückserfahrung abzielt. Dem Anspruch, mit seinen auf dem „Grundpfeiler Moral und Weltklugheit“ sich stützenden Hinweisen tatsächlich fast alle Lebensbereiche und Situationen des geselligen Umgangs zu berühren, sucht er hingegen mit Aufmerksamkeit auf mitunter marginal erscheinende Details gerecht zu werden. Er betont, daß er keineswegs „bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit“ aufstellen wolle, auch wenn er dann nicht wenige davon gibt, vor allem im Bereich der geselligen Konversation.16 Im Kapitel über das Reisen erhält der Leser eine Menge Tips über die kleinen betrügerischen Tricks der Postillons und etwa den Rat, daß man ihnen „zwar nicht übertriebne, aber doch nach Umständen reichliche Trinkgelder“17 geben –––––––— 13 14

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Ebd. Bezüglich des unmittelbaren Rückgriffs Knigges auf Castigliones „Cortegiano“ weist Bonfatti auf Stefano Guazzo und Christian Thomasius als weitere Quellen und vermittelnde Zwischenstufen hin (vgl. Emilio Bonfatti, La „Civil Conversazione“ in Germania. Letteratura del comportamento da Stefano Guazzo a Adolph Knigge 1574–1788, Udine 1979). Dies und die folgenden Zitate: Knigge, Umgang, 10. Wenn Knigge zu einem lakonischen Sprechen rät, „das heißt: die Gabe mit wenig kernigen Worten viel zu sagen […], und dann wieder, zu einer anderen Zeit, die Geschicklichkeit, einen nichtsbedeutenden Umstand durch die Lebhaftigkeit der Darstellung interessant zu machen“ (Knigge, Umgang, S. 49), so vollzieht er damit eine auf die Ausgleichung der Extreme zielende Neuinterpretation des humanistischen Ideals des Lakonismus, nach welchem der Fürst kurz und knapp seinen Rang in befehlender Rede darzustellen hatte, auf die gesellige Beredsamkeit, in der es nun darauf ankomme, sowohl die aphoristischsentenzhafte Verkürzung als auch langweilige Ausschweifung gleichermaßen zu vermeiden (vgl. Emilio Bonfatti, Allocuzioni, anafore e laconismi in „Über den Umgang mit Menschen“ di Adolph Freiherr von Knigge, in: Le elissi della lingua, hg. v. Giulia Cantarutti, Bologna 2006, 52). Knigge, Umgang, 269.

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Stefan Nienhaus

solle, ob und wann es angebracht sein kann, im Wirtshaus das Tagesgericht oder nach der Karte zu essen usw. Diese Stellen vervollständigen ein historisches Sittengemälde des ausgehenden 18. Jahrhunderts: Die detaillierten Ratschläge zu den Bereichen korrekten und Peinlichkeiten vermeidenden Benehmens bei Tisch, bei der Begrüßung, im Bereich gestischen Ausdrucks allgemein – dem Hauptgegenstand der heutigen ‚Knigges‘ – sind hingegen auf knapp zwei Seiten beschränkt, denn: „Leuten von gewissem Stande und einer nicht ganz gemeinen Erziehung ist das in der ersten Jugend schon eingeprägt worden“.18 Es drängt sich der Verdacht auf, daß Eichendorff mit seinem insgesamt höchst ungerechten Urteil: Knigge habe nur „die höflichen Bücklinge und diplomatischen Kunstgriffe des geselligen Egoismus ganz wacker porträtiert“,19 zumindest in seinem ersten Teil nicht ganz falsch liegen könnte. Die Kürze und auch die Unordnung der Anmerkungen zu den „Regeln des Anstands“ sind Indiz dafür, wie wenig Lust der Autor verspürt, sich dazu weiter auszulassen. Dies ist aus mindestens zwei Gründen erstaunlich: Knigge schreckt sonst keineswegs auch vor skurrilen Ratschlägen und Kleinigkeiten zurück (so rät er beispielsweise, die Kutscher, die auch im Stadtgemenge stets recht schnell fahren, nicht zu schelten, denn sie erprobten somit auf den gepflasterten Wegen nur die Solidität des Gefährts); er wird nicht müde, das Ungehobelte, Ungeschickte, Steife oder, wie er sagt, „Bocksbeutelige“ seiner Landsleute zu denunzieren: Wie kommt er also zu seiner Sicherheit, daß man gerade die feine Erziehung voraussetzen könne? Biographisch ist letztere Frage natürlich sofort mit dem Hinweis auf Knigges eigene adelige Erziehung beantwortet: War er also tatsächlich davon überzeugt, daß diese dann trotz aller Zweifel an der überholten Führungsrolle des Adels einfach das Modell bleiben müsse, an welchem der Bürger schickliches Benehmen abzulesen habe? Durch die von der Forschung unterstrichene Bindung an das humanistische Ideal des Hofmannes der Renaissance wird dies bestätigt. Doch gerade im Bereich der Mimik, der Gebärdensprache und Körperhaltung kommen Bedenken auf, die mit dem Hinweis auf Knigges Rezeption des emphatischen Naturbegriffs Rousseaus zu begründen sind. Die Einleitung zum Kapitel „Über den Umgang mit Hofleuten“ liest sich als ganz aus Rousseauscher Perspektive verfaßte Philippika gegen den falschen „Ton“ der vermeintlich „feine[n] Lebensart“: Entfernung von Natur; Gleichgültigkeit gegen die ersten und süßesten Bande der Menschheit […] Kälte gegen alles, was gut, edel und groß ist; […] Vorurteile aller Art; Abhängigkeit von den Blicken der Despoten und Mäzenaten; […] Falschheit, Untreue, Verstellung, Eidbrüchigkeit, Klatscherei, Kabale, Schadenfreude, Lästerung, Anekdotenjagd; lächerliche Manieren, Gebräuche und Gewohnheiten – das sind zum Teil die herrlichsten Dinge, welche unsre Männer und Weiber, unsre Söhne und Töchter von dem liebenswürdigen

–––––––— 18 19

Ebd. 64. Joseph von Eichendorff, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands I, in: Werke, München 1976, III 725.

Anmerkungen zum Fehlen des ‚Knigge‘

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Hofgesindel lernen – das sind die Studien, nach welchem sich die Leute von feinem Tone bilden.20

Während also in den übrigen Bereichen der geselligen Beredsamkeit die Moral und, damit verbunden, die Warnung vor der Verleugnung der eigenen Natur als Korrektiv für die Anpassung an das Betragen der weltklugen Vornehmen eingebaut ist, scheint Knigge dies im Bereich des Anstands im engeren Sinne nicht notwendig zu sein: „Der Anstand und die Gebärdensprache sollen edel sein; man soll nicht bei unbedeutenden, affektlosen Unterredungen wie Personen aus der niedrigsten Volksklasse mit Kopf, Armen und anderen Gliedern herumfahren und um sich schlagen“.21 Welche Gebärden die gute Sitte vorschreibt, weiß man eben, wer sich einer ausladenden Gestik bedient, disqualifiziert sich sozial. Doch während bei den sprachlichen Äußerungen von übertrieben zeremoniellem Sprechen als „konventionelle[m] Gewäsche“22 abgeraten wird  allerdings nur, wenn es sich eben an jene „niedrigeren Volksklassen“ richtet, die dergleichen nicht gewöhnt seien! , so fehlen dergleichen Hinweise bei Gestik und Mimik gänzlich. Bemerkungen, die sich auf die Kontrolle des Gesichtsausdrucks beziehen, empfehlen im Umgang mit Hofleuten das Gegenteil eines offenen Blicks; die Miene dürfe nichts von den wahren Gedanken und Gefühlen durchscheinen lassen, „weder Verwunderung noch Freude, noch Widerwillen noch Verdruß“: ein echtes Poker-Face, denn „sonst wird Dein Name leicht kompromittiert“!23 Einzig in den wenigen Sätzen, die sich ausdrücklich an diejenigen richten, die unfähig sind, sich dem Ton der „großen Welt“ anzupassen, vertritt Knigge schließlich eine Position, die man sich von ihm klarer und eindeutiger erwartet hätte: Anstatt schlecht zu imitieren, rät er zu „einem ungezwungenen, natürlichen und verständigen Betragen, Anstande und Anzuge“: „Sei also einfach in Deiner Kleidung und in Deinen Manieren, ehrlicher Biedermann. Sei ernsthaft, bescheiden, höflich, ruhig, wahrhaftig.“24 Dies gilt, wie gesagt, freilich nur für den, der sich sonst in den höfischen Ton nicht finden kann. Bei Kleidung, Anstand und Gebärde bleibt der Leser des Umgangs auf den recht schillernden Begriff der „feinen Erziehung“ verwiesen. Dabei hätte Knigge sich leicht auf ein Vorbild berufen können, das souverän zeigt, wie man auch über Gestik und Körpersprache kritisch und maßgebend diskurrieren kann, ohne in die Gefahr zu geraten, ein „Komplimentierbuch“ zu schreiben: Ein knappes Jahrzehnt vor dem Erscheinen des Umgangs veröffentlicht Lichtenberg im Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen fürs Jahr 1779 eine Serie von Kupferstichen, für die er sich von Chodowiecki erbeten hatte, „Natur und Affektation in verschiedenen Auftritten menschlichen Lebens, aus seinem Schatz von Beobachtungen gezogen […], neben einander zu stellen.“25 –––––––— 20 21 22 23 24 25

Knigge, Umgang, 313f. Ebd. 65. Ebd. 308. Ebd. 327. Ebd. 316. Georg Christoph Lichtenberg, Handlungen des Lebens. Erklärungen zu 72 Monatskupfern von Daniel Chodowiecki, Stuttgart 1971, 33.

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Zusammen mit Lichtenbergs Kommentar, mit dem er seine herausragenden Hogarth-Interpretationen antizipiert, stellt diese Serie, die im Taschenbuch des darauffolgenden Jahres fortgesetzt wurde, eine einzigartige populäre Bilderbuchsatire dar, die gekünsteltes, an französisch-höfischen Vorbildern orientiertes Betragen karikativ einem emphatisch als „deutsches“ bezeichneten, einfachen, redlichen, „biedermännischen“, ungeschnörkelten, sprich: „natürlichen“ entgegengesetzt. Die Kritik an „affektierter“ Erscheinung und übertriebenem Auftreten verharrt in den meisten Stichen keineswegs bei einer Anprangerung allgemein menschlichen Fehlverhaltens, sondern erhält durch die äußeren Requisiten der Kleidung und des Ambiente eine eindeutige polemische Stoßrichtung.

Abbildung 1: Daniel Chodowiecki: Die Unterredung

Lichtenbergs Kommentar macht – z.B. in seiner Erläuterung des dritten, Die Unterredung / La conversation betitelten Blattes (vgl. Abbildung 1, linke Seite)  vor allem auf diese Einheit von Gestik und Ort aufmerksam: Die Dame ganz in der rührenden Stellung einer Didone abbandonata, die mit den schönen Fingern der einen Hand ihre Zärtlichkeit in ein Recitativ spinnt, und mit der andern über Liebe klagt, als wäre Liebe Seitenstich, fühlt sich ganz und allein hier, so gut wie vor dem Spiegel, aus dem sie alles gelernt hat. Eben so vergnügt ist der männliche Geck, der ihr gegen übersteht, mit sich selbst. Aus der Lage der Schultern und Hände sieht man, dass er sich im Genuß seiner Thaten befindet […]. Er kann in seiner Vorstellung nicht höher, und alles Bestreben seines Körpers, sie wo möglich noch zu überflügeln, ist vergeblich […]. In dem Schnitt der Hecke dieses Paradieses hat uns der Künstler eben dieselbe Natur darge-

Anmerkungen zum Fehlen des ‚Knigge‘

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stellt, die dessen Bewohner belebt, sprächen sie nun noch überdas ein gebrochenes Französisch, so wäre die Scene vollkommen modern.26

Beim kontrastierenden vierten Blatt (vgl. Abbildung 1, rechte Seite) beschränkt sich Lichtenberg auf den lapidaren Satz: „Dieses sind Deutsche, sprechen deutsch, sehen sich und verstehen sich.“27 Hier ist die Kleidung (ja auch die Haartracht, für die damalige Zeit jedenfalls) schlicht, die Gestik mit der nur leicht erhobenen und entgegengestreckten, diskursbegleitenden Hand des Mannes und den übereinandergelegten Händen der Dame, den sich kreuzenden Blicken und der entspannten Beinstellung, gleichfalls zurückhaltend und einfach; und diese „Unterredung“, die dem höfischen solipsistischen Selbstgespräch den Dialog gegenüberstellt, spielt sich in der freien Natur unter einem mächtigen, unbeschnittenen Baum ab. Chodowiecki und Lichtenberg legen im beschränkten Rahmen des Kalenders selbstverständlich kein auf Vollständigkeit abzielendes Lehrbuch „natürlichen“ Verhaltens vor, aber ihr vom „Unterricht“ über den „Gruß“ bis zur „Reitbahn“ reichender Bilderbogen liefert ein recht umfangreiches Panorama der verschiedensten alltäglichen Situationen, in denen Menschen als Begleittext der Rede oder auch ganz ohne Worte durch ihre Gestik und Kleidung miteinander sprechen bzw. „affektiert“ einander vorführen. An diese Aufmerksamkeit auf die äußere Erscheinung, die polemisch das Bürgerlich-Schlichte dem HöfischVerbogenen kontrastiert, hätte Knigge anknüpfen können. Daß er dies nur vereinzelt tut, mag aus jener Angst erklärt werden, eben auf den ‚Knigge‘ reduziert zu werden, der unserem heutigen Lesepublikum einzig noch geläufig ist. Vielleicht sollte aber auch nicht vergessen werden, daß wir gerade in Kleidung, Gestik und Mimik, in unserem ganzen äußerlichen Auftreten tief geprägt sind von unseren frühesten Erziehungseindrücken – und der „freie Herr Knigge“ mochte (oder konnte) eben doch wohl die in seinen langjährigen Erfahrungen an den Residenzhöfen vom „Freiherrn“ mühsam eingeübten Konventionen, seine eigene „feine Erziehung“, nicht mit der gleichen unbarmherzig kritischen Elle messen wie der Göttinger Professor. –––––––— 26 27

Lichtenberg, Handlungen, 37f. Lichtenberg, Handlungen, 38. Für den „Taschen Calender“ von 1794 entwirft Chodowiecki nochmals eine sechs Kupfertafeln umfassende Serie von Alltagssituationen (für den Hinweis auf Chodowiecki danke ich Michael Krauskopf herzlich): „Freundschaft“, „Teilnahme“ und „Almosen“. Der Kommentar, diesmal von ihm selbst verfaßt, unterstreicht ganz im Lichtenbergschen Geist den Kontrast von Natur und Künstlichkeit, die sich auch in der Landschaft spiegelt: „(1) Die Freundschafts-Versicherung aus dem Munde der reinen Menschen-Natur; ein einfaches Händegeben, alles ohne Kunstzwang und conventionelle Entweihung, gleich dem Gebüsche, das hier allein Zeuge ist. (2) Hier der Contrast. Die Bäume stehen da in Reihe und Gliedern, und ein Paar Herren und ein Paar sogenannte Herzen machen ihr Exercitium auch. […] Wären doch die Bäume Citronen- oder Brod- oder Zimmtbäume, aber es sind Deutsche Linden, und die Scene von dem Künstler wirklich beobachtet worden!!“ (Goettinger Taschen Calender vom Jahr 1794. Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen, hg. v. Georg Christoph Lichtenberg, Göttingen 1794 (Nachdr. Mainz 1993), 215).

Thomas Schirren

Hermeneutik und Rhetorik: „Man kann über alles reden, und alles, was einer sagt, sollte man verstehen“1

Problemstellung Hermeneutik und Rhetorik2 sind ursprünglich Adjektive (ĭÍʦ˥©À§ÈĎ,3 ȦÀ¨Í§ÈĎ4), die auf das Nomen ÀŧÃ˦ (techne) bezogen sind. Hieran zu erinnern ist nicht philologische Besserwisserei, sondern zeigt das Gegenüber auf, von dem Gadamers philosophische Hermeneutik ihrem Selbstverständnis nach sich paradoxer Weise abgrenzen will: nämlich davon, eine Kunstlehre zu sein. Denn da es eine Kunstlehre nach antikem Verständnis nur geben kann, wenn diese auf einem Regelsystem gegründet ist, würde dies bedeuten, daß auch die philosophische Hermeneutik über ein solches System lehrbarer und anwendbarer Regeln verfügt. Und so klar dies die Praktikabilität einer (Hilfs)disziplin ausmacht, nämlich einfach zu vermitteln und anwendbar zu sein, so entschieden hat sich die philosophische Hermeneutik von diesem Anspruch losgesagt und geradewegs behauptet, ihr eigentliches Anliegen, das Verstehen und Auslegen, sei nicht durch Regeln zu lernen oder gar automatisierbar. Diese Behauptung leitet die Emanzipation einer vormals eher als Hilfsdisziplin in Theologie, Jurisprudenz und Philologie fungierenden Fertigkeit zu einer Philosophie ein, die sich gegen das Diktat einer ihr unangemessen erscheinenden Methode naturwissenschaftlicher Erkenntnis verwahren will. Gadamer hat in Wahrheit und Methode5 (im folgenden WuM) immer wieder an die Rhetorik erinnert, die –––––––— 1

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3 4 5

Eine frühere Version habe ich auf dem Kongreß des Philosophischen Seminars der Universität Heidelberg Die Zukunft der Hermeneutik am 10.11.2002 vorgetragen. Ich danke den damaligen Diskutanten insbesondere Rüdiger Bubner (†), Jens Halfwassen und Reiner Wiehl. Glenn W. Most hat unter dem Titel Rhetorik und Hermeneutik. Zur Konstitution der Neuzeit (Antike und Abendland 30 [1984] 62–79) versucht, die Verfallsgeschichte der Rhetorik als Folge des Aufstiegs der Hermeneutik zu erklären und darin zugleich ein Konstitutivum der Moderne erkannt. Heidegger kommt dabei nicht in Betracht, Gadamer nur am Rande (68–69 mit Anm. 11); gleichwohl erweist sich das gedankliche Konzept als vollständig der hermeneutischen Philosophie Gadamers zugehörig. Most verkannte damals, wie sehr die historische Wissenschaft überhaupt in eine Legitimationskrise gelangt ist und mit ihr auch die Hermeneutik; gegenwärtig ist die Rhetorik längst aus dem todesähnlichen Schlaf erwacht, in den sie solche Analyse singen wollte. Platon, Politikos 260 d. Platon, Gorgias 448 d. Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 5., durchgesehene und erweiterte Aufl., Tübingen 1986.

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Thomas Schirren

Ja, wie das Schöne ein Art Erfahrung ist, die wie eine Bezauberung und ein Abenteuer sich innerhalb des Ganzen unserer Erfahrung hervor- und aus ihm heraushebt und eine eigene Aufgabe der hermeneutischen Integration stellt, ebenso ist offenbar auch das Einleuchtende immer etwas Überraschendes, wie das Aufgehen eines neuen Lichtes, durch das sich der Bereich dessen erweitert, was in Betracht kommt.13

So sind in kühner Weise der metaphysische Begriff des Schönen, als des „Hervorscheinendsten“14 (ĦÈϤËŧÎÀ¤À¨Ë), und der Begriff des Wahrscheinlichen verbunden, um den Ereignischarakter philosophischer Hermeneutik zu konstituieren. Das solchermaßen Einleuchtende ist auch das Überraschende, das unser Interesse auf sich zieht. Unversehens geraten wir so vom sensus communis solider lebensweltlich vermittelter Einsichten in einen Bereich, der nicht von ungefähr Züge des tremendum aufweist. Die Metapher des Einleuchtens führt aus dem zwielichtigen Schein der Doxa in das klare Licht der Evidenz. Doch ist entscheidend, daß die Endlichkeit menschlichen Meinens und Für-wahr-Haltens gerade nicht aufgegeben wird, sondern es diesem selbst in seiner, gemessen am Absoluten, defizitären Seins- und Erkenntisform als momentane Erleuchtung widerfährt. Es ist also gewissermaßen das Licht einer immanenten Transzendenz, das hier aufgeht. 5. Bei der Erörterung des „hermeneutischen Vorranges der Frage“15 wird konstatiert, daß der Problembegriff nicht in die „wohlgemeinten Widerlegungen“ platonischer Dialektik gehöre, sondern in die peripatetisch geschärfte Form, wo das Problema als Kampfmittel zur Verblüffung und Diffamierung des Gegners eingesetzt würde: Bei Aristoteles bezeichnet Problema solche Fragen, die sich deshalb als offene Alternativen darstellen, weil für beide Seiten allerlei spricht und wir nicht glauben, sie mit Gründen entscheiden zu können, da es zu große Fragen sind. […] Probleme sind also keine wirklichen Fragen, die sich stellen und damit die Vorzeichnung ihrer Beantwortung aus ihrer Sinngenese empfangen, sondern sind Alternativen des Meinens […], die daher nur eine dialektische Behandlung finden können. Dieser dialektische Sinn von ‚Problem‘ hat nicht eigentlich in der Philosophie, sondern in der Rhetorik seinen Ort. Es gehört zu seinem Begriff, daß es eine eindeutige Entscheidung aus Gründen nicht gestattet.16

So sind die hermeneutische Frage, die sich als Umwendung des Fragenden zum von der Tradition Gefragten vollzieht, und das neuzeitliche ‚Problem‘ geschieden; letzteres ist die leere Abstraktion „des Frageinhaltes von der ihn allererst aufschließenden Frage“.17 Indem das ‚Problem‘ aus seinem eigentlichen Fragezusammenhang herausfällt, wird es zu einer ebenso leeren wie unbeantwortbaren Frage. Der Hinweis auf die rhetorische Provenienz des problema läßt so das moderne Problembewußtsein im Sinne einer Problemgeschichte, die eine –––––––— 13 14 15 16 17

Ebd. 489. Phaidros 250 d7. Gadamer, Wahrheit und Methode, 368–384. Ebd. 382. Gadamer, Wahrheit und Methode, 381–2.

Hermeneutik und Rhetorik

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standpunktlose Perspektive einnehmen zu können glaubt, als sophistische Spiegelfechterei erscheinen. Bekanntlich soll Gorgias Philostrat zufolge im Theater aufgetreten sein und vom Auditorium gefordert haben „ŅͨÇÔÉÉ¥À¥!“18 Damit meinte der Sophist, daß der Fragende gegen ihn einen Schutzwall aufrichte, den der Redner selbst auflösen werde.19 Überblickt man die fünf Stellen, an denen sich Gadamer explizit auf die rhetorische Tradition beruft, so zeigt sich, daß er für seine eigenen ‚systematischen‘ Grundlegungen der Rhetorik durchaus bedeutenden Rang zubilligt; auch die Abweisung der sophistischen Rhetorikpraxis des epideiktischen problema widerstreitet dem nicht, indem diese als eine rhetorische Verfehlung angesehen wird. Sensus communis, Regelpoetik versus Genieästhetik, Teil und Ganzes, das Wahrscheinliche und die Absetzung von der ‚Problemgeschichte‘ bilden Grundpfeiler der philosophischen Hermeneutik. Sie stützen die wichtigsten Annahmen seiner Theorie: die lebensweltliche Einbindung des Verstehens, die transhistorische Bedeutung der Literatur, die transzendentale Bedeutung des Teiles als Spiegel des Ganzen, Entsubjektivierung der nicht wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnis durch das Einleuchtende und die Frage als Vollzugsform philosophischer Hermeneutik. Gleichwohl wäre der Schluß voreilig, daß die philosophische Hermeneutik dem Geiste der Rhetorik entsprungen wäre, bzw. daß die Rhetorik im 20. Jh. eine eigene Philosophie oder ein philosophisches Paradigma etabliert hätte. Denn die Rhetorik tritt hier immer nur hinzu und ergänzt, was ein genuin philosophischer Gedanke bereits erbracht hatte. So ist der sensus communis von Gadamer im Horizont der Aristotelischen Phronesis gedacht, da der phronimos, indem er sich am ‚Umständlichen‘ orientiert, die richtige Mitte in seiner Ņͨ¤ďͥΧ (prohairesis) findet. Das geht sogar so weit, daß die Aristotelische Rhetorik eher die Philosophie dieses ÏÍ˧ʨ (phronimos) als eine theoretische Reflexion über die Möglichkeiten und Vollzüge der rhetorischen Praxis seiner Zeit im Sinne eines technischen Traktates sein soll.20 Das Einleuchtende als das Kriterium der angemessenen Antwort auf hermeneutische Fragen wird, wie wir sahen, nicht aus der rhetorischen Tradition (z. B. aus der Akademischen Skepsis), sondern aus der metaphysischen Ästhetik des Phaidros gewonnen und ist so weit weniger ein erkenntnistheoretisches als ein ästhetisches Moment. Der vielleicht naheliegende Versuch, aus der Komposition des Phaidros das Schöne und das Wahrscheinliche (eikos21) zu verbinden, –––––––— 18

19 20 21

Philostratos, Vitae Sophistarum 1,1 (=DK 82, 1a): „‚Legt mir eine Frage vor.‘ Er war der erste, der diesen riskanten Vorschlag öffentlich machte, indem er zu verstehen gab, alles zu wissen und über alles zu sprechen, indem er den richtigen Augenblick berücksichtigte.“ Vgl. die instruktiven Ausführungen von Flashar in seiner Problemata-Physica-Ausgabe (Aristoteles, Werke in dt. Übersetzung, XIX: Problemata Physica, Berlin 1962, 297–303). Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke II: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, 2. Aufl., Tübingen 1993, 305. Dazu Manfred Kraus, Nothing to do with Truth? ¥ĨÈÂ in Early Greek Rhetoric and Philosophy, in: Papers on Rhetoric VII, hg v. Lucia Calboli Montefusco, Rom 2006, 129– 150.

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wird nicht unternommen. Glaubte Gadamer, daß die rhetorische Tradition alleine gar nicht tragfähig sei, die philosophische Hermeneutik zu begründen?

Ergänzungen zu Wahrheit und Methode In den „Ergänzungen und Weiterentwicklungen“, die das opus magnum nach sich gezogen hat, fallen eine Reihe von Aufsätzen ins Auge, die dem Verhältnis von Rhetorik und Hermeneutik nachgehen. In Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik von 1967 setzt Gadamer sich mit den kritischen Einwänden von Jürgen Habermas auseinander. Hier erinnert Gadamer an die Rhetorik, um den Vorwurf einer Reduktion der Hermeneutik auf die ästhetisch-humanistische Tradition abzuweisen. Er beruft sich dafür auf die Rhetorik als eine Theorie der Textproduktion, wenn er Verstehen und Auslegung nicht als rezeptive, sondern produktive Prozesse deutet: Umgekehrt ist das Lesen und Auslegen von Geschriebenem so sehr von dem Schreiber, seiner Gestimmtheit, seinen Absichten und seinen unausgesprochenen Tendenzen entfernt und abgelöst, daß die Erfassung des Textsinnes den Charakter einer selbständigen Produktion empfängt, die ihrerseits mehr der Kunst des Redners als dem Verhalten des Zuhörers gleicht. So ist es zu verstehen, daß die theoretischen Mittel der Auslegungskunst, wie ich an einigen Punkten zeigte und wie Dockhorn auf breiter Basis durchführt, weitgehend der Rhetorik entlehnt sind.22

Konsequenterweise betont Gadamer das verisimile, das der gemeinen Vernunft einleuchte, gegen den Gewißheitsanspruch der Wissenschaft und versucht so, Rhetorik und Hermeneutik durch das „Einleuchten“ einander anzunähern: Verstehen und Überzeugen könnten beide des Einleuchtenden nicht entbehren, wenn sie ihre Aufgabe versehen wollten. Verstehen und Überzeugen könnten eigentlich nur gelingen, wenn sie Evidenz herzustellen vermögen. Rhetorik und Hermeneutik werden so zu den universalen Technai der modernen Gesellschaft, um den Wissensdiskurs der Spezialisten in die Lebenswelt weiterzureichen. Darin liege die vielbeschworene Ubiquität beider Disziplinen begründet. Gadamer geht aber über diesen soziologischen Horizont noch hinaus und deutet die Sprachlichkeit als „das in sich grenzenlose Element“, in dem sich Verständigung, hermeneutisch und rhetorisch gesteuert, vollzieht. Sprachlichkeit als vorgängige Welterschlossenheit findet daher im Verstehen wie im Verständlichmachen und Deuten von Welt seine eigensten Vollzugsformen. Rhetoriktheoretisch betrachtet bleibt Gadamers Persuasionsbegriff vergleichweise blaß, da das Überzeugende nicht vom Redner und seiner Strategie her gedacht ist, sondern sich eher als ein Drittes zwischen Redner und Zuhörer einzustellen scheint. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn Gadamer in Platon denjenigen Theoretiker erkennt, der in dem „Scheinanspruch, den die zeitgenössischen Redelehrer erhoben“,23 die Aufgabe entdeckte, –––––––— 22 23

Gadamer, Werke II, 236. Ebd. 234

Hermeneutik und Rhetorik

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die nur der Philosoph, der Dialektiker, zu lösen imstande sei, nämlich: die Rede, die effektvoll Einleuchtendes vorzubringen hat, so zu beherrschen, daß die jeweils angemessenen Argumente an diejenigen herangebracht werden, deren Seele dafür spezifisch empfänglich ist.24

Der dezidiert Platonische Rhetorikansatz kann nun aber nicht mehr das verisimile als das situativ Wahrscheinliche nehmen, das sich unter erkenntnistheoretischer Epoché einstellt, sondern er macht es von der Kenntnis der Wahrheit abhängig, wie es im Phaidros gefordert wird. Die Folge ist, daß die rhetores als Machthaber des Wortes und so der Polis in die Zucht genommen werden mußten, damit die Rhetorik „ihre Grenze und ihren legitimen Ort“ finden konnte: „Das bezeugt ebensosehr die philosophische Dialektik der platonischen Akademie wie die aristotelische Begründung von Logik und Rhetorik“.25 Gadamer rechtfertigt so den nachmaligen Sieg der platonischen Philosophie über die sophistische Bewegung, aus der doch auch ein Sokrates hervorgegangen war, als notwendige Modifizierung der Rhetorik. Am deutlichsten wird die rhetorikkritische Akzentverschiebung, wenn man die Deutung des verisimile26 als des Einleuchtenden näherhin betrachtet. Im selben Jahr wie WuM erschienen auch die Paradigmen zu einer Metaphorologie von Hans Blumenberg. Im 8. Kapitel untersucht Blumenberg die Terminologisierung einer Metapher, nämlich der des Wahrscheinlichen. Er weist dabei auf die Ambivalenz hin, daß es sowohl Abglanz, Ausstrahlung, Aura bezeichnen könne, aber auch die leere Prätention, irreführendes Trugbild, Vortäuschung, und schließt daraus: Die Metapher nimmt hier das Wort beim Wort, nicht als Namen für eine definierte Regel von Sachverhalten […] Der Redner kann das Wahre in seinem legitimen Glanz ‚erscheinen‘ lassen, er kann aber auch das Unwahre ‚so aussehen‘ lassen wie das Wahre.27

Im verisimile sei so jener Platonische Rest enthalten, wenn es als Vertreter der Wahrheit an derselben teilhabe. Diese Implikation kann man im Einleuchtenden erkennen, gerade wenn man es wie Gadamer aus dem Phaidros expliziert. Unterschieden von diesem verisimile sei nach Blumenberg aber dann das probabile, nämlich als das, was im Sinne des griechischen Ņ§Á¤ËĐË das Ergebnis rhetorischer Persuasion ist. Während das eine der Sache selbst angehört, ist das andere Ergebnis rhetorischer Kompetenz, die die ‚Wahrheit‘ auf eine Verläßlichkeit lebensweltlicher Bewährung hin funktionalisiert. So will es scheinen, daß Gadamer sich durch die Kraft der Metapher legitimiert sah, beide Aspekte zu verbinden und so in der lebensweltlichen Å[¤ eine transzendente Wahrheit zu erkennen, die sich ihm als das Einleuchtende und Evidente gab. Die rhetorische Probabilität blieb dabei aber zusehends auf der Strecke. –––––––— 24 25 26

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Ebd. Ebd. 235. Therese Fuhrer, Der Begriff veri simile bei Cicero und Augustin, Museum Helveticum (1993) 40, 107–127; bes. 113, wo gezeigt wird, wie probabile und verisimile parallelisiert werden. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, 117.

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Vier Jahre später, in der Replik auf Habermas des Jahres 1971, kritisiert er aber wieder diese platonischen Implikationen mit Verweis auf die Aristotelische Kritik am platonischen Guten, indem er zu bedenken gibt, daß es von erschrekkender Irrealität zeuge, den Zwangscharakter der Rhetorik zugunsten des herrschaftsfreien Diskurses aufgeben zu wollen. Denn ohne dieses Zwangsmoment sei Rhetorik so wenig denkbar wie die durch sie gesteuerte soziale Praxis. Das Ideal von Habermas sei „ebenso verbindlich wie unbestimmt“28 und entferne sich von der menschlichen Praxis, die das Gute in der „Konkretion der Situation durcharbeiten“ müsse. Gleichwohl, mag dies nun eine Rücknahme des platonischen Standpunktes sein oder nur dessen philosophiegeschichtlich legitimierte Korrektur durch Aristoteles: Die rhetorische Praxis wird als ethisch bestimmte gefaßt. Und so schwebt über dem Tun der Rhetoren das DamoklesSchwert jener dezisionistischen Frage, wie man leben soll, die Sokrates im Gorgias dem Kallikles entgegenhält.29 Die zentrale Frage der Rhetorik indes, wie man Persuasion in einer rhetorischen Situation erreichen kann, entschwindet. Weitere fünf Jahre später, 1976, fragt Gadamer noch einmal nach dem Ursprung der Hermeneutik aus dem Geist und der Praxis der Reformation. Melanchthons Forderung nach rerum cognitio, die für die Eruierung der Wahrheit der Heiligen Schrift erforderlich ist, sieht Gadamer in der Linie der platonischen Rhetorikkonzeption, die ja von der Unabdingbarkeit der Wahrheitskenntnis ausging. Damit erklärt sich das Festhalten am aus rhetorischer Sicht problematischen Wahrheitspostulat als notwendige Voraussetzung der Hermeneutik: nur wenn vorausgesetzt wird, daß es eine Wahrheit in den Texten oder der Welt zu entdecken gibt, ist eine philosophische Hermeneutik möglich.30 Bliebe dagegen das rhetorische Erbe einer wahrheitsindifferenten „Betrachtung über das möglicherweise Überzeugende“ – wie die Aristotelische Definition in Rhet. 1,2 lautet – wirksam, hätte die philosophische Entfaltung der Hermeneutik anders vor sich gehen müssen. Das bedeutet also, daß das Rhetorische in der Hermeneutik eigentlich bereits philosophisch in die Zucht genommen ist, nämlich als die Vermittlung eines vorgängig Erkannten. Die Herstellung des Überzeugenden als des Wahren, das in der Rede als wahr erscheint, dieses rhetorische officium scheint gar nicht verlangt. Bezeichnenderweise beruft sich Gadamer denn auch auf die Verbindlichkeit der klassischen Vorbilder im Sinne der imitatio, um die vermeinte rhetorische Implikation der sola scriptura-Maxime der Reformatoren aufzuzeigen; doch wechselt er dabei von der inventio zur elocutio, also von der Wahrheitsnorm zur Stilnorm, von der Sachnorm zur Sprachform. Die platonische Forderung nach dem richtigen und wahren Sachverhalt, der zur Darstel–––––––— 28 29 30

Gadamer, Werke II, 274. Vgl. Gorgias 500 c. Vgl. dazu auch Joachim Knape, Melanchthon als Begründer und der neueren Hermeneutik und theologischen Topik, in: Günther Wartenberg (Hg.), Philipp Melanchthon (1497– 1560). Werk und Rezeption in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert. Tagung anläßlich des 500. Geburtstags von Philipp Melanchthon an der Universität Leipzig 1997, 123–131.

Hermeneutik und Rhetorik

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lung zu kommen habe, soll nun offenbar der rhetorischen Forderung nach der richtigen Sprachnorm korrespondieren.31 Die eigentümliche Mittelstellung der Rhetorik als Disziplin zwischen der platonischen Konzeption einer dialektischen, an einer vorgängigen Wahrheit orientierten Rhetorik und der Aristotelischen Phronesis, die ĦŅ§¥ďÈ¥§¤ (epieikeia) und sensus communis zur Maßgabe ihres Vollzuges macht, wird in Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe von 1978 vertieft. Ausgangspunkt ist die Frage nach den verschiedenen Formen des Wissens, die an Aristoteles’ Unterscheidungen in theoretische, praktische und poietische Episteme von Metaphysik E 1 anknüpft: So kann der Anschein entstehen, als spräche Aristoteles hier von dem technischen Wissen und von dem praktischen Wissen dessen, der eine vernünftige Entscheidung trifft […]. Das ist offenkundig nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um Arché-Forschung, d. h., nicht um das jeweils in Anwendung befindliche Wissen des Arztes, Handwerkers, sondern um das, was sich darüber im allgemeinen sagen und lehren läßt.

Das in Anwendung befindliche Wissen reflektiert nicht über seine Begründung, sondern erfüllt sich im Tun selbst. Derjenige, der im konkreten Fall weiß, was das moralisch Gebotene ist, betreibt nicht ‚praktische Philosophie‘ und wer ‚praktische Philosophie‘ betreibt, handelt eben deshalb noch nicht moralisch richtig. Gleichwohl kann auch eine vollkommene Trennung zwischen Praxis und Theorie nicht befriedigen. Ethik und Rhetorik sind Disziplinen, die in ihrer konkreten Umsetzung auf das Wo und Wann bezogen sind. Die allgemeinen Gesichtspunkte, die bei solcher Aufmerksamkeit beachtet werden, können theoretisch untersucht werden, doch ist die praktische Anwendung solchen Wissens nicht lehrbar. Diese ist vielmehr so sehr im menschlichen Dasein verwurzelt, daß eine Technisierung solcher Praxis als lebensfremd erscheinen müßte. Zu diesen Disziplinen gehört nun nach Gadamer auch die Hermeneutik: Offenbar ist das Redenkönnen und das Verstehenkönnen von der gleichen Weite und Universalität. Man kann über alles reden, und alles, was einer sagt, sollte man verstehen.32

Diese durchaus lapidar anmutende Feststellung gewinnt vor dem Hintergrund der Frage nach den Formen des Wissens und des Umgangs mit Gewußtem, seiner Bewährung und Erfüllung in der konkreten Situation, eine weiter reichende Dimension. Denn wenn einerseits das Reden und Verstehen untrennbar zum Menschsein dazugehören, sich zwar durch Regeln Verbesserungen erreichen lassen, aber die Anwendung dieser Regeln wiederum nicht Gegenstand der Wissenschaft sind, dann gibt der unleugbare individuelle Unterschied im –––––––— 31

32

Vgl. Gadamer, Werke II 281: „So wie eine wahre Rhetorik für den Schüler Platos von dem Wissen um die Wahrheit der Sachen nicht abgetrennt werden kann, ohne in absolute Nichtigkeit zu versinken, ist auch für die Interpretation von Texten die selbstverständliche Voraussetzung, daß die auszulegenden Texte die Wahrheit über die Sachen enthalten. Das dürfte schon für die älteste Erneuerung der Rhetorik im humanistischen Zeitalter, die ja ganz unter dem Ideal der Imitatio stand, eine fraglose Selbstverständlichkeit besessen haben.“ Ebd. 305.

