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German Pages 345 [347] Year 2018
SERAPHIM Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs Editors Peter Gemeinhardt · Sebastian Günther Ilinca Tanaseanu-Döbler · Florian Wilk
Editorial Board Wolfram Drews · Alfons Fürst · Therese Fuhrer Susanne Gödde · Marietta Horster · Angelika Neuwirth Karl Pinggéra · Claudia Rapp · Günter Stemberger George Van Kooten · Markus Witte
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„Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen“ Religiöse Bildung in historischer Perspektive
Herausgegeben von
Peter Gemeinhardt und Ilinca Tanaseanu-Döbler
Mohr Siebeck
Peter Gemeinhardt, geboren 1970; 1990–96 Studium der Ev. Theologie an den Universitäten Marburg und Göttingen; 2001 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Marburg; 2003 Ordination zum Pfarrer der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck; 2006 Habilitation an der Universität Jena; seit 2007 Lehrstuhlinhaber für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen; seit 2015 ebendort Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Bildung und Religion“. Ilinca Tanaseanu-Döbler, geboren 1979; 1997–2002 Studium der Religionswissenschaft, Biblischen Theologie und Philosophie an der Universität Bayreuth; 2005 Promotion in Religionswissenschaft an der Universität Bayreuth; 2012 Habilitation an der Universität Bremen; seit 2015 Professorin für Religionswissenschaft – Schwerpunkt Europäische Religionsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.
ISBN 978-3-16-155856-6 / eISBN 978-3-16-155913-6 DOI 10.1628/978-3-16-155913-6 ISSN 2568-9584 / eISSN 2568-9606 (SERAPHIM) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Minion Pro gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Den Umschlag entwarf Uli Gleis in Tübingen. Umschlagabbildung: © Akropolismuseum, Photo: Socratis Mavrommatis.
Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs (SERAPHIM) Herausgegeben von Peter Gemeinhardt, Sebastian Günther, Ilinca Tanaseanu-Döbler und Florian Wilk Editorial Bildung und Religion stehen in Antike und Mittelalter im Wechselverhältnis zueinander – fruchtbar oder auch konflikthaft. Der Blick auf dieses Spannungsfeld eröffnet neue Perspektiven auf Bildungsprozesse und auf religiöse Entwicklungen sowie auf die zugehörigen kulturellen, sozialen und politischen Konstellationen. Die Reihe Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs (SERAPHIM) dokumentiert Untersuchungen in diesem Feld. Sie steht in enger Verbindung mit dem Forschungsprogramm des DFG-Sonderforschungsbereichs 1136 „Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam“ an der Georg-August-Universität Göttingen und den daran beteiligten Fächern (Altes und Neues Testament, Kirchengeschichte der Spätantike und des Mittelalters, Religionspädagogik, Klassische Philologie, Koptologie, Christlicher Orient, Klassische Archäologie, Alte und Mittelalterliche Geschichte, Religionswissenschaft sowie Arabistik und Islamwissenschaft). Die Reihe ist darüber hinaus aber auch für Forschungsarbeiten aus weiteren relevanten Disziplinen offen. Phänomene und Konstellationen werden entsprechend interdisziplinär und komparatistisch analysiert. Dabei umfasst „Bildung“ als ein leitender Oberbegriff Prozesse der Sozialisation (in Familie und Gesellschaft), der Erziehung (durch Lehrer und andere Autoritäten) und der selbstbezüglichen Herausbildung kritischer Reflexionsfähigkeit über Gott, Welt und Selbst; „Religion“ wiederum zielt als komplementärer Oberbegriff auf Diskurse, Handlungsweisen, Praktiken und Institutionen, die sich auf ein Gegenüber beziehen, das jenseits der alltäglichen menschlichen Erfahrung verortet ist. Geschichtliche Gegebenheiten werden dabei im Horizont aktueller Fragen untersucht, um das Nachdenken über Fragen der? Bildung und Religion in der Gegenwart anzuregen, in die historische Konstellationen – in vielfältiger Brechung – hineinwirken.
Vorwort Was ist religiöse Bildung? Welche Bildung wird von, in und über Religionen und religiösen Gemeinschaften vermittelt? Wer sind die Akteure solcher Bildungsprozesse, und in welchen institutionellen Settings erfolgen Vermittlung, Erwerb und Weitergabe religiöser Bildung? Diese und weitere Fragen konturieren die Forschungsagenda des Sonderforschungsbereichs „Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam“, der im Jahr 2015 an der Georg-August-Universität Göttingen eingerichtet wurde. Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge zu einer öffentlichen Vorlesungsreihe, die im Wintersemester 2016/17 stattfand. Der Titel „Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen“ entstammt dem Werk des christlichen Theologen Origenes (gest. 253 n. Chr.); er deutet bereits an, dass der Fokus der Vortragsreihe und dieses Bandes auf den Bildungsinstitutionen liegt, von denen aus die oben aufgeworfenen Fragen in den Blick genommen werden. Dem Ansatz des Sonderforschungsbereichs gemäß wurden die übergreifenden Leitfragen jeweils in konkreten religionskulturellen Kontexten thematisiert. Die Erträge für das interdisziplinäre Gespräch im Sonderforschungsbereich – und darüber hinaus – summiert das Nachwort. Der Vortragscharakter sollte in der Veröffentlichungsfassung bewusst beibehalten werden, da der vorliegende Band Denkprozesse dokumentieren statt fertige Ergebnisse präsentieren soll. Er versteht sich primär als Einladung, das Gespräch intra‑ und interdisziplinär fortzusetzen. Als Herausgeber haben wir zu danken, zuallererst natürlich den Autoren und Autorinnen, die zunächst als Vortragende zu der Vorlesungsreihe beigetragen und dann ihre Manuskripte zu Aufsätzen ausformuliert haben. Unser Dank gilt auch den Kollegen im Herausgeberkreis der neu begründeten Reihe SERAPHIM, deren Zielsetzung im Editorial dargelegt wird und die mit dem vorliegenden Band ihren Anfang nimmt. Zu danken ist auch dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten SFB 1136, in dessen Kontext der Band entstanden ist und von dem mehrere Teilprojekte beteiligt sind (A 02, A 03, B 01, B 04, C 01, C 04, C 05, D 03 und D 05), und dem Vorstand des SFB, der für die Drucklegung finanzielle Unterstützung gewährt hat. Ebenso sei dem Verlag Mohr Siebeck, namentlich Herrn Dr. Henning Ziebritzki, Frau Katharina Gutekunst sowie Frau Susanne Mang, für die Zusammenarbeit bei der Drucklegung gedankt. Im Sonderforschungsbereich hat Frau Dr. Karin Gottschalk die
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Vorwort
Hauptlast der Organisation der Vorlesungsreihe getragen, während Frau Levke Bittlinger die Erstellung des Bandmanuskripts begleitet hat; auch ihnen sei sehr herzlich gedankt, last but not least auch den Hilfskräften, die die redaktionelle Arbeit und die Erstellung der Register übernommen haben: Laura Fee Brand, Nele Cohrs und Louisa Meyer sowie anfangs auch Nina Wagenknecht. Göttingen, im November 2017
Peter Gemeinhardt Ilinca Tanaseanu-Döbler
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Peter Gemeinhardt „Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen.“ Institutionen religiöser Bildung in interdisziplinärer Perspektive . . . . . . . . . 1 Tanja S. Scheer Griechische Heiligtümer als Vermittler religiösen Wissens? Das Orakel von Delphi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Reinhard G. Kratz Religiöse Bildung in der Hebräischen Bibel und in den Texten vom Toten Meer. Eine Gedenkrede zu den Novemberpogromen von 1938 . 51 Elisabetta Abate „Woher wissen wir, dass die Ehre seines Schülers einem Menschen lieb wie er selbst sein soll?“ Zur religiösen Unterweisung im frühen rabbinischen Judentum . . . . . . . . . 69 Peter von Möllendorff „Dieser ans Kreuz geschlagene Sophist“. Vom Umgang mit religiösen Erweckern bei Lukian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Ilinca Tanaseanu-Döbler „Damit die Nachfolge Platons rein und unverfälscht bewahrt werde“. Religiöse Bildung und Institutionalität in spätantiken Philosophenschulen 101 Balbina Bäbler Für Christen und Heiden, Männer und Frauen: Origenes’ Bibliotheks‑ und Lehrinstitut in Caesarea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
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Inhaltsverzeichnis
Peter Gemeinhardt / Tobias Georges Vom philosophischen Schulbetrieb zum kirchlichen Katechumenat: Institutionalisierungen religiöser Bildung im spätantiken Christentum . . . . 153 Maria Munkholt Christensen / Irene Salvo Die Familie als Ort der religiösen Bildung: Das antike Athen und das spätantike Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Dmitrij F. Bumazhnov Zwischen Schule und Schweigen: Der hl. Isaak von Ninive und die ostsyrischen „Schulphilosophen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Susanne Talabardon LernOrte im spätantiken Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Sebastian Günther „Nur Wissen, das durch Lehre lebendig wird, sichert den Eingang ins Paradies.“ Die Madrasa als höhere Bildungseinrichtung im mittelalterlichen Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Heinz Halm Al-Azhar und Dār al-ʿilm. Forschungs‑ und Lehranstalten der Fatimiden in Kairo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Gert Melville Ist religiöse Bildung institutionalisierbar? Beobachtungen zu klösterlichen Befunden des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Ilinca Tanaseanu-Döbler / Peter Gemeinhardt Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Abkürzungsverzeichnis AGJU AHAW AKG AMSS AV.S BEHEc BERG BE(S) BEThL BGPhTh BGrL BJSt BRSLR BTAVO.B CAG CChr.SL CEAug CNT COMES CRINT CSCO CSEL CStS CUFr DJD EvTh FC GCS HRWG HThR HUCA JAJ.S JbAC JbAC.E JBL JECS JQR
Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Arbeiten zur Kirchengeschichte Acta martyrum et sanctorum Syriace Archa Verbi. Yearbook for the study of medieval theology. Subsidia Bibliothèque de l’enseignement de l’histoire ecclésiastique Beiträge zur europäischen Religionsgeschichte Biblische Enzyklopädie Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen Bibliothek der griechischen Literatur Brown Judaic Studies Biblioteca della Rivista di storia e letteratura religiosa. Studi e testi Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients. Reihe B, Geisteswissenschaften Commentaria in Aristotelem Graeca Corpus Christianorum. Series Latina Collection des études augustiniennes Coniectanea neotestamentica Civitatum Orbis Mediterranei Scripta Compendia rerum Iudaicarum ad novum testamentum Corpus scriptorum Christianorum orientalium Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum Collected Studies Series Collection des universités de France Discoveries in the Judaean desert Evangelische Theologie Fontes Christiani Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Harvard Theological Review Hebrew Union College Annual Journal of Ancient Judaism. Supplements Jahrbuch für Antike und Christentum Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband Journal of biblical literature Journal of Early Christian Studies Jewish Quarterly Review
XII JSHRZ JSIJ JSJ.S JSSt JudChr KfA.E KKR KStTh MAAG MSU NBS OBC OBO OCA OCT OLA OPOe PBA PETSE PG PL PO PTS Qedem RAC RGG RGVV RMP RT SAPERE SBS SC SERAPHIM SHG SJLA SLAEI SOKG SPA STAC STDJ StRB ThLZ ThSt(B) TSAJ TSMJ
Abkürzungsverzeichnis
Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit Jewish Studies. An internet journal Journal for the Study of Judaism in the Persian, Hellenistic and Roman Period. Supplements Journal of Semitic Studies Judaica et Christiana Kommentar zu frühchristlichen Apologeten. Ergänzungsband Kirche, Konfession, Religion Kohlhammer-Studienbücher Theologie Münchener Arbeiten zur Alten Geschichte Mitteilungen des Septuaginta-Unternehmens der Akademie der Wissenschaften in Göttingen Numen. International Review for the History of Religions. Book Series Orientalia biblica et christiana Orbis biblicus et orientalis Orientalia Christiana analecta Oxford Classical Texts Orientalia Lovaniensia analecta Orientalia – Patristica – Oecumenica Proceedings of the British Academy Papers of the Estonian Theological Society in Exile Patrologiae cursus completus. Series Graeca Patrologiae cursus completus. Series Latina Patrologia orientalis Patristische Texte und Studien Qedem. Monographs of the Institute of Archaeology, Jerusalem Reallexikon für Antike und Christentum Religion in Geschichte und Gegenwart Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten Rheinisches Museum für Philologie Rabbinische Texte Scripta antiquitatis posterioris ad ethicam religionemque pertinentia Stuttgarter Bibelstudien Sources chrétiennes Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs Subsidia hagiographica Studies in Judaism in Late Antiquity Studies in Late Antiquity and Early Islam Studien zur orientalischen Kirchengeschichte Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies on the Texts of the Desert of Judah Studien zur religiösen Bildung Theologische Literaturzeitung Theologische Studien Texte und Studien zum antiken Judentum Text and Studies in Medieval and Early Modern Judaism
Abkürzungsverzeichnis
VAW.L VC VCS WJbAW WUNT ZAC Zet. ZfR ZNW ZPE ZSRG.R ZThK
Verhandelingen der K. Vlaamse Akademie voor Wetenschappen. Afdeeling Letterkunde Vigiliae Christianae Vigiliae Christianae. Supplements Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zeitschrift für antikes Christentum Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft Zeitschrift für Religionswissenschaft Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft (und die Kunde der älteren Kirche) Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung Zeitschrift für Theologie und Kirche
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„Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen“ Institutionen religiöser Bildung in interdisziplinärer Perspektive* Peter Gemeinhardt 1. Einleitung Wie gelangt man ins Paradies, und wo befindet sich der Zugang dazu? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage wird schwer zu geben sein, aber es wäre auf jeden Fall aussichtsreich, mit der Suche am östlichen Rand des Mittelmeers zu beginnen, genauer in Caesarea in Palästina. Zwischen 238 und 244 fand dort, wie man gesagt hat, „die erste feierliche Schulentlassungsfeier“ statt, „deren Graduiertenfestrede uns erhalten ist“.1 Sprecher war Gregor, später Bischof von Neocaesarea und bis dato Angehöriger einer Gemeinschaft von Schülern um den christlichen Theologen, Prediger und Lehrer Origenes († ca. 253). Gregor hatte ursprünglich an der Rechtsschule von Beirut studieren sollen und war nur auf Umwegen in Caesarea bei Origenes und seinem Zirkel von christlichen Philosophen gelandet. Im Rückblick sah Gregor freilich die göttliche Vorsehung am Werk, die dafür gesorgt habe, dass er „durch ihn [sc. Origenes] Unterricht in den Wissenschaften des göttlichen Wortes“2 erhielt. Gregor empfand diese Lern‑ und Lebensgemeinschaft geradezu als „ein Paradies für uns, eine Nachahmung des großen Paradieses Gottes“3 und betrachtete den Abschied von der Schule entsprechend als Vertreibung aus dem Garten Eden. Ja, er fürchtete angesichts der Rückkehr in den Alltag das Schlimmste: „Wir werden überhaupt keine Muße mehr haben, uns mit Höherem zu befassen.“4 * Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt C 04 „Vermittler von Bildung im spätantiken Christentum: Lehrerrollen in Gemeinde, Familie und asketischer Gemeinschaft“. 1 Markschies 2007, 102. Zur Analyse dieser Rede vgl. zuletzt Gemeinhardt 2013, 448–460, zum Folgenden bes. 454, und Georges 2015, 132–150. 2 Gregor, Panegyricus in Origenem 5,70 (FC 24, 148,16 f. Guyot / Klein): ἡ διατριβὴ δι᾿ αὐτοῦ περὶ τὰ τοῦ λόγου μαθήματα. Die Übersetzungen aus Gregors Rede folgen dieser Ausgabe. 3 Gregor, Panegyricus in Origenem 15,183 (198,25 f. G. / K.): παράδεισος ἡμῖν ὄντως οὗτος ἦν, μιμητὴς τοῦ μεγάλου παραδείσου τοῦ θεοῦ. 4 Gregor, Panegyricus in Origenem 16,193 (204,10 f. G. / K.): καὶ σχολὴ μὲν ἡμῖν οὐκέτι πρὸς τὰ κρείττω οὐδ᾿ ἡτισοῦν.
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Peter Gemeinhardt
Nun wird man in einer Rede zu einer solchen Gelegenheit damals wie heute mit einem gehörigen Schuss Pathos zu rechnen haben. Aber Gregors Sorge, nie wieder ein so intensives Miteinander von Glauben, Denken und Leben praktizieren zu können, ist durchaus ernst zu nehmen, denn es waren nur kleine, exklusive Zirkel, in denen in der Kaiserzeit Gott, Sein und Welt in derart tiefgreifender Weise reflektiert wurden; ein ähnliches zeitgenössisches Projekt bezeugt die Lebensbeschreibung Plotins aus der Feder seines Schülers Porphyrius.5 Sie zeigt zugleich durch Porphyrius’ ausführliche Hinweise auf Auseinandersetzungen unter Plotins Schülern und auf Kritiker extra muros, dass das Paradies durchaus ein Ort von Kontroversen sein konnte, was wiederum ganz ähnlich für Origenes’ Lehrbetrieb und vor allem für den bald einsetzenden Streit um seine Person und Lehre gilt, der im 6. Jahrhundert in seiner formellen Verurteilung als Häretiker kulminierte.6 Gregor, der frischgebackene Absolvent, konnte natürlich nicht ahnen, dass und wie er – der späteren christlichen Tradition zufolge – durchaus noch zu Höherem gelangen sollte: „Er war in der Philosophie der beste in der Welt und in der Redekunst herausragend, später aber noch weit besser und herausragender an Tugend“, so pries ihn Eucherius von Lyon († ca. 450)7, und dies zu einer Zeit, als Gregor in der christlichen Tradition längst den Titel „der Wundertäter“ (ὁ θαυματουργός) trug. Aber schon bei seinem Lehrer Origenes mochte er Trost gefunden haben, denn dieser hatte eine klare Vorstellung davon, wie das Paradies aussehen würde. Sei zwar das irdische Leben in all seiner Betriebsamkeit einer konzentrierten Bildungsbetätigung nicht eben günstig, so gebe es doch Hoffnung nach dem Tod: „Ich glaube nämlich, daß alle Heiligen, wenn sie aus diesem Leben scheiden, an einem Ort auf der Erde weilen, den die heilige Schrift ‚Paradies‘ nennt, gleichsam an einer Stätte der Erziehung und in einem Hörsaal, einer Schule der Seelen.“8
Die eschatologische Hoffnung der Christen ist also, pointiert gesagt, die nie endende Möglichkeit des ungestörten Bildungserwerbs! Und das Paradies galt Origenes offensichtlich als Bildungsinstitution sui generis. In dem hier verwendeten Begriff schola animarum klingt das griechische σχολή an, dessen Grundbedeutung „Muße“ ist – denn Bildung war in der Antike zunächst einmal Sache von Leuten, die aufgrund ihrer komfortablen ökonomischen Situation ihre Zeit 5 Porphyrios,
Vita Plotini. Streit um Origenes vgl. Bienert 2003 und Gemeinhardt 2013, 460–471. 7 Eucherius von Lyon, De contemptu mundi 371–373 (BPat 16, 80 Pricoco): philosophia primus apud mundum et eloquentia praestans, sed postea maior praestantiorque virtutibus. 8 Origenes, De principiis II 11,6 (GCS Orig. V, 190,1–4 Koetschau): Puto enim quod sancti quique discedentes ex hac vita permanebunt in loco aliquo in terra posito, quem „paradisum“ dicit scriptura divina, velut in quodam eruditionis loco et, ut ita dixerim, auditorio vel schola animarum. Übers.: Görgemanns / Karpp, 453. Das Leben im Jenseits verbindet Origenes auch andernorts mit Erziehung; vgl. die Belege bei Martens 2012, 236–239, bes. 237 Anm. 47. 6 Zum
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mit „brotloser Kunst“ verbringen konnten. Doch wurde seit Platon mit σχολή auch der Ort bezeichnet, wo Vorträge stattfinden, mit denen man das otium in erquicklicher Form füllte; eine ähnliche Begriffsverwendung finden wir bei Cicero und Quintilian.9 Die Ewigkeit wäre demnach ein Ort anregender Konversation unter Gebildeten. Wer freilich der Lehrer in diesem eschatologischen auditorium ist, lässt Origenes offen. Auf Bildung als jenseitige Beschäftigung wird noch zurückzukommen sein. Bildung war aber natürlich auch Teil des irdischen Lebens, und das wird in der Festrede Gregors in ungewöhnlicher Ausführlichkeit beschrieben. Der spätere Bischof berichtet, wie erwähnt, er sei von Origenes „in den Wissenschaften des göttlichen Wortes“ unterwiesen worden. Er erhielt dabei offenbar von seinem Lehrer Unterricht nach einem ausgefeilten Curriculum, und zwar nicht nur in christlicher Theologie und Exegese, sondern auch – und zuerst – in allen möglichen Richtungen der klassischen und zeitgenössischen Philosophie. Wie Gregor erläutert, war Origenes der Ansicht, dass seine Schüler „alle vorhandenen Schriften der alten Philosophen und Dichter“ lesen müssten, „ohne etwas zu übergehen oder zu verwerfen; denn, so meinte er, wir könnten darüber ja auch noch gar kein Urteil fällen“.10 Origenes selbst hatte in Alexandrien bei Ammonius Saccas Philosophie studiert, der später auch Lehrer des Neuplatonikers Plotin werden sollte – eine strikte Trennung zwischen antiker paganer Bildung und christlicher Theologie wäre biographisch also nicht naheliegend gewesen.11 Sein Ziel war entsprechend auch nicht eine bloße Anhäufung von Detailwissen, vielmehr sollten seine Schüler in der Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Lehrmeinungen ihre kritische Urteilsfähigkeit herausbilden, die allererst die Erkenntnis Gottes, des Vaters Jesu Christi, als des einen und einzigen Erlösers ermöglichen würde. Zu trainieren sei das κριτικόν, die reflexive Instanz der Unterscheidung, die alle Menschen besäßen und um deren Einsatz sich „Griechen und Barbaren, Gebildete und Ungebildete“ gleichermaßen bemühen sollten.12 Dabei ging es aber nicht nur um intellektuelle Betätigung, sondern zugleich um die Einübung eines „philosophischen“ Lebensstils: Mit dem Begriff φιλοσοφεῖν war das vernunftgeleitete Denken und Leben gemeint, und nur beides zusammen
9 Vgl. Christes 2001; Gemeinhardt 2007, 58 f.; ausführlich zu Bildung und Schule in der Antike Marrou 1957. 10 Gregor, Panegyricus in Origenem 13,151 (184,22–25 G. / K.): Φιλοσοφεῖν μὲν γὰρ ἠξίου ἀναλεγομένους τῶν ἀρχαίων πάντα ὅσα καὶ φιλοσόφων καὶ ὑμνῳδῶν ἐστι γράμματα πάσῃ δυνάμει, μηδὲν ἐκποιουμένους μηδ᾿ ἀποδοκιμάζοντας· οὐδέπω γὰρ οὐδὲ τὴν κρίσιν ἔχειν. 11 Zu Origenes und dem für ihn charakteristischen Spannungsfeld von Philosophie und Theologie vgl. jetzt die Beiträge in Bäbler / Nesselrath 2018. 12 Gregor, Panegyricus in Origenem 7,108 (166,17–21 G. / K.): ἀλλὰ τοῦτο πᾶσιν ἀναγκαιότατον Ἕλλησί τε καὶ βαρβάροις, καὶ σοφοῖς καὶ ἰδιώταις καὶ ὅλως […] πᾶσιν ἀνθρώποις τοῖς ὁντινοῦν βίον ἑλομένοις.
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Peter Gemeinhardt
war nach Origenes die Grundlage aller Frömmigkeit (εὐσεβεῖν).13 Kurz gesagt: Religion will gelernt sein. Mit diesen kurzen Bemerkungen zu einer konkreten Lehr-Lern-Situation ist nun eine sehr grundsätzliche Frage angesprochen. Religion zu lernen erfordert offensichtlich nicht nur einen Gegenstand, der gelernt werden kann, sondern auch personale Akteure – Lehrer und Schüler – und einen institutionellen Rahmen solcher Lehr-Lern-Prozesse. Und um diesen Zusammenhang geht es in diesem Beitrag und darüber hinaus im vorliegenden Band: um religiöse Bildung, um die Institutionen ihrer Vermittlung und um die daran beteiligten Akteure. Es ist dabei gerade der institutionelle Aspekt, der im Vordergrund stehen soll. Wenn Institutionen, was im nächsten Abschnitt ausführlicher darzulegen ist, soziale Interaktionen auf Dauer stellen und damit auch den Wechsel der handelnden Personen zu bewältigen helfen (oder dies jedenfalls erfolgreich suggerieren), dann ist die Schule des Origenes auf den ersten Blick allerdings kein gutes Beispiel einer gelungenen Institutionalisierung: Der Schulbetrieb, wie ihn Gregor beschrieb, überdauerte nicht den Tod seines Gründers; was blieb, war die Bibliothek in Caesarea, aber inwieweit diese als Lehrinstitution diente, ist eine strittige Frage.14 Freilich kompensierte Origenes solche Kontingenzen irdischer Bildungsunternehmungen selbst mit der Vorstellung des Paradieses als einer Institution ewiger Bildung: Allen Wechselfällen des Lebens zum Trotz konnte Bildung hiernach als Konstante menschlichen Lebens gelten, und zwar in eminentem Sinne als lebenslanges Lernen – auch über den Tod hinaus.15 Es war aber nicht nur das spätantike Christentum, in dem Religiöses gelernt werden sollte: Wie man sich dem Göttlichen kompetent näherte, konnte und musste man schon im klassischen Griechenland wissen; wie heilige Schriften auszulegen waren, beschäftigte nicht zuletzt das frühe Judentum; und Orte der religiösen Bildung begegnen uns in der paganen Philosophie und im Christentum zwischen Spätantike und Mittelalter ebenso wie im Klassischen Islam. Nicht überall waren dafür – wie bei Origenes – irdische oder himmlische Hörsäle vorgesehen, und sicher galt das Paradies nicht in gleicher Weise allen erwähnten Religionen als Bildungsinstitution; doch ist die Vorstellung des Jenseits als einer „himmlischen Akademie“ z. B. auch in der rabbinischen Literatur zu finden.16 Wo religiöse Bildung vermittelt wurde, ob es dafür einer dauerhaften baulichen, 13 Gregor, Panegyricus in Origenem 6,79 (152,21 f. G. / K.): οὐ τοίνυν οὐδὲ εὐσεβεῖν ὅλως δυνατὸν εἶναι ἔφασκεν, ὀρθῶς λέγων, μὴ φιλοσοφήσαντι. 14 Vgl. hierzu den Beitrag von Balbina Bäbler im vorliegenden Band (S. 129–151). 15 Der Vorstellung des Paradieses als Bildungsinstitution komplementär ist die ebenfalls im spätantiken Christentum zu findende Idee der Schöpfung als „Lehranstalt für die vernunftbegabten Seelen und Erziehungsort zur Gotteserkenntnis“ (ψυχῶν λογικῶν διδασκαλεῖον καὶ θεογνωσίας […] παιδευτήριον: Basilius von Caesarea, Hexaemeron 1,6; GCS N. F. 2, 11,11 f. Amand de Mendieta / Rudberg); vgl. hierzu Mayerhofer 2013, 113. Dies kann hier nicht weiter verfolgt werden. 16 Vgl. hierzu Abate 2016, 82.
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möglicherweise sogar von außen erkennbaren Lehreinrichtung bedurfte oder ob sich Lernprozesse spontan zwischen Mensch und Mensch ereigneten, wie man den Unterricht im „göttlichen Wort“ oder im traditionellen Ritus überhaupt institutionalisieren konnte oder ob man das lieber bleiben lassen sollte – das sind Fragen, die von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam Menschen und Gesellschaften bewegten und die in den Beiträgen zum vorliegenden Band mit unterschiedlichen Zugriffen behandelt werden.17 Dem ist hier nicht vorzugreifen. Wie man solchen Phänomenen aber in vergleichender Hinsicht beikommen könnte – dazu will ich im Folgenden in drei Schritten von abnehmender Länge einige methodische Überlegungen vorstellen.
2. Institutionen und Institutionalisierungen Die Institutionen religiöser Bildung bilden einen roten Faden in der Arbeit des Göttinger Sonderforschungsbereichs „Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam“. Das liegt einerseits auf der Hand: Denn wo gelehrt und gelernt werden soll, bedarf es in der Regel eines Rahmens, der festlegt, wer lehrt und wer lernt, was gelehrt und gelernt wird, welche Medien zum Einsatz kommen und wie man feststellt, ob Lernprozesse erfolgreich waren. Doch ist es andererseits keine Selbstverständlichkeit, solche Aspekte, die man mutatis mutandis findet, solange es überhaupt Bildung und Erziehung unter Menschen gibt, unter dem Begriff „Institution“ zu bündeln, schon gar nicht, wenn es dabei um vormoderne Gegebenheiten und um die Vermittlung religiöser Bildung geht. Beginnen wir damit, wovon überhaupt die Rede ist, wenn wir von „Bildungsinstitutionen“ sprechen. Wir denken dabei vermutlich intuitiv an Schulen, Universitäten, Volkshochschulen; in jüngerer Zeit gelten auch Kindergärten als Bildungseinrichtungen. Von letzteren einmal abgesehen, gab es vergleichbare Institutionen auch schon in der Zeit, mit der sich der Sonderforschungsbereich befasst. Mit der Schule des Origenes haben wir eine davon bereits kennen gelernt, und zwar gleich eine sehr anspruchsvolle, die man sogar als „christliche Privatuniversität“18 bezeichnet hat. Freilich ging dieses Ein-Mann-Unternehmen, wie erwähnt, mit dem Tod des Schulhauptes zu Ende, und wenn die spätere Tradition von einer Diadoche von Lehrern in Alexandrien weiß, in der Origenes 17 Damit schließt der vorliegende Band an zwei Ringvorlesungen an der Universität Göttingen an, die das Courant-Forschungszentrum „Education and Religion from Early Imperial Roman Times to the Classical Period of Islam“ (EDRIS) in den Sommersemestern 2011 und 2012 ausgerichtet hat und in denen einerseits Konzepte von Bildung (Gemeinhardt / Günther 2013), andererseits Lehrerfiguren (Georges / Scheiner / Tanaseanu-Döbler 2015) im Vordergrund standen. 18 So Markschies 2007, 93.
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auf Pantaenus und Clemens gefolgt sei, so muss dies als Konstruktion gelten, deren Sachgehalt marginal ist.19 Davon bleibt unbenommen, dass allein die Vorstellung nachfolgender Generationen, es habe eine solche Sukzession gegeben, in der man selber stehe, zur Legitimierung jeweils gegenwärtiger Bildungsanstrengungen Wirkung entfalten konnte. Doch gab es auch tatsächlich dauerhafte Philosophenschulen in der Antike, am prominentesten die platonische Akademie in Athen, die über Jahrhunderte hinweg – wenn auch mit teils erheblichen Unterbrechungen des Lehrbetriebs – mit unterschiedlichen Leitfiguren immer wieder neue Konjunkturen erlebte. Daneben existierten weniger organisierte Zirkel, die sich um einen Lehrer versammelten, wie die Gruppe von Schülern um den christlichen Philosophen Justin, die um 165 n. Chr. mit ihrem Lehrer das Martyrium erlitt20, während dessen Tätigkeit (wiederum der späteren Tradition nach) von einem anderen Schüler fortgesetzt wurde21, oder die bereits erwähnte Gemeinschaft um Plotin etwa ein Jahrhundert später; beide Lerngemeinschaften bestanden in Rom. Und natürlich gab es in Antike und Mittelalter auch Bildungseinrichtungen mit lebenspraktischen Angeboten, von den Elementarschulen fürs Lesen und Schreiben über die Grammatik‑ und Rhetorikschulen, wo man lernte, wie man sich kompetent der kulturellen Codes seiner sozialen Umwelt bediente, bis hin zu medizinischen und juristischen Fachschulen – zu einer solchen war, wie schon erwähnt, Gregor unterwegs gewesen, als ihn unversehens der Eros der christlichen Bildung ergriff und bis ins (irdische) Paradies führte. Bildung gab es in der Vormoderne also reichlich, und entsprechende Institutionen gab es auch. Kommen uns bei „Bildungsinstitutionen“ aber auch Kirchen und Moscheen, Klöster und Synagogen, Tempel und Einsiedlerzellen in den Sinn? Vielleicht nicht sogleich – aber auf den zweiten Blick sollten wir auch hier von religiösen Lernorten sprechen. Das zeigt schon ein Blick auf die Situation im gegenwärtigen Deutschland: Hier ist ja nicht nur der christliche, jüdische und mittlerweile auch muslimische Religionsunterricht etabliert, der im Kontext öffentlicher oder auch konfessioneller Schulen stattfindet.22 Auch der Konfirmations‑ oder Kommunionunterricht ist ein Lehr-Lernprozess, in dem Bildung vermittelt wird, wie auch mutatis mutandis bei der Vorbereitung auf die Bar Mitzwa. Denn wenn Bildung, wie ich im nächsten Abschnitt ausführlicher darlegen möchte, zu einem reflektierten Verhältnis zu Selbst, Gott und Welt führt, ist die Initiation junger Menschen in die Vollzüge der Religion, in deren Rahmen sie aufgewachsen sind und der sie sich (mehr oder minder) zugehörig fühlen, zweifelsohne ein Bildungsprozess. Wenn aber dies von autorisierten Personen im Rahmen der 19 Vgl.
Gemeinhardt 2013, 449 f. mit Anm. 17. hierzu Georges 2012, 76–80. 21 Zu Tatian als Schüler und Nachfolger Justins vgl. Gemeinhardt 2007, 98 f.; Georges 2014, 29 Anm. 40. 22 Solche Kontexte christlicher religiöser Bildung in der Gegenwart behandelt Schröder 2012, 365–388. 20 Vgl.
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jeweiligen Religionsgemeinschaft initiiert und begleitet wird und somit die individuelle Initiation in einen vorgegebenen Rahmen gestellt wird, sind die entsprechenden Einrichtungen als Bildungsinstitutionen zu bezeichnen. Damit steht erneut die bereits oben angesprochene Konstellation von Zielen und Inhalten, Akteuren und Institutionen von Bildung im Fokus, freilich erst im Blick auf die Moderne. Es bleibt zu überlegen, ob all das auch schon früher der Fall war: Wurde in Antike, Spätantike und Mittelalter von Kultpriestern und Rabbis, Bischöfen und Scheichs wirklich Bildung vermittelt? Und wenn das zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten der Fall gewesen sein mag – war das auch deren ausdrückliche oder gar hauptsächliche Aufgabe? Und sind solche religiösen Orte analog zu den zuvor genannten modernen und antiken Bildungseinrichtungen einschlägige Bildungs-Institutionen? Um die Frage zu beantworten, ob wir in antiken und mittelalterlichen Kulturen Analogien zu modernen Bildungsinstitutionen oder Orte der Vermittlung religiöser Bildung mit anderem Institutionalisierungsgrad finden und inwiefern die Rede von Institutionen überhaupt für eine vergleichende Erforschung vormoderner Gegebenheiten geeignet ist, müssen wir noch einen Zwischenschritt einlegen und zunächst einmal fragen, was das eigentlich ist – eine Institution. Einen Begriff zu gebrauchen, den wir aus der modernen Lebenswelt kennen und hier ganz unbefangen verwenden, ist für die Untersuchung vormoderner Gegebenheiten nicht ohne Risiko, weil dabei Anachronismen drohen (dabei gilt für „Institution“ dieselbe Kautele wie für „Bildung“, worauf im folgenden Abschnitt eingegangen wird).23 Ein solches Vorgehen ist aber letztlich unausweichlich, wenn wir vergleichend arbeiten und dabei nicht einfach die Quellen nacherzählen wollen. Der Begriff „Institution“ birgt in dieser Hinsicht ein analytisches Potential, das ich im Folgenden aufzeigen möchte. Das soll schlaglichtartig an einer weiteren Episode aus dem spätantiken Christentum beleuchtet werden, die in der Mitte des 4. Jahrhunderts in Rom spielt und die der Kirchenvater Augustin in seinen kurz vor 400 n. Chr. niedergeschriebenen „Bekenntnissen“ überliefert. Es ist ein Gespräch zwischen Marius Victorinus, einem berühmten Rhetoriklehrer, und seinem jüngeren Zeitgenossen Simplicianus. Marius Victorinus berichtet, er studiere schon lange und intensiv die Bibel und die christlichen Schriften, und das sei für ihn nicht ohne Folgen geblieben: „Du magst es wissen: Ich bin schon Christ.“ Simplicianus, bereits getauft, kann das so nicht stehen lassen: „Ich möchte Dich nicht als Christ unter Christen zählen, bevor ich Dich in der Kirche Christi gesehen habe.“ Worauf ihm
23 Entsprechend warnt Markschies 2007, 34 in seiner Untersuchung christlicher Institutionen in der römischen Kaiserzeit: Bei der Rede von „christlichen ‚Bildungsinstitutionen‘ […] darf man sich natürlich nicht die organisatorische Stabilität und juristische Normierung einer neuzeitlichen Schule oder Universität vorstellen.“
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der Ältere mit einem Lächeln entgegnet: „So sind’s die Kirchenwände, die den Christen machen?“24 Der moderne, zumal protestantische Christ wird geneigt sein zu antworten: „Nein, natürlich nicht!“, und die EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen bestätigen uns mit schöner Regelmäßigkeit, dass der Zusammenhang von Christsein und Kirchenbesuch für viele Menschen ein lockerer ist, ohne dass sie das als Problem empfänden. Bleiben wir aber in der Spätantike! Deutlich gibt Marius Victorinus zu erkennen, dass es für ihn nicht die Anwesenheit in einem Gebäude ist, über die er sein Christsein definiert, sondern der Umgang mit heiligen Schriften und deren Auslegern – tatsächlich wird er später die Paulusbriefe kommentieren.25 Er kann damit als Vertreter einer literarisch orientierten Religiosität gelten; das Christentum im vorkonstantinischen Alexandrien hat Alfons Fürst als „Intellektuellen-Religion“ bezeichnet, und entsprechend wird man auch Victorinus’ Haltung im Moment dieses Gesprächs ansehen dürfen. Simplicianus hingegen, späterer Bischof von Mailand und offenbar mehr an der religiösen Praxis interessiert, will Victorinus „in der Kirche Christi“ sehen, bevor er ihn als Christ anerkennen kann – und nach einigem Hin und Her bringt er diesen tatsächlich dahin, dass er sagt: „Gehen wir zur Kirche, ich will Christ werden“26 und sich öffentlich taufen lässt. Was aber ist die „ecclesia“, die in beiden Zitaten mit „Kirche“ übersetzt wurde? Die Kirche als Gebäude, in dem kirchliches Leben seinen Ort hat? Die „Kirche Christi“ im Sinne der „Gemeinschaft der Heiligen“, der communio sanctorum, von der damals wie heute im christlichen Glaubensbekenntnis die Rede ist? Oder die Kirche als soziale Größe, zu der man gehört, wenn man hingeht und an den dort statthabenden Interaktionen partizipiert? Hängt aber die Zugehörigkeit tatsächlich an der physischen Präsenz – oder kann man sowohl zum Kirchengebäude als auch zu der dort sich versammelnden Gemeinschaft gehören, auch wenn man ihnen kürzer oder länger fernbleibt? Wozu gehört man also, wenn man dazugehört, und wie gehört man gegebenenfalls dazu? Es sind solche Uneindeutigkeiten, bei denen der Begriff „Institution“ sein Potential entfaltet. Er erlaubt es, die Entstehung und Entwicklung sozialer Gebilde zu erklären und sie zugleich von ihrer organisatorischen und rechtsförmigen Gestalt, aber auch von der sie leitenden Idee zu unterscheiden, ohne sie davon zu trennen. Um bei dem Gespräch zwischen Marius Victorinus und Simplicianus 24 Augustin, Confessiones VIII 2,4 (CChr.SL 27, 115,30–36 Verheijen): Legebat, sicut ait Simplicianus, sanctam scripturam omnesque christianas litteras investigabat studiosissime et perscrutabatur et dicebat Simpliciano non palam, sed secretius et familiarius: „Noveris iam me esse christianum.“ Et respondebat ille: „Non credam nec deputabo te inter christianos, nisi in ecclesia Christi videro.“ Ille autem inredebat dicens: „Ergo parietes faciunt christianos?“ Übersetzung hier und im Folgenden: Augustinus, Bekenntnisse, übers. von Josef Bernhart, neu hg. von Jörg Ulrich, Frankfurt / Leipzig 2007, 164–166. Vgl. dazu bereits Gemeinhardt 2014, 47 f. 25 Zu Person und Werk vgl. Ziegenaus 2002; Gemeinhardt 2007, 392 f. 26 Augustin, Confessiones VIII 2,4 (116,48 f. V.): Eamus in ecclesiam: christianus volo fieri.
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zu bleiben: Es geht darum, die theologische Idee „Kirche“ – die Gemeinschaft der Heiligen, der Leib Christi, das Volk Gottes – von ihrer Organisation – zu der rechtliche und bauliche, aber natürlich auch hierarchische Aspekte gehören – und von ihrer Institutionalität – den in der Kirche statthabenden sozialen Prozessen – zu unterscheiden.27 Anders gesagt: Institutionell gesehen machen tatsächlich nicht die Kirchenwände den Christen, aber auch nicht die individuelle theologische Erkenntnis, sondern die Teilhabe an einem durch Kommunikation gestifteten sozialen Beziehungsgeflecht, das jenseits der Partizipation des Individuums Dauer gewährleistet; und genau diese institutionelle Dimension spricht Simplicianus damit an, wenn er Victorinus „in der Kirche Christi“ sehen will. Den in den Sozial-, Rechts‑ und Staatswissenschaften gebräuchlichen Begriff Institution heranzuziehen, um geschichtliche, ja religiöse Sachverhalte zu beschreiben, ist freilich keine völlig neue Idee.28 Vielmehr greife ich für die folgenden Überlegungen dankbar auf die terminologische und thematische Arbeit zurück, die in einem anderen Sonderforschungsbereich geleistet wurde, der von 1997 bis 2008 an der Technischen Universität Dresden unter dem Titel „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ bestand. Der Initiator und langjährige Sprecher dieses Dresdner Sonderforschungsbereichs, der Mediävist Gert Melville, hat dabei ein Konzept von „Institutionalität“ entwickelt, das ich kurz darstellen möchte. Institutionalität bezeichnet, so Melville, „die Dauerhaftigkeit von sozialen Gefügen im vergänglichen Fluß der Zeit“29. Institutionen bilden „unausweichliche Ordnungs‑ und Bezugsraster jeglichen sozialen Handelns“30, die in ihrer konkreten Form kontingent sind, nicht aber in ihrer prinzipiellen Gegebenheit, wie es der Soziologe Karl Acham formuliert: „Wir sind immer schon in Institutionen.“31 Leben bedarf der kontinuierlichen Sinnstiftung, und das leisten Institutionen: Sie transportieren Verhaltensnormen, die jetzt und künftig Autorität beanspruchen
27 Die soziologische Unterscheidung von Institution und Organisation wird in der Kirchentheorie von Jan Hermelink praktisch-theologisch fruchtbar gemacht (vgl. Hermelink 2011, 89– 123), bietet aber auch heuristisches Potential für die spätantike Kirche, das ich in Gemeinhardt 2017 a auszuloten versucht habe. 28 Der Institutionenbegriff, der im Folgenden zu skizzieren ist, wurde bereits für das antike Christentum des 2. und 3. Jh.s n. Chr. erprobt (Markschies 2007, 33–40), jedoch weder darüber hinaus innerhalb der Christentumsgeschichte angewandt noch zum interdisziplinären Vergleich herangezogen. In dieser Weiterführung besteht ein wesentliches Ziel dieser Vortragsreihe. – Die sozialwissenschaftliche Theorie und Kritik des Institutionsbegriffs muss dabei außer Betracht bleiben. Vgl. hierzu einführend Berger / Heintel 2001 sowie bereits Kamphausen 1993, 260–265. 29 Melville 1992, 4. – Der SFB 537, in dessen Vorgeschichte der im Folgenden zitierte Aufsatz gehört, hat im Verlauf seiner Förderzeit eine Reihe von weiteren theoretischen Beiträgen hervorgebracht, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Hinzuweisen ist insbesondere auf zwei Veröffentlichungen des Dresdner Soziologen Karl-Siegbert Rehberg (2001 und 2009). Vgl. auch den Beitrag von Gert Melville in diesem Band (S. 279–298). 30 Melville 1992, 2. 31 Acham 1992, 36 Anm. 11; auch zit. bei Melville 1992, 15.
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dürfen.32 Auf diese Weise können Menschen und Gruppen Orientierung und Identität im Wandel gewinnen und dann auch selbst weitergeben.33 Das klingt abstrakt, und das soll es auch34 – damit der formale Begriff der Institution zur vergleichenden Analyse historischer Sachverhalte fruchtbar gemacht werden kann. Verdeutlichen wir uns, was gemeint ist, erneut an Augustins „Bekenntnissen“: „Kirche“ als „Institution“ ist ein konkreter sozialer Ort, an dem sich Menschen versammeln, die einer geteilten „Leitidee“ anhängen, dem christlichen Glauben, was eine grundlegende Übereinstimmung darüber einschließt, wie dieser Glaube das christliche Leben prägen soll. Marius Victorinus begibt sich an diesen Ort und legt im Zuge des Taufempfangs ein Bekenntnis des Glaubens ab, dem er im Vollzug des Ritus zustimmt. Was Kirche als Institution repräsentiert, ist dabei dem und der einzelnen Gläubigen vorgegeben, die zur Taufe kommen – es mag den hochgebildeten und theologisch ambitionierten Rhetor zunächst befremdet haben, dies akzeptieren zu sollen. Dahinter wird aber ein wichtiger Aspekt (nicht nur) spätantiker Religiosität erkennbar: „Christsein“ ist keine Erfindung des Einzelnen und der individuellen Gestaltung nur begrenzt offen. So wird in zeitgenössischen Predigten immer wieder eingeschärft, welche Verhaltensweisen „Sünde“ sind und zum Bruch der Gemeinschaft mit Gott, d. h. aber auch zum – zeitweisen – Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gläubigen, führen; und der Glaube an den dreieinigen Gott in der Form, die im 4. Jahrhundert in langen Diskussionen errungen wurde, ist nicht verhandelbar (allerdings für umsichtige theologische Reflexion offen). Schränkt die Institutionalität von Kirche damit auf der einen Seite die Freiheit des und der Einzelnen ein, um Orientierung darüber zu ermöglichen, was authentisch Christ zu sein bedeutet, so schließt das auf der anderen Seite eine Varianzbreite von Lebensweisen keineswegs aus: Man kann sexuell enthaltsam leben oder verheiratet sein, sich um ein Amt in der Kirche bemühen oder einen „weltlichen“ Beruf ausüben; das und vieles andere sind Optionen, die, wie Augustin in seinen Predigten deutlich macht, durchaus der individuellen Wahl offen stehen. Kirche als Institution bietet also Orientierung über das Maßgebliche, ist aber offen für verschiedene Ausgestaltungen des Wesentlichen. Sie erfüllt damit die Kriterien, die Melville als für das Funktionieren einer Institution grundlegend beschreibt: – „Formalität“ (im Sinne objektiver, nicht situativer Verhaltensvorgaben), – „Transpersonalität“ (als objektive Geltung bei allen sozialen Interaktionen) und – „Explizität“ (Verfügbarkeit, ja Zitierbarkeit dieser Vorgaben im Fall von Dissens).35 32 Vgl.
Melville 1992, 8. Melville 1992, 12. 34 Vgl. Melville 1992, 5. 35 Melville 1992, 9. 33 Vgl.
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„Objektiv“ ist dabei nicht essentialistisch zu verstehen: Augustin predigt in seiner Zeit für seine Zeit, und was er sagt, ist nicht quasi transzendental festgelegt. Wohl aber gilt der Glaube, der den Katechumenen zum Lernen überantwortet wird, sowohl „formal“ (es steht nicht im Belieben des einzelnen Taufanwärters, ihn kritisch zu evaluieren) als auch „transpersonal“ (er gilt für alle christlichen Gemeinden an allen Orten, selbst wenn die Katecheten durchaus gewusst haben mögen, dass die jeweils verwendeten Bekenntnisformeln nicht miteinander wortidentisch waren) und schließlich „explizit“ (das Glaubensbekenntnis ist schriftlich vorhanden und kann im Konfliktfall als normatives Dokument zitiert werden). Die drei beschriebenen Kriterien erscheinen auf den ersten Blick starr, ermöglichen aber de facto eine erhebliche Dynamik. Die spätantike christliche Kirche war weder an allen Orten noch zu allen Zeiten gleich, vielmehr befand sie sich in einem ständigen Wandlungsprozess, der sich in theologischer, rechtlicher, liturgischer oder frömmigkeitspraktischer Hinsicht beschreiben ließe. Dennoch gehörte man zu „der“ Kirche, deren Einheit und Allumfassendheit im nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis ausdrücklich konstatiert wurde. Vor Ort gab es in aller Regel auch nur eine Kirche, allenfalls flankiert von einer dissentierenden Gemeinde; das Römische Reich wies hingegen synchron und diachron eine große Vielfalt von einzelnen „Kirchen“ auf. Darin kommt ein weiteres Charakteristikum von Institutionalität zum Ausdruck: Institutionen wandeln sich – und zwar unaufhaltsam, während sie erfolgreich Dauerhaftigkeit suggerieren, so der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg: „Diese institutionelle Analyse [geht] nicht von fixen Ordnungen aus, sondern von Ordnungsbehauptungen, nicht von unbefragten Geltungen, sondern von Geltungsansprüchen, nicht von institutionellen Normerfüllungen, sondern von Handlungs‑ und Rollenstilisierungen. Gefragt wird nach den Folgen, die sich daraus für soziale Beziehungen ergeben. Von besonderer Bedeutung sind die damit verbundenen Formen einer Fiktionalisierung von Ordnungsleistungen. Das meint nichts Unwirkliches, sondern die – oft produktive – ‚Überziehung‘ und Intensivierung von institutionellen Prinzipien und Handlungsvorschriften. Wichtige Wirkungszusammenhänge der Vergangenheit und der Gegenwart lassen sich ohne die realitätsschaffende Macht institutioneller ‚Fiktionen‘ kaum verstehen.“36
Institutionen sind gerade dazu da, solche Dauerhaftigkeit im Wandel zu postulieren und zu plausibilisieren – und damit soziale Dynamik zu moderieren. Das heißt auch: Institutionen erfordern Akzeptanz, und wenn diese schwindet, nützt es in aller Regel nichts, sie mit Zwang zu erzeugen, wie die Geschichte religiösen Dissentierens zeigt. Insofern sind Institutionen zwar nicht faktisch, aber prinzipiell innovationsskeptisch, jedenfalls da, wo der unvermeidliche Wandel tatsächlich zu offensichtlich erfolgt.
36 Rehberg
2009, 20.
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Was aber passiert, wenn Institutionen entstehen oder (ihrer eigenen Kontinuitätssuggestion zum Trotz) sich transformieren? Damit ist der Prozess der Institutionalisierung angesprochen, der beides umfasst, das Werden und AndersWerden von Institutionen. In der einen Hinsicht handelt es sich um die Stabilisierung einer dynamischen Ursprungssituation – in Aufnahme der von Max Weber diagnostizierten „Versachlichung des Charismas“37, in der anderen um den „Übergang von einer Geformtheit in eine andere“, so noch einmal Melville.38 „Institutionalisierung“ ist so oder so ein fundamentaler Bestandteil sozialen Lebens. Er birgt eine mehrschichtige Dynamik, die sich auch in vormodernen Gesellschaften beobachten lässt: a) Institutionen, die einer gemeinsamen Leitidee folgen, können unterschiedliche Formen von Organisation annehmen – seien es Kirche und Kloster als alternative Formen der Verwirklichung christlicher Existenz, seien es aus der Reformation hervorgegangene Kirchen mit bischöflicher oder synodaler Struktur.39 Die Entstehung des Mönchtums in der Spätantike war demnach zwar eine andere Form von Institutionalisierung des Christseins als die Ortsgemeinde, resultierte aber dennoch in Institutionalität. b) Alternative Institutionalisierungen können in Konkurrenz zueinander treten:40 Augustin selbst gehörte zunächst den Manichäern an, die er später literarisch bekämpfte, und als Bischof hatte er sich mit den „Donatisten“ auseinanderzusetzen, mit denen er den Glauben an den dreieinen Gott teilte, deren Institutionalisierungsprozess jedoch zu einer konkurrierenden Kirchenorganisation führte. Konkurrenz belebt das Geschäft, auch im pluralisierten spätantiken Christentum, macht es aber nicht eben leichter zu klären, was als unhinterfragt und dauerhaft vorausgesetzt, also als institutionalisiert gelten soll. c) Wenn Institutionalität auf Etablierung und Akzeptanz sozialer Verhaltensnormen zielt, dann besteht mit subjektiven Deutungen von religiösem Denken und Handeln ein latenter Konflikt. Marius Victorinus’ Anspruch, aufgrund eigener Lektüre der Bibel und intellektueller Durchdringung des Glaubens Christ geworden zu sein, ist – wenn ich so sagen darf – ein früher subjektivitätstheoretischer Zugang zum Christentum; er hat seine Vorläufer letztlich in der Maxime, die am delphischen Tempel zu lesen war: „Erkenne dich selbst – γνῶθι σαυτόν!“41 In Antike und Mittelalter war dieses Selbst zuallermeist sozial eingehegt, auch in Hinsicht auf religiöse Bildung, aber gelegentlich auftretende Phänomene von „Unglauben“ sprengten diesen institutionellen Rahmen.42 37 Vgl.
Kamphausen 1993, 264. 1992, 15. 39 Vgl. hierzu knapp Melville 1992, 8. 40 Vgl. hierzu Rebenich 2017 (im Rückgriff auf Theorieimpulse der Soziologie Georg Simmels). 41 Vgl. dazu Söding 2016, 250–255 und Gemeinhardt 2017 b, 50 f. 42 Vgl. hierzu Weltecke 2010. 38 Melville
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Eine solche soziologische Sicht von Institutionen setzt anthropologisch voraus, dass Menschen zur konstruktiven Partizipation an Institutionen überhaupt in der Lage sind. Diese Befähigung, so der Theologe Eilert Herms, ist das „Resultat der individuellen Bildungsgeschichte“43. Dass wir – wie oben zitiert – „immer schon in Institutionen sind“, schließt also nicht aus, sondern ein, dass wir mit dem Vorgegebenen, Selbstverständlichen, (scheinbar) Dauerhaften vertraut gemacht werden müssen, sowohl im Blick auf Normen, Werte und Inhalte als auch auf Praktiken der Teilhabe. Das hat unmittelbar Konsequenzen für unser Thema: Bildung geschieht in Institutionen, führt aber auch zur Partizipation an ihnen hin. Wiewohl Bildungseinrichtungen nur eines von vielen Beispielen für Institutionen sind, ist gerade die Frage nach Bildung als Ermöglichungsgrund und als Resultat der Teilhabe an Institutionen von vorneherein mit diesen verknüpft. Institutionen religiöser Praxis implizieren also Prozesse religiöser Bildung – und lassen die Frage nach letzterer daher als sinnvoll, ja geboten erscheinen. Wenden wir uns also der religiösen Bildung als solcher zu.
3. Religiöse Bildung Standen wir mit dem Wort „Institution“ vor der Herausforderung, einen modernen Begriff für die Analyse und Klassifikation vormoderner Beobachtungen zu operationalisieren, so wiederholt sich dieses Problem, sobald wir von „Bildung“ sprechen. Das liegt zum Teil am modernen, inflationären Gebrauch dieses Begriffs, insofern in der gegenwärtigen öffentlichen und politischen Debatte in Deutschland oft und gerne von „Bildung“ gesprochen wird, ohne dass immer klar wäre, was damit gemeint ist und ob nicht eher von „Erziehung“ oder „Lernen“ die Rede sein sollte, insbesondere da, wo „Bildungsziele“ definiert werden, die eigentlich „Lernziele“ sind.44 Diese Diffusität betrifft dann aber auch die Frage, was religiöse Bildung eigentlich ist, die in allgemeinbildenden Schulen vermittelt werden soll, ob das im islamischen Religionsunterricht ebenso funktioniert wie im christlichen oder jüdischen und wenn nein, ob das an den „Bildungszielen“ selbst, an den religiösen Inhalten oder an den institutionellen Rahmenbedingungen liegt. Diese Problematik soll uns hier nicht weiter beschäftigen, da es um religiöse Bildung in historischer Perspektive geht. Für unsere Fragestellung ist aber relevant, dass „Bildung“, wenn differenziert davon gesprochen wird, in moderner Sicht die „Aspekte der Selbsttätigkeit, der Reflexionsfähigkeit und des Urteilsvermögens des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt“ beinhaltet45 – das heißt 43 Herms
2001, 178. vgl. Schröder 2012, 578–580. 45 Borst 2011, 27. 44 Hierzu
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aber: der neuzeitlichen Sicht des Subjekts zutiefst verpflichtet ist. Bildung ist, so Reinhart Koselleck, „als neuzeitlicher Grundbegriff Ergebnis der Aufklärung und zugleich Antwort auf sie“46. Der deutsche Begriff „Bildung“ beinhaltet daher – so Koselleck weiter – drei charakteristische Momente des Übergangs von der Vormoderne zur Moderne: – den „Autonomieanspruch, die Welt sich selbst einzuverwandeln“, im Unterschied zu einer von außen induzierten Erziehung; – den Bezug auf „eine Gesellschaft, die sich primär durch ihre mannigfaltige Eigenbildung begreift“, nicht (mehr) durch vorgegebene soziale Rollenmuster; – die Rückbindung der „kulturellen Gemeinschaftsleistungen“ an eine „persönliche Binnenreflexion“ im Sinne einer grundlegenden Individualisierungstendenz.47 Diese Momente der Autonomie, der Dynamik und der Individualität sind zunächst für den in der Aufklärung etablierten und bis heute wirksamen Bildungsbegriff prägend. Doch lässt sich Bildung nach Koselleck „als eine geschichtlich einmal entstandene Herausforderung umschreiben, die ständig neue Antworten provoziert und die deshalb sowohl in der Vergangenheit, etwa der Griechen, wiederzufinden wie in Zukunft wiederholbar ist“48. Ohne pauschal die Identität von Bildungsauffassungen und ‑praktiken über Jahrtausende hinweg behaupten zu wollen, lässt sich diese geschichtliche Tiefendimension des Bildungsbegriffs mit wenigen Hinweisen substantiieren: So fand auch schon in philosophischen Kreisen der römischen Kaiserzeit das „Selbst“ Beachtung49; Michel Foucault rief gar die „Sorge um das Selbst“ zur Grundsignatur der Spätantike aus.50 Ebenso mehren sich in jüngerer Zeit Studien, die Individualität als Phänomen und Postulat auch in vormodernen Kulturen entdecken.51 Am widerständigsten dürfte, je weiter der historische Blick zurückschweift, die fundamentale Sozialität im Blick auf vorgegebene Hierarchien, Rollen und Partizipationsmöglichkeiten sein – aber solche Muster sind wiederum auch in modernen Gesellschaften nicht ausgerottet, solange die soziale Herkunft auf die Bildungskarriere und damit auf künftige Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens einen signifikanten Einfluss ausübt, was in Deutschland nach wie vor der Fall ist. Solche augenscheinlichen Parallelen, bei denen sich im Detail eine immer noch größere Unterschiedlichkeit ergeben mag, erlauben freilich nicht, den Begriff „Bildung“ umstandslos auf die griechische Antike, die Texte vom Toten 46 Koselleck
1990, 19. 1990, 14 f. 48 Koselleck 1990, 19; zustimmend Schweitzer 2014, 27 f. 49 Instruktiv sind hierzu die in Woolf / Rüpke 2013 gesammelten Beiträge; vgl. weiterhin Sorabji 2006 und – für das spätantike Christentum – Gemeinhardt 2017 b. 50 Foucault 1984. 51 Instruktiv hierzu sind die folgenden Sammelbände: Rüpke / Spickermann 2012; Rüpke 2013. 47 Koselleck
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Meer, die christliche Spätantike, das rabbinische Judentum oder den Klassischen Islam anzuwenden. Vielmehr gilt hier wie schon bei den Institutionen: Wir sollten uns darüber im Klaren sein, wovon wir sprechen, wenn wir mit dem Begriff „Bildung“ operieren, und wovon wir ihn unterscheiden. Dabei hilft es aber, sich von modernen Differenzierungen inspirieren zu lassen.52 Das betrifft vor allem die spezifischen Prozesse der Vermittlung und des Erwerbs von Wissen, von kultureller und religiöser Kompetenz und von Reflexionsfähigkeit, denn nicht alles wird am selben Ort in gleich intentionaler Weise und durch gleichermaßen autorisierte Akteure kommuniziert. Von Bildung im Sinne eines reflektierten Verhältnisses zu Selbst, Welt und Gott ist vielmehr zweierlei nicht zu trennen, aber doch klar zu unterscheiden53: zum einen Erziehung als intentionale, sich an Lernzielen orientierende Vermittlung von Wissen, Kompetenzen und Verhaltensweisen, zum anderen Sozialisation als nicht ausdrücklich intendiertes, sondern sich unthematisch ergebendes Lernen durch Partizipation und Imitation. Für alle drei Aspekte möchte ich kurz verdeutlichen, was das für die Rede von „Bildung“ – zumal von religiöser Bildung – bedeutet: a) „Sozialisation“ war in der Vormoderne, lange vor der Etablierung eines Schulsystems54, die breitenwirksamste und für viele Menschen die einzige Form von Bildungshandeln: Mit einer modernen Formulierung handelt es sich um „Erfahrung‑ und Umgangslernen“55, salopp gesprochen: um ‚learning by doing‘ – etwa indem Kinder in der Familie an religiösen Praktiken teilnahmen oder indem Söhne in der griechischen Polis ihren Vater zum Tempel begleiteten, wenn dieser dort kultische Verrichtungen vorzunehmen hatte.56 Aber auch die Ausbildung des christlichen Klerus in der Spätantike verlief überwiegend so, dass junge Kleriker im Haus eines Priesters aufwuchsen und sich von ihm abschauten, wie man taufte und die Eucharistie feierte.57 Es ist übrigens ein kulturübergreifendes Charakteristikum, dass es in Antike und Mittelalter eine „Ausbildung“ religiöser Funktionsträger nicht oder nur marginal gegeben hat, was weniger bei den auf Kultpraxis ausgerichteten Religionen überrascht als bei Religionskulturen wie dem Judentum oder dem Christentum, die in Bezug auf die schriftsprachlichen und hermeneutischen Kompetenzen wie auf die Orthodoxie hochgesteckte Erwartungen an ihr Personal stellten. 52 Zum Folgenden vgl. demnächst den Sammelband „Was ist Bildung in der Vormoderne?“ (Gemeinhardt [in Vorbereitung]). 53 Vgl. Schröder 2012, 214. 54 Vom „Schulsystem der Antike“ ist oft und nicht zu Unrecht die Rede; vgl. Marrou 1957 und Vössing 2003. Was in der Zusammenschau vieler Quellen über einen langen Zeitraum hinweg als „System“ erscheint, war aber weitgehend unreguliert, freilich dennoch von großer Dauer und gewissermaßen „autopoietisch“ (Luhmann 1998, 65 f.). Insofern können die antiken scholae publicae als Bildungsinstitutionen par excellence gelten, aber eben für eine kleine Elite. 55 Benner 2012, 232. 56 Vgl. hierzu den Beitrag von Maria Munkholt Christensen und Irene Salvo (S. 177–200). 57 Hierzu jetzt Gemeinhardt 2018.
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b) Von „Erziehung“ ist hingegen dort zu sprechen, wo Kinder und Jugendliche Unterricht innerhalb der Familie genossen oder – je länger, je öfter – eine Schule besuchten. Das hellenistische und römische „Bildungssystem“ hatte tatsächlich eine klare Zielbestimmung, und die bestand nicht zuerst in der Befähigung zu eigenem Denken, sondern in der Einweisung in die durch Geschichten, Mythen und Kulte präsente Tradition, römisch gesprochen: in den mos maiorum, damit aber in ein sozial und religiös bestimmtes Gemeinwesen, in dem man sich kompetent zu bewegen hatte, sowohl durch Partizipation an den Kulten als auch durch das zielsichere Erkennen und Verwenden literarischer Codes. Das galt mutatis mutandis aber auch für die Initiation in eine monastische Gemeinschaft oder in einen rabbinischen Lernzirkel.58 Antike und Mittelalter kannten zwar keine förmliche Kompetenzorientierung und auch keine Credit Points, aber von Lernzielen verstand man etwas, auch in religiösen Belangen: Die Klöster der Karolingerzeit waren erst in zweiter Linie Repositorien des Weltkulturerbes, zunächst vielmehr Stätten einer zielgerichteten religiösen Erziehung. c) Doch ist in Handbüchern solcher Erziehung zugleich von Zielen die Rede, die wir „Bildung“ nennen: Die schulische institutio macht den Menschen zum Menschen und unterscheidet ihn vom Tier, so der römische Literat Aulus Gellius (2. Jh. n. Chr.)59 und der christliche Bischof Sidonius Apollinaris († nach 480)60. Und das gilt nicht nur allgemein für die Abhebung des Menschen vom Tier, sondern auch für die Distinktion der Gebildeten von den Ungebildeten, den rustici („Bäurischen“) oder „Barbaren“. Es gibt also einen anthropologischen Überschuss des auf die Einweisung in eine soziokulturelle Tradition ausgerichteten Erziehungssystems, und wo solches zu einer individuellen Reflexion von Gott, Welt und Mensch führt, können wir von „Bildung“ sprechen.61 Die ἐγκύκλιος παιδεία – die „abgerundete Bildung“, die durch Qualität, nicht durch Quantität bestimmt ist – stellt gewissermaßen einen Grenzbegriff dar, insofern sie seit hellenistischer Zeit als Ideal vollkommenen Bildungserwerbs gilt, der freilich von der Philosophie (die Sache weniger Eingeweihter ist) noch überstiegen wird. „Bildung“ ist nicht identisch mit „Weisheit“. Zugleich ist die „Formung des Menschen“ durch παιδεία, die Werner Jaeger in klassischer Weise als Verwirklichung eines philosophischen Ideals beschrieb62, nicht ohne ihre soziale Einbettung zu denken. Die vormoderne Zuordnung von Bildung 58 Vgl. stellvertretend für eine Fülle von Literatur zu diesem Themenkreis: Vössing 2003 (römisches Schulsystem); Rubenson 2012 (monastische Bildung); Langer 2012 (rabbinische Lerninstitutionen). 59 Aulus Gellius, Noctes Atticae XIII 17,1: humanitatem appellarunt id propemodum, quod Graeci παιδείαν vocant, nos eruditionem institutionemque in bonas artes dicimus. 60 Sidonius Apollinaris, ep. IV 17,2 (II 150 Loyen): quanto antecellunt beluis homines, tanto anteferri rusticis institutos. 61 So – in Hinsicht auf die Moderne – auch Ladenthin 2003, 256. 62 Jaeger 1933–1947.
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und Erziehung ist bei aller Ähnlichkeit in bestimmter Hinsicht anders als die moderne: Die Übergänge sind fließender, da das Ideal der ἐγκύκλιος παιδεία beides bezeichnen kann (insofern ist es entscheidend, dass es sich bei ihrem Erwerb um eine „runde Sache“ handelt, nicht um die vollständige, sozusagen „enzyklopädische“ Erarbeitung von Wissensbeständen). So sind die „höheren“ Studien wie Rhetorik oder Philosophie auch schon mit Bildung als bzw. zur Selbstbildung verbunden, wenngleich sie teilweise „verschult“ sind bzw. handfeste Lernziele formulieren – deren Erreichen zwar nicht durch Examina geprüft, aber quasi als ökonomische Erfolgskontrolle bezahlt wird. Die beschriebene Trias von Bildungsprozessen gilt nun auch, wenn es um Religion geht. „Religiöse Bildung“ können wir demnach als ein enges Zusammenspiel von Sozialisation, Erziehung und Selbst-Bildung verstehen, das sich auf Religion bezieht, das heißt: auf ein Gegenüber jenseits der Erfahrungswelt, bezüglich dessen mit bestimmten Praktiken agiert und Deutungsvorgänge ausgeführt werden.63 Diese Definition von Religion mag allgemein klingen, und das muss sie auch, wenn sie einen komparatistischen Zugriff auf Sachverhalte ermöglichen soll, die schon die Zeitgenossen als ähnlich, vergleichbar, aber auch diskussionswürdig erachteten, selbst wenn es dafür in der Vormoderne kein quellensprachliches, kulturübergreifendes Konzept von „Religion“ gab.64 Das mochten Götter sein oder ein Gott, deren bzw. dessen Einwirkung auf die Welt und Zugänglichkeit für menschliche Sorgen und Hoffnungen mehr oder weniger direkt erfahrbar und unterschiedlich explizit Gegenstand theologischer Reflexion war(en). Die vielen Götter der griechischen und der römischen Religion, der transzendente, eine Gott des philosophischen Monotheismus, des Judentums und des Islams und der dreieinige Gott des Christentums erscheinen als je spezifische Adressaten solcher Handlungs‑ und Denkweisen, die sich als distinkt, aber vergleichbar herausstellen. Der Kontakt zu solchen Göttern oder zu einem solchen Gott konnte aber nicht ohne Vorbedingungen gesucht werden: Im klassischen Griechenland und im Alten Israel (und schon zuvor im Alten Orient) galten strenge Vorschriften bezüglich ritueller Reinheit; „der Gott der Philosophen“ (Wilhelm Weischedel), wie er uns im spätantiken Neuplatonismus begegnet, setzte voraus, dass seine Anhänger sich durch ein asketisches Leben für den intellektuellen Aufstieg bereit machten; das Christentum pflegte einen Katechumenat, in dem Glauben 63 Vgl. Tanaseanu-Döbler / Döbler 2012 a sowie Stausberg 2010, 359 f. Ähnlich definiert jetzt Rüpke 2016, 19 Religion „als das situative Einbeziehen von Akteuren (ob sie nun als Göttliches oder Götter, Dämonen oder Engel, Tote oder Unsterbliche bezeichnet werden), die in bestimmter Hinsicht überlegen sind.“ 64 Dass es eines solchen Konzepts nicht bedarf, um mit hinreichender analytischer Trennschärfe von Religion zu sprechen, begründet Riesebrodt 2007 gegen die Kritik der Übertragung eines modernen Religionsbegriffs auf vormoderne Gegebenheiten, wie sie von Asad 1993 prägnant formuliert und von Nongbri 2013 wiederholt wurde.
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und Handeln gelehrt wurden, die nach der Taufe das Leben prägen sollten, um in der Nachfolge Christi zu stehen; und im Judentum ebenso wie im Islam war das religiöse Leben durch ein detailliertes System von Vorschriften gegliedert, die den Umgang mit dem einen Gott und den Instanzen seiner Weltpräsenz, der Tora und dem Koran, regelten. Das erforderte das Miterleben und Einüben religiöser Praktiken durch die Praxis selbst, das gezielte Lernen der korrekten Handlungs‑ und Denkweisen und – in bestimmten sozialen Kontexten – auch die theoretische Reflexion über Gott und die Möglichkeiten des Menschen, das Göttliche denkerisch zu erfassen und sich in ein vernunftbestimmtes Verhältnis dazu zu setzen. Insofern die philosophische oder theologische Perspektive von konkreten Verlaufsformen religiöser Sozialisation und Erziehung zwar zu unterscheiden, aber nicht zu trennen ist, kann ein Begriff aus der heutigen pädagogischen Diskussion Anwendung finden: Der Mensch ist ein „bildsames Wesen“65, und dies nicht nur in dem Sinne, dass er – je jünger, je besser – „formbar“ ist, wie antike Pädagogen nur zu gut wussten, sondern auch dahingehend, dass er „sich selbst bilden“ kann – im Gegenüber zu anderen Menschen, zur Welt und auch zu (einem) Gott oder (vielen) Göttern. Dabei schließen sich Selbst-Bildung und Bildung im Verbund einer religiösen Gruppe, wie im Fall des Marius Victorinus, nicht aus.
4. Institutionen und Institutionalisierungen religiöser Bildung Mit diesen begrifflichen und sachlichen Klärungen, was Institutionen sind und wie man von Bildung, insbesondere von religiöser Bildung, hinreichend differenziert sprechen kann, um damit der Vormoderne gerecht zu werden, können wir nun abschließend nach Institutionen und Institutionalisierungen religiöser Bildung fragen. Dabei geht es nicht darum, den weiteren Beiträgen dieses Bandes vorzugreifen, in denen diese allgemeinen Ausführungen erst Konkretion und damit Farbe gewinnen. Es geht hier lediglich darum, ganz allgemein und daher ohne Nachweise im Detail das Feld abzustecken, in dem sich die einzelnen Beiträge bewegen und zu dem sie ihren je spezifischen Beitrag leisten. Wenn Institutionen Dauerhaftigkeit im Wandel gewährleisten und religiöse Bildung den praktischen und denkerischen Kontakt mit Gott oder den Göttern einübt, ist klar, worin die thematische Pointe dieses Bandes liegt: ob, wie und auf welchen Wegen Institutionen dazu verhelfen, Kommunikation mit Gott, den Göttern oder dem Göttlichen zu initiieren und zu stabilisieren, und wie und auf welchen Wegen sie Menschen dazu befähigen. Dabei ist freilich nochmals darauf hinzuweisen, dass in vormodernen Kulturen Religion mit Gesellschaft, Politik 65 Benner
2012, 70 f.
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und Bildung viel enger verwoben war als in unserer gegenwärtigen Lebenswelt. Dieser Konnex von Religiösem und Nichtreligiösem ist einerseits in konkreten Handlungen und Sprechakten von Individuen gegeben; die Quellen erlauben uns freilich nur in vergleichsweise wenigen Fällen, dies nachzuvollziehen. Er kommt andererseits aber eben auch in Institutionen zur Sprache, in Einrichtungen religiöser Praxis wie Tempeln, Synagogen, Klöstern, Kirchen und Moscheen, aber auch in Schulen mit höherem Organisationsgrad, in informellen Lernzirkeln um Philosophen und Rabbis, im Katechumenat mit einem vergleichsweise fixen Lehrplan und in viel weniger formalisierten Schüler-Lehrer-Beziehungen bei charismatischen Mönchen oder Sufis. Nicht die Dauer der individuellen Beziehung ist für den vergleichenden Zugriff entscheidend, sondern die Dauerhaftigkeit der jeweiligen Form der Vermittlung religiöser Bildung: Die „Wüstenvätersprüche“, die Apophthegmata Patrum, bestehend aus tausenden von kurzen Lehrdialogen, die erzählerisch jeweils nur eine Situation umfassen, sind ein Beispiel dafür, wie auf der Basis kleinster Kommunikationszusammenhänge eine Institutionalisierung religiöser Bildung unter weitgehendem Verzicht auf einen organisierten Rahmen mit Curricula, Ämtern und Schulgebäuden erfolgen kann. Dabei ist auch der Konflikt zwischen Institutionalisierungen religiöser Bildung von Interesse: die Konkurrenz zwischen Gefolgschaften von Rabbis oder Philosophen oder die Frage, ob Christen anhand paganer Literatur, die voll von fremden Göttern war, Rhetorik lernen durften – und was die Alternative war, da sich ein Prediger ja verständlich machen musste. Das Nebeneinander und teils auch Gegeneinander von Religion(en) in vormodernen Gesellschaften spiegelt sich in der Pluralität von Institutionen religiöser Bildung, die der vorliegende Band ausleuchten will.
5. Bildung und Religion: Eine interdisziplinäre Perspektive Führt religiöse Bildung also ins Paradies? Und wenn ja, ist das Paradies selbst hörsaalförmig? Gewiss ist die oben beschriebene Ein-Mann-Universität des Origenes zu einzigartig, um aus der eschatologischen Verheißung ihres Leiters eine allgemeine religionsgeschichtliche These abzuleiten. Aber es sei kurz auf eine Vision von der kommenden Welt hingewiesen, die dem babylonischen Talmud entstammt. Ein schwer erkrankter Rabbi sah eine – wie er meinte – „verkehrte Welt“, woraufhin sein Vater ihn korrigierte: Er habe gewiss eine „lautere Welt“, eben die kommende, gesehen. Der Vater fragte den jungen Rabbi weiter: „Wie sind wir dort? – Wir sind dort, wie wir hier sind. – Was hörtest du da sagen? – Ich hörte sie sagen: Heil dem, der hier mit seinem Studium in der Hand ankommt!“66 66 bPes 50 a; Übers. nach Goldschmidt 1930, Bd. II, 455 f. Vgl. dazu und zu weiteren Parallelen Abate 2016, 81.
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Bei aller Vielgestaltigkeit von Paradies‑ und Jenseitsvorstellungen in Religionskulturen von der Antike bis zum Mittelalter ist doch Bildung offensichtlich ein nicht zu unterschätzendes Element eschatologischer Hoffnung; und das gilt bisweilen noch für aufgeklärte Gelehrte wie den Philologen und Platonforscher Friedrich Ast (1778–1841), der im Jahr 1805 feststellte: „Dies also ist das Ziel unserer Bildung, in das Paradies zurückzukehren, aus dem der Mensch entweichen mußte, um zur Selbsterkenntnis zu gelangen und durch diese Selbsterkenntnis, als den Zustand der Prüfung, also durch eigene Bildung und Tugend sich das Paradies wieder zu schaffen.“67
Die Bildung des Menschen bestehe daher darin, „das Alte wieder zu wecken, aber zu einem höheren Leben zurückzurufen, bis der Kreislauf der Menschenbildung vollendet ist“68 – eine Vorstellung, die eine frappante Parallele in Origenes’ Konzeption einer zyklisch verlaufenden Erlösungsgeschichte hat! Für Ast war „die Geschichte der Menschheit einzig vergleichbar der Bildungsgeschichte des Menschen überhaupt“69. Entsprechend hielt er fest, dass „der Mensch, der dem Geiste seiner Bildungsgeschichte und seiner Bestimmung nachdenkt, sich selbst nur dann zu begreifen lernt, wenn er die abgelaufenen Epochen seiner Bildung in ruhiger, forschender Betrachtung vergleicht“, was analog bedeute, dass derselbe Mensch nur dann einen wirklichen Begriff von der Geschichte menschlicher Bildung insgesamt erhalte, „wenn er die verschiedenen Perioden der Menschheit auf gleiche Weise aneinander hält und den inneren Zusammenhang, dem gemäß sich die eine aus der anderen mit freier Notwendigkeit erzeugte, zu begreifen sucht.“70 Es sei festgehalten, dass ein solcher organologischer Begriff von Bildung einschließlich der dafür grundlegenden Idealisierung der klassischen Antike nicht leitend für die Agenda des Göttinger Sonderforschungsbereichs ist. Doch dürfte es sich lohnen, in der Geschichte der modernen Diskussion über Bildung nach deren impliziter oder expliziter Vorgeschichte zu suchen und sich davon zu einer historisch fundamentierten Kritik moderner Vorstellungen von Bildung, vor allem aber zu einem methodisch reflektierten Blick auf vormoderne Formationen von Bildung und Religion leiten zu lassen. In summa: Institutionalisierte Bildung ist in Religionskulturen von der Antike bis zum Mittelalter (und darüber hinaus) zu beobachten – in unterschiedlichsten Konfigurationen, die anhand des hier vorgestellten Rasters einer vergleichenden Analyse zugänglich sind. Um nicht mehr und nicht weniger geht es. Damit ist das Paradies nicht ein für allemal als Bildungsinstitution klassifiziert. Die wenigen Impressionen sollen nur zeigen, dass die Projektion institutionalisierter Bildungsprozesse auf das Jenseits auf eine ganz eigene Weise den genuin religiö67 Ast
1805 = Joerden 1962, 23; vgl. Koselleck 1990, 26.
69 Ast
1805 = Joerden 1962, 14.
68 Ebd. 70 Ebd.
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sen Bezug des Bildungsbegriffs offenlegt, der irdische Bemühungen um Bildung transzendiert und damit an die Metaphorik einer himmlischen Schule erinnert, die nicht zuletzt der schon genannte Augustin als Leitmotiv seiner durchaus erdverhafteten Katechetik in Anspruch nahm.71 Das religiöse Moment, das dem Bildungsbegriff von seinen Ursprüngen her innewohnt und auch in seiner modernen Fassung zu eigen ist72, trägt zu der Anwendbarkeit dieses Begriffs auf vormoderne Gegebenheiten wesentlich bei. Bildung diente und dient sicher auch, aber nicht nur der Stiftung und Vermittlung kultureller Identität.73 Aus dieser Identität darf jedenfalls Religion nicht kategorial ausgeklammert werden. Wie es Bernd Schröder ausgedrückt hat, lebt Bildung „von Voraussetzungen, über die Menschen nicht verfügen können“74, und erschöpft sich daher auch nicht in „employability“ oder anderen unmittelbaren Verwertungsformen für Individuum und Gesellschaft. Sie ist auf einer fundamentalen anthropologischen Ebene Gabe und Aufgabe für jeden Menschen. Insofern ist Bildung intrinsisch mit Religion verknüpft und informiert und orientiert wiederum religiöses Erleben, Denken und Handeln. Wenn oben festgestellt wurde: „Religion will gelernt sein“ – dann sind die Institutionen religiöser Bildung der Ort, an denen solche Lernprozesse historisch fassbar werden. Die Beiträge des vorliegenden Bandes wollen dazu beitragen, diese Orte ins Licht zu rücken.
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hierzu Tobias Georges und Peter Gemeinhardt im vorliegenden Band (S. 168 f.). Koselleck 1990, 24–27. 73 So Fuhrmann 2006. 74 Schröder 2012, 221. 72 Vgl.
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Griechische Heiligtümer als Vermittler religiösen Wissens? Das Orakel von Delphi Tanja S. Scheer* 1. Menschenwissen – Götterwissen 1.1. Der weiseste der Menschen? Delphi und Sokrates Im Jahr 399 v. Chr. fand in Athen ein spektakulärer Prozess statt. Der Bürger Sokrates war angeklagt, die Götter der Polis nicht anzuerkennen, stattdessen neue dämonische Wesen einzuführen und die Jugend zu verderben. In seiner Verteidigungsrede, wie sie uns Sokrates’ Schüler Platon und Xenophon überliefert haben, berief sich der Angeklagte auf göttliche Autorität – auf Apollon und sein Orakel in Delphi: Für meine Weisheit, wenn sie denn Weisheit ist […] werde ich Euch den Gott von Delphi als Zeugen bringen. Ihr kennt den Chairephon, nehme ich an […] einst ging er nach Delphi und wagte es, dem Orakel folgende Frage zu stellen – und fangt jetzt nicht an Lärm zu machen, ihr Männer –, […] denn er stellte die Frage, ob irgendjemand weiser sei als ich. Die Pythia antwortete: einen Weiseren gäbe es nicht.1
Unabhängig von der Frage, ob die Orakelbefragung des Chairephon tatsächlich stattgefunden hat oder nicht2 – das Orakel von Delphi wird im Kontext von Sokrates’ Verteidigungsrede als Institution genannt, die fähig ist, Weisheit zu beurteilen und die man für eine derartige Frage anruft. Platon und Xenophon * Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt C 01 „Aufgeklärte Männer – abergläubische Frauen? Religion, Bildung und Geschlechterstereotypen im klassischen Athen“. 1 Platon, apol. 20 e; das Orakel auch bei Xenophon, apol. 14: „dass niemand freier oder gerechter oder besonnener sei als Sokrates.“ 2 Zum Streit über die Historizität des Spruches und der Anfrage, der bereits in der Antike begann s. z. B. Plutarch, adv. Col. 17 p. 1116E–1117A; Athenaios, deipn. 5.60 (218 e–219 a). In der Neuzeit hält die Episode für historisch z. B. Fontenrose 1978, 245 H3; in der jüngeren Forschung erheben sich skeptische Stimmen: Montuori 1990, 251–259; Dorion 2012, 419–434. Jüngst hierzu Kindt 2016 a, 87–91.
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waren offenbar der Meinung, dass diese Erzählung über Sokrates und seine Schüler der Nachwelt plausibel scheinen konnte. Dies ist nicht die einzige Gelegenheit, bei der Weisheit, höchstes Wissen, tiefste Erkenntnis mit dem delphischen Orakel in Verbindung gebracht werden. Angeblich seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. sollen berühmte Weisheitssprüche am Apollontempel von Delphi angebracht gewesen sein.3 Der bekannteste von diesen war der Spruch „Erkenne Dich selbst“, im Sinne von „Erkenne, dass du ein Mensch und kein Gott bist.“4 Die Vorstellung von der Institution Delphi als Zentrum eines kommunikativen Beziehungsgeflechtes, das die ganze griechische Welt umfasste und gelegentlich sogar deutlich über sie hinausreichte, Delphi als Ort göttlicher Weisheit, ethischer Autorität und besonderen Wissens hat in Antike und Moderne fasziniert – nicht nur wegen der Verbindung mit Sokrates. Da sich im Bereich der griechischen Religion gemeinhin keine religiösen Institutionen finden ließen, die allgemeingültige, polisübergreifende Regeln vorgegeben hätten,5 avancierte für manche Delphi zum möglichen Kandidaten für die fehlende religiöse Zentralautorität.6 Forschergenerationen alt ist außerdem die Diskussion über die Frage, ob Delphi vielleicht auch eine verborgene politische Zentrale der zersplitterten griechischen Poliswelt dargestellt haben könnte. War der delphische Gott womöglich die letzte Instanz in allgemeiner Weisheit und Ethik,7 und sein Heiligtum darüber hinaus auch noch eine mit sakraler Autorität versehene Börse für geographisches Wissen und politischen Einfluss?8 In außerwissenschaftlicher Wahrnehmung ist die Vorstellung von geheimem, sorgfältig gehütetem Priesterwissen, das verdeckt die Geschicke Griechenlands gelenkt hat, verbreitet.9 Vor diesem Hintergrund erscheint Delphi ein vielversprechender Untersuchungsgegenstand, wenn nach religiösem Wissen und seiner Vermittlung in der griechischen Antike gefragt werden soll. 3 Platon, Prot. 343ab; Platon, Charm. 164 d; Aristoteles, Fr. 3; Plutarch, de Pyth. or. 29 p. 408 d. 6. Jh.; vgl. Burkert 2011, 229; Morgan 2009, 549–552; Tränkle 1985, 20 f. 4 Simon 1985, 122; Burkert 2011, 230. 5 Parker 2011, 40 f.; zur Rolle der Polis in der griechischen Religion Sourvinou-Inwood 2000, 17 f. 6 Delphi als mögliche religiöse Zentrale: Simon 1985, 136: Delphi sei der einzige Ort in der griechischen Welt gewesen, an dem sich eine „Art Dogma“ habe herausbilden können. „Delphic religion and authority“ vorausgesetzt auch noch bei Morgan 2009, 566. 7 Delphi als ethische Autorität, die Umrisse einer allgemeinen Moral sichtbar werden ließe: so z. B. Burkert 2011, 229; vgl. auch Schadewaldt 1970; Maaß 1993, 2 f. Vgl. aber hierzu Price 1985, 141 f., der diese Zuschreibungen als Wunschvorstellungen moderner Gelehrter identifiziert und ins 18. Jh. zurückführt. 8 Vgl. etwa Forrest 1984; Forrest 1957; auch Snodgrass 1986, 53. Vorsichtig Malkin 1989, 131, der aber letztlich auch von den Männern von Delphi, die dessen Politik gesteuert hätten, spricht. Skeptisch hingegen Maurizio 1995, 70; Bowden 2005, 26–28 sowie Trampedach 2015, 218 Anm. 159 mit weiterer Literatur. 9 Zum Bild von der delphischen Priesterschaft, die geheimdienstartig die Geschicke Griechenlands lenkt, s. auch den Titel der Terra X-Sendung von 2004: ‚Das Delphi-Syndikat. Die geheime Macht des Orakels‘: www.zdf.de/terra-x/das-orakel-von-delphi-5221584.html.
Griechische Heiligtümer als Vermittler religiösen Wissens?
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1.2. Menschenwissen über die Götter Religiöses Wissen im alten Griechenland ruhte nicht auf einer Basis „intangibler kanonisierter Schriften“, die Offenbarungswissen im verbindlichen Sinne vermittelt hätten.10 Es lässt sich nur indirekt aus der Betrachtung des gesamten Quellenmaterials erschließen: Für einen griechischen Polisbürger oder eine Polisbürgerin bestand religiöses Wissen zunächst einmal im Wissen über die Götter, ihre Namen und ihre Taten. Lokale Beinamen der Götter sowie die in unterschiedlichen Medien überlieferten mythologischen Traditionen über ihre Taten machten es dem Einzelnen möglich, den Charakter und die Zuständigkeiten der Götter zu erschließen und zu entscheiden, an welche Gottheit er sich im Einzelfall wenden wollte. Es war nicht nötig, dieses religiöse Wissen theologisch oder philosophisch auszudifferenzieren und es etwa von Widersprüchen zu befreien: dass philosophische Randgruppen dies seit der spätklassischen Zeit versuchten, war deren besonderes privates Interesse, ihre Überlegungen waren weder verbindlich noch auch nur richtungsweisend für die Gesamtpolis oder den Einzelnen.11 Ein zentraler Bereich religiösen Wissens betraf die traditionellen Formen religiösen Handelns: Es galt zu wissen, in welcher Weise die Götter verehrt werden wollten.12 Göttliche Forderungen ethischer Art standen hingegen nicht im Zentrum religiösen Wissens: Im Unterschied etwa zu den Zehn Geboten des Alten Testaments waren sie nicht systematisiert und auch nicht zentral schriftlich niedergelegt. Sogenannte „ungeschriebene Gesetze“ verlangten allerdings z. B. das von Zeus geschützte Gastrecht zu achten oder Heiligtümer nicht durch Mord und Totschlag zu beflecken.13 Dass man seines Nächsten Weib nicht begehren sollte, war hingegen keine Forderung, die die griechischen Götter an die Menschen richteten und die man mithilfe göttlichen Offenbarungswissens einzuschärfen versucht hätte:14 Gesetze gegen Ehebrecher als Störer des sozialen Friedens brachte man in Athen in der Volksversammlung ein oder regelte das Problem innerfamiliär.15 Da die Forderungen der Götter an den Menschen nirgends systematisch niedergelegt waren, stützte man sich in lokalen Kontexten auf Brauch und Tra10 Zur Definition von „religiösem Wissen“, die das DFG-Graduiertenkolleg „Religiöses Wissen“ an der Universität Tübingen zugrunde legt, welches sich mit der jüdisch-christlichen Tradition befasst: http://www.uni-tuebingen.de/forschung/forschungsschwerpunkte/graduiert enkollegs/gk-religioeses-wissen.html (letzter Zugriff am 21. 11. 2016). 11 Vgl. Scheer 2000, 36 f.; Mikalson 2010, 2; zur Theologie in der griechischen Religion s. kürzlich Kindt 2016 b. 12 Parker 2011, 32 f.; Burkert 2011, 93. 13 Ungeschriebene Gesetze in Griechenland: Sophokles, Oid. t. 863–872; vgl. Andokides, de myst. 85 –87. 14 Vgl. Bowden 2005, 31: „Apollo at Delphi was not usually asked about such things.“ 15 Vgl. Schmitz 1997, 45–47.
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dition.16 Der Götterwille konnte zum Problem werden, da er sich nicht regelhaft oder nach ethischen Prinzipien erschließen ließ. Die Götter der Griechen konnten als wankelmütig, unberechenbar oder gar neidisch imaginiert sein, es galt also, Wissen über ihren aktuellen Willen zu erwerben, um im Anschluss das Richtige tun zu können.17 Entsprechend strebte man nach religiösem Wissen, das „den Brauch“ ergänzte. Wenn der Götterwille erforscht werden sollte, hielten Orakelheiligtümer hierfür besondere kultische Zusatzangebote bereit.18 Die berühmtesten Orakel besaßen überregionale Bedeutung und konnten einen weiten Einzugsbereich aufweisen.19 Das wichtigste und berühmteste dieser Orakelheiligtümer war das Apollonorakel von Delphi, an dem man einen Spruch der Pythia erhalten konnte. 1.3. Götterwissen Bevor die Methoden religiöser Wissensvermittlung und Wissenskontrolle in Delphi skizziert werden können, ist zunächst noch ein anderer Punkt zu klären: Was ‚wissen‘ eigentlich die griechischen Götter? Was weiß der Gott von Delphi im Besonderen? Und inwiefern sind dieses Wissen und seine Vermittlung an einen einzigartigen und nicht austauschbaren Ort gebunden? Schon in den frühesten Quellen finden sich zur Frage nach dem Götterwissen diametral widersprechende Informationen. Widersprüche können sich bereits bei ein und demselben antiken Autor zeigen: in Hesiods Epos ‚Theogonie‘ („Über die Entstehung der Götter“) trägt Zeus Beinamen wie ‚der Kluge, der Planende‘ (μητίετα Ζεύς) oder ‚der Weitblickende‘ (εὐρύοπα Ζεὺς).20 An anderer Stelle charakterisiert Hesiod diesen Beinamen näher: Zeus ist nicht nur weitblickend, sondern „das Auge des Zeus sieht alles“. Wenn er nur will, bleibt ihm nichts verborgen.21 Gleichzeitig bedarf es aber für Hesiod 30.000 unsterblicher Wächter, die als Helfer des Zeus die Wege des Rechts überwachen und Der Brauch als Maßstab: Burkert 2011, 151. s. etwa die Reaktion der Stadtgöttin Athena auf das Opfer der trojanischen Frauen bei Homer, Il. 6.300–311; Götterneid: z. B. Herodot, hist. 7.8. Parker 2011, 80 charakterisiert treffend die griechischen Götter als potentielle „sources of harm as well as of benefit“. Entsprechend können beim Umgang mit ihnen „elaborate displays of nervous respect“ angezeigt sein. 18 Orakelheiligtümer sind nicht die einzige Möglichkeit, Auskunft über den Willen der Götter zu erhalten: vgl. hierzu etwa Trampedach 2015; Flower 2008; Johnston 2008. 19 Rosenberger 2003, 25–27; ders. 2006; Rutherford 2013, 293 f. 20 Zeus als der Kluge: Hesiod, theog. 286. 458. 521; als weitblickend: Hesiod, theog. 514. 521. Zeus ist der, der „unvergängliche Ratschläge“ weiß (Hesiod, theog. 545), nicht zuletzt deshalb, weil er seine Gattin Metis, das personifizierte Wissen verschlungen hat, die ihn seitdem beim Denken und Planen unterstützt: Hesiod, theog. 886–901. 21 Hesiod, op. 267. 16
17 Unberechenbarkeit:
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ihm schändliche Taten erst melden müssen.22 Im homerischen Epos zählen schließlich die Szenen zu den berühmtesten, an denen das (nach Hesiod) angeblich alles sehende Auge des Zeus durch List der anderen Götter getäuscht worden war, sich hatte ablenken lassen oder einfach nicht hingesehen hatte.23 Im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. ist schließlich der Historiker Xenophon der Meinung, die meisten Menschen dächten, dass die Götter manches wüssten, manches aber auch nicht.24 Wenn man aus Quellen wie diesen überhaupt eine allgemeine Aussage ableiten möchte, so könnte diese lauten: Die Götter wissen auf alle Fälle sehr viel mehr als die Menschen, und sie sind im Wortsinn imstande, weiter zu blicken. Fraglich ist hingegen, ob sie alles wissen, ob sie hinsehen wollen, und fraglich ist auch, ob sie ihr Wissen aufrichtig und in verständlicher Form teilen wollen.25 In Delphi wendet man sich im Bestreben, göttliches Wissen zu erlangen, an den Gott Apollon. Entsprechend stellt sich die Frage, wie die antiken Quellen Apollons Verhältnis zum Wissen charakterisieren. Bei Hesiod wird er als Meister der Musen und der Sänger, aber nicht ausdrücklich als Träger besonderen Wissens genannt.26 Deutlicher wird diesbezüglich der Homerische Hymnus an Apollon aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. In den ersten Worten, die der Gott nach seiner Geburt an die Umstehenden richtet, geht es bereits um die Vermittlung von Wissen: „Künden werde ich den Menschen im Orakel den untrüglichen Ratschluss des Zeus.“27 Daran werden die Menschen, die er sich als Priester bestellt, beteiligt sein; der Gott verspricht ihnen, sie nicht nur an den Plänen des Zeus teilhaben zu lassen, sondern am Wissen aller Götter:28 „Denn hier sollt Besitzer ihr werden / Meines schatzreichen Tempels, den viele Menschen verehren. / Was die Unsterblichen planen, werdet ihr wissen, und allzeit / Alle künftigen Tage durch ihre Gnade geehrt sein.“ Apollon erscheint also nicht aus eigener Kraft als die Gottheit mit dem größten oder einem ganz besonderen Wissen: Er präsentiert sich jedoch als der Gott, der aktiv willens ist, als Vermittler göttlichen Wissens zu agieren: er will und darf die Menschen an seinem überlegenen Wissen um den Willen der Götter teilhaben
22 Hesiod,
op. 249–255. Vgl. auch Trampedach 2015, 399. z. B. Homer, Il. 14.352 f.: Zeus lässt sich auf dem Berg Ida einschläfern. 24 Xenophon, mem. 1.1.19. Interessant in diesem Kontext ist die Aussage Xenophons über seinen Lehrer Sokrates: Sokrates habe nämlich geglaubt, dass die Götter alles wüssten. Dies wird von Xenophon als sokratische Besonderheit charakterisiert, Sokrates steht damit im Widerspruch zur Mehrheit. 25 Vgl. auch Scheer 2001 b, 34–36. 26 Hesiod, theog. 93. 27 Hymn. Hom. Apoll. 132. Die Menschen, so spricht der Gott im Hymnos, werden mit reichen Gaben zu ihm kommen, um ihn zu befragen: Hymn. Hom. Apoll. 246–249. 287–293. Vgl. auch Homer, Od. 8.79–81; Il. 9.404 f. 28 Hymn. Hom. Apoll. 482–485 (Übers. nach Anton Weiher). 23 Vgl.