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Reden- und Verstehenkönnen einen Hinweis darauf, wie diese Regeln gewußt werden: der Technites dieser Technai hat nicht ein Wissen, das er auch wieder verlieren könnte, sondern dieses Wissen ist habituell. Man könnte auch sagen, das eigentliche ergon seiner Techne sei der Technites sich selbst in seiner jeweiligen erfolgreichen Praxis:33 Mit dieser paradoxen Formulierung soll gesagt sein, daß Praxis und Poiesis eine innige Verbindung eingehen und deshalb die Regeln technisierter Poiesis nur aus einer praxisgleichen Aneignung heraus, etwa wie man sich ethische Maximen zu eigen macht, erfolgreich umgesetzt werden können. Darin, daß der Technites sich selbst durch seinen technischen Prozeß zu eigen macht, liegt die Möglichkeit beschlossen, aus der Subjekt-Objekt Differenz heraus in eine Situation zu treten, die von den allgemeinen Bedingungen dessen bestimmt sind, was die Techne in ein Regelsystem zu abstrahieren strebt.

2. Gadamers Rhetorikbegriff Platonisches Erbe Gadamer übernimmt das Wahrheitspostulat, das im Phaidros der Rhetorik gestellt wird, um für seine philosophische Hermeneutik voraussetzen zu können, daß eine Wahrheit gefunden werden könne. Zunächst ist dies ein sich aus der Tradition ergebendes Faktum. Doch bleibt diese Voraussetzung für die eigene Hermeneutik leitend, auch wenn sie sich gegenüber der hermeneutischen Tradition modifiziert. Es ist nicht mehr der eine Sinn, der eruiert werden muß, sondern der hermeneutische Prozeß unterliegt selbst der Geschichtlichkeit; aber der Fragende ist immer auch ein Gefragter, da er sich überhaupt von der Tradition ansprechen läßt. Diese sich ihm stellende Frage ist die Ursache dafür, verstehen zu wollen. Die Tatsache aber, daß wir an der Tradition Interessierte sind, daß wir hier ein Anliegen haben, verweist auf die Platonische Konzeption des Schönen, das uns als das „Hervorscheinendste“ anspricht und bewegt, bis wir zum Schönen selbst gelangen. Zwar wird die Annahme eines Absoluten, dem wir uns nähern, mit Hinweis auf die Geschichtlichkeit des Verstehens aufgegeben, aber es bleibt doch dieser metaphysische Rest des primum movens bestehen, durch den die Hermeneutik allererst in Gang kommt. Diese platonische Implikation hat nun aber Folgen für den Rhetorikbegriff in Gadamers Hermeneutik. Rhetorik vollzieht sich im Horizont dieser Hermeneutik als Gespräch zwischen Redenden, die sich dialektisch um die Wahrheit bemühen. „Man kann über alles reden, und alles, was einer sagt, sollte man verstehen“ – dies bedeutet, daß der Redende so auf den Zuhörer bezogen ist, daß er sich ihm verständlich macht. Andererseits ist der Zuhörer von selbst –––––––— 33

Vgl. ebd. 307. Gadamer verweist hier auf Phaidros 280b ff, wo betont wird, daß der Musiker nur mit Hilfe seiner Techne noch kein gutes Stück zustande brächte.

Hermeneutik und Rhetorik

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bestrebt, das, was ihm gesagt ist, zu verstehen. Wir haben es also statt einer einstrahligen Kommunikationsstruktur, von Sender zu Empfänger, mit einer zweistrahligen zu tun; nimmt man hinzu, daß Verstehen immer auch Auslegen impliziert, dann ist sogar die rechte Seite der Kommunikationsachse produktiv, nur bestehen natürlich Unterschiede, ob es sich um eine konkrete face-to-faceKommunikation handelt oder um ein ‚Gespräch‘ mit dem Überlieferten. Im letzteren Fall wird der hermeneutisch Angesprochene wiederum selbst zum ansprechenden Kommunikator interpres. Die Rhetorik beschränkt sich hierbei auf die virtutes dicendi, wenn es darum gehen muß, perspicuitas walten zu lassen. Das gilt jedoch nur für die Oberflächenstruktur der elocutio, während die Hermeneutik natürlich inventorisch auf der Inhaltsebene ansetzt. Das doppelstrahlige Modell bringt es aber mit sich, daß rhetorische Strategie, nämlich die Persuasion, zurücktritt zu Gunsten des Sachinteresses der zu eruierenden Wahrheit. Indem Reden nicht auf Manipulation, sondern auf Verständlichmachen und Verstandenwerden abgestellt wird, wird das rhetorische Ziel der Meinungsänderung aufgegeben. Das Gespräch ohne Eigeninteresse, nur zur Klärung einer Frage stellt keine genuin rhetorische Situation dar. Die platonische Implikation in der Hermeneutik restringiert so die Rhetorik auf das Ciceronische officium des docere.

ars und artifex Im Zuge seines Anspruches, ein den Geisteswissenschaften angemessenes Wahrheitskriterium zu etablieren, verweist Gadamer auf das Regelsystem der Rhetorik, um hier aufzuzeigen, daß es in der Universalität der Disziplin liege, daß die aus dem Gebrauch gewonnenen Regeln noch keine Erfolgsgarantie mit sich bringen, da deren Anwendung nicht lehrbar ist. Dies gilt natürlich auch für die Hermeneutik. Die Folge ist, daß beide Disziplinen in der Didaxe auf ein Paradeigma verweisen müssen, das die Disziplin in mustergültiger Form ausübt. Während Gadamer dies aus naheliegenden Gründen nicht sehr explizit gemacht hat, hat die antike technologische Literatur durch ihre Unterscheidung in ars, artifex, opus diesem Problem einen systematischen Ort angewiesen. Es kann daher kaum verwundern, daß Ciceros rhetoriktheoretisches Hauptwerk ‚dem Redner‘ gewidmet ist. In bewußter Abkehr vom Regelsystem der Rhetorik,34 das in diesem Werk auch terminologisch ausgeblendet wird, fragt Cicero nach dem orator perfectus als der vollkommenen Verwirklichung oratorischer Kompetenz. In der Dedikation des Buches an seinen Freund Atticus schreibt der 50-jährige: Zuweilen pflegst du auch in unseren Gesprächen über dieses Thema anderer Auffassung als ich zu sein; denn während ich behaupte, die Kunst der Rede setze höchste Bildung auf

–––––––— 34

Dieser Aspekt auch bei Most, Rhetorik und Hermeneutik, 69.

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wissenschaftlichem Gebiet voraus, meinst du, sie sei von den Feinheiten der Theorie zu trennen und gewissermaßen auf Begabung und praktische Übung zu gründen.35

Hier stehen sich zwei grundlegend verschiedene Konzepte gegenüber: einerseits Rhetorik als Inbegriff der artes und der Gebildeten, andererseits das pragmatische Modell von Anlage und Ausbildung, wie es in der römischen Lebenswelt gepflogen wurde. Cicero, der die eigene Maximalposition im Dialog durch Licinius Crassus vertreten läßt, stellt höchste Anforderungen an das Wissen der Redner, da andernfalls deren sprachliche Gewandtheit (volubilitas verborum) hohl bleiben müsse; die Erregung von Affekten als rhetorische Persuasionsstrategie bedürfe gerade besonderer Kenntnisse im Bereich der vita et mores, die wiederum nur philosophisch zu gewinnen seien.36 Selbst für die ganz normalen alltäglichen Redesituationen, müsse der Redner die ganze menschliche Natur kennen.37 Der vollkommene Redner, der orator perfectus, sei derjenige, der über jedes beliebige Thema wort- und gedankenreich sprechen kann: Denn auch die Fälle, die nach allgemeinem Eingeständnis das Spezialgebiet der Redner sind, erfordern ja oft Dinge, die man nicht der praktischen Erfahrung des Forums, die ihr als einziges dem Redner einräumt, sondern einer unzugänglicheren Wissenschaft entnehmen muß.

Diese oratorische Kompetenz geht so weit, daß auch die einzelnen Disziplinen nur durch den Orator vorgestellt werden können; die Fachleute der einzelnen Disziplinen vermögen dies nur, wenn sie gute Redner sind, nicht aber aufgrund des Spezialistentums. Der Redner, der sich seine Spezialkenntnisse erst erwerben muß, spricht überzeugender als die Fachleute, denen die oratorische Kompetenz fehlt. Der Führungsanspruch der Rhetorik gründet wiederum in ihrer Sprachlichkeit: wenn sich der Mensch vom Tier durch die Sprache unterscheidet, da er durch sie in der Lage ist, ein komplexes soziales System zu schaffen, so erhebt sich der Orator über die normalen Menschen, weil nur er über die kommunikativen Mittel verfügt, diese sozialen Systeme eigenmächtig zu lenken.38 Cicero selbst hatte sich zum Zwecke der Darstellung dieser universalen Fähigkeit entschieden, nicht die Form des systematischen Lehrbuches zu wählen, wie er es als junger Rhetorikschüler mit De inventione begonnen hatte, sondern statt eines Regelkataloges ein Gespräch von anerkannten Größen der Beredsamkeit über die ars zu fingieren.39 Er wählt diese literarische Form, um das Regelsystem der ars aus der Perspektive des artifex zu reflektieren; nicht die Regel an sich, sondern deren Anwendung und Sitz im Leben stehen im Mittelpunkt seines Interesses. Und Voraussetzung der ars ist das decere (Stilgefühl), das gerade nicht gelehrt werden kann: „caput artis esse decere, quod tamen –––––––— 35 36 37 38 39

Cicero, De oratore. Über den Redner, übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 2001. 1, 5. Ebd. 1, 68–69. Ebd. 1, 48. Ebd. 1, 31–34. Ebd. 1, 23.

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präsentieren, so daß die Schüler als seine Abgüsse (ĦÈÀ©ŅªÁ¥ďÂ) ihn nachahmen können und besser als die anderen zu sprechen vermöchten.43 Wenn Gadamer nach dem richtigen Verstehen fragt, muß er angemessene von unangemessenen Vorurteilen unterscheiden.44 Hierbei dient das historische Bewußtsein als Korrektiv. Dieses soll dafür sorgen, daß die eigenen Vorurteile für die erforderliche Offenheit der hermeneutischen Frage suspendiert werden. Nur so könne im Verstehen des historischen Gegenstandes die Wirklichkeit der Geschichte aufgewiesen werden.45 Diese Struktur des Verstehens führt auf die Verschmelzung zweier für sich seiender Horizonte. Der Begriff ‚Horizont‘ wird hier deshalb gewählt, „weil er der überlegenen Weitsicht Ausdruck gibt, die der Verstehende haben muß“.46 Denn „ein wahrhaft historisches Bewußtsein sieht die eigene Gegenwart immer mit, und zwar so, daß es sich selbst wie das geschichtliche Andere in den richtigen Verhältnissen sieht“. Gadamer stellt diese Aufgabe im Begriff des Abhebens heraus, in welchem zwei für sich seiende und doch auf einander bezogene Aspekte thematisiert sind.47 Offenbar zweifelt aber Gadamer selbst nicht daran, daß diese Kernaufgabe der Hermeneutik, die Kunst des richtigen Abhebens, nur von einem souveränen Hermeneuten zu meistern ist, der durch seine besondere Bildung und lebensweltliche Einbindung Gewähr dafür bietet, daß die Verschmelzung der Horizonte einem wertvollen produktiven Verstehen dient. Wir können also konstatieren, daß der philosophische Hermeneutiker und der rhetorische Theoretiker die besondere Rolle individueller artifices für ihre artes erkannt hatten. Beide orientieren ihre Überlegungen an einem idealen artifex; neben den orator perfectus Ciceros tritt demnach der interpres perfectus Gadamers als Inbegriff seiner Kunst. Ehe ich zum letzten Punkt einer systematischen Gegenüberstellung von Rhetorik und Hermeneutik komme, möchte ich das bisher Gesagte zusammenfassend herausheben: 1. Die Rhetorik wird von Gadamer als Philosophie des sensus communis in Anspruch genommen, um der philosophischen Hermeneutik das Modell einer lebensweltlich orientierten Sprachpraxis zu bieten. 2. Die Rhetorik wird auf ein Reden im Sinne des Verständlich-Machens reduziert. Sie erhält so die Rolle einer Vermittlung anderweitig gewonnener Erkenntnisse. Man könnte daher vom ‚Ornatusaspekt‘ der Rhetorik sprechen. 3. Hermeneutik und Rhetorik als menschliche Fertigkeiten können nur unzureichend durch Regeln vermittelt werden; für die Kenntnis des Wo und Wann –––––––— 43

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Vgl. hierzu R. Johnson, Isocrates’ Methods of Teaching, American Journal of Classical Philology 80 (1959) 25–36; Wolf Steidle, Redekunst und Bildung bei Isokrates, Hermes 80 (1952) 257–296. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 304. Vgl. ebd. 305. Ebd. 310–311. Vgl. ebd. 311.

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bedarf es der Erfahrung, die nur durch ein Vorbild richtig angeleitet werden kann. 4. Gadamers Begriff der Evidenz entspricht nicht dem rhetorischer Probabilität, sondern verweist als Vorschein der Wahrheit auf das Platonische Erbe.

3. Rhetorische Hermeneutik und hermeneutische Rhetorik Wenn man sich nicht Gadamers Rhetorikbegriff zu eigen machen möchte, sondern das Telos der Rhetorik in der Persuasion erkennt, könnte man sagen, daß die philosophische Hermeneutik der Rhetorik diametral gegenübersteht. Die philosophische Hermeneutik setzt da ein, wo, rhetorisch gesehen, der Karren bereits im Graben liegt, also der rhetorische GAU eingetreten ist: beim Unverständnis.48 Es geht aus rhetorischer Perspektive nicht allein darum, sich verständlich zu machen, sondern persuasiven Zwang auszuüben; daß der Orator verstanden wird, ist dabei eine notwendige Voraussetzung. Wo vom Rezipienten Hermeneutik verlangt wird, hat die Rhetorik also schon versagt. Für die Theoretiker der Rhetorik fällt das Problem des Nicht-verstanden-Werdens zunächst in den Bereich der elocutio; zur Vermeidung dieser Kommunikationshemmnisse wurden virtutes dicendi aufgestellt, die bei Aristoteles als MesotesLehre zwischen den Extremen eines verfremdenden, aufregenden Stiles und eines klaren, aber banalen Stiles formuliert wird. Spätere haben diese weiter differenziert und Sprachrichtigkeit und Deutlichkeit einerseits, Angemessenheit und Ornatus andererseits aus der Aristotelischen Einheit expliziert.49 Für die rhetorische Situation, in der sich der Orator befindet, genügen diese elokutionären Tugenden, um eine erfolgreiche Kommunikation sicherzustellen, die die Rezipienten interessiert, ohne sprachlich zu überfordern, und belehrt, ohne zu langweilen. Die antike Rhetorik hat den sprachlichen Stil übrigens Hermeneia genannt;50 diese Begriffsprägung wird merkwürdigerweise von Gadamer nirgends erwähnt oder reflektiert, sondern nur der Ps.-aristotelische Titel Peri hermeneias. Die Persuasion als das rhetorische Ziel hat nun durch die inventio in Form von logisch-sachlichen Argumenten zu erfolgen; verstärkt werden diese durch den Einsatz von pathos, der sich insbesondere im Gebrauch der sogenannten rhetorischen Figuren niederschlägt. Doch muß der Orator vorher die richtige –––––––— 48

49 50

Vgl. dazu etwa Cicero, De oratore, III, 38: „nec sperare [sc. conamur] qui Latine non possit, hunc ornate esse dicturum; neque vero, qui non dicat quod intellegamus, hunc posse quod admiremur dicere.“ „Und wir versuchen gar nicht zu erwarten, daß derjenige, der kein Latein zu sprechen vermag, unter Anwendung rhetorischen Schmuckes sprechen könne. Noch auch daß derjenige, der nicht sagt, was wir verstehen können, dasjenige sagen könne, was wir bewundern müssen.“ Zur Elocutiotheorie vgl. meinen Artikel „virtutes dicendi“ in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. Hubert Cancik, Stuttgart 2003, 12, 2. So in den stiltheoretischen Schriften des Dionys von Halikarnassos, z. B. Lysias 2, 1.

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Verbindung zum Publikum hergestellt haben, indem er sich als wohlwollend und kompetent präsentiert. Dieses Moment faßt Aristoteles mit dem Ethos des Redenden. Die Dreiheit technischer Überzeugungsmittel zielt auf die Doxa der Zuhörer, da es darum gehen muß, eine Entscheidung herbeizuführen. Daß der Zuhörer versteht, was der Redner sagt, ist Voraussetzung. Fundamentalhermeneutisch betrachtet mag dieses vorausgesetzte Verstehen bereits sehr implikationsreich sein; gleichwohl ist dieser Prozeß sowohl für den Hermeneutiker als auch für den Rhetoriker eher unproblematisch. Die sachlichen Argumente und die affektische Gestimmtheit des Redenden werden aufgrund des geteilten geschichtlichen Horizontes leichter verstanden, ja, der erfolgreiche Redner orientiert sich an Anschauungen und Befindlichkeiten seiner Zuhörer und setzt diese antizipierte Rezeption in der Produktion bereits ein. Es genügt aber nicht verstanden zu werden: die eigentliche rhetorische Situation liegt erst dann vor, wenn eine Meinungsdifferenz besteht. Der Orator muß daher eine Änderung der Meinung in seinem Sinn bei seinen Zuhörern herbeiführen. Der Hermeneut sieht sich in seiner Ursituation vor einem Fremden, das ihn anspricht, ohne daß er sicher sein könnte, schon alles zu verstehen. Es ergibt sich das rhetorische Paradox, daß in diesem Angesprochen-Sein bereits ein latentes Überzeugt-sein impliziert ist, obwohl noch gar nicht klar ist, wovon er eigentlich überzeugt ist. Dieses Paradox mag man durch Hinweis auf das auctoritas-Moment mildern. Aber auch hier gilt die Erkenntnis des Aristoteles, daß diese pistis in der Rede selbst wirken muß und nicht außerhalb derselben gesucht werden darf. Legt man die von Gadamer betonte Implikation einer Wahrheit zugrunde, dann wäre also zu fragen, wie diese Wahrheit uns gegeben ist. Liegt sie im Text oder in seiner Überlieferung im Sinne der Wirkungsgeschichte? Man könnte vielleicht sagen, daß sie im Text als einem Überlieferten liegt; das hieße, daß man die Wirkungsgeschichte nicht als ein Akzidentelles, sondern als Wirkungsmacht und Gegebenheitsweise des Textes selbst zu nehmen hätte. Durch Betrachtung dieses Kon-Textes erweitert sich der Textbegriff derart, daß man sagen könnte, die ihm so verliehene auctoritas gehört zum Text und kann in der Rezeption nicht eigentlich von ihm getrennt werden. Gerade aber wenn man dieses Zugeständnis an den hermeneutischen Wahrheitsbegriff macht, tritt der Unterschied zur rhetorischen Betrachtungsweise hervor. Denn das, was dem Überlieferten seine Wahrheit bzw. sein Einleuchtendes verleiht, ist nicht von einem Orator in einem strategischen Kalkül dazu gemacht worden, sondern verdankt sich überindividuellen geschichtlichen Prozessen, in denen das Subjekt keinen Ort mehr hat. Bezieht sich die Hermeneutik also auf einen subjektlosen Wahrheitsbegriff? Hier gilt es daran zu erinnern, daß hermeneutisch betrachtet Auslegung und Verstehen nicht zu trennen sind. In der Rezeption ist immer schon eine Produktion enthalten; nicht nur ist das buchstäbliche Lesen selbst ein Wiedererinnern wie es das griechische ĥˤƧÆËĆÎÈ¥§Ë belegt; Lektüre verlangt auch vom Lesenden eine Konstruktion von Wirklichkeit, um das Gelesene überhaupt zu verstehen. Wird in der Produktion etwa eines narrativen Textes vom prinzipiell Unendlichen der Wirklichkeit ein Ausschnitt gewählt und dieser wiederum auf die für die Erzählung relevan-

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ten Anteile reduziert (man denke an Sterne usw.), so gilt umgekehrt natürlich auch für die Rezeption einer Erzählung, daß sie mit der Welt des Rezipienten angereichert werden muß, um von diesem verstanden werden zu können. Man spricht hier auch von „Semantisierung“.51 Das ist es, was Gadamer meint, wenn er von der produktiven Seite des Verstehens spricht. Diese produktive Seite betrifft aber nicht nur diejenigen, die rezipieren, was der Hermeneut ihnen auslegt, also wenn der Hermeneut zum Orator wird, sondern beginnt schon beim Verstehenden selbst. Im Vollzug des Verstehens liegt demnach immer schon ein Akt von Autopersuasion, der vom Sinnbedürfnis des Rezipienten geleitet wird. Die von der Hermeneutik betonte inventorische Seite des Verstehens hat der Orator als erstes Redestadium zu durchlaufen. Es ist dies die der inventio, dem klassischen ersten officium, vorangehende intellectio/˦ΧÂ, die aber von den großen Theoretikern wie Cicero und Quintilian nicht behandelt wurde.52 Zu Beginn erwähnte ich, daß man von einer Kunstlehre auch Vereinfachungen erwarte, die geradezu auf eine Automatisierung von technischen Vorgehensweisen hinauslaufen. In der Tat aber entsprach der Rhetoriktheoretiker Hermagoras von Temnos der stoischen Forderung, daß man erst verstehen müsse, ehe man an die Auffindung des Stoffes gehen könne, indem er ein Raster schaffte, das über jedes rhetorische Problema geworfen werden konnte: die sogenannte Statuslehre. Ausgangspunkt ist hierbei auch das Gespräch. Doch ist es ein durchaus parteiisches Gespräch. Es ist das Gespräch der gerichtlichen Auseinandersetzung. Wenn hier der Beklagte etwa schweigt, kommt es gar nicht erst zum Streit, sondern die causa ist bereits entschieden. Notwendig für das ‚Zustandekommen‘ eines Streites ist daher die Zurückweisung der Anschuldigung durch den Beklagten.53 Aus der inhaltlichen Bestimmung dieser Zurückweisung ergibt sich automatisch der status, für den dann die eigentliche inventio in Gang kommt. Das Verstehen tritt hier zurück und wird geradezu durch den Streit ersetzt. Es geht rhetorisch also gar nicht darum, was eigentlich der Fall gewesen ist, sondern nur darum, welche depulsio auf welche intentio den größten Erfolg verspricht. Die Produktion möglicher Argumente kommt also dem Verstehen zuvor und schafft sich allererst den Fall, der dem Parteiinteresse dienlich ist. Wenn man aus hermeneutischer Perspektive einwenden wollte, daß eben das Auslegen die produktive Seite des Verstehens ausmache, dann wäre rhetorisch zu entgegnen, daß das eine eminent rhetorische Implikation in der Hermeneutik ist. Wie sähe nun eine rhetorische Hermeneutik aus? Sie könnte sich statt auf die Aristotelische Phronesis auf die des Rhetors Isokrates berufen, der seine „Philosophia“ der Phronesis darin erkannte, mit vermutender Meinung (Å[¤, ÎÀ¨ÃÔÄ¥§Ë) meistens das Beste zu treffen. Diese Doxa bleibt der Lebenswelt –––––––— 51 52

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Dazu Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt a.M. 1991, 37ff. Die wichtigste Quelle ist Sulpicius Victor aus dem 4. Jh. n. Chr., der § 4 glaubt, daß Cicero deshalb darüber nichts geschrieben habe, weil er dies mehr als einen Gegenstand der diligentia und sapientia denn der ars ansah. Cicero, De inv. 1, 10.

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gänzlich immanent und stellt lediglich ein Höchstmaß an Treffsicherheit dessen dar, was als allgemein akzeptabel und probabel gelten darf. Sie entbehrt zwar jeder höheren Evidenz, doch bleibt sie so sehr auf das Handeln unter Entscheidungszwang des hier und jetzt Möglichen und Wahrscheinlichen bezogen, daß die Wahl des Richtigen jene universale Struktur aufweist, die Gadamer für die Hermeneutik gefordert hat. So kann Isokrates auch die richtige Komposition einer Rede mit dem moralischen Handeln vergleichen, in dem eines zum anderen passen müsse, damit ein funktionales Ganzes entstehen könne.54 Angewendet auf die hermeneutische Aufgabe hieße dies, daß die Entscheidung für diese oder jene Auffassung sich allein an den gängigen Probabilitäten zu orientieren habe und auf den Vorschein einer wie auch immer zu definierenden Wahrheit verzichten könnte. Es wäre zu überlegen, ob die Entlastung vom ästhetischen Paradigma des Wahrseins zu Gunsten eines Wahrscheinens, des Wahrscheinlichen, wie es etwa Aristoteles für das poietische pithanon fordert (Po. 1460 b), der hermeneutischen Aufgabe besser gerecht wird. Denn dieses wahrscheinliche Allgemeine überbietet persuasiv die faktische Wahrheit des konkreten Einzelfalles.55 Die heutige Pluralität der Methoden und ihre divergierenden Ergebnisse können nur dann noch dem Verstehen dienlich sein, wenn dieses einen eigenen Wahrheitsbegriff suspendiert, um die ‚Wahrheit‘ im Horizont der jeweiligen Methode als das Wahrscheinliche menschlichen Verstehens transzendieren zu können.

4. Heideggers Rhetorikvorlesung56 Im Sommersemesster 1924 hält Martin Heidegger in Marburg eine Vorlesung zum Thema Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, und zwar viermal die Woche von 7–8 Uhr. Heidegger stellt sechs Thesen auf, die die erklärte „Abzweckung“ seines „philologischen“ Bemühens begründen sollen: 1. Die besondere Bedeutung des Aristoteles. 2. Die Gegenwart muß sich noch etwas von der Vergangenheit sagen lassen, da grundsätzlich mit unserer Gegenwart etwas nicht stimmt. 3. Begrifflichkeit ist die Substanz jeder wissenschaftlichen Forschung, und die Wissenschaftler haben die Verantwortung für den Begriff. 4. Wissenschaft selbst ist eine Möglichkeit der Existenz des Menschen.

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Vgl. Ep. ad Ias. 8. Vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1998, 138–139. Zu einer ersten Einordnung vgl. Joachim Knape / Thomas Schirren, Heidegger liest die Rhetorik des Aristoteles, in: Dies. (Hg.), Aristotelische Rhetoriktradition (Philosophie der Antike 18), Stuttgart 2005; hier: 310–327.

Hermeneutik und Rhetorik

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5. Menschliches Leben hat die Möglichkeit, sich ganz auf sich selbst zu stellen, d. h. es kann sich unabhängig von den gesellschaftlichen und religiösen Konventionen machen. 6. Geschichtliche Vergangenheit kann und soll uns Heutigen einen Stoß versetzen. Diese sechs Voraussetzungen lassen folgendes Konzept erkennen: Was der neuberufene Philosophie-Professor in aller Frühe treibt, ist nicht Ableistung einer mehr oder weniger lästigen Lehrverpflichtung, sondern hat eine ontologische Dimension. Denn Wissenschaft ist ein Modus des Da-Seins. In der Lektüre von philosophischen Werken wie denen des Aristoteles übernimmt der Interpret eine Verantwortung für die Begrifflichkeit, und zwar so, daß er das von jenem vor Zeiten Ausgesprochene wiederum so zum Sprechen zu bringen hat, daß es uns Heutigen einen Stoß versetzen kann. In der Selbstkonstitution des menschlichen Lebens, bzw. des Da-Seins, liegt die Möglichkeit begründet, sich von überkommenen Normen zu befreien und sich so vom einst Ausgesprochenen angehen zu lassen. Nimmt man diese Möglichkeit ernst, dann könnte man auch sagen, daß die vornehmste Seinsform die des Wissenschaftlers ist, weil der Wissenschaftler den sprachlichen Akt der Selbstkonstitution mit höchster Verantwortung für den Begriff vollzieht. Heidegger geht dabei von einem Zustand gegenwärtiger Verkehrtheit aus, und das ist auch der Grund, warum es ihm überhaupt notwendig erscheint, vergangenes Sprechen zu untersuchen. Nicht von ungefähr erinnert gerade die zweite Voraussetzung der Vorlesung, nämlich „daß es mit uns in irgendeiner Hinsicht nicht stimmt“, an christliche Heilsgedanken. Ist dies die Konstatierung eines Sündenfalls? Will Heidegger seine Zuhörer erretten? Und wovor? Heidegger räumt ein: „Die sechs Voraussetzungen sind eine starke Zumutung, wir betreiben ja aber nur Philologie. Philosophie ist heute besser gestellt, sofern sie aus der Grundvoraussetzung lebt, daß alles in bester Ordnung sei.“ Das scheint eine merkwürdige Verkehrung des Selbstverständnisses der beiden Disziplinen zu sein: Philosophie habe heute nicht mehr den Anspruch, Zweifel zu säen in die scheinbare Selbstverständlichkeit des überkommenen Gedankengutes, während die Philologie, „die wir ja nur betreiben“, offenbar Diskontinuitäten und Vergessenes bewahren könne oder wieder zugänglich mache. Wieder einmal steht also die Philologie Pate, wenn es um die Bergung von mutwillig oder fahrlässig Verschüttetem geht – wie während der Reformation, als die neue Lehre nur sola e scriptura gewonnen werden konnte, und die Heilige Schrift von Philologen neu erschlossen werden sollte.57 Und so verwundert es nicht, daß Heidegger einige Semester zuvor im Wintersemester 1920/1921, noch als Privatdozent, in Freiburg eine Vorlesung über die Phänomenologie der Religion hielt, in der er insbesondere über Luther sprach und

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Zu Melanchthon s. o. S. 250.

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anzuhören, etwa bei den olympischen Spielen. Dieses eigentümliche Gebiet, die Alltäglichkeit des Daseins, wird durch die rechte Interpretation der Rhetorik offenbar, und zwar offenbar als schon weitgehend begrifflich expliziert.64

Es ist auf den ersten Blick nicht ganz leicht zu entscheiden, wohin Heidegger seinen eigenen Ansatz rücken möchte: Einerseits lehnt er den Anspruch der Sophisten ab, über politisches Wissen zu verfügen, aber andererseits entdeckt er in diesem Anspruch eine Bestimmung der Rhetorik, sich in der Alltäglichkeit auszukennen, ohne daß dies ein Lehrfach wäre. Offenbar nimmt er die Usurpation der Politik durch die rhetorisch geschulten Sophisten als Anzeige dafür, daß Rhetorik über ein Lehrfach hinaus auf existenziale Bestimmungen des Daseins rekurriert und diese thematisiert. Wir sahen oben, daß für Gadamer die Frage nach der Technizität und Regelhaftigkeit der Hermeneutik von besonderer Wichtigkeit war.

Doxa Hier führt Heidegger nun den Begriff der Doxa ein. Die Doxa habe das Seiende nicht selbst, sonern nur eine Orientierung bezüglich des Seienden. Diese Orientierung erhalte es durch das ĥɦÁŧÂ. Für Heidegger verbinden sich damit zumal lebenspraktische Aspekte. Seine Übersetzung von Doxa lautet daher: 1) „Ich bin dafür, daß sich die Sache so und so verhält“; 2) „ich bin dafür, daß dies oder jenes so gemacht werde“.65 Eigentlicher Zielpunkt seiner Überlegungen zur Doxa ist, daß sie das Phänomen eines Orientiertseins in der Welt sei, d. h., „wie das menschliche Dasein zunächst seine Welt durchschnittlich da hat, wie im Dahaben der Welt die Orientiertheit ist“.66 In der Doxa zeigt sich für Heidegger also, wie Menschen in Ansichten oder Entscheidungen sich auf die Dinge ihrer Welt beziehen. Abstrahiert man von einzelnen Vorfällen, so wird die Doxa zur Anzeige dessen, wie man gemeinhin sich entscheidet oder welche Ansichten man gemeinhin hegt. Das Durchschnittliche ist dann eine ebenso konturlose wie ubiquitäre Größe, die dem Menschen die Welt in einer eher nivellierenden Form zeigt. Nun bleibt aber Heidegger nicht bei der Welthaltigkeit der Doxa stehen; entscheidend ist für ihn, daß man nicht alleine mit einer Ansicht ist. Man hat diese zumal mit anderen, d. h. man kommuniziert sie. Deshalb sieht Heidegger in der Doxa „die eigentliche Entdecktheit des Miteinanderseins-in-der-Welt“. Denn da zur Meinung gehört, daß man sie mit anderen teilt, bedeutet MeinungHaben immer schon in einer Welt mit anderen leben, die ihrerseits auch Meinungen haben. Am Begriff der ‚Entdecktheit‘ läßt sich zeigen, wie Heidegger seine existenzialontologische Analyse vornimmt. Im Begriff der Doxa, den er –––––––— 64

65 66

Diese Ausführungen Heideggers orientieren sich an Rhet. 1, 1: „Alle nämlich versuchen bis zu einem gewissen Grad, ein Argument einerseits zu hinterfragen, andererseits zu begründen, einerseits zu verteidigen, andererseits anzuklagen.“ Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, 143. Ebd. 149.

Hermeneutik und Rhetorik

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zunächst im Kontext der Nikomachischen Ethik interpretiert und von der Ņͨ¤ďͥΧ unterscheidet, gewinnt er die Struktur eines Orientiertseins auf das Wahre (ĥɦÁŧÂ), ohne daß dies wie bei der Episteme direkter Gegenstand sein könnte. Die so entwickelte Struktur aber ist deshalb eine Entdecktheit, weil ‚Doxa‘ ein Ausgesprochenes und Angesprochenes ist. ‚Entdecktheit‘ bedeutet daher ein sprachlich aufgewiesenes Phänomen. Aus der Orientiertheit der Doxa an dem, was sich zunächst zeigt, folgt, daß die Doxa auch ein Vertrauen zu diesem nächsten Aspekt impliziert. Heidegger benutzt den Begriff der Doxa, der auch ‚Lehrmeinung‘ bedeutet, also im Sinne der ‚Doxographie‘ gebraucht ist, um darauf das Existenzial des ‚man‘ zu gründen. Dabei bringt er auch die rhetorische pisteis-Trias ins Spiel, indem er daran erinnert, daß es bei der Doxa von entscheidender Relevanz ist, wer sie vertritt, wer sie hat: Es liegt in dieser Struktur der Å[¤ die Möglichkeit, daß sie zu einer eigentümlichen Herrschaft und Hartnäckigkeit kommen kann. Man spricht eine Meinung den anderen nach. Im Nachsprechen kommt es nicht darauf an, zu untersuchen, was der Betreffende sagt. Entscheidend ist nicht das Gesagte, sondern daß er es ist, der es gesagt hat. Was hinter der Herrschaft der Å[¤ steht, sind die anderen, die eigentümlich unbestimmt sind, die man nicht fassen kann – man ist der Ansicht: eine eigentümliche Herrschaft, Hartnäckigkeit und ein Zwang, der in der Å[¤ selbst liegt.67

Heidegger entwickelt das Existenzial des Man in deutlicher Rezeption der rhetorischen Doxa im Sinne des ĵËŨ[¨Ë. Dabei stellt er eine sachlich richtige, keineswegs bei Aristoteles so schon explizite Verbindung von der Doxa zum Ethos des Redenden her. Es wird nachvollziehbar, warum Heidegger gerade dieser pistis besondere Aufmerksamkeit schenkte, da sie in seinen Augen für die „eigentümliche Herrschaft und Hartnäckigkeit“ der Doxa verantwortlich ist. Solche Hartnäckigkeit jedoch ist keineswegs dezisionistisch: „Denn obzwar die Doxa eine gewisse Festigkeit hat, liegt es doch in ihr, daß man darüber, worin man einer Ansicht ist, immer noch reden kann. Es könnte auch anders sein. Ihr Sinn ist, eine Diskussion offen zu lassen“.68 In dieser sprachlichen Verfaßtheit der Doxa ist nun zugleich das Existenzial des Ansprechens und Aussprechens begründet, so daß die Doxa auch die Quelle und der Antrieb für das Miteinanderreden ist. In dieser Funktion jedoch kann sie auch zu einer beherrschenden Macht über dasjenige gelangen, was überhaupt gesehen und angesprochen wird. Heidegger sieht die Doxa auch als Boden für die Wissenschaft (ĦŅ§ÎÀļʦ) an. „Auch das Seiende, bezüglich dessen ich nicht verhandle im Sinne des Besorgens, sondern im Sinne des Herausstellens der Tatbestände, so wie sie sind, ist zunächst da in einer Å[¤“. Heidegger denkt hier an die Beschäftigung des Aristoteles mit den überkommenen Meinungen (Å[¤§) der Philosophen. Auch hier reklamiert Heidegger den Begriff der Å[¤, weil das, was sich zunächst zeigt, zum „Boden für die Untersuchung der Sache selbst“ wird.69 –––––––— 67 68 69

Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, 151. Ebd. Ebd. 152.

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Hermeneutik als Rhetorik bei Heidegger Heidegger interpretiert also die Rhetorikschrift des Aristoteles als einen existenzialhermeneutischen Aufriß. An den drei Pisteis zeigt er, wie sich die Ubiquität der Rhetorik auf Existenziale gründet, denen sein eigentliches Interesse zu gelten scheint. Doch vergißt er darüber keineswegs, daß Rhetorik eine Sache der Meinungsmanipulation ist, daß es ihr darum zu tun ist, die Meinung des Orators auch gegen Widerstände durchzusetzen und dessen Sichtweise als die leitende zu etablieren. Ohne Frage sah er allerdings in dieser rhetorischen Aufgabe auch eine Möglichkeit, sich als Orator für seine Philosophie des Daseins einzusetzen. Hier gewinnt er jenen sophistischen Boden in der Philosophie zurück, der den Sophisten seit Platon streitig gemacht worden ist. Zwar ist sein Wahrscheinlichkeitsbegriff auf den ersten Blick noch platonischer Provenienz, doch entgeht er der Verlockung eines verum metaphysicum, indem er rechtzeitig auf die Funktion des Wahren als Orientierungsgeber einbiegt. Als das ĥɦÁŧ ist es das Unverdeckte oder Entdeckte, wie es die Rede hervorbringt. Es artikuliert sich als sprachliche Erschlossenheit der Welt und ist somit ein innerrhetorisches Moment. Daraus beansprucht Heidegger die Legitimation für die eigene Philosophie, nämlich sich als Vorsprecher zu deren Fürsprecher zu machen. Die Daseinshermeneutik vollzieht sich demnach als rhetorischer Agon um die Herrschaft der Doxa. Die eigentlich Sprengkraft dieser Philosophie besteht darin, daß sie in einer selten erreichten Kongruenz ihren Inhalt mit ihrer Darstellung bzw. Performanz so verknüpft, daß die Vorlesung des Philosophieprofessors für manche Zuhörer zu einem existenziellen Ereignis geworden ist.70 Der einzelne, der sich hiervon ergriffen spürt, bestätigt bereits, vor Seiendes gestellt worden zu sein, das ihm zuvor verstellt war; daß ihn etwas angeht. Nun blendet Heidegger gerade dieses Potenzial der Rhetorik aus, wenn er die Aristotelische Definition in Rhet. 1,2 folgendermaßen kommentiert: Rhetorik ist Åċˤʧ [dynamis], sofern sie eine ‚Möglichkeit‘ darstellt, eine Möglichkeit, in bestimmter Weise zu sprechen. Die Rhetorik hat als solche nicht die Aufgabe des Ņ¥ĢΤ§ [peisai], sie hat nicht eine bestimmte Überzeugung über einer Sache auszubilden, bei den anderen ins Werk zu setzen, sondern sie stellt nur eine Möglichkeit des Redens dar für den Sprechenden, sofern er entschlossen ist zu sprechen in der der Absicht des Ņ¥ĢΤ§ [peisai].71

Die Eingrenzung der Rhetorik als nur theoretischer Möglichkeit entspricht nun allerdings der Konzeption seiner eigenen Philosophie als daseinsverändernder Macht. Es ist nach Heidegger nicht die Aufgabe der Rhetorik zu überzeugen, diese Aufgabe behält er vielmehr der Existenzphilosopie vor. Diese soll dem Dasein Seiendes entdecken. Als „Möglichkeit des Redens“ bleibt rhetorisches Handeln eine Funktion vorgängiger philosophischer Analyse. Damit sind die –––––––— 70

71

Gadamer erinnert sich, daß einem als Hörer „die Sachen derart auf den Leib rückten, daß man nicht mehr wußte: spricht er in eigener Sache oder in der Sache des Aristoteles?“ (Gadamer, Heideggers Wege, 98) Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, 115.

Hermeneutik und Rhetorik

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Begriffe aber nur oberflächlich sortiert. Da Philosophie im Heideggerschen Sinne Ereignis werden muß oder immer schon ist, ist jenes alte discidium linguae atque cordis72 aufgehoben, von dem sich Cicero noch gequält sah. Denn als Ereignis ist es eine Wahrheit im Sinne der Unverborgenheit. Und weil dies ein sprachliches Phänomen ist im Sinne der sprachlichen Erschlossenheit des Seienden für das Dasein, generiert die Sprache aus sich selbst jene Wahrheit, die nicht bloß wahrscheinlich zu sein braucht, um schon überzeugend zu sein. Hermeneutik als Auslegung und Sichtbarmachen von innerweltlich Vorliegendem ist ein rhetorisches Unterfangen, da es den Persuasionsprozeß als eigenes Anliegen verfolgt.

Heideggers und Gadamers Hermeneutik Hans-Georg Gadamer war im Sommer 1924 Hörer von Heideggers Vorlesung über Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. Wenn sich vor dem Hintergrund von Sein und Zeit abzeichnet, daß in dieser Vorlesung bereits das begriffliche Instrumentarium der Existenzialhermeneutik erprobt wird, so wäre die nächste Frage, ob sich auch für Gadamers Rhetorikbegriff, wie oben diskutiert, Anknüpfungspunkte in dieser Vorlesung ergeben. Am auffälligsten ist vielleicht der von Heidegger konsequent vom metaphysischen Ballast befreite Wahrheitsbegriff. Gadamer erweist sich in der Handhabung dieses Begriffes als platonisch beeinflußt, da es ihm nicht gelingt, das Wahrscheinliche allein als sprachlich-rhetorische Kategorie zu konzipieren. Dem entspricht wohl, daß Gadamer sich mit Vico an einem traditionellen Konzept von sensus communis orientiert, als dessen Philosophie er gewissermaßen die Rhetorik ansieht. Diese Konzeption ist grundsätzlich von der Existenzialhermeneutik Heideggers unterschieden. Wir konnten nämlich zeigen, daß Heidegger in der Struktur der Doxa eine Möglichkeit erkennt, sich als Orator seiner eigenen Philosophie zu verstehen und dementsprechend zu handeln. Gadamer scheint dagegen mit dieser sophistischen Tradition brechen und Rhetorik eher als traditionelles Bildungsgut in seine Hermeneutik integrieren zu wollen. Deshalb geht für Gadamer auch vielfach Rhetorik im ornatus und der Kunst, sich verständlich zu machen, auf, während er andererseits die Aufgabe des rhetorisch herzustellenden probabile durch Vermischung mit dem metaphysisch belasteten Evidenten außer acht läßt. Die Rede von der sprachlichen Erschlossenheit der Welt verdankt sich sicherlich Heideggers Rhetorikanalyse, doch wird sie bei Gadamer gerade um jene rhetorische Potenz gebracht, die die –––––––— 72

Vgl. Cicero, De oratore, III, 61: „Hinc discidium illud exstitit quasi linguae atque cordis, absurdum sane et inutile et reprehendendum, ut alii nos sapere, alii dicere docerent.“ „Daher stammt jene so unsinnige, nutzlose und tadelnswerte Trennung gleichsam zwischen Zunge und Gehirn, die dazu führte, daß uns die einen denken, und die andern reden lehrten.“

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Thomas Schirren

Sprache zum Schöpfer unserer Wirklichkeit macht und den Orator zum Manipulator der Meinungen. Dieser Umgang ist für Gadamer bezeichnend; der Existenzialhermeneutik Heideggers stellt er eine Texthermeneutik an die Seite, die zwar die Perspektive des Rezipienten einnimmt, aber doch einen Schwerpunkt auf das Verstehen des Textes legt. Als Hermeneuten werden wir nicht von den Dingen angesprochen, sondern von der in den Texten uns sich darbietenden Tradition. Es war das große Verdienst von Gadamer, die Rhetorik wieder in den hermeneutischen Rahmen zu stellen, in dem sie lange Zeit fraglos einen Platz innehatte. Doch diesen Platz sollte sie domestiziert und befreit von aller sophistischen Gewaltsamkeit einnehmen. Der Lehrer Heidegger hatte dieses sophistische Moment in seine eigene Philosophie transponiert und verhalf der Philosophie so zu einer Ereignishaftigkeit, wie sie sonst wohl nur dem Auftritt großer Redner eignet.

Josef Kopperschmidt

Heideggers Weg nach Syrakus Oder: Heidegger liest Platons Höhlengleichnis

1.Syrakus – Freiburg – Höhle War Heidegger wirklich in Syrakus, wie der Titel dieses Beitrags unterstellt? Natürlich! Wie hätte ihn sonst sein geschätzter Kollege Wolfgang Schadewaldt in der Freiburger Straßenbahn, frühmorgens, einen Tag nach dem Rücktritt vom Rektorat, mit der Frage begrüßen können „Nun, Herr Heidegger, sind Sie zurück aus Syrakus?“ Und wer wenn nicht Schadewaldt mußte wissen, wo Heidegger die letzten 12 Monate gewesen war? Hatte er doch entscheidend mitgewirkt am Zustandekommen der Reise nach Syrakus, die in diesem Fall von der Todtnauberger Hütte in das Rektorat der Freiburger Universität führte. Carl Friedrich von Weizsäcker, von dem wir über diese morgendliche Begegnung am 23. April 1934 in der Freiburger Straßenbahn wissen,1 hat leider nicht vermerkt, ob und gegebenenfalls was Heidegger auf diese Frage des Altphilologen Schadewaldt geantwortet hat. Ich könnte mir vorstellen, daß beide sich mit einem bloßen Augurenlächeln verständigt haben; denn Heidegger wird wohl kaum überhört haben, welch verlockendes Deutungsangebot für sein politphilosophisches Abenteuer angesichts seines offenkundigen Scheiterns in dieser Frage steckte. Zumal ihm selbst diese Deutungsfolie natürlich auch längst vertraut war, wie wir aus einem Brief vom 5. Oktober 1932 an seine langjährige Brieffreundin Elisabeth Blochmann wissen;2 in diesem Brief rät er ihr, doch mal Platons 7. Brief zu lesen, in dem Platon 353 ja über seine drei Syrakusreisen zwischen 390 und 360 und deren Motive genaue Auskunft gibt. Obwohl Platon das komplette Scheitern dieser Reisen nicht verschweigt, ist er doch nicht bereit, sich deshalb eine Grundüberzeugung ausreden zu lassen, die zum Kernbestand seiner politischen Philosophie gehört. Diese Grundüberzeugung lautet: Wenn politische Macht und philosophische Einsicht nicht personell vereint werden, wird es keine dauerhafte Pazifizierung der Gesellschaft und Beglükkung ihrer Bürger geben.3 Platon war von der Richtigkeit und Relevanz dieses Theorems so sehr überzeugt, daß er diese Symbiose von Politik und Philosophie, wenn ich richtig zähle, in seinen Werken mindestens zehnmal in emphatischer Weise beschworen hat. –––––––— 1 2 3

Günther Neske (Hg.), Erinnerungen an Martin Heidegger, Pfullingen 1977, 246. Vgl. Joachim W. Storck (Hg.), Martin Heidegger / Elisabeth Blochmann. Briefwechsel, Marbach 1989, 55. Rp. 473; 7. Brief 326 u.ö.

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Platons philosophisches Scheitern im Syrakus des Dionysios hat der Erfolgsgeschichte seiner Symbiose-Idee freilich kaum geschadet, und das gilt – trotz Poppers energischer Widerrede (1970) – bis in die Gegenwart hinein, wie die dauerhafte Virulenz elitistischer Sehnsüchte bezeugt – und sei es auch nur in der unverfänglichen Gestalt einer „Sehnsucht nach Nichtschlümpfen“.4 Und so hat auch Heidegger dieser Idee – unter Bedingungen von Weimar leider keine Seltenheit – durchaus Sympathie abgewinnen können, so schwer es rückblikkend auch sein mag, Heideggers Einschätzung der Hitler-Bewegung nachzuvollziehen, nämlich in ihr den möglichen Beginn einer radikalen „Umwälzung des deutschen Daseins“ zu sehen, die genau das einzulösen vermöchte, was Platon einst als die große „Metabole“ erhoffte, d.h. die zwar „schwierige, aber nicht unmögliche radikale Veränderung“ im Verhältnis zwischen Politik und Philosophie.5 Auch Heidegger teilte mithin die Annahme einer prinzipiell möglichen Versöhnung, ja Symbiose von Politik und Philosophie; und weil er sie teilte und in der NS-Revolution von 1933 die Chance einer solchen Symbiose sah, war er bereit, „sich einschalten“,6 nämlich als Rektor einer Institution, die – so Heidegger in seiner berühmt-berüchtigten Rektoratsrede – unter seiner „geistigen Führung“ zur „höchsten Schule des deutschen Volkes“ werden sollte, um die „Führer und Hüter des Schicksals des deutschen Volkes in die Erziehung und Zucht (zu nehmen)“.7 Die Lokalmetapher „Syrakus“, vermittels deren sich Schadewaldt und Heidegger blinzelnd wohl über ein total gescheitertes Abenteuer verständigen konnten, diese Metapher stand natürlich Platon nicht zur Verfügung, um über seine politphilosophische Kernüberzeugung (oder sollte man sie Utopie nennen?) in bildhafter Prägnanz reden zu können. Doch auch er hatte sich eine Bildsprache geschaffen, die über das in Syrakus philosophisch Versuchte in gebotener anschaulicher Strenge narrativ zu reflektieren erlaubte; ich meine natürlich das in die dramaturgische Mitte der c. 383 verfaßten Politeia positionierte Höhlengleichnis, das zu einer europäischen Fundamentalmetapher wurde und fraglos zum philosophiegeschichtlich berühmtesten Gleichnis avancierte.8 Auch Heidegger hat es nicht überlesen, sondern recht bald seine bildsprachliche Kraft und Evidenz für die philosophisch präzisere Klärung dessen bemerkt, was mit Syrakus eigentlich gemeint war, nämlich: der philosophisch verantwortete und organisierte Versuch der Befreiung aus der Höhle uneigentlicher Existenz. Über 20 Jahre, von 1926 bis 1947 hat sich Heidegger in Vorträgen, Aufsätzen und Vorlesungen mit diesem – wie er meinte – „unausschöpflichen“ Gleichnis beschäftigt, bes. ausführlich in den Vorlesungen WS 1931/32 und WS 1933/34, die nicht zufällig Heideggers Rektoratsrede vom 27. Mai 1933 gleichsam –––––––— 4 5 6 7 8

Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, Frankfurt a.M. 2007. Rp. 499. Vgl. Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit (1994), Frankfurt a.M. 2004, 259. Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/34, Frankfurt a.M. 1990 (= GA XVI 372ff), 16. Rp. 514ff.

Heideggers Weg nach Syrakus

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einrahmen, insofern sie in bildsprachlicher Gestalt den Deutungsrahmen präsent halten, der m. E. diese irritierende Rede überhaupt erst zugänglich macht. Doch nicht über diese und andere Reden9 soll im folgenden nachgedacht werden, sondern über das Höhlengleichnis, genauer: über einige Aspekte von Heideggers langjähriger Arbeit an diesem Gleichnis, die es geeignet machen sollte, als bildsprachlicher Deutungsrahmen für eine Bewegung zu fungieren, die dadurch eine philosophische Nobilitierung erfuhr, die den für diese Nobilitierung verantwortlichen Philosophen und seine Philosophie für manche Heideggerkritiker bis heute kompromittiert. Denn der Name Syrakus steht ja nicht nur als bereits g. Lokalmetapher für die Idee einer Versöhnung von Politik und Philosophie bzw. – in gleichnishafter Reformulierung und narrativer Explikation dieser Idee – für das Projekt der Befreiung aus der Höhle „einer abgelebten Scheinkultur“.10 Der Name Syrakus steht auch für das notorische Scheitern dieses philosophisch inspirierten Befreiungsprojekts. Daß Platon und bes. Heidegger das ganz anders sahen, hat u.a. auch damit zu tun, daß das Höhlengleichnis selbst bereits für den Fall des Scheiterns der Befreiung aus der Höhle eine attraktive Schuldverschiebung bereithält, die auch alle selbsternannten Befreier bis in die 68er-Generation hinein gern genutzt haben, um vom Paradox eines „exogenen Glückszwangs“ abzulenken. Schuld am Scheitern sind immer die Anderen, also die Höhlenbewohner, die sich unverständlicherweise nicht befreien lassen wollen, sondern dem Befreier sogar mit dem Tode drohen. Natürlich hat die Lichtgestalt Sokrates für das Porträt dieses philosophischen Befreiers Modell gestanden, was zugleich heißt: die traumatische Erinnerung an den Justizmord des Jahres 399 hat nur ausnahmsweise die Frage zu stellen erlaubt, ob es denn wirklich gar keine vernünftigen Gründe geben könnte für das störrische Verhalten der Höhlenbewohner. Hans Blumenberg gehört zu diesen Ausnahmeinterpreten, insofern er auf die „leeren Hände“ verweist, mit denen der Befreier in die Höhle zurückkehrt, weshalb Blumenberg auch nicht erstaunt ist, daß es ihm nicht gelingt, die Höhlenbewohner zum Verlassen der Höhle zu motivieren.11 Heidegger dagegen weiß nichts von „leeren Händen“; er hat noch in seinem Rechtfertigungsversuch über sein Rektorat von 1945 die tollkühne Meinung vertreten, daß man die Nazis hätte unterwandern können, „wenn um 1933 alle vermögenden Kräfte sich aufgemacht hätten, um langsam (!) in geheimem Zusammenhalt (!) die an die Macht gekommene ‚Bewegung‘ zu läutern und zu mäßigen“12. Mit dem Autor solcher Sätze bekommt man in der Tat – wie Marcuse gestand13 – „ein intellektuelles Problem“. Doch genug dazu an dieser Stelle.14 –––––––— 9 10 11 12 13 14

Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910–1976, Frankfurt a.M. 2000 (= GA 16). Heidegger, Selbstbehauptung, 19. Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989, 162. Heidegger, Selbstbehauptung, 259. In: Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1989, 375. Dieser Beitrag behandelt einen Teilaspekt a) eines Aufsatzes über Wie Heidegger in Platons Höhle kam. Oder: Was an Heideggers Aristoteles-Vorlesung von 1924 irritieren

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2. Das Höhlengleichnis als „philosophische Grundfabel“ „Platon spricht immer dann im Mythos, wenn sein Philosophieren etwas Wesentliches in der höchsten Eindringlichkeit sagen will“ so Heidegger in seiner Vorlesung WS 1933/34.15 Dort behandelt er mal wieder den Mythos vom Höhlengleichnis, in dem er entsprechend der zitierten Einschätzung der Mythenfunktion für Platons Denken die „Mitte des Platonischen Philosophierens“ markiert findet.16 Nicht anders Blumenberg, der diesen Mythos – „Parabel“ wird er genannt – zur „philosophischen Grundfabel“ nobilitiert,17 an deren Deutung sich ganze Jahrhunderte abgearbeitet haben, wie Blumenbergs Problemkrimi „Höhlenausgänge“ (1989) beispielhaft belegt. Natürlich kommt auch Heidegger bei Blumenberg vor,18 doch er kommt nicht gut weg. Gleichwohl! „Arbeit am Mythos“ – um den Titel eines anderen Blumenbergschen Problemkrimis zu zitieren (1979) – sind Heideggers Deutungsversuche dieses Platonischen Gleichnisses durchaus; ja in seinem Fall kann man sogar von einer singulär intensiven und entsprechend lang andauernden „Arbeit am Mythos“ sprechen und Heideggers Interesse an dieser „Arbeit“ ist durchaus genau dort verortbar, wo sie nach Blumenberg zur dauernden Überraschung aller Aufklärer immer wieder und immer noch ihren Grund hat, nämlich in dem notorischen Ungenügen, die Welt und uns selbst allein durch Theoriearbeit durchsichtig machen zu können.19 Doch das gleiche Ungenügen führt nicht zu gleichen Strategien seines Befriedungsversuches, wie der Vergleich zwischen Heidegger und Blumenbergs eigener Arbeit am Höhlengleichnis beispielhaft belegt. Doch bevor ich diesen Vergleich zur kontrastiven Präzisierung des Heideggerschen Interesses am Höhlengleichnis nutze, sei kurz der Platonische Referenztext in Erinnerung gerufen.

3. Platons Höhle Man stelle sich Menschen vor – so Platons Exposition seines Höhlengleichnisses – die lebenslang in einer Höhle gefesselt sind, so daß sie sich nicht bewegen können und deshalb weder das Feuer in der Höhle zu sehen vermögen noch die Mauer, die zwischen ihnen und dem Feuer im hinteren Teil der Höhle verläuft, noch die Gegenstände, die Menschen hinter der Mauer vorbeitragen. Und weil –––––––—

15 16 17 18 19

müßte, der in dem von mir hg. Sammelband Heidegger über Rhetorik 2009 erscheinen wird, b) einer Monograpie, die ich unter dem Titel Heideggers langer Weg nach Syrakus. Oder: Wie Heidegger zum politischen Redner wurde 2010 publizieren werde. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit (Vorlesung WS 1933/34), Frankfurt a.M. 2001 (=GA 36/37). Ebd. 124. Blumenberg, Höhlenausgänge, 190. Ebd. 729ff. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979, 303.

Heideggers Weg nach Syrakus

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die Gefesselten dies alles nicht sehen können, begreifen sie auch nicht, daß es nur ihre eigenen Schatten sind sowie die Schatten der hinter der Mauer vorbeigetragenen Gegenstände, die sie auf der gegenüberliegenden Wand erkennen, noch wissen sie, wie diese Schatten zustandekommen. Wenn nun jemand diese Höhle hätte einmal verlassen können und das Feuer in der Höhle, die Mauer, die vorbeigetragenen Gegenstände und das Sonnenlicht selbst, das alles erst sichtbar macht, außerhalb der Höhle hätte sehen können, er würde, wenn er in die Höhle zurückkehrte, völlig orientierungslos im Dunkeln herumirren wie ein Blinder und sich lächerlich machen, sobald er den Zurückgebliebenen von dem blendenden Licht außerhalb der Höhle berichten würde. Und wenn er sie gar aus der Höhle herauszerren wollte, um sie teilhaben zu lassen an diesem Licht, würden sie ihn notfalls mit Gewalt daran hindern – wie sie es (so der implizite Bezug Platons) seinerzeit mit Sokrates 399 getan hatten. Warum aber – so drängt sich die Frage auf – insistiert Platon in der anschließenden Interpretation seines Höhlengleichnisses trotz dieser für ihn traumatischen Erfahrung des Justizmordes an seinen Lehrer darauf, daß der Namenlose in die Höhle zurückkehrt und nicht nur er, sondern alle, für die er bei Platon stellvertretend steht, nämlich die Philosophen? Warum dieses unerbittliche „Ihr müßt zurück!“,20 was jedem als ungerechte Zumutung erscheinen muß, der die Schattenwelt endlich hinter sich gebracht hat, um sein Leben wie „auf der Insel der Seligen“ in ewiger beglückender Schau zu genießen? Warum also dürfen der oder die (wie auch immer) Befreite(n) nicht hier oben bleiben? Platon weicht dieser Frage nicht aus, sondern verteidigt emphatisch seine für die „Politeia“ konzeptionell grundlegende und für sein politphilosophisches Denken insgesamt konstitutive These von der politischen Verantwortung der Philosophie für diejenigen, denen die Befreiung nicht gelungen ist: Die Philosophen müssen nach Platon daher notfalls zur Übernahme politischer Verantwortung genötigt werden, weil nur sie etwas von politischer Verantwortung verstehen; und sie verstehen etwas davon, weil nur sie 1. das zur politischen Führung notwendige philosophische Wissen besitzen und weil nur sie 2. kein Interesse an politischer Führung haben, sondern lieber ihren philosophischen Denkambitionen nachgehen, was sie aber – paradox genug – gerade für politische Führung qualifiziert; denn Macht darf man nur denen geben, die an Macht kein Interesse haben, weil sie so gegenüber den Verlockungen des Machtmißbrauchs immun sind.21 Woraus folgt, was bereits o. als Platons politphilosophisches Credo formuliert worden ist: Die beste politische Herrschaftsform wäre diejenige von Philosophenkönigen, weil sich in ihnen höchstes Wissen mit geringstem Machtinteresse verbinden und vernünftige Herrschaft in Gestalt der Herrschaft der Vernünftigen realisieren ließe; eine Symbiose, deren Wünschbarkeit zwar später von Kant bis Habermas entschieden widersprochen wurde, weil sie als gefährliche Utopie durchschaut worden war, die aber immer für viele, die anders als –––––––— 20 21

Rp. 520c. Ebd. 521 a/b.

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Kant der aufklärenden Kraft „des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft“22 nicht zu trauen vermochten, als verlockende Strategie der Problemlösung bis in die Gegenwart attraktiv geblieben ist, – nicht nur für Heidegger.23 Daß Heidegger in Platons Höhlengleichnis einen naheliegenden Deutungsrahmen erkennen konnte, der die Syrakusmetapher nicht nur ergänzte, sondern die Syrakusmetapher überhaupt erst in eine narrative Gleichnislogik zu übersetzen erlaubte, wodurch aus der Syrakusabenteuer ein Abstieg in die Höhle „der menschlichen Angelegenheiten“24 wurde, das liegt ebenso auf der Hand wie dies, daß das Platonische „Ihr müßt zurück!“ das Stichwort zu Heideggers „Man muß sich einschalten“ geradezu anbot, wie er es im Brief an seinen Freund Jaspers im März 1933 formulierte25 und in der Rektoratsrede appellativ an die Studenten adressierte, will sagen: Es versteht sich von selbst, daß das Höhlengleichnis das Interesse eines Philosophen erregen mußte, der seine Gegenwart als politischen „Aufbruch“ in eine „neue deutsche Wirklichkeit“26 verstand und diese radikale „Umwälzung des ganzen menschlichen Seins“27 nicht nur bejahte, sondern als große Chance für sich und eine Philosophie vermutete, die „ihrer Zeit mächtig (sein sollte und wollte)“.28 Deshalb mußte sie bei diesem „Aufbruch“ die ihr zukommende Aufgabe“29 übernehmen, nämlich aus diesem „Aufbruch“ einen Ausbruch aus der Höhle zu machen und ihn in die entsprechend richtige Richtung zu lenken.30 Platons Höhle wird jedenfalls für Heidegger – so schwer man das retrospektiv auch begreifen mag – zum bildsprachlich plausibelsten und philosophiegeschichtlich ambitioniertesten Ort, von wo aus man den „Aufbruch“ der nationalsozialistischen Erneuerungsbewegung aufbrechen lassen konnte, weshalb, wer über Heideggers politische Ambitionen reden will, über dessen Interesse am Höhlengleichnis und seiner Deutung nicht schweigen kann.31

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Jürgen Habermas, Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkeit, in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a.M. 2005, 15ff. Vgl. Josef Kopperschmidt, Rhetorik als Medium politischer Deliberation: z.B. Aristoteles, in: Ders. (Hg.), Politik und Rhetorik, Opladen 1995, 74ff. Rp. 517. Vgl. Safranski, Meister, 259. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 212 u.ö. in den Reden Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theaitet. (Vorlesung WS 1931/32), Frankfurt a.M. 1997 (= GA 34), 324. Vgl. Storck (Hg.), Martin Heidegger, 144. Heidegger, Wesen 2001, 85. Vgl. Safranski, Meister, 280. Es sind bes. Figal (Günter Figal, Martin Heidegger, Hamburg 2003) und Safranski, die die Rolle des Höhlengleichnisses für Heideggers politisches Engagement bemerkt und gelegentlich für ihre Untersuchung genutzt haben.

Heideggers Weg nach Syrakus

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4. Heideggers Höhle Insofern verwundert es nicht, daß Heideggers umfängliche Interpretation des Platonischen Höhlengleichnisses in der WS-Vorlesung 1931/32 sich bes. für dessen – so Heideggers durchgehende Gliederung der Gleichnisdramaturgie – 4. und letztes „Stadium“ interessiert, in dem es um die Begründung eben dieses erzwungenen „Zurück!“ geht, die der Philosophie keine bloß kontingente Option empfehlen will, sondern die Rückkehr in die Höhle als konsequente und daher unumgängliche Ratifikation ihres richtigen Selbstverständnisses begreift. Dieses 4. „Stadium“, das nicht zufällig bes. viele zeitaktuelle Bezüge erkennen läßt, schließt nach Heideggers Interpretation eine Erzähldramaturgie ab, die von der Schilderung der Gefesselten in der Höhle (= 1. Stadium) über deren Entfesselung (= 2. Stadium) und Austritt aus der Höhle (= 3. Stadium) bis zum „Kampf innerhalb der Höhle zwischen den Befreiern und den jeder Befreiung widerstrebenden Gefangenen“ reicht (= 4. Stadium)32; denn die Befreiung aus der Höhle fordert den zu Befreienden nach Platon eine „radikale Umwendung der Seele“33 ab und d.h.: eine radikale Preisgabe ihre bisherigen Sichtweisen und damit einen Bruch mit allen bisherigen Überzeugungen. Erkennbar liest Heidegger das Platonische Höhlengleichnis als einen „Versuch über die Befreiung“, um es mit einem seinerzeit berühmten Buchtitel aus dem Jahre 1969 von einem seiner berühmten (zeitweiligen) Schüler zu formulieren; dieser Schüler hieß – man glaubt es kaum – Herbert Marcuse. Natürlich hat Heidegger unter Befreiung etwas ganz Anderes verstanden als diese Ikone einer anderen (ebenso selbsternannten) Befreiungsbewegung, nämlich die der 68er: Befreiung als „Kampf in der Höhle“ meint bei Heidegger genauerhin „Kampf“ um die „Entbergung“ von Wahrheit, insofern sie „der Verborgenheit entrissen, dieser in gewissem Sinne geraubt werden muß“,34 denn – dies die Pointe der viel diskutierten Heideggerschen Deutung des Platonischen bzw. des „ursprünglichen“ griechischen Wahrheitsbegriffs – Wahrheit meint (anders als Richtigkeit) „Privation“, wie es der griechische Begriff für Wahrheit, nämlich „a-letheia“, bereits morphologisch mit seinem a-privativum anzeigt: Nicht Unwahrheit wie im Deutschen ist die Negation von Wahrheit, sondern Wahrheit ist die Negation von Unwahrheit im privativen Sinne von Un-Verborgenheit, weshalb das Leben in der Höhle als Normalität eines im Scheinwissen gefesselten und deshalb uneigentlichen „Lebens in der Unwahrheit“ meint, ob die Höhlenbewohner das nun wissen oder nicht. Ohne fremde Hilfe gelingt daher die Befreiung aus diesem „Leben in der Unwahrheit“ einer Höhlenexistenz in der Regel nicht oder nur ganz wenigen; und diese wenigen gelingt sie auch nur, weil sie jemanden gefunden haben, der sie aus dieser wohligen „Gemeinsamkeit der gemeinsamen Meinens in der Höhle“ – „Höhlengeschwätz“ von Heidegger verächtlich ge–––––––— 32 33 34

Heidegger, Wesen 1997, 79ff. und Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947 (= GA 9, 203ff), 31 u.ö.. Rp. 521c. Heidegger, Platons Lehre, 32.

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nannt – „herausgerissen“, ja „herausgezerrt hat“ (!) und „in einer langen Geschichte“ ans Licht gebracht hat.35 Deshalb dürfen diese Wenigen nach ihrer Befreiung auch nicht oben bleiben, sondern Platon nötigt ihnen ab, „Sorge für die anderen zu tragen und sie in Obhut zu nehmen“.36 Nicht anders klingt Heideggers Variante des kategorischen „Ihr müßt zurück!“ bei Platon: Die „Freigewordenen“ sollen sich nicht „in der Sonne aalen“ (wie Heidegger Platons „Insel der Seligen“ plastisch in die Moderne übersetzt und damit zugleich dementiert),37 sondern sie müssen als „Befreier“(!) zurück in die Höhle, selbst wenn sie dort nicht willkommen sind, sondern auf Haß und Ablehnung stoßen, ja mit dem Tode bedroht werden. Diese Nötigung zur praktische Selbstverpflichtung der Philosophen ist von einem (keineswegs selbstverständlichen) Philosophiebegriff nicht zu trennen, wie ihn Platon nach Heidegger exemplarisch entwickelt und seine Schüler gelehrt hat, um sie auf ihre spezifische Rolle vorzubereiten; und die besteht nicht „in theoretischer Selbstgenügsamkeit“,38 sondern in der Pflicht, „andere aus der Höhle ans Licht heraufzuführen“.39 In seiner Rektoratsrede wird Heidegger diese von Platon „paideia“ genannte Erziehung der geistigen Führungselite der Universität übertragen, um ihr so eine Chance ihrer Selbsterneuerung und „Selbstbehauptung“ unter neuen politischen Rahmenbedingungen zu verschaffen und damit anderen Erziehungsinstitutionen (etwa den NS-Ordensschulen) zuvorzukommen und den Kolbenheyers40 in der Partei ihren Einfluß zu nehmen, die nie wirklich frei geworden sind (und deshalb auch andere nicht befreien können), weil sie nie wirklich „den Weg der Befreiung (aus der Höhle)“ gegangen sind, der „ein Weg des Philosophierenden in die Philosophie“ ist.41 Das Platonische Höhlengleichnis ist nach Heidegger mithin deshalb ein Versuch bzw. eine bildsprachlich gestützte Reflexion über „das Wesen der Befreiung“, weil sie eine Reflexion über „das Wesen der Wahrheit“ enthält und damit zugleich eine Reflexion über „das Wesen des Menschen“,42 denn wenn Wahrheit (anders als Richtigkeit) keine bloße Urteilskategorie meint, sondern „ein Geschehen mit dem Menschen selbst“, dann „ist“ der Mensch so lange nicht, als er nicht „in der Wahrheit ist“,43 was – alle drei Wesensbestimmungen zusammenfassend – heißt: Die Wahrheit befreit den Menschen zu sich selbst. Das –––––––— 35 36 37 38 39 40

41 42 43

Heidegger, Wesen 1997, 86. Rp. 520a. Heidegger, Wesen 2001, 186. Rüdiger Bubner, Antike Themen und ihre moderne Verwandlung, Frankfurt a.M, 1992, 23. Rp. 521c. Erwin Guido Kolbenheyer war ein vielgelesener Schriftsteller und Anhänger des NSRegimes, auf dessen Redeauftritt am 29. Januar 1933 in Freiburg mit dem Thema Lebenswert und Lebenswirkung der Dichtkunst in einem Volke Heidegger mit einer äußerst scharfen Replik während (!) seiner Vorlesung über Platons Höhlengleichnis am 30. Januar 1933 reagierte. Heidegger, Wesen 1997, 88. Ebd. 72ff.; 87ff. Heidegger, Wesen 2001, 186.

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Höhlengleichnis wird damit für Heidegger zur traditionsstiftenden Parabel, in der diese fundamentale Einsicht narrativ entfaltet wird. Es ist nicht ohne Reiz zu vermerken, daß von dieser befreienden Kraft der Wahrheit auch das in Stein gehauene Zitat mit goldenen Lettern sprach, das über dem Hauptportal der Freiburger Universität bis heute steht: Anschlußfähig war die aus dem Johannes-Evangelium zitierte Wahrheit für Heidegger natürlich nicht, doch büßte sie durch Nichterwähnung nicht bereits ihre dementierende Kraft ein.

5. Blumenbergs Höhle Ich habe o. bereits angedeutet, daß sich Platons Höhlengleichnis natürlich auch ganz anders lesen läßt, nämlich nicht im eben skizzierten Heideggerschen Sinne als „Versuch über die Befreiung“ zu einem Leben in der Wahrheit, sondern auch als exemplarische Verdichtung eines in der gesamten „Politeia“ entfalteten „Dialogs über das Versagen des Dialogs“, wie es Blumenberg mit expliziter und schonungsloser und z.T. süffisanter Kritik an Heidegger getan hat.44 Vom „Versagen des Dialogs“ spricht Blumenberg, weil man in der Höhle nicht von einem Leben außerhalb der Höhle sinnvoll reden kann, es sei denn, man wisse aus Erfahrung, was eine Höhle ist, weil man sie einmal verlassen hat, will sagen: Von Höhle läßt sich nur mit impliziten Bezug auf Nicht-Höhle reden,45 weil der verwendete Code (wie jeder Code) prinzipiell binär strukturiert ist und seine Einheit genau in seiner je spezifischen Unterscheidungsweise findet. Diese Erklärung eines gleichsam codetheoretisch notwendigen Scheiterns eines Dialogs in der Höhle über ein Leben außerhalb der Höhle ist zugleich eine Erklärung für die Gewalt der Höhlenbewohner gegen denjenigen, der sie notfalls mit Gewalt aus der Höhle in das befreiende Licht der Wahrheit zerren will. Blumenberg zeigt daher viel Verständnis für das Verhalten der Höhlenbewohner, die ja nur auf die Hilflosigkeit des Zurückgekehrten reagieren und auf „die leeren Hände“, die nach Blumenberg das eigentliche „Ärgernis“ jener Zumutung darstellen, die in der Tradition Platons Menschen zum Verlassen ihrer vertrauten und bewährten Lebenswelt überreden will, ohne ihnen mehr bieten zu können als ihren Anspruch auf ein privilegiertes Wissen über ein Leben „in der Wahrheit“. Wenn der Dialog über ein Leben außerhalb der Höhle aber ohnehin zum Scheitern verurteilt ist, weil es in der Höhle für einen solchen Dialog Anschlußchancen aus den genannten Gründen weder gibt noch geben kann, wenn mithin die Chancen für eine kollektive Aufklärung in Gestalt eines „kollektiven Ausbruchs aus der Höhle“46 völlig unrealistisch sind, warum schickt Platon –––––––— 44 45 46

Blumenberg, Höhlenausgänge, 78f. Ebd. 185ff. Safranski, Meister, 265 u.ö.

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dann – so fragt auch Blumenberg, und dies ist für ihn die Frage „nach dem Schlüsselproblem der Auslegung des Platonischen Höhlengleichnisses“47 – warum schickt Platon dann den Philosophen in die Höhle zurück? Darauf gibt es nach Blumenberg nur eine sinnvolle Antwort, und das ist selbstredend eine ganz und gar unheideggersche Antwort: Der Philosoph muß, wenn er schon die Höhlenbewohner nicht aus den Fesseln ihres Nicht- und Scheinwissens befreien kann, sie wenigstens daran hindern, daß sie als Nicht- und Scheinwissende noch einmal Macht in der Höhle bekommen und so die politischen Verhältnisse zu bestimmen und zu beeinflussen vermögen, unter denen einem Mann wie Sokrates der Prozeß gemacht werden könnte, von dem Platon behauptet, er sei der einzig „wahre Politiker“ seiner Zeit gewesen.48 Wie sich eine solche Wiederholung seines Schicksals verhindern ließe, w. h.: wie in der Höhle wahre und damit gemeinwohlorientierte Politik möglich sein könnte, das ist nach Blumenberg das eigentlich Thema der „Politeia“. Ideal ist der darin entwickelte Entwurf einer politischen Ordnung nicht deshalb, weil er ein Programm zur Abschaffung der Höhle enthielte; ideal ist dieser Entwurf allenfalls in dem Sinne, daß er ein Programm zur Pazifizierung und Domestizierung der Höhle plausibilisieren zu können beansprucht, das dem wirklichen Wohl aller Gesellschaftsmitglieder dient und nicht die dumpfen Vorstellungen der Höhlenbewohner über ein Höhlenglück als Maßstab einer wahren Politik mißversteht. Damit wird klar: Der Befreite muß zurück in die Höhle, weil er die Macht an sich reißen soll! Er kehrt mithin – so Blumenbergs Gleichnisdeutung49 – nicht als „Aufklärer“ zurück, sondern als „Machthaber“, weil eine aufgeklärte Politik unter Bedingungen der Höhle ihren Machtanspruch anders legitimieren muß als aus der freien Zustimmung der Machtunterworfenen: „Anstelle der Mitteilung von Einsicht“ tritt „die Herrschaft aus Einsicht“.50 Sie wird für den Rückkehrer zur „Vermeidungsform, sich für die Wahrheit töten zu lassen“,51 wodurch endgültig jede Chance einer Pazifizierung der Höhle vertan wäre. Wem der Blumenbergsche Begriff „Machthaber“ für Philosophen zu radikal ist, mag mit Bubner von „Stellvertretern“ sprechen,52 womit zwar erkennbar Blumenbergs Ablehnung geteilt wird, den oder die in die Höhle zurückkehrenden (bzw. genauer: zurückgeschickten) Philosophen mit Heidegger „Befreier“ zu nennen, nicht aber Blumenbergs Funktionsbestimmung übernommen wird, nämlich den oder die Philosophen auf eine „Herrschaft aus Einsicht“ festzulegen. „Der Philosophenkönig ist kein Titel für präpotente Direktiven, für Besseroder Alleswisser, sondern entwirft für jedes besondere Tun unter Wahrung von dessen intaktem Vollzug den leitenden Fluchtpunkt, in dem alle Akteure –––––––— 47 48 49 50 51 52

Ebd. 206. Gorg. 521c. Blumenberg, Höhlenausgänge, 150. Ebd. 133. Ebd. 130. Rüdiger Bubner, Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, Frankfurt a.M. 1996, 43ff.; vgl. Bubner, Antike Themen, 32ff.