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lassen.29 Dieses Privileg ist ihm allein von Zeus besonders bestätigt worden: er handelt im Auftrag des Zeus und als Vermittler von dessen Ratschlüssen.30 1.4. Delphi als Ort religiösen Wissens Ist die Vermittlung von Apollons Wissen nun an einen spezifischen Ort gebunden? Was prädestiniert Delphi als einen Ort, der sich für diese Vermittlung religiösen Wissens besonders eignet? Im Homerischen Hymnos an Apollon wird beschrieben, wie der Gott einen geeigneten Platz für sein erstes Orakel sucht.31 Zunächst beginnt er bereits an einem ganz anderen Ort in Böotien mit dem Tempelbau,32 lässt sich aber von der Ortsnymphe, die gern selbst die Ortshoheit behalten möchte, überlisten. Die Nymphe weist ihn nach „Krisa, an eine Schlucht am Rand des Parnassos.“33 Dass die Wahl Apollons auf Delphi fällt, erscheint also im Hymnus als eher zufällig: Apollon hätte sein Orakel auch an einem anderen Ort einrichten können. Spätere Quellen charakterisieren den Ort des Orakels allerdings als einzigartig. Dies zeigt sich zum einen in Traditionen von Vorgängergottheiten, die angeblich am gleichen Ort bereits Orakel besessen hätten und denen Apollon den Ort und das Orakel erst hätte entreißen müssen: genealogisch ältere Götter wie die Erde, Themis und Poseidon werden hier genannt.34 Seit dem 5. Jahrhundert sind derartige Erzählungen im Umlauf, einen archäologisch nachweisbaren Hintergrund haben sie nicht.35 29 Hymn. Hom. Apoll. 131; typisch für die Unmöglichkeit allgemeingültiger theologischer Aussagen s. anders Pindar P. 9.44–49, der Apollon selbst als denjenigen preist, der alle Dinge über die Welt und über sogar die Ereignisse der Zukunft weiß. 30 Vgl. zu Apollons exklusiver Stellung im Kreis der Götter als Seher Hymn. Hom. Herm. 533–555: seinem Bruder Hermes ist dieses Privileg nicht gegeben: „Freilich die Sehergabe, nach der du, trefflicher Zeussohn, / Fragst, zu erlernen, ist so wie den andern Unsterblichen dir auch / nicht von den Göttern bestimmt. Was Zeus denkt, weiß nur er selber. / Ich aber habe mein Treuwort gegeben, ich habe genickt und / kraftvoll geschworen, es soll von den ewigen Göttern kein andrer / Außer mir wissen, was Zeus entschlossen will.“ (Übersetzung nach Anton Weiher). S. auch Aischylos, Eum. 19: „Prophet des Zeus ist Loxias“. Wenn Apollon im Auftrag des Zeus Sprüche erteilt, so erweist sich als Nebeneffekt die prinzipiell mögliche Frage menschlicher Wissenssuchender als obsolet, ob nämlich ein Orakel Apollons oder ein Orakel des Zeus Antworten größeren Gewichts und größerer Autorität produziert: ob man also nach Delphi oder etwa zum Zeusorakel nach Dodona gehen sollte: s. auch Sourvinou-Inwood 1987: 234. 31 Hymn. Hom. Apoll. 214 f.: „Oder sing ich, wie du, Schütze ins Weite, Apollon, / Zogst über Land und suchtest die erste Stätte, den Menschen / Weiszusagen?“; vgl. hierzu Richardson 2009, 45–48. 32 Hymn. Hom. Apoll. 246. 33 Hymn. Hom. Apoll. 269. 34 Aischylos, Eum. 1–8; Euripides, Or. 163–165; Euripides, Iph. T. 142–182. Zum Kontext des 5. Jhs. s. Sourvinou-Inwood 1987, 226–228. 35 Plutarch, de Pyth. or. 17 p. 402 c–d; Pausanias 10.5,5. Ein Kult der Gaia in Delphi ist nicht vor der 1. Hälfte des 5. Jhs. bezeugt: vgl. Friese 2010, 364. Sourvinou-Inwood 1986, 221, hält
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Dem Lokalstolz kamen derartige Traditionen durchaus entgegen: vom zufällig ausgewählten Ort wird Delphi durch sie zur Stätte, die als Ort der Vermittlung besonderen Wissens urtümlich einzigartig ist und das prestigeträchtige Element höchsten Alters für sich in Anspruch nehmen kann; das besondere Angebot vor Ort, Orakeltätigkeit, wird jetzt bis in die allergraueste Vorzeit vor der Herrschaft der olympischen Götter zurückgeführt. Die Besonderheit des Ortes wird seit dem späten Hellenismus außerdem betont, indem man ihm sinnlich erfahrbare Besonderheiten zuspricht: Diodor erzählt im 1. Jahrhundert v. Chr. eine angeblich alte Geschichte über die Entdeckung des Orakels:36 Hier begegnet man das erste Mal der Erzählung vom Erdspalt, aus dem Dämpfe wehen. Als einem Ziegenhirten das merkwürdige Verhalten seiner Ziegen auffiel, die dem Erdspalt zu nahe kamen, habe er dort nachgesehen und habe umgehend selbst zu wahrsagen begonnen. Plutarch will in der Kaiserzeit den Namen des Hirten, Koretas, von den gelehrtesten Delphern gehört haben.37 Die frühen Quellen berichten allerdings von keiner auffälligen geologischen Besonderheit des Ortes.38 Bezeichnenderweise haben aber späte Quellen, welche einen göttlichen Hauch (pneuma, divinus adflatus) für die Vermittlung von Götterwissen in Delphi einführen und somit die Einzigartigkeit des Ortes betonen, das besondere Interesse der modernen Forschung erregt. Bereits die französischen Ausgräber Delphis suchten in der Tempelcella nach dem inspirierenden Erdspalt und stellten resigniert fest, einen solchen habe es nicht gegeben.39 Nachdem die Klassische Archäologie in der Gegenwart verstärkt auch auf naturwissenschaftliche Methoden zurückgreift, verwundert es nicht, dass man diesen vermeintlichen Misserfolg der früheren Ausgräber nicht hat auf sich beruhen lassen wollen. Das führte zu mehreren, widersprüchlichen naturwissenschaftlichen ‚Erklärungen‘, die den inspirierenden Hauch Delphis identifiziert haben wollten: Eine Forschergruppe um den amerikanischen Geologen De Boer wollte 2001 die Quelle göttlichen Wissens vor Ort in Äthylendämpfen entdecken: der Tempel läge am Schnittpunkt zweier tektonischer Störungszonen. Diese enthieldiesen Kult für eine Reaktion auf das Aufkommen des Mythos von den angeblichen früheren Besitzern des Orakels. 36 Diodor 16.26,1. 37 Plutarch, de def. or. 42 p. 433 c–e; vgl. auch Plutarch, de def. or. 40 p. 432 d; Plutarch, de def. or. 50 p. 437 c; Plutarch, de Pyth. or. 17 p. 402 c; außerdem s. Cicero, div. 1.37 f.; Strabon, geogr. 9.3,5; Pausanias 10.5,7. 38 Aischylos, Choeph. 806 f., spielt vielleicht auf eine kleine Öffnung im Boden an. Der Gedanke an eine künstlich geschaffene brunnenartige Öffnung liegt nahe (vgl. Sourvinou-Inwood 1987, 224; Burkert 2011, 181), archäologische Spuren haben sich allerdings nicht nachweisen lassen. 39 Die Schlussfolgerung, die Tradition von den Dämpfen sei eine rationalistische Erfindung der römischen Zeit, bereits bei Amandry 1950, 215–230, bes. 216–218; Fontenrose 1978, 197– 199; Price 1985, 140; Maaß; 1993, 7; skeptisch auch neuerdings wieder Trampedach 2015, 189 f. (mit Lit.).
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ten zahlreiche Risse, über die das betäubende Gas Äthylen an die Oberfläche gelangen könne.40 Nachdem diese naturwissenschaftlich untermauerte „Erkenntnis“ den Weg in die Fachliteratur gefunden hatte,41 blieb erneute Ernüchterung nicht aus: Wenige Jahre später (2006) kam eine andere Forschergruppe zu dem Schluss, das göttliche Wissen in Delphi könne nicht durch Äthylen vermittelt worden sein, dafür sei die Konzentration des Gases zu gering. Vielmehr sei eine Kombination aus Methan, Äthan und Kohlendioxid verantwortlich. Diese Gase würden in Delphi dem Boden entsteigen. Sauerstoffmangel habe zur weissagenden Begeisterung, zum Enthusiasmus, geführt. Und für den duftenden Hauch aus dem Heiligtum fand sich ebenfalls eine Erklärung: das Grundwasser habe möglicherweise aromatische Kohlenwasserstoffe (z. B. Benzol) enthalten.42 Dass diese Überlegungen tatsächlich erklären können, weshalb dieser Ort dafür prädestiniert schien, Götterwissen zu vermitteln, erscheint zu simpel gedacht.43 Kai Trampedach hat darauf hingewiesen, dass die späten Quellen, welche vom göttlichen Hauch in Delphi sprechen, stark durch späte philosophische Theorien geprägt sind und sich womöglich dadurch erklären lassen.44 Auch eine zweite Erklärung der Moderne, die in der besonderen Schönheit der Landschaft den göttlichen Hauch zu spüren glaubte, ist darin deutlich von neuzeitlichen Wahrnehmungsmustern geprägt.45 Das Urteil der antiken Quellen über die Landschaft konnte in diesem Fall aber ein ganz anderes sein: Im homerischen Hymnus bringt der Gott eine kretische Schiffsmannschaft nach Delphi und befiehlt den Mitgliedern, in Zukunft dort seine Priester zu sein. Die Reaktion der derart Erwählten am steilen Abhang des Parnass ist bezeichnend. Sie sind entsetzt über die Gegend:46 „Herr, was sollen wir hier? Wie werden wir jetzt leben? Wir heißen dich, es uns zu sagen. Dieses Land will keiner, es trägt nicht Ernten, nicht Wiesen, dass man gut davon lebe, zugleich aber helfe den Menschen.“47 Erst der Hinweis des Gottes, sie würden in Zukunft gut von den Besuchern leben können, beruhigt die Verstörten. 40 Äthylen:
Piccardi 2001; De Boer u. a. 2001; De Boer u. a. 2002; vgl. erneut De Boer 2014. Positiv aufgenommen z. B. bei Connelly 2007, 72; vorsichtig Iles Johnston 2008, 48–50 sowie Friese 2010, 132. Bowden 2005, 19 wies darauf hin, dass Äthylen eine explosive Substanz sei. Im Kontext der Quellennachricht von einem heiligen Herd und einem ewigen, also offenen Feuer im Tempelinneren von Delphi sollte dies nicht übersehen werden (Plutarch, de E 2 p. 385 b). 42 Etiope u. a. 2006, 821–824. 43 Skeptisch Trampedach 2015, 190 f.; vgl. Burkert 2011, 181: „die hellenistische Theorie, dass ein Dampf (pneuma) aus der Erde aufstieg, ist haltlos“; Iles Johnston 2005, 49 f.; Bowden 2005, 19; Sourvinou-Inwood 1987, 224: „The chasm with the vapours is a Hellenistic invention.“ 44 Zur Diskussion Trampedach 2015, 187 mit Lit.; s. auch Graf 2009, 600, der betont, die Dinge seien deutlich komplexer: „nature needs to be translated into culture“. 45 Vgl. z. B. Simon 1985, 137; Maaß 2003, 20 mit Beispielen; vgl. Price 1985, 129. 46 Das Heiligtum befindet sich in 580 m Höhe: Friese 2010, 363. 47 Hymn. Hom. Apoll. 528–530 (Übers. Anton Weiher). 41
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Ist also im Fall Delphis der Ort für die Vermittlung religiösen Wissens wichtig? Durchaus, aber nicht in erster Linie aus geologischen oder landschaftlichen Gründen:48 in Delphi kann man Anteil am Wissen der Götter erhalten, weil Apollon vor langer Zeit entschieden hat, diesen Ort zum Kommunikationsort zu machen. Greifbare Zeugen dieser erfolgreichen Kommunikation sind nicht Dampfwolken aus einem Erdspalt, sondern vor allem die Weihgeschenke, die von erfolgreichen Orakelkonsultationen Zeugnis ablegen.49 Im Lauf der Zeit wächst dem Ort Delphi mit seinem Heiligtum auf diese Weise Bedeutung zu: der Ort erhält durch die Tradition besonderes Gewicht. Entsprechend ist es nicht überraschend, dass sich im Lauf der Antike verschiedene Erzählungen an den Ort anlagern, um ihn unverwechselbar zu machen.50 Dass die moderne Naturwissenschaft nicht müde wird, nach Apollons konkret fassbarem göttlichem Hauch zu suchen, zeigt die Überzeugungskraft, die derartiger Tradition innewohnen kann.
2. Inszenierung und Methoden der Wissensvermittlung 2.1. Zugang zum Götterwissen Wie war der Zugang zum delphischen Götterwissen geregelt? Jeder Privatmann konnte sich grundsätzlich an Delphi wenden – wie Chairephon oder Xenophon51; die Heimatstadt mischte sich hier nicht ein.52 Im Fall staatlicher Angelegenheiten war dies anders:53 In Sparta gab es z. B. eigene Amtsträger, Pythioi genannt und den spartanischen Königen zugeordnet, die die offiziellen Anfragen Spartas übernahmen.54 Im Klassischen Athen konnte in der Volksversammlung per Volksbeschluss entschieden werden, ob das Orakel befragt werden und wie die Gesandtschaft nach Delphi zusammengesetzt sein sollte.55 Zugangsbeschränkungen spielten allerdings auch in Delphi selbst eine Rolle. Dies entsprach der allgemeinen griechischen Üblichkeit: jede Polis konnte für ihre Heiligtümer eigene Regeln aufstellen. Für die Zulassung zu Heiligtümern, d. h. ob auch Fremde oder Sklaven eintreten durften, war der Lokalbrauch aus48 Zu
146.
den faktischen Vorteilen der geographischen Lage Delphis s. Rosenberger 2001, 142–
49 Vgl.
Plutarch, de Pyth. or. 29 p .408 d. als Mittelpunkt der Welt: Plutarch, de def. or. 1–2 p. 410 a. 51 Vgl. unten Anm. 121; Xenophon, an. 3.1,6. 52 Für Beispiele inschriftlich bezeugter Privatanfragen in Delphi, s. Eidinow 2007, 50–53. Für Privatleute gab es allerdings verschiedenste andere Möglichkeiten, Zeichen der Götter zu erhalten, die im Einzelfall weniger aufwendig und kurzfristiger waren: vgl. etwa allgemein Johnston 2008; Flower 2008, 188–190. 53 Vgl. zur Auswahl allgemein Rutherford 2013, 163–615. 54 Herodot, hist. 6.57. 55 Vgl. etwa IG II2 204 Z. 42–44. Martin 2016, 289. 50 S. Delphi
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schlaggebend. Dies galt auch für das Heiligtum von Delphi, welches nicht etwa einsam im Gebirge lag, sondern zu dem die Siedlung Delphi gehörte.56 Die Delpher lebten von ihrem Heiligtum – wie es der Gott prophezeit hatte: in ihren Händen lagen die Organisation des Zugangs und die traditionelle Durchführung und Überwachung des Rituals. Unkontrollierter Zugang zum Heiligtum und damit zum göttlichen Wissen war nicht möglich. Neu ankommende Fragesteller konnten sich durch Einwohner Delphis mit den örtlichen Vorgaben vertraut machen lassen.57 Zugangsbeschränkungen betrafen körperliche Reinheit, Geschlecht und Termin der Orakelbefragung: körperliche Reinheit zählte zu den Grundvoraussetzungen der Kommunikation mit den Göttern. Sollte eine Frau sich persönlich mit einer Frage an Delphi wenden wollen, so standen ihre Chancen möglicherweise schlechter als die von Männern. Zumindest behauptet Plutarch in der Kaiserzeit, Frauen seien grundsätzlich nicht zugelassen.58 Außerdem war Apollon nicht ganzjährig in seinem Heiligtum anzutreffen. Die Winter verbrachte er angeblich beim sagenhaften Volk der Hyperboreer.59 Entsprechend war die Anzahl der Orakeltermine in Delphi vergleichsweise sehr beschränkt: In der Frühzeit sollen Befragungen nur einmal im Jahr im Frühling stattgefunden haben, später war offenbar eine monatliche Befragung die Regel.60 Wer sich also nicht rechtzeitig zum Termin im Heiligtum einfand, musste warten oder unverrichteter Dinge abziehen. Die verschiedenen Fragesteller waren darüber hinaus einer ‚befragungsrechtlichen Hierarchie‘ unterworfen. Das erste Recht nahmen die Delpher für sich selbst in Anspruch; nach ihnen waren die besonders befreundeten Staaten und Einzelne an der Reihe, die das Privileg der Promantie erhalten hatten.61 Ob ein Orakeltermin zeitlich ausgedehnt wurde, bis alle Klienten eine Antwort erhalten hatten, ist unklar.62 Zur Unterstützung mittelloser Klienten fühlten sich die Delpher nicht verpflichtet: zur Verehrung des delphischen Gottes gehörten Opfer und Geschenke, die mittelbar auch der Polis Delphi zugutekamen. Jeder Fragesteller musste in Delphi ein Opfertier kaufen und den Pelanos (einen ‚Opferkuchen‘) erwerben. 56 Diese Siedlung hatte allerdings im Vergleich zu den anderen griechischen Stadtstaaten zu keiner Zeit politisches Eigengewicht, und das war gewollt. Ein religiöser Bund mittelgriechischer Staatswesen, die sogenannte Amphiktyonie, schützte die Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Heiligtums: s. Rosenberger 2001, 145; Burkert 2011, 386; Konstantakopoulou 2015, 276 f. mit Lit. 57 Zu den Proxenoi für die einzelnen Städte: Rutherford 2013, 194 f. 58 Plutarch de E 1–2 p. 385 b–c; s. aber Obsieger 2013, 115 zur Stelle. Frauen blieb natürlich stets die Möglichkeit, einen Mann mit ihrer Anfrage zu betrauen. Auch Price 1985, 134 hält Fragen von Frauen offenbar grundsätzlich für möglich: „always men rather than women“. 59 Plutarch, de Pyth. or. 8 p. 398 a; de E 9 p. 389 a; Pausanias 10.5,7–9. Burkert 2011, 227. 60 Plutarch, qu. Gr. 9 p. 292 f.; Rosenberger 2001, 49; Bowden 2005, 17. 61 Vgl. z. B. Promantie für Skiathos 360 v. Chr.: LSS 41 Z. 5 f.; Promantie für Sparta und Athen: Plutarch, Per. 21.2 f.; vgl. Rutherford 2013, 102. 62 S. Bowden 2005, 17. Immerhin sind Nachrichten von mehreren Pythien überliefert, die in Delphis großer Zeit gleichzeitig im Amt gewesen seien: Plutarch, de def. or. 8 p. 414 b.
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Der Begriff Pelanos konnte im übertragenen Sinne eine bestimmte Geldsumme bedeuten, die als Gebühr für die Orakelbefragung erhoben wurde. Was also kostete das göttliche Wissen? Die einzelnen Städte bezahlten offenbar unterschiedliche Preise, und städtische Gesandtschaften deutlich mehr als private Fragesteller:63 Um 400 v. Chr. betrug die Gebühr für eine Gesandtschaft aus der kleinasiatischen Stadt Phaselis das 11fache dessen, was ein Privatmann aus der gleichen Stadt bezahlen musste. Die Delpher entmutigten also Privatleute nicht, beim Gott anzufragen, und setzten hier deutlich niedrigere Gebühren an als für offizielle Fälle. Es lag aber nicht im Interesse Apollons, arme Leute umsonst zu beraten; das wirtschaftliche Interesse der Delpher war größer als der Wunsch, den Einfluss des Orakels durch möglichst zahlreiche Sprüche zu vergrößern. In diese Richtung weist auch noch eine weitere potentielle Hürde: Vor jeder Befragung fand ein Voropfer statt, das günstig ausfallen musste.64 Wenn es sich als negativ erwies, wurde die Orakelsitzung abgesagt. Wollten Klienten den Zugang trotzdem erzwingen, liefen sie Gefahr, den Zorn des Gottes zu erregen. Erzwungene Befragungen misslingen in den Quellenberichten spektakulär.65 Es ging also in Delphi nicht um Massenproduktion von Orakelsprüchen, sondern Zugangsbeschränkungen erhöhten die Bedeutung der einzelnen Befragung. 2.2. Der unmittelbare Orakelvorgang Wie ist aber die Vermittlung des religiösen Wissens in der Praxis vorzustellen? Die genauen Umstände der Befragung Delphis sind in zahlreichen Punkten unklar und entsprechend umstritten: Grund dafür ist die Lückenhaftigkeit der Quellen, deren Leerstellen unterschiedlich ergänzt worden sind, je nachdem welche Ziele man dem Delphischen Orakel unterstellte.66 Gesichert ist, dass der Fragende in Delphi dem Gott nicht unmittelbar und nicht allein gegenübersteht: Apollon spricht mittels eines Mediums zu den Menschen. Beteiligt an der Vermittlung des besonderen Wissens, das der Gott offenbart, sind zum einen die Pythia und zum anderen männliche Kultfunktionäre und Bürger Delphis.
63 S. LSS 39 Z. 1–5 (= CID 1.8). Vgl. Rosenberger 2001, 51: sieben delphische Drachmen plus zwei Obolen für die offizielle Gesandtschaft, die private Anfrage kostet vier Obolen. S. auch die Gebühren für Skiathos um 360 v. Chr.: LSS 41, in denen ebenfalls die Gebühren für private Anfragen nur einen Bruchteil der Kosten im Falle einer staatlichen Anfrage ausmachen. Hierzu auch Rosenberger 1999, 154 f.; Rutherford 2013, 196. 64 Plutarch, de def. or. 46 p. 435 b–c; sowie 49 p. 437 b; LSS 41 Z.23 f. (CID 1.13) (Skiathos). Rutherford 2013, 196. 65 Plutarch, de def. or. 51 p. 438 b zu einem Beispiel aus dem 2. Jh. n. Chr. S. dazu Rosenberger 2001, 52. 66 Ein besonderes Problem ist die Frage, inwieweit Plutarchs Nachrichten zum Ritual der Kaiserzeit auch für frühere Jahrhunderte Gültigkeit besitzen: vgl. Bowden 2005, 18.
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Über die Organisation der delphischen Priesterschaft und die jeweiligen Funktionen ist kaum etwas bekannt:67 Die Titel ‚Priester‘ (gr. hiereus), prophetes sowie hosios sind als Bezeichnungen für Amtsträger in Delphi bezeugt.68 Diese gehörten sehr wahrscheinlich der Elite delphischer Bürger an. Ihre bürgerlichen Namen sind uns allerdings fast nie bekannt: Berühmte Ausnahme ist der kaiserzeitliche Schriftsteller und Philosoph Plutarch aus Chaironeia in Böotien, der am Ende des 1. Jahrhundert n. Chr. als Fremder (!) Priester in Delphi war und dessen Schriften über das Heiligtum eine Hauptquelle für das Orakel darstellen.69 Die Klienten durften den Apollontempel betreten.70 Im Tempel erwartete sie die Pythia, das weibliche Medium des Apollon. Sie saß auf einem Dreifuß.71 Die Fragenden waren allerdings nicht allein mit der Pythia; sie wurden von einem delphischen Bürger begleitet.72 Die Frage wurde wohl mündlich gestellt, und der Fragende durfte sie offenbar selbst stellen;73 wir hören jedenfalls nichts davon, dass der delphische Begleiter direkt in den Frageprozess eingreifen würde.74 Unklar ist hingegen, ob der Fragende das Medium – die Pythia – sehen konnte.75 Außerdem sehr unterschiedlich beantwortet worden ist die Frage, in welchem Zustand sich die Pythia befand, und wie dieser Zustand herbeigeführt worden war. In den antiken Quellen ist vom enthousiasmos der Pythia die Rede, wobei dieser Begriff eine Art von Begeisterung, von Außer-Sich-Sein bezeichnet.76 An67 Die etwa von Simon 1985, 136 beschworene angebliche „Straffheit der Organisation“ der delphischen Priesterschaft, der griechenlandweit nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen gewesen sei, erschließt sich aus den antiken Quellen nicht. Auch Sourvinou-Inwood (1987, 17), die im homerischen Apollonhymnus „the Delphic priesthood’s theology“ reflektiert sehen wollte, bewegt sich vollständig im Bereich der Spekulation. Ob sich die Priesterschaft über theologische Fragen beriet, ist unbekannt und vor dem Hintergrund der Aufgaben, die Priester ansonsten in Griechenland hatten, eher unwahrscheinlich. Ähnlich auch Price 1985, 143, der betont, die Amtsträger im Heiligtum hätten kein spezielles theologisches „Training“ besessen, sowie Martin 2016, 286, der von griechischen Priestern geführte, theologische Debatten für unwahrscheinlich hält. 68 Vgl. Herodot, hist. 8.36; Euripides, Ion 413–416. Zum Aufgabenbereich der Hosioi in der Kaiserzeit: Plutarch, qu. Gr. 9 p. 292 d; de E 15 p. 391 c mit Rosenberger 2001, 57 und Friese 2010, 363; zur Anzahl der Priester: Bowden 2005, 14 f. Zum Begriff hosios als „religiously correct“, aber gleichzeitig als „non-sacred“, d. h. als Eigentum der Gottheit gebunden: s. Mikalson 2010, 11; vgl. allgemein jetzt auch Peels 2016. 69 Ein gewisser Nikander wird bei Plutarch sowohl als Priester als auch als Prophetes bezeichnet: Plutarch, de E 5 p. 386. 70 Zum Tempel und seiner mythologischen Geschichte: Plutarch, de Pyth or. 17 p. 402; Pausanias 10.5. 71 Zur Pythia: Bowden 2005, 16; Zum Sitzen auf dem Dreifuß s. Burkert 2011, 181; Rosenberger 2001, 52. Vgl. auch Iamblich, de myst. 3.11 p. 127 über die Prophetin in Didyma. 72 Rosenberger 2001, 49; Bowden 2005, 21. 73 Bowden 2005, 21; anders, aber ohne überzeugende Belege Friese 2010, 90. 74 Bowden 2005, 21: „no evidence that he would interfere in the actual consultation itself, and it is clear that states which consulted the oracle regularly would not need such advice.“ 75 Der Klient sieht sie nicht, sondern kann sie bestenfalls hören: Price 1985, 135 f.; die Möglichkeit sie zu sehen und zu hören impliziert bei Maurizio 1995, 84. 76 Pollux, onom. 1,15; s. auch Graf 2009, 592, der die Begriffe kátochos und éntheos benutzt.
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scheinend sprach die Pythia mit veränderter Stimme.77 Ihr Verhalten war aber nicht durch Raserei, fliegende Haare und Schaum vor dem Mund bestimmt.78 Aus Delphi ist ein einziger Fall aus der Kaiserzeit bekannt, in dem genau dieses Szenario aufgebaut wird: der spezielle Fall dient jedoch als warnendes Beispiel und stellt die Ausnahme von der Regel dar. Als nämlich die Pythia trotz ungünstig ausgefallenem Voropfer zur Weissagung gezwungen wird, beginnt sie unverständlich zu röcheln und zu stöhnen und stürmt schließlich rasend aus dem Tempel. Daraufhin ergreifen der Fragesteller sowie der begleitende Prophetes nebst den Hosioi ebenfalls entsetzt die Flucht; die Pythia stirbt wenige Tage später.79 Wie wurde nun der besondere Zustand der Pythia, der sehr wahrscheinlich als eine ruhige Trance vorzustellen ist, herbeigeführt? Für Intoxikation gibt es keine überzeugenden Belege in den Quellen.80 Wenn man nicht von einem groß angelegten Betrugsszenario (an dem die Pythia und das Tempelpersonal beteiligt gewesen wären und das merkwürdigerweise über Jahrhunderte nicht entdeckt worden wäre) ausgehen will, dann erscheint – auch im Vergleich mit anthropologischen Erkenntnissen der Gegenwart – Autosuggestion als einleuchtendste Erklärung für die Herbeiführung des enthousiasmos der Pythia.81 Wenn die Pythia sich in diesem Zustand befand, trat ihre zivile Persönlichkeit völlig zurück, Apollon hatte von ihr Besitz ergriffen.82 Entsprechend wird sie, wie Kai Trampedach betont hat, von den Fragenden mit der männlichen Form „Anax, Herr“ angesprochen.83 Wenn der Gott aus der Pythia spricht, dann geschieht dies nicht in Form von ersticktem Stöhnen oder unverständlichen 77 Bowden 2005, 19: „altered tones“; ähnlich Price 1985, 137; die bei Friese 2010, 91 postulierten „unverständlichen Laute“, werden von ihr in die Quellen hineingetragen. 78 Die moderne Popularität dieser Vorstellung geht wohl auf eine etymologische Behauptung Platons (Phaidr. 244 a–c) zurück, der den Begriff mantike (Seherkunst) mit mania (Wahnsinn) zusammenbringt, hierzu Trampedach 2015, 522; ob das Bild der rasenden Kassandra in Aischylos’ Tragödie Agamemnon hier eine Rolle gespielt hat, ist umstritten: so Bowden 2005, 14, anders Trampedach 2015, 198 f. Zur Besessenheit von Sehern, den Dichtern vergleichbar: Platon apol. 22 c mit Maurizio 1995, 76–79. 79 Plutarch, de def. or. 51 p. 438 b; Plutarch, qu. Gr. 9 p. 292 c–f. 80 Die Pythia badete in der Quelle Kastalia, brachte ein Rauchopfer auf der Hestia im Tempel dar und schüttelte einen Lorbeerzweig: Plutarch, de Pyth. or. 6 p. 397 a; s. auch Burkert 2011, 181. 81 Vgl. Johnston 2008, 49: zur Bedeutung von äußeren Umständen, z. B. Anblick eines bestimmten Gegenstands als Trigger für die Auslösung eines bestimmten psychischen Zustandes. Die „Bedeutung der Ritualumgebung“ hebt auch Friese 2010, 91 hervor. S. weiterhin Graf 2009, 601; Trampedach 2015, 205 f. 82 Plutarch, de Pyth. or. 8 p. 398 a; de Pyth. or. 21 p. 404 e; 22 p. 405 c. Christliche Quellen schreiben diesem Bild nicht überraschend eine sexuelle Komponente zu: s. etwa Origenes, Cels. 7.3. Anders Graf 2009, 593, der zwischen den Möglichkeiten des ‚Body Snatcher‘-Schemas oder eines ‚Control‘-Schemas unterscheidet, und die Pythia als vom Gott kontrolliertes, aber nicht besessenes Medium zeichnet. Ein solches Medium ändert sein normales Aussehen nicht, seine Körperlichkeit kann aber die Botschaft behindern. 83 Z. B. Herodot, hist. 4.150,3; vgl. Trampedach 2015, 186 mit weiteren Beispielen.
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Lauten. Der Fragesteller kann die Antwort selbst hören, und offenbar ist sie ihm einigermaßen verständlich.84 Dass ein Priester die Antwort erst „übersetzen“ müsste, findet sich jedenfalls in keiner Quelle.85 Bezeichnenderweise hören wir, dass man in den seltenen bezeugten Fällen von Bestechung des Orakels versucht hat, die Pythia persönlich zu bestechen: dahinter steht die Annahme, dass es auf ihr Wort ankam.86 Eine lange Debatte, angeführt vom kaiserzeitlichen Autor Plutarch hat sich an der Frage entzündet, ob und wenn ja wann die Pythia ihre Antwort jemals in Versen gegeben hat.87 Vermutlich war nicht für jede Antwort ein originelles Versgedicht nötig. Neben reinen Sprechantworten ist auch das Los‑ oder Bohnenorakel in Delphi als Methode der Wissensvermittlung bekannt: Inschriftlich ist bezeugt, dass diese Methode die gleichen Gebühren kostete wie ein Spruch.88 Ein bekanntes Beispiel für ein der Pythia zugeschriebenes Losorakel ist in der aristotelischen Athenaion Politeia überliefert: Im späten 6. Jahrhundert (508/7) wurde die Pythia von einer athenischen Gesandtschaft aufgefordert, aus 100 vorgelegten Namen 10 auszuwählen: sie nahm wohl 10 Namenslose aus einem Gefäß.89 Ein Spruch in Hexametern war hierbei nicht notwendig, aber wahrscheinlich erfolgte auch der Umgang mit den Losen in feierlichem Rahmen. Ein zweites Beispiel aus dem klassischen Athen macht die konkreten Einzelheiten einer Anfrage in Delphi deutlich. Sie sind im Rahmen eines Volksbeschlusses aus dem Jahr 352 v. Chr. inschriftlich festgehalten worden.90 Nachdem in der athenischen Volksversammlung diskutiert und entschieden worden ist, dass in Delphi angefragt werden soll, verfährt man folgendermaßen: Zwei mögliche Antworten werden öffentlich auf Zinntäfelchen geschrieben, diese Täfelchen verschlossen und nach dem Zufallsprinzip in einem goldenen und einem silbernen Gefäß deponiert. Die Gefäße werden versiegelt (und jeder einzelne Bürger ist ausdrücklich aufgefordert sein persönliches Siegel auf das Gefäß zu drücken). Dann werden die Gefäße auf der Athener Akropolis deponiert. Die Volksver Parker 2011, 18. 1995, 79; Price 1985, 142; Rosenberger 2001, 55; Bowden 2005, 22. 86 Price 1985, 142; Maurizio 1995, 72. 84; anders, aber nicht überzeugend, Rosenberger 2001, 57. 87 Vgl. Plutarch, de Pyth. or. 25.407. Burkert 2011, 181; Maurizio 1997, 312–314; hierzu jüngst Trampedach 2015, 206–212. 88 S. oben Anm. 63 die delphische Inschrift für Skiathos 360 v. Chr.: LSS 41 Z. 15–19. Ein literarisch überliefertes Beispiel für ein delphisches Bohnen-oder Losorakel aus mythischer Zeit bei Plutarch, de fratr. 21 p. 492 a–b. S. auch Rosenberger 2001, 51; Burkert 2011, 182. Skeptisch zum Bohnenorakel als Divinationsmethode der Pythia: Rutherford 2013, 197, der einen Bohnenentscheid in anderem Kontext für möglich hält, um etwa die Reihenfolge der Klienten zu bestimmen. 89 Aristoteles, Ath. pol. 21.6. Bowden 2005, 99 mit Diskussion zur Historizität; Parker 1996, 118. 90 IG II2 204 = Rhodes / Osborne 2003, Nr. 58; eine englische Übersetzung der Inschrift sowie ausführlicher Kommentar bei Bowden 2005, 88–95. 84
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sammlung autorisiert drei Gesandte, die nach Delphi geschickt werden. Die Frage an die Pythia lautet, ob es für die Athener besser sei zu handeln wie im goldenen oder wie im silbernen Gefäß festgehalten. Nach Rückkehr der Gesandten wird die Antwort zuerst der Volksversammlung vorgelegt, dann sieht man vor aller Augen im betreffenden Gefäß nach. Dieses Verfahren scheint kein Sonderfall gewesen zu sein, der Fall ist auch aus literarischen Quellen bekannt, die nicht auf eine Besonderheit der Prozedur hinweisen.91 Ob die Gesandten einen Spruch in Prosa oder in Versen nach Hause brachten, ist unbekannt: dass jedenfalls für die Antwort auf eine derartige Frage ein sehr einfacher Vers genügte, den die Pythia wohl problemlos selbst produzieren konnte, ist gut vorstellbar.92 Offenbar waren also bereits in klassischer Zeit verschiedene Methoden der Anfrage wie auch Formen der Antwort bekannt. Göttliches Wissen konnte in Delphi durch sprachliche Botschaften und durch Lose, in Prosa und durch Verse vermittelt werden. Wichtig hierbei scheint die Tatsache, dass jeder Fragesteller eine persönliche Antwort Apollons für sein Problem erhält: Delphi ist ein Ort spontaner und aktueller religiöser Wissensproduktion, die Orakelmethoden sind geprägt von rituell geleiteter Spontaneität. Delphische Antworten basieren nicht auf schriftlich niedergelegtem und systematisiertem Wissen, aus dem vor Ort Analogentscheidungen abgeleitet würden. 2.3. Speicherung des göttlichen Wissens: Schriftlichkeit? Unklar ist allerdings, wie mit den Antworten umgegangen wird, nachdem die Pythia sie ausgesprochen hat. Dass ‚Priester‘ die Antworten nachträglich umformuliert hätten, erweist sich als von den Quellen nicht gestützte Spekulation der Neuzeit.93 Heftig umstritten ist die Frage, inwieweit Schriftlichkeit bei delphischen Orakelsprüchen eine Rolle spielt. Wichtig erscheint in diesem Kontext, dass das Orakel von Delphi bereits in Zeiten tätig war, in denen die Schrift soeben erst aufgekommen war. Möglicherweise verblieben also frühe Sprüche erst einmal in mündlicher Form. In diesem Fall ist gut vorstellbar, dass sie im Versmaß gehalten waren, stellt Versmaß doch, wie Veit Rosenberger formuliert hat, die „kontrollierteste Form von Mündlichkeit“ dar.94 Für die Zeit der Perserkriege (also im frühen 5. Jahrhundert) überliefert Herodot, die athenischen Gesandten hätten ihren Spruch aufgeschrieben.95 Der erwähnte athenische Volksbeschluss von 352 91 Philochorus FGrHist 328 F 155; Androtion FGrHist 324 F 30. Die Charakterisierung des Falls als „unusual“ durch Martin 2016, 283 ist nicht überzeugend. Ungewöhnlich ist nicht die Vorgehensweise, sondern eher die Tatsache, dass der Fall durch den Zufall der Überlieferung auf uns gekommen ist. 92 Die Pythia als Urheberin von Orakeln in Versform: Trampedach 2015, 211. 93 S. oben Anm. 85; Maurizio 1995, 86; Trampedach 2015, 187. 94 Rosenberger 2001, 174. 95 Herodot, hist. 7.142; Rosenberger 2001, 84; Martin 2016, 289.
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legt schließlich fest, die Orakelantwort solle dem Volk vorgelesen werden.96 Im 4. Jahrhundert v. Chr. können schließlich die Herausgeber von attischen Reden wörtlich aus Orakelsprüchen der berühmten Orakelstätten zitieren, die ihnen offenbar zugänglich sind.97 Mit fortschreitender Verbreitung der Schriftlichkeit ist also anzunehmen, dass v. a. Gesandte in offizieller Mission die in Delphi erhaltene Antwort aufschrieben und ihren Auftraggebern vorlegten.98 Die Empfängerorte bewahrten die Sprüche angesichts ihrer offiziellen Bedeutung vermutlich auf.99 In welcher Form und an welchem Ort dies geschah, ist allerdings meist nicht genau bekannt.100 Völlig unklar bleibt, ob es ein Archiv von Anfragen und Antworten in Delphi selbst gegeben hat, das als dauerhafter Speicher für göttliches Wissen hätte dienen können: darüber schweigen die Quellen.101 Da allerdings die Priester eines Heiligtums in griechischen Poleis stets über dessen Finanzen Rechenschaft ablegen mussten, ist eigentlich davon auszugehen, dass zumindest Listen über die Einnahmen aus dem Pelanos geführt worden sind. Man könnte also für Delphi zunächst wohl Abrechnungsunterlagen annehmen, in denen Jahr für Jahr aufgeführt worden wäre, wer zu welchem Tarif angefragt hatte.102 In späten Quellen, d. h. seit dem 1. Jahrhundert v. Chr., sind außerdem „Dichter“ am Heiligtum bezeugt, die Orakel in Verse gebracht hätten.103 Warum und für wen sie das taten, ist unklar und umstritten: ob als Serviceleistung für Klienten, die einen eindrucksvolleren Spruch nach Hause bringen wollten, der etwa den Sprüchen ähneln sollte, die sie beim Historiker Herodot gelesen hatten104, oder ob die „Dichter“ im Auftrag der Delpher agierten, die mit nachträglich dichterisch gestalteten Sprüchen das Renommee ihres Heiligtums anheben wollten, um mit frei flottierenden Orakelsammlungen mithalten zu können.105 Unklar ist 96 IG
II2 204, Z. 48.
97 S. Demosthenes,
or. 21.52–54, der in der Rede gegen Meidias ein Orakel aus Dodona zitiert. 98 Rosenberger 2001, 172. 99 Thomas 1992, 136 mit Herodot, hist. 6.57,4: in Sparta wurden die Sprüche aus Delphi durch die Könige aufbewahrt. 100 So auch jüngst Trampedach 2015, 100. 240. Trampedach nimmt außerdem an (ebd. 249), erhaltene Sprüche seien vor allem an den Empfängerorten (auch mündlich) überliefert worden und möglicherweise zum (späteren) Zeitpunkt ihrer schriftlichen Niederlegung inhaltlich angepasst worden. 101 So auch Trampedach 2015, 242 f. 102 Seit dem 4. Jh. ist für Delphi ein mobiles Behältnis mit Dokumenten bezeugt, die sich auf den Wiederaufbau des Tempels bezogen: Thomas 1992, 143. Nach Trampedach 2015, 243 sei dies lediglich eine Kiste für Rechnungen und Quittungen gewesen. Aufbewahrte Abrechnungen von Einnahmen aus dem Orakelbetrieb wären allerdings in diesem Kontext ebenfalls denkbar. 103 Strabon, geogr. 9,3.5. Plutarch, de Pyth. or. 25 p. 407 b. Dass der Prophetes die Sprüche für die Klienten aufgeschrieben hätte (so Price 1985, 134), ist für Delphi nicht bezeugt. 104 Vgl. etwa Rosenberger 2001, 173 zum Orakel von Klaros, das Versorakel in offiziellen Fällen, Prosaorakel bei Privatleuten vergab. 105 Vgl. Bowden 2005, 36.
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außerdem, ob solche Dichter – nicht Priester – , die den Wortlaut von Orakelsprüchen veränderten, bereits für frühere Zeiten anzunehmen sind.106 Die Quellen geben diesbezüglich keine Auskunft. Systematisch zusammengestellte delphische Orakel, die als Sammlung verbreitet und nutzbar gewesen wären wie die kursierenden Sammlungen, die man mythischen Sehern wie Bakis oder Musaios zuschrieb,107 sind nicht bekannt.108 Das Interesse der Delpher lag offenbar nicht in der flächendeckenden Verbreitung der Sprüche ihres Apollon: Sie wollten erreichen, dass die Klienten sich zu ihrem Heiligtum aufmachten und Apollon als Quelle aktuellen Wissens direkt befragten. Delphisches Götterwissen zum Nachschlagen hätte diesem Interesse kaum gedient.
3. Inhalte göttlichen Wissens 3.1. Verbotene Fragen? An welcher Art von göttlichem Wissen ließ der delphische Apollon die Griechen nun teilhaben? Handelte es sich um Zukunftswissen, theologisches Wissen, ethisches Wissen oder um politisches Wissen? Einmal mehr ist der Befund schwierig: insgesamt und vor allem literarisch sind über 600 Anfragen und Antworten überliefert.109 Unmittelbare Quellen aus Delphi selbst gibt es jedoch nicht: nur eine Inschrift aus Delphi überliefert einen Orakelspruch, und dieser bezieht sich auf eine Anfrage aus mythischer Zeit. Klient soll der griechische Anführer vor Troja, Agamemnon, gewesen sein; die Inschrift stammt erst aus hellenistischer Zeit.110 Was also fragte man Apollon, und was fragte man ihn besser nicht? Theoretisch war der Fragende frei, jegliche Frage zu stellen, aber das Herkommen ist auch im Bereich des Orakelwissens wirksam: Wer gegen die Regel fragt, muss die Folgen tragen. Dies vermittelte z. B. der Dichter Euripides dem athenischen Publikum in seiner Tragödie Ion:111 Man solle nicht fragen, was dem Gott zuwider sei oder was der Gott nicht verraten wolle. Nur Informationen, die die Götter willig gäben, führten zum glücklichen Ende. Welche Fragen aber waren dem delphischen Gott zuwider? Herodot überliefert das berühmte Beispiel vom Spartaner Glaukos: Dieser fragte an, ob er anver106 Der archaische Dichter Theognis warnt davor, den Wortlaut eines Orakelspruchs zu verändern: Theognis 805–810 mit Trampedach 2015, 248, Anm. 98. 107 Bakis und Musaios: z. B. Herodot, hist. 8.96; Plutarch, de Pyth. or. 10.p 399 a; zur Historizität dieser Figuren: Burkert 2011: 183. 108 Maurizio 2013, 65; Trampedach 2015, 235: delphische Sprüche seien nur gelegentlich in die Sammlungen der Chresmologen aufgenommen worden. 109 Rosenberger 2001, 181; Zusammenstellungen bei Parke / Wormell 1956; Fontenrose 1978. 110 Zur Agamemnon-Inschrift: Scheer 1993, 132 f. mit Lit.; Trampedach 2015, 243 Anm. 72. 111 Euripides, Ion 373–380.
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trautes Geld denn wirklich zurückzahlen oder nicht doch lieber einen Meineid schwören solle?112 Die Antwort des Gottes war eindeutig: schon der Gedanke an Meineid zieht Strafe nach sich; wer den Gott mit einer derartigen Frage versucht, handelt, so beschied die Pythia den Glaukos, als habe er die Tat bereits vollbracht. Trotz Rückzahlung des Geldes kommt die Strafe: das Geschlecht des Glaukos stirbt aus. Wer also durch seine Anfrage allgemein gültige und von den Göttern geschützte Regeln der griechischen Gesellschaft in Frage stellt, erregt den Zorn des befragten Gottes. Verpflichtungen wie Eid, Gastfreundschaft, das Recht der Schutzflehenden kann man nicht vom Gott aufheben lassen.113 Unangemessen sind auch Fragen, um das Wissen des Gottes auf die Probe zu stellen: hierzu gehört der „Orakeltest des Kroisos“,114 aber in gewisser Weise fällt bereits die angebliche Frage Chairephons über Sokrates aus dem Rahmen: ob nämlich Sokrates der weiseste aller Menschen sei?115 Auch diese Frage verrät in ihrem Ehrgeiz eine gewisse Hybris: sie wird nur dadurch einigermaßen verzeihlich, weil Sokrates die Frage nicht selbst stellt, sondern einer seiner Jünger. Bezeichnend erscheint sodann, dass Sokrates sich im Kontext seiner Verteidigungsrede, wenn die Rede auf die Antwort des Gottes kommt, sich angeblich gar nicht erklären kann, was der Gott damit gemeint haben könnte, und demonstrativ bescheiden eine andere Antwort hinter der vordergründigen Bedeutung sucht.116 Inhaltlich solle man – so meint Xenophon – nur das fragen, was die Menschen nicht aufgrund eigener Erfahrung oder Anstrengung klären können.117 In der Kaiserzeit kritisiert Plutarch unangemessene Fragen: in der Gegenwart werde der delphische Apollon mit Privatfragen über Unwichtiges belästigt:118 Plutarch als delphischer Priester möchte sich offenbar gern vorstellen, dass Delphi in früheren Jahrhunderten nur in politischen Kapitalfragen um sein Wissen angegangen worden ist.119 Es gilt also, auf die richtige Art und Weise zu fragen und die gebührende Demut gegenüber den Göttern zu demonstrieren. Garantien gibt es trotzdem nicht: auch reiche Gaben an den Gott machen diesen einer falschen Frage und dem Fragenden nicht geneigt. Diese Vorstellung legt bereits der frühe Dichter des homerischen Hymnos an Hermes dem Apollon selbst in den Mund: Wer 112 Herodot,
hist. 6.86. auch Trampedach 2015, 412 f.; Parker 2000, 78. 114 Herodot, hist. 1.46 f.; Plutarch, de def. or. 7 p. 413 a; s. auch Price 1985, 152; Maurizio 2013, 66; Kindt 2016 a, 94–96. 115 S. oben Anm. 1; Platon Apol. 20 e; vgl. auch die Kritik an der Frage bei Plutarch, adv. Col. 16 f. p. 1116 e–f und bei Athenaios, deipn. 5.60 (218 e–219 a). 116 Ähnlich auch Trampedach 2015, 465: „demonstrativer Bescheidenheitsgestus gegenüber den Göttern“; Morgan 2009, 559–560. 117 Vgl. z. B. Xenophon mem. 1.1,6–8; Polyb. 36.17.6; Eidinow 2007, 43. 118 Plutarch, Pyth. Or. 25 f. p. 407 b–d; s. hierzu auch Scheer 2001 a, 76. 119 Bowdens (2005, 17) Vermutung, in klassischer Zeit wären womöglich tatsächlich kaum Privatfragen an Delphi herangetragen worden, lässt sich am Befund nicht konkret erhärten; s. Eidinow 2007, 50–53. 113 Hierzu
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ohne klare Einsicht versuche, sein Orakel zu befragen, so spricht der Gott, der gehe den Weg nutzlos: „seine Gaben freilich empfang ich.“120 3.2. Richtig fragen Welche Fragen an den delphischen Apollon erschienen im Gegensatz dazu angemessen? Auch hier ist Xenophon ein wichtiger Zeuge in eigener Sache: vor seiner Anabasis, bevor er sich also als Söldnerführer dem persischen Kronprätendenten Kyros anschloss, fragte er in Delphi an und berichtete selbst darüber:121 Dort befragte also Xenophon Apollon, welchem der Götter er opfern und zu welchem er beten müsse, um die Reise ehrenvoll und glücklich zu vollenden und nach erfolgreichem Gelingen heil zurückzukehren. Und Apollon offenbarte ihm die Götter, denen er opfern sollte.
Die Frage, die Xenophon stellt, lautet also ganz allgemein: Welchen Göttern muss ich opfern, damit ein bestimmtes Anliegen günstig verläuft? Ebenso einfach hat man sich die Antwort des Orakels vorzustellen: Apollon nennt dem Fragenden die Götter, die er durch Opfer günstig stimmen soll. Als Xenophon dem Sokrates jedoch von seiner Anfrage berichtet, ist diesem die Frage immer noch zu spezifisch: Sokrates, so berichtet Xenophon, habe ihn getadelt „weil er nämlich nicht zuerst danach gefragt habe, ob es für ihn besser sei zu reisen oder zu bleiben, sondern sich selbst für die Reise entschieden und dann nur gefragt habe, wie er am günstigsten die Reise beginnen solle.“ Fragt man nach der Art des Wissens, das in Delphi vermittelt wurde, so sind diese beiden Arten zu fragen, sehr aufschlussreich. Anfragen in Delphi muss man sich wohl überwiegend nach diesem Prinzip vorstellen:122 Wem sollen wir opfern, damit unsere Pläne zum Guten ausgehen? Welche von zwei vorgelegten Entscheidungen ist die bessere? Ob man dies oder jenes tun solle?123 Diese Frageform erschließt ein breites Spektrum von Problemen, für die man göttlichen Ratschlags bedarf. Griechische Poleis fragen in aktuellen unerklärlichen Notlagen an: bei Dürre und Missernte, Seuchen124 oder unerklärlich gehäuften Fehlgeburten gilt es zu erfahren, welchen Gott man beleidigt hat und wem man opfern soll, um ein Ende der Plage zu erreichen.125 Ein anderer Bereich betrifft kultische Fragen, das religiöse Ritual und die Heiligtümer. Wenn man Änderungen vom Herkommen vornehmen möchte, kann man anfragen: ob die Neuorganisation eines Kultes der Stadt zum Heil ausschlagen wird oder etwa ob 120 Hom.