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übereinkommen“.53 Diese Interpretation will erkennbar mit der „Stellvertreterfunktion“ des Philosophen nicht „von außen“ die Handlungs- und Entscheidungsverantwortung des einzelnen aushöhlen, sondern „der partiellen Dunkelheit des Guten an sich“ Rechnung tragen und subsidiär „den allgemeinen Bezug auf das Gute“ gewährleisten.54 Daß auch diese vikarisch entschärfte Interpretation des Philosophenkönigs „kein richtiges Leben aller in der Höhle“ versprechen kann, sondern nur „den wenigen, die die Höhle verlassen haben, um doch wieder in sie herabzusteigen“,55 – mit dieser ernüchternden Einschränkung respektiert Bubner zwar Adornos berühmtes Diktum aus dessen „Minima Moralia“, nach dem es „kein richtiges Leben im falschen gibt“,56 gesteht diese Einsicht aber echt platonisch nur den „wenigen“ zu, die wissen können, daß sie „im falschen Leben“ leben und deshalb, weil sie es wissen, sich von diesem „falschen Leben“ nicht die Maßstäbe des „richtigen“ naiv vorgeben lassen. Wer die Höhle, wie es für „die vielen“ zutrifft, nie verlassen hat, dem ist diese rettende Unterscheidung zwischen „richtig/falsch“ prinzipiell verwehrt. Bubner verschweigt gottlob nicht, daß diese Unterscheidung nur „auf der Basis eines Praxisbegriffs“ zu retten ist, dessen konstitutives „Worumwillen“ bei Platon ohne die „Idee des Guten“ nicht auskommt und damit auch „die mythische Figur des Philosophenkönigs unausweichlich macht“.57 Genau so unausweichlich, wie „der Praxisphilosophie des Aristoteles mit ihrem Wissenschaftsimpuls der Rationalisierung mythischer Restbestände zuallererst (!) die Figur des Philosophenkönigs zum Opfer fällt“.58

6. Aristoteles’ Höhle Zu diesem Verständnis von Höhle als einer prinzipiell nicht abschaffbaren, sondern allenfalls durch eine vernünftige Herrschaft in Gestalt einer Herrschaft der Vernünftigen pazifizierbaren Lebensform ist nach Bubner mithin ebenso wie nach Blumenberg nur der genötigt, wer wie Platon glaubt, unterscheiden zu können (bzw. zu müssen) zwischen dem privilegierten Wahrheitszugang des „einen“ oder der „wenigen“ und dem Nicht- und Scheinwissen der vielen bzw. „der Masse“.59 Da Blumenberg die Prämisse dieser „Platonischen Unterscheidung“, nämlich die prinzipielle Möglichkeit absoluter Gewißheitsevidenz, radikal bestreitet, interessieren ihn verständlicherweise philosophiegeschichtli–––––––— 53 54 55 56 57 58 59

Bubner, Rationalität, 47. Ebd. Ebd. 48. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1979, 42. Bubner, Rationalität, 48. Ebd. Ebd. 206; vgl. Josef Kopperschmidt, Gibt es einen rhetorischen Humanismus? Oder: Was weiß die Rhetorik vom Menschen?, in: E. Wiersing (Hg.), Humanismus und Menschenbildung, Essen 2001, 314ff.

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che „Umbesetzungen“ des Platonischen „Urgleichnisses“, und dies erst recht, wenn sie seinem eigenen antiplatonischen Verständnis von Höhle so nahe kommen, wie es bei dem (weithin unbekannten) Höhlengleichnis des Platonschülers und (gelegentlichen) Platonkritikers Aristoteles der Fall ist,60 weshalb dieser sich als willkommener Mitstreiter bei der „Rettung der gefährdeten Höhlenwelt“61 natürlich von selbst anbietet. „Erfüllte Höhlenträume“ überschreibt daher Blumenberg das entsprechende Kapitel, in dem er die Rekonstruktion der Aristotelischen „Umbesetzung“ des Höhlengleichnisses versucht – aus einer bei Cicero vorhandenen einschlägigen Zitation.62 Von „erfüllten Höhlenträumen“ kann Blumenberg sprechen, weil die „üppige“ bzw. „komfortable Ausstattung“ der Höhle (in diesem Fall sogar mit Kunstwerken) offensichtlich „Annehmlichkeiten“ zu bieten hat, die Gedanken an ein Verlassen der Höhle kaum aufkommen lassen, sondern Höhle als einen durchaus bewohnbaren Ort empfehlenswert machen. Darum wird auch überhaupt kein Befreiungsversuch gemacht, sondern ein erdgeschichtliches Ereignis wird hypothetisch als Ursache dafür angenommen, daß die Höhlenbewohner „plötzlich“ eine Welt außerhalb der Höhle zu sehen bekommen, die sie mit ihrem großartigen Tagund Nachtwechsel und mit einem Himmelsgewölbe, an dem Gestirne ihre ewigen und unveränderbaren Bahnen ziehen, ebenso überrascht wie in ihren Bann zieht. Wenn – so die Argumentation – die Menschen diese Wunder einmal „plötzlich“ sähen würden, „dann würden sie sicher davon überzeugt sein: es gibt Götter, und das alles ist der Werk von Göttern“.63 Erkennbar ist Höhle hier nicht mehr als Fundamentalmetapher menschlicher Existenz relevant, sondern bloß als Ort für ein „Gedankenexperiment“, in dem es nicht um die Chance eines Lebens „in der Wahrheit“ geht, sondern um die Bedingungen eines Glaubens an Götter als Schöpfer dieses Universums, – Bedingungen, die heutzutage wieder aus sehr verwandten Argumentationen unter dem Titel „Intelligent Design“ vertraut sind. Daß Aristoteles mit dieser Funktionalisierung der Höhle deren metaphorische bzw. gleichnishafte Rolle bei Platon „völlig umformt“, so daß „deren Sinn verkehrt“ wird wie die Dialektik von Licht und Schatten „verpufft“, ist Flashar zuzugeben,64 doch vergibt sich Flashar mit dieser erkennbar mißlaunigen Lesart jede Chance, die immmanente Kritik des Platonschülers Aristoteles an Platon und dessen Höhlengeschichte mitzuhören und deren evolutionäre Anschlußchancen zu bemerken, für die Blumenberg ein so waches Ohr hat (den Flashar freilich – im Unterschied zu anderen Autoren – mit keinem Wort erwähnt). So sehr Aristoteles mit seinem Höhlenexperiment Blumenbergs antiplatonischem Verständnis der Höhle entgegenkommt, so sehr muß ihn Heideggers Deutung des gleichen Gleichnisses verdrießen, wie sie in vielen, z.T. äußerst –––––––— 60 61 62 63 64

Ebd. 193ff. Ebd. 192. De natura deorum II 95; jetzt in Hellmut Flashar u.a., Aristoteles. Fragmente zu Philosophie, Rhetorik, Poetik, Dichtung, übers. und erläut. von H. Flashar u.a., Berlin 2007, 139f. Flashar, Aristoteles, 28. Ebd. 140.

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umfänglichen Texten dieses Philosophen expliziert wird, ohne daß er sich hätte die Annahme ausreden lassen, Platon habe die prinzipielle Möglichkeit von Höhlenausgängen nie ganz ausgeschlossen, sondern sich politische Rahmenbedingungen denken können, die dem Ausbruch aus der Höhle eine Chance bieten. Mit Blick auf diese (ja auch von Heidegger geteilte) Hoffnung wirft Blumenberg seinem Kollegen u.a. vor, daß dessen Deutung des Höhlengleichnisses durch „mehrere aufschlußreiche Ungenauigkeiten“ in einem Ausmaß verfälscht sei, daß sie eher in die Gruppe der „Rezeptionsunfälle“ eingereiht werden müsse.65 Zu einer der wichtigsten „Ungenauigkeit“ zählt dabei nach Blumenberg die Tatsache, daß bei Heidegger „vom Höhlenfeuer mit keinem Wort die Rede ist; was die Schatten wirft, ist allein das vom Höhlenausgang her einfallende Licht.“ Mit anderen Worten: Für Heidegger „gibt es das ‚Abbild‘ der Sonne, mithin jenes ‚Guten‘ selbst, in der Höhle nicht“.66 Besonders aufschlußreich ist diese „Ungenauigkeit“ für Blumenberg, weil sie natürlich genau so wenig zufällig ist wie es die „Verlesung“ ist, die Niehues-Pröbsting seinerseits Blumenberg und seiner Deutung des Höhlengleichnisses vorwirft, daß sie nämlich die Eigenschatten der Höhlenbewohner an der Wand schlicht nicht zur Kenntnis genommen habe.67 Zufällig ist die Heideggersche „Verlesung“ für Blumenberg nicht, weil sie geeignet ist, die Höhle zu dem trostlosen Ort zu machen, aus dem selbsternannte Befreier die scheinbar Unfreien dann mit gutem Gewissen glauben befreien zu müssen, was sie sich dann auch noch als philosophisch motivierte Verzichtsleistung gutschreiben lassen möchten. Diese versuchte Erklärung der verlesungsbedingten Gleichnisdeutung durch Heidegger trifft übrigens auch dann noch deren Interesse ziemlich genau, wenn Blumenberg selbst wieder einer „Verlesung“ erlegen sein sollte, wie NiehuesPröbsting annimmt,68 denn so sehr Heidegger sich in der Platonischen Höhle auskannte, die Aristotelische Höhle, hätte er sie kennengelernt, sie wäre ihm – das läßt sich vorhersagen – nie vertraut geworden. Diese Vorhersage wage ich nicht trotz, sondern aufgrund der Kenntnis der 2002 endlich in der GA als Bd. 18 publizierten Vorlesung des SS 1924, die lange Zeit irrtümlich unter dem Titel „Über Rhetorik“ angekündigt wurde, jetzt korrekter mit „Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie“ überschrieben ist. Korrekter ist dieser Titel, weil Heidegger in dieser Vorlesung erkennbar gar nicht interessiert war an der spezifischen Leistung der Rhetorik als eines Verständigungsmediums unter Bedingungen fehlender Gewißheitschancen, wie sie nach Aristoteles für praktisches Handeln typisch sind;69 was Heidegger an der Aristotelischen Rhetorik interessierte, war die ebenso exemplarische wie singuläre Bereitstellung eines hoch differenzierten Systems von Kategorien zur Beschreibung des faktischen Lebens in seiner Alltäglichkeit. Entsprechend versteht Heidegger die Rhetorik –––––––— 65 66 67 68 69

Blumenberg, Höhlenausgänge, 719ff. Ebd. 737; vgl. 741ff. Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. Frankfurt a.M. 1987, 341ff. Dies ist aber so wenig der Fall wie Blumenbergs Verlesevorwurf an Heidegger zutrifft; man sieht eben auch als Interpret nur, was man sehen kann (oder will). Vgl. Aristoteles Rhet. 1356a; Kopperschmidt, Rhetorik als Medium, 74ff.

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als eine „Disziplin, in der die Selbstauslegung des Daseins ausdrücklich vollzogen wird. Die Rhetorik ist nichts anderes als die Auslegung des konkreten Daseins, der Hermeneutik des Daseins selbst“.70 Dieses Rhetorikverständnis wurde von Heidegger auch in „Sein und Zeit“ (1927) übernommen und führte dort zu einer unter Rhetorikern hoch geschätzten und gern zitierten, weil philosophisch nobilitierten Rhetorikdefinition, die das notorisch schlechte Image der Rhetorik bei Philosophen zu dementieren schien:71 „Diese (d. h. die Aristotelische Rhetorik) muß – entgegen der traditionellen Orientierung des Begriffes der Rhetorik an so etwas wie einem ‚Lehrfach‘ – als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufgefaßt werden“.72 So attraktiv diese Rhetorikdefinition auf den ersten Blick auch sein mag, man sollte nicht überlesen, daß Heidegger die von der Rhetorik gelieferte Hermeneutik eine „Hermeneutik der Alltäglichkeit“ nennt und das meint nicht nur: Hermeneutik eines Daseins, das den Menschen allgemein als „ein Seiendes, das spricht“ (zoon logon echon)73 zu verstehen empfiehlt, sondern das meint auch: Hermeneutik eines Daseins, das durch Kategorien bzw. Existenzialien wie „Öffentlichkeit“, „man“, „Gerede“, „Geschwätz“, „Schein“, „Uneigentlichkeit“ usw. spezifiziert wird; denn für ein „Seiendes, das spricht“, ist „dieses Sprechen (zugleich) auch die Möglichkeit, in die sich das Dasein verfängt“, wenn es nämlich der „eigentümlichen Tendenz (erliegt), im Zunächst, in der Mode, im Geschwätz aufzugehen und sich von da leiten zu lassen“.74 Terminologisch heißt ein solches „sich verfangen“ seit dem sogenannten Natorp-Bericht Heideggers von 192275 „Verfallen an“ bzw. „Verfallenstendenz“.76 Entsprechend wird dieses „sich verfangen“ in der Vorlesung von 1924 genauerhin auch beschrieben als ein „Prozeß des Lebens, in der Welt, in dem, was üblich ist, aufzugehen, zu verfallen an seine Welt“, wodurch das Sprechen selbst „zur Grundgefahr (des) Daseins“ werden kann,77 weil diese „Alltäglichkeit die Auslegung an sich reißt“.78 Den Beweis dafür, das die „Grundverfassung“ eines sprachlich bestimmten Daseins zugleich zu seiner „Grundgefahr“ werden kann, –––––––— 70 71 72 73 74 75

76 77 78

Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Stuttgart 2002 (=2002a), 110. Vgl. etwa die begeisterte Reaktion bei Klaus Dockhorn in seiner Rezension von Gadamers „Wahrheit und Methode“, Göttingische Gelehrte Anzeigen 218 (1966), 169ff., hier: 186. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1957 (= GA 2), 138. Aristoteles Pol. 1253a; vgl. dazu Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, Frankfurt a.M. 2002 (= GA 18), 45ff.; Kopperschmidt, Rhetorik als Medium , 78ff. Heidegger, Grundbegrifffe, 108. Der Natorp-Bericht enthält Heideggers Bericht über den Stand seiner Aristoteles-Studien, die unter dem Titel Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles 1924 erscheinen sollten, aber nie feriggestellt wurden. Der vorliegende „Bericht“ diente als Unterlage für Heideggers Bewerbung auf die vakanten philosophischen Extraordinariate in Marburg und Göttingen. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, 18ff. Ebd. Heidegger, Grundbegriffe, 277.

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sieht Heidegger in der „Existenz der Sophistik“, insofern sie „mit dieser vorwiegenden Möglichkeit des Sprechens Ernst gemacht hat“,79 nämlich: ein Reden zu methodisieren, das „ohne Sachkenntnis den anderen zu überwinden (vermag)“ und so „die eigentliche Macht über das Dasein gewinnt“.80 Das sophistische Versprechen, „die schwächere Sache zur stärkeren machen zu können“,81 charakterisiert daher ein Programm, dessen Virulenz man nach Heidegger voraussetzen muß, um die Schwierigkeiten zu verstehen, mit denen ein Projekt zu kämpfen hatte, das „aus dieser Veräußerlichung des griechischen Daseins, aus dem [...] Gerede das Sprechen zurückzuholen [wollte, um es] dahin zu bringen, daß Aristoteles sagen kann: Der logos ist logos ousias, `Sprechen über die Sache, was sie ist“.82 Dieses Sprechen heißt „Ernst machen“ mit der anderen Möglichkeit des Sprechens, wie sie Philosophie und Wissenschaft pflegen; diese andere Möglichkeit ist „den Griechen nicht in den Schoß gefallen“, sondern es „bedurfte der ganzen „Anstrengung“ von Denkern wie „Platon und Aristoteles“, um sie dem „Gerede“ und „Geschwätz“ abzuringen bzw. zu „entreißen“83 und ein „theoretisches Sprechen mit den Sachen selbst“ zu ermöglichen, wie es sich exemplarisch in den „Grundbegriffen der aristotelischen Philosophie“ vollzieht.84 Natürlich ist hier nirgends von der Höhle die Rede; und doch verweisen die beiden Möglichkeiten des Sprechens, das sachbezogene der Philosophie und Wissenschaft wie das pragmatisch-opportunistische der Sophistik, auf alternative Redemöglichkeiten, die unschwer in die bildsprachliche Logik eines Gleichnisses zu übersetzen sind, für das aber Platons und nicht Aristoteles’ Höhle Modell gestanden hat: Nur wem es gelingt, die Höhle „herrschender Verständlichkeit“85 zu verlassen oder ihr „entrissen zu werden“(!), kann zu einer „Sachlichkeit“ gelangen, der sich die Dinge „unverstellt“ zu zeigen vermögen, will sagen: „Alltäglichkeit“ meint auch die noch bildfreie Kurzcharakteristik einer später als höhlenhaft abgewerteten Gestalt uneigentlicher Existenz, der Wahrheitsfähigkeit abgeht, weil sie in einer Welt existiert, deren Auslegung, statt „ausdrücklich“ vollzogen und damit als „Wissen“ präsent zu sein, einfachhin im „Sichbefinden“ unterstellt ist.86 Die solchermaßen erschlossene Welt ist eine bloß scheinhaft erschlossene Welt, weil sie sich im Sich-Zeigen zugleich verschließt, was Heidegger später am Verhalten der Höhlenbewohner plausibilisiert, denen ihre Höhlenwelt auch durchaus als eine sinnhaft verstehbare Welt

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Ebd. Ebd. 109 bzw. 108. Dieses Protagoras-Zitat übernimmt Heidegger (2002, 108) aus der Aristotelischen Rhetorik 1402a. Ebd. 109. Ebd. 277. Ebd. 109; 263. Ebd. 275. Ebd. 262.

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erscheinen kann, ja muß, solange sie die Höhle nicht verlassen haben, obwohl dieser Eindruck auf Täuschung beruht.87 Wie sehr Heidegger hier die Aristotelische „Rhetorik“ mit Platonischen Augen liest (und damit deren evolutionäres Potential verfehlt), belegt nicht nur die erwähnte Vorlesung von 1924, die ja die intensivste Auseinandersetzung Heideggers mit dieser „Rhetorik“ und der Rhetorik überhaupt darstellt. Auch der „Exkurs“ über „Platos Stellung zur Rhetorik“, den Heidegger ein Semester später in seiner WS-Vorlesung 1924/25 über Platons „Sophistes“ einfügt,88 enthält einiges, was Aristoteles-Kenner irritieren müßte. Dort vermerkt Heidegger nämlich einmal sein Erstaunen darüber, daß Aristoteles den Autor völlig unerwähnt lasse, dem er doch „die positive Begründung der Möglichkeit einer Rhetorik“ verdanke, wie sie Platons „Phaidros“ enthalte,89 zum anderen bestimmt er als „die eigentliche Entdeckung des Aristoteles“ in dessen „Rhetorik“ das „alltägliche Sprechen, (das) nicht auf die aletheia geht, aber doch ein gewisses Recht hat, weil es zum Sinn des alltäglichen Daseins gehört, daß es sich in gewissem Umkreis im Augenschein bewegt“.90 Und worin soll dieses „gewisse Recht“ einer Rhetorik nun genauer bestehen, die kein Interesse an der Wahrheit hat, obwohl deren prinzipielle Zugänglichkeit ja (mit Platon) unterstellt ist? Gibt es etwa einen ganz anderen Begriff von „Alltäglichkeit“, als Heidegger ihn in Anlehnung an Platon entwirft, eine „Alltäglichkeit“ also ohne intrinsische „Verfallstendenz“? So ist es! Von ihr ist in Aristoteles’ „Rhetorik“ und „Politik“ die Rede,91 doch für sie hat Heidegger keine Augen, weil er die Voraussetzungen der Aristotelischen „Rhetorik“ nicht teilt und aufgrund seiner Platonischen Sichtweise auch nicht teilen kann. Und diese Aristotelischen Voraussetzungen meinen, daß „Alltäglichkeit“ weniger durch eine intrinsische Verfallstendenz zum „Gerede“ und „Geschwätz“ charakterisiert ist als durch einen notorischen Evidenzmangel im Bereich praktischer Problemlagen, mit denen es aber die Rhetorik gerade zu tun hat, woraus folgt: Für die Rhetorik läßt sich ein „gewisses (Existenz)recht“ ernsthaft nur unter Bedingungen prinzipiell fehlender Gewißheitschancen behaupten, weil nur deren Ratifikation Rhetorik zu einem „vernünftigen Arrangement mit der Vorläufigkeit der Vernunft“ werden läßt, wie es an Blumenbergs Rhetorik-Essay beispielhaft ablesbar ist. Damit dürfte auch ein Zusammenhang zwischen Blumenbergs philosophischer Nobilitierung der Rhetorik und seiner emphatischen Ablehnung der Heideggerschen Deutung des Platonischen Höhlengleichnisses erkennbar werden: Wer mit irgendwelchen „Höhlenausgängen“ rechnet, wie es Heidegger tut, der kann mit Rhetorik als eigensinniger Ressource von Vernunft unter Bedingungen der Höhle nichts anfangen, sondern vermag sie allenfalls für eine „Hermeneutik“ zu funktionali–––––––— 87 88 89 90 91

Heidegger, Wesen 1997, 88ff. Martin Heidegger, Platon: Sophistes (Vorlesung WS 1924/25), Frankfurt a.M. 1992 (= GA 19), 308 ff. Ebd. 337f. Ebd. 339. Vgl. Kopperschmidt, Rhetorik als Medium, 74ff.

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sieren, die Rhetorik aber um das betrügt, was sie in Wahrheit immer war und ist, nämlich eine Oratorik, die eine Hermeneutik allenfalls in dem Sinne impliziert, als sie jeweils die materialen, personalen, formalen, situativen und medialen Überzeugungsressourcen muß erschließen können, um anschlußfähig zu sein an ein Publikum, um dessen Zustimmung sie im Interesse kooperativer Handlungschancen wirbt. Wenn heute nur eine Vernunft unter Bedingungen der Höhle, d.h. unter Bedingungen prinzipiellen Evidenzmangels auch philosophisch weithin als einzig mögliche Gestalt von Vernunft gelten darf, wenn heute mithin das rhetorische Verfahren der methodischen Klärung von Meinungen durch eine zustimmungsbezogene Verständigungsarbeit an ihnen den Glauben an einen direkte Wahrheitszugänglichkeit (zumindest außerhalb dogmatischer und fundamentalistischer Zirkel) abgelöst haben dürfte, dann läßt sich relativ risikofrei bilanzieren: Für die rhetoriktheoretische Reflexion und Weiterentwicklung dürften die wenigen Seiten des Blumbergschen Essays von 1981 über „Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik“ – ich sage es durchaus mit Bedauern – weit mehr produktive Anschlußchancen bieten als die vielen hundert Seiten, die Heidegger in seinen Vorlesungen direkt oder indirekt der Rhetorik widmet. Und erst recht wird Heidegger den, der nach Erklärungen sucht für das, was vage als „Wiederkehr der Rhetorik“92 umschrieben wird, ratlos lassen; denn wie könnte eine Philosophie diese faktische „Wiederkehr“ zu erklären helfen, die den Aufbruch der NS-Bewegung als „kollektiven Ausbruch aus der Höhle falscher Tröstungen und bequemer Sinn-Gewißheiten“93 mißdeutete und ihn 12 Monate lang als Befreiung zu einem Leben in der Wahrheit rhetorisch pries? Dieser veritable Skandal einer Philosophie nötigt dazu, nach anderen Höhlen zu suchen, als sie Heidegger bei Platon fand bzw. gefunden zu haben glaubte. Gottlob gibt es sie ja, diese anderen Höhlen!

–––––––— 92 93

Hellmuth Vetter / Richart Heinrich (Hg.), Die Wiederkehr der Rhetorik. Wien / Berlin 1999. Safranski, Meister, 278.

Peter L. Oesterreich

Empfindenkönnen Fundamentalrhetorische Pathelogie im Ausgang von Heidegger und Aristoteles Zu den unschätzbaren Verdiensten, die das von Gert Ueding konzipierte und herausgegebene Historische Wörterbuch der Philosophie auszeichnet, gehört die große Aufmerksamkeit, die es dem innovativen Projekt der rhetorischen Anthropologie widmet.1 Allerdings fällt auf, daß innerhalb der sich bisher abzeichnenden, unterschiedlichen Positionen der neuen Homo-rhetoricusAnthropologie noch ein Kapitel zur affektischen Verfaßtheit des Menschen fehlt.2 Dabei haben doch gerade die Affekte seit der sophistischen Erfindung „einer sämtliche Lebensbereiche der polis umgreifenden rhetorischen Philosophie“3 im 5. Jahrhundert v. Chr. eine tragende Rolle gespielt. So betont z.B. Gorgias ausdrücklich ihren pathepoietischen Charakter, wenn er die performative Wirkungsmacht der Rede beschreibt: „vermag sie doch Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren.“4 In der Moderne hat insbesondere Klaus Dockhorn darauf hingewiesen, daß gerade die Pathelogie zusammen mit der Ethologie, die „eigentliche Domäne“5 des rhetorischen Denkens darstellt. Die besondere theoretische Wertschätzung und Aufmerksamkeit der Rhetorik für das sogenannte ‚Irrationale‘, die Affektivität des Menschen, bilde geradezu ihr Proprium, das sie gegenüber der in der Regel traditionell affektfeindlichen Philosophie abgrenze und auszeichne. Wie Recht Dockhorn zuminderst für die stoisch geprägte, rhetorikrepugnante, aber wirkungsgeschichtlich dominante Philosophietradition hat, zeigt schon ein kurzer Blick auf die Anthropologie Kants: „Affekten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüths, weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt.“6 Die antike stoische Pathologisierung der menschlichen Affektivität, die Kant hier krankheitsmetaphorisch aufgreift, –––––––— 1 2 3 4 5

6

Vgl. Josef Kopperschmidt, Anthropologie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 2006, VI 1067–1074. Vgl. Franz-Hubert Robling, Rhetorische Anthropologie in: Gert Ueding (Hg.), Rhetorik. Begriff-Geschichte-Internationalität, Tübingen 2005, 307–310. Gert Ueding,Vorwort ebd. I. Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, hrsg. u. übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1989, 9. Klaus Dockhorn, Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur- und Geistesgeschichte, in: Ders., Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg / Berlin / Zürich 1968, 49. Immanuel Kant, AA, VII 251.

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verschärft sich noch durch das typisch neuzeitliche Verlangen nach radikaler Autonomie. Die Affektivität wird von Kant geradezu als heteronome Gegenmacht rationaler Selbstbestimmung gefürchtet, welche die Herrschaft der Vernunft im Menschen selbst permanent bedroht. Dabei tritt der verschließende, die menschliche Erkenntnisfähigkeit in Mitleidenschaft ziehende Charakter starker Gefühle in den Vordergrund, der die metaphysische und religiöse Kritik an den Affekten seit der Antike motiviert: „der Affect macht (mehr oder weniger) blind“.7 Den vielleicht radikalsten, modernen Versuch, diesen affektfeindlichen ‚Traditionsblock‘ zu sprengen und so einen neuen Zugang zur pathozentrischen Anthropologie der Rhetorik zu bahnen, finden wir dagegen in Martin Heideggers Phänomenologie der Stimmungen. Es war Heidegger, der aufgrund seiner Aristoteles-Lektüre eine philosophiegeschichtlich geradezu revolutionäre, existentialontologische Wendung der Aristotelischen Pathelehre in Sein und Zeit vollzog, die den Weg zu der in der Gegenwart diskutierten Homo-rhetoricusAnthropologie frei machte.

1. Heideggers pathelogische Theorierevolution Die aus fundamentalrhetorischer Perspektive bahnbrechende Rehabilitierung des Pathos-Themas in Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit (1927) geht auf die Interpretation der Aristotelischen Rhetorik zurück, deren Grundzüge Heidegger schon in seiner Vorlesung Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie vorgetragen hatte. In § 29. Das Dasein als Befindlichkeit begründet Heidegger noch einmal sein besonderes existentialphilosophisches Interesse an der Rhetorik des Aristoteles. Demnach stellt die Pathelogie des zweiten Buches der Aristotelischen Rhetorik sowohl die „die erste überlieferte, systematisch ausgeführte Interpretation der Affekte“8 als auch „die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“9 dar. Zudem urteilt Heidegger, „daß die grundsätzliche ontologische Interpretation des Affektiven überhaupt seit Aristoteles kaum einen nennenswerten Schritt vorwärts hat tun können.“10 Diese Betonung der singulären Sonderstellung der Rhetorik des Aristoteles für die existentiale Hermeneutik des menschlichen Daseins und Miteinanderseins, erklärt sich unter anderem aus Heideggers phänomenologischem Programm einer Destruktion der überlieferten Begrifflichkeit. In seinen Augen verstellt die nacharistotelische Tradition der Philosophie, Psychologie und Schulrhetorik auch im Falle der Affektivität des Menschen den von der Phänomenologie geforderten authentischen Zugang ‚zu den Sachen selbst‘. Was –––––––— 7 8 9 10

Ebd. 253. Martin Heidegger, GA 2, 184. Ebd. Ebd. 185.

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Heidegger an der traditionellen philosophischen und pyschologischen Behandlung des Themas ‚Affekte‘ und ‚Gefühle‘ kritisiert, ist vor allem deren systematische Marginalisierung. So sinken z.B. in der philosophischen Psychologie die Gefühle neben den maßgeblichen Akten des Denkens und Wollen zu bloßen Begleitphänomenen des vorstellenden Subjektes herab. Dagegen verfolgt Heideggers entschiedenes ‚Zurück zu Aristoteles‘, einerseits das Programm einer Destruktion der nacharistotelischen Philosophie-, Rhetorik- und Psychologiegeschichte. Auf der anderen Seite vertritt Heidegger das rekonstruktive, ‚archäologische‘ Programm, die durch die Überlieferungsgeschichte verschüttete rhetorische Pathelogie des Aristoteles wieder freizulegen und in die eigene Daseinhermeneutik einzufügen. Heideggers Adaption der Aristotelischen Pathelogie will bewußt einen Neuanfang wagen und wendet sich schon durch den terminologischen Neologismus ‚Befindlichkeit‘ gegen die Übernahme traditioneller Termini, wie ‚Pathos‘, oder ‚Affekt‘. Er will damit schon im Ansatz die Konnotation des Unalltäglichen und Extraordinären vermeiden, welche die Ausdrücke ‚Pathos‘ und ‚Affekt‘ gewöhnlich umgibt. Hinter dem Existential der ‚Befindlichkeit‘ verberge sich im Gegenteil „das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein.“11 Als präreflexive Weisen der Ganzerfassung unseres In-der-Welt-seins gehen die Stimmungen als Modi der Befindlichkeit, dem präzisen theoretisch urteilenden Begreifen des innerweltlich vorhandenen Seienden vorher und erscheinen daher für den urteilenden Verstand als merkwürdig vage und unerfaßlich. Dennoch dürfen die Stimmungen aus daseinshermeneutischer Sicht gerade nicht zu bloßen psychischen Begleitphänomenen degradiert werden. Von daher vollzieht sich in Sein und Zeit gegenüber der gesamten affektrepugnanten Philosophietradition eine überraschende Umkehrung der Fundierungsverhältnisse. Die Stimmungen als Modi der menschlichen Befindlichkeit lassen sich demnach gerade nicht als Folge unseres Denken und Handelns ableiten, sondern sind umgekehrt „die Voraussetzung dafür, das ‚Medium‘, darin erst jenes geschieht.“12 Im Resultat sind die Stimmungen aus daseinshermeneutischer Sicht gerade nicht das Flüchtigste, Unbeständigste und Subjektivste, sondern „das, was dem Dasein von Grund auf Bestand und Möglichkeit gibt.“13 Dieser phänomenologische Aufweis der Fundamentalität und existentialhermeutischen Apriorität der Stimmungen, welche die überlieferte Dominanz des Denkens und Wollens über das Affektive geradezu umkehrt, bildet den ersten Aspekt der pathelogischen Theorierevolution innerhalb Heideggers Phänomenologie der Stimmungen. Die traditionelle Orientierung von Philosophie und Psychologie an den punktuell auftretenden, extremen Affektlagen, die den Menschen plötzlich überfallen, betreffen und aus der Fassung bringen können, hatten den Blick auf die von Heidegger hier herausgestellte Fundamen–––––––— 11 12 13

Martin Heidegger, GA 2, 178. Martin Heidegger, GA 29/30, 100. Martin Heidegger, GA 29/30, 100.

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talität der Stimmungen weitgehend verstellt. Die entschiedene Abkehr von dieser traditionellen Verkürzung der Affektenlehre bahnt nun auch einer zweiten revolutionären Wendung der Affektenlehre den Weg: dem phänomenologischen Aufweis der lebensweltlichen Universalität und Ubiquität der Stimmungen. Schon in der Wahl der Termini ‚Befindlichkeit‘ und ‚Stimmung‘ drückt sich die universalisierende Grundtendenz Heideggers aus, das Affektive als ubiquitäres anthropologisches Grundphänomen inmitten der alltäglichen Lebenswelt anzusetzen und damit von der Limitierung und Marginalisierung, welche die traditionelle Orientierung an den extraordinären, sporadisch auftretenden, starken und besinnnungsfeindlichen Affekten mit sich brachte, zu befreien. Diese Universalisierung des Affektiven macht darauf aufmerksam, daß es für das menschliche Dasein prinzipiell kein affektives Vakuum gibt. Wir sind immer schon irgendwie gestimmt. Dabei hat Heidegger nicht die außergewöhnlichen Gefühle wie heftige Freude und tiefe Trauer im Blick, sondern gerade die unauffälligen, leicht zu übersehenden, moderaten Stimmungslagen, die unseren Alltag meist unauffällig durchziehen und bestimmen: die ‚leise Bangigkeit‘ oder die ‚hingleitende Zufriedenheit‘. Dazu gehört auch „jene Ungestimmtheit, in der wir weder mißgestimmmt noch ‚gut‘ gestimmt sind. Aber in diesem ‚weder-noch‘ sind wir gleichwohl nie nicht gestimmt.“14 Das in der stoischen Philosophietradition auch noch von Kant angezielte Ideal der Apathie erweist sich aus existentialphilosophischer Sicht damit als Illusion. Nach Heidegger bilden die Stimmungen gerade nicht zeitlich und situativ begrenzte, besondere innerseelische Zustände, sondern ubiquitäre Modi menschlicher Befindlichkeit, die das In-der-Welt-sein durchgängig immer schon bestimmen. Als Modi der Befindlichkeit des Menschen haben sie universalanthropologischen Status: „das Dasein als Dasein ist immer schon von Grund aus gestimmt.“15 Der neben der Fundamentalisierung und Universalisierung dritte Aspekt der pathelogischen Theorierevolution Heideggers betrifft die Neubestimmung des Verhältnisses der Stimmungen zur Wahrheit, die wiederum der Gedankenfigur einer inversiven Destruktion überlieferter Begriffshierarchien folgt. Den theoretischen Hintergrund für diesen dritten Aspekt der Veritabilisierung des Affektiven bildet Heideggers neuer phänomenologischer Wahrheitsbegriff, der im Rückgang auf die altgriechische Aletheia, die Primordialität der präreflexiven Ersterschließung des Seienden im Ganzen betont und somit den traditionellem propositionalen Wahrheitsbegriff der Urteilslogik relativiert. Mit diesem neuen phänomenologischen, präpropositionalen Wahrheitsbegriff gewinnen nun auch die Stimmungen eine primordiale erkenntnistheoretische Stellung, weil sie ursprünglicher als Denken und Wollen in der Weise einer präreflexiven Ersterfassung das Ganze von Welt, Mitdasein und Existenz erschließen. „Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein –––––––— 14 15

Martin Heidegger, GA 29/30, 100. Martin Heidegger, GA 29/30, 102.

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Sichrichten auf … allererst möglich.“16 Aufgrund dieses Ersterschließungscharakters besitzt die Befindlichkeit aus phänomenologischer Sicht eine eigene Art von präreflexiver Evidenz, die dem menschlichen Dasein eine primäre Orientierung seines In-der-Welt-seins ermöglicht und in der auch die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis begründet liegt. Von daher besteht für Heidegger „nicht das mindeste Recht, die ‚Evidenz‘ der Befindlichkeit herabzudrücken durch Messung an der apodiktischen Gewißheit eines theoretischen Erkennens von purem Vorhandenen“.17 Zusammengefaßt führt Heideggers dreifache pathelogische Theorierevolution somit zur Fundamentalisierung, Universalisierung und Veritabilisierung des Affektiven. Die Daseinshermeneutik Heideggers vollzieht damit eine universalanthropologische Rehabilitierung der Affektivität des Menschen, die ihre Marginalisierung in Philosophie, Psychologie und Schulrhetorik aufhebt. Sie kritisiert die traditionelle Reduzierung der menschlichen Affektivität auf einige spektakuläre Modi, ihre Instrumentalisierung im redetechnischen Interesse und ihre epistemologische Degradierung gegenüber den propositionalen Formen des Wissens. Darüber hinausgehend läßt Heideggers Phänomenologie der Stimmungen das ganze Spektrum der meist unspektakulären, aber das alltägliche Dasein im Ganzen durchstimmenden Affektivität des Menschen hervortreten. Die Stimmungen stellen sich dabei als unhintergehbare Modi menschlicher Befindlichkeit heraus, die auch jeder redepraktischen Indienstnahme der Affekte zu Grunde liegt und deren eigentümliche vorbegriffliche Wahrheit in einer ganzheitlichen Ersterschließung der Lebenswelt besteht, die auch der wissenschaftlichen Welterschließung ihre primäre Orientierung vorgibt. Ferner verdeutlicht Heidegger, wie gerade auch die besondere Kunstform des öffentlichen ‚Redenhaltens‘, auf die sich die klassische Rhetoriktheorie konzentriert, in der allgemeinen Befindlichkeit des Daseins fundiert ist. Gerade die Möglichkeiten und Grenzen des öffentlichen Redenhaltens werden von der jeweils herrschenden Stimmungslage vorgegeben: „In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner. Er bedarf des Verständnisses der Möglichkeiten der Stimmung, um sie in der rechten Weise wecken und zu lenken.“18 Von daher erklärt sich auch das eigentümliche Interesse der traditionellen Rhetoriktheorie an den Affekten. Die rhetorische Psychagogie gründet wesentlich in der genauen Kenntnis der Modi der Befindlichkeit und ihrer pathepoietischen Umgestaltung. Heideggers Phänomenologie der Stimmungen gibt somit auch eine neue philosophische Begründung für die wichtige Rolle, welche die Affektenlehre seit jeher für die Rhetorik als einer Kunstlehre überzeugender Rede spielte. Insgesamt gesehen bietet Heideggers Phänomenologie der Stimmungen eine für die moderne Philosophie der Rhetorik wichtige generelle Grundlegung einer anthropologischen Pathelogie. Allerdings beschränkt sich die exitentialontologische Affektenlehre in Sein und Zeit auf die für die Problematik des Buches –––––––— 16 17 18

Martin Heidegger, GA 2, 182. Martin Heidegger, GA 2, 181. Martin Heidegger, GA 2, 184f.