Hym. Herm. 541–549. an. 3.1.5–8; Parke / Wormell 1956 Bd. 2, Nr. 80. 122 Vgl. Plutarch, de Pyth or. 27 f. p. 408 b–c. Eidinow 2007, 48. 123 Vgl. Plutarch, de E 5 p. 386 c; Maurizio 1995, 86 zieht eine Umformung der Fragen in dieses Schema durch den Priester in Erwägung. 124 Zur Anfrage Athens 596/95 wegen einer Seuche: Plutarch, de def. or. 46 p. 435 b. 125 Burkert 2011, 228. 121 Xenophon,
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der Gott erlaubt bei feindlicher Bedrohung die normalerweise unantastbaren Weihgeschenke aus den Heiligtümern zu evakuieren.126 Auch politische Fragen spielen eine Rolle: Soll man eine Kolonie ausschicken oder nicht?127 Ist es besser auszuwandern oder nicht? Ist die neue Verfassung gottgefällig oder nicht? Angeblich ist etwa die spartanische Verfassung von Delphi bestätigt worden.128 Auch „religiöse Anteile einer Verfassung“ können vom Gott bestätigt oder mitentschieden werden. Ein solches Beispiel ist bereits erwähnt worden: Anlässlich der politischen Reformen des Kleisthenes in Athen 508/7 heißt es, die Pythia habe aus 100 Namenslosen die 10 namengebenden Heroen für die neue Phylenstruktur Attikas ausgewählt.129 Auch die Frage, ob man in den Krieg ziehen soll oder nicht, kann eine Rolle spielen.130 Allerdings ist eine Anfrage in Delphi nicht für sehr kurzfristig auftretende Probleme geeignet, z. B. wenn der Feind schon an der Grenze steht. In diesen Fällen greift man auf andere Formen der Divination zurück.131 Zu welcher Art von Fragen zählte nun die erwähnte Anfrage der Athener im Jahr 352: Was stand auf den Zinntäfelchen, die man in einem goldenen und einem silbernen Gefäß auf der Akropolis deponiert hatte und über die die Pythia entscheiden sollte? Der überlieferte Volksbeschluss von 352 gibt die Antwort. Man erbat sich eine Entscheidung des Gottes zwischen zwei vorgelegten Alternativen: „ob es besser und profitabler sei für das Volk von Athen, die heilige Flur […] zu verpachten […] um (mit dem Ertrag) das Heiligtum der Zwei Göttinnen zu renovieren“ oder „ob es besser und profitabler sei für das Volk von Athen […] die heilige Flur brachliegen zu lassen für die zwei Göttinnen“.132 Die Pythia wählte den Krug mit der Antwort, es sei besser die heilige Flur von Eleusis brach liegen zu lassen.133 Es ging also um ein Problem aus dem kultischen Bereich, bei dem die Pythia noch nicht einmal mit der eigentlichen Frage vertraut gemacht wurde. Sie hatte lediglich zwischen zwei Optionen zu entscheiden, und hierzu bedurfte sie weder besonderer politischer Hintergrundinformation, noch übernatürlichen Zukunftswissens.
126 Kultreformen: vgl. Fontenrose 1978, 438; Trampedach 2015, 446 mit Beispielen. Evakuierung von Weihgeschenken: Herodot, hist. 8.36; Scheer 2000, 211–213. 127 Malkin 1989, 132–135; Parker 2000, 85. 128 Verfassung Spartas: Tyrtaios Fr. 4 West = Plutarch, Lyk. 6; Herodot, hist. 1.65; vgl. Plutarch, de Pyth. or. 19 p. 403 d; Plutarch, adv. Col. 17 p. 357 d. Malkin 1989, 137 f. 129 Vgl. oben Anm. 89; Aristoteles, Ath. pol. 21.6. 130 Vgl. z. B. Thukydides 1.118. 131 Flower 2008, 153–187. 132 IG II2 204: Z. 24–30. 133 Philochorus FGrHist 328 F 155; Androtion FGrHist 324 F 30.
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4. Resümee: Delphi als Vermittler religiösen Wissens Wie also wirkte das Orakel von Delphi als Vermittler religiösen Wissens im klassischen Griechenland? Der delphische Apollon lässt die, die ihn befragen, am Wissen der Götter teilhaben. Dieses Wissen geht über menschliches Wissen hinaus, es wäre den Menschen nicht aus eigener Kraft zugänglich. Die Inhalte dieses Wissens betreffen jedoch nicht elaborierte Zukunftsschau: Apollon präsentiert sich nicht als Hellseher, sondern er gibt Anweisung, wie man sich entscheiden soll oder welchen Gott man versöhnen soll, damit die Zukunft eine möglichst positive sein kann. Wie verhält es sich mit der oft implizierten „politischen Macht“ des delphischen Orakels? Der delphische Gott hat Anteil an der Politik der griechischen Städte, aber seine Antworten enthalten keine detaillierten Anweisungen, wie man politisch handeln soll. Man erwartet nicht vom delphischen Apollon, dass er selbst ein elaboriertes Konzept einer Verfassung entwickelt und dieses den Fragenden als heiligen (und verbindlichen) Text präsentiert, sondern dass er entweder zwischen zwei Optionen entscheidet oder Vorgelegtes als gottgefällig bestätigt.134 Man geht auch nicht nach Delphi, um sich Gesetze geben zu lassen: Apollon schreibt keine Gesetzesordnungen.135 Sein Ratschlag auf die Frage ‚ist es besser dieses oder jenes zu tun‘ kann jedoch lauten: es ist besser, einen Gesetzgeber, Schlichter oder Schiedsrichter von auswärts in die Stadt zu holen.136 Apollon kann stabilisierende Entscheidungshilfe bei intern umstrittenen Beschlüssen leisten, indem er diesen zusätzliche Autorität verleiht. Schließlich erscheint es wichtig zu betonen: Delphi greift nicht aktiv in die inneren Angelegenheiten der Städte ein, sondern reagiert auf Anfragen.137 Die Frage, ob Delphi in Griechenland die politische graue Eminenz im Hintergrund gewesen ist, erledigt sich dadurch eigentlich von selbst. Delphisches Götterwissen wird nur auf Anfrage im und für den Einzelfall vermittelt:138 Das Orakel mischt sich nicht aus eigenem Antrieb in die Angelegenheiten Griechenlands ein; ein eigenständiges langfristiges politisches Konzept, nach dem es handeln oder Auskunft geben würde, wird nicht sichtbar.139 Nicht zuletzt auch bedingt durch die formale Art und Weise zu fragen waren die eigenständigen politischen Handlungsoptionen der Pythia und 134 Zur Funktion Delphis für die Bekräftigung der Autorität eines Oikisten bei Koloniegründungen: Malkin 1989, 133. 135 Gesetzgebung als ein Bereich, in dem die Befragung von Orakeln nicht üblich war: Parker 2000, 90 f. 136 Vgl. Herodot 4.161. 137 S. auch Trampedach 2015, 219; Martin 2016, 291. 138 Im Ausnahmefall kann man allerdings auch eine Antwort erhalten, die überhaupt nichts mit der eigentlichen Frage zu tun hat: s. Herodot 4.150–156 (Battos); s. auch zu spontanen Äußerungen des Orakels Trampedach 2015, 557. 139 Price 1985, 142 f.; Martin 2016, 291.
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mehr noch der vielbeschworenen delphischen Priesterschaft, über deren Funktion und Handeln die Quellen weitgehend schweigen, beschränkt. Ist ‚Delphi‘ als Vermittler religiösen Wissens dann wenigstens die religiöse Zentrale Griechenlands gewesen und war seine Auskunft als göttliches Offenbarungswissen der Weisheit letzter und verbindlicher Schluss? Delphi, um es pointiert zu formulieren, war nicht der griechische Vatikan, weder als Zentrale religiöser Organisation noch allgemein verbindlicher Autorität: es ist kein Ort, an dem theologische Fragen letztgültig entschieden werden. Man fragt nicht in Delphi an, um herauszufinden, wer der mächtigste Gott im Pantheon ist, noch lässt man sich dort philosophische oder mythologische Traditionen als wahr oder falsch bestätigen.140 Delphi liefert keine allgemeingültigen ethischen Programme und es ist auch kein Ort eigenständiger philosophischer Erkenntnis.141 Delphi ist darüber hinaus auch keine Institution, die aus eigenem Antrieb die Verfolgung oder Bestrafung von religiösen Abweichlern betrieben hätte. Seine Weisungen im Bereich der Religion betreffen vor allem die Ausführung der richtigen kultischen Rituale im Einzelfall: sie helfen, die Götter zu versöhnen oder günstig zu stimmen. Hierbei entsteht nicht der Eindruck, dass von Delphi aus eine besondere „Apollonreligion“ hätte durchgesetzt werden sollen. Allgemeine Zeichen über den Götterwillen hätten die Griechen eigentlich auch in den heimischen Polisheiligtümern erhalten können. Es gab aber offenbar spezielle Fragen, die man lieber nach außen, an eine neutrale Instanz verlagerte. Delphi war eine Institution, die im komplizierten Beziehungsgeflecht der zahlreichen selbstständigen griechischen Poleis mit all ihren inneren und äußeren Konflikten auf Anfrage aktuelles und fallbezogenes religiöses Wissen in Form göttlicher Ratschläge vermitteln konnte. Dies funktionierte in archaischer und klassischer Zeit, weil man das Orakel als neutrale Instanz sah, die nicht offenkundig in Eigeninteresse handelte und für die man keine Instrumentalisierung durch einzelne begehrliche Stadtstaaten zuließ.142 Das religiöse Wissen Delphis wurde ernst genommen: Wir hören nicht davon, dass eine Antwort Delphis, die durch eine offizielle Gesandtschaft eingeholt wurde, ausdrücklich abgelehnt worden wäre.143 Aber andererseits war die Autorität Delphis auch nicht so geartet, dass etwa ein Einzelner sie nutzen konnte, um die Institutionen seiner Heimatstadt zu übergehen. Und dies führt zurück zu Sokrates, mit dem dieser Blick auf das religiöse Wissen in Delphi begonnen hat: Chairephon sollte angefragt haben, „ob Sokrates der weiseste unter den 140 Vgl.
Plutarch, de def. or. 2 p. 410 a. 2015, 396 hebt die Funktion Delphis und der Orakel allgemein zum Problem der Kontingenz hervor: Orakelsprüche (besonders wenn sie ex eventu erzählt wurden) hätten das Gefühl vermittelt, man sei nicht dem blinden Zufall ausgeliefert, sondern hinter unerklärlichem Geschehen verberge sich immerhin ein Sinn oder Götterwillen. 142 Vgl. Thukydides 5.18. 143 So auch Parker 2000, 76. Man konnte allerdings versuchen, eventuell unwillkommene Ratschläge des Gottes zu umgehen: vgl. Price 1985, 150–51 mit Beispielen. S. auch Herodot 5.89,2. 141 Trampedach
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Menschen sei oder nicht.“144 Möglicherweise versuchten Sokrates’ Schüler mit dieser Behauptung, das Bild von der Frömmigkeit ihres Meisters für die Mitwelt und seine Autorität für die Nachwelt zu bekräftigen. Interessant aber ist – unabhängig von der Historizität der Befragung – ein anderer Punkt: Die Geschichte vom Spruch des Apollon über Sokrates konnte als grundsätzlich plausibel vermittelt werden, obwohl doch Sokrates von einem athenischen Bürgergericht verurteilt worden war. Und dies zeigt die Grenzen der Vermittlung und Durchsetzung delphischen Wissens auf: Vor einem athenischen Bürgergericht konnte man sich nicht auf einen privat ergangenen Spruch Apollons berufen, um sich der Gerichtsbarkeit der Polis zu entziehen oder deren Gesetze umzustürzen. Sokrates wurde verurteilt. Ein athenisches Gericht war weder an Weisheit und Wissen noch an eine Weisung Delphis gebunden, schon gar nicht, wenn es nicht um sie gebeten hatte.
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oben Anm. 1; Platon apol. 20 e.
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Religiöse Bildung in der Hebräischen Bibel und in den Texten vom Toten Meer Eine Gedenkrede zu den Novemberpogromen von 1938* Reinhard G. Kratz 1. Neunter November und Neunter Av Der Beitrag über Religiöse Bildung in der Hebräischen Bibel und in den Texten vom Toten Meer im Rahmen der Ringvorlesung des Sonderforschungsbereichs Bildung und Religion fiel – mehr zufällig – auf einen 9. November. Es lag nahe, das Thema der Ringvorlesung mit dem geschichtsträchtigen Datum zu verbinden, woraus diese Gedenkrede entstanden ist. Ich möchte sie mit einem eindrücklichen, da authentischen und zugleich reflektierten Zeitzeugenbericht eröffnen: Ich wurde 1921 in Göttingen geboren und verlebte somit meine Jugend im „Dritten Reich“. Ich war Mitglied des Jungvolks wie auch der Hitlerjugend. Später war ich viereinhalb Jahre Soldat und geriet nach dem Krieg für zwei Jahre in sowjetische Gefangenschaft. Am 31. Januar 1933 ergriff Hitler die Macht in Deutschland. Kurz darauf, am 1. April 1933, fand der erste Boykott jüdischer Geschäfte statt. Damals war ich elf Jahre alt. Sowohl in den Tagen davor als auch danach wurden in der hiesigen Zeitung und im Radio die Juden für alles Mögliche beschuldigt. Ich selbst war damals nicht in der Stadt, aber ich sah die Photos in den Zeitungen: Vor den jüdischen Geschäften standen SA-Männer, die den Eingang bewachten. Nur wenige Menschen hatten die Zivilcourage, trotzdem als Kunden die Geschäfte zu betreten. 1935 kamen die Nürnberger Gesetze, danach wurde es zunächst etwas ruhiger. Das von höchster Stelle verordnete Pogrom folgte in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Damit war die nächste Stufe der Judenverfolgung eingeleitet. Ich war damals Lehrling bei Ruhstrat in der Langen Geismarstraße. Viele Lehrlinge kamen zur Arbeit mit Bus und Bahn und sahen unterwegs die Verwüstungen der jüdischen Geschäfte. Die Lehrlinge erzählten von eingeschlagenen Fenstern und von der abgebrannten Synagoge. Ich hatte damals eine Stunde Mittagspause. Da fuhr ich normalerweise mit dem Fahrrad zum Essen nach Hause. Am 10. November jedoch fuhr ich zur Synagoge. Ich sah, dass es gebrannt hatte: Die Mauern waren eingerissen, Mauerwerk lag auf der Straße. * Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt B 01 „Schriftauslegung in den Texten vom Toten Meer (Qumran)“.
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Außerdem lagen viele beschriebene Zettel herum. Sie waren mit einer mir unbekannten Schrift beschrieben, ich denke heute, das war Hebräisch. Um die verwüstete Synagoge herum standen SA-Männer. Ich schaute hin und wusste nicht, was ich davon halten sollte. Einerseits stand ich unter Einfluss der jahrelangen NS-Erziehung durch Jungvolk, HJ und Film, andererseits war ich natürlich auch geprägt durch die Erziehung meines Elternhauses. Über dieses Pogrom wurde in Göttingen wenig gesprochen. Die Leute hatten Angst vor der Gestapo. Nachher wurde es von anderen Ereignissen überlagert. Nach meiner Entlassung aus der sowjetischen Gefangenschaft 1947 fand ich schnell Arbeit als Feinmechaniker. Eines Tages sprach mich der Betriebsratsvorsitzende an, ob ich denn nicht der Gewerkschaft beitreten wolle. Ich sagte, dass ich schon einmal in einem Verein, sprich: in der HJ, war und erlebt hatte, wo dies hinführte, und dass ich deswegen nie wieder einem Verein beitreten würde. Ein paar Wochen später sprach er mich noch einmal an, und ich erwiderte dasselbe. Da sagte er folgende Worte zu mir: „Willst Du denn, dass Deinen Kindern dasselbe passiert wie Dir?“ „Nein“, antwortete ich erschrocken. Und er: „Dann musst Du etwas tun.“ Und deswegen trat ich in die Gewerkschaft ein. Danach fing ich an mich zu fragen, wie es zu so einem Schlamassel hatte kommen können. Ich las viele Bücher, und als meine Kinder mich Ende der 60er-Jahre fragten, wie es denn im „Dritten Reich“ war, kam mir der Gedanke, irgendwann meine Erlebnisse niederzuschreiben. Anfang der 80er begann ich damit.1
Der 9. November ist bekanntlich ein besonderes Datum in der deutschen Geschichte: 1918 Novemberrevolution, 1923 Hitler-Ludendorff-Putsch, 1938 sogenannte Reichskristallnacht, 1989 Fall der Mauer und Wiedervereinigung. Vor allem die Wiedervereinigung hat die Erinnerung an die früheren Ereignisse überschrieben: „Über das Pogrom wurde in Göttingen wenig gesprochen. Die Leute hatten Angst vor der Gestapo. Nachher wurde es von anderen Ereignissen überlagert“ – so der eingangs zitierte Zeitzeuge. Er wurde 2007 für die Gedenkstunde, die jedes Jahr am 9. November am Mahnmal der alten Göttinger Synagoge stattfindet und von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ausgerichtet wird, von Jugendlichen interviewt. Nicht zuletzt dank solcher Initiativen wird in Göttingen heute etwas mehr über das Pogrom von 1938 gesprochen. Doch was hat die Zerstörung der Göttinger Synagoge am 9. November 1938 mit dem Thema Religiöse Bildung in der Hebräischen Bibel und in den Texten vom Toten Meer zu tun? Die Antwort liegt auf der Hand, wenn man die Geschichte und Funktion der Synagoge bedenkt. Synagogen sind nicht nur Gotteshäuser, in denen gebetet wird, sondern auch Bildungseinrichtungen, in denen die Hebräische Bibel studiert und ausgelegt wird. Reste davon hat der Zeitzeuge der Göttinger Synagogenverbrennung gesehen: „Außerdem lagen viele beschriebene Zettel herum. Sie waren mit einer mir unbekannten Schrift beschrieben, ich denke heute, das war Hebräisch.“ Die Synagoge als Bildungseinrichtung geht bis in die Antike zurück. Ihre Wurzeln lassen sich bis in hellenistische Zeit, das 2. und 1 Rehbein / Kratz-Ritter
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1. Jh. v. Chr. verfolgen. Synagogen lösten mehr und mehr die Tempel im Land und in der Diaspora ab. Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. blieb die Synagoge neben der Familie als einziger Ort der religiösen Praxis und Unterweisung für das Judentum übrig. Auch aus dieser Zeit ist uns der Bericht eines Zeitzeugen erhalten, der die Zerstörung des Jerusalemer Tempels miterlebt hat. Der jüdischen Tradition zufolge soll auch sie an einem „neunten“, dem 9. Av (Juli / August) des Jahres 70 n. Chr., stattgefunden haben: Als der Caesar aber die Angriffswut seiner Soldaten, die von leidenschaftlicher Raserei erfüllt waren, nicht mehr zurückzuhalten imstande war, und nun auch das Feuer die Oberhand bekam, da trat er zusammen mit seinen Offizieren ins Innere […]. Da nun die Flammen noch an keiner Stelle nach innen gedrungen waren, sondern erst die ringsum das Tempelgebäude liegenden Gemächer verheerten, glaubte Titus […] man könne das Bauwerk noch vor den Flammen retten. Er eilte also nach draußen, versuchte, durch persönliche Ermahnungen die Soldaten zum Löschen des Feuers zu veranlassen, und befahl dann noch dem Liberalius, einem Centurio von den ihn umgebenden Speerträgern, mit Stockschlägen diejenigen in Schach zu halten, die den Anordnungen des Caesars nicht gehorchten. Aber mächtiger als die Scheu vor dem Caesar und die Furcht vor dem Centurio, der sich ihnen in den Weg stellte, lebten in ihnen jetzt die Wut, der Haß gegen die Juden und überwallende Kampfesgier. Den großen Haufen jedoch trieb die Aussicht auf Raub […]. Als der Caesar nun gerade nach draußen geeilt war, um die Soldaten aufzuhalten, legte einer von den Römern, die schon ins Innere vorgedrungen waren, in der Dunkelheit in aller Eile Feuer an die Angeln des Tores. Als dann plötzlich vom Tempelinneren her die Flamme aufleuchtete, mußten sich auch die Offiziere zusammen mit dem Caesar zurückziehen; jetzt machte auch niemand mehr den Versuch, die Soldaten draußen an der weiteren Brandstiftung zu hindern. Auf diese Weise ging also das Tempelgebäude wider den Willen des Caesars in Flammen auf. […] Während der Tempel brannte, raubten die Soldaten alles, was ihnen gerade in die Hände fiel, und mordeten sie die Juden, deren sie habhaft wurden, in ungezählter Menge. Dabei kannten sie kein Erbarmen mit dem Alter und keine Scheu vor dem Heiligen, sondern Kinder und Greise, Laien und Priester wurden ohne Unterschied umgebracht. Der Krieg wütete ohne Ausnahme gegen jede Sippe, gleich ob die Menschen um Gnade baten oder sich noch zur Wehr setzten. Das Prasseln der weit aufschießenden Flamme begleitete das Stöhnen der Fallenden: Wegen der Höhe des Tempelberges und der Größe des im Feuer flammenden Bauwerkes hätte man meinen können, die ganze Stadt stehe in Brand, aber man hätte sich auch wohl nichts Gewaltigeres und nichts Schrecklicheres vorstellen können als das Geschrei, das sich dort erhob. […] Doch weit fürchterlicher als dies schreckliche Geschrei waren die Leidensszenen selber. Dem Betrachter schien es, als wenn der Tempelberg von seinem Fuße ab nur noch eine brodelnde Masse sei, allenthalben vom Feuer überflutet, als ergieße sich das Blut in noch mächtigeren Strömen als das Feuer, und als seien die Ermordeten noch zahlreicher als die Mörder. Vor lauter Leichen war nirgends mehr der Erdboden zu sehen; vielmehr mußten die Soldaten auf Haufen von Leibern treten, um den Fliehenden nachzusetzen. […]2 2 Ausschnitte aus Josephus, De Bello Judaico VI 4,7–5,1 (§§ 260–280; Übers. Michel / Bauernfeind, 44–49).
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Der Autor dieses Berichts ist der jüdische Historiker Flavius Josephus, der die Zerstörung des jüdischen Tempels im Jahre 70 n. Chr. mit eigenen Augen gesehen hat. Wie der Zeitzeuge der Göttinger Synagogenzerstörung am 9. November 1938 hat auch Josephus sich Gedanken darüber gemacht, „wie es zu so einem Schlamassel hatte kommen können“, und zwei umfangreiche Werke darüber verfasst: „Über den jüdischen Krieg“ (De Bello Judaico) und „Jüdische Altertümer“ (Antiquitates Judaicae). Heinrich Heine schrieb in seiner Tragödie Almansor den berühmten, vielzitierten Satz, der auf die Verbrennung des Koran durch die Inquisition um 1500 im spanischen Granada gemünzt ist: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher (und wir können ergänzen: wo man Gotteshäuser) verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“3 So ist es auch gekommen, im Jahr 70 n. Chr., als viele im brennenden Tempel den Tod fanden, und nach dem 9. November 1938, dem Auftakt zum Holocaust. Heute brennen Ausländerheime, und die Hetze der AfD gibt den Brandstiftern die moralische Rechtfertigung für ihr Tun: die Rettung des christlichen Abendlandes vor der Überfremdung durch den Islam. Haben wir – bei aller Bildung, die wir so großschreiben – nichts dazugelernt? Fehlt uns vielleicht die religiöse Bildung, die den eigenen Standpunkt festigt und zur Achtung vor den anderen Religionen anleitet? Oder ist es die Angst vor der immensen Bildung im Judentum und im Islam, die uns unsicher macht und die Grundlagen unserer Bildung oder Werte in Frage stellt? Am Beispiel des antiken Judentums möchte ich der Frage nachgehen, welche Rolle religiöse Bildung in der Auseinandersetzung des Judentums mit anderen Kulturen, in denen es lebte, gespielt hat. Die Vergleiche mit dem Schicksal des Judentums im 19. und 20. Jahrhundert drängen sich an einem Tag wie dem 9. November förmlich auf.
2. Hellenistisches und Liberales Judentum Flavius Josephus war ein hoch gebildeter Mann. Er kannte sowohl die Überlieferung seiner Väter in hebräischer und griechischer Sprache als auch die griechisch-römische Literatur und Kultur seiner Zeit. Neben Philo von Alexandrien ist Josephus der bedeutendste Vertreter desjenigen Zweiges des antiken Judentums, den man das hellenistische Judentum nennt.4 Es heißt nicht nur darum 3 Heine 1823, 148. Das Zitat sagt der Moslem Hassan, der allerdings kurz zuvor das Abschlachten von Christen bejubelt und in dessen Ohren ihr Röcheln, Wimmern und Angstgestöhne „süß wie Wollust“ klingt (ebd. 145). 4 Die in diesem Beitrag verwendete Terminologie für die verschiedenen Richtungen des antiken („hellenistischen“ bzw. „hebräischen“) und neuzeitlichen („liberalen“ bzw. „orthodoxen“) Judentums ist natürlich viel zu schematisch und bedürfte eingehender Präzisierungen und Differenzierungen. Sie soll lediglich gewisse Tendenzen andeuten, die im Text ausgeführt werden.
Religiöse Bildung in der Hebräischen Bibel und in den Texten vom Toten Meer
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hellenistisch, weil es in der Zeit des Hellenismus existierte, einer Epoche, die mit der Eroberung des Vorderen Orients durch Alexander den Großen beginnt und vom 3. Jh. v. Chr. bis in die römische Zeit reicht. Vielmehr zeichnete sich dieser Zweig des Judentums dadurch aus, dass er sich ganz bewusst der herrschenden hellenistischen Kultur annäherte und in die Mehrheitsgesellschaft integrierte.5 Integration setzt eine gemeinsame Sprache voraus. Und so nahmen die Juden, die bis dahin Aramäisch sprachen, die griechische Sprache an. Schon gegen Ende des 3. Jahrhunderts begann man damit, die Hebräische Bibel ins Griechische zu übersetzen, zuerst die Tora des Mose, das jüdische Gesetz, nach und nach auch alle übrigen Bücher der späteren Bibel. Andere Bücher, die der Bibel nahestehen, aber nicht in den Kanon der heiligen Schriften gelangten, die sogenannten Apokryphen und Pseudepigraphen (oder parabiblischen Schriften), wurden ebenfalls übersetzt oder sogleich in griechischer Sprache verfasst. Der Legende nach wurde die Übersetzung der Tora, in jüngeren Fassungen der Legende die der ganzen Hebräischen Bibel, von 72 gelehrten Priestern in 72 Tagen angefertigt. Deswegen heißt das Werk bis heute „Septuaginta“, „die Siebzig“. In Wahrheit wurde an diesem einzigartigen Übersetzungsprojekt der Antike über Jahrhunderte gearbeitet. Es ist ein Musterbeispiel für religiöse Bildung und wird seit über 100 Jahren in Göttingen kritisch ediert.6 Doch wurden nicht nur die heiligen Schriften ins Griechische übersetzt. Es wurde auch die pagane Literatur gelesen und eifrig imitiert. Jüdische Schriftsteller verfassten Dichtungen, Geschichtswerke und philosophische Traktate in Anlehnung an griechische Vorbilder. Sitten und Gebräuche der hellenistischen Kultur wurden angenommen und mit der eigenen, jüdischen Kultur verschmolzen. Juden waren in Politik und Wirtschaft der griechischen Verwaltung prominent vertreten und hatten gelegentlich Einfluss auf die Entscheidungen der herrschenden Dynastien der Ptolemäer und Seleukiden und später der Römer. So kam es zu einer weitgehenden und, wie es schien, geglückten „Synthese von Judentum und Hellenismus“7, auch und gerade was die Bildung anbelangt. Judentum und Hellenismus waren für das hellenistische Judentum wie für weite Teile der paganen Bevölkerung nicht Gegensätze, die sich abstießen, sondern zwei Kulturen, die sich gegenseitig bereicherten und ergänzten. Das gilt auch für die Religion. In der „Synthese von Judentum und Hellenismus“ steht nicht etwa das Judentum für die Religion, der Hellenismus für die Bildung. Vielmehr trafen zwei – in sich vielfach differenzierte – Religionssysteme und religiöse Bildungstraditionen aufeinander, die sich – aus der Sicht des hellenisierten Judentums und der paganen Umwelt – keineswegs ausschlossen, sondern erhebliche Schnittmengen aufwiesen und miteinander vereinbar 5 Tcherikover
1961; Hengel 1973 und 1976. 1994; zur Göttinger Edition Kratz / Neuschäfer 2013. 7 Tcherikover 1958, 70. 6 Hengel / Schwemer
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waren. Das hieß jedoch nicht, dass man die eigene Identität aufgegeben hätte. Es wäre ein großes Missverständnis zu meinen, die „Synthese von Judentum und Hellenismus“ bedeutete den Verlust, ja die Preisgabe der jüdischen Identität. Das hellenistische Judentum war sich seiner jüdischen Herkunft und Identität stets bewusst und hielt – mehrheitlich – daran fest. Das wohl bedeutendste Zentrum des hellenistischen Judentums war die ägyptische Stadt Alexandria.8 In ihr gab es eine große jüdische Kolonie, mehrere Synagogen, und vor allem die berühmte Bibliothek – ein Wahrzeichen der hellenistischen Wissenschaft und des alexandrinischen Schulbetriebs. Das hellenistische Schul‑ und Bildungswesen hatte jedoch nicht nur die Juden von Alexandria erfasst, sondern breitete sich auch im übrigen Ägypten, in Syrien und in Palästina aus. Wir haben dafür nur wenige Belege, doch reichen sie aus, um die Annahme zu stützen, dass auch das palästinische Judentum in der Provinz Samaria, dem Stammland Israels, sowie in Juda und Jerusalem auf allen Ebenen eine „Synthese von Judentum und Hellenismus“ eingegangen ist.9 Doch gibt es auch eine andere Seite dieser Synthese. So eng diese auch war, hat sie das Judentum doch nicht vor Anfeindung und Verfolgung bewahrt. In Juda und Jerusalem kam es Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. zu einem Konflikt mit der seleukidischen Besatzungsmacht. Auf dem Rückweg von seinen Feldzügen gegen Ägypten suchte Antiochus IV. zweimal Jerusalem auf. Er plünderte den Tempel, verstärkte die militärische Präsenz in der Stadt und führte neue Kulte ein. Das Vorgehen hatte in erster Linie politische und ökonomische Gründe. Jerusalem hatte den Status einer griechischen Polis angenommen, was der Stadt und ihrer Bevölkerung erhebliche Vorteile brachte. Dennoch kam es zu einem jüdischen Volksaufstand, der sich gegen zu hohe und ungerecht verteilte Steuerlasten richtete. Antiochus IV. folgte der üblichen Staatsräson des seleukidischen Reiches und wollte den Aufstand niederschlagen. Doch die Aufständischen ließen sich nicht entmutigen und setzten ihre Revolte nach dem Eingreifen Antiochus’ IV. fort. An der Spitze des Aufstandes stand ein gewisser Judas aus dem Geschlecht des Hasmon, dem die Überlieferung den Beinamen „der Makkabäer“ (von dem aramäischen Wort maqqaba „der Hammer“) gab. Ihm und seinen Brüdern gelang es, die seleukidische Fremdmacht aus Juda und Jerusalem zu vertreiben, weitere Gebiete in ihre Hand zu bringen und das Königtum der Hasmonäer zu begründen, das für rund 100 Jahre bestand.10 Ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. beobachten wir, dass in der griechischen Bevölkerung und der paganen Literatur, d. h. auch unter den Gebildeten der Griechen, zunehmend eine antijüdische Polemik um sich griff, die bis in die römische Zeit 8 Georges
u. a. 2013. Hellenisierung des palästinischen Judentums hat besonders Hengel 1973 und 1976 überzeugend herausgearbeitet. 10 Haag 2003; Schäfer 2010; Frevel 2016, 328–366; ferner den kurz gefassten Überblick in Kratz 2017 a, 48–59. 9 Die
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anhielt.11 Diese Stimmung führte dazu, dass die Juden unter Kaiser Augustus ihre privilegierte Stellung als „erlaubte Religion“ (religio licita) verloren und aus Rom vertrieben wurden. In Alexandria kam es 38 n. Chr. zu einem Pogrom an den Juden, bei dem Synagogen verbrannt und die Juden auf brutalste Weise getötet oder vertrieben wurden. Damals führte Philo von Alexandrien eine jüdische Gesandtschaft zum Kaiser Caligula an, um den jüdischen Standpunkt zu vertreten, doch ohne Erfolg.12 Kurz darauf brachen überall jüdische Aufstände gegen Rom aus, die blutig niedergeschlagen wurden: 66–70 und 132–135 in Judäa und Jerusalem, dazwischen 115/116 n. Chr. in der ägyptischen und mesopotamischen Diaspora. Die über Jahrhunderte gewachsene „Synthese von Judentum und Hellenismus“ brach mit einem Mal in sich zusammen. Auch der Anteil der Bildung an dieser Symbiose – auf beiden Seiten – konnte daran nichts ändern. Im Gegenteil, die Auseinandersetzungen wurden durch gelehrte literarische Propaganda vorbereitet und begleitet, gegen die auch die Apologetik der in hellenistischen Bildungseinrichtungen geschulten jüdischen Schriftsteller nichts ausrichten konnte.13 Mutatis mutandis erinnert dies an die Situation des aufgeklärten, liberalen Judentums, namentlich in Deutschland, wo es zu einer „Synthese“ von Judentum und europäischer Kultur kam. In Göttingen wirkte von 1891 bis 1903 einer der bedeutendsten jüdischen Bibelwissenschaftler seiner Zeit als Rabbiner, Benno Jacob (1862–1945).14 Für rund 15 Jahre, zwischen 1892–1906, lebte er mit Julius Wellhausen (1844–1918), dem wohl bedeutendsten protestantischen Bibelwissenschaftler und Orientalisten seiner Zeit und weit darüber hinaus, in dem kleinen Göttingen gewissermaßen Tür an Tür. Doch begegnet sind sich die beiden Giganten der Bibelwissenschaft offenbar nie, jedenfalls hat sich kein zuverlässiges Zeugnis einer Begegnung erhalten. Jüdische und christliche Bibelforscher verfolgten oft unterschiedliche Ansätze der historischen Exegese der biblischen Überlieferung, doch schrieben sie in derselben Sprache, hatten eine vergleichbare akademische Ausbildung und teilten meist dieselben Werte des deutschen Nationalstaates.15 Und doch ging die Göttinger Synagoge am 9. November 1938 in Flammen auf – völlig grundlos und aus reinem Rassenwahn. Anders als in der Antike ging der Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums kein jüdischer Aufstand voraus. Die Gründe für die Judenverfolgungen in der Antike und in der jüngsten Vergangenheit sind also zweifellos verschieden und vielschichtig und lassen sich nicht ohne weiteres parallelisieren. Stets spielten soziale, wirtschaftliche und politische Faktoren eine Rolle, die zu Spannungen zwischen der jüdischen 11 Schäfer
1997.
12 Cohn / Wendland
1915; Cohn u. a. 1964. einschlägigen Quellen sind in Stern 1974 gesammelt. 14 Schaller 2017. 15 Bechtoldt 1995. 13 Die
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und der nicht-jüdischen Bevölkerung führten. Doch auch Bildung und Religion hatten ihren Anteil an den Konflikten, wie die gelehrte antijüdische Polemik in der paganen griechisch-römischen Literatur und die gelehrte Apologetik in der Literatur des hellenistischen Judentums zeigt. Trotz aller Anstrengungen gelang es dem Judentum nicht, den Graben zur hellenistischen Kultur durch Bildung zu überwinden. Aber auch die Bildung der Griechen und Römer war dazu nicht fähig.
3. Hebräisches Judentum Bildung und Religion waren nicht nur zwischen Griechen und Juden, sondern im Judentum selbst kontrovers. Wie in der modernen jüdischen und christlichen Bibelforschung wurden auch in der Antike unterschiedliche Ansätze zur Auslegung der heiligen Schriften vertreten. Neben dem hellenistischen Judentum gab es stets auch andere Stimmen, die sich nicht auf die Übersetzung, sondern das hebräische Original der biblischen Schriften beriefen und eine eigene, auf Abgrenzung gegen den Hellenismus bedachte Auslegung begründeten. In der jüdischen Überlieferung heißen sie die „Frommen“ (auf Hebräisch Hasidim, auf Griechisch Asidaioi). Zu ihnen gehörte auch die Gemeinschaft von Qumran, von denen die Texte vom Toten Meer zeugen, sowie die Gruppe der Essener, die von der Forschung früher meist mit der Gemeinschaft von Qumran identifiziert wurde und auch einige Gemeinsamkeiten mit ihr aufweist, vermutlich aber eine eigene Bewegung war.16 Die Hasidim scheinen vor allem in Palästina ansässig gewesen zu sein, sind ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. aber auch in der Diaspora anzutreffen. Im Unterschied zum hellenistischen Judentum möchte ich diesen Zweig – behelfsweise – das hebräische Judentum nennen.17 Damit soll die Orientierung an der hebräischen Sprache und Überlieferung zum Ausdruck gebracht werden, die diesen Zweig des Judentums kennzeichnet. Neben biblischen und parabiblischen Schriften in hebräischer und aramäischer Sprache, die kopiert und tradiert wurden, sind die eigenen Schriften der Gemeinschaft von Qumran und später die Briefe des Bar Kochba aus dem zweiten jüdischen Krieg ganz bewusst in hebräischer Sprache verfasst. Auch die Überlieferung des Pentateuchs der Samaritaner in einer aus dem Paläohebräischen abgeleiteten, altertümlichen Schrift ist hier zu nennen.18 Nicht, dass die Hasidim nicht auch die griechische Sprache beherrscht hätten. Unter den Texten vom Toten Meer haben sich auch Fragmente der Septuaginta gefunden. Doch macht sich auch hier die Orien16 Zur
Einführung vgl. Kratz 2017 a, 213–232 und die hier genannte Literatur. Terminologie s. o. Anm. 4. 18 Zur Einführung vgl. Kratz 2017 a, 232–258 und die hier genannte Literatur. 17 Zur
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tierung an der hebräischen Überlieferung bemerkbar. So weist die griechische Zwölf-Propheten-Rolle aus Nahal Hever eine Revision der älteren griechischen Übersetzung nach dem hebräischen Bibeltext auf. In einem weiteren Sinne kann man auch die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen, die mit militärischen Mitteln einen jüdischen Staat erkämpfen wollten, zum hebräischen Judentum zählen: Makkabäer bzw. Hasmonäer, die sich im 2. Jahrhundert v. Chr. gegen die seleukidische Fremdmacht erhoben, Zeloten, Bar Kochba und andere, die im 1. Jahrhundert n. Chr. die Aufstände gegen Rom anführten. Sie alle verfolgten primär politische Ziele, bedienten sich jedoch auch der Waffe des „geistigen Widerstands“19 gegen den Hellenismus. Zeitweise koalierten sie mit den Hasidim und stilisierten sich in ihrer Propaganda als Kämpfer für den wahren Gott und die Tora des Mose.20 Was die Bildung anbelangt, standen hebräisches und hellenistisches Judentum einander in nichts nach und teilten den zentralen Bildungskanon: die Hebräische Bibel, oder richtiger gesagt, die biblischen und parabiblischen Schriften, die als autoritative, heilige Schriften angesehen wurden. Doch anders als das hellenistische Judentum oder zumindest große Teile dessen suchten die Hasidim nicht das Gymnasion und andere hellenistische Bildungseinrichtungen auf, sondern hielten sich davon bewußt fern. Sie suchten in der biblischen Überlieferung nicht das Verbindende mit der hellenistischen Kultur, sondern das Trennende und machten sich daran, dafür geeignete Formen der Lebensführung und religiösen Praxis auszubilden und nicht zuletzt eigene Institutionen und Inhalte der Erziehung und Bildung zu entwickeln. Die spektakulären Textfunde der 50er Jahre in den Höhlen bei Khirbet Qumran am Toten Meer gewähren uns einen einzigartigen Einblick in eine solche Lehr‑ und Lebensgemeinschaft des hebräischen Judentums. In der Gemeinschaft von Qumran lernen wir einen Schulbetrieb kennen, der sich an das biblische Vorbild anlehnt und die Ideale der Hebräischen Bibel in die Tat umsetzt.
4. Der Schulbetrieb im antiken Judentum Die Hebräische Bibel und alle anderen schriftlichen Erzeugnisse des antiken Judentums haben eine gemeinsame Wurzel: die altorientalische Schreiberschule.21 Institutionell war sie an Hof oder Tempel sowie in Schreiberfamilien und später auch in privaten und öffentlichen Bibliotheken angesiedelt. In dieser Schule wurden das Lesen und Schreiben sowie das nötige politische, ökonomische und 19 Vgl.
Fuchs 1938. bes. in den Büchern 1 Makkabäer (Schunk 1980) und 2 Makkabäer (Habicht 1979). Vgl. dazu Honigman 2014. 21 Zum Folgenden vgl. Carr 2005; van der Toorn 2007 und die Präzisierungen in Kratz 2017 a, 79–99.181–283. 20 So
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juristische Handwerkszeug für die Verwaltung von Hof und Tempel gelehrt. Darüber hinaus hatten hier auch Wissenschaften wie Astronomie und Astrologie, Geographie, Naturkunde, Medizin oder Ethik ihren Ort. Das alles ist in der Antike nicht ohne Religion zu denken. Mythen, Epen, Hymnen und Gebete, Opferrituale, Mantik und Magie gehörten ebenfalls zu den Wissensbeständen, die in den Schreiberschulen gehütet und weitergegeben wurden. Die Übergänge zwischen der Verwaltung von Hof und Tempel, den allgemeinen Wissenschaften und der Religion waren fließend. Im hellenistischen Judentum wurden auch die biblischen und parabiblischen Schriften diesen Wissensbeständen hinzugefügt und im Geist der Zeit als philosophische Lehren behandelt und – etwa von Philo von Alexandrien – ausgelegt. Doch die biblischen und parabiblischen Schriften selbst haben sich bereits früh von den Gepflogenheiten der Schreiberschulen entfernt und sind eigene Wege gegangen. Alles ist hier unter ein zentrales Motto gestellt, das sich am besten mit der sogenannten Bundesformel ausdrücken lässt: Jhwh der Gott Israels, Israel das Volk Jhwhs.22 Zwar weisen die biblischen Schriften enge Berührungen mit den üblichen Wissensbeständen der Schreiberschule auf und haben Reste aus Recht, Kult, Prophetie, Poesie und Weisheit bewahrt. Doch diese Reste sind transformiert und in eine neue, theologisch reflektierte Perspektive gestellt worden. In der biblischen Überlieferung dienen sämtliche Wissensbestände als Anschauungs‑ und Argumentationsmaterial zur theologischen Reflexion der Frage, wie sich Israel in seiner Geschichte zu seinem Gott verhalten hat und in Zukunft verhalten soll, einem Gott, der den Anspruch erhebt, der eine und einzige zu sein und Israel zu seinem Volk erwählt zu haben: Jhwh der Gott Israels, Israel das Volk Jhwhs. Diese Entwicklung hatte eminente Folgen für die alten Wissensbestände und die Lehrgegenstände des Schulbetriebs der Schreiber23: In der prophetischen Überlieferung wurde aus der Sorge Gottes und des Propheten für das politische und soziale Gemeinwesen das von Gott verhängte Gericht über sein Volk; aus Vergehen gegen die Gemeinschaft wurden Sünden gegen Gott. In der erzählenden Überlieferung wurde die Bevölkerung zweier Monarchien, Israel und Juda, zum erwählten Gottesvolk erklärt. In der legislativen Überlieferung wurde aus dem praktizierten oder auch theoretisch gelehrten, gelegentlich königlich sanktionierten Recht einer Volksgruppe das Gesetz Gottes. In der hymnischen Überlieferung wurde aus dem Wetter‑ und Kriegsgott, der – gelegentlich zusammen mit seiner Gattin Aschera – in diversen Manifestationen für diverse politische und soziale Systeme stand, der universale Weltenherrscher. In der weisheitlichen Überlieferung wurde aus der Lehre der Weisen eine Maxime der Gerechten für ihr Leben vor Gott. 22 Zur
Bundesformel vgl. Smend 1963. 2017 a, 99–125.
23 Kratz
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Auch das Bildungskonzept der Hebräischen Bibel ist von diesen Veränderungen geprägt. Aus dem Gelehrten der Schreiberschule wurde der „Schüler Gottes“, dessen Lehrer Gott selbst ist und dessen Wissen in der göttlichen Offenbarung in Gesetz, Propheten und übrigen Schriften besteht. So lesen wir in Jesaja 50: Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger (wörtlich: Lernende, Schüler) haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger (wörtlich: Lernende, Schüler) hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. (Jes 50,4–5)
Der Gehorsam bezieht sich auf die unmittelbare Kundgabe der Lehre von Gott an seinen Schüler, den Propheten, der, wie es in Jesaja 8 am Ende zu lesen ist, seinerseits Schüler (Jünger) hat, an die er die an ihn ergangenen göttliche Offenbarung weitergibt. Der Gehorsam bezieht sich nach der Hebräischen Bibel aber gleichermaßen auf alles, was Gott in den Schriften, allen voran der Tora des Mose, kundgetan hat. Spätere haben in der Hebräischen Bibel manches vermisst, was zu den Wissensbeständen der Schreiberschule ihrer Zeit gehörte: Astronomie und Astrologie, Geographie, Medizin und anderes mehr. Sie haben es darum in parabiblischen Schriften ergänzt, die von den biblischen Schriften abgeleitet sind und die Wissensbestände entweder in Form von Paraphrasen, Auslegungen und Kommentaren zu den biblischen Büchern oder als direkte göttliche Offenbarung präsentieren. So etwa werden wir in der umfangreichen Henochliteratur von 1 Henoch über die himmlische Welt, den Lauf der Gestirne, die Geographie der Erde und vieles andere mehr unterrichtet, was nicht in der Hebräischen Bibel steht.24 Die Autoren berufen sich dafür auf den vorsintflutlichen Helden Henoch, einen Gerechten, von dem es in Gen 5 heißt, dass er „mit Gott gewandelt“ sei und in den Himmel aufgenommen wurde. Die Henochliteratur teilt uns mit, was Henoch auf seinen Reisen durch den Himmel und bis an das Ende der Welt alles gesehen und gehört hat, und vor allem, wohin das alles führt, d. h. was die Gerechten und die Sünder am Ende der Zeiten zu erwarten haben. Was in der Hebräischen Bibel und den parabiblischen Schriften zunächst erdacht und mit Tinte auf Papyrus oder Leder niedergeschrieben wurde, haben seit etwa dem 3. Jahrhundert v. Chr. die Gruppe der Hasidim und insbesondere die Gemeinschaft von Qumran mit Leben erfüllt. In Qumran wurden die biblischen und parabiblischen Schriften abgeschrieben und intensiv studiert. In ihren eigenen Schriften knüpft die Gemeinschaft an das Bildungskonzept der biblischen und parabiblischen Schriften an und setzt es in die Praxis um. Diese Umsetzung geht mit einer extremen Radikalisierung einher. Die Gemeinschaft von Qumran ist eine Lebens‑ und Lerngemeinschaft, die das ganze Leben in allen seinen Bezügen Gott und dem Studium der Tora widmet. Die Tora, das jüdische Gesetz, ist aber nicht nur Gegenstand des Studiums, sondern 24 Uhlig
1984.
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bestimmt auch die Lebensführung. Von der Tora abgeleitet sind die Regeln der Gemeinschaft von Qumran.25 In mancher Hinsicht sind sie Klosterregeln des Mittelalters ähnlich. In ihnen wird die Hierarchie unter den Mitgliedern definiert, an deren Spitze Priester stehen. Für neue Mitglieder und Kinder, die in der Gemeinschaft geboren werden, werden die Bedingungen des Eintritts und die verschiedenen Stufen der Ausbildung beschrieben, die sie zu durchlaufen haben. In den verschiedenen Stadien der Ausbildung werden das Wissen und die Befolgung der Tora des Mose sowie die Regeln der Gemeinschaft eingeübt und ständig überprüft. Neben dem Wissen und der Lebensweise steht stets auch der „Geist“, d. h. die Richtung des Denkens und Einstellung zur Gemeinschaft, auf dem Prüfstand. Schließlich enthalten die Regeln abgestufte Sanktionen für diejenigen, die die Vorschriften der Tora oder der Gemeinschaft übertreten. Die Gemeinschaft von Qumran ist also eine Art Tora-Schule, ein Lehrhaus (hebräisch Beit Midrasch), in dem die Tora des Mose studiert und ausgelegt, aber auch konkret umgesetzt und gelebt wurde. Viele der Mitglieder scheinen in den Schreiberschulen des Landes oder Schreiberfamilien ausgebildet worden zu sein und ihr Handwerkzeug dort erworben zu haben. Doch hat sich die Gemeinschaft von Qumran nicht nur inhaltlich, sondern auch institutionell von der judäischen Gesellschaft, dem Tempel und den mehr oder weniger hellenisierten jüdischen Bildungseinrichtungen getrennt. Ihre Finanzierung scheint durch das Eigenkapital und die Einkünfte der Mitglieder aus ihren „weltlichen“ Berufen, vielleicht auch durch Spenden von Sympathisanten aufgebracht worden zu sein. In Khirbet Qumran wurden einige wenige Tintenfässer und Schreibübungen gefunden. Dies lässt den Schluss zu, dass die Gemeinschaft die Ausbildung ihrer Schreiber und Gelehrten in die eigene Hand genommen hat.26 Dieser Ausbildung diente auch die Halacha, d. h. die Auslegung der Gesetze der Tora, wie sie etwa in einem Lehrschreiben (4QMMT) begründet wird, das sich explizit mit der Auslegung auseinandersetzt, wie sie am Jerusalemer Tempel von den Priestern und Schriftgelehrten der herrschenden (hellenisierten) Hasmonäer und anderen Gruppen im antiken Judentum gepflegt wurde.27 Der Ausbildung ihrer Gelehrten dienten auch regelrechte Kommentare über die Propheten und die Psalmen, die den Bibeltext auf die eigene Zeit, die Gemeinschaft und ihre Gegner beziehen und klarmachen, wer auf der richtigen und wer auf der falschen Seite steht.28 25 Für die einschlägigen Texte (1QS und CD) vgl. Charlesworth 1, 1994; 2, 1995; 3, 2006; Qimron 1, 2010; in deutscher Übersetzung bei Lohse 1981; Maier I, 1995. Zur Verbindung von biblischem Gesetz (Tora) und den Regeln der Gemeinschaft von Qumran vgl. Kratz 2013 a. 26 Steudel 2005. 27 Qimron / Strugnell 1994; Charlesworth 3, 2006; Qimron 2, 2013; in deutscher Übersetzung bei Maier II, 1995, 361–376. 28 Die einschlägigen Texte (Pesharim zu Propheten und Psalmen) in Charlesworth 6B, 2002; Qimron 1, 2010; 2, 2013; in deutscher Übersetzung bei Lohse 1981; Steudel 2001; Maier II, 1995.
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In den Kommentaren begegnet ein Lehroberhaupt der Gemeinschaft, das den Titel „Lehrer der Gerechtigkeit“ trägt. Es ist nicht deutlich, ob es sich um eine einzelne historische Persönlichkeit oder um eine Art Amt handelt.29 Deutlich ist nur, dass dieser „Lehrer der Gerechtigkeit“ in Konkurrenz zu dem sogenannten „Frevelpriester“ und „Lügenmann“ steht, womit die Priester und Schriftgelehrten in Jerusalem bezeichnet werden. Von dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ heißt es, dass er eine Offenbarung von Gott erhalten habe, die ihm den wahren Sinn der Worte der Propheten erschlossen habe.30 Dasselbe wird in anderen Schriften, besonders in einer Sammlung von nichtbiblischen Hymnen und Gebeten (Hodajot)31, von besonders eingeweihten, fortgeschrittenen Mitgliedern der Gemeinschaft gesagt. Es sind „Schüler Gottes“, denen Gott wie dem Propheten in Jesaja 50 das Ohr weckt und die Zunge verleiht, damit sie die verborgenen Pläne Gottes verstehen und an andere weitergeben. Hymnen und Gebete und insbesondere eine Art Liturgie zu den Sabbatopfern setzen die Mitglieder instand, schon in der Jetztzeit, nicht erst am Ende der Zeiten, an dem Gottesdienst der Engel im Himmel teilzunehmen.32
5. Hebräisches und Orthodoxes Judentum Die Tora-Schule der Gemeinschaft von Qumran stellte eine Alternative zu anderen Bildungseinrichtungen im antiken Judentum dar. Sie grenzte sich sowohl von dem hellenistischen Judentum als auch von solchen Gruppen des hebräischen Judentums ab, die sich dem jüdischen Staat der Makkabäer und Hasmonäer in seleukidischer Zeit und später dem Staat der Herodianer unter römischer Oberhoheit anschlossen oder wenigstens verbunden fühlten. Zwar war die Gemeinschaft von Qumran organisiert wie ein griechischer Kultverein und bediente sich – etwa mit der Gattung des Kommentars33 – durchaus auch der Mittel der hellenistischen Gelehrsamkeit.34 Doch nutzte die Gemeinschaft die griechischen Anleihen, um sich gegen den Hellenismus und die übrigen Strömungen des antiken Judentums abzuschotten. Mit einem Wort: Die Gemeinschaft von Qumran ist ein Beispiel des biblischen Fundamentalismus, der sich gegen alles Fremde, aber auch gegen andere Formen des biblischen oder nicht-biblischen, mehr oder weniger hellenisierten („hellenistischen“ und „hebräischen“) Judentums abgrenzt. Bildung und Religion waren für die Gemeinschaft von Qumran deckungsgleich, und beidem widmete sie 29 Vgl.
Kratz 2017 b. Lohse 1981, 234 f. 31 Stegemann / Schuller / Newsom 2009; Lohse 1981; Maier I, 1995. 32 Charlesworth 4B, 1999; Qimron 2, 2013; Maier II, 1995. 33 Kratz 2013 b. 34 Hengel 1996. 30 Vgl.
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ihr ganzes Leben. Beides bedeutete eine radikale, kompromisslose Orientierung an der biblischen und parabiblischen Literatur, die den Mitgliedern der Gemeinschaft absolut sakrosankt und in jeder Hinsicht verbindlich war. Wie das hellenistische Judentum sind auch die Hasidim und die Gemeinschaft von Qumran der Niederschlagung der jüdischen Aufstände im 1. Jahrhundert n. Chr. zum Opfer gefallen und nahezu ausgelöscht worden. Aus den versprengten Überbleibseln hat sich zum einen das rabbinische Judentum, zum anderen das frühe Christentum formiert. Auch hierzu bietet sich wieder eine Parallele aus der Moderne an. Mutatis mutandis erinnern die Hasidim und Gemeinschaft von Qumran an das orthodoxe Judentum, das im 19. Jahrhundert vor allem in Osteuropa verbreitet war und heute in dem Stadtteil Mea Shearim von Jerusalem und an anderen Orten der Welt, etwa in New York, anzutreffen ist. Auch in diesem Zweig des Judentums ist das Studium der heiligen Texte zum Inhalt des Lebens geworden. Im Zentrum steht die Hebräische Bibel und hier insbesondere die Tora des Mose. Anstelle der parabiblischen Texte und Auslegungswerke des antiken Judentums ist die Auslegungstradition der Rabbinen in Talmud und Midrasch getreten, die als „mündliche Tora“ gilt. Das Studium dieser Texte füllt das Leben vollständig aus und prägt die Lebensweise, die sich signifikant von dem liberalen Judentum, dem säkularen Zionismus und anderen Formen jüdischen Lebens und Denkens unterscheidet. Die Pogrome von 1938 und der anschließende Holocaust haben auch diesen Zweig des Judentums ebenso wie das liberale Judentum in Europa nahezu vollständig ausgelöscht. Es ist vor allem dieser Zweig des Judentums, der im 19. und 20. Jahrhundert den Hass und die Verfolgung auf sich gezogen hat, genau wie die Hasidim in der Antike die gelehrte Polemik. Vielleicht ist das deswegen so, weil das (radikale) hebräische Judentum der Antike und das orthodoxe Judentum der Neuzeit in besonderer Weise das verkörpern und sichtbar leben, was Bildung und Religion im Judentum ausmacht und in anderen Zweigen, dem hellenistischen Judentum der Antike oder dem liberalen Judentum der Neuzeit, zwar vorhanden, aber nicht immer so klar zu erkennen ist. Das Judentum ist eine Religion, für die Bildung seit jeher konstitutiv ist. Wie wir sahen, ist die Bildung im hebräischen Judentum der Antike und im orthodoxen Judentum der Neuzeit stärker oder sogar ausschließlich auf die eigenen Überlieferungsbestände konzentriert. In diesen Fällen trägt das Judentum Züge des biblischen Fundamentalismus und grenzt sich gegen alles Fremde wie auch gegen alles andere in der eigenen Kultur, das als fremd empfunden und darum abgestoßen wird, ab. So könnte man versucht sein, die Selbstabgrenzung für die Polemik und den Hass verantwortlich zu machen, der immer wieder in Verfolgung und Vernichtung des Judentums umgeschlagen ist. Doch das wäre ein Kurzschluss. Die Polemik, der Hass und die Vernichtung trafen auch die anderen Zweige des Judentums, das hellenistische und das liberale Judentum, die sich
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anderen, fremden Bildungstraditionen öffneten und den Anschluss an fremde Kulturen suchten. So gibt es von jüdischer Seite auch die andere Erklärung, dass gerade die Öffnung und Anpassung an fremde Kulturen zur Katastrophe des Judentums im Holocaust geführt haben. Die Frage lässt sich nicht beantworten. Doch eines ist klar: Religiöse Bildung schützt weder vor dem Morden noch davor, ermordet zu werden. Es wäre, denke ich, schon viel erreicht, wenn Bildung und insbesondere religiöse Bildung, sei sie eng oder weit ausgelegt, dazu führte, dass nicht im Namen einer Religion gemordet wird und Menschen nicht wegen ihrer Religion verfolgt und getötet würden. Wird dieses Ziel nicht erreicht, so ist weder die Bildung noch die Religion etwas wert.
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„Woher wissen wir, dass die Ehre seines Schülers einem Menschen lieb wie er selbst sein soll?“ Zur religiösen Unterweisung im frühen rabbinischen Judentum Elisabetta Abate* 1. Einleitung Die im Titel zitierte Frage aus der Mekhilta de-Rabbi Jishma‘el,1 einem frühen Midrasch zu einigen Sektionen des Buchs Exodus, pointiert einen Aspekt der inneren und zugleich zwischenmenschlichen Haltung, die die Rabbinen, die verehrten Meister, ihren Schülern gegenüber bewahren sollen. Da der Rahmen einer solchen Anweisung das Meister-Schüler-Verhältnis ist, auf dem die Vermittlung religiösen Wissens und religiöser Praxis im rabbinischen Judentum basiert, eignet sich diese Passage in besonderer Weise als Hinführung zu einer zentralen These der neueren Rabbinica-Forschung: In den frühen Phasen des klassischen rabbinischen Judentums bestand das Toralernen aus vernetzten Jüngerkreisen um einzelne Lehrer herum und fand nicht in einem hoch formalisierten Kontext statt. „Die ‚Schule‘ war, im Wesentlichen, der Meister selbst“, wie sich das Verfahren zugespitzt zusammenfassen lässt.2 Ein wachsender Konsens tendiert entsprechend dazu, den Begriff „Institution“ für die klassische Zeit der rabbinischen Geschichte (1.–7. / 8. Jh.) ausdrücklich abzulehnen. Stattdessen wird die allmähliche Entwicklung bei der Institutionalisierung des rabbinischen Schulwesens bis in die islamische Zeit betont. Nach einer kurzen Einführung sowohl in die historischen und kulturellen Gegebenheiten des klassischen rabbinischen Judentums (1.1.) als auch in die For* Der vorliegende Beitrag, im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1136 „Bildung und Religion“ an der Georg-August-Universität Göttingen entstanden, ist die inhaltlich und sprachlich überarbeitete Fassung meines mündlichen Vortrags. Für ein kostbares und vielfältiges Zusammendenken bedanke ich mich herzlich bei Isis M. Ritter, Dr. Karin Gottschalk, Dr. Johannes F. Merklein, Dr. Lorena Miralles Maciá, Dr. Irene Salvo, Prof. Dr. Roland Deines, Prof. Dr. Peter Gemeinhardt und Prof. Dr. Günter Stemberger sowie bei dem Publikum der öffentlichen Vortragsreihe für die anregenden Nachfragen. 1 Hierzu s. Stemberger 2011, 277–294; Ders. 2015, 436–450. Übersetzung und Kommentar ebenda. 2 Rubenstein 2007, 59 („The ‚school‘ was essentially the master himself“).
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schungsgeschichte der Frage nach der institutionellen Natur von dessen Unterweisung (1.2.) bietet der vorliegende Beitrag Einblicke in einige Aspekte der Vermittlung religiöser Kenntnisse und Praxen im frühen rabbinischen Judentum: Orte und Verortung (2.1.); Autorisierung und Autorität (2.2.); hierarchische Verhältnisse und Verhaltensanweisungen innerhalb der frühen rabbinischen Jüngerkreise (2.3.). 1.1. Die historischen und kulturellen Koordinaten Aus heutiger (und teilweise auch traditioneller) Sicht begann das klassische rabbinische Judentum im Jahr 70 n. Ch. mit der Zerstörung des jüdischen religiösen Zentrums – des zweiten Jerusalemer Tempels – durch die Römer.3 Rabban Yochanan ben Zakkai sammelte um sich eine heterogene Gruppe von jüdischen Toragelehrten aus unterschiedlichen Kreisen (unter anderen Pharisäer und Schriftgelehrte) in Javne an der Mittelmeerküste Palästinas. Diese Gruppe fing an, sich zu bemühen, die jüdische Gemeinschaft wiederaufzubauen. Dennoch übernahm sie nicht gleich die ‚Leadership‘ über die breitere jüdische Gesellschaft – anders als früher in der Forschung angenommen.4 Nach der Niederschlagung des Bar-Kokhva-Aufstands im Jahr 135 wanderten einige Akteure dieser neu entstandenen, kleinen Bewegung der religiösen Gelehrsamkeit ohne Tempel und ohne Staat nach Galiläa aus, wie auch der Großteil der jüdischen Bevölkerung Palästinas.5 Andere zogen, über Palästina hinaus, in die jüdischen Siedlungen Mesopotamiens („Babylonien“). Palästina – unter römischer und später byzantinischer Herrschaft – und Babylonien – unter den sasanidischen Persern und, nach der islamischen Eroberung, der abbasidischen Dynastie – wurden zum Schauplatz der allmählichen Herausbildung und Stabilisierung des rabbinischen Judentums.6 Dies erzeugte, über mehrere Generationen, ein umfangreiches, komplexes und faszinierendes Corpus, die rabbinische Literatur,7 das nach einem mindestens seit dem 3. Jh. 3 S. Stemberger 2011, 14 f.17 (zum Anfang der rabbinischen Geschichte nach Abraham ibn Dauds Sefer ha-Qabbalah, ca. 1160/61). 4 Zur sog. „Synode von Javne“ – die eher eine moderne Konstruktion als eine historische Gegebenheit darstellt – s. Cohen 1984; Stemberger 2009, 19; Deines 2014, 102. 5 Genauer zu Galiläa als geographischem Zentrum des rabbinischen Judentums (seit Anfang des 3. Jh., aber noch nicht für den größten Teil des 2. Jh.) s. Deines 2014, 102 f. 6 Zur Ausweitung der rabbinischen Bewegung und zu ihrem Einfluss innerhalb der breiteren jüdischen Gesellschaft s. Levine 1989; Hezser 1997; Schwartz 2001; Lapin 2012 (insbesondere 64–125); Deines 2014, 103. Die diesbezügliche Bedeutung der Entwicklungen im Bereich der Unterweisung wird von Günter Stemberger in einem 2014 in Tübingen gehaltenen und noch in Druckvorbereitung befindlichen Vortrag über „Schüler und Jünger im rabbinischen Judentum“ behandelt. Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Günter Stemberger, der mir das Manuskript schon vorab zugänglich gemacht hat. 7 Zur rabbinischen Literatur s. Safrai / Tomson 1987; Safrai / Safrai / Schwartz / Tomson 2006, 3–278; Stemberger 2011; Ben-Eliyahu / Cohn / Millar 2012, 23–95.
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belegten Grundprinzip rabbinischer Theologie die mündliche Tora, die auf dem Berg Sinai zusammen mit der schriftlichen Tora offenbart wurde, überliefert.8 Dies verleiht dem Selbstverständnis der Rabbinen als Träger und Vermittler des göttlichen Willens und der göttlichen Lehre Ausdruck und spiegelt sich auch in der (von der Forschung übernommenen) traditionellen Periodisierung der klassischen rabbinischen Zeit wieder: Entsprechend dem typischen Verhältnis zu Tradition und Lehre9 wird die rabbinische Geschichte (und teilweise auch die Geschichte der rabbinischen Literatur) in vier Zeiten unterteilt. In der Zeit von 70 n. Chr. bis ins frühe 3. Jh. wirkten demnach die Tannaiten, die „Meister der später als autoritativ betrachteten, mündlich durch ständige Wiederholung weitergegebenen Lehre“10; bis Anfang des 6. Jh. kommentierten die Amoräer die Lehre ihrer Vorgänger und generierten dadurch u. a. den babylonischen Talmud; vom 6. bis zum frühen 7. Jh. bearbeiteten die Savoräer den letzteren;11 bis zum frühen 11. Jh. wirkten schließlich die Geonim, die Schulhäupter Babyloniens.12 1.2. Die Forschungsgeschichte Erst für die Zeit der Geonim sind ausgeprägt formalisierte Lehr‑ und Lerninstitutionen gut erkennbar und belegt. Es handelt sich um die babylonischen Akademien (yeshivot auf Hebräisch, metivata auf Aramäisch),13 die sich zuerst in Sura und Pumbedita am Eufrat und später (etwa seit dem 10. Jh.) in Bagdad befanden.14 Die Yeshivot-Leiter, die Geonim, verstanden sich als Erben des babylonischen Talmuds als eines quasi abgeschlossenen und kanonisierten Corpus von Traditionen.15 Sie übten nicht nur einen beherrschenden intellektuellen Einfluss auf die jüdische Welt Babyloniens aus, sondern erwarben auch weltliche Autorität in bestimmten Kontexten sowie Anerkennung auf der Ebene des religiösen Lebens in der damaligen jüdischen Welt. Ihre weiteren institutionellen Merkmale waren sowohl eine komplexe Hierarchie als auch ein spezifisches Finanzierungssystem: Sie hatten Geldgeber aus der (jüdischen) weiten Welt und förderten Lehrer, Schüler und vielleicht Assistenten durch Löhne und Stipendien.16 8 Sifra Bechuqotai 8 (S. 112 a). S. dazu Hezser 1997, 458 f. (auch für weitere Literaturangaben). 9 S.
dazu Stemberger 2011, 17. 2011, 17. 11 Die neuere Forschung hat durch einen aus dem Aramäischen abgeleiteten Neologismus den Begriff Stammaiten („Die Anonymen“) eingeführt, um die ansonsten nicht belegte Gruppe der Redaktoren des babylonischen Talmuds im 6.–8. Jh. zu kennzeichnen. Dazu s. u. a. Rubenstein 2005; Weiss Halivni 2013. 12 Zur komplexen Frage nach dem Beginn der Zeit der Geonim s. Brody 2013, 4–11. 13 Die Begriffe yeshiva und metivta (im Singular) scheinen, in der gaonäischen Zeit, Äquivalente gewesen zu sein. S. Goodblatt 1975, 63. 14 Dazu s. Brody 2013; Abate 2016. 15 S. Brody 2013, 4–10 (insbesondere 7); 161 f. 16 S. Brody 2013, 38–40. 10 Stemberger
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Aus solchen Institutionen und deren Umgebung stammen einige wenige, zugleich sehr einflussreiche Schriften,17 die die Entstehung ihres zeitgenössischen Schulbetriebs auf die früheren Phasen der rabbinischen Geschichte zurückführen, um die eigene Kontinuität mit der verehrten Vergangenheit und Tradition zu betonen – teilweise auch um der Konkurrenz anderer Zentren des Torastudium außerhalb von Babylonien entgegenzuwirken.18 Exemplarisch sei hier nur die Iggeret Rav Sherira Ga’on genannt,19 ein im Jahr 986/87 an die Gelehrten der jüdischen Gemeinde von Kairouan in Nordafrika gerichteter Antwortbrief des Leiters der Yeshiva von Pumbedita, Rav Sherira Gaon. Im Antwortbrief setzt Sherira den Ursprung seiner Akademie zu Beginn der amoräischen Zeit (3. Jh.) an. Seine Darstellung hat sich durch das Mittelalter bis zur Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts durchgesetzt, wie der in der Weimarer Republik erschienene Artikel in der Encyclopaedia Judaica über die talmudische Akademien in Babylonien illustriert: „Die erste Akademie (im landläufigen Sinne) in Babylonien entstand zu Beginn der Amoräerzeit.“20 Erst im Rahmen eines Paradigmenwechsels innerhalb der jüdischen Studien, der die Zuverlässigkeit der traditionellen Literatur als historische Quelle radikal infrage gestellt hat, ist die Entstehung der rabbinischen Schulen mitsamt deren institutioneller Natur in den letzten Jahrzehnten kritisch und systematisch unter die Lupe genommen worden. In einer grundlegenden Untersuchung der rabbinischen Unterweisung bzw. Ausbildung („rabbinic instruction“) im sasanidischen Babylonien hat David Goodblatt die mittelalterliche Darstellung des rabbinischen Schulwesens in Babylonien in den früheren Zeiten, auf die sich auch die moderne Forschung früher gestützt hatte, als zum großen Teil anachronistisch beurteilt.21 Seine philologischen Befunde suggerieren, dass die Termini yeshiva und metivta, die die gaonäischen Akademien kennzeichnen, in der früheren Literatur keine Kennzeichnung für formalisierte Lehr-Institutionen sind.22 Außerdem begegnen in der früheren Literatur keine anderen Termini, die sich auf hoch formalisierte Lehr-Institutionen beziehen. Auf historischer Ebene zeigen solche philologischen Ergebnisse – so Goodblatts Rückschlüsse –, dass „die rabbinische akademische Tätigkeit im sasanidischen Babylonien nicht von großen Akademien nach dem Modell der gaonäischen Yeshivot beherrscht war.“23 Nach Goodblatts Rekonstruktion ist am Anfang nicht von Schulen im Sinne fester Institutionen („institutionalized school[s]“) auszugehen, sondern 17 Dazu
s. Goodblatt 1975, 11–43. s. Brody 2010, 259. 19 Dazu s. Goodblatt 1975, 19–33; Schlüter 1993; Brody 2013, 20–25.341–343; Ders. 2010. 20 Bialoblocki 1928 (dazu s. auch Goodblatt 1975, 48 mit Anm. 20). Zur Wirkungsgeschichte des Sherirabriefs durch das Mittelalter bis in die neueste Zeit s. Schlüter 1993, 4–12. 21 S. Goodblatt 1975. 22 Dagegen s. aber Gafni 1978; Ders. 1990, 177–236. Zum Problem und weiteren Forschungsperspektiven s. Stern 2008, 227–238. 23 Goodblatt 1975, 267 (Übersetzung der Autorin). 18 Dazu
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eher von Jüngerkreisen („disciple circles“), in denen das Meister-Schüler-Verhältnis dem Handwerksmeister-Lehrling-Verhältnis („master craftsman“ und „apprentice“) ähnelte: Die Lernenden trafen den Meister und seine Assistenten. Ein curriculum studiorum und ein spezielles Gebäude waren vielleicht im konkreten Fall vorhanden, aber nicht prinzipiell vorausgesetzt; nach dem Tod des Meisters löste sich die Gruppe auf.24 Auf Goodblatts Verständnis der Gestalt und Funktionsweise der rabbinischen Lehr‑ und Lernkreisen zurückgreifend, wurde die Frage nach der Organisation der rabbinischen Lehre durch Catherine Hezser auf Palästina erweitert und als Bestandteil der Strukturen der jüdischen Selbstverwaltung Palästinas betrachtet.25 Nach Hezsers sehr einflussreicher Analyse sind keine wesentlichen Veränderungen in der institutionellen Natur des Lehrhauses von der Zeit der Tannaiten zu jener der Amoräer belegbar: Die „Schulen“ waren in der ältesten Phase weniger oder genau so wenig institutionalisiert wie in der späteren Phase.26 Die Schule wurde letztlich durch die Figur des Meisters verkörpert – um Jeffrey Rubenstein zu paraphrasieren. In der engen Beziehung mit dem Meister, könnte man demnach sagen, verwirklichte sich das Lernen. So hat auch Günter Stemberger neuerdings den sozialen Zusammenhang frührabbinischer Lernprozesse unter dem Begriff „radikale Jüngerschaft“ herausgearbeitet: Als Jünger hat man bei seinem Meister gleichsam Ersatz für seine natürliche Familie gefunden. Man lernt vom Meister nicht nur den Umgang mit der Schrift und das traditionelle religiöse Wissen, man lebt oft lange Zeit im Haus des Meisters und hat so Gelegenheit, sich Lebensweise und religiöse Praxis des Meisters anzueignen, sich darin einzuüben.27
2. Einblicke in die frühe rabbinische Unterweisung Im Folgenden werden die allgemeinen Beobachtungen zu Bildungsprozessen im rabbinischen Judentum anhand konkreter Texte beleuchtet. Dabei können angesichts des begrenzten Raumes lediglich einige Teilaspekte der Frage betrachtet werden. Dazu werden Textstellen aus den in die Frühzeit datierten palästinischen Sammlungen (Mischna, Tosefta und halakhische Midraschim, ca. 2.–4. Jh.) herangezogen, um die Fragestellung chronologisch und geografisch so präzise wie möglich abzugrenzen.28 24 Goodblatt
1975, 267. Goodblatts Einfluss s. z. B. Hezser 1997, 195 f.; Rubenstein 2007, 2 f. (zu Goodblatts Verständnis des Begriffs „Institution“ s. insbesondere ebd. Anm. 2 f.). 26 Hezser 1997, 185–227 (insbesondere 203). 27 Zit. nach dem in Anm. 6 genannten Manuskript über „Schüler und Jünger im rabbinischen Judentum“. 28 Der Begriff Spätantike wird in der Forschung öfter auf die frühe rabbinische Zeit als Unterscheidung zur vor‑ und nach-rabbinischen Literatur angewandt, um die literarische Entwicklung der rabbinischen Literatur zu begrenzen (s. z. B. Berkowitz 2006, 215 Anm. 1). Zur Mischna 25 Für
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2.1. Orte und Verortung der Vermittlung religiöser Kenntnisse und Praxen Die Schule kann in den frühen Phasen der rabbinischen Bewegung, wie erwähnt, mit dem Meister selbst identifiziert werden. Insgesamt scheint das „Lehrhaus“ (bēt ha-midrash)29 eher eine soziale Verortung als ein konkreter (räumlicher) Ort für das Toralernen gewesen zu sein. Das Spektrum der Möglichkeiten für die Begegnungen sowohl zwischen Meister und Schüler als auch zwischen Kollegen war nämlich breit und nicht an spezifische Gebäude gebunden.30 Rabbinische Lehr‑ und Lern-Betätigungen können zwar in den Synagogen stattgefunden haben, so Tosefta Megillah 2,18: „[S]ie lesen, wiederholen, und interpretieren in ihnen [den Synagogen].“31 Die sehr knappe Formulierung im rabbinischen Hebräisch (qorin we-shonin we-dorshin ba-hen) deutet die drei Hauptmethoden der Aktualisierung und Weitervermittlung der Tradition an, die für die rabbinische hermeneutische Kultur typisch waren: „Sie lesen“ – die schriftliche Tora –, „sie wiederholen“ – die mündliche Tora (d. h. die rabbinischen Überlieferungen) –, „sie interpretieren“ – die schriftliche Tora, nämlich durch Auslegung. Die rabbinische Bewegung war allerdings an den Synagogen in der Spätantike noch wenig beteiligt: Wenngleich einzelne Rabbinen am Leben der Synagogen teilgenommen haben mögen, scheint die Intensität ihrer Teilnahme, damit aber auch der Einfluss der rabbinischen Bewegung insgesamt auf kommunale Angelegenheiten sehr begrenzt gewesen zu sein.32 Einige Passagen stellen das rabbinische Toralernen im Freien dar, wie folgendes Beispiel: Ein Geschehnis mit R. Ṭarfon, der am Sabbatnachmittag im Schatten eines Taubenschlages saß. Man brachte ihm einen Eimer kalten Wassers. Da sagte R. Ṭarfon zu seinen Schülern: Wer Wasser trinkt gegen seinen Durst, auf welche Weise spricht der die Benediktion? Sie sagten zu ihm: Lehre uns, Rabbenu [d. h., unser Meister, EA]! (Tosefta Berachot 4,16).33
Andere Passagen erzählen von der engen Nähe und Gemeinsamkeit von Meister und Schülern in Kontexten wie am Wohnort des Meisters, bei Mahlzeiten und Wanderungen.34 Dass die didaktischen Tätigkeiten oft am Wohnort des Meisters und an mehreren weiteren Standorten stattfinden konnten, hat bedeutende, wenngleich bisher wenig erforschte Implikationen für einen wesentlichen sozialen Aspekt der rabs. Stemberger 2011, 123–166; zur Tosefta ebd. 167–182; zu den halakhischen Midraschim ebd. 273–305 (s. auch die entsprechenden Abhandlungen in der in der Anm. 7 genannten Literatur). Zu verschiedenen Facetten der Korrelation zwischen der rabbinischen Literatur aus Palästina und der Geschichte der Region in der Spätantike s. die Beiträge in Goodman / Alexander 2010. 29 Goodblatt 1975, 93–107. 30 Überblick bei Hezser 1997, 209–214. 31 Übersetzung der Autorin. 32 Levine 2000. 33 Übersetzung nach Lohse / Mayer 1999, 63. Zur Passage s. auch Hezser 1997, 213 Anm. 222. 34 S. z. B. auch Mischna Avoda Zara 2,5.
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binischen Unterweisung, nämlich für die Frage des Zugangs und der Teilnahme der Frauen an die Vermittlung von rabbinischen Kenntnissen und Praxen. Die Mehrheitsmeinung in der Forschung hält Mädchen und Frauen für aus der rabbinischen Unterweisung ausgeschlossen – was sicherlich die in diesem Zusammenhang meist erforschten Textstellen suggerieren.35 Dennoch ist es sinnvoll zu vermuten, dass die weiblichen Familienmitglieder im Haushalt des Meisters die Gelegenheit gehabt hatten, bei den Sitzungen mitzuhören: Wie Judith Hauptman anhand späterer Texte argumentiert hat, hätten sie auch in einer früheren Phase von dem „transportablen bēt midrash“ profitieren können.36 Auch Günter Stembergers Betonung des Zusammenlebens mit dem Meister37 verstärkt eine solche Hypothese und die Möglichkeit, die Frauen in die Geschichte der männlichen rabbinischen Unterweisung mitzuimaginieren, denn es ist denkbar, dass die Schüler, die mit einem Meister für mehr oder wenige lange Zeit zusammen wohnten, auch Kontakt und Gespräche mit seiner Familie gehabt hatten. 2.2. Autorität und Autorisierung Die Tora kann als gemeinsamer Orientierungsrahmen der Rabbinen und deren Studium als repräsentatives Charakteristikum des rabbinischen Judentums38 gekennzeichnet werden. Das ganzheitliche Toralernen war für die frühen Rabbinen ein Anliegen für das ganze Leben.39 Auf das Ansehen, das sie als Tora-Experten genossen, stützten sie zum großen Teil die eigene Autorität, und zwar teilweise als Vermittler, teilweise als Erneuer, der Schrift als religiöser und kultureller Tradition Israels.40 Über das traditionelle Wissen hinaus waren sie aufgrund ihres Bestrebens, die Tora in Lebenspraxis umzusetzen, derer „lebende Ver35 S. Hauptman
2010, 249 f. 2010, 250 f. Durch die Wendung „‚portable‘ bet midrash“ bringt Hauptman Hezsers Rekonstruktion der nicht-institutionalisierten Natur der „Schulen“ auf den Punkt. Hauptman fasst das Thema auf folgende Weise zusammen (ebd. 251): „I am not suggesting that women were full-fledged students as were men, but that they were able to catch Torah ‚on the fly.‘ This is still Torah study, even if it is less sustained, less systematic, and, of course, less extensive. […] The anecdotes [sc. aus den Talmudim, die Hauptman analysiert, EA] portray conversations between husbands and wives and fathers and daughters in which a man, presumably at home, relates to a woman the new laws emerging from the study house. These exchanges are also a form of Torah study.“ 37 So in dem in Anm. 6 zitierten Manuskript. 38 So Hirshman 1993, 379: „If one had to choose a representative characteristic for rabbinic Judaism it would surely be Torah study.“ 39 Zum Thema s. Stemberger 2013. 40 Zur Frage der Autorität der Rabbinen s. ferner Neusner 1985; Hezser 1997, 450–466; Simon-Shoshan 2012 (hiernach fungieren die erzählerische Teilen der Mischna als Mittel sowohl für die Etablierung als auch für die Durchleuchtung und Reflexion der rabbinischen Autorität). S. auch die oben erwähnte theologische Vorstellung der offenbarten Natur der rabbinischen Überlieferungen. 36 Hauptman
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körperung“, wie es in der Sekundärliteratur häufig heißt.41 Nicht zuletzt aus emotionaler Sicht war ihr Umgang mit Torastudium und ‑auslegung kein rein intellektuelles Unternehmen.42 Es war das lange Zusammenleben mit dem Meister, das es dem Schüler ermöglichte, die notwendigen Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen auf allen Ebenen zu erwerben, und dadurch zur Lehre und weiteren Vermittlung der Tradition autorisiert zu werden. Die Fähigkeit der einzelnen Rabbinen, sich Nachwuchs zu erwerben, trug wiederum dazu bei, den Meister als solchen zu autorisieren. Die Dynamiken des Meister-Schüler-Verhältnisses dürfen von daher als wesentlich für die Autorisierungsprozesse innerhalb der rabbinischen Bewegung gelten, denn bei einem Rabbiner in die Lehre zu gehen war, wie es scheint, der übliche Weg, um andere lehren zu dürfen.43 2.3. Meister und Schüler: Hierarchische Verhältnisse und Verhaltungsanweisungen Zahlreiche Passagen legen nahe, dass der Schüler sich im idealen Meister-Schüler- Verhältnis dem Lehrer gegenüber als Diener verhalten musste.44 Der Dienst musste aber nicht nur zugunsten des Meisters geschehen, sondern er musste durch eine bestimmte Gegenseitigkeit geprägt sein, wie der folgende Midrasch deutlich macht: Es heißt ja: „Der Arme und der Besitzende begegnen einander; die Augen beider erleuchtet der Herr“ (Spr. 29,13). Und es steht geschrieben: „Reiche und Arme begegnen einander, doch der Herr hat beide erschaffen.“ (Spr. 22,2). Wie ist das zu verstehen? Wenn ein Schüler dem Meister dient und der Meister ihn lehren will – „erleuchtet die Augen beider der Herr“. Dieser und jener erlangen ewiges Leben. Wenn aber ein Schüler dem Meister dient und der Meister ihn nicht lehren will – „der Herr hat beide erschaffen“: Er, der diesen weise gemacht hat, macht ihn schließlich unwissend, und er, der jenen unwissend gemacht hat, den macht er schließlich weise (Mekhilta de-Rabbi Jishma‘el, Traktat Amalek 4).45
41 Für die Darstellung der Rabbinen als „embodiments of Torah“ s. z. B. Schwartz 2010, 287 f.; Simon-Shoshan 2012. S. auch die Formulierung bei Neusner 1985, 385: „[I]n the rabbi, the word of God was made flesh“; the rabbis were „Torah incarnated“ (non vidi; zitiert bei Hezser 1997, 459 Anm. 57). 42 S. z. B. Hezser 2017, 217–229 zum rabbinischen Weinen, auch mit Parallelen aus der römischen Umwelt und den christlichen Apophthegmata Patrum (insbesondere 221 f. zu bei der Lektüre einiger Bibelstellen weinenden Rabbinen). Allerdings betrachtet Hezser amoräische Texte. 43 So Hezser 1997, 93 f. bezüglich der rabbinischen Autorisierung: „If ‚ordination‘ in the sense of declaring someone a rabbi was not practiced in tannaitic and amoraic times how did one become a rabbi? It seems that the regular path toward becoming a rabbi, that is, a scholar who gave instruction to others, was to spend a number of years as a rabbi’s apprentice.“ 44 Die Wendung ‚den Weisen dienen‘ schildert den Status eines von einem Meister angenommenen Jüngers. 45 Übersetzung nach Stemberger 2010, 246 f. (Hervorhebung der Autorin). Zur Textstelle s. auch Hezser 1997, 333 f.
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Der Schüler wird in dieser Passage mit dem Armen, der Meister mit dem Reichen gleichgestellt, wobei dessen Reichtum aus einem sich soteriologisch auswirkenden Wissen und Können besteht, wie auch in anderen Textstellen, die die Licht-Metapher an das ewige Leben anwenden.46 Dadurch wird die rabbinische Unterweisung als Weg zum ewigen Leben charakterisiert. Nach dieser Passage führt jedoch das Toralernen den Meister nur dann zum ewigen Leben, wenn seine Bemühungen denen des Schülers entsprechen. Entzieht er sich der eigenen Verantwortung, erweist er sich ihrer nicht würdig, dann wird er gestraft, indem ihm sein eigenes belebendes Wissens genommen wird: Die göttliche Intervention kehrt die ursprüngliche Hierarchie um. Die rabbinische Meister-Rolle wird nur denjenigen erhalten bleiben, die ihr gerecht werden, indem sie den eigenen „Reichtum“ weitergeben und vermitteln. Spaltet ein Schüler die rabbinische Hierarchie,47 straft ihn Gott, nach folgender erzählenden Einheit im Midrasch Sifra zum Buch Leviticus, schon auf dieser Welt durch den Tod: Eine Begebenheit, die einem Jünger wiederfuhr, der Halakha vor seinem Meister R. Eliezer lehrte. Da sagte R. Eliezer zu Imma Schalom, seiner Frau: Ich würde mich wundern, wenn dieser die Woche heil überlebt. Und er lebte nicht bis zum Sabbat. Es sagten zu ihm seine Jünger: Unser Meister, bist du ein Prophet? Er antwortete ihnen: Ich bin kein Prophet und auch nicht der Sohn eines Propheten. Doch habe ich die Überlieferung, dass jeder, der Halakha in Gegenwart seines Meisters lehrt, des Todes schuldig ist (Sifra Shemini, Mekhilta de-Milluim Pereq 2).48
Eine solche rhetorische Abschreckung lässt die potentielle Entstehung von Konflikten und Konkurrenz innerhalb der rabbinischen Bewegung durchscheinen. Der Autor oder Redaktor dieser Erzählung erlegt dem nicht autorisierten Jünger eine der härtesten göttlichen Strafen auf, seiner Hybris wegen. Er lässt Rabbi Eliezer, den Protagonisten der Erzählung, sein Wissen über die göttliche Todesstrafe für den Jünger als von seinem eigenen Meister vermittelte Überlieferung präsentieren, was die korrekte Vermittlungspraxis (hier konkret von religiösen Gesetzen) illustriert: Eine Traditionskette verläuft von einer Generation zur nächsten – und nicht umgekehrt! Durch die Strafe vernichtet diese Erzählung, auf der symbolischen Ebene, den Unterbrecher der idealen Traditionskette, um die akzeptierbare Praxis klar zu definieren.49
46 S. z. B. Abate 2012 (wo, aber, eine Korrektur der Kategorisierung notwendig wäre: Es handelt sich um einen soteriologischen anstatt eschatologischen Diskurs). Zu rabbinischen soteriologischen Vorstellungen s. Naiweld 2017. 47 Vgl. Berkowitz 2006, 3. 48 Übersetzung Günter Stemberger. 49 Es fehlt aber nicht an Textstellen, die eine Umkehrung der Rollen darstellen (s. dazu Naiweld 2016, 258 f. 263 f.).
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Außergewöhnlich langlebig sind indes die drei Gelehrten – etwa die Grundväter des rabbinischen Judentums50 – aus einem Midrasch zu Dtn 34,7 („Und Mose war 120 Jahre alt“): Dieser ist einer von vier (Männern), die im Alter von 120 Jahren starben. Und folgende sind es: Mose, und Hillel der Alte, und Rabban Jochanan ben Zakkai, und Rabbi Akiva. Mose lebte 40 Jahre in Ägypten und 40 Jahre in Midian, und er versorgte Israel 40 Jahre lang. Hillel kam als Vierzigjähriger von Bavel herauf und diente den Gelehrten 40 Jahre und versorgte Israel während 40 Jahren. Rabban Jochanan ben Zakkai beschäftigte sich im Handel während 40 Jahren und diente den Gelehrten während 40 Jahren und versorgte Israel während 40 Jahren. Rabbi Akiva lernte Tora mit 40 Jahren und diente den Gelehrten während 40 Jahren und versorgte Israel während 40 Jahren (Sifre Deuteronomium 357).51
Die Bedeutung der Gelehrten für die Lehre und Tradition wird durch die Angleichung an Mose in dieser schematisierten Lebensgliederung hervorgehoben.52 Eine weitere Vorstellung des Dienstes kommt zum Ausdruck und wird hyperbolisch und vorbildlich geschildert: Nicht nur jüngere Lernende sollen den Lehrenden dienen, sondern auch reifere und besonders begabte Figuren sollen idealer Weise sowohl den Etablierten innerhalb der rabbinischen Bewegung als auch einer breiteren Gemeinde als Diener unterworfen sein. In den hier vorgestellten Passagen lässt sich ein Akzentwechsel zwischen hierarchischen Verhältnissen, Verantwortung und Zwischenmenschlichem erkennen. Der im Beitragstitel zum Teil zitierte Midrasch resümiert die ideale hierarchische Balance zwischen Meister und Schüler, indem er einen Aspekt des Zwischenmenschlichen innerhalb der Jüngerkreise betont: Und woher (wissen wir), dass die Ehre seines Schülers einem Menschen lieb wie er selbst sein soll? Es heißt ja: „Da sagte Aaron zu Mose: Mein Herr, ich bitte dich“ (Num 12,11). War er denn nicht sein älterer Bruder? Was lehrt es, wenn er ihn „mein Herr“ nennt? Dass er ihn wie seinen Meister betrachtete. Und woher (wissen wir), dass die Ehre seines Meisters einem Menschen lieb sein soll wie die Gottesfurcht? Es heißt ja: „Da ergriff Josua, der Sohn Nuns, der von Jugend an der Diener des Mose gewesen war, das Wort (und sagte: Mose, mein Herr, hindere sie daran) (Num 11,28).“ Er sagte ihm: Mein Meister Mose, so wie Gott sie hindern würde, solltest auch du sie hindern (Mekhilta de-Rabbi Jischmael, Traktat Amalek 1).53
Die aus dem Verhältnis von Aaron zu Mose abgeleitete Verhaltensanweisung für den Meister fordert den Letzteren auf, den Schüler als so wichtig und würdig wie sich selbst zu betrachten. Die Fortsetzung der Passage fordert aber den Schüler auf, die Position des Meisters mit der Gottes gleichzustellen.54 50 So
Fraade 2011, 171. nach Bietenhard 1999, 892 (Hervorhebung der Autorin). 52 S. Bietenhard 1999, 892. 53 Übersetzung nach Stemberger 2010, 220. Vgl. Mekhilta de Rabbi Simeon ben Jochai 17,9 und Mischna Avot 4,12. 54 In einer späteren Passage (Talmud Bavli, Traktat Berakhot 9,5, 14 d) beansprucht der Meister göttliche Autorität. Die Parallelüberlieferung zu dieser Textstelle in Mischna Avot 4,12 51 Übersetzung
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Anschließend an die vorliegende Vorstellung von einigen Aspekten des Zusammenspiels von Autorität, Hierarchie und Verhaltensanweisungen in der rabbinischen Unterweisung, darf ein Schlaglicht auf einen weiteren Aspekt des Meister-Schüler-Verhältnisses geworfen werden. Eine empfindliche Dimension der Verantwortung des Meisters dem Jünger gegenüber wird in der folgenden Erzählung aus der Mischna dargestellt: Rabbi Nechunja ben ha-Kana pflegte bei seinem Eintritt ins Lehrhaus und bei seinem Austritt ein kurzes Gebet zu sprechen. Sagten sie [seine Schüler] zu ihm: Was hat dieses Gebet zu bedeuten? Er sagte ihnen: Bei meinem Eingang bete ich, dass sich kein Missgeschick durch mich ereigne, und bei meinem Ausgang sage ich Dank für meinen Teil (Mischna Berakhot 4,2).55
Die Passage befindet sich im Kontext einer Abhandlung über die Segenssprüche, die ausführlich in ihren halakhischen und formalen Einzelheiten diskutiert werden. Umso merkwürdiger ist es, dass der Rabbi hier ein freies und persönliches Gebet formuliert: Seine überraschten Schüler fragen nach seinem ungewöhnlichen Verhalten, vielleicht kritisch, vielleicht, um davon zu lernen. Was lernen wir denn von seiner Antwort bezüglich der Vermittlung religiösen Wissens? Meines Erachtens bringt dieser Text eine gewisse religiöse und pädagogische Demut zum Ausdruck. Dem Rabbi ist bewusst, wie gravierend eine falsche Lehre wäre. Er vertraut sich dem göttlichen Schutz an, um Vermittlungsfehler zu vermeiden.
3. Fazit Im vorliegenden Beitrag wird die breit akzeptierte These als Ausgangspunkt genommen, dass die rabbinische Lehre in der Spätantike sich um die Figur des Meisters (statt im Rahmen schon institutionalisierter Schulen) organisierte. Aufgrund dessen wird betont, dass das Zwischenmenschliche eine zentrale Rolle in den rabbinischen Autorisierungsprozessen gespielt haben soll, und zwar sowohl für die Schüler als auch für die Meister. Um Schlaglichter auf einige paradigmatische Aspekte der Interaktionen zwischen Meister und Schüler zu werfen, wird dann anhand einiger Texte aus den tannaitischen Quellen untersucht, welche Ideale, welche Verhaltungsanweisungen, aber auch welche Nuancen und welche Widersprüchlichkeiten in der rabbinischen Literatur diesbezüglich artikuliert werden.
schließt in ihrer dreigliedrigen Struktur auch die Kollegen ein: „Die Ehre deines Schülers sei dir lieb wie die Ehre deines Kollegen, und die Ehre deines Kollegen wie die Ehre deines Meisters. Und die Ehre deines Meisters wie die Ehre des Himmels“ (Übersetzung der Autorin). 55 Übersetzung nach Krupp 2008 a.
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Selbstverständlich reichen die wenigen präsentierten Textstellen weder, um die These einer am Anfang nicht oder sehr wenig institutionalisierten Natur der rabbinischen Unterweisung zu verifizieren, noch um sie zu falsifizieren, denn dieser Beitrag hat keine systematische und flächendeckende Untersuchung der Frage vornehmen können. Allerdings scheinen die hier hervorgehobenen Aspekte dieser These nicht zu widersprechen, sondern sie stützen sie zumindest in den folgenden Hinsichten. Die Erzählung (maʽaśeh) über R. Ṭarfon und seine Schüler an einem Sabbatnachmittag (Tosefta Berachot 4,16) stellt eine informelle Lehrsituation dar, die paradigmatisch zeigt, wie eine lebensweltliche und alltägliche Situation eine didaktische und halakhische Relevanz übernehmen kann, ohne dass ein institutioneller Rahmen in die narrative Szene miteinbezogen wird. Außerdem geschieht hier die Autorisierung des Meisters, wenn man will, durch die Choralität des Appells: „Lehre uns, Rabbenu!“, und zwar, wie angedeutet, eher durch stilisiert dargestellte zwischenmenschliche und soziale Dynamiken, aber nicht durch eine formelle Struktur. Die Auslegung der beiden Verse aus dem Buch der Sprüche (Mekhilta de-Rabbi Jishma‘el, Traktat Amalek 4), die nicht nur den Rollenunterschied zwischen Meister und Schüler schildert, sondern auch die Gegenseitigkeit des Dienstes zwischen ihnen, betont letztendlich die Funktion der Meisters als Vermittler der Tradition als Autorisierungsfaktor. Letzteres wäre mit einem institutionellen Rahmen nicht inkompatibel. Dass der Meister sich verweigern könnte, sein Wissen und Können weiterzugeben, spricht eher für eine noch offene, unstrukturierte Gestalt und Funktionsweise der rabbinischen Unterweisung. Die hyperbolische Todesdrohung gegen den nicht autorisierten Halakha-Vermittler (Sifra Shemini, Mekhilta de-Milluim Pereq 2) entfaltet sich auf der rhetorischen und symbolischen Ebene, was auch als Zeichen einer noch nicht institutionalisierten Dimension interpretiert werden kann. Denn die Passage setzt keine menschliche, im weitesten Sinne amtliche Strafe voraus. Die stilisierte Schilderung der drei langlebigen Gelehrten (Sifre Deuteronomium 357) stellt zwei soziale Funktionen bzw. settings der rabbinischen Tätigkeiten nebeneinander: einen inner-rabbinischen, elitären Dienst einerseits und die Versorgung der breiteren Gesellschaft andererseits. Dieses Element verleiht einem Ideal Ausdruck, das sich erst in einem institutionellen Rahmen verwirklichen kann, ist aber an sich keine belastbare Quelle für die tatsächliche Praxis und historische Realität zur Zeit der Tannaiten. Kein Beleg dafür ist auch die Stelle, die die rabbinischen Lehr‑ und Lerntätigkeiten in Zusammenhang mit der Synagoge bringt (Tosefta Megillah 2,18). Sie weist allerdings auf einen interessanten Anknüpfungspunkt zwischen rabbinischer Elite und breiterer Gesellschaft insgesamt hin, dem hier nicht weiter nachgegangen werden kann. Der im Beitragstitel zitierte Midrasch (Mekhilta de-Rabbi Jischmael, Traktat Amalek 1) und die Erzählung über Rabbi Nechunja ben ha-Kanas Beten im Lehrhaus (Mischna Berakhot 4,2) enthalten eine Ethik des Meister-Schüler-Verhältnisses, die sowohl einem informellen Jüngerkreis als auch einer festeren Institution entsprechen
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könnten. Nichtsdestoweniger kann man schließlich beobachten, dass die aus beiden Textstellen auftauchende Beschäftigung mit Fragen nach dem adäquaten Verhalten bei den Interaktionen zwischen Meister und Schüler möglicherweise in einem begrenzten, noch nicht institutionalisierten Kontext dringender sein könnte.
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„Dieser ans Kreuz geschlagene Sophist“ Vom Umgang mit religiösen Erweckern bei Lukian Peter von Möllendorff Das religiöse Leben der römischen Kaiserzeit zeichnet sich durch die Zunahme von Differenzierung, Komplexität, sozialer Durchlässigkeit und Individualisierung aus. Neben einem Kultvollzug, der eng an die gesellschaftlichen Trägerinstitutionen des Hauses und des Staates, ergänzt durch überstaatliche religiöse Funktionsorte (Orakel, Heilstätten, Mysteriensitze, Wettkampforte etc.), und damit an ein stabiles, ortsfestes Kultpersonal und einen fixierten rituellen Kanon gebunden ist, finden sich in immer größerer Zahl Dokumentationen und Erwähnungen religiöser Performanzen, die an oft mobile Einzelakteure gebunden sind und insbesondere das persönliche Wohlergehen des einzelnen Individuums betreffen.1 Hinzu treten im Zuge der Ausweitung des Imperiums Erfahrungen mit neuen Göttern und ihren Kulten, die im Zuge berufsbedingt räumlicher, aber auch sozialer Mobilität angeeignet und mit den eigenen religiösen Traditionen verschmolzen werden konnten: Die Absichten und die Wirkungen solcher Aneignungen konnten dabei ganz unterschiedlich sein: Die einen verbanden sich auf diese Weise erneut mit ihrem Herkunftsort, andere gewannen exotische Optionen dazu und konnten damit unterstreichen, dass sie über den Tellerrand hinausschauten. Gerade Letzteres war eine Chance, sich als Einzelner, selbst als jemand, der an seinem angestammten Ort blieb, den weiten Raum des Imperium Romanum zu eigen zu machen. Dies war nicht nur für die eigene Identität wichtig, sondern auch in der Kommunikation gegenüber anderen.2
Diese „Wichtigkeit für die eigene Identität“ lässt sich als Akkulturation einerseits, Bewältigung von Fremdheitserfahrung andererseits spezifizieren. Religiöse Erfahrung wird erweitert und intensiviert, weil der individuelle Horizont sich weitet, zugleich aber auch das Bedürfnis nach Strategien der inneren Selbstvergewisserung zunimmt, während der althergebrachte Kult eher einer politischen Stabilisierung sowie der Anbindung von Peripherien ans Zentrum dient und einer Konzentration auf staatlich gelenkte Institutionen, theologisch auf die ka1 Vgl.
hierzu Rüpke 2016, 270–334. 2016, 271.