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besonders relevanten Furcht- und Angstanalysen. Diese konkreten Stimmungsanalysen decken somit nur einen kleinen Teil der in der Pathelogie der Aristotelischen Rhetorik behandelten Affekte ab. Heidegger hat dieses Defizit einer ausführlichen Phänomenologie der Stimmungen selbst gesehen und mit der eigenen, existentialontologischen Fragestellung von Sein und Zeit begründet, die speziell auf die Aufdeckung der Angst als Grundbefindlichkeit des menschlichen Dasein abzielt. „Innerhalb der Problematik dieser Untersuchung können die verschiedenen Modi der Befindlichkeit und ihre Fundierungszusammenhänge nicht interpretiert werden.“19 So überzeugend Heideggers generelle anthropologische Rehabilitierung menschlicher Affektivität für eine fundamentalrhetorische Pathelogie des Menschen erscheint, so ergänzungsbedürftig wirkt somit dagegen seine spezielle Phänomenologie der Stimmungen, die sich in Sein und Zeit auf die Grundbefindlichkeit der Angst und in Grundbegriffe der Metaphysik auf die epochale Grundstimmung der Langeweile reduziert. Sie verstellt damit geradezu den Blick auf die Vielfalt der in der Öffentlichkeit auftretenden pathelogischen Phänomene und tritt damit in Opposition zum rhetorisch-politischen Denken des Aristoteles, der gerade die öffentliche Lebenswelt der Polis als Ort des eigentlichen Existierens angesehen hat.

2. Die pluralistische Pathelogie des Aristoteles Aristoteles definiert den Menschen bekanntlich als ein politisches Redelebewesen, ein zoon logon echon kai politikon, das inmitten der antagonistischen Öffentlichkeit der Polis sein Leben zu führen hat. Der Mensch findet sich in einer von der Doxa beherrschten politischen Öffentlichkeit vor, die ihn in einen permanenten rhetorischen Wettstreit mit Konkurrenten verwickelt. Dabei wird er konfrontiert mit Stimmungen, Dingen und Personen, die sein leibhaftes Erleben bis in die eigenen psychosomatischen Zustände hinein bestimmen. In seiner Rhetorik stößt Aristoteles aus der typisch propositionalistischen Perspektive des Rationalisten, der primär an der Urteilslogik interessiert ist, auf das Thema der Affekte. Angesicht richterlicher Entscheidungen entdeckt er in der Lebenswelt rein rational nicht zu erklärende Anormalien menschlichen Urteilens, die ihn auf die Spur der Affekte führen. Die Ursache dieser oft verblüffenden Abweichungen im richterlichen Urteil liegt, so erkennt Aristoteles, offensichtlich in der unterschiedlichen affektischen Verfassung der Richter: Dem Liebenden nämlich erscheint die Person, über die er das Urteil fällt, entweder gar kein oder nur ein geringfügiges Unrecht begangen zu haben, dem Hassenden jedoch erscheint das Gegenteil der Fall zu sein […].20

–––––––— 19 20

Martin Heidegger, GA 2, 184. Aristoteles, Rhetorik, übers. u. erläut. v. Christoph. Rapp, 1. Halbband, Berlin 2002, 72.

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Diese phänomenologische Beobachtung führt Aristoteles in seiner Rhetorik zu einer über die Logik der beiden Analytiken und die Dialektik seiner Topik hinausgehenden, erweiterten Theorie rhetorischer Rationalität, die neben der Ethologie, die den Einfluß der Rednerpersönlichkeit auf das Urteil des Publikums reflektiert, auch eine ausführliche Pathelogie enthält. Diese entscheidende Rolle des Pathos für die Rhetorik hatten zwar vorher schon die Sophisten betont und ihre erstaunliche pathepoietische Macht als ‚Werkmeisterin der Überredung‘ gefeiert. Aber dem Rationalisten Aristoteles geht es in seiner rhetorischen Pathelogie darüber hinaus vor allem um eine systematische, analytische Durchdringung der von den Sophisten betonten, scheinbar irrationalen, peithischen Wirkungmacht affektiver Rede. Dies führt ihn im allgemeinen Teil seiner Pathelogie zunächst zu jenem dreistelligen Analyseschema des Affektphänomens, das dann auch für Heideggers Phänomenologie der Stimmungen maßgeblich sein wird. So läßt sich z.B. Beispiel beim Phänomen des Zornes erstens die Verfassung des Zornigen selbst, zweitens die Personen, denen gegenüber er Zorn trägt und drittens die Dinge, aufgrund deren er Zorn empfindet, unterscheiden. Die Pathelogie des Aristoteles, die das Affektische von vorne herein im Ganzen der politischen Lebenswelt, in der sich der Betroffene zusammen mit anderen Personen und Angelegenheiten vorfindet, verortet, bildet auch in anderer Hinsicht das Vorbild für Heideggers Phänomenologie der Stimmungen. Heideggers existentialphilosophische Abkehr von der eingeschränkten Perspektive der traditionellen Psychologie, die dazu neigt, das Phänomen des Affektischen im seelischen ‚Innenraum‘ des einzelnen Subjektes einzuschließen und seine bahnbrechende Erkenntnis über die Tragweite der Stimmungen, die eine präreflexive Ganzerschließung von Existenz, Mitdasein und Welt ermöglichen, schließt auch an die im Ganzen der politischen Lebenwelt angesetzte, holistische Pathelogie der Aristotelischen Rhetorik an. Bei aller Affinität von Aristoteles und Heidegger fallen aber auch grundsätzliche Differenzen ins Auge. Ein erster, gravierender Unterschied besteht in der pluralistischen Anlage der Aristotelischen Pathelogie. Im Gegensatz zu Heideggers monistisch angelegter Phänomenologie der Stimmungen, die sich auf die Entdeckung der Angst als der einen Grundbefindlichlichkeit des menschlichen Daseins fokussiert, fällt auf, daß Aristoteles auf ein solches fundamentalphilosophisches Programm pathelogischer Letztbegründung verzichtet. Stattdessen finden wir in der Aristotelischen Rhetorik ein nicht hierarchisiertes Tableau von zwölf Grundaffekten, die für das rhetorische Existieren in der lebensweltlichen Öffentlichkeit von Bedeutung sind. Zu dieser Pluralität von zwölf Grundaffekten, die im zweiten Buch der Rhetorik in einem nicht weiter begründeten topischen Katalog vorgestellt und analysiert werden, gehören: der Zorn (orge), die Sanftmut (praünsis), die Liebe (philia), der Haß (echthra), die Furcht (phobos), der Mut (tharsos), die Scham (aischyne), Freundlichkeit (charis), Mitleid (eleos), gerechter Unwille (nemesis), Neid (phthonos) und Ehrgeiz

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(zelos).21 Diese bilden insgesamt eine egalitäre patheologische Topographie, welche die grundlegenden Möglichkeiten menschlicher Affektivität in der rhetorischen Kommunikation beschreibt. Zunächst fällt auf, daß sich die ersten sechs Affekte dieser pathelogischen Topik des Aristoteles nach dem Prinzip der Kontrarität in drei Gegensatzpaare untergliedern: erstens Zorn contra Sanftmut, zweitens Liebe contra Haß und drittens Furcht contra Mut. Die pathepoietische Rolle dieser konträren Dispositionen für die rhetorische Praxis liegt dabei auf der Hand. Ein bestimmtes Pathos läßt sich nämlich nur durch die Erregung seines Gegenteils wirksam bekämpfen: Zorn durch Besänftigung, Liebe durch Haß und Furcht durch Ermutigung. Dagegen läßt sich die zweite Sechsergruppe (Scham, Freundlichkeit, Mitleid, gerechter Unwille, Neid, Ehrgeiz) nicht ohne weiteres in Gegensatzpaare untergliedern. Obwohl Aristoteles den Katalog seiner rhetorischen Pathelogie der zwölf Grundaffekte nicht weiter rechtfertigt, lassen sich die heuristischen Gesichtspunkte, die ihn vermutlich zur Auswahl und zur Zusammenstellung seiner zwölf Grundaffekte geführt haben, durchaus entziffern: die für jede rhetorische Situation typische Temporalität und Agonalität. Demnach lassen sich die zwölf Grundaffekte in eine temporale und eine agonale Sechsergruppe einteilen. Dabei bilden die drei bereits erwähnten Gegensatzpaare die sechs temporalen Grundaffekte, welche der „geschichtliche[n] Lebenswelt in der Dreidimensionalität ihrer temporalen Horizontalität“22 korrespondieren. Der Zorn und die Sanftmut, die jeweils durch ein bereits geschehenes, vermeintliches Unrecht erregt werden, beziehen sich primär auf Vergangenes. Dagegen erregen das Gegenwärtige und Geschehende, das was uns aktuell betrifft oder vor Augen liegt, unsere Liebe oder unseren Haß. Mit Furcht oder Mut sehen wir schließlich dem vermeintlich aus der Zukunft auf uns Zukommenden entgegen. Mit diesen sechs temporalen Grundaffekten legt Aristoteles einen gemessen an der Dreidimensionalität der menschlichen Lebenswelt vollständigen Katalog temporaler Grundaffekte vor, der aus dem Gesichtpunkt der Zeitlichkeit eine erste Antwort auf die von Heidegger in Sein und Zeit offen gelassene Frage nach den ‚verschieden Modi der Befindlichkeit‘ geben könnte. Hinzu kommt bei Aristoteles eine zweite Sechsergruppe von Grundaffekten, die der Agonalität in der politischen Lebenswelt entsprechen. Zu diesen agonalen Grundaffekten gehören die Scham, die Freundlichkeit, das Mitleid, der gerechte Unwille, der Neid und der Ergeiz. Dabei lassen sich die sechs agonalen Grundaffekte den von der Fundamentalrhetorik herausgestellen personalen Peristasen jeder Redesituation zuordnen. Zur Inventorik jeder agonalen Redesituation in der Öffentlichkeit gehören demnach fünf personale Topoi: erstens die oratorische Partei selbst, welche die Redeinitiative ergreift; zweitens die klientelische Partei, für die sich oratorische Partei z.B. vor Gericht, einsetzt; drittens –––––––— 21 22

Vgl. Aristoteles, Rhetorik, ebd., 73–97. Peter L.Oesterreich, Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990, 89.

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die alliierte Partei, die sie rhetorisch unterstützt; viertens die oppositionelle Partei, welche die Gegenrede führt und schließlich fünftens die dezisionäre Partei, der die Rede zur Entscheidung vorgetragen wird.23 Diesen personalen Topoi können nun die sechs agonalen Grundaffekte des Aristoteles zugeordnet werden. Gegenüber der dezisionären Partei, vor deren Augen und Urteil sich unsere öffentlichen Redehandlungen abspielen, empfinden wir Scham. So definiert Aristoteles die Scham als eine Art der Beunruhigung über die Nachteile, die einem ein schlechtes Ansehen einbringen können. Der klientelischen Partei, für die wir eintreten, bringen wir den Affekt des Mitleides entgegen. Der alliierten Partei, mit der zusammen wir für ein gemeinsames Ziel eintreten, sind wir freundlich gesinnt. Dagegen kommen gegenüber der oppositionellen Partei, mit der wir konkurrieren, die Affekte des gerechten Unwillens, des Neides, oder des Ergeiz ins Spiel. Dabei hebt die Aristotelische Unterscheidung von Ergeiz und Neid, die produktive oder destruktive Rolle hervor, welche die Affekte im Agon der Redesituation jeweils spielen können. Nach Aristoteles bestehen sowohl der Neid als auch der Ehrgeiz in einer unangenehmen Empfindung gegenüber unseren politisch-gesellschaftlichen Konkurrenten, Gegnern und Feinden. Aber im Unterschied zum Neid besteht der Ehrgeiz nicht nur in einer unangenehmen Empfindung, die sich darüber entzündet, daß ein anderer Güter besitzt, sondern darüber, daß man sie nicht auch besitzt. Deshalb sei der Neid, der nur destruktiv auf die Vernichtung der Güter der Konkurrenten zielt, ethisch verwerflich, der Ehrgeiz dagegen, der auf den Erwerb ähnlicher, hoher Güter strebt, tugendhaft.24 Eine zweiter, aus fundamentalrhetorischer Sicht gravierender Unterschied der Aristotelischen Pathelogie zu Heideggers Phänomenologie der Stimmungen betrifft die Berücksichtigung der leibhaft-organischen Verfaßtheit des Menschen. Aus der Bestimmung des Menschen als politisches Redelebenwesen erklärt sich nicht nur die Fokussierung der Aristotelischen Pathelogie auf die politische Lebenswelt, sondern auch ihre besondere Aufmerksamkeit für die – durch leibgebundene Lebewesenhaftigkeit des Menschen bedingten – psychosomatischen Effekte der Affekte. Aristoteles hebt dabei hervor, daß alle Affektation auch immer eine Veränderung des Lebensgefühls bedeutet. Dieses Lebensgefühl, in dem sich der Mensch als leibhaft-organisches Lebewesen vorfindet, bewegt sich permanent im bipolaren Spektrum zwischen lustvoller Lebensfreude (hedone) einerseits und schmerzhafter Lebenstrauer (lype). Es oszilliert zwischen den Extremen der hochgestimmten, euphorischen Lebensfreude einerseits und des tiefgestimmten, depressiven des Lebensschmerzes andererseits. Der erlebte Umschlag von depressiven in euphorische Stimmungslagen und umgekehrt, der Metabole von Freude in Trauer, Lust in Schmerz erzeugt das Grundgefühl der Lebendigkeit, das der Mensch mit anderen organischen Lebewesen teilt. –––––––— 23 24

Zu den personalen Peristasen rhetorischer Situativität vgl. Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik, ebd. 109ff; ders., Philosophie der Rhetorik, Bamberg 2003, 39ff. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, ebd. 96.

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Im Falle des Zornes treten die beiden extremen Richtungen des Lebensgefühls, d.h. Schmerz und Lust, sogar zusammen auf. Der Zorn ist einerseits ein mit Schmerz verbundnes Streben nach Vergeltung über eine vermeintliche Herabsetzung. Andererseits malt sich der Zornige in seiner Phantasie die Vergeltung antizipierend aus. „Die dann entstehende Vorstellung nämlich bringt Lust hervor, wie die der Träume.“25 Damit hebt die pathozentrische Anthropologie der Aristotelischen Rhetorik das leibgebundene Vitalgefühl des Menschen hervor, welches sich permanent zwischen elementarer Lebensfreude und Lebenstrauer bewegt und allen anderen Modi der Befindlichkeit zu Grunde liegt. Mit Aristoteles gesehen ist es somit die Bewegtheit des elementaren Vitalgefühls, in dem sich das Lebewesen Mensch, sei es entweder in der Unmittelbarkeit sinnlicher Wahrnehmung (aisthesis) oder durch Rede vermittelte Imagination (phantasia) vorfindet. Wie sehr gerade die im Laufe des Lebens sich verändernde leiborganische Verfassung des Lebewesens ‚Mensch‘ seine affektische Disposition bestimmt, hat Aristoteles auch in seiner Ethologie der Jugend, des Alters und Erwachsenendaseins, die sich direkt im Anschluß an die Pathelogie im zweiten Buch der Rhetorik findet, eigens hervorgehoben. Jugend und Alter unterscheiden sich demnach auch aufgrund ihrer unterschiedlichen psychosomatischen Verfaßtheit durch ihre gegensätzliche Disposition für bestimmte Stimmungslagen. Die Jungen sind nach Aristoteles mehr zum Ehrgeiz, zur Scham, zur Hoffnung und zur Liebe, die Älteren dagegen mehr zu Furcht, Hoffnungslosigkeit disponiert. Das liegt nach Aristoteles auch an der gegensätzlichen leiblich-organischen Verfassung der älteren und jungen Menschen: „sie sind nämlich erkaltet, die aber erhitzt, so daß das Alter der Feigheit den Weg bereitet; auch nämlich ist die Furcht eine gewisse Erkaltung.“26 Heidegger hat im § 20. seiner Vorlesung über die Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie den grundlegenden Charakter der Hedone für die Befindlichkeit des Menschen durchaus noch gesehen. Ausdrücklich betont er, daß das Lebensgefühl der Hedone kein sporadisch auftretendes Phänomen sei. Vielmehr sei es „in sich selbst mit dem Sein als lebenden schon da.“27 Sie ist das Sichbefinden, in der ich in meinen ‚Lebendsein‘ „Aufschluß habe über mein In-derWelt-sein“.28 In Sein und Zeit spielen dagegen der Lebensbegriff im allgemeinen und die mit ihm verbundenen leibhaft-organischen Vitalgefühle keine nennenswerte Rolle mehr. In der existentialhermeneutischen Terminologie der ‚Erschließung‘ wird das Phänomen der Leibvermitteltheit und leibzentrierten „Positioniertheit“29 menschlicher Welt- und Selbsterfahrung, wie sie z.B. die philosophische Anthropologie H. Plessners beschreibt, übersprungen. Der –––––––— 25 26 27 28 29

Ebd. 74. Aristoteles, Rhetorik, 100. Martin Heidegger, GA 18, 245. Ebd., 244. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 288ff..

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zugespitzt formulierte ‚hermeneutische Spiritualismus‘ von Sein und Zeit verfolgt gerade auch in seiner Phänomenologie der Stimmungen somit eine Tendenz zur Entleiblichung und Entbindung des menschlichen Daseins aus dem organischen Zusammenhang der Natur.

3. Die Pathelogie als neues Kapitel der Fundamentalrhetorik Ausgehend von Heidegger und Aristoteles zeichnet sich nun der erste Umriß einer fundamentalrhetorischen Pathelogie ab. Zunächst konnte Heideggers Phänomenologie der Stimmungen als ein modernes Kapitel philosophischer Pathelogie gelesen werden, das die wichtige Rolle, die die Affektivität des Menschen in der Rhetoriktheorie von Anfang an gespielt hat, ausdrücklich bestätigt und begründet. Demnach hebt die Selbsterfindung des Homorhetoricus mit der Befindlichkeit an. Diese von Heidegger aufgezeigte stimmungshafte Befindlichkeit des menschlichen In-der-Welt-seins stellt ein bisher nicht genügend beachtetes passives Vermögen (potentia passiva) menschlicher Inventivität dar. Das unhintergehbare pathische Sichvorfinden in der Befindlichkeit geht dem aktiven und freien Entwerfenkönnen (potentia activa) des Homo rhetoricus jeweils voraus. Damit ergibt sich aus fundamentalrhetorischer Sicht eine wichtige Erweiterung der bisherigen Homo-rhetoricusAnthropologie. Dem aktiven Erfinden-, Ordnen-, Gestalten-, Erinnern-, Ausführenkönnen, geht das passive Empfindenkönnen des Menschen voraus. Wenn die Affektivität des Menschen hier generell als ‚Empfindenkönnen‘ bezeichnet wird, dann schließt sich dieser fundamentalrhetorische Terminus gerade nicht an den speziellen Epochenbegriff der ‚Empfindsamkeit‘30 an. Ein wichtiger Grund dafür ist, daß die ‚Empfindsamkeit‘ als Epoche der europäischen Voraufklärung des 18. Jahrhunderts dazu neigt, die Affektivität des Menschen moralisch bzw. metaphysisch zu überformen und auf besondere, philoanthropische Gefühlslagen wie z.B. ‚benevolence‘ oder ‚sympathy‘ zu verkürzen. Wie läßt sich aber, die Affektivität des Menschen, sein Empfindenkönnen, als pathozentrischer Teil der Homo-rhetoricus-Anthropologie konkret reformulieren, ohne Heideggers monistische Verengung auf die eine Grundbefindlichkeit der Angst oder die nicht verallgemeinerungsfähigen Prätentionen des Epochenbegriffes ‚Empfindsamkeit‘ zu übernehmen? Diese Frage führt wiederum zur pluralistischen Pathelogie der Aristotelischen Rhetorik zurück. Der Aristotelische Katalog der zwölf Grundaffekte hat den großen Vorteil, daß er die phänomenale Vielfalt menschlichen Empfindenkönnens aus einer genuin rhetorischen Perspektive und ohne Rücksicht auf moralische, philanthropische oder fundamentalphilosophische Selektions- und Hierarchisierungsinteressen –––––––— 30

Vgl. Dorothea Kimmich, Empfindsamkeit, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 1994, II 1108–1121.

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vor Augen treten läßt. Zu den gleichrangigen Grundaffekten des Aristoteles, die das breite Spektrum des menschlichen Empfindenkönnen beschreiben, gehören zum Beispiel die Liebe, die Freundlichkeit oder das Mitleid, aber ebenso der Haß, der Zorn, der Neid oder Ehrgeiz. Damit vermeidet die Aristotelische Pathelogie von vorne herein auch den für die Neuzeit typischen moralisierenden Diskurs, der sich selektiv auf die patheologische Opposition von amor sui versus caritas, oder in säkularisierter Form auf den Gegensatz von Selbstliebe (selfishness) gegen Menschenliebe (benevolence) verengt. Ein weiterer Vorteil der Aristotelischen Pathelogie besteht darin, daß sie mit der bisherigen fundamentalrhetorischen Theorie kompatibel ist. Wie bereits oben gezeigt, entsprechen die ersten sechs Grundaffekte, d.h. die drei Gegensatzpaare von Zorn versus Sanftmut, Liebe versus Haß und Furcht versus Mut der Tatsache, daß die pathische Ersterschließung des Menschen im dreidimensionalen Horizont der Temporalität geschieht. Der situative Spielraum glaubwürdiger und überzeugungswirksamer Rede wird demnach immer auch von der geschichtlich bedingten Affektlage bestimmt, in der sich die rhetorisch Agierenden jeweils befinden. Die Grenzen und Möglichkeiten des öffentlich Sagbaren und Unsagbaren sind dabei, wie das z.B. der Schock des 11. Septembers gezeigt hat, durch die pathische Betroffenheit der Beteiligten vorgezeichnet. Alle Versuche, dieser primären Betroffenheit zu entgehen, wie sie z.B. zum Beispiel das stoische Apathie-Ideal repräsentiert, setzen als Reaktion bereits das unhintergehbare Faktum pathischer Vorfindlichkeit in der geschichtlichen Lebenswelt voraus. Auch die zweite Sechsergruppe von Grundaffekten läßt sich – wie oben gezeigt – zwanglos mit der fundamentalrhetorischen Lehre von den fünf Persontopoi rhetorischer Situativität verbinden. Aus patheologischer Perspektive beschreiben die sechs Grundaffekte der Scham, der Freundlichkeit, des Mitleids, des gerechten Unwillens, des Neids und des Ergeiz die generelle interpersonale Agonalität lebensweltlicher Situationen, in welcher der Homo rhetoricus vor, für, mit und gegen andere zu agieren hat. Auch unter diesem interpersonalen Aspekt eröffnen oder verschließen die in der jeweiligen Situation gegebenen Affektlagen von vorne herein die Möglichkeiten rhetorischen Interagierens. Schließlich gibt auch die Aristotelische Lehre vom leibgebundenen Lebensgefühl, das sich permanent zwischen elementarer Lebenslust und Lebensschmerz hin und her bewegt, einen wichtigen Aspekt für die fundamentalrhetorische Pathelogie ab. Dieses zwischen Euphorie und Depression oszillierende Lebensgefühl bildet den pathischen Grundrhythmus, über dem die Modi des menschlichen Empfindenkönnens, die aus den zwölf Aristotelischen Grundaffekten gebildet werden, gleichsam wie eine Melodie spielen. Dabei gründet die jeweilige pathische Bestimmtheit des Menschen zunächst in der Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung, der Aisthesis. Als empfindender Wahrnehmungsleib finden wir uns inmitten einer expressiven Wahrnehmungswelt vor, in der wir immer schon von einer Fülle organisch vermittelter Eindrücke und sinnlicher Vorstellungbilder affiziert sind. Diese sinnliche Empfindungswelt, die in Korrelationen von Expressionen und Impressionen besteht, erscheint uns, weil

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sie uns spontan auf dem Wege der Fremd- und Selbstwahrnehmung entgegentritt, als äußere oder innere ‚Natur‘. Die primäre Vorfindlichkeit in einer solchen natürlichen, leibvermittelten und leibzentrierten Empfindungswelt, deren Gestalt freilich je nach der organischen Ausstattung der Sinnlichkeit stark variieren kann, teilen wir mit anderen Lebewesen. Zwar bildet auch für den Menschen das Elementarische sinnlicher Empfindungen die unhintergehbare Basis seiner pathischen Existenz. Aber sein Proprium, das ihn von anderen Lebewesen unterscheidet, besteht nicht in seiner natürlichen Sinnlichkeit, sondern in seiner redevermittelten Empfindsamkeit, d.h. in seiner rhetorischen Sensibilität. Diese rhetorische Sensibilität bildet ein qualitativ neues und typisch menschliches, redevermitteltes Empfindenkönnen, das über die schon von Herder hervorgehobene ‚Natursprache‘ der Tiere, die durch die Modulation ihrer stimmlichen Verlautbarung pathisch kommunizieren, weit hinausgeht. Die rhetorische Sensibilität des Menschen beruht in einer Empfindungsfähigkeit, die nicht mehr nur an die sinnliche Wahrnehmung anknüpft, sondern sich auf ein von Rede getragenes und gelenktes, freies Imaginieren bezieht. Auch in pathelogischer Hinsicht erweist sich der Mensch hier als ein Redelebewesen, ein animal rhetoricum. In dieser generellen rhetorischen Empfindsamkeit des Menschen gründet nicht nur die Möglichkeit der artifiziell gesteigerten Pathepoiesis der Kunstrhetorik. Auf ihr beruht auch die Möglichkeit zur Erzeugung einer eigenständigen poetischen Empfindungswelt, in die uns z.B. die griechische Tragödie oder Goethes Werther zu versetzen vermögen. Nicht zuletzt leben wir auch in der Alltagskultur – weit mehr als wir gewöhnlich meinen – nicht in der ersten Welt elementarer, sinnlicher Wahrnehmungen (mundus sensibilis), sondern in der zweiten Welt redeerzeugter Empfindungen (mundus rhetoricus), die das Lebensgefühl ganzer Gemeinschaften und Epochen bestimmen können. Insgesamt gesehen zeichnet sich somit ausgehend von Heidegger und Aristoteles das Empfindenkönnen als neue Grundkategorie der fundamentalrhetorischen Anthropologie ab. Sie verdeutlicht die unhintergehbare pathische Vorfindlichkeit des Menschen und steht für seine rhetorische Sensibilität, die als passive Potenz seiner aktiven Selbsterfindung der Fünffachheit des Erfinden-, Ordnen-, Gestalten-, Erinnern- und Ausführenkönnen vorhergeht. Die hier in einem ersten Umriß sichtbar gewordene fundamentalrhetorische Pathelogie versteht sich schließlich gerade nicht als ein erneuter Versuch einer – wie K. Dockhorn es noch formulierte – rhetorischen ‚Antiphilosophie‘, sondern im Gegenteil als ein weiteres Kapitel der einst von Cicero geforderten Restitution der ursprünglichen Einheit von Philosophie und Rhetorik. Durch die Erweiterung der Homo-rhetoricus-Anthropologie um die Grundkategorie des Empfindenkönnes könnte somit heute ein weiterer Schritt zur einer transdisziplinären Integration von Philosophie und Rhetorik vollzogen werden.

Gregor Kalivoda

Hermann Herings homiletische Lehre und ihre rhetorischen Implikationen

1. Grundlegende Aspekte der Predigt Hermann Hering (1838–1920) studierte evangelische Theologie in Halle, war Oberpfarrer in Lützen, Professor für Praktische Theologie, Konsistorialrat, Universitätsprediger und Rektor der Universität Halle.1 Er publizierte Predigtsammlungen und liturgische Schriften, Traktate zu Luther und zur Reformation sowie Texte zur Praktischen Theologie und Homiletik.2 Seine 600-seitige „Lehre von der Predigt“ ist als Geschichte und Theorie der Kanzelberedsamkeit konzipiert. Sie thematisiert sowohl Tradition und System als auch Exempla und Analyse der Predigt. In der Zusammenschau von Geschichte, Bedeutung, Aufgabe, Stoff, Komposition und Gattungsaspekten der Predigt orientiert Hering sich v. a. an der Predigtgeschichte von Luther bis zum 19. Jh. bzw. an kategoriellen Vorgaben wie sie z. B. von Alexander Schweizer (1808–1888) formuliert wurden, der in seiner 1848 veröffentlichten Predigtlehre zwischen einer prinzipiellen, einer materialen und einer formalen Homiletik d. h. zwischen Wesen, Inhalt und Gestaltung der Predigt als systematische Lehreinheiten unterscheidet.3 Prinzipien und Materie sind durch die jeweiligen theologischen Präferenzen und Bibeltexte determiniert, wobei durchaus auch inventorischtopische Strategien bei ihrer Auswahl zugelassen werden. Die Gestaltung der Predigt folgt sprachlich-grammatischen Regeln und oratorisch-rhetorischen Mustern. Diese implizieren strukturale, elocutionelle und aktionale Aspekte der Kanzelrede, thematisieren die Persönlichkeit des Predigers und beachten den liturgischen Ort des Predigens. Auch Herings Predigtlehre folgt solchen homiletischen Darstellungsschritten. Der historische Teil dieser Homiletik wurde 1897, der systematische 1905 publiziert. Für W. Schütz gilt sie als eines der „unentbehrlichen Werke“, wenn man die geschichtliche Dimension der Predigt angemessen erschließen möchte. Für F. Wintzer steht diese Predigtlehre an der –––––––— 1 2

3

Vgl. Henrik Eberle et al., Catalogus professorum halensis. Online-Lexikon hallischer Gelehrter, 1871–1918, Halle 2005, Art. ,Hermann Hering‘. Z. B.: Hülfsbuch zur Einführung in das liturgische Studium (Wittenberg 1888); Ausgewählte Predigten/Berthold von Regensburg (Hg.) (Leipzig 1893); Doktor Pomeranus, Johannes Bugenhagen (Halle 1888); Die Mystik Luthers im Zusammenhang seiner Theologie (Leipzig 1879). Vgl. Alexander Schweizer, Homiletik der evangelisch-protestantischen Kirche, Leipzig 1848.

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Schnittstelle zwischen biblischem Erbe und Neuansätzen für die „Predigt von heute“.4 Es handelt sich hierbei um eine Gattung und einen Zeitraum, die aus der Sicht von Rhetorik und Homiletik noch nicht zureichend erschlossen sind.5 Dabei ist gegen die These vom Niedergang des Faches Rhetorik in Deutschland während des 19. Jh. hervorzuheben, daß sich im Raum der praktischen Beredsamkeit – wie etwa in der Predigt – nach wie vor eine ungebrochene Tradierung und Anwendung rhetorischer Kenntnisse und Fertigkeiten zeigt. Diese werden jedoch oftmals transformiert oder als kryptorhetorisches Wissen mit unsystematischem Rückgriff auf die klassische Lehre und Terminologie in die jeweiligen Texte eingearbeitet. In der Homiletik erscheinen sie dann als Denkformen der praktischen Theologie und Kerygmatik. Bei Hering betrifft dies z.B. rhetorisch geformte Wirkungsziele der Predigt oder die Behandlung der religiösen materia, die der Praxis der rhetorischen tractatio folgt: Die Predigt als „erhaltende Lebensmacht“6 der Kirche in ihrem proprium zu erfassen heißt nach Hering, die sprachlich-rhetorischen Akte von Bekenntnis und Zeugnis (confessio und testimonium), von Erleuchtung und Erweckung (illuminatio und excitatio) sowie von Berührung und Bestätigung (motus und confirmatio) in Hinsicht auf die Gemeinde und das General-Telos von fides und religio anzustreben. Die Behandlung der biblisch-religiösen materia hat dieser Zielsetzung mit den Operationen des Bewahrens (conservatio), Überlieferns (translatio), Erläuterns (interpretatio) und Anwendens (applicatio) zu dienen.7 Das Prinzip der Göttlichkeit des Wortes steht dabei im Fokus homiletischer Aufmerksamkeit.

2. Die Relevanz der Predigtgeschichte Die Anknüpfung Herings an die Geschichte des Predigens von der apostolischen Zeit über die Patristik, das Mittelalter und die neuzeitliche protestantische Predigt bis zu ihrem Kulminationspunkt im 19. Jh. dient nicht nur dem Rückgriff auf die auctoritas und das exemplum wortgewaltiger Prediger wie Paulus, Ambrosius, Augustinus, Chrysostomus, Berthold von Regensburg, Luther, Spener oder Schleiermacher, sondern auch der Abgrenzung von der antiken Rhetorik und von spezifischen theologisch-homiletischen Positionen.8 In diesem Zusammenhang läßt sich auch bei Hering der kontinuierliche Diskurs über den –––––––— 4 5

6 7 8

Werner Schütz, Geschichte der christlichen Predigt, Berlin 1972, 5; Friedrich Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher, Göttingen 1969, 123. Einige Ausnahmen bilden Schütz, Predigt; Wintzer, Homiletik; Wolfgang Trillhaas, Schleiermachers Predigt, 2. Aufl., Berlin 1975; Johannes B. Schneyer, Geschichte der katholischen Predigt, Freiburg 1969; Gregor Kalivoda, Homiletik und Topik im 19. Jh.: F. L. Steinmeyers Predigtlehre, in: Thomas Schirren / Gert Ueding. (Hg.), Topik und Rhetorik, Tübingen 2000, 355–365. Hermann Hering, Die Lehre von der Predigt, Berlin 1905, 1. Vgl. Ebd. 1f. Ebd. 3–253 (I. Hälfte: Geschichte der Predigt).

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usus iustus der heidnischen Bildung im christlichen Glaubens- und Bildungskanon nachweisen. Dies gilt gleichermaßen für die Trennung zwischen evangelischer und katholischer Predigtauffassung, zwischen enger homiletischer Perikopenbindung und thematisch offener Homilie oder zwischen der Rolle der Predigt im Rahmen der evangelischen und katholischen Liturgie – hier die Bedeutung von Kanzel und Wortreligion, dort das Gewicht von Ritus, Feier und ornamentreicher Performanz. Die interkonfessionelle Umstrittenheit zentraler Anteile der theologischen res und materia kann dabei an der Rechtfertigungsfrage exemplarisch festgemacht werden: Schuld und Sühne, Reue und Vergebung als topische Muster der Predigt und Apologetik.9

Von der Antike bis zur Reformation Für Hering ist hier zunächst die Bergpredigt und die paulinische Areopagrede von Bedeutung: Christus, der sich über die figurenreiche Rede der Propheten erhebt, und Paulus, der die heidnischen Verirrungen aufzulösen und in die Gotterkenntnis des Evangeliums umzuwandeln trachtet – Offenbarungsrede, Glaubensbekenntnis und Missionsrede in ihrem Ursprung betrachtet. Herings Kennzeichnung und Bewertung der paulinischen Reden und Briefe zeigt sinnfällig und exemplarisch, wie in der Analyse rhetorische Kriterien beansprucht und in der Kritik rhetorische Texteigenschaften abgelehnt werden: Er bescheinigt Paulus „hohe und liebreiche Missionskunst“, „tiefe apostolische Hirtenliebe“, den „Schmelz des zarten und starken Affektes“, eine „brüderliche Zusprache“, einen „unmittelbaren Erguß des Herzens“, „charismatische Begabung“ und eine stilistische Breite, die „von der schlichten Didaskalie bis zur begeisterten […] Prophetie und […] zur ekstatischen, der Auslegung durch ein anderes Charisma bedürfenden Gebetsrede, der Glossolalie“10 reicht. Dagegen wendet Hering allerdings folgendes ein: An der Bethätigung dieser Gaben freilich haftete mancher Schatten, so daß durch vordringliches, aufgeblasenes Wesen, geistliche Genußsucht und höhere Schätzung dessen, was glänzte, als dessen was erbaute, gerade bei der Fülle so mannigfacher Gaben um so eher der Zweck, dem sie dienen sollten, vergessen wurde.11

Diese spezifische Form der theologisch-homiletischen rhetorica contra rhetoricam kennzeichnet das Heringsche Kompendium in durchgängiger und bis zum Schlußkapitel widersprüchlicher Art und Weise. Hierbei artikuliert sich ein nicht klar konturierter Anspruch auf rednerische und textuale Angemessenheit –––––––— 9

10 11

Vgl. dazu z. B. Udo Sträter (Hg.), Zur Rechtfertigungslehre in der Lutherischen Orthodoxie, Leipzig 2003; Philipp Stoellger, Artikel ,Rechtfertigung, Theologie‘, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 2005, VII Sp: 676–694; Johannes Schilling (Hg.), Christusglaube und Rechtfertigung = Martin Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Bd. 2, Darmstadt 2006. Hering, Lehre, 5f.; Dean R. Anderson, Ancient Rhetorical Theory and Paul, Kampen 1996. Ebd. 6.

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der Predigt, auf die ausgewogene Funktion von ethos, pathos und humilitas, docere und movere, affectio und logos, natura und charisma, ornatus und Schlichtheit im Hinblick auf finis und utile der Kanzelrede.12 Ähnliche Kritik übt Hering an den stark rhetorisierten, affektbetonten und figurativen Reden von Tertullian oder Cyprian, Basilius von Caesarea und Gregor von Nyssa, denen er zwar hohe Begabung, gefestigte Bildung und lautere Gesinnung zugesteht, diese aber gegen deren stilistische und bibelferne Maßlosigkeit ausspielt. Als besonderes Negativbeispiel gilt ihm das nordafrikanische Kirchenlatein, das überhaupt Züge der Zersetzung und Verwilderung an sich trägt. Gerade auch in Tertullian findet sich im Übermaß die Manier der reimenden Assonanzen und Antithesen, welche Gorgias, der durch den platonischen Dialog bekannte Rhetor, in die hellenistische Kunstrede eingeführt hat. Das Spiel dieses pointierenden und poetisierenden Witzes hat der lateinischen Predigt […] zäh angehangen.

Dagegen betont er die eminent rhetorischen Konzepte von Allegorese und vierfachem Schriftsinn als spiritualistisch-theologische Interpretationskompetenz und Basis der Predigt: Die Allegorie gilt ihm als „emsig arbeitende Lehrhaftigkeit“, die „den Predigten […] ihr Gepräge gibt.“ Dazu gehören „auch feine und schöne Züge aus ethischer Beobachtung des Seelenlebens“.13 Techniken der explicatio und der psychagogisch-anthropologischen Predigerarbeit werden hier homiletisch zusammengeführt. Ähnlich zwiespältig ist sein Urteil über den klassisch gebildeten Augustinus: Er bescheinigt ihm „tiefe Seelenkenntnis“, „divinatorischen Scharfblick“, „dialektische Gewandtheit“, „affektbeseelte Sprachbeherrschung“ und „innigste Bibelkenntnis“, aus denen die Glaubenskraft und die christozentrische Psychagogie der augustinischen Predigt resultieren. Dagegen moniert er die figurativen Schwächen in Augustinus’ Kanzelrede wie die Tendenz zum genus grande, zur Häufung von Antithesen, Assonanzen, Pointen und affektiven Mitteln.14 Das Mittelalter kennzeichnet Hering tendenziell als Verfallsperiode15, in der scholastische Formelhaftigkeit, homiletischer Schematismus und Florilegienkult eine inhaltsleere dispositorische Taxonomie produzieren. Die klassischrhetorische Schulung von Alkuin, Aelfric, Wiclif oder Bernhard von Clairvaux werden nicht genannt, ihre theologisch-homiletische Leistung jedoch hervorgehoben. Die umfangreiche mittelalterliche ars-praedicandi-Literatur findet keine Erwähnung. Ebenso fehlt die Kenntnisnahme von der rhetorischen Qualität mystischer Texte, von ihrer Poesie, Affektbetontheit, Ekstatik und Bildlichkeit. Dagegen werden die Innigkeit, Frömmigkeit und Spiritualität von Meister Eckhart, Johannes Tauler oder Heinrich Suso als predigtgeschichtlich bedeutsam und einflußreich dargestellt. Immerhin lobt er Volkston und Volksnähe der –––––––— 12 13 14 15

Vgl. dazu: Manfred Kienpointner, Artikel ‚Rhetorica contra rhetoricam‘, in: Ueding (Hg.) Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 2005, VII Sp. 1398f. Vgl. Hering, Lehre, 8–25, 9f.; vgl. Friedrich Blass, die attische Beredsamkeit, Leipzig 1887, ND Hildesheim 1962, 47ff., 63ff. Ebd. 28–41. Ebd. 85.

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Bettelorden bzw. der Sittenprediger wie Berthold von Regensburg oder Geiler von Kaysersberg – die Kritik an deren Bilderreichtum, Sprachspielerei und Anekdotenhaftigkeit folgt jedoch wieder seiner antirhetorischen Grundlinie. Als Vorkämpfer für die „Wahrheit der Lehre“ und als „rechte Stimmen der predigenden Kirche“ hebt Hering Frühreformer wie Wiclif, Huss oder Savonarola hervor. Wenn der Geist über den Florentiner kam und der abgehärmte Mönch mit dem Flammenauge es laut in die gedrängte Versammlung hineinrief, welche Strafgerichte Gottes er binnen kurzem hereinbrechen sehe, dann rief die Volksmenge: Barmherzigkeit! Barmherzigkeit! Und auch Männer, wie Pico von Mirandola, haben gestanden, daß in solchen Momenten sein Wort sie bis zum Entsetzen erschüttert habe.16

Rhetorik in nuce – in der pathetisch-agitatorischen Predigt und in ihrer homiletischen Analyse.

Von Luther bis zum 18. Jahrhundert „Fortan beruht die Entwicklung der Verkündigung des Evangeliums auf dem Protestantismus.“17 Dieser Satz steht am Anfang von Herings Ausführungen zur Reformation. Mit dieser Epoche beginnt die bis dato bedeutsame Zeit einer neuen Predigt in Wort und Geist – die reformatorische Heilung von Aberglauben, Bibelfremdheit und Ablaßtheologie. Und es ist Luther, der diesen „gänzlichen Umschwung in der Predigt herbeiführte“18 – orientiert an Stil und Inhalt der Bibel, an allgemeinverständlichem Hochdeutsch und an der Aufgabe evangelischer Verkündigung. Die Begriffspaare lingua et scriptura, translatio und interpretatio kennzeichnen die lutherische Predigttradition bis heute. Luthers Predigten dienen als Exempel, um aus der […] Übersteigerung rednerischer Kunstmittel zur Schlichtheit und Wahrhaftigkeit, Klarheit und männlichen Kraft zurückzugelangen. […] Durch ihn war Predigt eine Macht geworden, ja, was sie ist, die Hauptmacht der Kirche. […] Der Zauber der Messe

–––––––— 16

17 18

Ebd. 52–85, 78, 81; vgl. auch: Gregor Kalivoda / Alois M. Haas / Peter Gerlitz / Silke Tammen / Reinhard Margreiter, Artikel ,Mystik‘, in: Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, VI Sp. 50–80; Susanne Eisenmann, Sed corde dicemus: das volkstümliche Element in den deutschen Predigten des Geiler von Kaysersberg, Frankfurt a.M. 1996; Rita Voltmer, Wie der Wächter auf dem Turm: ein Prediger und seine Stadt: Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510), Trier 2005; Ute Dank, Rhetorische Elemente in den Predigten Bertholds von Regensburg, Neuried 1995; Günter Stachel, Meister Eckhart, Gottesgeburt: Mystische Predigten, München 1999; Claudia Altmeyer, Grund und Erkennen in den deutschen Predigten von Meister Eckhart, Würzburg 2005. Hering, Lehre, 85. Ebd. 86; vgl. auch Birgit Stolt, Artikel ,Luthersprache‘, in: Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, V Sp. 677–690; dies., Martin Luthers Rhetorik des Herzens, Tübingen 2000; Uwe Nembach, Predigt des Evangeliums. Luther als Pädagoge, Prediger und Rhetor, Neukirchen-Vluyn 1972.

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wich der Kraft der Predigt. […] Als eine unter den lebendigen Kräften, welche die Reformation erfüllten […], hat die Predigt Luthers Anteil am Werden des Protestantismus. 19

Einer theologisch-oratorischen Kritik unterzieht Hering dagegen die humanistischen, d.h. auch rhetorisch bestimmten Homiletiken von Erasmus, Melanchthon und Hyperius.20 Seine scharfe Ablehnung gilt insonderheit den Verfallserscheinungen der lutherischen Predigt in der 2. Generation, dem emblematischen Zierrat der Barockpredigt, dem weltlichen Esprit des französisch-katholischen Klassizismus und dem philosophisch-logischen, von Leibniz, Wolf und Thomasius beeinflußten Predigtstil der Aufklärung: Glaube kann nicht Gegenstand eines Beweisverfahrens sein. Hering diagnostiziert ein Verdorren der Kraft des Glaubens und der Begeisterung auf vielen Kanzeln und Lehrstühlen […] und wie in religiöser Hinsicht das Dogmatisieren und Polemisieren, so war in rednerischer das ersonnene Kategorien- und Formelwesen unfruchtbar. Die Sprache, das Kleid des Geistes, geriet ebenfalls mit diesem in Verfall.21

Dagegen akzeptiert Hering einige Grundpositionen des Pietismus, dessen Predigt – wie bei Spener, Francke oder Zinzendorf – als Ausdruck von Frömmigkeit, als Gemeinschaftsbildung, natürliche Beredsamkeit, Herzensbekenntnis oder Predigtprosa mit „Goldgehalt“ gelten kann. Die dabei implizierten Sentimentalitäten und Psychotechniken werden von Hering unbefragt tradiert – sowohl in der Predigtanalyse wie in der homiletischen Theorie. Ein ebenfalls positives Urteil gilt Hamann und dem reifen Herder, die „den abstrakten Idealismus“ durch eine neue Hinwendung zur „vollen Offenbarung Gottes“, die „abgeblasste, abstrakte Prosa der Zeit“ durch den „Bildcharakter der Sprache“ und die „Poesie“ der Muttersprache ersetzten – nachvollziehbar in Herders kleiner Schrift Der Redner Gottes (1765).22 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich Herings Kritik und Polemik gegen die klassische Rhetorik, das rhetorisch konzipierte Predigen, die katholische Theologie und Kanzelrede sowie – im Sinne des intrakonfessionellen Diskurses –––––––— 19 20

21 22

Hering, Lehre, 96, 99f. Ebd. 114ff.; vgl. auch: Peter Walter, Theologie aus dem Geist der Rhetorik: zur Schriftauslegung des Erasmus von Rotterdam, Mainz 1991; Philipp Melanchthon, Loci communes: 1521, lateinisch-deutsch, übers. von Horst G. Pöhlmann, Gütersloh 1993; Uwe Schnell, Die homiletische Theorie Philipp Melanchthons, Berlin 1968; Gerhard Rau, Artikel ,Hyperius‘, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. v. Gerhard Müller, Berlin / New York 1986, XV 778–781; Gerhard Krause, Andreas Gerhard Hyperius, Tübingen 1977; Peter Kawerau, Die Homiletik des Andreas Hyperius, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 70, 1960, 66–81. Hering, Lehre, 117ff., 130, 159ff. Ebd. 157; vgl. auch: Heinz Niederstrasser, Herder – der „Redner Gottes“, Zeitschrift für Kirchengeschichte 66, 1954/55, 97ff.; Eun-Jae Lee, Philipp Jakob Spener als Bibelausleger, Diss. Tübingen 1977; Hyeong-Eun Chi, Philipp Jakob Spener und seine Pia desideria, Frankfurt a. M. 1997; Albrecht Haizmann, Erbauung als Aufgabe der Seelsorge bei Philipp Jakob Spener, Göttingen 1997; Erhard Peschke, Die frühen Katechismuspredigten August Hermann Franckes, Göttingen 1992; Gunther Wenz, Ergriffen von Gott: Zinzendorf, Schleiermacher und Tholuck, München 2000.

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– gegen spezifische Formen der affektgeladenen, philosophisch-rationalistischen, supranaturalistischen und evangelikalen Predigt richten.

Das 19. Jahrhundert Angesichts der Fortdauer rationalistischer, supranaturalistischer und pietistischer Strömungen entwirft Hering ein heterogenes Bild theologischer, homiletischer und philosophischer Auffassungen und ihres Einflusses auf die Predigt des 19. Jh.23 Zur eigenen Orientierung dient ihm dabei v.a. die Prägung der christlichen Rede durch Schleiermachers Praktische Theologie. Nach Aufklärung und Säkularisation konstatiert er einen neuen biblischen Realismus, eine Verkündigung in einem neuen evangelisch-religiösen Geist.24 Innerlichkeit, Unmittelbarkeit, einfache Sprache, durchsichtige Gliederung und verständliche Argumentation gelten als psychologisch-oratorische Tugenden.25 Bildung, Eloquenz, Gemeinde- und Dialogorientierung Schleiermachers hebt Hering besonders hervor und liest sie vermittlungstheologisch als Versöhnung von Glaube und Wissenschaft sowie als Ausdruck für die Zirkulation des religiösen Bewußtseins. Doch auch dieses Lob besteht nicht ohne Kritik an Schleiermachers Predigtpraxis – an seiner Tendenz zu Rationalismus und abstrakter Reflexion.26 Neue Talente und neue Formen der Kanzelrede konstatiert Hering auch bei Dräseke, Niemeyer, Harms, Nitzsch, Friedrich Krummacher und Tholuck.27 Diese Namen stehen für die Erweckungsbewegung, das Neuluthertum, die Orthodoxie und Vermittlungstheologie des 19. Jh.28 Daß die Denkweise und Predigt von Niebergall, Baumgarten und Drews auch Fragen des modernen Menschen, der städtischen Bevölkerung, des liberalen Protestantismus und die persönliche Erfahrung in Zeiten eines umfassenden gesellschaftlichtechnischen Wandels Einfluß auf die Homiletik und Verkündigung nehmen, wird bei Hering allerdings nicht dargestellt. Eine homiletische Hinwendung zur gesellschaftlichen Lage und zu den Nöten der Gemeinden zeigt lediglich Herings knappe Reflexion des Einflusses der Befreiungskriege auf Stoff und Form der Predigt. Auch hier gilt ihm Schleiermacher als Exempel für die Zusammenschau von patriotischer Gesinnung und religiösem Wort: Wie groß war hier Schleiermacher! Sowohl in Halle, wie in Berlin (von 1808 an) sprach er, ohne je die Predigt zu einer bloßen patriotischen Rede werden zu lassen, die großen innerlichen Gedanken aus, welche die Gemüter aufrichten, zum Dulden und zu Thaten stählen

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Hering, Lehre, 196ff. Ebd. 207ff.; vgl. dazu Schütz, Predigt, 175ff. Vgl. dazu auch: Albrecht Beutel, Friedrich Wintzer, Artikel ,Predigt‘, in: Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Berlin 1997, XXVII 276f. Hering, Lehre, 209ff.; vgl. dazu Christian Albrecht, Schleiermachers Predigtlehre, in: ders. (Hg.), Klassiker der protestantischen Predigtlehre, Tübingen 2007, 93ff. Hering, Lehre, 230ff. Siehe dazu Beutel, Wintzer, Predigt, 311ff.

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konnten. Er wurde in diesen Reden, die aus seinem erregten Innersten flossen, nie zu leidenschaftlichem Affekt fortgerissen.29

Den bedeutsamen Einfluß der rhetorisch-topischen Kenntnisse auch auf die Homiletik des 19. Jh. vermitteln exemplarisch die Traktate von Kästner, Kaiser, Schott, Theremin, Steinmeyer oder Wolff und auf ganz spezifische Weise Eduard Königs rhetorisch-komparatistische Analyse der hebräischen Bibeltexte.30 Sie erscheinen bei Hering allenfalls als Fußnote oder Kurzanmerkung.

3. Predigt und Homiletik bei Hering Im Prolegomenon zur „Theorie der Predigt“, der 2. Hälfte der Heringschen Homiletik, findet sich folgende These: „Geschichte und fortgehende Erfahrung bezeugen, daß die Predigt […] letztlich eine Hervorbringung des heiligen Geistes ist, dessen Walten über aller menschlichen Unterweisung liegt. Es scheint daher, als bedürfe es keiner Theorie für die Predigt.“31 Hier spielt Hering erneut weltliches Wissen gegen göttliche Inspiration, Theologie gegen Rhetorik aus. Die Homiletik gilt ihm als „Glied im Ganzen der Theologie“ und soll nicht sein „eine homiletische Unterweisung […] mit angeflickter rhetorischer Nachhülfe […]“ und „keine blasse Technologie.“ Sie ist dienendes und durch die göttliche Offenbarung kontrolliertes profanes Auxilium der Verkündigung. Immerhin bestätigt Hering wissenschaftliche Kenntnis (eruditio), Vertrautheit mit den Sprachgesetzen und ihres rednerischen Gebrauchs (ars), natürliche Gaben (natura) und Persönlichkeitsbildung des Redners (ethos) als Voraussetzungen für das Kanzelamt – allesamt Kriterien der klassischen Rhetorik. Als Gewährsleute für die Rhetorik werden der Auctor ad Herennium, Cicero, Quintilian, Norden, Wackernagel und Volkmann aufgeboten – mit einer Warnung vor der Dominanz der Formorientiertheit. Basis seiner rhetorikkritischen Position ist der Rekurs auf Paulus (1 Kor 1, 17ff; 2, 1–10): Der Apostel […] hat sogar seine Verkündigung mit Nachdruck gegen alle Einmischung weltlicher Weisheit und Redekunst verwahrt, indem er dieser die verborgene Weisheit Gottes in ihrer Souveränität gegenüberstellte.32

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Vgl. Ebd. 216, 320f. Eduard König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die Biblische Literatur, Leipzig 1900; Christian A. L. Kästner, Topik, oder Erfindungswissenschaft aufs Neue erläutert, Leipzig 1816; Gottlieb Ph. Chr. Kaiser, Entwurf eines Systems der geistlichen Rhetorik, Erlangen 1816; Heinrich A. Schott, Die Theorie der Beredsamkeit mit besonderer Anwendung auf die geistliche Beredsamkeit, Leipzig 1824; Franz Theremin, Die Beredsamkeit eine Tugend, Berlin 1814; Oskar L. B. Wolff, Handbuch der geistlichen Beredsamkeit, Leipzig 1849; Franz L. Steinmeyer, Die Topik im Dienste der Predigt, Berlin 1874. Hering, Lehre, 257. Ebd. 257, 258–260, 560–581; siehe dazu auch: Eduard Norden, Die antike Kunstprosa, Leipzig 1898, ND Darmstadt 1958 I/II; Richard Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und

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Sapientia sacra und eloquentia sacra weisen der weltlichen Redekunst ihre subalterne, allenfalls methodisch begriffene Funktion zu.

Aufbau des systematischen Teils Vor dem Hintergrund seiner umfangreichen historischen Analysen rekapituliert Hering zunächst die Grundpositionen des 19. Jh. und schließt an diese drei weitere Kapitel an: Sie können als definitorisch-etymologischer Zugang, Prinzipienlehre, Methoden- und Gattungslehre bezeichnet werden. Hierbei wird der Begriff der Predigt folgendermaßen festgelegt: Sie hat christozentrisch, offenbarungsorientiert, glaubens- und gemeindebezogen zu sein. Sie hat Zeugnis zu geben (testimonium), Glauben zu bekennen (confessio) und die Gemeinde zu erbauen (pietas, consolatio). Impliziert sind hier theologisch-kerygmatische Grundbedingungen, officia oratoris sowie rhetorische Sprechakte und Wirkungsfunktionen.33 Diese Kennzeichnung bildet den Rahmen der Prinzipienlehre, deren Hauptanliegen der Rekurs auf die biblische materia ist: Predigt als Textpredigt, d.h. als Verkündigung der Schrift im Bezug auf ausgewählte Perikopen.34 Hering ergänzt dies durch eine Reflexion über das Verhältnis zwischen Predigt und Predigerpersönlichkeit: Charakter, Charisma, Bildung, Gebet, Bezeugung der eigenen Glaubensgewißheit und das Bewußtsein von der „Predigt als Leistung und Tat“35 werden vom Priester erwartet. Dabei ist die Sprachkompetenz des Predigers auch abhängig von der „Vertrautheit mit der klassischen Literatur der Alten.“ Für die gewaltige, prophetische Rede, die führende Lehrrede und die erweckende Erbauungsrede gilt allerdings die Wahrung des Maßes: Läßt einer seiner Virtuosität die Zügel schießen, geht er über seine Kraft hinaus, der apostolischen Regel Röm 12,3 [Besonnenheit und Maß des Glaubens] zuwider, so mischt sich Unächtes ein, teils das Rauschegold luxurierender Phantasie und eitlen Geistreichthuns, teils jener Brustton eines religiösen Affekts […], den ein feines Gehör als künstlich gesteigert und der Deklamation verwandt annimmt.36

Der rhetorisch-technische Teil der Homiletik Im Kapitel „Methodenlehre“ entfaltet Hering den knappen systemrhetorischen Anteil seiner Homiletik. Sie läßt sich untergliedern in eine Lehre des Inhalts (materia), des Aufbaus (compositio), der Darstellung (elocutio) und der homile–––––––—

33 34 35 36

Römer, Leipzig 1885, ND Darmstadt 1987; Wilhelm Wackernagel, Poetik, Rhetorik, Stilistik, Halle 1873, ND Hildesheim 2003. Hering, Lehre, 272ff. Ebd. 281ff. Ebd. 404–420, 419. Ebd. 414, 450.

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Gregor Kalivoda

tischen Gattungen (genera causarum). Stoffreicher Bezug sind die Textgruppen der Evangelien und Epistel sowie die prophetischen Zeugnisse, Psalmen und Erzählungen des Alten Testamentes. Die parabolische, narrative und mirakulöse Dimension dieser Schriften ist dabei zu beachten. Sie stehen im Fokus der Predigtvorbereitung (inventio), die durch Lektüre, Meditation, Exegese und Niederschrift gekennzeichnet ist (dispositio, elocutio, memoria). Daraus muß ein vernünftiger Zusammenhang zwischen Perikope (quaestio), Exegese (interpretatio) und Lebenswirklichkeit (applicatio) resultieren – also inneres und äußeres aptum.37 Die kompositorische Arbeit hat organisch und nicht additiv zu sein. Sie kann auf das dispositorische Mittel der „Topik der Alten“ zurückgreifen und verfügt dabei über Elemente „aus Logik, Psychologie, Dogmatik und Ethik.“ Ob sie „schöpferisches Denken“ und „künstlerisches Gestalten“ behindert, ist dabei zu prüfen.38 Denn: Je mehr die Produktionskraft in einer gesteigerten geistlich-geistigen Lebendigkeit gesucht wird, desto weniger wird man von dem Hülfsmittel erwarten, dessen schon […] bei der Theorie der Disposition gedacht werden musste, der Topik.

Allerdings hat die „Disposition nicht nur logischen, sondern auch rhetorischen Ansprüchen genug zu thun.“ Dies gilt z.B. für die „Dreizahl“39 der Teile (partes orationis), die Hering mit den Begriffen Einleitung, Ausführung und Schluß benennt: Das exordium ist der Hinführung der Hörer auf das Thema, der Herstellung „des geistigen Kontaktes“ im Sinne des attentum parare gewidmet, der Hauptteil gilt der narratio biblischer Schilderungen, der Exegese als „inductiver Betrachtung“ mit Illustrationen und Sentenzen, dem Bezeugen und Beweisen des Glaubens sowie der paränetischen Nutzanwendung (utile, finis). Der Schluß ist durch affektive Zuwendung, persönliche Wärme, appellatio, Segensspruch, invocatio deorum und zuversichtlichen Ausblick gekennzeichnet.40 Für die Mittel der Darstellung (elocutio, Stil, Grammatik) gilt die Sprache von Bibel und Offenbarung als exemplum und auctoritas, als „heiliger Stil“ von „ebensoviel Kraft und Erhabenheit, wie Herzlichkeit und Einfalt.“41 Weiterhin ist in diesem Bereich der Sprachlehre (ars recte dicendi), den literarischen Vorbildern (imitatio) und dem Sprachgebrauch (consuetudo) zu folgen – die klassischen Kriterien der latinitas. Der Belehrung dient eher die klar gegliederte Periode, der Wirkungswucht eher der kurze Satz.42 Tropen, Figuren und andere Mittel des ornatus sind zwar auch Poesieelemente der Bibel und eine semitische Form des Redens, müssen aber in angemessener Beziehung zum religiösen Inhalt stehen und dürfen nicht zum reinen „Ohrenschmaus“ eines „geistlichen Genusses“ werden – das Problem des delectare in der Predigt. Wichtig ist das –––––––— 37 38 39 40 41 42

Vgl. Ebd. 421ff. Ebd. 532ff. Ebd. 527, 539. Ebd. 536ff., 548. Ebd. 430. Ebd. 568.

Hermann Herings homiletische Lehre

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„Maß des Affektes“ und des „ästhetisch Wohlgefälligen“. An solcherlei stilistische Vorgaben hält sich Hering in der Beschreibung von Predigtexempeln allerdings nicht. So begreift er die kerygmatische Praxis des pietistischen Oberhofpredigers Rudolf Kögel (1829 – 1896) als „Gipfel homiletischer Kunst“ und stellt fest: […] seine poetische Gabe und Stimmung blieb rednerisch bestimmt. Der starke Impuls, das Schlagende und Schlagfertige, das auf Eindruck und Wirkung Angelegte und Hindrängende tritt in seiner Predigt voran. Rasch, energisch schreitet die Rede einher. [Sie ist] aber überhaupt nicht nach den Vorbildern der klassischen und klassizistischen Beredsamkeit aufgebaut; viele Anschauungen und anschauungsvollen Begriffe sind in sie hineingearbeitet; bald parallel gereiht, bald antithetisch gestellt, oft durch Gleichklang verbunden. […] Die Wahrheit wird bezeugt […]; sie wird bei der grossen Verstandesklarheit, welche die Gedanken beherrscht, lichtvoll ausgesprochen.43

Was den Redeakt (pronuntiatio, actio) betrifft, so gelten natürliches Temperament und geschulte Stimmbildung, ruhige Haltung, Würde, gemessene Armbewegung, fester Blick und mittleres Sprechtempo als Tugenden, rhetorische Finessen, Einstudiertes, Schauspielerei, Unsicherheit, Steifheit und unkontrollierte Bewegungen auf der Kanzel werden als vitia abgelehnt. Und dies illustriert Hering folgendermaßen: Ein unruhiges Umherfahren ist peinlich; es fördert auch nicht die Lebhaftigkeit der Rede. Nicht einmal die alten Rhetoren billigten das. Der Prediger soll nicht hinter das Kanzelpult sich ducken und dann wieder emporschnellen, sich nicht über die Kanzelbrüstung mit dem Oberkörper werfen. Weiter legt er sich nicht aufs Kanzelpult, stützt sich auch nicht seitlich mit dem Ellbogen darauf. […] die Hand oder gar eine Faust wird nicht Drehungen ausführen wie in einer Schreiberübung; sie fällt nicht dröhnend auf die Kanzelbrüstung; auch in die Taschen des Chorrocks senkt sie sich nicht […] hinab. […] zum völligen Beherrschen der Mittel der Rede gehört auch auf der Kanzel die unterstützende Angemessenheit des persönlichen Auftretens, bis in die Mienen des Antlitzes.44

Die Typologie der Predigten schließlich folgt dem Rhythmus des Kirchenjahres, den Festen, Missionsaufgaben und Kasualien. Nach Hering begründet dies eine homiletische Kultuslehre mit Textsorten wie Adventspredigt, Passionspredigt, Kirchweihpredigt, Taufrede, Beichtrede oder Leichenrede bzw. mit Predigten zum Erntedank, zur Reformationsfeier oder zum Buß- und Bettag. Tröstende Erbauung und feierliche Erhebung sind dabei methodisch anleitende Predigtziele.45 Abschließend kann festgehalten werden, daß Hering – summa summarum und aus der Perspektive des evangelischen Theologen – eine relativ eklektizistische Geschichte der Predigt und Predigtlehre bietet, ohne die Heterogenität seiner Beobachtungen und Urteile in einem eigenen, stringenten Konzept aufzufangen. Allenfalls lutherische, pietistische und schleiermachersche Ansichten in eigenwilliger Auswahl bilden gewisse Orientierungspunkte in seiner –––––––— 43 44 45

Ebd. 567ff., 570, 571, 250; vgl. Hans Brandenburg, Rudolf Kögel, Lahr-Dinglingen 1959. Hering, Lehre, 575ff., 581; vgl. dazu Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners, 2. Teil, hg. und übers. von Helmut Rahn, 2. Aufl., Darmstadt 1988, 609–681. Hering, Lehre, 582–620.

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Sicht auf die Rolle des Predigers und die Gestaltung der Predigt. Die seit Augustinus paradoxale Relation zwischen profanem Wort und göttlicher Offenbarung, rhetorischer ÀčF˦ (téchnƝ) und heiligem Text, religiöser Wahrheit und weltlicher Beweisführung bleibt auch in Herings Ausführungen virulent.

Olaf Kramer

Affekt und Figur. Rhetorische Praktiken der Affekterregung und -darstellung

1. Zur Verzweiflung überredet. Affekt und Sprache in Pascal Merciers Roman Perlmanns Schweigen Ein Mord, um an ein Manuskript zu kommen?! Dem verzweifelten Philipp Perlmann in Pascal Merciers Roman Perlmanns Schweigen scheint die Tat irgendwann unausweichlich. Er glaubt, eine linguistische Tagung nur überstehen zu können, indem er einen von ihm übersetzten Text seines russischen Kollegen Leskov an die Teilnehmer austeilt und sich selbst als dessen Autor ausgibt. Ein Auftauschen Leskovs muß er entsprechend auf jeden Fall verhindern. In dem Manuskript, das Perlmann als eigenen Text ausgeben will, geht es um das Verhältnis von Sprache und Erinnerung, wobei sich ein längerer Abschnitt mit dem Verhältnis von Sprache und Emotion auseinandersetzt, der unmittelbar zu der Frage führt, was eigentlich aus sprachwissenschaftlicher Sicht von der psychologischen Emotionsforschung zu halten ist. Leskov vertritt die These, Gefühle ließen sich in der Erinnerung gestalten und formen, seien der Sprache anheimgestellt. Wie sehr Emotion und Sprache miteinander verkoppelt sind, zeigt sich dabei im Roman unter anderem daran, daß Perlmann die Beispiele, mit denen Leskov das Prinzip illustriert, kaum übersetzen kann, weil ihn das reiche Vokabular zur Beschreibung unterschiedlicher emotionaler Befindlichkeiten, das das Russische bereithält, überfordert. Auch wenn einige Basis-Affekte (Angst, Freude, Weinen, Lachen) die Qualität anthropologischer Konstanten haben, ist die Wahrnehmung von Affekten doch von der Sprache abhängig, Gefühle sind in verschiedenen Sprachen auf unterschiedliche Weise kodiert und gewinnen erst im kulturellen Kontext ihre genaue Kontur, so die Analyse in Merciers Roman.1 Der Philosoph Peter Bieri, der sich hinter dem Pseudonym Pascal Mercier verbirgt, argumentiert mit seinem ersten Roman gegen die exklusive Vorherrschaft neurowissenschaftlicher Erklärungsmuster von Emotion, wie er dies auch in der Kontroverse mit Gerhard Roth tat, indem er zwar die Ergebnisse der Neurowissenschaften anerkannte, aber doch deren Erklärungsmacht für den Menschen einschränkte.2 Auch wenn sie sich auf physiologische Prozesse zurückführen lassen, sind Gefühle dem einzelnen Menschen mehr als nur ein –––––––— 1 2

Vgl. Pascal Mercier, Perlmanns Schweigen, München 1997, Kapitel 8. Vgl. Peter Bieri, Unser Wille ist frei, Der Spiegel 2 (2005) 124–125.

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solcher physiologischer Prozeß. Perlmanns psychischer Zustand ist für ihn selbst jedenfalls ein bewußtes akutes Problem, nicht nur das Ergebnis biochemischer Reaktionen in seiner Amygdala. Vielmehr ergibt sich seine Befindlichkeit dadurch, daß er seine Gefühle bewußt thematisiert und deutet, sie sind also sprachlich vermittelt. Perlmann agiert dabei in zweifacher Weise rhetorisch: nach innen beeinflußt er seine Gefühle und Empfindungen, indem er sich selbst zu bestimmten Deutungen überredet, die also das Ergebnis sprachlicher Gestaltung zu sein scheinen, nach außen versucht er, seine Empfindungen zu verbergen, inszeniert sich als interessierter und kompetenter Wissenschaftler. Er betreibt, so könnte man das in den Worten moderner Kommunikationspsychologie beschreiben, impression management. Insofern führt Mercier eine Situation vor, in der die Frage nach dem Wesen von Emotionen besondere Schwierigkeiten macht. Emotionen sind nicht einfach präsent, sondern erhalten erst im menschlichen Bewußtsein, das einen Gefühlsimpuls bearbeitet und sprachlich kodiert, ihre Kontur. Inwieweit innere Befindlichkeiten und ihre äußere Darstellung also überhaupt ‚authentisch‘ sein können, ist mehr als fraglich. Das äußere Verhalten deutet bei Mercier jedenfalls keineswegs zielsicher auf das innere Befinden. Weiterhin wird im Roman deutlich, daß auch scheinbar rationale Entscheidungen durch Emotionen, wenn nicht gelenkt, so doch beeinflußt werden, denn das wissenschaftliche Urteil Perlmanns ist – das hier nur als Hinweis, der sich im Roman mehrfach belegen läßt – vor allem von seinen Emotionen abhängig. Die Frage nach dem Wesen von Gefühlen und ihrem Verhältnis zur Sprache erhält für Bieri/Mercier ihre Aktualität durch den Fortschritt der Neurowissenschaften, die Gefühlsregungen meist rein physiologisch betrachtet. Sie steht aber in einer langen Traditionslinie, die ihren Anfang in der antiken Rhetorik nimmt, wie ich vor allem an Hand von Quintilians „Institutio oratoria“, aber auch mit gelegentlichen Ausblicken auf Aristoteles sowie die Rhetorik des 18. Jahrhunderts deutlich machen werde. In der rhetorischen Tradition ist eine Theorie menschlicher Emotionalität formuliert, die man als Alternative zu den naturwissenschaftlichen Erklärungen sehen kann. Quintilians Lehrbuch zur Ausbildung des Redners ist dabei für einen exemplarischen Zugriff auf die rhetorische Tradition besonders geeignet und steht daher hier im Mittelpunkt, weil Quintilian das Wissen seiner Vorgänger referiert und bewertet und somit seine Reflexionen paradigmatisch für größere rhetoriktheoretische Debatten stehen. Das rhetorische Modell zeichnet sich dadurch aus, daß es eine Alternative zu einer strikten Entgegensetzung von Rationalität und Emotionalität formuliert, wie man sie aus der westlichen Philosophie kennt. Weiterhin geht es der Rhetorik immer wieder um die Frage, wie Emotionen darstellbar sind, wie sie mit sprachlichen Mitteln transparent gemacht werden können, und auch diese Frage findet sich in Perlmanns Schweigen wieder. Obwohl die Affektdarstellung und die Affekterregung bei den Zuhörern vor allem auf sprachliche Mittel angewiesen scheinen, bleibt dabei sowohl im Roman als auch innerhalb der rhetorischen Tradition unzweifelhaft, daß Emotionen auch ein biologisches

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Faktum sind. Schließlich liegt eine Verbindung zur rhetorischen Tradition in der Auffassung, daß Gefühle stets in einem sozialen Kontext verankert sind. Perlmanns Angst und Verunsicherung etwa entstehen erst, weil er sich mit Fachkollegen konfrontiert sieht, weil er sogar gegenüber Familienangehörigen und zufälligen Bekannten ein bestimmtes Selbstbild zu wahren versucht. Emotionalität in einen sozialen Kontext zu rücken aber ist, wie jüngst auch Daniel M. Gross betont hat, eine besondere Leistung der antiken Rhetorik.3 Schon bei Aristoteles werden in dem ausführlichen Affektkatalog der Rhetorik Affekte immer vor einem sozialen Hintergrund betrachtet, die Gefühlslagen sind abhängig von der sozialen Stellung des Redners, entstehen überhaupt häufig erst, wenn sich der Redner in Relation zu einer sozialen Gruppe wahrnimmt. So erklärt Aristoteles Affekte grundsätzlich aus der sozialen Situativität heraus. Zorn etwa entsteht dadurch, daß uns ein anderer ungerechtfertigt kränkt (1378a), auch Sanftmut als Gegensatz zum Zorn ist eine soziale Emotion, die entsteht, wenn sich jemand uns gegenüber schämt (1380b), selbst die Furcht ist sozial begründet, nämlich beispielsweise aus der Abhängigkeit zu anderen (1382b) – die Liste ließe sich weiter fortsetzen. Neben der Bedeutung der Sprache, die von psychologischen Erklärungsmustern bisweilen übersehen wird, ist aber die Wahrnehmung der sozialen Dimension von Emotionen ein entscheidender Punkt für die rhetorische Emotionsforschung. Emotionen sind, man kann Simone Winkos Formel durchaus für die Rhetorik requirieren, „kodierte Gefühle“,4 das heißt aber nicht nur, daß sie einem sprachlichen Code folgen, der historischen Wandlungen unterliegt, sondern eben auch einem sozialen bzw. kulturellen Code, der ebenfalls im historischen Wandel begriffen ist und deutlich macht, daß Emotionen immer erst sozial hervorgebracht werden, von der Existenz anderer und nicht nur vom fühlenden Individuum abhängig sind. Wie sehr Emotionen das Ergebnis kultureller Gestaltung sind, hat etwa am Beispiel des Ekels Winfried Menninghaus verdeutlicht, dessen Darstellung der kulturhistorischen Dimension eines Gefühls zeigt, wie sehr Emotionen in ihrem Wesen vom kulturellen Kontext abhängig sind.5

2. Das Grundmodell rhetorischer Anthropologie: Der Mensch zwischen Affekt und Vernunft Ziel der Rhetorik ist die Persuasion, schon früh machen die Redner der Antike dabei die Erfahrung, daß das Überzeugen kein rein intellektueller Prozeß ist. –––––––— 3 4 5

Vgl. Daniel M. Gross, The Secret History of Emotion. From Aristotle’s ,Rhetoric‘ to Modern Brain Science, Chicago 2006, besonders Kapitel 1. Simone Winko, Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003. Vgl. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999.