2 Rüpke
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pitolinische Trias unterliegt; in diesem Kontext spielt auch der Kaiserkult eine besonders wichtige Rolle.3 Die Gründung von ‚Kult-Vereinen‘ ermöglicht nebeneinander die religiöse Gruppenerfahrung einerseits, die spirituelle Erkundung eskapistisch-ekstatischer Räume andererseits. Religiöse Betätigung zeigt sich als ein hochgradig komplexes und schichtenübergreifendes Phänomen und damit als generelle Eigenschaft der Gesellschaft jener Epoche; zu sozialer Differenzierung trägt sie hingegen nicht bei.4 Die hier nur in Andeutung skizzierten Entwicklungen, die sich unter den Stichworten Konzentration, Detraditionalisierung, Individualisierung zusammenfassen lassen, öffnen dem Religiösen einen weiten Emergenzraum. Restriktionen betreffen primär den Bereich des staatlich institutionalisierten Kultes, jenseits der einfachen Formel, pointiert formuliert, dass erlaubt ist, was nicht verboten ist. Damit werden auch religiöse Experimente ermöglicht, wenn sie bestimmte Grenzen nicht überschreiten, die am ehesten im Bereich des Divinatorischen zu finden sind, da mit Rekurs auf Orakel Politik gemacht werden kann.5 Dies ist umso riskanter, als durch den Detraditionalisierungstrend sowie durch den zunehmenden Eklektizismus und Synkretismus die Verbindlichkeit religiöser Formen insgesamt abnimmt. Systembezogene Verantwortlichkeit verschiebt sich in Richtung der Selbstverantwortung im Zeichen einer personalisierten Gottbindung.6 Eine solche enge, ja intime Bindung, in der das labile menschliche Ich von außen, von einer unwandelbaren externen Instanz aufgefangen und getragen wird und wie sie sicher am eindringlichsten in Aelius Aristides’ Hieroi Logoi dokumentiert ist, geht Hand in Hand mit einer entsprechend privaten Kommunikation zwischen Gott und Mensch durch Träume und Visionen, bisweilen durch Vermittlung religiöser Spezialisten in Gestalt von persönlichen Lebensvorhersagen.7 Religion bewirkt mithin eine Exzentrizität des Menschen, die Suche nach einem organisierenden Mittelpunkt außerhalb seiner selbst. Natürlich stehen dem Kräfte entgegen, die das Individuum in sich selbst zu verankern suchen. Hier ist zunächst die Philosophie zu nennen, die der Religion insofern explizit kritisch gegenüber steht, als sie argumentative Begründungen für solche lebensorganisierenden Sätze einfordert. Daneben bietet sie aber auch Konzepte zu einer verantwortlichen Selbstfindung und ‑bindung, etwa das stoische Ziel der oikeíosis und die Arbeit an Apathie und Ataraxie. Pos3 Vgl.
hierzu insgesamt Rüpke 2011. konnte Religiosität in den Formen ihrer Medialisierung sehr wohl elitaristisch agieren, etwa bei der Konstitution oberschichtlicher „Textgemeinschaften“; vgl. Rüpke 2016, 338–340. 5 Vgl. Rüpke 2016, 317–320.341. 6 Als Beispiel sei hier nur die Truppe der Galli in Apuleius’ Metamorphosen B. 8 genannt. Dieser Roman endet religiös fulminant mit der Erhöhung des Protagonisten zu einem Eingeweihten von Isis und Osiris (B. 11). 7 Auch hierfür bieten Apuleius’ Metamorphosen mit dem visionären Ende von B. 10 ein prägnantes Beispiel. 4 Allerdings
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tulate eines unter allen Umständen möglichen, wohldefinierten menschlichen Glücks verzichten auf Berücksichtigung göttlicher Hilfe und Feindschaft oder des Zufalls. Zur Philosophie tritt die in der Kaiserzeit blühende Rhetorik der so genannten Zweiten Sophistik. Sie verleiht ihren Adepten ein Rüstwerk theoretisch-systematischen wie praktischen Wissens, das sie zu einer sprachlichen Selbstbemächtigung ersten Ranges befähigt. Sie verbindet sich mit der Forderung nach umfänglicher und tiefer Vertrautheit mit der als klassisch und damit als vorbildhaft wahrgenommenen griechischen Kultur – Literatur und Kunst – des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts, die durch weitere ausgewählte paradigmatische Monumente älterer und jüngerer Zeit ergänzt wird: Eine solche kanonische Episteme aus Philosophie, Rhetorik und klassizistischer Bildung soll, wie es beispielsweise Lukian formuliert hat, den ganzen Menschen ergreifen und ‚umfärben‘: Sobald nämlich die Weisheit sie in ihre Obhut genommen und umgefärbt hat, sind am Ende diejenigen, die vom Färbemittel bis zur Sättigung getrunken haben, brauchbar bis ins Detail, ohne Beimischung anderer Farben […] Alle diejenigen aber, die aufgrund ihrer früheren Verschmutzung das Mittel nicht dauerhaft bis in die Tiefe aufgenommen haben, sind zwar besser als die anderen, aber doch nicht vollkommen, haben noch weiße Stellen, sind fleckig und gescheckt wie Leopardenfelle. Dann gibt es noch diejenigen, die den Färbekessel nur von außen und mit der Fingerspitze berührt und sich dabei ein bisschen rußig gemacht haben – trotzdem meinen auch sie, hinreichend umgefärbt zu sein.8
Es ist das Individuum selbst, das sich alle für die ‚Umfärbung‘ nötigen Kenntnisse und Kompetenzen aneignet. Der im emphatischen Begriff der Epoche ‚Gebildete‘ (πεπαιδευμένος) gestaltet seine Persönlichkeit durch einen aktiven Zugriff als Subjekt auf eine Tradition, die auf ihre eigene Weise ebenfalls unwandelbar, nämlich eben kanonisiert ist, und formt sich idealiter zu einem hinsichtlich Sprachvermögen, Selbst‑ und Alltagsbeherrschung, Ästhetik und geistiger Unabhängigkeit perfekten Individuum, dessen Autonomie ihn auch über politische Alltagsbindungen hinaushebt. Eine solche Selbständigkeit lässt sich bei den großen Exponenten kaiserzeitlicher Bildung durchaus auch dann beobachten, wenn sie etwa in der römischen Verwaltung tätig sind. Aelius Aristides verhandelt mit dem Kaiser über die Befreiung von gemeinnützigen Tätigkeiten, und von Lukian kennen wir das Schriftenpaar De mercede conductis und Apologia: Im ersten Text macht sich der Sprecher über griechische Gebildete lustig, die sich in den Haushalten reicher Römer verdingen, im zweiten Text muss er sich hingegen vorwerfen lassen, selbst ebenfalls in der römischen Verwaltung angestellt zu sein.9 Obwohl er diese Tatsache nicht leugnen kann, meint er doch, sich verteidigen zu müssen, woraus zu schließen ist, dass dieses Tun nicht dem Ideal eines Gebildeten entsprechen kann. Dieses Ideal besteht vielmehr in einem KosmoBis accusatus 8. hierzu jetzt Hafner 2017 a; ders., 2017 b.
8 Lukian, 9 Vgl.
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politentum: Der Anspruch, der Geltungsbereich griechischer παιδεία, reicht über alle Grenzen hinaus, und umgekehrt ergibt ‚Grenzwertiges‘ erst innerhalb dieser παιδεία wirklich Sinn: Die Individualidentität auch des Grenzgängers geht in der universellen Bildungsidentität auf, die dem Gebildeten die gekonnte Übernahme beliebiger Rollen in der Gesellschaft ermöglicht.10 Es liegt auf der Hand, dass dieser Weg aufwendig und mühsam ist11 und daher nicht von jedem beschritten werden kann. Voraussetzung ist vielmehr eine weitgehende ressourcielle Unabhängigkeit, entweder auf der Grundlage eines umfänglichen Vermögens oder aufgrund von forcierter Anspruchslosigkeit, die verständlicherweise nur wenige aufbringen. Daher findet das παιδεία-Ideal seine Umsetzung in erster Linie innerhalb der Oberschicht. Für sie ist Bildung dann auch identitätsstiftend, weil erst sie ihr die Partizipation an politischer Macht überhaupt ermöglicht.12 Wenn auch Bildung unter anderem über spezifisch religiöses Wissen verfügt, so ist sie doch in ihrer Funktion und Wirksamkeit davon nicht abhängig. Vielmehr liegt ihr der emphatische Begriff eines Individuums zugrunde, das sich durch Begabung, didaktische Unterstützung und Übung einer großen Tradition bemächtigt und in dieser Verpflichtung zur Bemächtigung an ihr reift und sie bereichert. So perspektiviert, tritt παιδεία der exzentrischen Religion als konzentrische Kraft gegenüber. Entsprechend betrachtet sie religiöses Verhalten mit einem kritischen Blick. Erneut bietet uns der Roman des Apuleius einen guten Beleg, denn selbst die Isis-Konversion des Protagonisten Lucius kann man sowohl als fromme Hingabe an eine übermächtige Gottheit wie auch als irrationale Selbstaufgabe ansehen und den Roman in letzterem Falle als selbst in seinem Finale noch satirisch intendiert deuten.13 Es versteht sich von selbst, dass der Gebildete, wenn er schon Menschen, die völlig in ihrem Glauben aufgehen, nicht ganz ernst zu nehmen vermag, religiösen Erweckern, Sektengründern und Visionären erst recht misstrauisch gegenübersteht. Der Gebildete wird dem Objekt religiöser Zuwendung einen Raum in seinem Denken einräumen, allerdings auf der Basis einer rationalen Kalkulation und Argumentation und mit Blick auf seine ästhetischen Erscheinungsformen in Literatur und Kunst, die einen wesentlichen und integralen Faktor kaiserzeitlicher Kultur darstellen.14 Religiosität hingegen 10 Vgl. Baumbach / von Möllendorff 2017, 93–99. Hingegen ist der Kyniker, der in Lukians Werk in zahlreichen Brechungen vorgeführt wird, trotz seiner Bildungsfeindlichkeit ebenfalls ein Kosmopolit, weil er nicht überall, sondern nirgends zuhause ist. 11 Auch dies wird in Lukians Œuvre immer wieder betont, etwa im Rhetorum praeceptor und im Hermotimus. 12 Vgl. Schmitz 1997. 13 Vgl. zuerst Sallmann 1988, 81–102; Keulen u. a. 2015, 42 f. mit weiterer Literatur und einem Deutungsüberblick; zur Möglichkeit einer absichtsvollen Deutungsdichotomie vgl. von Möllendorff 2004, 45–72. 14 Dieses kulturelle Bemühen um Ganzheitlichkeit, um die Integration von Sprechen, Denken und Gestalten in einer souveränen Person nicht zu sehen ist ein Defizit in der ansonsten klugen und detailreichen Arbeit von Berdozzo 2011.
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geht von unterschiedlichen, aber allgegenwärtigen Formen göttlichen Wirkens aus, eine Haltung, die sich in intensivierter Form zum Aberglauben – superstitio, δεισιδαιμονία – versteigt.15 Aberglaube führt zu der Überzeugung, dass in jedem irdischen Phänomen das Göttliche als tätig angesehen werden muss: Dann aber kann sich das Individuum in keinem einzigen seiner Lebensvollzüge mehr als selbstmächtig verstehen und gibt damit jeden Anspruch auf Selbstkontrolle preis. Diese wiederum ist, folgt man etwa den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, als ἐγκράτεια das eigentliche ethische Ziel philosophischer Unterweisung, und wer etwa ständig bei Abwehrgesten und Vermeidungsverhalten ertappt wird, macht sich nicht nur als Gebildeter lächerlich, sondern er offenbart überdies eine falsche Vorstellung von den Göttern und macht sich damit eines Verstoßes gegen Forderungen angemessener Frömmigkeit – pietas, εὐσέβεια – schuldig. Der Abergläubische, δεισιδαίμων, bewegt sich daher in einer geistigen Grundhaltung, die religiösen Erweckern alle Türen öffnet, auch denen, die aus der Sicht eines Gebildeten schnell als Scharlatane zu entlarven wären: all jene nämlich, die ihre religiöse Doktrin nur behaupten und inszenieren, sie aber nicht begründen können.16 Gleichzeitig steht der Begriff natürlich auch leicht für polemische Attacken unter Gebildeten zur Verfügung, da er als Vorwurf weit trägt und leicht zur Hand ist: Genau wie religiöse gibt es auch rhetorische und philosophische Scharlatane.17 Im Folgenden möchte ich durch die Analyse einiger Stellen aus vier Schriften Lukians – Philopseudes, Alexander, De morte Peregrini und Hermotimus – zeigen, wie komplex und ambivalent der Umgang des Gebildeten mit wirklichen oder vermeintlichen δεισιδαίμονες sich gestaltet und wie schwierig eine rationale Prüfung von als abergläubisch verdächtigen Ansichten in der Praxis tatsächlich ist. Ein eigener Blick soll dabei dem christlichen Sektengründer Jesus von Nazareth gelten: Wird auch er von Lukian als Scharlatan gebrandmarkt? Das Szenario des Philopseudes führt uns eine Gesellschaft von πεπαιδευμένοι vor, die sich um das Krankenbett des Eukrates versammelt haben und sich und ihm à la Phaidon18 die Zeit mit Gesprächen vertreiben. Sehr schnell ist man beim Thema phantastischer Ereignisse angelangt und amüsiert sich auf das beste damit, sich gegenseitig mit der Erzählung immer noch unglaublicherer Geschehnisse zu überbieten. Nur Tychiades sitzt als ungläubiger Thomas dabei19 und bemüht sich nach Kräften, seine Bekannten von der Irrationalität und daher Un15 Vgl.
Rüpke 2011, 9–14.49–54.
16 Dies steht als eigener Gesichtspunkt neben der Frage, ob der religiöse Erwecker denn auch
eine seinen eigenen Gesetzen und Verkündigungen tatsächlich entsprechende Lebensführung pflegt – eine Frage, die auch dem Gebildeten, gerade dem Philosophen, immer wieder gestellt wird. 17 Dies zu betonen wird Lukian nicht müde; vgl. beispielsweise Adversus indoctum, Rhetorum praeceptor, Piscator, Eunuchus, Symposium. 18 Vgl. hierzu Ebner u. a. 2001, 57–59. 19 Vgl. hierzu Baumbach / von Möllendorff 2017, 36–38 und von Möllendorff, 2006, 187–201.
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angemessenheit all dessen, was sie erzählen, zu überzeugen, allerdings ohne Erfolg. Seine Vorhaltungen münden schließlich in den Vorwurf der δεισιδαιμονία: Werdet ihr nicht aufhören, sagte ich, derartige Wundergeschichten zu erzählen (τερατολογοῦντες), alte Männer, die ihr seid? Andernfalls verlegt wenigstens dieser jungen Leute wegen derartige paradoxe und Furcht erregende Erzählungen (τὰς παραδόξους ταύτας καὶ φοβερὰς διηγήσεις) auf einen anderen Zeitpunkt, damit sie uns bloß nicht unbemerkt mit schrecklichen und abartigen Märchen angefüllt werden. Man muss doch auf sie Rücksicht nehmen und darf sie nicht daran gewöhnen, derartiges zu hören, was sie ihr ganzes Leben hindurch begleiten, belasten und sie bei jedem Geräusch schreckhaft machen wird, weil es sie mit jeder Art von Geisterfurcht (δεισιδαιμονία) anfüllt.20
Aus dem oben erläuterten kulturellen Kontext heraus ergibt sich klar, dass der finale Vorwurf, die Diskutanten seien für die δεισιδαιμονία der ihnen anvertrauten Jugend verantwortlich – ein Vorwurf, der angesichts des platonischen Settings selbstverständlich in klassizistischer Mimesis den bekannten Punkt der Anklage gegen Sokrates aufgreift, er ‚verderbe‘ die Jugend: hier eben auf die kaiserzeitlichen Verhältnisse übertragen, womit der δεισιδαιμονία ein schweres soziales Gewicht verliehen wird –, als Pointe der Polemik zu verstehen ist und nicht auf die leichte Schulter genommen werden kann. Entsprechend radikal und zugleich raffiniert ist die Reaktion des Eukrates (und damit des Zentrums des gebildeten Zirkels): Gut, dass du daran erinnerst, sagte Eukrates, indem du die Geisterfurcht (δεισιδαιμονίαν) zur Sprache bringst. Was nämlich, lieber Tychiades, hältst du von derartigen Dingen, ich meine Orakel, Göttersprüche, alles, was gotterfüllte Leute ausrufen oder was man aus den innersten Bezirken der Tempel vernimmt oder was eine Jungfrau, im Versmaß sprechend, über die Zukunft voraussagt? Oder wirst du sogar an derartige Dinge nicht glauben?21
Eukrates’ argumentative Volte besteht darin, nun auch Elemente des traditionellen Kultes, und zwar gerade den empfindlichen Bereich des Orakelwesens – klimaktisch auf die Erwähnung der Pythia von Delphi hinsteuernd –, in die Debatte über Rationalität und Irrationalität des Glaubens einzubeziehen und auch diesen Bereich in der Fortsetzung des Textes geschickt mit seinen eigenen religiösen Erfahrungen zu verbinden. Wenn Tychiades hier die Zustimmung verweigert, dann gerät er damit womöglich in die Nähe eines diskursiven Bereichs, in dem Widerspruch und Ungläubigkeit justiziabel sein könnten. Vielleicht erklärt dies Tychiades’ abrupte Reaktion: Als ich (sc. Eukrates) nämlich auf der Heimreise aus Ägypten hörte, dass dieses Orakel in Mallos das berühmteste ist und wie kein anderes die Wahrheit spricht, dass der Orakelbescheid Wort für Wort Antwort darauf erteilt, was man auf die Tafel schreibt, die man dann dem Orakelpropheten übergibt, hielt ich es für gut, bei der Vorüberfahrt das Orakel Philopseudes 37. Übersetzung aller Philops.-Stellen von Ebner u. a. 2001. Philopseudes 38. Den Vorwurf, generell nicht an die Götter zu glauben, weist Tychiades schon sehr früh explizit zurück (Philopseudes 10). 20 Lukian, 21 Lukian,
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zu erproben und zusammen mit dem Gott ein wenig über die Zukunft zu beraten – Noch während Eukrates das sagte, sah ich (sc. Tychiades), wohin das Unternehmen hinauslaufen sollte und dass das Trauerspiel (τραγῳδίας), das er in Sachen Orakelstätten begann, keineswegs ein kurzes sein würde. Nachdem ich es nicht für richtig hielt, als einziger allen zu widersprechen, verließ ich ihn, noch während er aus Ägypten nach Mallos segelte – ich sah nämlich ein, dass sie durch meine Gegenwart belästigt wurden wie durch einen Kontrahenten ihrer Lügen.22
Tychiades auf der einen und der Kreis um Eukrates auf der anderen Seite positionieren sich gegenüber phantastischen Themen sehr unterschiedlich. Tychiades zieht eine klare Demarkationslinie zwischen dem, was man auf der Basis rationaler Absicherung glauben darf, und dem, was als (potentiell gesellschaftsschädliche) Phantasterei und Lüge zurückzuweisen ist. Eukrates und seine Freunde hingegen, die ja per definitionem auch zu den Gebildeten gehören, etablieren einen Grenzbereich, eine Peripherie der rationalen Ordnung. Innerhalb dieser Peripherie, die zwischen dem Wahren und dem klar Erlogenen liegt, haben bezeugte, aber doch unerklärliche Phänomene ihren Platz, Phänomene, deren Wirklichkeitsstatus zweifelhaft ist. Es dürfte gerade diese Ambiguität sein, in Verbindung mit dem Kitzel, sich auf der Grenze des im Rahmen der παιδεία Tragbaren zu bewegen,23 die einen Hauptteil des Vergnügens ausmachen, das Eukrates und die anderen aus ihren Gesprächen ziehen: Diese Gegenstände würden die Ordnung des Denkens gefährden, wären sie real, aber die verbleibende – hier natürlich immer geleugnete – Möglichkeit ihrer Fiktionalität macht sie gut verdaulich. In dem abgeschlossenen Chronotop eines privaten Zirkels, wie ihn der Besuch am Krankenbett eines Freundes konstituiert, bleibt letztlich alles unter Kontrolle, und so können die Gebildeten sich ihre Ausflüge in die Bereiche der δεισιδαιμονία ungestraft erlauben. Das Auftrumpfen des Vertreters eines rigiden Bildungskonzeptes muss entsprechend ins Leere laufen: Tychiades versagt, ja schießt mit seiner Kritik so sehr übers Ziel hinaus, dass er sogar die Bereiche des Religiösen trifft, die ins Visier zu nehmen unklug ist: Sein abrupter Aufbruch, scheinbar angewidert ob der nicht enden wollenden ‚Geistererzählungen‘, mag auch gerade einer entsprechenden Einsicht geschuldet sein. Scheint es im Philopseudes also zunächst um eine satirische Verulkung allzu leichtgläubiger Gebildeter zu gehen und damit, positiv gewendet, um eine schärfere Konturierung von παιδεία, so erweist sich bei näherem Hinsehen, dass der Umgang mit Gegenständen der δεισιδαιμονία schwieriger als erwartet ist Philopseudes 38 f. ist dies dann eine Variante der permanenten kaiserzeitlichen Kanondebatte. Während völlig klar war, welche Gegenstände und Autoren den Kern dieses Kanons bilden, waren seine Ränder Gegenstand der Diskussion. Es stellte einen Sieg im Bildungsagon dar, die Kanonfähigkeit eines den anderen nicht bekannten Textes nachweisen zu können – dieser Siegeswunsch ist das innere Movens beispielsweise der Deipnosophistae des Athenaios von Naukratis. 22 Lukian,
23 Letztlich
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und dass sie als religiöses Phänomen, das scheinbar einem emphatischen Begriff von Bildung entgegensteht, ja deren konzeptuelle Weite beeinflussen und hinterfragen kann. Das offensichtlich schwierige und facettenreiche Verhältnis von Deisidaimonie und Orakelwesen lotet Lukian in seiner polemischen Biographie Alexander sive Pseudomantis aus. Jener Alexander hatte gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. in seiner Heimatstadt Abonuteichos den Orakelkult der Schlange Glykon begründet, die er als eine Reinkarnation des Asklepios (νέος Ἀσκληπιός) bezeichnete. Der Kult war immens erfolgreich und bestand bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts; Spuren in Gestalt von Votiven und Münzen reichen bis nach Syrien und ins Donaudelta. In seiner Schrift versucht Lukian jenen Alexander als einen Scharlatan der übelsten Sorte zu diskreditieren, mit dem Höhepunkt einer persönlichen Begegnung, bei welcher Gelegenheit der Sprecher den Orakelpropheten in die Hand gebissen zu haben und dessen Nachstellungen nur mit Mühe entkommen zu sein behauptet. Mit Alexander haben wir einen Kultstifter im eigentlichen Wortsinne vor uns. Lukian scheint mit seiner Polemik und Feindseligkeit auf einsamem (und letztlich verlorenem) Posten gestanden zu haben: Alexander, von Herkommen und Bildung ohne Zweifel ein πεπαιδευμένος (Alexander 4), gelang es, den GlykonKult als machtvolle Instanz in der Öffentlichkeit zu etablieren. Es ist im vorliegenden Zusammenhang nicht unsere Aufgabe, nach der Berechtigung der Vorwürfe Lukians zu fragen; bedeutungsvoller ist hier seine Feststellung der Deisidaimonie nicht als vielleicht zu missbilligender spielerischer Haltung, sondern als einer soziokulturellen mentalen Voraussetzung, derer sich Alexander geschickt zu bedienen weiß: Das erste, was sie jetzt in Überlegung nahmen, war der Ort, den sie zur Szene ihrer Unternehmung wählen, wie sie es anfangen und was für eine Gestalt sie der Sache geben wollten. Kokkonas meinte, Chalzedonien wäre dazu am gelegensten, teils weil es eine ansehnliche Handelsstadt ist, teils weil sie nahe an Thrazien und Bithynien liegt, auch nicht weit von Asien, Galatien und allen den angrenzenden Völkern entfernt ist. Alexander hingegen gab seiner Vaterstadt den Vorzug, und dies aus dem sehr richtigen Grunde, weil zum Anfang einer solchen Unternehmung nötig sei, es mit rohen und dummen Menschen zu tun zu haben, denen man alles weismachen könne, was man wolle. Die Paphlagonier, sagte er, zumal die in der Gegend von Abonuteichos, schickten sich dazu ganz vortrefflich; es sei größtenteils ein so abergläubisches (δεισιδαίμονας) und zugleich reiches Volk, dass der erste beste Siebdreher, der mit einem Pfeifer oder Trommelschläger vor sich her zu ihnen kommt und den Weissager machen will, sogleich ganze Scharen Volks um sich herum hat, die ihn mit offnen Mäulern angaffen und für einen vom Himmel herabgestiegenen Mann ansehen.24
Die Erfolglosigkeit des Erzählers, der sich Loukianós nennt und als aktivistische Version des oben vorgestellten Tychiades auftritt, basiert auf der Gewissenlosigkeit seines Gegners, die im Verlauf der Erzählung als spezifisch ethisches Bil24 Lukian,
Alexander 9, Übersetzung: Wieland 1788/89.
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dungsdefizit erscheint. Alexander verwendet seine παιδεία-Fähigkeiten, um die religiöse Erweckbarkeit seiner Mitbürger für seine Zwecke auszunutzen. Gerade weil Bildung höchstes soziokulturelles Ansehen genießt, kann Alexander auch höchste Kreise für sich und sein Orakel interessieren, und der Sprecher macht deutlich, dass deren δεισιδαιμονία ebenfalls als (der Scharlatanerie komplementäres) Bildungsdefizit anzusehen ist. Tychiades hätte sich in seiner Haltung bestätigt gesehen, dass man auch schon deren Anfängen im Privaten wehren muss: Aberglaube als religiöse Grundhaltung ist in dieser Auffassung Folge und zugleich Grund von fehlerhafter Bildung. Eine weitere Erweckerpersönlichkeit dieser Epoche ist Jesus Christus. Möglicherweise erwähnt Lukian ihn – ohne Namensnennung – bereits in Philopseudes 16: Du machst dich lächerlich, sagte Ion, wenn du allem misstraust. Ich aber möchte dich gerne fragen, was du über all die sagst, welche die von Dämonen Besessenen von ihren Ängsten befreien, wobei sie derart offenkundig die Gespenster durch Zaubersprüche austreiben. Und das muss ich eigentlich nicht sagen: Alle kennen den Syrer aus Palästina, der auf diesem Gebiet ein Experte (τὸν ἐπὶ τούτῳ σοφιστήν) ist. Wie vieler Menschen hat er sich angenommen, die vor dem Mond niederfielen, die Augen verdrehten und den Mund mit Schaum füllten! Dennoch hat er sie wieder auf die Beine gestellt und sie weggeschickt, wieder klar im Kopf, nachdem er sie für ein großes Honorar von ihren Schrecknissen befreit hatte. Sobald er nämlich an die Liegenden herantritt, fragt er, woher (die Dämonen) in den Körper eingefahren sind. Der Kranke selbst schweigt, der Dämon aber antwortet […] Ich für meinen Teil habe sogar schon einen ausfahren sehen mit schwarzem und rußigem Teint.
Den „Syrer aus Palästina“ (Σύρος ὁ ἐκ τῆς Παλαιστίνης) hat man in der älteren Forschung oft mit Jesus Christus identifiziert. Dem scheinen allerdings seine Bezeichnung als Sophist und die Erwähnung seines Honorars zu widersprechen.25 Der Begriff ‚Sophist‘ bezeichnet im 2. Jhd. n. Chr. im Sinne eines Ehrentitels den professionellen Starredner, außerdem den Spezialisten – so aufgrund des attributiven Zusatzes ἐπὶ τούτῳ sicher hier – und auch (in naheliegender ironischer Nuancierung) den Scharlatan. Dies taugt daher kaum als Argument gegen eine Identifizierung mit Jesus Christus, der ja – aus einer nichtchristlichen Perspektive formuliert – sowohl als wortmächtiger Prediger auftritt als auch sich als heilkundig erweist. Ebner / Gzella heben zu Recht die pointierte Positionierung der Erwähnung des hohen Honorars hervor, allerdings ist dann mitzubedenken, dass es eben gerade nicht Tychiades ist, der spricht und dem man eine solche ironische Volte gegen den Syrer, der zudem aus griechischer Perspektive alles andere als ein πεπαιδευμένος ist, zutrauen würde: Für Ion scheint die hohe Entlohnung vielmehr Zeichen einer entsprechenden Leistung zu sein. Dies ironisch zu verstehen, setzt methodisch voraus, dass wir hier phraseologisch den Erzähler Tychiades heraushören, was angesichts der Tatsache, dass Tychiades der Bericht25 So
Ebner u. a. 2001, 123.
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erstatter ist, durchaus denkbar ist. Hingegen spricht das durchgängige Präsens des Berichts von den Taten des Syrers, wie Hans Dieter Betz bereits angemerkt hat, deutlich gegen eine Identifikation mit Jesus Christus.26 Interessanter als diese Identifikationsfrage ist aber im vorliegenden Zusammenhang die Tatsache, dass ein Gebildeter wohlwollend auf einen Wundertäter schaut und dabei eine gewisse Emphase erkennen lässt: Sie manifestiert sich in zwei sich repetitiv und klimaktisch steigernden langen, assonanzenreichen Sätzen,27 die dann in die kurz und knapp formulierte Pointe der Autopsie münden. Dies wäre vor allem dann interessant, wenn dieser Bericht phraseologisch dem Tychiades gehörte, die subtile und daher wohl nicht ironisch zu verstehende sprachliche Ausgestaltung also die seine wäre und vielleicht auf eine latente Faszination wiese, wie sie ja der ausführliche Bericht als solcher schon argwöhnen lässt. Die Erwähnung der Christen und ihres Religionsstifters in Lukians De morte Peregrini ist hingegen unbezweifelbar, und auch dort wird Jesus Christus als Sophist bezeichnet. Peregrinos Proteus ist wie Alexander von Abonuteichos ein πεπαιδευμένος, der – im Gegensatz zu jenem – allerdings nicht ortsfest operiert, sondern sich im Laufe seines Lebens nicht nur den Christen, sondern auch den Kynikern anschließt und in beiden Gruppierungen aufgrund seines Charismas jedesmal in führende Stellungen gelangt. Schwer erkrankt, beschließt er, sich durch eine fulminante Todesinszenierung Unsterblichkeit zu sichern, und tötet sich bei den olympischen Spielen des Jahres 165 n. Chr. durch öffentliche Selbstverbrennung. Unter anderem setzt er sich zeitweilig auch an die Spitze der christlichen Bewegung: Um diese Zeit geschah es, dass er (sc. Peregrinos) sich in der wundervollen Weisheit (θαυμαστὴν σοφίαν) der Christianer unterrichten ließ, da er in Palästina Gelegenheit fand, mit ihren Priestern und Schriftgelehrten bekannt zu werden. Es schlug so gut bei ihm an, dass seine Lehrer in kurzer Zeit nur Kinder gegen ihn waren. Er wurde gar bald selbst Prophet, Thiasarch, Synagogenmeister (προφήτης καὶ θιασάρχης καὶ συναγωγεύς) und, mit einem Wort, ihr ein und alles. Er erklärte und kommentierte ihre Bücher und schrieb deren selbst eine große Menge; kurz, er brachte es so weit, daß sie ihn wie ihren eigenen Gott verehrten (ὡς θεὸν αὑτῶν ἐκεῖνοι ᾐδοῦντο),28 sich Gesetze von ihm geben 26 Betz
1961, 12 mit Bezug auf E. Norden.
27 τὸν Σύρον τὸν ἐκ … τὸν ἐπὶ … [παραλαβὼν καταπίπτοντας … διαστρέφοντας … πιμπλα-
μένους … ἀνίστησι] καὶ ἀποπέμπει … μίσθῷ μεγάλῳ ἀπαλλάξας … . ἐπειδὰν γὰρ ἐπιστὰς … εἰσεληλύθασιν εἰς τὸ σῶμα, ὁ μὲν νοσῶν αὐτὸς σιωπᾷ [dunkle vokalische Färbung], ὁ δαίμων δὲ ἀποκρίνεται … ὁπόθεν … ὅπως … ὅθεν εἰσῆλθεν εἰς … ὁ δὲ … μὴ πεισθείη , καὶ ἀπειλῶν … 28 Ramelli 2015, 106 emendiert hier mit Schwartz (und wohl auch Wieland) das überlieferte θεὸν zu θεῖον, letztlich zu dem Zweck, hier das Konzept des θεῖος ἀνήρ aufgerufen zu sehen; vgl. Ramelli 2015, 105–120. Eine solche Deutung sieht Betz 1961, 9.102, auch durch das bloße θεὸν im Ansatz gegeben, jedoch ohne die Konjektur von J. Cobet von ᾐδοῦντο für das überlieferte ἡγοῦντο zu erwägen. Allerdings ergibt θεῖον in Kombination weder mit dem überlieferten αὐτῶν noch mit dem von Macleod zu Recht emendierten αὑτῶν einen verständlichen Sinn; auch mit dem in der Hs. X überlieferten αὐτὸν wäre θεῖον in jedem Falle sprachlich ungeschickt, und bei Lukian findet sich nichts Vergleichbares: In dem von Betz 1961, 102 angeführten Bei-
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ließen (νομοθέτῃ ἐχρῶντο) und ihn zu ihrem Vorsteher machten, gleich nach demjenigen, den sie verehren, den Menschen,29 der in Palästina deswegen gekreuzigt wurde (τὸν ἐν Παλαιστίνῃ ἀνασκολοπισθέντα), weil er diese neuen Mysterien (καινὴν ταύτην τελετὴν) in die Welt eingeführt hatte. (12) Es kam endlich dazu, dass Proteus bei Begehung derselben ergriffen und ins Gefängnis geworfen wurde; ein Umstand, der nicht wenig dazu beitrug, ihm auf sein ganzes Leben einen sonderbaren Stolz einzuflößen und diese Liebe zum Wunderbaren und dieses unruhige Bestreben nach dem Ruhm eines außerordentlichen Mannes in ihm anzufachen, die seine herrschenden Leidenschaften wurden. Denn sobald er in Banden lag, versuchten die Christianer (die dies als eine ihnen allen zugestoßene große Widerwärtigkeit betrachteten) das Mögliche und Unmögliche, um ihn dem Gefängnis zu entreißen; und da es ihnen damit nicht gelingen wollte, ließen sie es ihm wenigstens an der sorgfältigsten Pflege und Wartung in keinem Stücke fehlen. Gleich mit Anbruch des Tages sah man schon eine Anzahl alter Weiblein, Witwen und junger Waisen sich um das Gefängnis her lagern; ja die Vornehmsten unter ihnen bestachen sogar die Wächter und brachten ganze Nächte bei ihm zu. Auch wurden reichliche Mahlzeiten bei ihm zusammengetragen und ihre heiligen Bücher gelesen; kurz, der teure Peregrin (wie er sich damals noch nannte) hieß ihnen ein ‚neuer Sokrates‘ (καινὸς Σωκράτης). (13) Sogar aus verschiedenen Städten in Asien kamen einige, die von den dortigen Christianern abgesandt waren, ihm hilfreiche Hand zu leisten, seine Fürsprecher vor Gericht zu sein und ihn zu trösten. Denn diese Leute sind in allen dergleichen Fällen, die ihre ganze Gemeinschaft (δημόσιον) betreffen, von einer unbegreiflichen Geschwindigkeit und Tätigkeit und sparen dabei weder Mühe noch Kosten. Daher wurde auch Peregrin seiner Gefangenschaft halben eine Menge Geld von ihnen zugeschickt, und er verschaffte sich unter diesem Titel ganz hübsche Einkünfte. Denn diese armen Leute haben sich in den Kopf gesetzt, dass sie mit Leib und Seele unsterblich werden und in alle Ewigkeit leben würden: Daher kommt es dann, daß sie den Tod verachten und daß viele von ihnen ihm sogar freiwillig in die Hände laufen. Überdies hat ihnen ihr erster Gesetzgeber (νομοθέτης ὁ πρῶτος) beigebracht, daß sie alle untereinander Brüder würden, sobald sie den großen Schritt getan hätten, die griechischen Götter zu verleugnen und ihre Knie vor jenem gekreuzigten Sophisten (τὸν ἀνεσκολοπισμένον ἐκεῖνον σοφιστήν) zu beugen (προσκυνῶσιν) und nach seinen Gesetzen zu leben. Alles andere verachten sie durch die Bank, und sie halten es für eitel und nichtswürdig, ohne irgendeinen tüchtigen Grund zu haben, warum sie diesen Meinungen zugetan sind. Sobald also irgendein verschmitzter Betrüger an sie gerät, der die rechten Schliche weiß, so ist es ihm ein leichtes, die einfältigen Leute (ἰδιώταις ἀνθρώποις) an der Nase zu führen und gar bald auf ihre Unkosten ein reicher Mann zu werden.30
Dieser Bericht konstatiert generell die leichte Verführbarkeit der Christen, die nicht mit der üblicherweise getadelten δεισιδαιμονία gleichzusetzen ist. Ganz im Gegenteil: Der Bericht lässt indirekt nicht nur die Größe, sondern auch den spiel Cyn. 13 heißt es über Herakles θεῖον δὲ ἄνδρα καὶ θεὸν ὀρθῶς νομισθέντα: Hier wird das Substantiv ἄνδρα ergänzt, das man auch unserer Stelle erwarten würde. Vielmehr legt das emphatische reflexive Possessivpronomen nahe, ὡς als ‚wie‘ zu verstehen: Die Christen verehrten Peregrinos wie ihren eigenen Gott, woraus jedoch nicht etwa folgt, sie hätten ihn als Gott angesehen; dies hätte dem christlichen Monotheismus eklatant widersprochen. 29 Möglicherweise ist das appositive τὸν ἄνθρωπον hier pointiert gesetzt: Es handelte sich bei Jesus dann aus Sicht des Sprechers entgegen den christlichen Anschauungen um einen Menschen, also nicht um einen Gott. 30 Lukian, De morte Peregrini 11–13, Übersetzung nach Wieland 1788/89.
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hohen Grad an Doktrination (Schriften), Organisiertheit (hierauf weist der quasi- staatsrechtliche Begriff δημόσιον) und auch wirtschaftlicher Prosperität dieser religiösen Gruppe erkennen, die Lukian mit dem Sammelnamen Χριστιανοί bezeichnet. In ihrem religiösen Eifer – Lukian hebt insbesondere ihre Bereitschaft zum Martyrium hervor31 – schließen sie sich leicht Führerfiguren an, aber nur solchen, die innerhalb ihrer religiösen Überzeugung operieren; es ist keine Rede davon, dass sie sich auch neue Glaubensinhalte oktroyieren ließen, und Peregrinos fällt entsprechend bei ihnen in Ungnade, als er eines ihrer Speisegebote überschreitet.32 Die Tatsache, dass es gewissermaßen Grundbedingung ihrer Lehre ist, die Verehrung des griechisch-römischen Pantheons abzulehnen – hinzu kommt, dass die Christen-Sekte aufgrund eines senatus consultum des Jahres 35 n. Chr. offiziell als superstitio illicita galt33 –, hebt sie in dem reichen Diskursfeld kaiserzeitlicher Religion deutlich hervor. Lukian steht dieser Religion – wie allem, was von einer vom gesunden Menschenverstand gesteuerten Lebensführung ablenkt – mit einem klaren Misstrauen gegenüber, auch mit einem plakativen Unverständnis, aber doch keineswegs energisch feindselig. Dass die Christen von Peregrinos als einem (zweiten) ‚Gesetzgeber‘ nach ihrem ersten νομοθέτης, Jesus Christus, Gebrauch machen, wirft aus Lukians Sicht34 ein schlechtes Licht sowohl auf sie als auch auf ihren Gründer, und Begriffe wie θαυμαστὴ σοφία und καινὴ τελετή sind in jedem Fall mindestens leicht ironisch gefärbt, da sie Konnotationen des auffällig Merkwürdigen und des Neuen als des nicht von der Tradition Sanktionierten tragen: beides Eigenschaften, die elementaren Postulaten der παιδεία ja widersprechen. Als jedenfalls ambivalent muss daher auch die Bezeichnung des Peregrinos als καινὸς Σωκράτης gelten: Ist dies als von den Christen gewählte Bezeichnung zu verstehen, dann handelt es sich um ein Kompliment; als Bezeichnung aus dem Munde des Sprechers wirft sie im oben ausgeführten Sinne ein Licht der Fragwürdigkeit auf Peregrinos. Denn Neuheit ist im Diskurs der παιδεία ein zweifelhafter Wert, im religiösen Diskurs hingegen 31 Dies ist das Hauptargument für die Auffassung von Ramelli 2015, bei den Christen, denen sich Peregrinos anschloss, habe es sich um die Montanisten gehandelt. Allerdings sollte man hier nicht vorschnell von „Verwechslung“ reden: Für den satirischen Blick von außen mussten doktrinäre Unterschiede innerhalb des Christentums nicht unbedingt relevant sein, und womöglich erschienen Montanisten einem paganen Betrachter ganz im Gegenteil als besonders charakteristische Vertreter des Christentums. 32 Lukian, De morte Peregrini 16. 33 Vgl. Ramelli 2015, 112. 34 Diese Sicht darf keinesfalls verabsolutiert oder als objektiv angesehen werden. Lukian stand starken Selbstdarstellern stets kritisch gegenüber. Eine positive Sicht des Peregrinos findet sich beispielsweise bei Aulus Gellius (Noctes Atticae 12,11,1): Philosophum nomine Peregrinum, cui postea cognomentum Proteus factum est, uirum grauem atque constantem (einen seriösen und beständigen Mann), uidimus, cum Athenis essemus, deuersantem in quodam tugurio extra urbem. Cumque ad eum frequenter uentitaremus, multa hercle dicere eum utiliter et honeste (nützlich und ehrenhaft) audiuimus.
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ist sie – im Sinne der Enthüllung von etwas bisher Verborgenem – offensichtlich von hoher Attraktivität. Hervorhebenswert ist zudem, dass Lukian seinen häufigen Vorwurf bloßer Scheinüberzeugung, die aus Sicht einer praktischen Ethik aber nicht manifest wird, hier nicht vorträgt. Was er den Christen tatsächlich vorwirft, ist, dass sie ihre Ernsthaftigkeit und ihr Bemühen einschneidenden Lebensregeln widmen – gemeinsamer Besitz, Todesverachtung, ja ‑sehnsucht, caritas –, die sie vorher nicht auf ihre Angemessenheit und Richtigkeit überprüft haben, also „ohne irgendeinen tüchtigen Grund zu haben, warum sie diesen Meinungen zugetan sind“ (De morte Peregrini 13: ἄνευ τινὸς ἀκριβοῦς πίστεως τὰ τοιαῦτα παραδεξάμενοι). Was unter dieser Forderung nach einer genau geprüften Begründung zu verstehen ist und welche Schwierigkeiten sich mit ihr verbinden, hat Lukian am deutlichsten in seinem Dialog Hermotimus dargelegt. Hier trifft Lykinos auf den sechzigjährigen Titelhelden, der sich seit 20 Jahren der stoischen Philosophie widmet. Allerdings stellt sich schnell heraus, dass diese Entscheidung ihn nicht nur nicht ethisch gebessert hat, sondern auch reichlich unbedacht gefällt wurde: So wirst du also, wenn du den besten Stoiker herausfinden willst, zwar vielleicht nicht zu allen, aber doch zu den meisten von ihnen gehen müssen, sie prüfen und den besten zu deinem Lehrer machen. Vorher allerdings solltest du trainieren und dir eine entsprechende Kritikfähigkeit aneignen, damit du nicht aus Versehen die schlechteren vorziehst. Und beachte dabei bitte auch, wieviel Zeit das kostet, was ich bewusst beiseite gelassen habe – aus Angst, du würdest dich aufregen –, und doch ist bei solchen Angelegenheiten, ich meine natürlich solchen unklaren und mehrdeutigen Angelegenheiten, sie, die Zeit, wohl der bedeutendste und einflussreichste Faktor. Und das ist die einzige gewisse und zuverlässige Hoffnung auf die Wahrheit und ihre Entdeckung, die dir bleibt: Eine andere als das Urteilsvermögen und die Fähigkeit, Falsches von Wahrem zu sondern, und wie die Münzaufseher zu durchschauen, was wertvoll und echt und was gefälscht ist, und schließlich, einmal im Besitz einer solchen systematischen Fähigkeit, dich an die Prüfung der einzelnen Lehren zu machen – eine andere Hoffnung als diese gibt es nicht. Andernfalls, das solltest du wissen, wird es sich nicht verhindern lassen, dass du von allen und jedem an der Nase herumgeführt wirst oder wie ein Rindvieh hinter einem vorgehaltenen Zweig herläufst. Ja, mehr noch, dem Wasser in einem Fingerschälchen wirst du ähneln, das in jede beliebige Richtung plätschert, in die man seine Fingerspitzen bewegt, oder auch, beim Zeus, einem Schilfrohr am Flussufer, das sich jedem Windstoß beugt, der hindurchweht, sei es auch nur ein leiser Lufthauch. (69) Könntest du daher einen Meister der Beweisführung und der Lösung umstrittener Fragen finden, der dich diese Fähigkeiten zu lehren vermag, dann wirst du natürlich keine Probleme mehr haben … (70) Ich meine das so, mein Freund, dass wir, auch wenn wir einen finden sollten, der uns verspricht, er beherrsche die Kunst der Beweisführung und wolle sie auch andere lehren, ihm doch wohl nicht sofort trauen, sondern uns jemanden suchen werden, der zu beurteilen vermag, ob der Mann die Wahrheit sagt. Und wenn wir den an der Hand haben, dann wird uns immer noch nicht klar sein, ob dieser Zweitprüfer den guten Kritiker zu erkennen vermag oder nicht, und für ihn brauchen wir, glaube ich, dann wieder einen Drittprüfer. Denn woher sollten wir denn zu entscheiden wissen, wer am besten unterscheiden kann? Siehst
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du, wohin das führt und dass die Sache ins Unendliche geht, ohne jemals abschließend erfasst werden zu können? Denn du wirst feststellen müssen, daß auch die Beweise selbst, soviele man finden kann, strittig sind und keine Gewissheit bieten. Die meisten von ihnen jedenfalls basieren auf anderen, die strittig sind, und versuchen auf dieser Grundlage, uns gewaltsam davon zu überzeugen, wir besäßen ein sicheres Wissen. Andere wiederum verknüpfen deutlich Sichtbares mit Unsichtbarem, was keine Berührungspunkte miteinander aufweist, erheben aber dennoch den Anspruch, Beweiskraft zu besitzen, wie wenn etwa einer glaubt, er könne die Existenz der Götter auf der Basis der offenkundigen Existenz von Altären beweisen. Und so, Hermotimos, sind wir, ich weiß nicht wie, als ob wir im Kreis gelaufen wären, wieder beim Anfang und unserem alten unlösbaren Problem angelangt.35
Bevor man seine Lebensführung fremden Regeln unterstellt, sollte man sich vergewissern, dass die Regeln wie die Regelgeber auch die richtigen und geeigneten sind. Hierfür bedarf es eines Prüfungsinstrumentariums, dessen „Eichung“ aber schwierig ist, weil Zuverlässigkeit nicht ungeprüft zu gewinnen ist. Hieraus folgt, dass das Beharren auf einer Prüfung letztlich einen regressus ad infinitum nach sich zieht, der wiederum, ernst genommen, zum ethischen Kollaps führt. Daraus folgt aber nicht, dass man auf Prüfung verzichten dürfe. Sie kann nur nicht akademischer Natur sein, sondern muss allein auf dem gesunden Menschenverstand, dem – wie es in der skeptischen Philosophie bezeichnet wird – εὔλογον, beruhen. Die Maxime, unter die man sein Lebensverhalten stellen muss, formuliert Lykinos zu Beginn des Gesprächs mit der Maxime νῆφε καὶ μέμνησο ἀπιστεῖν (Hermotimus 4: Bleibe nüchtern und denk daran, misstrauisch zu sein). Das Fehlen selbst eines solchen grundständigen und nur vernünftigen Misstrauens ist es, was Lukian in De morte Peregrini den Christen vorhält, deren Verhalten als solches er hier nicht eigentlich zu kritisieren scheint. Ihrem ‚ersten Erwecker‘ misstraut der Sprecher offenkundig gleichwohl: Immerhin nennt er ihn einen gekreuzigten Sophisten (σοφιστὴς ἐσκολοπισμένος), und wenn auch die Bezeichnung als Sophist nicht unbedingt ausschließlich im Sinne eines Scharlatanerie-Vorwurfs zu verstehen ist,36 sondern – wie schon oben erwogen – auch auf seine rhetorischen und weisheitlichen Fähigkeiten zielen könnte, so wiegt doch der Hinweis auf seine Kreuzigung schwer. Denn seine Kreuzigung zieht Jesus Christus in den nicht so großen Kreis jener, die Gegenstand von an sich seltener religiöser Restriktion wurden. Die Kreuzigung symbolisiert seine Verurteilung als politischer Ordnungsstörer, und gerade dies hätte seine Gefolgsleute erst recht zu Nachdenken, Nachfragen und Zurückhaltung bewegen müssen. Stattdessen kündigen sie den griechisch-römischen Göttern die Zuwendung (insbesondere natürlich in Gestalt des Opferkults) auf und treffen damit eine sozial weitreichende, möglicherweise auch sozial schädliche und offensichtlich nicht rational abgesicherte Entscheidung. Hermotimus 68–70, Übersetzung: von Möllendorff 2000. allerdings ohne Zögern Betz 1961, 11.
35 Lukian, 36 So
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Religiöse Erwecker, so lässt sich der hier erhobene Befund zusammenfassen, betrachtet Lukian grundsätzlich mit Misstrauen, und er sucht nach Möglichkeiten ihrer spöttischen Entlarvung. Solche Erwecker können oft auf die Naivität ihrer Gefolgsleute, dann aber auch auf die Deisidaimonie vieler ihrer Mitbürger bauen. Die Faszination, die vom Jenseitigen, Unirdischen, Phantastischen ausgeht, lässt sich aber nicht mit einer Handbewegung überlegener Bildung beiseite wischen. Sie steht vielmehr im Spannungsfeld zwischen Religion und Bildung, und gerade die Frage, wie der Gebildete mit ihr umgehen soll, lässt sich auf mehr als eine Weise produktiv beantworten. Dass gerade ein Gebildeter, ein πεπαιδευμένος, die Qualitäten mitbringt, die ein erfolgreicher Scharlatan benötigt, stellt nur eine Facette des Phänomens dar, die Faszination an der epistemologischen Herausforderung, die das Paradoxe, das Apokryphe und das Phantastische bieten, eine ganz andere.