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Zuhörer lassen sich allein mit Hilfe der logoi, also vernünftiger Worte, nur schwer überzeugen, erst im Zusammenspiel rationaler und affektiver Mittel kann rhetorische Argumentation, die ein Prozeß ,wirkungsunsicherer Steuerung‘6 ist (so versteht sie Henry W. Johnstone), ihr Potential entfalten. Es gilt für den Redner nämlich, die Sympathie der Zuhörer für einen Redegegenstand und für sich selbst zu gewinnen. Der intellektuellen Überzeugung dient dabei der logos, emotionale Beeinflussung kann in der Vorstellung von Aristoteles, dessen Begriffsbildung kanonisch geworden ist, in zwei Affektstufen geschehen, nämlich durch ethos, eine zurückgenommene Form der Emotionalität, etwa die Fähigkeit des Redners sympathisch und freundlich zu erscheinen, oder durch stärkere emotionale Beweggründe (pathos), die Aristoteles den Zuhörern zuordnet, die etwa durch Trauer oder Freude in ihrem rationalen Urteil beeinflußt werden.7 Lausberg spricht in diesem Kontext von einer „Affekt-Brücke“8 zwischen dem Redner und seinen Zuhörern. Obwohl Aristoteles, insgesamt gesehen, Rhetorik als eine Technik der Argumentation etabliert, spielen für ihn Emotionen eine große Rolle. Sein Rhetorik-Lehrbuch ist nicht einseitig rationalistisch, baut vielmehr auf die anthropologische Vorstellung, daß der Mensch von Vernunft und Gefühl angetriebenen wird. Der Katalog von Emotionen, den Aristoteles im zweiten Buch der Rhetorik präsentiert, zeigt, wie wichtig ihm das Thema ist, und so ist Aristoteles’ Schrift einer der wichtigsten Quellen antiker Psychologie und leistet einen zentralen Beitrag zur Beschreibung und Kartographie von Gefühlen. Er bietet eine psychologische Beschreibung der einzelnen Gefühle, die auch heute durchaus noch aktuell ist, weil sie letztlich empirisch bewährt ist, nicht spekulativ. Die antike Rhetorik ist schließlich im wesentlichen eine empirische Wissenschaft: denn nur Theoreme und Praktiken, die sich auf der agora oder dem Forum bewährten, fanden Eingang in die Theoriebildung. Empirisch, nicht spekulativ unterstellt die Rhetorik das Ineinander von Emotion und Kognition. Die enge Verknüpfung von rationalem Argument und emotionaler Beeinflussung, die die antike Rhetorik annimmt, gerät jedoch im Laufe der Zeit so weit in Vergessenheit, daß etwa Pettys & Cacioppos elaboration likelihood model in den 90er Jahren in der Kommunikationspsychologie für Furore sorgen konnte, obwohl die beiden Autoren, nüchtern betrachtet, lediglich den Zusammenhang rationaler Verständigung (die sogenannte primäre Route der Kommunikation) und emotionaler Beeinflussung (periphere Route der Kommunikation) in operationalisierbarer Weise darstellen.9 Zwar wurde durch die beiden empirisch genauer belegt, wann der Rezipient besonders häufig von einer rationalen –––––––— 6 7 8 9

Vgl. Henry W. Johnstone, Some Reflections on Argumentation, Logique et analyse 6 (1963) 30–39. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort versehen von Franz G. Sieveke, 5. Aufl., München 1995, 1356a. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 3. Aufl., Stuttgart 1990, 151 (§257). Vgl. Richard Petty / John Cacioppo, Communication and Persuasion. Central and Peripheral Routes to Attitude Change, New York 1986.

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Betrachtungsweise abweicht, nämlich wenn der emotionale Impuls des Redners stark ist, kaum Sachkenntnisse vorhanden sind oder von einem niedrigen involvement auszugehen ist. Für den Redner der Antike aber waren diese Einsichten im Grunde Selbstverständlichkeiten: Indem er die Angemessenheit seines Vortrags gegenüber dem Publikum als wichtigstes Kriterium betrachtet, erkennt er nämlich ohne Zweifel, daß etwa ein sehr engagierter Richter sich nicht so leicht durch Emotionalität beeinflussen läßt, daß etwa bei geringen Sachkenntnissen des Rezipienten ein komplexes Argument kaum darstellbar ist und er eher mit Hilfe von Affekterregung überzeugen wird. Die Methoden der Affekterregung in der antiken Welt waren dabei durchaus drastisch: So ist von Servius Galba bekannt, daß er ein Waisenkind annahm, dieses beständig auf den Schultern trug, nur um vor Gericht Mitleid zu erwekken, und von Manius Aquilius berichtet man, daß er in zerrissenen Kleidern vor Gericht erschien, um Mitleid zu erregen und dem Richter die Narben, die er im Kampf um die Republik erlitten hatte, zu zeigen.10 Die Sache entgleitet im Laufe der Zeit so weit, daß Quintilian von einem Richter erzählt, der auf die Vorführung eines mitleiderregend schreienden Kindes reagierte, indem er forderte, man solle dem Kind endlich zu essen geben, dann sei es sicher ruhig.11 Wenn solche äußeren Mittel der Affekterregung eingesetzt werden, liegen diese ohnehin gewissermaßen außerhalb der rhetorischen Kunst, die eher darin besteht, Zuhörer, wie es bei Aristoteles heißt, „durch Rede [logos] in einen emotionalen Zustand [pathos] [zu] versetzen“.12 Auffällig aber ist, daß Emotionen durchgängig in einen sozialen Kontext gerückt sind, man anthropologisch von einer Doppelnatur des Menschen ausgeht, in der rationale und emotionale Beweggründe zusammenwirken. Die besondere Leistung der Rhetorik liegt dabei für Aristoteles in der Fähigkeit sowohl ethos als auch pathos mit sprachlichen Mitteln zu erregen. Schon für Gorgias war dies, nach Auskunft der Helena-Rede, eine Stärke der Redekunst, daß sie ein „großer Bewirker“ ist, „vermag sie doch Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren.“13 Segal hat deutlich gemacht, wie entscheidend für Gorgias Emotionen von Sprache abhängig sind, zugleich aber eben auch, daß menschliche Emotionalität auf biologische Prozesse gründet, denn für ihn wirkt die Rede wie eine Droge auf die Psyche ein.14

–––––––— 10 11 12 13 14

Vgl. Cicero, De oratore – Über den Redner, übersetzt und hg. v. Harald Merklin. 3., bibliographisch ergänzte Aufl., Stuttgart 1997, 1, 53 bzw. 2, 47. Vgl. Quintilian, Ausbildung des Redners (Institutio Oratoria). Hg. und übersetzt von Helmut Rahn, 3. Aufl., 2 Bde., Darmstadt 1995, 6, 1, 40. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1356a. Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, hg. und übersetzt von Thomas Buchheim, Hamburg 1989, 9. Vgl. C. P. Segal, Gorgias and the Psychology of the Logos, Harvard Studies in Classical Philology 66 (1962) 104–106.

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3. Figur und Affekt. Praktiken der Affektdarstellung und Affekterregung Bereits in der Antike hat die Auffassung, daß Figuren die Sprache der Affekte seien, topischen Charakter. Zwar hält Quintilian die Ansicht, „es gebe so viele Figuren wie Gefühlsbewegungen“15 für falsch, denn Figuren lassen sich den Affekten nicht direkt zuordnen oder, wie Rüdiger Campe sagt: „der Affekt hat in der Sprache nicht ein Zeichen, und die Zeichen der Sprache bezeichnen nicht einen Affekt“.16 Dietmar Till spricht dann in diesem Kontext auch von der „Polyvalenz von figuraler Struktur und pragmatischer emotionaler Funktion“.17 Das Verhältnis von Affekt und Figur ist nicht in dem Sinne konventionell festgelegt, daß sich ein bestimmtes Gefühl in einer bestimmten Figur artikuliert. Aber Affekt und Figur verhalten sich doch immerhin so zueinander, daß wir etwa die sprachliche Darstellung eines Gefühls gerade dann für authentisch halten, wenn sie besondere Strukturmerkmale aufweist, die sich als rhetorische Figuren beschreiben lassen. Ein elliptischer Stil etwa oder hyperbata, also Umstellungen, nehmen wir als Zeichen innerer Erregung. Die figurale Sprache scheint eine Möglichkeit zu sein, innere Gefühle transparent zu machen, sie den Rezipienten zu erschließen und diese zu affizieren, auch ohne unsere Gefühle explizit zu thematisieren. In diesem Sinne verstanden, sind Figuren automatisierte Mittel des Affekts, die in einem rhetorischen Nutzenkalkül operationalisierbar sind. Sie sind also ein Mittel der Gefühlsdarstellung, aber auch eines der Gefühlserregung. Für Quintilian scheint der Aspekt der Gefühlerregung bei den Zuhörern auf den ersten Blick wichtiger als derjenige der Gefühlsdarstellung: Die Figuren nun, die zur Steigerung der Gefühlswirkungen passen, beruhen meist auf Verstellung. Denn wir stellen uns, als ob wir zürnten, uns freuten, fürchteten, wunderten, Schmerz empfänden, erbittert seien, etwas wünschten und dergleichen mehr.18

Quintilian radikalisiert diese rein wirkungsbezogene Perspektive noch, indem er behauptet: „Immer wenn sie echt sind [gemeint sind in diesem Fall Ausrufungen, also exclamationes, die paradigmatisch für andere Figuren stehen], dann gehören sie nicht zu der Ausdruckform, von der wir jetzt sprechen.“19 Anders gesagt: Wenn der Redner erregt ist, deshalb etwa die Struktur des Satzes aufbricht, elliptisch spricht, dann soll gar keine rhetorische Figur vorliegen. Nun ist der Gedanke einsichtig, daß der rhetorische Fall nur dann vorliegt, wenn der Redner bewußt rednerische Kunst einsetzt, aber man sollte nicht so weit gehen, daß Figuren als Zeichen affektiver Regung nicht grundsätzlich rhetorisch analysierbar wären. Bei der Analyse sprachlicher Strukturen kommt es schließ–––––––— 15 16 17 18 19

Quintilian, Institutio oratoria, IX, 1, 23. Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, 246. Dietmar Till, Text, Kommunikation und Affekt in der Tradition der Rhetorik, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54 (3/2007) 299. Quintilian, Institutio oratoria, IX, 2, 26. Ebd. IX, 2, 27.

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lich weniger auf die Intention des Redners an als eben auf die vorliegende sprachliche Struktur. Gerade hierin liegt ja ein gewinnendes strukturales Moment der Rhetorik, das man anerkennen sollte, weil es sonst nur noch ein Schritt wäre bis zur Position Hallbauers, der die rhetorische Figurenlehre für obsolet hielt, da er glaubte, darin dem französischen Theoretiker Lamy nachfolgend, Leidenschaften seien eine spezifische Sprache, die sich in Figuren artikuliere, kein Thema rhetorischer Bearbeitung, eben „weil man von Natur und nach dem Affekt die Figuren macht“.20 Quintilian will mit seiner Definition rhetorischer Figuren den Charakter der Rhetorik als Kunstlehre deutlich machen, die in der Lage ist, mit rhetorischen Figuren Wirkungen zu steigern. Wenn ein Redner ein nur erahntes Gefühl mit Hilfe rhetorischer Figuren vergrößert und verstärkt, dann erst tritt nach dieser Auffassung der rhetorische Fall ein. Indem Quintilian die natürliche erregte Rede als nicht figural strukturiert versteht, will er zeigen, worin eigentlich die Kunst des Redners besteht und nicht das analytische Instrumentarium der Rhetorik schwächen. Er ist selbst hin- und hergerissen zwischen dem analytischen Potential, das die Figurenlehre bietet, und dem Versuch, Rhetorik als eine Kunstlehre zu etablieren. Schließlich bietet er auch eine eher auf einen Kompromiß ausgerichtete Definition von Figur: Es gebe wohl eine doppelte Auffassung von „Figur“, führt er nämlich aus, und das weitere Verständnis sehe in der Figur eine sprachliche Struktur, die planmäßig oder unabsichtlich vorkommen könnte.21 Die Affektqualität der rhetorischen Figuren erklärt man sich in der antiken Rhetorik selbst wiederum mit Hilfe einer Metapher:22 Wie ein Athlet im Kampf oder ein Schauspieler auf der Bühne von seiner natürlichen Haltung abweicht, um einen bestimmten Effekt zu erzielen, so weicht nach Quintilian die rhetorische Figur von der üblichen Ausdrucksweise ab. Der Begriff „Figur“ überträgt also Eigenschaften des menschlichen Körpers auf Textstrukturen. (Dieselbe Metaphorik benutzt übrigens auch das griechische Wort für Figur nämlich „schema“, was übersetzt auch zunächst einmal „Körperhaltung“ bedeutet [von ĵÃ¥ďË=sich verhalten]). Rhetorische Figuren sind nach dieser Metapher durch Abweichung vom gewöhnlichen Verhalten gekennzeichnet. Wie aber die Anspannung des Körpers Kräfte freisetzt, so geschieht dies auch durch eine Veränderung des gewöhnlichen sprachlichen Ausdrucks. Auch hier wird also sowohl die sprachliche Seite von Emotionen als Mittel der Rede deutlich, aber eben auch metaphorisch für eine reale Grundlage des sprachlichen Mittels argumentiert, die auf bestimmten affektiven Regungen beruht, die sich aus der Natur des Menschen erklären, letztlich also anthropologisch fundiert sind und auf natürliche, heute würde man sagen: biologisch-physiologische Prozesse zurückgehen. –––––––— 20 21 22

Friedrich Andreas Hallbauer, Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie, Jena 1725 (Nachdruck Kronberg /Taunus 1974), 490. Quintilian, Institutio oratoria, IX, 1, 12. Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 267 (§ 499).

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4. Das Modell Selbstaffizierung Nun hat die antike Rhetorik durchaus nicht nur die Affekterregung bei den Zuhörern im Sinn, wie man zunächst glauben könnte. In Quintilians Lehrbuch wird vielmehr auch diskutiert, welche Bedeutung die Gefühle eines Redners im kommunikativen Kontext haben. Quintilian geht nämlich von einem komplexen Ineinandergreifen von authentischer Empfindung und technischer Darstellung von Emotionalität aus, das diskursiv nicht vollkommen ausgelotet werden kann. Diese Überlegungen ziehen die Subjektivität des Redners ins Kalkül und haben die Adaptation der rhetorischen Tradition etwa durch Herder und Goethe befördert, weil sie einen Weg beschreiben, um innere Empfindungen sprachlich transparent werden zu lassen. Eine der kanonischen Formulierungen dieser Selbstaffizierungstheorie findet sich in der Ars poetica von Horaz. Nach der Formel „si vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi“23 sind eigene Empfindungen und Emotionen nötig, um die Rezipienten emotional anzusprechen. Der Redner soll sich selbst in eine Gefühlsstimmung versetzen, um dieselbe bei seinen Rezipienten wachrufen zu können. Hier ist nun schnell der Vorwurf der Künstlichkeit bei der Hand, weil Horaz offensichtlich rät, Gefühle zu fingieren, um wirkungsvoll auftreten zu können. Jedoch ist dieser Vorbehalt gegen die Selbstaffizierungstheorie nicht wirklich schlüssig, denn der Affekt hat das Potential, die inventio zu beflügeln: Wer sich in eine Stimmung versetzt, erhält Zugriff auf sprachliche Mittel zur Darstellung seiner Empfindung und kann seine Gefühle obendrein glaubhaft thematisieren, er ist dann wirklich in der entsprechenden Stimmung.24 Wer, induziert durch sprachliche Mittel, eine Empfindung bei sich oder anderen auszulösen vermag, was ja schon für Gorgias die Rede auszeichnet, befindet sich schließlich tatsächlich in ebendieser Stimmung. Ob Horaz die Gefühle des Autors an sich für bedeutungsvoll hält oder ob sie nur wegen ihrer rhetorischen Wirksamkeit von Interesse sind, läßt sich zwar nur schwer beantworten. Stenzel hat sich dazu entschieden, eher einen rhetorischen Kunstgriff in diesem Verfah–––––––— 23

24

Horaz, Ars poetica, übersetzt und mit einem Nachwort hg. v. Eckart Schäfer, Stuttgart 1989, 102–103. Wolf Steidle hält den Satz lediglich für eine Anweisung an Bühnenschauspieler (vgl. W. S., Studien zur Ars poetica des Horaz. Interpretation des auf Dichtkunst und Gedicht bezüglichen Hauptteils, Hildesheim 1967, 64). Demgegenüber sieht Manfred Fuhrmann in dem ganzen Abschnitt eher stilistische Fragen adressiert (vgl. M. F., Die Dichtungstheorie der Antike: Aristoteles – Horaz – Longin. Eine Einführung, 2. überarbeitete und veränderte Aufl., Darmstadt 1992, 131–133). Ähnlich äußert sich auch Horst Rüdiger (vgl. H. R., Kommentar, in: Horaz, De arte poetica liber, eingeführt, übersetzt und kommentiert von H. R., Zürich 1961). Carsten Zelle hat den Satz als „Produktions- und Wirkungsästhetik überbrückende Formel“ gedeutet (C. Z., Zwischen Rhetorik und Spätaufklärung. Zum historischen Ort der Sturm-und-Drang-Ästhetik mit Blick auf Johann Georg Schlossers „Versuch über das Erhabene“ von 1781, Lenz-Jahrbuch 6 (1996) 170). Vgl. George M. A. Grube, The Greek and Roman Critics, Toronto 1965, 243. Nach Grube weist das Selbstaffizierungs-Konzept von Horaz über die poetische Theorie der Antike hinaus, doch mit Blick auf Cicero und Quintilian ist die Idee einer durch selbstaffizierte Empfindung induzierten inventio kein ausschließlich in der Ars poetica vertretener Gedanke.

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ren zu sehen: „Nicht um genuines, spontanes Gefühl geht es jedenfalls, etwa im Sinne der [...] Ausdrucksästhetik, sondern um zweckhaft produzierte Affekte.“25 Doch ist dieser Vorbehalt rein theoretischer Natur, denn es scheint vielmehr so zu sein, daß Selbstaffizierung ein Weg ist, Emotionen darzustellen und bei anderen zu erregen. Der englische Theoretiker Richard Hurd interpretiert die „si-vis-me-flere“Passage in diesem Sinne und hat mit seiner Interpretation die Geniebewegung beeinflußt: Nach seiner Auffassung weise Horaz auf die Bedeutung „der inneren Gemüthsfassung und dem Charakter der redenden Person“26 hin. Indem ein Redner seine Gefühle einsetzt, um seine rednerische Sache zu vertreten, gerät er nicht in einen Modus bloßer Simulation und sollte dies auch nicht, wie Quintilian mit großem Nachdruck erklärt: Nur Feuer kann einen Brand entfachen, nur Feuchtigkeit uns durchnässen, und nichts kann auf andres abfärben, wenn es selbst die betreffende Farbe nicht hat. Das erste ist es also, daß bei uns selbst die Regungen stark sind, die bei dem Richter stark sein sollen, und wir uns selbst ergreifen lassen, ehe wir Ergriffenheit zu erregen versuchen.27

In der Lesart Quintilians schließen sich ,authentische‘ Gefühle und bewußter Einsatz der rhetorischen Kunst (ars) nicht aus, was man schon daran erkennen kann, daß er sich im Kontext der Stegreifrede, die für ihn die äußerste Bewährungsprobe eines gut ausgebildeten Redners ist, mit dem Thema Selbstaffizierung beschäftigt. Er entwickelt gleichsam ein Prozeßmodell der Selbstaffizierung, in dem inneres Gefühl und die Darstellung des Gefühls mit rhetorisch figuralen Mitteln zusammengehören: Deshalb gilt es, […] anschauliche[ ] Vorstellungen von den Gegenständen [zu erreichen,] (ϤËÀ¤Î蠟 [,…] und alles, worüber wir gerade reden wollen, die Personen, die Fragen, um die es geht, die Hoffnungen und Befürchtungen, leibhaftig vor den Augen zu haben und

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Jürgen Stenzel, „Si vis me flere...“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974) 652. Stenzel spricht der Selbstaffizierungsformel von Horaz, Cicero u. a. jede vorbereitende Rolle bei der Entwicklung der Genieästhetik ab. Stenzel folgt der Rhetorik-Definition von Aristoteles, die durch eine besondere Betonung des logischen Arguments gekennzeichnet sei und auch im Rahmen der ausführlich behandelten Affektenlehre für eine Theorie von Selbstaffizierung keinen Raum zu lassen scheint. In der Poetik unterscheidet Aristoteles allerdings zwei Typen von Dichtern, nämlich die phantasiebegabten und die leicht erregbaren, wobei erstere die Affekte nur vermeintlich empfinden, die zweite Gruppe von Poeten aber wirklich von starken Emotionen bewegt wird (vgl. Aristoteles, Poetik, übersetzt und hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, 1455a). Dazu auch Wolf Steidle, Studien zur Ars poetica des Horaz. Interpretation des auf Dichtkunst und Gedicht bezüglichen Hauptteils, Hildesheim 1967, 64, der Horaz in ähnlicher Weise deutet. Richard Hurd, Kommentar „Episteln an die Pisonen und an den Augustus“, in: Horaz: Episteln an die Pisonen und an den Augustus. Mit Kommentar und Anmerkungen nebst einigen kritischen Abhandlungen von R. Hurd, übersetzt und mit eigenen Anmerkungen begleitet von Johann Joachim Eschenburg, Leipzig 1772, I 29. Quintilian, Institutio oratoria, VI, 2, 28.

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ins Gefühl aufzunehmen. Unser Inneres ist es nämlich, was beredt macht, und die geistige Kraft in uns.28

5. Rhetorische Emotionstheorie als geheime Geschichte und integratives Modell Eine konsequente Trennung zwischen ,authentischer‘ und fingierter Kommunikation ist vor dem Hintergrund der Selbstaffizierungstheorie gar nicht möglich. Hinzu kommt: Der Redner, auch der Schriftsteller, ja der Mensch als redendes Wesen überhaupt, ist auf Sprache angewiesen, wenn er seine Empfindungen mitteilen will. Sprachlichen Mustern und appellativen Strukturen, die sich in der Vergangenheit als wirksam erwiesen haben, und von der Rhetorik systematisiert wurden, kann er sich gar nicht entziehen. Insofern ist jede Darstellung und Thematisierung von Affekten, jedes Beispiel von Affekterregung von einer rhetorischen Struktur dominiert. Die Selbstaffizierung als technisches Mittel, das die Affektdarstellung anregt und die Thematisierung der eigenen Emotionen ermöglicht, ist selbst nicht nur ein rhetorischer Trick, vielmehr werden Gefühle auf diese Weise sprachmächtig, gelingt eine Darstellung und Thematisierung von Emotionen, die authentisch ist, soweit sie es nur sein kann. Die Authentizitätsfrage ist also letztlich selbst problematisch, weil in der Vorstellung Quintilians – und überhaupt der Rhetorik – Sprache und Emotion eng miteinander verknüpft sind. Gefühle erhalten erst im sprachlichen Ausdruck ihre eigentliche Kontur, sind dabei abhängig von sprachlichen wie kulturellen Kodierungen und inhaltlich betrachtet topisch strukturiert. Die psychologische Behauptung von James Watt „Ich bin traurig, weil ich weine“, die den Vorrang körperlicher Ausdrucksbewegungen annimmt, Emotionen auf körperlich gegründete Stimulusstimulationen reduziert,29 ist auch insofern problematisch, als –––––––— 28

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Quintilian, Institutio oratoria, X, 7, 15. Laut Rüdiger Campe operiert die antike Rhetorik mit einem dreistufigen Modell des Affektausdrucks, nach dem sich der Redner zuerst die Leidenschaft vor Augen stellt und einprägt, die dann auf Gestik, Mimik und elocutio wirkt, um schließlich das Publikum zu beeinflussen (vgl. R. C., Affekt und Ausdruck, 139). Die These, daß es erst im Übergang zum 18. Jahrhundert zur „Einfügung des Affekts in die Repräsentation der sprachlichen Zeichen“ (ebd. S. 474) kommt, ist problematisch, denn nach der antiken Affektenlehre zeigen sich Affekte ja nicht nur durch die rednerische actio und figurative Phänomene wie Häufung und Hyperbaton. Daß Rhetorik nur versucht, „Affekte in Tabellen zu klassifizieren und zu definieren“ (ebd. S. 477), läßt sich allenfalls dem 17. Jahrhundert nachsagen, demgegenüber weist Quintilian ausdrücklich darauf hin, daß die Affekte jede Systematisierung transgressieren (vgl. Quintilian, Institutio oratoria, VI, 2, 25–26). Allerdings ist Campe zuzustimmen, daß das Verhältnis von Affekt und Ausdruck im Übergang zum 18. Jahrhundert neu bestimmt und dadurch ein neues literarisches Paradigma begründet wird (vgl. ebd. S. 472). Die Wandlung der Affekttheorie läßt sich aber weitgehender, als Campe das eingesteht, als Wiederentdeckung/Neuinterpretation rhetorischer Theorien beschreiben. William James, What is an emotion?, Mind 9 (1884), 188–205.

Affekt und Figur

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jeder Ausdruck von Gefühlen selbst wieder den Konventionen von Kodes unterworfen ist. Der Redner, der sich in eine bestimmte Stimmung versetzt, und die erregte Person erfinden den Ausdruck ihrer Emotion ja nicht im Augenblick der Äußerung, vielmehr greifen sie wiederum auf sprachliche Strukturen zurück, die sich empirisch bewährt haben, auf Worte, Satzstrukturen, topische Denkmuster etc., – anders lassen sich Gefühle nicht transparent machen. So gerät jeder biologische Rigorismus, ob er im Sinne von James argumentiert, aus einer evolutionsbiologischen Sicht wie Darwin oder auch, um ein aktuelleres Beispiel zu nehmen, ethologisch wie Eibl-Eibesfeldt unter erheblichen Rechtfertigungszwang, sobald er zum alleinigen Erklärungsgrund menschlicher Emotion wird. Rein körperliche Ausdrucksbewegungen, also Gestik und Mimik, sind kein sicheres Medium der inneren Empfindung, wie man bereits im 18. Jahrhundert in der Anthropologie und Psychologie bisweilen behauptete. Wenn etwa Thomasius davon ausgeht, Hauptaffekte wie Zorn, Wut, Trauer würden sich in „Nebenaffekten“ artikulieren, die körperliche Ausdrucksbewegungen auslösen, die empirisch beobachtet werden können,30 ist dies am Ende eine Illusion. Die These von einem unverstellten sermo corporis ist seit dem 18. Jahrhundert verbreitet, Lavaters Physignomik gleichsam Vorausläufer und Zuspitzung des Prinzips zugleich. Die These wird auch oft als fortschrittlich gedeutet, weil sie einer Erfahrungsseelenkunde den Weg bahnt, allerdings war Quintilians beständige Mahnung, daß gerade Körpersprache erst im Kontext ihre Bedeutung erhält, am Ende realistischer. Quintilian hat den Hiat zwischen biologischen Grundlagen von Gefühlen, notwendiger sprachlicher und gedanklicher Modellierung, linguistischer und kulturell-sozialer Determination, die den sprachlichen Ausdruck wie die mimische oder gestische Darstellung, ja die gesamte Wahrnehmung und Entstehung von Emotionen betrifft, deutlich gesehen. Lew Kuleschows Filmexperiment ist in diesem Zusammenhang schlagend. Er hat drei unterschiedliche Motive (ein Teller Suppe, ein Sarg mit einer Leiche und ein kleines Mädchen) mit dem Gesicht eines Schauspielers (Iwan Mosschuchin) zusammengeschnitten. Diese Montagen ließen die Zuschauer völlig unterschiedliche Ausdrücke im Gesicht des Darstellers erkennen – obwohl es sich immer um die gleiche Aufnahme handelte. Das Publikum war beeindruckt von der Fähigkeit des Schauspielers, Emotionen wie Hunger, Trauer und Zuneigung auszudrücken. Alfred Hitchcock hat im Film Das Fenster zum Hof dieses Experiment wiederholt. Er kombinierte ein und dieselbe Einstellung von James Stewart beim Betrachten einer halbnackten Frau und beim Anblick eines kleinen toten Hundes. Auch nonverbale Signale sind also alles andere als eine sichere Alternative zur sprachlichen Darstellung von Emotion, auch sie werden stets kontextabhängig interpretiert und sind von sprachlichen und kulturellen –––––––— 30

Vgl. beispielsweise Christian Thomasius, Erfindung der Wissenschaft anderer Menschen Gemüt zu erkennen. Schreiben an Friedrich III, Neujahr 1692, in: Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, Reihe Aufklärung, Weimar / Leipzig 1928, I 69.

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Konventionen abhängig, die den situativen Kontext bestimmen und die Deutung lenken, wie eben auch die Figuren als Sprache der Affekte stets von einem situativen Kontext in diesem Sinne abhängig bleiben. Die Stellungen des Körpers deuten auf die Gefühle eines Redners wie die Figuren seiner Rede, erst im menschlichen Bewußtsein ergibt sich jedoch im Konnex mit konventionellen kulturell und sprachlich vielfach determinierten Ausdrucksformen die eigentliche Kontur eines Gefühls. Klaus Scherers Emotionstheorie einer entwicklungsgeschichtlichen Entkopplung von Stimulus und Verhalten ist hier hilfreich und weist über zu einfache psychologische Erklärungsmuster hinaus.31 Bei der Verarbeitung von Emotionen sind nämlich komplexe kognitive Prozesse anzunehmen, die eben nicht in einfachen Reiz-Reaktions-Schemata aufgehen. Es ist also nicht nur die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Emotion und Ratio, zwischen Gefühl und Vernunft, die etwa Till betont hat,32 die zur „geheimen Geschichte“ der rhetorischen Emotionstheorien gehört. Auch ist es nicht allein die Einsicht in die besondere Bedeutung der Sprache für die Darstellung und Erregung von Affekten, die Perlmann bei seinen Übersetzungsversuchen erkennt und die bereits Gorgias in seiner Helena-Rede apostrophiert. Schließlich ist es auch nicht allein die soziale Fundierung von Emotion, die Erkenntnis, daß Emotionen immer auf das soziale Umfeld bezogen sind, die Aristoteles stark macht und die Gross, auf den die Rede einer „geheimen Geschichte“ der Emotionen zurückgeht, in den Mittelpunkt rückt, die das Potential der rhetorischen Emotionstheorie ausmacht. Vielmehr zeichnet eine rhetorische Emotionstheorie, und es ist wohl möglich, von einer solchen zu sprechen, die Zusammenführung all dieser Überlegungen aus und die auf diese Weise fundierte Einsicht, daß menschliche Emotionalität auch, aber nicht nur ein natürliches oder, wie wir heute sagen würden, bio-physiologisches Faktum ist. Eine rhetorische Emotionstheorie, die Einsichten der antiken Rhetorik für sich zu bewahren versucht, ist nur als eine integrative Theorie denkbar. Gerade insofern, als die antike Rhetorik Affekte und Emotionen als höchst komplexe Phänomene betrachtet, liefert sie ein Modell, das auch heute noch gegen bio-physiologisch argumentierende monistische Theorien stechen kann und bei der modernen Erforschung von Emotionalität als wichtiges Korrektiv dienen kann, ohne daß die Einsicht in die biologischen und physiologischen Grundlagen menschlicher Emotionalität deshalb zurückzuweisen wären. Am Ende ist die Frage nach der ,Authentizität‘ von Emotion mühselig, offensichtlich gelingt die Affekterregung mit Hilfe von rhetorischen Figuren und nonverbalen Signalen, weil wir eine Transparenz des Gefühls unterstellen; und das ist eine bahnbrechende Erkenntnis in Aristoteles’ Rhetorik, so unspektakulär –––––––— 31

32

Vgl. beispielhaft etwa Klaus R. Scherer, On the Nature and Function of Emotion: A Component Process Approach, in: Ders. / Paul Ekman (Hg.), Approaches to Emotion, Hillsdale, NJ 1984, 293–317. Till, Text, Kommunikation und Affekt, 302.

Affekt und Figur

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sie auch zunächst erscheinen mag: Es sei zwar häufig ein „Trugschluß“,33 merkt Aristoteles an, aber doch würden die Menschen die Gefühle, die ein Redner darstellt, in aller Regel für authentisch halten, besonders wenn das Verhalten des Redners sich mit dem eigenen Verhalten in ähnlichen Situationen decke oder auch nur mit den eigenen Erwartungen an sich selbst. Daher sehen die Teilnehmer auf Perlmanns Konferenz in dessen Schweigen lange Zeit wissenschaftlichen Ernst und Nachdenklichkeit, nicht jedoch die Verzweiflung, die er selbst empfindet. Gerade ihre Vielschichtigkeit macht schließlich die Wirkungskraft von Affekten aus, auf die auch Gert Uedings Lehrer Ernst Bloch vertraute, wenn er, wie Aristoteles Affekte in Gegensätze teilend, fordert, es sei Zeit, nicht länger hinaus zu ziehen, um das Fürchten zu lernen, sondern um das Hoffen zu üben, das als Affekt „aus sich heraus“ geht, die Menschen „weit“ mache, statt sie zu „verengen“: und wie alle Affekte ist auch das Hoffen mehr als ein biologisches Phänomen, Hoffen „ist lehrbar“, wie es bei Ernst Bloch heißt.34

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Aristoteles, Rhetorik, 1408a. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959, I 1.

Joachim Knape

Rhetorik zwischen Historismus und moderner Wissenschaft1

1. Regelmäßig erscheinen Bücher, die modernen Lesern die ältere, insbesondere die antike Rhetorik nahe bringen.2 Derartige Bücher und auch die Tatsache, daß alle zwei Jahre ein Kongress der ‚International Society for the History of Rhetoric‘ stattfindet, scheint zu beweisen, daß historische Rhetorikforschung nötig und sinnvoll ist. Tatsächlich aber beweisen diese Aktivitäten nur, daß historische Rhetorikforschung stattfindet, also Forschung, die sich mit den historischen Tatsachen der Geschichte der Rhetorik in Theorie und Praxis beschäftigt. Die Frage nach dem fachlichen Sinn solch rückwärts blickender Forschung ist damit nicht geklärt. Für sich genommen sind rein historistische Betrachtungsweisen und Forschungen ein luxuriöses Spiel, dessen gesellschaftlichen Sinn man bezweifeln kann und der auch bezweifelt wird, solange es nur darum geht, Geschichte um der Geschichte willen zu betreiben. Für rein historisch arbeitende Fächer stellt sich die Sachlage natürlich anders dar. Bei deren Befassung mit Rhetorik geht es um disziplin- oder fächeraffine Rhetorikforschung. Philologen, Histori–––––––— 1

2

Eine englische Version dieses Textes habe ich am 23. November 2007 in Oslo auf der Konferenz ‚Vitenskap og retorikk‘ vorgetragen, die die Norwegische Akademie der Wissenschaften aus Anlass Ihres 150jährigen Bestehens in einer Reihe von sieben Konferenzen zu unterschiedlichen Themen im Jahre 2007 veranstaltet hat. Für Anregungen und Hilfe danke ich Elisabeth Grüner und Anne Ulrich. Ich nenne nur einige Titel aus jüngerer Zeit: Øivind Andersen, I Retorikkens Hage, Oslo 1995; (dt.: Im Garten der Rhetorik, Darmstadt 2001); Laurent Pernot, La rhétorique dans l’antiquité, Paris 2000; Stanley E. Porter, Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period, 330 B.C.–A.D. 400, Leiden / New York / Köln 2001; James J. Murphy / Richard A. Katula / Forbes I. Hill / Donovan J. Ochs, A Synoptic History of Classical Rhetoric, 3. Aufl., Mahwah, N.J. 2003; Thomas N. Habinek, Ancient Rhetoric and Oratory, Malden, Mass. 2005; Maria L. Riccio Coletti, La retorica a Roma, Rom 2004; Michelle Ballif, Classical Rhetorics and Rhetoricians. Critical Studies and Sources, Westport, Conn. 2005; Gert Ueding, Klassische Rhetorik, 4. Aufl., München 2005, James Fredal, Rhetorical Action in Ancient Athens: Persuasive artistry from Solon to Demosthenes, Carbondale 2006; Catherine E.W. Steel, Roman Oratory, Cambridge 2006; Wendy Olmsted, Rhetoric. An Historical Introduction, Malden, Mass. 2006; William J. Dominik (Hg.), A Companion to Roman Rhetoric, Malden, Mass. 2007; Ian Worthington (Hg.), A Companion to Greek Rhetoric, Malden, Mass. 2007; Edwin Carawan (Hg.), Oxford Readings in the Attic Orators, Oxford 2007.

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ker, Kunsthistoriker usw. stoßen bei ihren historischen Arbeiten auf das Rhetorikproblem und gehen ihm gewissermaßen als Epiphänomen nach. Ein Teil der Disziplin Rhetorik lebt von dieser Art interdisziplinärer Erforschung der Rhetorikgeschichte, weil es in der Welt kaum hauptberufliche Rhetoriker gibt; das hat auch die jüngste Tagung der ‚International Society for the History of Rhetoric‘ in Straßburg illustriert. Aber wie steht es mit der Geschichtsfrage innerhalb der Disziplin Rhetorik im engeren Sinn? Nehmen wir das Beispiel Tübingen. In Deutschland ist die Universität Tübingen bekanntlich das institutionalisierte Zentrum der Rhetorikforschung. Aus dieser Alleinstellungslage heraus hat es sich gewissermaßen als eine Selbstverständlichkeit ergeben, daß wir Tübinger in Forschung und Lehre immer auch die historische Seite des disziplinären Wissens der Rhetorik einbeziehen. Wir sehen das als unseren Auftrag an, und dementsprechend wird in Tübingen auch nicht einfach an einem Rhetorikwörterbuch gearbeitet, sondern an einem Historischen Wörterbuch der Rhetorik. Äußert sich darin schlicht ein traditionelles Verständnis von Rhetorik bzw. die klassische Haltung, sich in Europa und den westlichen Industrieländern erst einmal auf die griechische und römische Antike als ‚Wiege der Zivilisation‘ zu beziehen? Ist das alles aber wirklich gerechtfertigt und fachlich-systematisch gefordert? Was den Gründern des Historischen Wörterbuchs als ganz selbstverständlich erschien, nämlich die Arbeit an der historischen Dimension, wird heutzutage in Frage gestellt. Fächer mit ausschließlich historischer Ausrichtung stehen heute unter Druck. Geschichtliche Herleitungen und Beweisführungen haben im 19. Jahrhundert und auch früher Legitimität von gesellschaftlichen Einrichtungen, z.B. Nationalstaaten, gestiftet. Die Frage, wie es früher war, wird aber in modernen demokratisch oder wissenschaftlich ausgerichteten Systemen kaum noch als relevant für die Begründung von Entscheidungen oder die Formulierung von Theorien erachtet. Die moderne Medizin muß nicht wissen, wie Aristoteles über die angeblich existierende schwarze Galle dachte. Staatliche Einrichtungen legitimieren sich heute durch aktuelle Wahlen und Plebiszite; geschichtliche Argumente werden höchstens noch für emotionale Propaganda eingesetzt, kaum für rationale Begründungen herangezogen. Die Selbstverständlichkeit des Denkens und Argumentierens in historischer Dimension, wie sie im nun vergangenen Zeitalter des Historismus als normal empfunden wurde, ist also vorbei, und das rein historische Argument hat heute kaum noch irgendwo wirklich Geltung. Als moderne Disziplin muß sich die Rhetorik, wenn sie denn eine wissenschaftliche Disziplin sein will, auf die Bedingungen des ganz auf Synchronie, nicht mehr auf Diachronie eingestellten Wissenschaftsverständnisses einlassen. Selbstverständlich, sonst hätte sie im Universitätskontext bald keine Daseinsberechtigung mehr. Die Maßstäbe werden dort aber von den empirisch-experimentell arbeitenden Naturwissenschaften gesetzt. Angelehnt an deren Paradigmen arbeiten auch die modernen Verhaltens- und Kommunikationswissenschaften als Nachbardisziplinen der modernen Rhetorik. Sie formulieren auch für die wissenschaftliche Rhetorik Fragen nach moderner Methodik und Theorie, denen sich die Rhetorik ausset-

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zen muß bzw. die die Rhetorik ernst nehmen sollte. Wenn wir die moderne Rhetorik als eine Disziplin definieren, die sich die Forschungsaufgabe stellt, herauszufinden, wie persuasive und effektive Kommunikation funktioniert, dann stellt sich z.B. ernsthaft die Frage nach dem Nutzen einer Beschäftigung mit Aristoteles und seiner Epoche. Warum soll eine moderne Gesellschaft Geld für die Befassung mit solchem Schnee von gestern, also für etwas längst Vergangenes ausgeben? Die Erforschung vergangener Verhältnisse, mit all ihren finanziellen und infrastrukturellen Aufwendungen, lässt sich meines Erachtens ernsthaft nur rechtfertigen, wenn daraus Ergebnisse resultieren, die für heutige, gegenwärtige und zukünftige rhetorische Theoriebildung irgendeinen systematischen Nutzen versprechen. Die übergeordnete Leitfrage meines Beitrags lautet also: Kann speziell die historische Rhetorikforschung Antworten auf Fragen geben, die aus der Gegenwart erwachsen und für sie gestellt werden? Und wenn ja, welche Antworten könnten dies sein?

2. Ich möchte im weiteren Verlauf meiner Überlegungen einige thesenhafte Antworten auf diese Frage formulieren und zunächst zu einer extrinischen Betrachtungsweise übergehen. Dazu will ich die oben genannte Leitfrage spezifizieren: Was kann historische Rhetorikforschung, vor allem die Erforschung historischer rhetorischer Praxis, im interdisziplinären Kontext leisten oder, darüber hinaus, was kann die historische Rhetorikforschung zur Diskussion über die Probleme der moderne Gesellschaft beitragen? Hier möchte ich insbesondere den Komplex der Wissenssystematik bzw. Epistemologie sowie der Mentalitäten- und Ideenforschung hervorheben. Auf diesen Feldern gibt es keine Urzeugung oder ahistorische Strukturbildung. Wissenssysteme, Ideen und Mentalitäten stehen bewusst oder unbewusst in Traditionsketten, die immer wieder abbrechen, aber auch immer wieder neu belebt werden können. Fühlen und Denken findet nie voraussetzungslos, geschichtslos statt, ist immer Resultat kultureller Entwicklungen. Historische Rhetorikforschung kann hier etwa erklären helfen, wie aus der alten Verankerung der Rhetorik im Hochschulsystem per Fächerdifferenzierung und Selektion das moderne Philologiesystem entstanden ist, das sich heute wieder in Auflösung befindet und sich durch nötige Neudifferenzierung teilweise zur Kulturwissenschaft transformiert, und dabei vielleicht gleichzeitig der Rhetorik einen neuen Platz im Fächerspektrum gibt, etwa durch das neue Bewusstsein für Schlüsselqualifikationen. Was den Komplex der Ideen- und Mentalitätsforschung angeht, so haben wir es hier regelmäßig mit gewachsenen, transformierten, revidierten, transferierten, permutierten, jedenfalls immer in langen historischen Prozessen ausgefällten Vorurteilen, Meinungen, Doktrinen, Dogmatiken, Spekulationen und fixen Ideen zu tun, die sich als Ergebnisse „gesellschaftli-

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cher Einbildungskraft“ manifestieren. Und als solche hat sie Lothar Bornscheuer in seinem Standardwerk zur Topik auch charakterisiert.3 Rhetorische Topikforschung kann ohne die Retroperspektive, also die historische Dimension, nicht auskommen. Sie kann als solche ganz wesentliche Einsichten in kognitive oder mentale Befindlichkeiten von Populationen jedweder Art liefern. Dabei geht es auch darum, zu erklären, welche historischen Persuasionsmechanismen dazu geführt haben, daß wir so denken, wie wir denken: vielleicht antiquiert oder inadäquat usw. Lassen Sie mich dies an drei Beispielen verdeutlichen. Das erste Beispiel betrifft den Kampf der englischen Royal Society gegen die Metapher und jede Form rhetorischer Überformung wissenschaftlicher Texte. Das von der Royal Society für die Natural Sciences formulierte Postulat eines „direct verbal access to the referential object demanded a plain style with perspicuity as its principle feature. The rejection of the artificiality of rhetoric led to a kind of antirhetoric”.4 Ein prominenter Vertreter dieser Sichtweise war auch John Locke, der 1690 in seinem Essay on Human Understanding schrieb: all the Art of Rhetorick, besides Order and Clearness, all the artificial and figurative application of Words Eloquence hath invented, are for nothing else but to insinuate wrong Ideas, move the Passions, and thereby mislead the Judgement.5

Today, however, „a reversal of this attitude has taken place”.6 Wir wissen heute, daß zum Beispiel moderne physikalische Theorien gar nicht ohne Metaphern und andere Tropen oder rhetorische Figuren erklärt werden können.7 Dazu der dänische Gelehrte Søren Kjørup in seinem Buch über die Humanities von 1996: Wissenschaftliche Neuerungen vollziehen sich oft mit Hilfe von neuen Begriffen, und diese Begriffe sind, wie man zeigen konnte, oftmals Metaphern oder andere Tropen. Ein sehr frühes Beispiel dieser Art Analyse finden wir in Mary Hess‘ Buch über Analogien und Metaphern in der Wissenschaft, später Lakoff und Johnson, die zeigen, daß auch unser alltägliches Denken durch Metaphern strukturiert ist.

Den gegenwärtigen Diskussionsstand fasst Kjørup wie folgt zusammen: Als die Wissenschaftstheoretiker auf die Rhetorik aufmerksam wurden, galt ihr Interesse zunächst der Stilistik. Auch ganz nüchtern aussehende wissenschaftliche Darlegungen wandten, wie man zeigen konnte, Tropen und Figuren der Überredung und Ausschmükkung und andere rhetorische Mittel an, die man anfangs oft als ‚literarische‘ bezeichnete. Ein Beispiel ist Joseph Gusfields Studie zur Alkoholforschung mit dem Titel ‚The Literary Rhetoric of Science‘ (1976); ein weiteres Beispiel sind Hayden Whites Analysen von geschichtswissenschaftlichen Texten, z.B. ‚The Historical Text as Literary Artefact‘ (1974). Derartige Studien haben nun eine recht banale Pointe, die eigentlich mehr über die Rheto-

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Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976. Heinrich F. Plett, Rhetoric and Renaissance Culture, Berlin / New York 2004, 62. John Locke, An Essay concerning Human Understanding, hg. v. Peter H. Nidditch, Oxford 1979, 508. Plett, Rhetoric and Renaissance Culture, 63. Jeanne Fahnestock, Rhetorical Figures in Science, New York / Oxford 1999.

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rik aussagt als über die Wissenschaft; genau genommen weist man nur nach, daß das Begriffssystem der Rhetorik weit genug ist, um auch wissenschaftliche Texte zu erfassen. Aber dieser Nachweis war zunächst einmal etwas provozierend und öffnete jenen Theoretikern die Augen, die bis dahin eine deutliche Grenze zwischen Wissenschaft und Rhetorik, sachlicher Überzeugung und sprachbewusster Überredung, gesehen hatten.8

Wir können am Beispiel „Sprache der Wissenschaft“ eine historische Differenz in den Auffassungen zwischen Barockzeit und heute erkennen, wir können aber auch aufschlussreiche Entwicklungen, Revisionen und Irrtümer feststellen. Das Studium solcher differenten Positionen in der Rhetorikgeschichte zeigt uns, wie sich Wissenschaft entwickelt und welche epistemischen Dynamiken zu erwarten sind. Wir erkennen dabei auch, daß der sprachliche und gedankliche Obskurantismus immer als Gefahr im Raum steht, und daß es sich immer wieder einmal lohnt, die Frage nach dem Verhältnis von sprachlicher Enkodierung und Wirklichkeit zu stellen. Nun zum zweiten Beispiel: Eine wichtige Rolle in der Rhetorikgeschichte, aber auch in der allgemeinen intellectual history und Epistemologie spielt der Konflikt zwischen Platon und den Sophisten. Er kann – historisch gedacht – als Paradigma künftiger Streitigkeiten um die Rhetorik gedeutet werden. Steven Mailloux beispielsweise sieht genau diesen Konflikt als Kern des amerikanischen Neopragmatismus: Contemporary neopragmatism can be viewed as a postmodernist reception of sophistic rhetoric, and it is as such that its advocates and opponents demonstrate the continuing relevance of the struggle between Platonism and sophistry.9

Methodisch gesehen nutze er „rhetoric to practice theory by doing history“.10 Diese Denkfigur ließe sich auf anderem Wege wie folgt erläutern: Um die rhetoriktheoretische und die rhetorikpraktische Gegenwart besser – oder vielleicht überhaupt adäquat – verstehen zu können, wird ein Blick in die Vergangenheit geworfen: Das Studium prägender Diskussionen und konkurrierender Rhetorikauffassungen in der Geschichte schafft somit einen „Denkraum“ (Aby Warburg), anhand dessen die Strukturen der Gegenwart deutlicher hervortreten, in die wir ansonsten vielleicht zu stark verstrickt wären, um sie klar in den Blick nehmen zu können. Somit lassen sich anhand historischer Forschungen auch oder eben gerade erst Aussagen über das „rhetorische Klima“ der Gegenwart –––––––— 8

9 10

Søren Kjørup, Humanities. Geisteswissenschaften. Sciences humaines. Eine Einführung, Stuttgart / Weimar 2001, 206f. (dän. Original 1996); Mary Hesse, Models and Analogies in Science, London 1963; George Lakoff / Mark Johnson, Metaphors we live by, Chicago 1980; Joseph Gusfield, The Literary Rhetoric of Science: Comedy and Pathos in Drinking Driver Research, American Sociological Review 41 (1976), 16–31; Hayden White, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Ders., Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, 101– 122 (engl.: The Historical Text as Literary Artefact, in: Tropics of discourse, Baltimore 1978, 81–100). Steven Mailloux, Reception Histories. Rhetoric, Pragmatism, and American Cultural Politics, Ithaca / London 1998, 22. Ebd. ix.

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treffen, für das sich die Rhetorik in erster Linie als Kontext für das erfolgreiche kommunikative Handeln von Oratoren schließlich interessiert. Das Stichwort pragmatism führt uns zum dritten Beispiel und zu einem ganz anderen Problembereich. Der philosophische Pragmatismus, dessen Ursprünge in den angelsächsischen Ländern, vor allem in Amerika liegen, hängt eng mit den Prinzipien der modernen Demokratie zusammen. Der Pragmatismus geht davon aus, daß sich die Vorstellungen und Werte einer Gesellschaft erst in kommunikativen Prozessen entfalten, und nicht einfach gesetzt sind. Die Rhetorik wird dabei zum „Dynamikfaktor der Kommunikation“,11 weil sie „eine maßgebliche Rolle bei der gesellschaftlichen Sinnkonstitution“ spielt.12 Daher kann man sie auch „emphatisch als einen der großen Bewegungsfaktoren der Kultur“ bezeichnen.13 Vor diesem Hintergrund wird die rhetorische Demokratiethese verständlich. In Deutschland hat unter anderem Johann Gottfried Herder die Rhetorik im 18. Jahrhundert wie folgt vertreten: Beredsamkeit aber wohnte nur da, wo Republik war, wo Freiheit herrschte, öffentliche Berathschlagung die Triebfeder aller Geschäfte war […]. Da wir nun überdem außer der Kanzel, auf der die Beredsamkeit in so kalter Luft ist, fast gar keine Gelegenheit zu öffentlichen Reden haben […]: da von jeher Deutschland das Vaterland des Cerimoniels, und einer hölzernen Knechtschaft gewesen, so ists ja Thorheit, Regeln einer Kunst zu suchen, wo die Kunst selbst fehlet.14

Walter Jens, der Gründer des Tübinger Seminars für Allgemeine Rhetorik, hat die rhetorische Demokratiethese wieder aufgegriffen, als er 1965 feststellte, daß man bei uns im 18. Jahrhundert erkannte, daß das Schicksal der Rhetorik, als einer Tochter der Republik, die sich allein in Freiheit entfalten könne, untrennbar mit dem Schicksal der Demokratie verbunden sei. Herrscht das Volk, regiert die Rede; herrscht Despotismus, dann regiert der Trommelwirbel.15

Diese These geht im Ursprung auf das Republik-Rhetorik-Junktim von Tacitus zurück. Tacitus hatte in seinem Dialogus de oratoribus das Blühen der Rhetorik mit der Existenz der römischen Republik vor der Kaiserzeit verknüpft. Damit ist bei unserem dritten Beispiel die Politik als ein weiteres konstitutives Feld sozialen und rhetorischen Handelns in den Blick gerückt. Der Orator operiert nicht nur in kulturell kodierten Situationen, sondern auch immer in einem konkreten politischen Kontext, der die Strukturen seines Handelns mitbestimmt. Die Rhetorikgeschichte ist voller Beispiele, in denen die Politik der Rhetorik ihren Status zuweist, was dann letztlich wieder ausschlaggebend ist für die Art und Weise, wie in dieser Zeit und in dieser Staatsform –––––––— 11 12 13 14 15

Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, 86. Ebd. 80. Ebd. 82. Johann Gottfried Herder, Briefe, das Studium der Theologie betreffend, 4 Bde., Weimar 1780–1781; hier: IV, 42. Brief, 236–248; hier: 243f. Walter Jens, Von deutscher Rede (1965), in: Ders., Von deutscher Rede, 4. erweiterte Neuausgabe, München / Zürich 1985, 24–53; hier: 24f.

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Rhetorik verstanden, gelehrt und praktiziert wurde. Die Geburt der Rhetorik aus dem Geiste der attischen Demokratie ist der Ursprung der Rhetorikgeschichte, aber zugleich auch deren wichtigste Denkfigur. Die Bedeutsamkeit der praktischen Beredsamkeit für die konstitutive Entscheidung in politischen Fragen ist unumstritten – ebenso wie deren Funktionswandel in monarchischen oder totalitären Zusammenhängen. Hier ist für den kompetenten Orator das Wissen um Varianz unerlässlich, weil es seine Chancen auf Erfolg in entscheidender Weise beeinflussen kann. Ich komme auf das Thema Varianz noch am Schluß zurück. Rhetorikgeschichte als Beitrag zur heutigen Demokratiedebatte: Diese Sicht vertreten im Jahr 2003 auch die Autoren der Synoptic History of Classical Rhetoric, James J. Murphy und Richard A. Katula in ihrem einleitenden Satz: „The purpose of history is to help us understand the present by seeing it in context and providing it with a sense of continuity.“16 Im amerikanischen Kontext beleuchten sie mit ihrer historischen Darstellung, so das Vorwort, indirekt die Rolle Amerikas als „leader of a free world“, und gehen zurück zu den Wurzeln der Demokratie, insbesondere der amerikanischen: „Representative democracy did not spring full-blown from the heavens.“17 Der Blick auf die Rhetorikgeschichte zeigt uns aber auch, daß die rhetorische Demokratiethese nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen richtig ist. Die Voraussetzung ist, daß die Gesellschaft den „Zugang zur Oratorrolle“18 juristisch als Freiheitsrecht definiert hat. Wenn „der Zugang zur Oratorrolle zum reinen Machtprivileg wird“, weil die Politik dies so definiert hat, dann wird Rhetorik nicht zum Bestandteil der Demokratiegeschichte, sondern auch zum Bestandteil der Geschichte anderer Staats- und Gesellschaftsformen. Das machen Blicke auf Machiavellis Rhetorikverständnis, auf die höfische Beredsamkeit im Barock oder im 20. Jahrhundert oder auf faschistische und andere totalitäre Regimes deutlich.19 Hier zeigen sich andere Auffassungen von der Macht des Wortes. Das Studieren der Brüche und Kontinuitäten der Rhetorikgeschichten kann möglicherweise dabei dienlich sein, auch deren Überbleibsel in der Gegenwart zu entdecken. Und es dient ganz allgemein dazu, der Gesell–––––––— 16 17 18 19

James J. Murphy / Richard A. Katula, A Synoptic History of Classical Rhetoric, 3. Aufl., Mahwah, NJ 2003, xi. Ebd. Knape, Was ist Rhetorik?, 81f. Kenneth Burke, ‚Administrative‘ Rhetoric in Machiavelli, in: Ders., A Rhetoric of Motives, Berkeley 1950 (Reprint 2000), 158–166; Joachim Knape, Machiavelli und die Rhetorik, in: Rita Franceschini / Rainer Stillers / Maria Moog-Grünewald / Franz Penzenstadler / Norbert Becker / Hannelore Martin (Hg.), Retorica: Ordnungen und Brüche. Beiträge des Tübinger Italianistentags, Tübingen 2006, 183–201; Georg Braungart, Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus (Studien zur deutschen Literatur 96), Tübingen 1988; Kenneth Burke, Die Rhetorik in Hitlers ‚Mein Kampf‘, in: Ders., Die Rhetorik in Hitlers ‚Mein Kampf‘ und andere Essays zur Strategie der Überredung, Frankfurt a.M. 1967, 7–34 (engl.: The Rhetoric of Hitler’s ‚Battle‘, in: The Philosophy of Literary Form: Studies in Symbolic Action, New York 1941, 191–220).

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schaft den Zusammenhang von politischen und kommunikativen Ordnungen verständlich zu machen.

3. Nun zur intrinsischen Betrachtungsweise. Wie wird eigentlich die historische Forschung im Fach selbst begründet? Hier lassen sich zwei Perspektiven unterscheiden: zunächst die jener Rhetorikforschungen, die sich einfach (und das heißt auch: wie selbstverständlich) auf die antike Systematik beziehen, sodann die derjenigen, die diese Systematik historisch einordnen und auf unterschiedliche Weise in Beziehung zu zeitgenössischen Fragen bringen. Die erste Perspektive ist vielleicht traditionalistisch zu nennen, aber nach wie vor im Fach vertreten. Stellvertretend sei hier der amerikanische Philologe Edward P. J. Corbett genannt. In seinem Essay über The Usefulness of Classical Rhetoric von 1963 stellt er den Nutzen der klassischen rhetorischen Systematik der Willkür „moderner“ Lehrmethoden wie beispielsweise des Creative Writing entgegen: But hasn’t the cult of self-expression had a fair chance to prove itself in the classroom? How many creative writers have we produced? […] But what most of our students need, even the bright ones, is careful, systematized guidance at every step in the writing process. Classical rhetoric can provide that kind of positive guidance.20

Und in seinem Lehrbuch Classical Rhetoric for the Modern Student von 1965 wird unter der Überschrift „The Relevance and Importance of Rhetoric for Our Times“ die Allgegenwart der Beredsamkeit festgestellt. Corbetts Erklärung lautet auch hier wieder: „If ,rhetoric‘ is such a pervasive activity in contemporary society, it behooves us to be aware of the basic strategies and principles of this ancient art.”21 Diese traditionalistische Sichtweise nimmt also die antike Systematik als Basis-Wissen, um auch heute noch nach antikem Vorbild Beredsamkeit oder die kritische Rezeption rhetorischer Aktivitäten zu lehren. Doch ist dies eine spezifisch historische Sichtweise? Sicherlich nimmt sie Bezug auf einen historisch konstituierten Gegenstand der Rhetorik, auf ihre historisch entwickelten Lehrinhalte, doch bei einer genaueren Betrachtung der systematischen Lehrbücher und Curricula wird allzu deutlich, daß die antike Systematik fast wie eine Universalie behandelt wird, die immer und überall gleiche Gültigkeit haben soll. Dagegen wendet sich zu Recht Kritik. Eine Variante dieser Kritik richtet sich gegen die übliche, oft auch didaktisch begründete Simplifikation der antiken Doktrin. Gefordert wird vielmehr die –––––––— 20 21

Edward P.J. Corbett, The Usefulness of Classical Rhetoric, College Composition and Communication 14/3 (1963), 162–164; hier: 164. Edward P.J. Corbett / Robert J. Connors (Hg.), Classical rhetoric for the modern student, 4. Aufl., New York / Oxford 1999, 25.

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nötige differenzierte Betrachtungsweise der antiken Texte. Hier sei stellvertretend Kathleen E. Welch mit ihrem Beitrag zur Contemporary Appropriation of Ancient Discourse von 1987 zitiert: If ,classical rhetoric‘ consists primarily of the familiar ,three kinds of speech, epideictic, judicial, and legislative‘, or as ,the five canons of rhetoric, invention, arrangement, style, memory, and delivery‘, or even exclusively as ,the faculty of discovering the available means of persuasion in the particular case‘ (Aristotle, Rhetoric I), and if these concepts remain unconnected to Greek and/or Roman culture, speech, writing, and politics, ,the forms of power and performance‘ (Eagleton 205) in classical rhetoric tend to disappear.22

Einen Schritt weiter gehen Kritiker, die die Selbstreflexivität der Auseinandersetzung mit der alten Rhetoriktheorie angreifen. Sie fordern demgegenüber ein Bewusstsein für die Notwendigkeit zur Aktualisierung des antiken Wissens. Hier sei das bereits genannte Buch von Wendy Olmsted aus dem Jahre 2006 zitiert. Sie schreibt: Many scholars have ,theorized‘ rhetoric by articulating specific principles that provide direction for inquiry to persuasion and communication. Yet such theories tend to remove themselves from historical contingencies and varied modes of representation […]. But the art of rhetoric requires reasoning about particular circumstances in light of broad cultural understandings.23

Mit anderen Worten: Es geht hier um eine Doppelaufgabe, wie sie jüngst Schiappa / Hamm formuliert haben: Scholarship on Greek rhetoric may be usefully described as motivated by two basic purposes: historical reconstruction and contemporary appropriation. Described most simply, historical reconstruction engages classical texts to describe the intellectual, aesthetic, economic, or political work that such texts performed in their own time or what such texts might have meant to those living in the classical era. Contemporary appropriation is typically motivated by a desire to draw inspiration from classical texts to meet current theoretical, political, or pedagogical needs.24

4. Dies ist schon eine erste Antwort auf meine zweite Leitfrage. Sie lautet: Was für einen Beitrag kann speziell die historische Rhetorikforschung zu den systematischen Bereichen des Faches leisten? Daraus lässt sich die eingangs bereits aufgeworfene Frage beziehen: Kann spezifisch historische Rhetorikforschung solch einen Beitrag überhaupt erbringen? –––––––— 22 23 24

Kathleen E. Welch, A Critique of Classical Rhetoric: The Contemporary Appropriation of Ancient Discourse, Rhetoric Review 6/1 (1987), 79–86; hier: 79. Wendy Olmsted, Rhetoric: An Historical Introduction, Malden, Mass. / Oxford 2006, 1. Edward Schiappa / Jim Hamm, Rhetorical Questions, in: Ian Worthington (Hg.), A Companion to Greek Rhetoric, Malden, Mass. / Oxford 2007, 3–15; hier: 3.

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Meine Antwort lautet: Ja, sie kann. Diachrone Rhetorikforschung kann einen methodisch sinnvollen Beitrag auch zu synchronen, systematischen Fragestellungen leisten, weil sie bestimmte Arten des Wissens aufarbeitet und systematisiert, die sich mit großem Nutzen für moderne Theoriebildung heranziehen lassen. Um welches Wissen geht es dabei und warum brauchen wir dazu eine historische Heuristik? Könnte man dieses Wissen nicht durch synchrone Experimente oder Beobachtungen aktuellen Verhaltens von Menschen generieren? Um hier Klarheit zu schaffen, müssen wir uns einen Moment lang mit der Spezifik des disziplinären Wissens der Rhetorik befassen. Die theoretische Rhetorik hat Wissen über Verfahren und Möglichkeiten erfolgreicher Kommunikation zu schöpfen und in Theorien zu kondensieren. Mit welchem Ziel? Um Kompetenz von Oratoren schulen zu können. Das Wissen bezieht sich auf menschliches Handeln, das wir mit dem Begriff ‚kulturelle Praktiken‘ bezeichnen können. Rhetorischer Erfolg, als die große Fragestellung der Rhetorik, ist in eine Gemengelage von kulturell vermittelten Interaktionspraktiken eingelagert. Sie stellen für den Orator einen komplexen Bedingungskontext dar, der sich – und das ist nun das Besondere – situativ und okkasionell permanent ändert. Es wäre schön, wenn wir es bei der Rhetorik mit Gesetzmäßigkeiten zu tun hätten (und sei es auch nur mit der Konstruktion einer universal gültigen ‚klassischen‘ Systematik), ja wenn wir überhaupt irgendwelche ‚Gesetze‘ wie in den Naturwissenschaften finden könnten. Die Vielfalt der Variablen im Fall jeder Art menschlicher Interaktion jedoch, hier speziell der kommunikativen Praxis, macht rhetorische Kalküle (sie sind der Kern oratorischer Kompetenz) notwendig zu Fällen von Kontingenz-Bearbeitungsstrategien. Der Orator als historisch konkreter Akteur hat in solchen Lagen zu erkennen und zu untersuchen, was situativ jeweils als glaubenerweckendes Überzeugungsmittel (als pithanón, wie Aristoteles sagt) gelten kann. Um diese entscheidende analytische Leistung vollbringen zu können, muß der Orator ein umfassendes Wissen über kommunikative Bedingungen und Bedingungskontexte erwerben. Ich führe gleich aus, welcher Art diese Bedingungskontexte sein können. Die synchrone Forschung kann hier wichtige Ergebnisse ans Licht bringen, die die anthropologischen Konstanten des Menschen betreffen. So können uns moderne psychologische, experimentelle Untersuchungen Aufschluss über den Affekthaushalt des Menschen geben: Über Angst-, Freude- und LustReaktionspotenziale. Die moderne philosophische Logik und die Kognitionswissenschaft können uns viel über unser logisches und argumentbasiertes Denken sagen. Die Psychologie kann uns auch sagen, welche kognitiven Voraussetzungen wir als Mensch für Kreativität mitbringen. Søren Kjørup beschreibt, wie sich heute viele moderne, synchron arbeitende Disziplinen der Humanities dem Gebiet der Rhetorik zuwenden: Sprachforscher [...] haben ein erneutes Interesse an dem Gebrauch von Sprache, der sprachlichen Pragmatik, bekundet. Ein etwas kurioses Beispiel dafür ist das Buch von Stuart Chase ‚The Tyranny of Words‘ von 1938. Logiker konnten durch Anregungen der Rhetorik die Argumentationstheorie erneuern; hier sind die wichtigsten Namen Stephen Toulmin mit ‚The Uses of Argument‘ von 1958 und vor allem Chaïm Perelman, der zusammen

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mit L. Olbrechts-Tyteca eine Abhandlung über Argumentation unter dem Titel ‚La nouvelle Rhétorique‘ (ebenfalls 1958) geschrieben hat; der Titel bezeichnet gleichzeitig die Richtung.25

Wissenschaftler aus den Bereichen Anthropologie, Sozialpsychologie oder Wirtschaftswissenschaft haben mit Bezug auf den schon erwähnten Pragmatismus eine neue Forschungsrichtung entwickelt, in der das rhetorische Denken seinen Platz findet. „Diese Gruppe“, so Søren Kjørup, „bezeichnet ihr eigenes Denken als ‚Rhetoric of Inquiry‘, also als ‚Forschungsrhetorik‘. Die schon erwähnte ‚Neue Rhetorik‘ (Perelman) ist damit eng verwandt.“26 Was uns die ausschließlich synchrone Forschung nicht sagen kann, ist, wie wir unter jeweils aktuellen Kontingenzbedingungen Kreativität und kulturelles Regelwissen zu einer konkreten rhetorischen Strategie werden lassen können. Das hat sie übrigens mit jener Richtung gemein, die ein ahistorisches Verständnis der klassisch-rhetorischen Systematik pflegt. Hier also meine ich, wird historisches Wissen unverzichtbar. Und neuerlich wird uns dabei die Klugheit der alten Rhetoriklehrer bewusst, die als dialektischen Dreischritt das Voranschreiten von den Praecepta über die Exempla zur Imitatio empfohlen haben. Wissen um Handlungsmodelle sowie um Strukturmodelle und Wissen um kulturell-kommunikative Regularitäten, also Regelwissen, bilden mithin den Kern der oratorischen Kompetenz. Historische Studien insbesondere Fallstudien sind für dieses Struktur- und Regelwissen unentbehrlich. So empfängt zum Beispiel das Rednerideal – Kernpunkt vieler rhetorischer Traktate und Lehrbücher – seine Konturen vom geistesgeschichtlichen Hintergrund der jeweiligen Epoche und in nicht unwesentlichem Maße vom vorherrschenden politischen System. Wer ‚gut‘ oder ‚erfolgreich‘ kommunizieren will, ist also beraten, zu untersuchen, was im Laufe der Geschichte als ‚gut‘ oder ‚erfolgreich‘ galt und vor allem, warum dies galt. Das Studium historischer Fälle sensibilisiert den individuellen Orator, aber auch den Rhetorikwissenschaftler also für die Vielfalt von Problemlösungsstrategien unter ganz bestimmten Rahmenbedingungen. Und das Studium historischer Rhetoriktheorien vermittelt ihm Einsicht in die Möglichkeiten, Regelhaftes zu systematisieren.

5. Natürlich kann hier der radikale Kontemporanist einwenden, daß man rhetorisches Modellwissen, Fallwissen, Problemlösungswissen und Regelwissen auch auf der Grundlage bloß aktueller Empirie gewinnen kann. Das ist teilweise richtig. Man kann also mit Recht die Frage stellen, ob es ein Verlust wäre, wenn –––––––— 25 26

Kjørup, Humanities, 204. Ebd. 209.

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Aristoteles vergessen würde. Oder anders gefragt: Lohnt es sich, einen Theoretiker wie Aristoteles auch heute noch zu studieren? Ich will diese Frage mit drei Argumenten beantworten. Als erstes führe ich ein wissensökonomisches Argument an: Es wäre unökonomisch, die zahlreichen Fallstudien und die Ergebnisse älterer Rhetoriktheorie zu ignorieren und durch aufwendige zeitgenössische Untersuchungen und Beobachtungen zu ersetzen. Die Erkenntnisse der Antike zur Kommunikations- und Texttheorie sind nicht spekulativ, sondern empirisch gewonnen worden. Sie hatten sich in der politischen Praxis zu bewähren und sind daher bis heute in gewissem Umfang gültig. Es wäre also nicht klug, das Rad zum zweiten Mal erfinden zu wollen. Modernes Forschen, das von den Ergebnissen der Antike ausgeht, hat demgegenüber vor allem den Zweck, offene Fragen zu klären und schon bestehende Erkenntnisse abzusichern und an moderne Verhältnisse anzupassen. So hat die Antike etwa keine rhetorische Medientheorie und keine nennenswerte Theorie der Dimission, also der rhetorischen Distanzkommunikation entwickelt. In solchen Fällen muß die moderne Theorie eigene Wege gehen. Das zweite Argument ist ein wissenstheoretisches. Die Theorie des Wissens kann nicht ignorieren, daß seit Erfindung der Schrift und seit Erfindung körperexterner Medien, das Wissen und die Wissenschaften eine neue qualitative Stufe erreicht haben. Informationen können seit mehr als fünftausend Jahren über Zeit und Raum und über soziale Schranken hinweg in schriftlicher Form verbreitet werden. Theorien brauchen nicht mehr redundant entwickelt werden, ja eine entwickelte Kultur darf sich gar nicht mehr erlauben, Theorien redundant zu entwickeln. Was heißt das? Eine Kultur, die keine Methoden entwickelt, wertvolle Erkenntnisse im kulturellen Haushalt aufzubewahren und weiter zu entwickeln, verliert ihre Vitalität. Eine Kultur, ja die ganze Menschheit, muß die Leistungen bedeutender Denker und Wissenschaftler präsent halten, um nicht alle fünfzig Jahre das Rad neu erfinden zu müssen. Das gilt allerdings nicht für jede Art überlieferten Wissens. Ich meine dasjenige, das heute anschlussfähig ist, weil es nicht auf bloßer Spekulation oder auf Wahnsystemen beruht. Die neuen Forscher-Generationen müssen die Möglichkeit haben, sich heute auf das wirklich Neue konzentrieren und sich mit einer gewissen Sicherheit auf die Schulter der älteren Generation stellen zu können. Das gelingt, wenn das in historischer Zeit erarbeitete, heute immer noch anschlussfähige Wissen gesichert ist. Die neuen Forscher-Generationen können sich dann auf das neue Wissen konzentrieren, weil das schon bekannte Wissen in der Kultur präsent gehalten wird. In der Philosophie und in der Rhetorik (verstanden als eine besondere Schule der Kommunikations- und Textwissenschaft) muß man also dafür sorgen, daß die Ergebnisse bedeutender Theoretiker wie Platon, Aristoteles oder auch Cicero nicht in Vergessenheit geraten. Ihre Beiträge zur rhetorischen Theorie sind immer noch wertvoll. Warum? Weil sie einerseits empirisch gewonnene Modelle entwickelt haben, die wir immer noch mit Gewinn übernehmen können. Andererseits, und das ist viel wichtiger, weil sie ein so hohes philosophisches und theoretisches Niveau hatten, daß sich eine Relektüre für

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jede Generation lohnt, um tiefere Einsichten in den Charakter von interpersonaler Kommunikation und das Funktionieren von Texten zu bekommen. Mit anderen Worten: diese Theoretiker entfalten – bei intelligenter Lektüre – ein immer wieder erfrischendes Anregungspotenzial. An dieser Stelle muß allerdings gesagt werden, daß dem Zugang und Umgang mit den großen Denkern der Vergangenheit keine philologischhistoristischen Fesseln angelegt werden dürfen, wenn sie interessant bleiben sollen. Wir müssen natürlich einerseits versuchen, die antiken Theorien historisch angemessen zu verstehen, wir müssen andererseits aber auch den Mut haben, sie in neuen Kontexten zu denken. Die Integration in moderne Denksysteme, ein partikulares Lesen oder ein evaluatives Lesen, ja selbst Misreading und ideosynkratisches Lesen können und müssen dabei in Kauf genommen werden. Damit ist ein programmatischer Abschied vom Historismus auch in der Rhetorik verbunden. Leopold Ranke, der berühmte deutsche Theoretiker des Historismus hat den historistischen Ansatz mit folgender Formel auf den Begriff gebracht: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beygemessen. So hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen.“27 Rankes Reduktionismus, sein Rückzug allein auf die Frage „wie es eigentlich gewesen“ ist für die moderne Rhetorikforschung zu wenig. Akzeptanz kann demgegenüber ein Doppelansatz gewinnen, der die von Ranke verworfenen evaluativen und instruktiven Komponenten ebenfalls einbezieht. Wir müssen also einerseits im Sinne Rankes untersuchen, „wie es eigentlich gewesen“, aber wir müssen andererseits auch in einem neuen Verständnis zu den Prinzipien „die Vergangenheit richten“ und „die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre belehren“ zurückkehren. Die Rhetoriktheoretiker, die diesen Doppelansatz berücksichtigen, wären damit in guter Gesellschaft, denn auch Paulus gibt in 1 Thessalonicher 5,21 schon die erkenntnisleitende Empfehlung: „Prüfet alles, und das Gute behaltet!“ Das dritte und abschließende Argument ist methodischer Art und greift noch mal einige der genannten Überlegungen auf. Gegen den radikalen Kontemporanisten, der Aristoteles oder Cicero verbannen oder vergessen will, kann man auch die spezifische Leistung des historischen Ansatzes ins Feld führen, wenn es diese spezifische Leistung gibt. Ich meine, es gibt sie. Es gibt drei wirklich rein historisch verankerte Denkansätze, die rhetorikhistorische Studien rechtfertigen. Sie sind meta-struktureller Art:

1. Das Wissen um Modellvarianz und das Denken mit Rücksicht auf Varianz-Strukturen: Wir können im Lauf der Geschichte immer wieder auftretende Textsorten und kommunikative Interaktionsmodelle erkennen und systematisieren. Doch dabei –––––––— 27

Leopold Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1535, Leipzig / Berlin 1824, I, 5f.; vgl. Leonard Krieger, Ranke. The Meaning of History, Chicago / London 1977, 4.

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ist das Varianzproblem das Entscheidende. Wir können so etwas nur in historischen Vergleichen erkennen. Solch ein Vergleich kann sich auf eine Theorie beziehen, die erst zwanzig Jahre alt ist, oder aber auch auf eine Theorie, die schon zweitausend Jahre alt ist. Immer ist bei solchen Vergleichen der Rekurs auf die Geschichte gefordert, weil nur so Entwicklungen und Sprünge erkennbar sind. Im engeren rhetorischen Sinn wird man an dieser Stelle sagen, daß eben nach dem Aptum-Postulat zur wesentlichen Kompetenz eines Orators gehört, die Forderung zu beherzigen: Sei dir immer bewusst, daß du situationsgerechte Varianz bei den rhetorischen Instrumenten erzeugen mußt. Die dabei in Betracht kommenden Varianzmöglichkeiten oder auch nur die Sensibilität für solche Varianzmöglichkeiten könnte dir ein Blick zurück in die Geschichte zeigen. Dieser Blick kann sich auf bekannte rhetorische Praxis oder deren historisch erfolgte Kodifizierung bzw. deren theoretische Auswertung richten.

2. Das Wissen um Differenz und das Denken mit Rücksicht auf DifferenzStrukturen: Ein Orator, der nur von aktuellen Standardmodellen her denkt, wird wenig erfolgreich sein. Das Studium historischer Fälle lehrt ihn, daß man in jedem Setting die spezifische Differenz erkennen muß, um daran das nötige Erfolgskalkül zu eichen. Das ist der Kern der Kontingenz-Bearbeitungsstrategie, die nach Kreativität verlangt. Rhetorische Prognostik heißt hier, aus den Differenzbeobachtungen zur Vergangenheit Differenzkalküle für die zukünftigen Aufgaben abzuleiten.

3. Das Wissen um Dynamiken und das Denken mit Rücksicht auf dynamische Strukturen: Das Studium der Rhetorikgeschichte, insbesondere der Theoriegeschichte, macht deutlich, daß es zahlreiche Kontinuitäten gibt. Es scheint, als ob viel totes gelehrtes Material durch die Jahrhunderte geschleppt wird. Es zeigt sich aber auch, daß Weiterentwicklungen, Fortschreibungen und Ausdifferenzierungen stattfinden. So hat sich z.B. das rhetorische Figureninventar von 65 Figuren beim Auctor ad Herennium auf rund 200 in der Spätrenaissance erhöht. Oder im Barock entwickelte man diverse neue Spezialtheorien für bestimmte Kommunikationsfälle, wie z.B. die Komplimentierkunst, Hochzeitsrede, oder auch Verhaltensrhetorik (Stichwort: Knigge) usw. Wandel, Entwicklung und Anpassung sind mithin unverzichtbare Elemente einer lebendigen Rhetorik. Dies zu untersuchen ist aber das Proprium spezifisch historischer Rhetorikforschung.