Zitierte Literatur a) Quellen Luciani Opera, Bd. 1–4 (hg. von Matthew Donald MacLeod; Oxford Classical Texts; Oxford: Clarendon Press, 1972–1987). Lucians von Samosata. Sämtliche Werke, Bd. 1–3 (aus dem Griechischen übersetzt und mit Anm. und Erl. versehen von Christoph Martin Wieland; Wien: Franz Haas, 1788/89; Reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971). Lukian, Hermotimos oder Lohnt es sich, Philosophie zu studieren? (übers. von Peter von Möllendorff; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2000). Lukian, Die Lügenfreunde oder: Der Ungläubige (hg. von Martin Ebner / Holger Gzella; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001).
b) Literatur Baumbach, Manuel / von Möllendorff, Peter, Ein literarischer Prometheus. Lukian aus Samosata und die Zweite Sophistik (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2017). Berdozzo, Fabio, Götter, Mythen, Philosophen. Lukian und die paganen Göttervorstellungen seiner Zeit (Berlin: de Gruyter, 2011). Betz, Hans-Dieter, Lukian von Samosata und das neue Testament. Religionsgeschichtliche und paränetische Parallelen. Ein Beitrag zum Corpus Hellenisticum Novi Testamenti (Berlin: Akademie-Verlag, 1961). Hafner, Markus, Lukians Schrift „Das traurige Los der Gelehrten“: Einführung und Kommentar zu De Mercede Conductis Potentium Familiaribus, lib.36 (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2017). (= 2017 a) –, Lukians Apologie. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Markus Hafner (Classica Monacensia 50; Tübingen: Narr / Francke Attempto, 2017). (= 2017 b) Keulen, Wytse u. a. (Hgg.), Apuleius Madaurensis Metamorphoses Book XI. The Isis Book (Leiden: Brill, 2015).
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Ramelli, Ilaria, Lucian’s Peregrinus as Holy Man and Charlatan and the Construction of the Contrast between Holy Men and Charlatans in the Acts of Mari: Holy Men and Charlatans in the Ancient Novel (hg. von Stelios Panayotakis u. a.; Groningen: Barkhuis & Groningen University Library, 2015) 105–120. Rüpke, Jörg, Aberglauben oder Individualität? Religiöse Abweichung im Römischen Reich (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011). –, Pantheon. Geschichte der antiken Religionen (München: C. H. Beck, 2016). Sallmann, Klaus, Irritation als produktionsästhetisches Prinzip in den Metamorphosen des Apuleius: Groningen Colloquia on the Novel, Bd. 1 (hg. von Heinz Hofmann; Groningen: Forsten, 1988) 81–102. Schmitz, Thomas, Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit (München: C. H. Beck, 1997). von Möllendorff, Peter, Im Grenzland der literarischen Satire: Alte Texte und neue Wege. Dialog Schule – Wissenschaft, Klassische Sprachen und Literaturen 38 (hg. von Rolf Kussl; München: Bayerischer Schulbuchverlag, 2004) 45–72. –, Sophistische Phantastik: Fremde Wirklichkeiten: literarische Phantastik und antike Literatur (hg. von Manuel Baumbach / Nicola Hömke; Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2006) 187–201.
„Damit die Nachfolge Platons rein und unverfälscht bewahrt werde“ Religiöse Bildung und Institutionalität in spätantiken Philosophenschulen* Ilinca Tanaseanu-Döbler 1. Einleitung „Damit nämlich die Nachfolge Platons noch rein und unverfälscht bewahrt werde, führten ihn die Götter zur Schutzpatronin der Philosophie.“1 Mit diesen Worten beschreibt der spätantike Philosoph Marinus, der der philosophischen Schule von Athen im späten 5. Jahrhundert vorsteht, die Entscheidung seines Lehrers Proklos, zu Beginn seines Philosophiestudiums von Alexandrien nach Athen zu wechseln. Philosophie ist hier Herzensangelegenheit der Götter, insbesondere der Athene. Damit wird sie zumindest in der literarischen Darstellung in ein religiöses Licht getaucht. Für Marinus vollzieht sich diese religiös gefärbte Philosophie nicht beliebig, sondern in vorgegebenen Bahnen – in der „reinen und unverfälschten“ Nachfolge Platons. Damit stellt er die philosophische Arbeit in Athen auf eine objektivierte Grundlage: der Lehrer steht in einem größeren Zusammenhang und gibt die richtige Lehre weiter. Das Bild der „reinen und unverfälschten Nachfolge“ behauptet und suggeriert überzeitliche und transpersonale Relevanz, Dauer und Kontinuität in den Wechselfällen der Geschichte, Bestand jenseits konkreter Personen, die die Funktion des Schulhauptes innehaben könnten. Der vorliegende Beitrag geht diesen beiden Aspekten des Marinuszitates nach. Zum einen stellt er die Frage, inwiefern die Philosophie in der Spätantike mit dem Bereich des Religiösen verknüpft wird und so als Teil des Panoramas religiöser Bildung betrachtet werden kann. Zum anderen werden einige Mittel beleuchtet, durch welche spätantike Philosophen versuchen, ihrer Lehr‑ und * Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt A 03 „Pagane Religion und Philosophie in „virtuellen Bibliotheken“: spätantike Kompendien und Enzyklopädien“. 1 Marinus, Vita Procli 9: ἵνα γὰρ ἀνόθευτος ἔτι καὶ εἰλικρινὴς σώζηται ἡ Πλάτωνος διαδοχή, ἄγουσιν αὐτὸν οἱ θεοὶ πρὸς τὴν τῆς φιλοσοφίας ἔφορον.
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Lerntätigkeit überzeitliche und transpersonale Dauer und Geltung zuzuschreiben – mit anderen Worten, sie zu institutionalisieren.2
2. Philosophie als religiöse Bildung – Philosophie und religiöse Bildung 2.1. Klassik und Hellenismus Beginnen wir mit dem ersten Aspekt. Inwiefern lässt sich spätantike Philosophie aus der Perspektive religiöser Bildung analysieren? Sind Philosophie und Religion nicht eher Gegensätze? Darauf lassen sich verschiedene Antworten geben, die mit der Rolle der Philosophie im Panorama des griechischen Geisteslebens zusammenhängen. Blicken wir zuerst auf Platon selbst, den Marinus als Gründergestalt der Sukzession anführt. Zur Zeit Platons stellt die Philosophie einen eigenen, vielstimmigen intellektuellen Diskurs über Natur, Kultur, Mensch und Welt in der griechischen Welt dar. Dies führt zur Ausbildung verschiedener philosophischer Denkbereiche: Philosophie befasst sich etwa mit Logik, Mathematik, Politik oder Erkenntnistheorie – so decken auch Platons Dialoge eine Bandbreite von Themen ab. Aber die philosophische Analyse der Welt macht eben auch nicht vor den religiösen Traditionen und Gottesvorstellungen ihrer Umwelt halt. So lässt Platon seine Figuren im Dialog Euthyphron untersuchen, was denn gottgefälliges Verhalten sei.3 Wie andere Philosophen vor ihm wendet er sich gegen die alten Gottesvorstellungen im Mythos und in der Dichtung und lässt Sokrates allgemeine Regeln für theologia, Reden über Gott, aufstellen: Gott ist gut, wahr und unwandelbar.4 In anderen Dialogen wird von der Beziehung zwischen Göttern und Seelen5 oder von dem göttlichen Schöpfer der Welt6 gesprochen. Mathematische Wissenschaften und Dialektik werden auf einen langwierigen Aufstieg der Seele aus der materiellen Welt zum Seienden bezogen und erhalten so eine religiöse Funktion.7 In den „Gesetzen“ entwirft Platon einen Gottesbeweis gegen materialistische Weltbilder, die in Mode seien und insbesondere bei der Jugend verfingen.8 Wir dürfen annehmen, dass er sich hier auf Intellektuelle seiner Zeit bezieht, die von Religion nicht so viel halten; auf
2 Zu Institution und Institutionalität als Kernbegriffen der Vortragsreihe siehe den einführenden Beitrag von Peter Gemeinhardt in diesem Band (S. 1–24) und unten S. 106 f. 3 Zur Begrifflichkeit, mit der der Dialoggegenstand umrissen wird, z. B. Platon, Euthyphron 5 c–d: τὸ εὐσεβές, τὸ ὅσιον / ἀνόσιον; ebd. 13 b ὁσιότης τε καὶ εὐσέβεια als θεῶν θεραπεία. 4 Platon, Politeia 2,377 d–383 c. 5 Phaidros 244 a–256 e. 6 Timaios 28 c–41 d. 7 Politeia VII, 514 a–534 e. 8 Nomoi X, 885 b–907 d; die Mode-Atheisten werden in 886 d.888 d–890 a angesprochen.
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seinen Onkel Kritias geht wohl ein Textfragment zurück, das Religion als geniale Erfindung zur Durchsetzung gesellschaftlicher Normen betrachtet.9 Dieser kurze Blick auf den Philosophen, den Marinus als Gründerfigur seiner philosophischen Tradition anführt, zeigt, dass in der Antike Philosophie Religion nicht nur dekonstruieren (wie Platons ungenannte Gegner) und hinterfragen, sondern auch bejahen und weiterdenken kann. Platon selbst entwirft ein eigenes Gottes‑ und Weltbild, das Konsequenzen und letzte Ziele für das gelingende Leben und Handeln des Menschen hat. Damit will Platon nicht die kultische Praxis Athens gestalten. Tanja Scheer spricht in ihrem Beitrag zu diesem Band prägnant zugespitzt in diesem Zusammenhang von einem „besondere[n] private[n] Interesse“.10 Philosophen sind in der Regel keine religiösen Reformatoren; ihre Diskussionen über Religion sind größtenteils nur auf die eigene Gruppe bezogen und haben die breite Masse nicht im Blick. Dies ändert sich nur teilweise mit den hellenistischen Philosophenschulen; Philosophie bleibt vom Selbstverständnis her ein Elitenphänomen, philosophische Religiosität dementsprechend von der Reichweite in der Praxis her betrachtet nur eine Minoritätenreligiosität – was freilich nichts über ihre intellektuelle Bedeutung für die Prägung von Diskursen über das Göttliche und über die Religion und somit über ihre mittelbare bzw. langfristige Auswirkung auf die Religiosität breiterer Kreise sagt. Schon die Geschichte der platonischen Schule zeigt, dass die religiöse Aufladung der Philosophie durchaus im Lauf der Geschichte an Intensität variieren bzw. auch ganz verschwinden kann. Platons Kreis, die sogenannte Akademie, besteht auch nach seinem Tod fort, als Lehrtradition, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch räumlich-baulich und über Sukzessionsbildung von anderen Philosophenschulen abgrenzt und so als eine distinkte Institution im hellenistischen Athen angesehen werden kann. Im Hellenismus verlagert sich der Schwerpunkt der dort betriebenen Philosophie allerdings hin zu Erkenntnistheorie und zu einer skeptischen Positionierung, weg vom Religiösen.11 2.2. Kaiserzeit Um die Zeitenwende lassen sich neue Entwicklungen konstatieren, die ich hier in sehr groben Zügen skizziere, weil sie für die Spätantike wichtig sind. Zum einen berufen sich nun Philosophen ausdrücklich auf Platon und stellen so ihre Lehre unter seine Auspizien, auch wenn sie nicht mehr innerhalb der Institution der Akademie tätig sind, die im 1. Jahrhundert v. Chr. ihr Ende findet. Zudem 9 Frg. 88 B 25 Diels / Kranz; überliefert bei Sextus Empiricus, Adversus mathematicos 9,54; darauf verweist auch der Übersetzer Klaus Schöpsdau in Platon, Werke, Bd. 8,2, 277 Anm. 14 z. St. 10 S.o. S. 27. 11 Ein Überblick über die Geschichte der Akademie bei Erler 2016 a, 840–842, mit weiterer Literatur. Für eine Geschichte der Spätphase der Akademie siehe Glucker 1978.
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werden seit dem späten 1. Jahrhundert v. Chr. die religiösen und moralischen Themen bei Platon neu entdeckt. Platon wird allmählich zu einer Referenzfigur, die es neu und vor allem richtig zu hören gilt – um Marinus’ Worte aufzugreifen: „rein und unverfälscht“.12 Die Wahrheit über Gott, Mensch und Welt, als deren autoritativer Vermittler Platon gilt, kann über die Exegese seiner Texte herausdestilliert und systematisch zusammengestellt werden.13 Die skeptisch ausgerichtete Akademie wird dabei zunehmend als Abfall von der eigentlichen platonischen Lehre stilisiert. So schreibt der Platoniker Numenios von Apameia (in Syrien) im 2. Jahrhundert eine Abhandlung darüber, wie die Akademiker sich von Platon entfernt hätten.14 Das Interesse am religiösen und moralischen Platon verbindet sich zudem mit zwei anderen Komponenten der intellektuellen Landschaft der Kaiserzeit. Zum einen greifen Philosophen, die sich auf Platon berufen, bevorzugt auch die Stilisierung der großen nichtgriechischen Kulturen des Ostens als Träger tiefer, geheimer religiöser Weisheit auf. Dieser Topos der weisen Barbaren ist nicht neu, sondern findet sich schon bei Herodot oder Platon selbst – in der Kaiserzeit wird er zu einer Modeerscheinung.15 Der schon erwähnte Numenios bringt das mit am provokativsten auf den Punkt, wenn er äußert, Platon sei nichts anderes als ein attisch sprechender Moses.16 Zum zweiten lässt sich parallel und teilweise verbunden mit dem Interesse an Platon auch ein wachsendes Interesse an pythagoreischen Gottes‑ und Weltbildern und an der pythagoreischen Lebensform feststellen. Hier könnte man ebenfalls Numenios anführen, aber auch den Philosophen Apollonios von Tyana, der im 1. Jahrhundert n. Chr. wirkt.17 Diese beiden Komponenten verstärken die religiöse Dimension der kaiserzeitlichen Philosophie, insbesondere des kaiserzeitlichen Platonismus.
12 Einen
guten Überblick über diese Neuakzentuierung gibt Erler 2016 a, 843–849. Bedeutung der Texte und der Exegese im Mittel‑ und Neuplatonismus siehe z. B. Erler 2016 b, der eine Einteilung in die „exegetische“ mittelplatonische und die „soteriologische“ neuplatonische Phase vornimmt, vergleichbar der Einteilung von Hadot 1987. Zum Neuplatonismus siehe Hoffmann 1998, 210 f; 2000, bes. 605–614. 14 Numenios, Über den Abfall der Akademie von Platon, frg. 24–28 des Places. 15 Dazu z. B. Baltes 1999, 127 f., der dieses Interesse bis auf die Alte Akademie zurückführt, oder Jeck 2004, 59–142. 16 Numenios, Über das Gute, frg. 8,51 des Places, wobei Eusebios, der Gewährsmann, vorsichtig formuliert: angesichts seiner positiven Würdigung Mose schreibe man Numenios den Ausspruch zu Recht zu. 17 Numenios wird als Pythagoreer bezeichnet (z. B. frg. 1 b–c.4 b des Places); Äußerungen zu Pythagoras, die ihn zumindest auf der gleichen Ebene wie Platon sehen: frg. 1 a (Platon muss mit Pythagoras und mit der Tradition der weisen Barbaren harmonisiert werden) oder frg. 24 des Places: Platon ist nicht besser, aber vielleicht auch nicht schlechter als Pythagoras; er philosophiert pythagoreisch. Die pythagoreische Komponente spielt eine wichtige Rolle in Philostrats Lebensbeschreibung des Apollonios (1,1 f oder 1,7). Zur pythagoreischen Komponente des kaiserzeitlichen und auch spätantiken Platonismus siehe Bonazzi u. a. 2007. 13 Zur
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2.3. Spätantike Im 3. und 4. Jahrhundert setzt sich nun diese Form des Platonismus verstärkt durch, bis sie letztlich die gesamte philosophische Bühne beherrscht. Prägend sind dabei Entwicklungen, die sich im Platonismus der frühen Kaiserzeit schon anbahnen, aber eine als kanonisch rezipierte Wende mit dem Philosophen Plotin im späteren 3. Jahrhundert n. Chr. erfahren. Plotin versteht sich als Interpret Platons, den er so liest, dass das höchste Göttliche jenseits des Seins steht und dieses erst aus sich heraus begründet.18 Philosophische Betrachtung der Welt führt stufenweise zu einer existentiellen Annäherung an dieses Höchste, welche in Form einer überdiskursiven Einheitserfahrung erlebt werden kann. Philosophie ist für Plotin ein Weg zum Göttlichen, auf dem der Mensch – genauer gesagt, seine Seele, in der die eigentliche Identität wurzelt – seine Verbundenheit mit der göttlichen Hierarchie der Wirklichkeit und sein Verwurzeltsein im Einen erlebt.19 Diese Sicht wird in Grundzügen von allen namhaften Platonikern der Spätantike rezipiert und weiter verfeinert. Seine Theologie entwickelt Plotin nicht allein am Schreibtisch, sondern, in der Tradition der Philosophen vor ihm, im Kreis seiner Schüler und in Auseinandersetzung mit ihren Fragen. Philosophie bezeichnet somit nicht nur eine Lehre, sondern eine soziale Praxis. Um ihn herum formiert sich ein philosophisches Netzwerk, welches die religiöse Vielfalt des 4. Jahrhunderts widerspiegelt: Darin begegnen sich ‚praktizierende‘, i. e. religiös aktive, Heiden, wie der von Porphyrios als φιλοθύτης qualifizierte Amelios oder Porphyrios selbst, und gnostische Christen, die Plotin zu seinen „Freunden“ zählt, aber auch selbst oder über seine Schüler widerlegt.20 Er schreibt in einer Zeit, in der die Christen zwar längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind und auch in intellektuellen Kreisen mitunter den Ton angeben,21 aber in der das religiöse Kräftemessen noch nicht entschieden ist. Die paganen Kulte bilden der Idee nach noch den selbstverständlichen Referenzpunkt für die religiöse Praxis der Mehrheit. Dies ändert sich im 4. Jahrhundert angefangen mit Konstantin; bis auf eine Ausnahme begünstigen alle Kaiser eine der verschiedenen Spielarten von Christentum, die miteinander um die Deutungshoheit ringen. Dies führt Ende des 4. Jahrhunderts zum (regional unterschiedlich durchgesetzten) Verbot der paganen Kulte. In dieser religiösen Verschiebung nimmt die Philosophie eine neue Rolle an: Ihre Theologie und Interpretationen von Ritualen werden zu einem bedeutenden Kris18 Z. B.
Enn. 5,6,4–6 oder 6,9,9.11. Dazu zuletzt Halfwassen 2015, 149–164. Aufstieg der Seele und der Erfahrung des Einen siehe Enn. 1,6 oder 6,9. 20 Die Schule Plotins ist uns insbesondere aus seiner Vita bekannt, welche sein Schüler Porphyrios verfasst. Zu deren Programm und Kontextualisierung siehe z. B. Männlein-Robert 2001 b und 2016. Die detaillierteste Analyse des Schulkreises bleibt Goulet-Cazé 1982. Zum ‚opferfreudigen‘ Amelios siehe Vita Plotini 10, zu den Gnostikern 16, mit Plotin, Enneade 2,9,10. 21 Das beste Beispiel ist Origenes; dazu siehe die Beiträge von Balbina Bäbler und Peter Gemeinhardt / Tobias Georges im vorliegenden Band (S. 129–151 und 153–175). 19 Zum
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tallisationspunkt für gebildete pagane religiöse Identität. Religiöse Traditionen werden gesammelt und im Lichte der platonischen Philosophie harmonisiert. In philosophischen Kreisen wird so in einer Zeit religiösen Umbruchs und religiöser Transformationen versucht, eine bestimmte Konzeption von Philosophie und Religion aller Kontingenz zum Trotz zu verfestigen, im Kreis der Schule weiterzugeben und ihr bleibende Dauer und Geltung zu verleihen.
3. Institutionalität und religiöse Bildung Dies führt uns zu dem Stichwort der Institutionalität. Im einleitenden Beitrag hat Peter Gemeinhardt anhand der Überlegungen des Dresdner SFB 537 die Begriffe der Institution und der Institutionalität in ihrer historischen Dynamik erörtert. Ich möchte kurz an diese Überlegungen anschließen und dann anhand einiger Beispiele nach den Mechanismen fragen, die Philosophenschulen einsetzen, um ihren Bildungskonzepten und Bildungsprozessen institutionellen Charakter zu verleihen. Mit Institution bezeichnen wir im Rahmen dieses Bandes nicht nur soziale Organisationen, wie etwa (Hoch‑)Schulen oder Kirchen. Es geht uns, mit Gert Melville oder Karl-Siegbert Rehberg gesprochen, um die Herausbildung von normierten, jenseits individuellen Verhaltens faktisch Gültigkeit und Dauer beanspruchenden Strukturen. So gesehen, sind soziale Organisationen, wie Melville vermerkt, ein besonders augenfälliger Typus von Institution, decken aber nicht das gesamte Spektrum ab.22 Auch andere transpersonal verfestigte und so der Kontingenz und Subjektivität entzogene Verhaltensstrukturen sowie die ihnen zugrundeliegenden „symbolischen Ordnungen“23 (so Karl-Siegbert Rehberg) können in einem weiteren Sinn als Institutionen bezeichnet werden – so beschreibt Hans Ulrich Gumbrecht Begrüßungsformen als Institution.24 In dieser Sicht bilden Institutionalisierung und Institutionalität einen grundlegenden Zug menschlich-sozialen Daseins und Handelns; sie beschreiben die Verfestigung von Gefügen sozialer Praktiken und Symbole, die Struktur und Ordnung vermitteln und so einen verlässlichen Rahmen für Subjektformierung, Sinnstiftung und soziokulturelle Interaktion schaffen.25 Die Herausbildung dieser dauerhaften Strukturen im „vergänglichen Fluß der Zeit“, so Melville,26 und somit die Formierung institutioneller Objektivität ist dabei dialektisch an ebendiesen kontingenten „Fluß der Zeit“ gebunden und von Individuen und ihrem Handeln 22 Melville
1992, 12 f; siehe auch Rehberg 2001, 10. 2001, 9. 24 Gumbrecht 2001, 69. 25 Melville 1992, 10–12; Rehberg 2001, 11 und 17 f. 26 Melville 1992, 4; siehe auch den Beitrag von Peter Gemeinhardt im vorliegenden Band (s. oben S. 9). 23 Rehberg
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geprägt. Institutionalität ist, wie Rehberg feststellt, nicht Faktum, sondern stets „Behauptung“ – „Behauptung von Dauer“27, von objektiver Geltung, von Kontinuität, die angenommen oder auch zurückgewiesen werden kann.28 Diese Behauptung wird sozial durch verschiedene Mittel kommuniziert und stabilisiert. Als solche „institutionelle Mechanismen“29 hat der Dresdner SFB verschiedene Formen symbolischer Artikulation und Vergegenwärtigung in den Fokus gestellt; wie Karl-Siegbert Rehberg betont, handelt es sich insbesondere um von bloßen „Repräsentanz-Zeichen“ zu unterscheidende „Präsenz-Symbole“, welche als „Verkörperungen“ behaupteter Ordnungsmuster und Vorstellungen fungieren.30 Dazu gehören etwa Rituale als „Interaktionssymbole im Vollzug“,31 „Raum-und Ding-Symbole“32 oder „Zeit-Symbole“33 – „Eigenzeiten“ und „Eigengeschichte“.34 Jeder Versuch der „Kontinuitätsherstellung“35 ist dabei nicht fest, sondern stets mehr oder weniger prekär, da er selbst eine kontingente Erscheinung darstellt und so der Dynamik der Historizität unterliegt. So hat jede Form von Institution in ihrer Behauptung von objektiv gültiger Ordnung „etwas ‚Fiktionales‘“.36 Wie versuchen die Philosophen der Spätantike, ihre Lehrtradition als der Zeit enthobene, Relevanz und Gültigkeit beanspruchende Gegebenheit zu konstruieren, die deswegen Wahrheit und Sinn vermitteln kann? Im Folgenden werde ich dieser Frage angelehnt an die erwähnten Institutionalisierungsmechanismen, die der Dresdner SFB identifiziert hat, an vier Punkten nachgehen: 1. Geschichtskonstruktionen und Leitfiguren, 2. Lehrerkonzepte, 3. Curricula und 4. Ritual und religiöse Praxis. 3.1. Geschichtskonstruktionen und Leitfiguren: Konstruktion der Tradition Für die Behauptung des Anspruchs, die ‚richtige‘ Philosophie zu vermitteln, spielen Geschichtsrekonstruktionen und Darstellungen von Lehrer-SchülerTraditionen eine wichtige Rolle. Hier greifen die Philosophenkreise des 4. bis 6. Jahrhunderts n. Chr. auf eine lange Tradition von Sukzessionskonstruktionen zurück. Erwähnt wurde schon Numenios, der den Akademikern, die ja rein 27 Rehberg
2001, 10. 2001, 10. 29 Z. B. Rehberg 2001, 4: „institutionelle Mechanismen als eine besondere Form der Stabilisierung sozialer Beziehungen“ (kursiv i. O.) oder 2004, 3. 30 Rehberg 2001, 4.10 f.27–47. 31 Rehberg 2001, 36. 32 Rehberg 2001, 39. 33 Rehberg 2001, 43. 34 Rehberg 2001, 10. Siehe dazu die aus dem SFB hervorgegangenen Sammelbände Melville / Vorländer 2002 („Geltungsgeschichten“) und Melville / Rehberg 2004 („Gründungsmythen – Genealogien – Memorialzeichen“). 35 Z. B. Rehberg 2001, 10. 36 Rehberg 2001, 11. 28 Rehberg
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organisatorisch betrachtet die Schule Platons am selben Ort und in der gleichen Struktur weiterführen, einen inhaltlichen Abfall von Platons Lehre vorwarf. Anknüpfend an solche Ansätze versuchen spätantike Philosophen, die empfundene Kluft zwischen Platon und seinen unmittelbaren Nachfolgern einerseits und der Wiederentdeckung des religiös-moralischen Platonismus andererseits zu überbrücken. Ich möchte kurz zwei Beispiele vorstellen, die beide den Hellenismus gleichsam weginterpretieren,37 indem sie mit Bildern der Reinigung, Verborgenheit und des plötzlichen Aufstrahlens arbeiten. Beide Narrative stammen von Philosophen, die mit der athenischen Schule im 5. Jahrhundert verbunden sind. Der erste ist Hierokles von Alexandria (5. Jh.), der bei Plutarch, dem Schulgründer der neuplatonischen Schule von Athen, studiert und dann in Alexandria lehrt. Der zweite ist der eingangs erwähnte Proklos (ca. 412–485), der ebenfalls bei Plutarch, aber dann insbesondere bei dessen Schüler Syrianos studiert und ihm als Schulhaupt in Athen nachfolgt.38 In seinem Werk „Über die Vorsehung“, welches uns in einer Zusammenfassung und einzelnen Zitaten durch den byzantinischen Bischof Photios erhalten ist, geht Hierokles von Platon und Aristoteles als Fixpunkten der Philosophie aus. Spätere Philosophen hätten zwischen den beiden einen künstlichen Widerspruch konstruiert, um sich zu profilieren, „bis die Weisheit des Ammonios [der Lehrer Plotins] aufstrahlte, den er [sc. Hierokles] rühmt, den Beinamen „Gottgelehrter“ empfangen zu haben [theodidaktos]. Denn dieser habe die Lehrmeinungen der Alten gereinigt und das von beiden Seiten aufgeschossene leere Geschwätz beseitigt und so gezeigt, dass die Meinung Platons und Aristoteles’ in den entscheidenden und notwendigsten Punkten übereinstimmten“.39
Bei dem hier angesprochenen Ammonios handelt es sich um den mysteriösen alexandrinischen Lehrer Plotins und des christlichen Theologen Origenes. In der sonstigen neuplatonischen Literatur wird er lediglich noch bei Porphyrios 37 Ein weiteres Beispiel wäre Eunapios, bei dem Becker 2013, 41–48 eine vergleichbare Ausblendung des Hellenismus herausarbeitet. Dieses Ausblenden lässt sich mit Rehberg 2004, 7 als „konstruktiv geradezu tragende Kurzschlüsse der historischen Rekonstruktion“ aussprechen, die er als ein Kennzeichen von „Eigengeschichte“ beschreibt. 38 Die Sukzessionskonstruktionen von Proklos und Hierokles habe ich als solche detailliert in einem anderen Beitrag (Tanaseanu-Döbler 2017) analysiert; hier greife ich nur einige Aspekte auf, die für die Frage nach Institutionalität relevant sind. Für weiterführende Literatur zur Frage neuplatonischer Sukzessionskonstruktion verweise ich auf den genannten Beitrag. 39 Hierokles bei Photios, Bibliotheca, cod. 214, 171 b–172 a: Ὅσοι δὲ τοὺς ἄνδρας εἰς διαφωνίαν ἔστησαν, τούτους ἐς τὰ μάλιστα πεπλανῆσθαί τε τῆς τῶν ἀνδρῶν προθέσεως καὶ τοῦ ἀληθοῦς ἐκπεσεῖν ἀποτείνεται, τοὺς μὲν ἑκόντας ἔριδι καὶ ἀπονοίᾳ σφᾶς αὐτοὺς προσαναθέντας, τοὺς δὲ καὶ προλήψει καὶ ἀμαθίᾳ δεδουλωμένους. Καὶ πολὺν τοὺς ἔμπροσθεν στῆσαι χορόν, μέχρις ὅτου ἡ Ἀμμωνίου σοφία διέλαμψεν, ὃν καὶ θεοδίδακτον ἐπικαλεῖσθαι ὑμνεῖ. Τοῦτον γὰρ τὰς τῶν παλαιῶν ἀνδρῶν διακαθάραντα δόξας, καὶ τοὺς ἑκατέρωθεν ἀναφυομένους ἀποσκευασάμενον λήρους, σύμφωνον ἐν τοῖς ἐπικαίροις τε καὶ ἀναγκαιοτάτοις τῶν δογμάτων Πλάτωνός τε καὶ Ἀριστοτέλους τὴν γνώμην ἀποφῆναι. Abweichend vom hier wiedergegebenen Text Henrys lese ich ἐπικαιρίοις anstelle von ἐπικαίροις, was letztlich auch Henry selbst übersetzt.
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erwähnt, als prägende Figur für Plotin.40 Von Ammonios ausgehend scheint Hierokles eine eigene Genealogie des Neuplatonismus konstruiert zu haben; in der erhaltenen Paraphrase des Photios umfasst diese „die Schule [diatribe] des oben erwähnten Ammonios, […] Plotin und Origenes und freilich auch Porphyrios und Jamblich und die nach ihnen Kommenden, alle, die aus dem heiligen Geschlecht, wie er selbst sagt, erwachsen waren, bis hin zu Plutarch dem Athener, den er auch als den eigenen Lehrer in solchen Lehrmeinungen verzeichnet“. All diese „stimmen mit Platons gereinigter Philosophie überein“41. Wieder anders geht der etwas jüngere und im athenischen Schulkontext beheimatete Proklos vor, der ebenfalls die Metapher von Aufstrahlen und Finsternis bzw. Verborgenheit verwendet. Für Proklos ist nicht die Übereinstimmung zwischen Platon und Aristoteles, sondern die Theologie die Quintessenz platonischer Philosophie. Durch Platon ist die Wahrheit über die Götter zuerst aufgestrahlt (ἐκλάμψασα); danach sei sie gleichsam in einem Heiligtum verborgen geblieben, aus dem sie „in geordneten Zeitabständen“ von Priestern herausgetragen werde.42 Die Ordnung der Zeitabstände ist dergestalt, dass sie die Zeit zwischen Platon und Plotin überspringen: Die „Mysterienpriester“ und Exegeten, die Proklos nennt, sind Plotin und „diejenigen, die von diesem die Kontemplation empfangen haben, Amelios und Porphyrios; und als dritte […] Jamblich und Theodoros, und alle anderen, die nach diesen im Gefolge dieses göttlichen Reigens in ihrem Geist um die Gedanken Platons gottbegeistert kreisten, von denen derjenige das überaus rechtmäßige und reinste Licht der Wahrheit in den Schößen seiner Seele in unbefleckter Weise empfing, der für uns nach den Göttern zum Führer zu allem Guten und Schönen wurde.“43
Das Licht der „Wahrheit über die Götter“ erscheint hier als faktisch vorgegeben, verdinglicht, Gegenstand von Tradierungsprozessen – Empfangen und Wei40 Porphyrios, Vita Plotini 3.7.10.14.20. Als indirekte Erwähnung könnte Proklos, Theologia Platonis 2,4,31 Saffrey / Westerink angesehen werden. 41 Ebd., 173 a: Ὁ δὲ ζʹ λόγος ἀρχὴν ἰδίαν ὑποστησάμενος περὶ τῆς διατριβῆς τοῦ προειρημένου Ἀμμωνίου τὴν σπουδὴν ἀναλαμβάνει· καὶ ὡς Πλωτῖνός τε καὶ Ὠριγένης, καὶ μὴν καὶ Πορφύριος καὶ Ἰάμβλιχος καὶ οἱ ἐφεξῆς, ὅσοι τῆς ἱερᾶς (ὡς αὐτός φησι) γενεᾶς ἔτυχον φύντες, ἕως Πλουτάρχου τοῦ Ἀθηναίου, ὃν καὶ καθηγητὴν αὑτοῦ τῶν τοιούτων ἀναγράφει δογμάτων, οὗτοι πάντες τῇ Πλάτωνος διακεκαθαρμένῃ συνᾴδουσι φιλοσοφίᾳ. 42 Theologia Platonis 1,1,5 f Saffrey / Westerink. 43 Theologia Platonis 1,1,6 f Saffrey / Westerink: Τούτους δὴ τοὺς τῆς Πλατωνικῆς ἐποπτείας ἐξηγητὰς καὶ τὰς παναγεστάτας ἡμῖν περὶ τῶν θείων ὑφηγήσεις ἀναπλώσαντας καὶ τῷ σφετέρῳ καθηγεμόνι παραπλησίαν τὴν φύσιν λαχόντας εἶναι θείην ἂν ἔγωγε Πλωτῖνόν τε τὸν Αἰγύπτιον καὶ τοὺς ἀπὸ τούτου παραδεξαμένους τὴν θεωρίαν, Ἀμέλιόν τε καὶ Πορφύριον, καὶ τρίτους οἶμαι τοὺς ἀπὸ τούτων ὥσπερ ἀνδριάντας ἡμῖν ἀποτελεσθέντας, Ἰάμβλιχόν τε καὶ Θεόδωρον, καὶ εἰ δή τινες ἄλλοι μετὰ τούτους ἑπόμενοι τῷ θείῳ τούτῳ χορῷ περὶ τῶν τοῦ Πλάτωνος τὴν ἑαυτῶν διάνοιαν ἀνεβάκχευσαν, παρ’ ὧν τὸ γνησιώτατον καὶ καθαρώτατον τῆς ἀληθείας φῶς τοῖς τῆς ψυχῆς κόλποις ἀχράντως ὑποδεξάμενος ὁ μετὰ θεοὺς ἡμῖν τῶν καλῶν πάντων καὶ ἀγαθῶν ἡγεμών, τῆς τε ἄλλης ἁπάσης ἡμᾶς μετόχους κατέστησε τοῦ Πλάτωνος φιλοσοφίας καὶ κοινωνοὺς ὧν ἐν ἀπορρήτοις παρὰ τῶν αὐτοῦ πρεσβυτέρων μετείληφε, καὶ δὴ καὶ τῆς περὶ τῶν θείων μυστικῆς ἀληθείας συγχορευτὰς ἀπέφηνε.
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tergabe. Ammonios wird hier übersprungen, ebenso Plotins Kollege Origenes, den Proklos an anderer Stelle als bedauerlichen Rückfall in den Aristotelismus präsentiert.44 Plutarch, der Lehrer von Hierokles wie von Proklos’ Lehrer Syrianos, der hier so hymnisch umschrieben wird, wird nicht eigens erwähnt; dafür wird Theodoros von Asine, der sonst keine besondere Erwähnung in Aufzählungen der neuplatonischen Koryphäen findet, in die Sukzessionskette eingeschrieben.45 Am Vergleich zwischen Hierokles und Proklos, die beide in Athen bei Plutarch studiert haben und sich um eine Generation unterscheiden, kann man sehen, wie Sukzessionsketten im einzelnen akzentuiert und für theologische und persönliche Zwecke genutzt werden können: Indem man sich als letztes Glied in der Überlieferungskette bzw. im „heiligen Geschlecht“ (um Hierokles’ Begriff zu verwenden)46 darstellt, erhebt man den Anspruch, Teil der autoritativen Lehrtradition zu sein und das göttliche Licht weiterzugeben; indem man als Alexandriner und in Alexandrien wirkender Philosoph Ammonios betont, kann man den Anspruch Alexandriens auf philosophisches Prestige unterstreichen – gegen das athenische Parallelunternehmen des etwa gleichaltrigen Syrianos, der ebenfalls Alexandriner ist,47 aber in Athen bleibt und Plutarchs Nachfolge antritt. Athenische Seitenhiebe gegen Hierokles hält Damaskios für seinen Lehrer Isidor fest, der ebenfalls trotz seiner alexandrinischen Herkunft sich in der Tradition der athenischen Lehrer verortet und unter nicht ganz geklärten Umständen in die Sukzession eingebunden wird; auch Damaskios wertet Hierokles herab.48 Für beide Neuplatoniker ist Platon der absolute Referenzpunkt. Aus der systematischen Überhöhung dieser Gründerfigur49 möchte ich nur einen Aspekt he44 Theologia
Platonis 2,4,31 Saffrey / Westerink. Theodoros von Asine und seiner Rezeption siehe Deuse 1973, bes. 59–63 zu seiner Datierung und der Proklosstelle; zu einer Hypothese über Proklos’ Wahl Saffrey 1984 a / b und 1994. Offensichtlich ist Theodoros hier für Proklos in erster Linie Porphyriosschüler; dies entspricht dem Zeugnis bei Damaskios, Vita Isidori E166 Zintzen (test. 1). 46 Der Begriff erscheint auch in Damaskios, Vita Isidori frg. 73A (E95 Zintzen); es könnte überlegt werden, inwiefern er zur Standardbezeichnung für die Philosophen wird und so auch zur Geltungskonstruktion und Insitutionalisierung auf einer bescheidenen Ebene beiträgt. Athanassiadi 1999, 189, Anm. 173 ad loc. sieht darin „an ‚insider’s‘ term for the Neoplatonists“, mit dem Verweis auf die oben erwähnte Stelle bei Hierokles. Zu überlegen wäre, inwiefern die Neuplatoniker dabei bewusst auf eine Pindarstelle rekurrieren, in der die Junktur ἱερὰ γενεά für die Hyperboreer verwendet wird (Pythia 10, 42); Pindar beschreibt deren seliges Leben in enger Beziehung zu Apollon, ohne Krankheit und Alter. 47 Damaskios, Vita Isidori frg. 34D Athanassiadi (F77 Zintzen). 48 Damaskios, Vita Isidori, frg. 34D Athanassiadi (E36 Zintzen): Hierokles und die ihm Gleichen hätten zwar keinen Mangel in ihrer menschlichen – menschenmöglichen – Vorbereitung zur Philosophie aufzuweisen, wiesen aber Lakunen in den μακάρια νοήματα auf – wahrscheinlich ist damit die Theologie gemeint. Damaskios selbst hält Hierokles’ Fähigkeiten und Treue zur alten Religion durchaus lobend fest (frg. 45 A–B, E54 und F106 Zintzen), konstatiert aber auch trocken, dass er „hinsichtlich des Wissens unpräzise war“ (frg. 45B Athanassiadi, F106 Zintzen). 49 Als Beispiel seien nur die für den Philosophieunterricht gedachten und so einen größeren Kreis im Blick habenden anonymen Prolegomena zur platonischen Philosophie aus dem 6. Jh. erwähnt, die Platon als „göttlich“ und „apollinisch“ beschreiben: Prolegomena ad Platonis 45 Zu
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rausgreifen, der mit Karl-Siegbert Rehberg als „Zeit-Symbol“50 zur Stabilisierung von Institutionalität interpretiert werden kann: die Feiern zu seinem Geburtstag.51 Dafür haben wir seit dem 1. / 2. Jahrhundert n. Chr. Belege aus platonischen Kontexten. So beschreibt der Mittelplatoniker Plutarch die Geburtstagsfeier für Platon am 7. Thargelion, die auf den Geburtstag des Sokrates am 6. Thargelion folge, als Rahmen für die gelehrten philosophisch-literarischen Gespräche, die er im 8. Buch seiner Tischgespräche (Symposiaka) zusammenfasst.52 Nicht zuletzt durch das Datum wird die Verbindung Platons mit dem delischen Apollon unterstrichen, dessen Geburtstag auch am 7. Thargelion gefeiert wurde.53 Im 3. Jahrhundert berichtet Porphyrios, der Schüler Plotins, von zwei philosophischen Kreisen, die Platons Geburtstag begehen. Eine Vignette beschreibt die Platoneia, die sein erster Rhetorik‑ und Philosophielehrer Longin feiert: ein Festmahl mit sechs Hauptgästen, mit Longin als siebtem Festredner. Bei den sieben Hauptpersonen handelt es sich um Intellektuelle verschiedener Prägung: Philosophen, Rhetorik‑ und Literaturlehrer, Mathematiker.54 Wie bei Plutarch dient diese Schilderung der longinischen Platoneia als Rahmen für die Wiedergabe gelehrter Gespräche in dem nur fragmentarisch erhaltenen Werk Philologos akroasis – etwa: „Philologisches Hörerlebnis“. Später rückt Porphyrios philosophisch von seinem ersten Lehrer ab und schließt sich dem konkurrierenden Schulkreis um Plotin an. Auch dort wird Platons Geburtstag gefeiert: Plotin habe, entphilosophiam 1,2 Westerink / Trouillard: θεῖος δὲ ἦν ὁ Πλάτων καὶ Ἀπολλωνιακός; vgl. auch 5,7 (göttlich) und 6,9 f (apollinisch). Bei der Bezeichnung Platons als ‚apollinisch‘ ist an die auf den Phaidrosmythos basierende neuplatonische Vorstellung zu denken, dass die Seelen jeweils einem bestimmten Gott zugeordnet sind und dessen Natur replizieren (Phaidros 246 e–247 a; 250 b; 252 c–253 c; cf. z. B. Julian, In solem regem 1, 130B–C; Contra Heraclium Cynicum 22, 229C–D, der die Zugehörigkeit zu Helios beansprucht, oder Marinus, Vita Procli 28,34 Saffrey / Segonds: Proklos als Teil der von Hermes stammenden Seinskette). Zur Überhöhung Platons siehe z. B. Halfwassen 2015, 31–34, mit einer philosophischen Deutung. 50 Rehberg 2001, 43. 51 Dazu siehe Männlein-Robert 2001 a, 258–260 mit weiterer Literatur. Das aaO. 259 zitierte Beispiel von Gellius, Noctes atticae 15,2,3 als Beleg für monatliche Feiern „zu Ehren des verstorbenen Platon“ passt jedoch nicht ganz in das Gesamtbild – es geht um weiter nicht spezifizierte athenische convivia unter Jugendlichen am Monatssiebten, in denen ein Möchtegern-Platoniker Platon als Lobredner der Trunkenheit präsentiert. 52 Plutarch: Quaestiones convivales 8, 717A (ἃ τοίνυν ἐν τοῖς Πλάτωνος γενεθλίοις πέρυσι καὶ ἀκοῦσαι καὶ εἰπεῖν συνέτυχεν ἡμῖν, πρῶτα τοῦτο περιέχει τὸ βυβλίον); 717B wird noch einmal das Setting der Feier beschrieben: Τῇ ἕκτῃ τοῦ Θαργηλιῶνος ἱσταμένου τὴν Σωκράτους ἀγαγόντες γενέθλιον τῇ ἑβδόμῃ τὴν Πλάτωνος ἤγομεν; vgl. auch 717D und 718C. 53 Männlein-Robert 2001 a, 259 f. 54 Porphyrios, Philologos akroasis, Buch 1, frg. 407T und 408–410F Smith. Das Setting wird in frg. 408F Smith aus Eusebios von Caesarea, Praeparatio evangelica 10,3,1 dargestellt: Τὰ Πλατώνεια ἑστιῶν ἡμᾶς Λογγῖνος Ἀθήνησι κέκληκεν ἄλλους τε πολλοὺς καὶ Νικαγόραν τὸν σοφιστὴν καὶ Μαΐορα Ἀπολλώνιόν τε τὸν γραμματικὸν καὶ Δημήτριον τὸν γεωμέτρην Προσήνην τε τὸν Περιπατητικὸν καὶ τὸν Στωϊκὸν Καλλιέτην. μεθ’ ὧν ἕβδομος αὐτὸς κατακλινείς, […]. Zum Gesamttext Männlein-Robert 2001 a, 251–292. Dass Longin Platons Geburtstag feierte, könnte als Anzeichen seines Selbstverständnisses als platonischer Philosoph und als bewusste Einschreibung in die platonische Lehr‑ und Lerntradition gedeutet werden.
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sprechend seiner Geringschätzung irdischen Lebens, seinen eigenen Geburtstag nicht begangen, wohl aber zu den „überlieferten [παραδεδομένοις] Geburtstagen des Sokrates und Platons’ geopfert und die engeren Freude eingeladen; bei diesen Zusammenkünften habe er sich von den begabten Gästen Vorträge erbeten.55 Die Platon‑ und Sokratesfeiern erscheinen hier als ein Stück Tradition und somit als etwas Stabiles im „vergänglichen Fluß der Zeit“, um Melvilles Formulierung aufzugreifen. Die Gelegenheit, sich in Szene zu setzen, lässt Porphyrios nicht verstreichen: er berichtet an späterer Stelle, wie er zum Anlass der Platoneia ein „mystisches Gedicht“ über die Heilige Hochzeit vortrug, welches bei den Teilnehmern eher Skepsis, bei Plotin allerdings Begeisterung auslöste.56 Im 5. Jahrhundert wird Platons Geburtstag in der athenischen Schule gefeiert. Proklos selbst erwähnt sie als Anstoß für einen seiner Essays im Kommentar zu Platons Staat – das Gespräch bei der Feier habe sich auf die Frage konzentriert, inwiefern Homer mit dem ihn kritisierenden Sokrates der Politeia in Einklang gebracht werden könnte.57 Marinus, sein Nachfolger, berichtet ebenfalls von entsprechenden Feiern.58 Schließlich finden sie auch in den anonymen Prolegomena zum Studium Platons Erwähnung, die im 6. Jahrhundert aus der alexandrinischen Schule überliefert sind: „Und wenn die Athener seinen Geburtstag feierlich begehen, dann singen sie mit den Worten: ‚An diesem Tag haben die Götter den Menschen Platon geschenkt‘.“59
Bis auf diese Stelle stehen die Feiern ganz im Zeichen der mußevollen Gelehrtengespräche und ‑vorträge im kleineren Kreis; in den Prolegomena werden ‚die Athener‘ angesprochen und die Feier damit als religiöse Zelebration der Stadt stilisiert. Allerdings können ‚die Athener‘ im Kontext des 6. Jahrhunderts n. Chr. lediglich auf die pagan geprägte Schule und ihr unmittelbares Umfeld bezogen werden. Ein Kulthymnus, wie ihn der Hexameter nahelegt, ist sonst
55 Porphyrios, Vita Plotini 2: οὐδὲ θύειν ἢ ἑστιᾶν τινα τοῖς αὐτοῦ γενεθλίοις ἠξίου, καίπερ ἐν τοῖς Πλάτωνος καὶ Σωκράτους παραδεδομένοις γενεθλίοις θύων τε καὶ ἑστιῶν τοὺς ἑταίρους, ὅτε καὶ λόγον ἔδει τῶν ἑταίρων τοὺς δυνατοὺς ἐπὶ τῶν συνελθόντων ἀναγνῶναι. Zu den Unterschieden der Platonfeiern bei Longin und Plotin siehe Männlein-Robert 2001 a, 289 f, die für letztere einen kleineren Teilnehmerkreis und eine religiösere Note konstatiert. 56 Vita Plotini 15. 57 Proklos, In rempublicam 1,69 Kroll: Ἔναγχος ἡμῖν ἐν τοῖς τοῦ Πλάτωνος γενεθλίοις διαλεγομένοις παρέστη διασκέψασθαι, τίνα ἄν τις τρόπον ὑπέρ τε Ὁμήρου πρὸς τὸν ἐν Πολιτείᾳ Σωκράτη τοὺς προσήκοντας ποιήσαιτο λόγους καὶ ἐπιδείξειεν τῇ τε φύσει τῶν πραγμάτων καὶ τοῖς αὐτῷ φιλοσόφῳ μάλιστα πάντων ἀρέσκουσιν συμφωνότατα περί τε τῶν θείων καὶ τῶν ἀνθρωπίνων ἀναδιδάσκοντα, καὶ τὸν Πλάτωνα τῆς πρὸς ἑαυτὸν ἐξέλοι διαφωνίας. 58 Marinus, Vita Procli 23: die Feier ist ebenfalls von Reden geprägt; dazu Saffrey / Segonds 144, Anm. 15 ad loc. 59 Prolegomena 6,10 Westerink / Trouillard: Καὶ Ἀθηναῖοι δὲ τὴν γενεθλιακὴν αὐτοῦ ἡμέραν ἐπιτελοῦντες ἐπᾴδοντες φάσκουσιν· Ἤματι τῷδε Πλάτωνα θεοὶ δόσαν ἀνθρώποισι; die Herausgeber notieren ad loc. ebenfalls die Vermutung, dass es sich um die athenische Schule handele.
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nicht bekannt;60 immerhin erwähnt Porphyrios, wie oben vermerkt, für das 3. Jahrhundert nicht spezifizierte Opferhandlungen. Neben Geschichtsskizzen, die ein „heiliges Geschlecht“ in direktem Anschluss an die Gründerfigur konstruieren, werden in Biographien Philosophen der Gegenwart und Vergangenheit als Leitfiguren der Philosophenschulen präsentiert. Die Biographien verbinden hagiographische und protreptische Elemente.61 An seinem Lehrer Plotin zeigt Porphyrios exemplarisch, wie ein Philosophenleben aussieht, das ganz auf die Betrachtung des Immateriellen und auf das Streben aus dem körperlichen Leben hinaus zum Göttlichen ausgerichtet ist. Plotin „verhielt [sich] wie einer, der sich schämte, in einem Körper zu sein“;62 er erlebt viermal in seinem Leben die Vereinigung mit dem höchsten Gott,63 seine Seele steht unter dem Schutz eines Gottes, nicht eines normalen persönlichen daimon.64 Ein Orakel Apollons, der zu Sokrates nur einen lapidaren Satz zu sagen hatte, wie Porphyrios vermerkt,65 bezeugt in 51 hexametrischen Versen seinen Aufstieg nach dem Tod zum ätherischen Gefilde der daimones, wo schon Pythagoras und Platon wohnen.66 An der Lebensbeschreibung des eigenen Lehrers Proklos zeichnet Marinus das Ideal der Glückseligkeit nach – die Erfüllung der höchsten Bestimmung menschlicher Existenz.67 Einen anderen Weg geht der Philosoph Jamblich, der Pythagoras, also einen Philosophen der Vorzeit, als göttliches Wesen und Vermittler zwischen Göttern und Menschen durch die Gabe der Philosophie zeichnet und an seinem Vorbild zu einem Leben im Geiste dieser göttlichen Gabe gemahnt.68 Ob gegenwärtige oder vergangene Philosophen: Die Heroen solcher Biographien verkörpern das philosophische Ideal, das nicht nur mit besonderem Wissen über das Göttliche – Theologie – sondern auch mit einer besonderen Nähe zum Göttlichen verbunden ist, die sich in besonderen übermenschlichen Fähigkeiten oder Gebetserhörungen konkretisiert.69 Dabei lassen sich, wie zuletzt Irmgard Männlein-Robert gezeigt hat, anhand der Entscheidungen für die Gestaltung philosophischer Bio‑ oder Hagiographien auch Spannungen und Konkurrenzen feststellen; so bilden die Plotinvita des Porphy60 Vgl.
Westerink / Trouillard 1990, 10, Anm. 77 z. St. Siehe z. B. Tanaseanu-Döbler 2012 (mit weiterer Literatur 70, Anm. 2), Urbano 2013, Männlein-Robert 2001 b und 2016. 62 Vita Plotini 1: Πλωτῖνος ὁ καθ’ ἡμᾶς γεγονὼς φιλόσοφος ἐῴκει μὲν αἰσχυνομένῳ ὅτι ἐν σώματι εἴη. Das ist der erste Satz der Vita. 63 Vita Plotini 23. 64 Vita Plotini 10. 65 Vita Plotini 22; zum Kontext siehe den Beitrag von Tanja Scheer in diesem Band (S. 25–50). 66 Vita Plotini 22 67 Sein Programm und die Anlage der Biographie erläutert Marinus in Vita Procli 2; vgl. dazu Männlein-Robert 2013. 68 De Vita pythagorica; zur protreptischen Intention siehe z. B. Dillon 2002, 295, der deswegen für die Interpretation als „Evangelium“ plädiert. 69 Für die Forschungspositionen zu diesem Thema verweise ich auf meinen Aufsatz von 2012, 70 Anm. 2. 61
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rios und die Vita pythagorica Jamblichs rivalisierende Entwürfe.70 Ebenso lassen sich gewichtige Unterschiede in der Behandlung der Pythagorasbiographie durch die beiden Philosophen herausarbeiten.71 Wie an den unterschiedlichen Akzentuierungen der Sukzession bei Hierokles und Proklos wird auch hieran ersichtlich, dass im paganen philosophischen Milieu trotz grundsätzlicher Akzeptanz des gleichen breiten Narrativs und der gleichen als bedeutungsvoll anerkannten Figuren – der gleichen Ahnengalerie – im Detail Spannungen zwischen individuellen Akteuren und ihren Kreisen bestehen, die die inhärente Labilität von Institutionalisierungstendenzen zutage treten lassen. 3.2. Lehrerkonzepte und Schulkreise Aus den Sukzessionsnarrativen und Biographien lässt sich die besondere Bedeutung der Lehrerrolle ersehen. Sie hängt nicht zuletzt mit der sozialen Struktur der Schulen zusammen. Neuplatonische Philosophenschulen gruppieren sich um eine Lehrerpersönlichkeit und bestehen selten über deren Tod hinaus.72 In diesen Gebilden lässt sich grundsätzlich ein engerer Kreis fortgeschrittener und dem Lehrer nahestehender Studenten (zelotai, hetairoi) von einem breiteren Kreis von Hörern in Vorlesungen (akroatai) unterscheiden.73 Zumindest für den engeren Kreis kann nicht nur von einer Studien-, sondern auch von einer darüber hinausgehenden Lebensgemeinschaft mit dem Lehrer gesprochen werden, die etwa auch gemeinsame religiöse Praxis umfassen kann.74 Manchmal versuchen Lehrer, vielversprechende Schüler etwa über Ehen zu binden bzw. nehmen sie als Hausgenossen auf.75 Als Lehrer sind in der Hauptsache Männer, mit zwei Ausnahmen, Hypatia für Alexandrien und Sosipatra für Pergamon, belegt.76 Solche Kreise sind, auch wenn ihre Lebensdauer begrenzt ist, an sich bekannt und eingeführt – sie stellen eben die etablierte Sozialstruktur des Philosophiestudiums dar. Insofern kann man hier auch von einer spätantiken ‚Institution‘ sprechen. Dass eine konkrete Schule über den Tod des Lehrers hinaus fortdauert, ist selten der Fall. Im Falle eingeführter öffentlicher Lehrstühle lässt sich dies punktuell zumindest annehmen. Interessant ist die Notiz, dass im 5. Jahrhundert 70 Männlein-Robert
2016. 2012, bes. 89–91. 72 Zur Struktur solcher Kreise siehe Fowden 1979. 73 Dazu Goulet-Cazé 1982, 233–236; Holder (in Vorbereitung). 74 Siehe z. B. die Beschreibung der plotinischen Schule in der Vita Plotini 7 und 9 f (Amelios versucht erfolglos Plotin, zu gemeinsamen religiösen Handlungen zu animieren). 75 Siehe z. B. Marinus, Vita Procli 9,11 und 12,15 Saffrey / Segonds im Kontext des Philosophieunterrichtes, zugespitzt ebd. 36, 42: Grabgemeinschaft mit dem Lehrer; auch für den Kontext des Rhetorikunterrichtes schildert er Vergleichbares (8,9 Saffrey / Segonds); Damaskios, Vita Isidori frg. 56 Athanassiadi (F124 Zintzen): Syrianos versucht, Proklos mit seiner eigenen Verwandten Aidesia zu verheiraten; dies scheitert, und sie heiratet Proklos’ Kommilitonen Hermeias. 76 Zu Sosipatra Tanaseanu-Döbler 2014. 71 Tanaseanu-Döbler
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Aidesia, die Frau des Philosophen Hermeias, für ihre Söhne die öffentliche Finanzierung des Vaters gleichsam als deren rechtmäßiges Erbe freihält, bis sie alt genug sind, sie anzutreten; dies wird aber als absolute Ausnahme dargestellt.77 Eine prominente Ausnahme von der Regel der Kurzlebigkeit ist die Schule von Athen, die vom späten 4. bis zum 6. Jahrhundert fortdauert und bewusst versucht, Kontinuität zu markieren und Institutionalisierung voranzutreiben. Dies ist stark mit der Persönlichkeit des Proklos verknüpft, der im 5. Jahrhundert über mehrere Jahrzehnte der Schule vorsteht und sie durch Ausbau der Sukzession und Verstärkung der Aura einer besonderen Tradition zu festigen sucht.78 Angesichts dessen, dass Philosophenkreise und philosophische Identität sich über den Lehrer konstituieren und definieren, lässt sich vermuten, dass der Lehrer bei der eigenen individuellen Verortung in der Tradition der Philosophie eine wichtige Rolle spielt. So stilisiert Porphyrios seinen Lehrer Plotin, wie oben erläutert, als gleichsam übermenschlichen Vermittler der Philosophie, der seine Weisheit ebenfalls von einem besonderen Lehrer erhalten habe – und damit sich selbst, den autorisierten Herausgeber der Werke Plotins, als den Meisterschüler.79 Die religiöse Überhöhung des Lehrers als Mystagogen, dem man sich überantwortet, lässt sich in Kaiser Julians Äußerungen zu seinem Philosophielehrer oder in den überschwänglichen Tönen greifen, die Synesios von Kyrene hinsichtlich seiner Lehrerin Hypatia anschlägt.80 Proklos’ hymnische Äußerungen über seinen eigenen Lehrer Syrianos wurden oben bereits zitiert; in die Traditionskette, die er in Syrianos gipfeln lässt, reiht er sich auch selbst explizit als Lehrer ein, indem er es als seine Pflicht festhält, das Empfangene weiterzugeben.81 Sein Nachfolger Marinus beschreibt Proklos als gottgewollten Nachfolger des Syrianos und Retter der Philosophie.82 Die philosophische Verankerung dieser Überhöhung des Lehrers wird etwa an der Beziehung zwischen Sokrates und Alkibiades festgemacht83 oder aber sie hängt an der Darstellung der Philosophie als Mysterieninitiation – diese wäre nicht ohne einen Mystagogen bzw. ohne den Hierophanten denkbar. Wie Philippe Hoffmann treffend feststellt, lebt die neuplatonische Pädagogik von einer „Selbstglorifizierung der Rolle des Lehrers“.84 77 Damaskios,
Vita Isidori frg. 56 Athanassiadi (F124 Zintzen). Geschichte der athenischen Schule siehe z. B. Watts 2006, 89–128; zur Sukzession Tanaseanu-Döbler 2017. 79 Siehe z. B. Vita Plotini 4–6, wo Porphyrios sich als treibende Kraft für Plotins Publikationstätigkeit beschreibt und die besten Schriften und damit die Blüte der Schaffensperiode mit seinem Aufenthalt in der Schule koinzidieren lässt; in Vita Plotini 24 beschreibt er sich als beauftragten Herausgeber. 80 Julian, Contra Heraclium Cynicum 23, 235 a–d; Synesios, ep. 137; vgl. auch ep. 5, 25 f Garzya, ep. 10 oder 16; zu Julian und Synesios Tanaseanu-Döbler 2008, 91–93.197 f.283 f. 81 Theologia Platonis 1,1,7 Saffrey / Westerink. 82 Marinus, Vita Procli 10, 12 f Saffrey / Segonds. 83 Dazu Tanaseanu-Döbler 2015, 206–209 (am Beispiel des Proklos). 84 Hoffmann 1998, 229: „une autoglorification de la fonction de professeur“. 78 Zur
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Zu dieser Glorifizierung der Lehrerrolle gehören als topische Pendants zum einen Erzählungen von der langen und quälenden Suche nach dem richtigen Lehrer,85 zum anderen Geschichten von der Suche der Lehrer nach geeigneten Nachfolgern, die ihr Erbe weitertragen sollen. Besonders kritisch erscheint diese Suche in der athenischen Schule, die auf einen längeren Fortbestand zurückblickt und bestrebt ist, diesen zu erhalten. Wie wir gesehen haben, schildert Marinus im Rückblick Proklos’ Entscheidung, zum Studium nach Athen zu gehen, als göttlichen Heilsplan zur Sicherung der Schultradition. Er beschreibt, wie Syrianos den jungen Mann bald gezielt als Nachfolger ausbildet.86 Einige Jahrzehnte später beschreibt ein weiteres Athener Schulhaupt, Damaskios, wie Proklos seinerseits versucht, die Sukzession zu sichern, dabei aber aus Mangel an fähigen oder willigen Kandidaten scheitert. Einzelne Details dieses Ringens können wir aus Damaskios’ Schilderung erahnen, wenn auch nicht zweifelsfrei rekonstruieren; es ergeben sich auch aus der Not geborene neue Konstruktionen, wie etwa die Ernennung eines Philosophen zum Schulhaupt ἐπ’ ἀξιώματι μᾶλλον ἢ πράγματι, die letztlich der intendierten Sicherstellung einer soliden Nachbesetzung des Rektors der athenischen Schule zuwiderlaufen.87 Auch an diesem Beispiel von Kontinuitätskonstruktion in actu wird die Instabilität institutioneller Formationen in der spätantiken Philosophie gut sichtbar. Die Rhetorik der Überhöhung des philosophischen Lehrers, die sich oft in entsprechenden Biographien niederschlägt, produziert zunächst einmal für die studentische Nachwelt eine Reihe von Lichtgestalten. Auch hier sind aber Spannungen im einzelnen festzuhalten. Wer ist der wahre Lehrer und Führer zur Weisheit? Am deutlichsten wird das bei Jamblich im späten 3. und frühen 4. Jahrhundert. In seinen erhaltenen Werken führt Jamblich keinen eigenen Lehrer an. In seiner Pythagorasvita stilisiert er seinen Helden als Urheber der Philosophie, dessen Gabe mit gnädiger Hilfe der Götter und des Pythagoras selbst entfaltet werden könnte – derjenige, der sie entfaltet, ist dann offensichtlich Jamblich 85 Porphyrios, Vita Plotini 3 (Plotin und Ammonios); Eunapios, Vitae sophistarum et philosophorum 7,1,6–12 (Julian und Maximus von Ephesus); Marinus, Vita Procli 10 (Proklos’ Unzufriedenheit mit den alexandrinischen Philosophen führt dazu, dass er nach Athen reist). Vgl. auch Damaskios, Vita Isidori frg. 35A Athanassiadi, E37 Zintzen: nachdem Isidor bei einem Lehrer „zur Ruhe gekommen ist“ (ἐπαναπαυόμενος), bleibt er bei diesem. Damaskios verwendet den Topos für Isidor nochmals in Vita Isidori frg. 34C Athanassiadi (E35 Zintzen) und gibt ihm eine neue Wendung, indem er ihn aus dem konkreten Schulzusammenhang nimmt: Nach kurzem Durchgang durch Rhetorikstudien und dem Studium aristotelischer Philosophie habe Isidor Platon entdeckt. Dieser Unmittelbarkeit zum Gründer entspricht Damaskios’ Betonung, dass Isidor zwar alle Lehren der Alten studiert habe (frg. 34D Athanassiadi, F77 Zintzen), aber trotzdem Originalität in seiner Platoninterpretation zeige (frg. 34A Athanassiadi, E33 Zintzen). 86 Marinus, Vita Procli 12,15 Saffrey / Segonds. 87 Damaskios, Vita Isidori, frg. 97K (E147 Zintzen), 98A–F Athanassiadi (= E148–152 und F250–252 Zintzen); zur Wahl Isidors zum Diadochen „eher dem Titel als der Sache nach“ frg. 148C Athanassiadi (E226 Zintzen). Ein Rekonstruktionsversuch findet sich bei Athanassiadi 1999, 42–44.
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selbst, der so programmatisch unter Rückgriff auf einen Philosophen der Vergangenheit eine gewisse Unmittelbarkeit zur Philosophie beansprucht und Plotin und Porphyrios beiseite lässt. Proklos’ Sukzessionsketten, insbesondere in der Platonischen Theologie, können teilweise als bewusste Zurechtweisung von Jamblichs Prolog der Vita pythagorica gelesen werden. Gegen Jamblichs Anspruch setzt er die Tradition der Philosophen als einzig autorisierte Interpreten, gewissermaßen als Lehramt.88 Zwischen dem von Proklos geschätzten Theodoros von Asine und dessen Lehrer Jamblich scheinen ebenfalls Spannungen bestanden zu haben.89 Synesios von Kyrene verweist um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert auf die Alexandrinerin Hypatia als die „rechtmäßige Lehrmeisterin der philosophischen Mysterienfeiern“ und hebt ihren Unterricht gegen anderslautende Ansprüche athenischer Studenten explizit von der Athener Philosophenschule Plutarchs ab, welche er herabwertet; den Gegenentwurf präsentiert ein Jahrhundert später Damaskios, der Hypatia als bloße Mathematikerin gegenüber seinem eigenen Lehrer Isidor abqualifiziert.90 Damaskios unternimmt es auch in der Kollektivbiographie, in welche er die Vita seines eigenen Lehrers Isidor in die zeitgenössische Philosophiegeschichte in Athen, Alexandria und Aphrodisias einbettet, die Aura des Proklos zu relativieren.91 So wird das Idealkonzept des Lehrers zwar geteilt und stiftet dadurch ein überpersönliches Moment der Gleichförmigkeit und Stabilität, birgt aber zugleich in seiner konkreten Anwendung auf reale Lehrpersonen Potential für Rivalität und Fragmentierung. 3.3. Curricula und epistemische Praktiken Ein Blick auf die spätantike Philosophenschule als Institution religiöser Bildung führt zu der Frage, in welchen allgemeinen Formen Religion in der Schule präsent war und vermittelt wurde. Hier lassen sich zum einen theologische Inhalte festhalten – Gotteslehre, Kosmologie und Anthropologie, Soteriologie, Offenbarungskonzepte, heilige Texte. Zum anderen wäre die Frage nach Ritualen als Studieninhalt (im modernen Sinne Liturgiewissenschaft) oder aber als gelebte Zu Jamblich und Proklos siehe die Argumentation in Tanaseanu-Döbler 2017. ep. 12 Bidez (test. 4 Deuse); dazu Deuse 1973,1 und 64 f. 90 Synesios, ep. 137: ἀυτόπται γάρ τοι καὶ αὐτήκοοι γεγόναμεν τῆς γνησίας καθηγεμόνος τῶν φιλοσοφίας ὀργίων; Die Schilderung des Verfalls der Philosophie in Athen gegenüber ihrer Blüte in Ägypten durch Hypatias Nachkommen findet sich in ep. 136. Damaskios, Vita Isidori frg. 106A Athanassiadi (E164 Zintzen); vgl. auch frg. 43E Athnanassiadi (F104 Zintzen), wo Damaskios die Ehrenbezeugungen für Hypatia in Alexandrien mit den Worten kommentiert, dass die Philosophie zu der Zeit zwar der Sache nach schon tot gewesen sei, dem Namen nach aber noch geschätzt. 91 Etwa durch die implizite Kritik an der übertriebenen Betonung der Askese sowie der Theologie und der Religion durch Proklos, von der sich Isidor in Vita Isidori frg. 59B–E Athanassiadi (F134–136 Zintzen) vorsichtig distanziert, oder implizit durch die äußerst kritische Darstellung des designierten Nachfolgers Marinus (frg. 38A Athanassiadi, E42 und F90 Zintzen; frg. 97C.F.H–J, E142.144.146.275 und F242.245 Zintzen). 88
89 Julian,
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und geteilte Praxis in der Schule zu stellen. Beide sollen der Reihe nach in den Blick genommen werden. Wir beginnen mit den theoretischen Inhalten. Nach Plotin entwickelt sich in neuplatonischen Kreisen ein festes Curriculum, das sich in Grundzügen überall etabliert.92 Auf propädeutische Studien (z. B. Pythagorica oder Epiktets Encheiridion) folgt die Lektüre des Aristoteles, danach erst diejenige Platons. Aristoteles wird geschätzt, aber im entscheidenden Punkt der Theologie als unzulänglich erachtet; dies spiegelt sich in seiner verbreiteten Qualifizierung als daimonios gegenüber dem „göttlichen“, theios, Platon.93 Auf Jamblich geht das platonische Schulcurriculum zurück: Er wählt Dialoge aus und ordnet sie zu einer aufsteigenden Sequenz, die von der Selbsterkenntnis im Alcibiades maior schließlich zu den beiden Dialogen Timaios und Parmenides führt. Der Timaios wird als der Inbegriff philosophischer Kosmologie, der Parmenides als Quintessenz platonischer Theologie gelesen.94 Theologie erscheint also schon vom Curriculum her als Gipfel der Philosophie Platons, der seinerseits der Gipfel der Philosophie schlechthin ist.95 Doch damit nicht genug: Nach den platonischen Dialogen steht für Fortgeschrittene noch ein besonderes Oberseminar, in dem Texte gelesen werden, die als göttlich inspiriert aufgefasst werden. Darunter fallen zum einen orphische Dichtungen, zum anderen eine im 2. Jahrhundert n. Chr. entstandene Sammlung mittelplatonisch geprägter theologischer Orakel96, die sich als „Chaldäische“ Orakel ausgeben. In Reinform kann man diese drei Stufen des Curriculums – Aristoteles, Platon, inspirierte Dichtung – in Marinus’ Proklosvita nachvollziehen.97 92 Zum neuplatonischen Curriculum siehe z. B. Lloyd 1998, 4–6 (mit einem Fokus auf Logik); Hoffmann, 1998, 211–213, Athanassiadi 2006, 169–173, Tarrant 2014, mit einer Kontextualisierung ausgehend von den platonischen Curricula und platonischen (und aristotelischen) Corpusbildungen der Kaiserzeit. 93 Z. B. Prolegomena ad Platonis philosophiam, prooemium, 1 Westerink / Trouillard mit der Anm. 1 der Hgg. z. St. auf p. 45 (Aristoteles als daimonios; die Stellen zu Platon als theios oben in Anm. 49). Als daimonios wird Aristoteles von Syrianos, In metaphysica commentarii (Commentaria in Aristotelem graeca VI,1) 60.86 Kroll bezeichnet, ebenso ebd. 115.168 und 192, wo er im Zusammenhang mit dem theios Platon genannt wird. Das Gefälle zwischen den beiden wird am Anfang von Syrians Kommentars der Bücher M und N der Metaphysik deutlich, wo er festhält, dass dort Aristoteles ohne solide Grundlage gegen die Prinzipientheorie und Theologie Platons und der Pythagoreer polemisiere (80 f Kroll). 94 Zur Ordnung der platonischen Dialoge nach Jamblich siehe Proklos, In Platonis Alcibiadem 11,9 Segonds und Prolegomena ad Platonis philosophiam 26; vgl. dazu Westerink / Trouillard 1990, LVIII und LXVII–LXXIII. 95 Dies ist nicht zuletzt vergleichbar mit der Sonderstellung, welche Origenes nach Gregor Thaumatourgos der Theologie als Krondisziplin einräumte; siehe dazu den Beitrag von Peter Gemeinhardt und Tobias Georges in diesem Band (S. 153–175). 96 Zur Bandbreite der kaiserzeitlichen und spätantiken „theologischen Orakel“, die A. D. Nock so bezeichnet hat, siehe jetzt den Sammelband von Seng / Sfameni Gasparro 2016. 97 Vita Procli 13 und 26; in 14 wird als extracurriculares Unterfangen die Lektüre der politischen Schriften des Aristoteles und der Gesetze und des Staates von Platon festgehalten. Die anonymen Prolegomena ad Platonis philosophiam halten ebenfalls fest, dass manche Lehrer auch die Politeia und die Nomoi auslegten (26,40 Westerink / Trouillard).
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Das platonische Curriculum ist demzufolge auf fortschreitende Verdichtung der religiösen Dimension ausgelegt, und es beruht auf Texten, die ausgelegt werden müssen. Exegese ist somit die fundamentale epistemische Praktik98 der Schule, die sich in Vorlesungen wie in Kommentaren niederschlägt und eingeübt wird.99 Zur methodischen Herangehensweise an die Texte werden Einführungen zur Philosophie, zu Aristoteles und Platon und zu den aristotelischen Kategorien und zu Porphyrios’ Einführung dazu entwickelt, die zentrale Punkte aus neuplatonischer Sicht in teilweise standardisierter Form wiederholen; flankiert sind sie von einführenden Prologen in philosophischen Kommentaren, die ebenfalls ein festes Fragenschema voraussetzen.100 Philippe Hoffmann hat die Verankerung dieser Einleitungsfragen in die neuplatonische pädagogische Konzeption einer stufenweisen anagogischen Führung der Studierenden herausgearbeitet.101 Die teilweise stark parallelen Fragen der Einführungen können als gemeinsame epistemische Praktiken im Sinne Wolfgang Detels gelesen werden; sie konstruieren über die einzelne Lehrerpersönlichkeit hinaus einen objektiv gültigen methodischen Zugang zur Philosophie. Eine weitere epistemische Praktik, die typisch für den späten Neuplatonismus ist, betrifft die Konstruktion einer „platonischen Theologie“. Die Lesart des Parmenides als theologisches Kompendium gibt einen Leseschlüssel an die Hand, anhand dessen die verstreuten Ausführungen Platons zum Göttlichen in den verschiedenen Dialogen systematisch gelesen und zu einer kohärenten Theologie zusammengefügt werden können.102 Diese Theologie kann dann mit anderen Theologien verglichen und harmonisiert werden.103 Wie Henri-Dominique Saffrey gezeigt hat, lässt sich dieses Programm einer symphonia theologischer Traditionen in Ansätzen schon ab dem 4. Jh. feststellen, erreicht aber seine Blüte in der athenischen Schule des 5. und 6. Jahrhunderts, welche die Harmonisierung theologischer Traditionen systematisch und programmatisch betreibt.104 Da 98 Zum Begriff der epistemischen Praktik als regelgeleitetem Komplex von „Verfahren zur Herstellung von Wissen, Wissensansprüchen oder Wissensprodukten […], die typischerweise in Bildungseinrichtungen oder in Gruppen von Meistern und Schülern tradiert werden“ siehe Detel 2003, 119 f., der auf die geometrische Beweisführung als Beispiel verweist (Regelhaftigkeit 119, Zitat 120); im weiteren Verlauf des Aufsatzes diskutiert er ausgewählte Wissenskulturen und ihre epistemischen Praktiken, darunter auch Beispiele im klassischen Athen und Rom. 99 Dazu Erler 2016 b. 100 Ein guter Überblick über die Prolegomena zur Philosophie, zu Aristoteles, Platon, der Eisagoge und den Kategorien bei Westerink / Trouillard 1990, XLIII–LXXVI, die die Standardisierung insbesondere für Prolegomena zu Aristoteles feststellen, während für Platon kein Paralleltext neben den anonymen Prolegomena existiert (ebd. XLIII). Hoffmann 1998, 211 verbindet diese Einführungen mit den exegetischen Prologen der Kommentare. Für weitere Literatur zum Thema sei auf seinen Aufsatz verwiesen. 101 Hoffmann 1998; s. bes. 210 f.; 222–240. 102 Proklos, Theol. plat. 1, 5–7. 103 Marinus, Vita Procli 22,26 mit der Anm. 8, 140 Saffrey / Segonds. 104 Saffrey 1992.
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mit ist eine Grundlage geschaffen, auf der pagane Neuplatoniker eine religiöse Identität artikulieren und theologisch fundieren. 3.4. Rituale und gemeinsame Praxis Wird diese Identität auch in der Praxis gelebt, geteilt und umgesetzt? Hier stellt sich die Frage nach Ritualen, die Rehberg als ein besonders wichtiges Mittel zur Herstellung und Stabilisierung von Institutionalität beschreibt.105 Insgesamt lässt sich bei zahlreichen Neuplatonikern ein reges Interesse an Ritualen beobachten. Die praktizierten Rituale variieren; private Rituale im kleineren Rahmen, die göttliche Präsenz mittels menschlicher oder gegenständlicher Medien oder Visionen hervorrufen, scheinen beliebt zu sein.106 Eine frühe Grundsatzdebatte darum, inwiefern solche Rituale zum platonischen Gottesbegriff passen oder nicht, endet damit, dass Jamblich eine Ritualtheorie entwickelt, deren Ideen und Termini zur Beschreibung und Einordnung verschiedener Riten verwendet werden.107 Diese Ritualtheorie, die später fortentwickelt wird, verwendet eine Reihe von oft synonym verwendeten Begriffen, um die rituelle Praxis einzuordnen: die wichtigsten sind „Theurgie“ (Götterwerk), „Hieratik“ oder ἡ τῶν ἱερέων τέχνη (priesterliche Kunst / Kunst der Priester) und „Telestik“ (Weihekunst).108 Während ersterer den Chaldäischen Orakeln entstammt, beziehen sich die Erwähnungen der Hieratik und Telestik auf Platon109 und orphische Traditionen.110 Durch diese Oberbegriffe werden Rituale gebündelt und als esoterisches, von den Göttern gegebenes Traditionsgut stilisiert. Zwei Interpretamente sichern die Kompatibilität mit dem platonischen Bild eines unveränderbaren Gottes: Zum ersten haben die Götter diese Rituale mit ihren Symbolen gewollt und als Kommunikationsmittel mit sich selbst für die Menschen eingerichtet.111 Sie reagieren damit im Kult nicht auf menschlichen Zwang, sondern folgen ihrem eigenen Willen. Zum zweiten werden Konzepte göttlicher Präsenz oder Selbstoffenbarung in der materiellen
Rehberg 2001, 36. diesen Ritualen und den dazugehörigen neuplatonischen Theorien, die in diesem Abschnitt nur kurz skizziert werden können, siehe detailliert Tanaseanu-Döbler 2013. 107 In seiner später als De mysteriis titulierten „Antwort des Meisters Abammon“, worin er auf kritische Fragen seines Lehrers Porphyrios hinsichtlich der Kompatibilität verschiedener Rituale mit der Philosophie und ihrem Gottesbild reagiert, welche dieser in dem „Brief an Anebo“ formuliert hatte. 108 Zur Begrifflichkeit Stellenbelege bei Tanaseanu-Döbler 2013, 97 f (Jamblich); 139–143 (Julian); 152–155 (Eunapius), 181–184 (Hierokles), 190–198 (Proklos), 258–264 (Hermeias), 267–271 (Damaskios). 109 Phaidros 248 e und 265 b (Telestik); Symposion 202 e: ἡ τῶν ἱερέων τέχνη. 110 Siehe Boyancé 1955. 111 Porphyrios, De philosophia ex oraculis haurienda frg. 316F Smith; Jamblich, De mysteriis 1,12 oder 2,11. 105
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Welt entwickelt, die die von den Ritualen implizierte Nähe und Zugänglichkeit der Götter mit ihrer strikten Transzendenz versöhnen.112 Die praktizierten Rituale – und für solche Praktiken haben wir relativ viele, wenngleich sehr allgemeine Belege, die uns eine Rekonstruktion im Detail zumeist nicht erlauben – werden damit in eine einheitliche, den meisten Neuplatonikern bekannte und von ihnen größtenteils geteilte übergeordnete Sinnkonstruktion gehoben. Diese ermöglicht auch, Kritik an solchen Ritualen durch den Verweis auf die philosophische Interpretation abzuwehren.113 Dies ist insbesondere im Konflikt mit den Christen wichtig, da diese ihrerseits einen bestimmten Traditionsstrang philosophischer Opfer‑ und Kultkritik aufgreifen und im gebildeten Diskurs für sich einsetzen. Die übergeordnete Interpretationsebene erleichtert auch die Integration verschiedener Rituale. Das Repertoire variiert von Philosoph zu Philosoph. Um bei dem Anfangsbeispiel zu bleiben: Marinus beschreibt für Proklos ein enzyklopädisches Kultprojekt; der Philosoph habe als Hierophant des ganzen Kosmos alle Götter entsprechend den althergebrachten Traditionen zu verehren.114 Hier zeigen sich aber auch die Grenzen des gemeinsamen ritualtheologischen Diskurses: Er schafft zwar Einheit und Sinn in der Theorie, aber die maximale Offenheit in der Praxis führt dazu, dass kein einheitliches Ritualwissen und keine einheitliche Ritualpraxis darüber hinaus nachweisbar wäre. Gemeinsame Schulrituale scheint es, bis auf die Feier des oben erwähnten Geburtstags Platons, nicht gegeben zu haben. Für den Kreis um Jamblich wird ein gemeinsames Opfer festgehalten;115 sonst sind es stets Individuen oder Gruppen von zwei oder drei Akteuren, die erwähnt werden.116 Zudem gehören Ritualpraktiken und Ritualexegese nicht zum Curriculum dazu. Das kann man daran gut sehen, dass Marinus, der in der Beschreibung des Proklos die Nähe zu den Göttern und das religiöse, auch rituelle Wissen hervorhebt, wo er nur kann,117 für den formalen Studienparcours eben nur die Texthierarchie beschreibt, in der Rituale bestenfalls insoweit vorkommen, wie sie in den entsprechenden Texten erwähnt werden. Proklos’ Praxis wird ihm nicht von seinem Philosophielehrer beigebracht. Er erscheint größtenteils auf sich allein gestellt, ein religiöser ‚Bricoleur‘ und Sammler. In der Familie Plutarchs 112 Z. B. Jamblich, De mysteriis 1,8 f; 2,6; 3,11; 5,14, Proklos, In remp. 1,37–40.109–114 und 2,241 f Kroll. 113 Z. B. Jamblich, De mysteriis 1,11–14: kultische Handlungen setzen keine Leidenschaften der Götter voraus; De mysteriis 3 zur Apologie der richtig verstandenen Mantik, insbesondere 3,31, wo er seinem Gesprächspartner Porphyrios explizit vorwirft, vergeblich die Lehre der atheoi – der Christen – von der Funktionsweise der Mantik in die Diskussion einzuführen; ebd. 5,1–25 zur Erklärung der Tieropfer; letzteres Thema auch bei Salustios, De diis et mundo 15 f. 114 Vita Procli 19,23 Saffrey / Segonds. 115 Eunapios, Vitae sophistarum et philosophorum 5,1,12 f. 116 Z. B. Eunapios, Vitae sophistarum et philosophorum 7,2,8–11; 7,3,10–13; Marinus, Vita Procli 9.11.18.28 f.36; Damaskios, Vita Isidori frg. 59F Athanassiadi (F200 Zintzen). 117 Z. B. Vita Procli 15,18; 18,22; 19,22 f; 28–33; 36.
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findet er eine Expertin, die ihm religiöses Wissen vermittelt, aber das geschieht eben nicht im Rahmen des formalen Philosophiestudiums.118 Damit begeben sich die Philosophenkreise eines wichtigen Mechanismus zur Herstellung von Institutionalität, der gerade aufgrund seines materiell-körperlichen und intersubjektiven Charakters besonders wirkmächtig ist und das Potential hat, Dissens oder Spannungen auf der diskursiven Ebene zu konterkarieren. Dies muss natürlich im Kontext der traditionellen paganen Religionslandschaft gesehen werden – die Philosophen behalten auch in der Spätantike ihre Exzentrizität und Minderheitenposition und setzen immer noch die selbständige Existenz einer Vielfalt religiöser Praktiken voraus, die sie schließlich alle als durch die Tradition der Alten und göttliche Einrichtung gegeben deuten. Dass die traditionelle Praxis sich philosophischen Eingriffen von Setzung und Normierung widersetzt, zeigt das einsame Beispiel Kaiser Julians. Als Christ geboren und über die neuplatonische Philosophie, die er in der Tradition Jamblichs kennenlernt, zum Heidentum konvertiert, versucht er die Durchsetzung seiner Konzeption von Hellenismos als Einheit von Bildung und Kult – sie scheitert nicht zuletzt am Desinteresse gerade auch paganer Kreise jenseits des engeren Philosophenzirkels um Julian.119 Hier könnte man einen wichtigen Nachteil gegenüber christlichen Konzeptionen des Religiösen und Ansätzen zur Institutionalisierung ausmachen.
4. Schlussbetrachtung Fassen wir zusammen: In der spätantiken platonischen Philosophie tritt die religiöse Dimension verstärkt in den Vordergrund; die Theologie wird als Höhepunkt der Philosophie stilisiert, auf den die anderen Disziplinen der Philosophie ausgerichtet sind, Philosophen lesen und deuten göttliche Offenbarungstexte und teilen einen gemeinsamen Diskurs über Rituale. Verschiedene Mechanismen werden eingesetzt, um dieser Philosophiekonzeption und ihrer Sozialform, den Schulkreisen, überzeitliche und überindividuelle objektive Dauer und Geltung verleihen. Die Gründergestalt Platon wird als Offenbarungsträger und Mysterienpriester stilisiert; sein Geburtstag wird als konkret greifbares „ZeitSymbol“ feierlich begangen. Die Philosophiegeschichte wird so geschrieben, dass die eigene Geschichte und Platondeutung untermauert und als göttlich 118 Vita
Procli 28. Julian selbst für Antiochien sarkastisch hervorgehoben: Misopogon 15, 346 B–D und 34 f, 361C–363C; zum antiochenischen Spott auch Ammianus Marcellinus 22,14,3. Ammianus selbst, der Julian sonst eher als Helden zeichnet, lässt Kritik an dessen religiöser Praxis deutlich werden (22,12,6 oder 25,4,17.20); den negativen und schließlich fatalen Einfluss der Philosophen um Julian, der ihn nicht auf die traditionellen haruspices hören lässt, hält er in 23,5,10–14 fest. 119 Von
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getragen präsentiert wird – damit entstehen Narrative, die zwar die diachrone Perspektive in den Vordergrund rücken, indem sie die Geschichte der eigenen konstruierten Gruppe als gottgewollte Offenbarungs‑ bzw. Traditionskette zeichnen, aber gerade um dieses zu erreichen Kontingenz ausblenden; auch hier gehen „Selbst-Historisierungen“ mit „Enthistorisierung“ einher, entsprechend der von Rehberg analysierten Dynamik von „Eigengeschichte“.120 Weitere „Geltungsgeschichten“121 inszenieren Philosophen der Vergangenheit und Gegenwart als Realisierungen der Philosophie, unterstreichen ihre besondere Gottesnähe und präsentieren sie protreptisch als Idealbilder für die angehenden Philosophen. Philosophie kann zu einer einmal gegebenen göttlichen Gabe verdinglicht werden, die objektiv da ist und nur entfaltet und weitergegeben werden muss. Eine konsequente Überhöhung des Lehrers als Eingeweihten und Priesters, mitunter als des einzigen Wegs zum Wissen, geht damit einher. Sukzessionsketten konstruieren Kontinuität; im Sonderfall der athenischen Schule wird die Position des Schulhauptes als Amt ausgebaut. Über Curricula, die ihrerseits eine bestimmte Hierarchie des Wissens und der Texte konstruieren und vorgeben, wird Wissen ausgewählt und vermittelt. In der athenischen Schule wird in der Umsetzung des Curriculums die Harmonisierung paganer Theologien zum Programm erhoben und weitergegeben. Exegese als etablierte Form der Wahrheitssuche ist die zentrale epistemische Praktik, in Vorlesungen wie in Form von Kommentaren. Nicht im Curriculum verankert, wohl aber im unmittelbaren Umfeld des philosophischen Lehrens und Lernens entwickelt sich ein Diskurs über die Bedeutung von Ritualen, der Integration der disparaten religiösen Praxis ermöglicht, aber nicht vorschreibt. Diese Mechanismen, über welche Institutionalität konstruiert und stabilisiert wird, greifen in einem relativ überschaubaren Netzwerk von Akteuren, die über Lehrer-Schüler-Beziehungen und Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verbunden sind. Spielen Rom und Apameia im 3. und 4. Jahrhundert noch eine Rolle, so konzentriert sich die in Schulkreisen organisierte Philosophie insbesondere auf die großen Zentren Alexandria und Athen, mit einigen weniger bedeutenden Ausläufern in anderen Städten des Ostens wie Aphrodisias oder Konstantinopel. Selbst in diesem überschaubaren Netzwerk mit zwei Zentren wird die Labilität der Ordnungs‑ und Geltungsbehauptungen der Philosophie122 deutlich: Dem Konzept von der göttlich gelenkten goldenen Sukzessionskette Platons steht die Misere der realen Nachbesetzung gegenüber; ob das geteilte Lehrerkonzept 120 Rehberg
2004, 17. Begriff entstammt dem Titel von Melville / Vorländer 2002. 122 Über die in diesem Aufsatz skizzierten binnen-neuplatonischen Gefährdungen der philosophischen Ordnung hinaus ließe sich der Blick auch auf Ordnungsbedrohungen in Konkurrenz‑ und Konfliktsituationen zwischen Platonikern und Christen weiten. Diese Phänomene werden von Irmgard Männlein-Robert und Volker Drecoll im Rahmen des Tübinger SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“ untersucht (Projekte D 01 und G 01). 121 Der
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auf einen Philosophen der Gegenwart oder der Vergangenheit projiziert wird, und auf welchen genau, können unterschiedliche Akteure unterschiedlich entscheiden; wer der rechtmäßigen Sukzession angehört, fällt ebenfalls im Detail unterschiedlich aus. Selbst im Umgang mit der Theologie und im Verständnis der grundlegenden Struktur der Wirklichkeit als einheits‑ und geltungsstiftendes Moment der neuplatonischen Lehre kann es erhebliche Divergenzen geben. Nicht realisierte Einförmigkeit, sondern die gemeinsame, teilweise kontroverse Berufung auf den gleichen Diskurs mit seinen Geltungsgeschichten, Schlüsselfiguren, wissenschaftlichen Praktiken, Texten und Schlüsselbegriffen hält das Geflecht aus labilen und teils kurzlebigen Schulkreisen und philosophischen Primadonnen zusammen und füllt das Postulat eines „heiligen Geschlechts“ oder „goldener Kette“ mit geschichtlicher Realität.
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„Damit die Nachfolge Platons rein und unverfälscht bewahrt werde“
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Für Christen und Heiden, Männer und Frauen Origenes’ Bibliotheks‑ und Lehrinstitut in Caesarea* Balbina Bäbler 1. Einleitung: Origenes in Alexandria Welche Hölle hat diese Lehren ausgespien? Das haben sie, Gott behüte, nicht von dem gelernt, der es durch die Propheten und Apostel gesprochen hat, nein: sondern von Pythagoras, Platon, [und] Origenes, Euagrios und Didymos haben sie diese abscheulichen und gotteslästerlichen Lehren gewonnen.1
Diese Worte legt Kyrillos von Skythopolis in der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts dem Anachoreten Kyriakos in den Mund, der sich 486 aufgrund der origenistischen Streitigkeiten in eine Einsiedlerkolonie in der Nähe von Bethlehem zurückgezogen hatte. Als sie geschrieben wurden, war Origenes seit etwa dreihundert Jahren tot und fast ebenso lange Gegenstand heftiger Kontroversen. Zu Beginn des Jahres 543 schließlich hatte Kaiser Justinian veranlasst, dass Origenes durch eine Vorsynode des 5. Allgemeinen Konzils verurteilt wurde; ein kaiserliches Edikt, das neben einem ausführlichen Traktat gegen den „gottlosen Origenes und seine unheiligen Lehren“ eine reiche Auswahl angeblich ketzerischer Inhalte aus seinen Schriften sowie zehn Anathemata gegen Person und Lehre des Häresiarchen enthielt, wurde von allen fünf Patriarchen und ihren Bischöfen, Metropoliten und Archimandriten willig unterzeichnet.2 Trotz dieser Anmaßung des byzantinischen Kaisers, der sich nicht nur als Beschützer, sondern noch mehr als Lehrer der Kirche fühlte und sich gerne in innerkirchliche Streitigkeiten und Konzilien einmischte, blieb bei vielen Christen Origenes’ Ansehen ungebrochen. Vor allem im lateinischen Westen übte er einen starken Einfluss auf Mönche, nicht zuletzt die Zisterzienser aus, die ihn als Exegeten, Mystiker und geistlichen Lehrer schätzten; im 9. und 12. Jahrhundert gab es geradezu „Origenes-Renais* Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt A 02 „Bildung und Religion in christlichen Bibliotheken der Spätantike“. 1 Kyrillos, Vita Cyriaci (TU 49/2, 230,10–14 Schwartz). 2 Schär 1979, 44 f.
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sancen“, meist im Zusammenhang mit monastischen Reformen und von diesen geförderten humanistischen Bildungsbestrebungen.3 Etwa tausend Jahre nach der ersten Verurteilung, 1532, glaubte schließlich Martin Luther den Bannstrahl gegen Origenes schleudern zu müssen: In toto Origene non est verbum unum de Christo.4 Und noch in einer 1978 erschienenen Einführung in die Patrologie kommen die Verfasser, etwas milder im Ton, aber im Inhalt ganz ähnlich wie der eingangs zitierte Kyriakos zum Schluss: „Er ist aber durch seine Vorliebe für allegorische Schriftauslegung und unter dem Einfluß der platonischen Philosophie zu schwerwiegenden dogmatischen Irrtümern gelangt“.5 Man konnte aber auch zu ganz anderen Urteilen über Origenes kommen: Gregor Thaumaturgos, der bei Origenes studiert hatte und ihm zum Abschied im Jahr 238 eine Dankesrede hielt, fühlte sich wie ein „zweiter aus dem Paradies vertriebener Adam“, da er seinen Lehrer verlassen musste, und das immerhin fünfjährige Studium schien ihm eine allzu kurze Zeitspanne paradiesischer Heiterkeit und Wonne gewesen zu sein.6 Der große italienische Humanist Marsilio Ficino (1433–1499) fand einige Jahrzehnte vor Luther in Origenes alles, was er suchte: Christianissimus sei er, gleichzeitig aber auch Platonicus nobilissimus und Platonicus excellentissimus.7 Und ein bedeutender Origenes-Forscher unserer Tage schließlich, Alfons Fürst, nennt Origenes schlichtweg den „Schöpfer christlicher Wissenschaft und Kultur“.8 Dieser Mann, der seit fast zweitausend Jahren das Publikum polarisiert, und sein Wirken sollen im Folgenden etwas näher vorgestellt werden. Origenes selbst spricht kaum über sich; was über ihn und sein Leben bekannt ist, stammt zum größten Teil aus dem sechsten Buch der zwischen 290 und 325 entstandenen Kirchengeschichte des Eusebios, des zweiten Nachfolgers (nach Pamphilos) des Origenes als Schuloberhaupt und Bibliotheksleiter in Caesarea. Eusebios schrieb zu einer Zeit, in der Origenes bereits Ziel von Angriffen war, und wenn die Fakten seiner Darstellung auch zuverlässig sein dürften, so ist sein Ton oft sehr apologetisch und erinnert bisweilen bereits an eine Heiligenvita. Origenes wurde um 185 in eine wohlhabende christliche Familie in Alexandria geboren. Im Jahre 202/3 wurde sein Vater während der Christenverfolgung des Kaisers Septimius Severus verhaftet. Origenes selbst habe sich damals so leidenschaftlich nach dem Martyrium gesehnt, dass seiner verzweifelten Mutter 3 Schär
1979, 58–78. einer Tischrede vom Herbst 1532, zitiert nach Schär 1979, 263. 5 Altaner / Stuiber 1978, 198. 6 Gregor Thaumaturgos, Panegyricus in Origenem 16,184 f. (FC 24, 201,6–13 Guyot / Klein). Die Übersetzungen aus Gregors Rede folgen dieser Ausgabe. Zu Gregor und seiner Dankesrede s. den Beitrag von Peter Gemeinhardt in diesem Band (S. 1–24, bes. S. 1–4). 7 Diese Ausdrücke erscheinen mehrfach in verschiedenen Werken Ficinos, s. Schär 1979, 109 f. 8 So der Titel des Aufsatzes Fürst 2011. 4 In
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nichts anderes übriggeblieben sei, als alle seine Kleider zu verstecken, damit er das Haus nicht verlassen konnte; da er nun nichts anderes mehr tun konnte, habe er seinem Vater einen Brief in das Gefängnis geschickt mit der dringenden Aufforderung, standhaft zu bleiben und das Martyrium zu erleiden – nicht unbedingt ein normales Verhalten für einen 17-Jährigen, aber sicher für einen zukünftigen Heiligen. Origenes’ Vater wurde schließlich enthauptet, was bedeutet, dass er römischer Bürger gewesen sein musste, denen diese ehrenvolle Todesart vorbehalten war.9 Die Familie gehörte jedenfalls zur kultivierten Oberschicht und der junge Origenes hatte eine gründliche Ausbildung sowohl in der Bibel wie auch in der paganen Literatur und Wissenschaft erhalten, was ihm jetzt zugutekam, denn da das väterliche Vermögen vom kaiserlichen Fiskus eingezogen worden war, musste er nun für seinen Lebensunterhalt selbst aufkommen. Eine Zeit lang war er als Grammatiklehrer tätig; er fand dabei Aufnahme im Haus einer reichen und vornehmen Dame, die offenbar auch für andere vielversprechende, aber mittellose junge Menschen Gastgeberin war, denn Origenes hatte dort einen „Häretiker“ als Kollegen, von dem er sich aber, wie Eusebios betont, nicht anstecken ließ. Bemerkenswert ist, dass es in Alexandrias Oberschicht offenbar christliche, und recht unabhängige Frauen gab, die sich als Patroninnen und Mäzeninnen betätigten; Fürst spricht etwas ironisch von „Salon-Christentum“.10 Bald darauf, mit erst etwa 18 Jahren, wurde Origenes Vorsteher der Einrichtung, die in der Literatur meist als „alexandrinische Katechetenschule“ bezeichnet wird, weil lange Zeit angenommen wurde, es sei dort in erster Linie christliche Unterweisung für Taufbewerber erteilt worden. Neuere Forschungen haben aber gezeigt, dass die Einrichtung sehr viel mehr war; womöglich lässt sich hier in nuce schon etwas von der Institution sehen, die Origenes später in Caesarea aufbaute.11 Offenbar wurde hier von christlichen Lehrern einem gebildeten Publikum die christliche Lehre in philosophischer Form vermittelt.12 Zielpublikum waren nicht nur Taufbewerber, sondern auch bereits getaufte Christen – auch „Häretiker“ –, und gebildete Heiden, die sich für das Christentum interessierten. Bemerkenswert ist nämlich, dass Origenes nach Antritt dieser neuen Position das Bedürfnis hatte, eine gründliche Ausbildung in den Ἑλληνικὰ μαθήματα, 9 Eusebios, Historia ecclesiastica VI 1,4–6. Zur Frage nach der Herkunft der Mutter, die Ägypterin oder Griechin gewesen sein könnte, und dem Bürgerrechtsstatus des Origenes s. Fürst 2007, 251–253. 10 Eusebios, Historia ecclesiastica VI 1,13–14; Fürst 2007, 257 f. Origenes’ Protektorin war keine singuläre Erscheinung; zu Frauen, die in solchen Rollen bezeugt sind, s. Haines-Eitzen 2011, 34 f. 11 Dagegen allerdings Nautin 1977, 51–53, der annimmt, Eusebios übertrage die ihm bekannten Verhältnisse von Caesarea auf Alexandria. Bedenkenswert scheint mir aber das Argument von Pietzner 2013, 324–326, dass die Anziehungskraft dieses Unterrichts auch auf Heiden dafür spricht, dass in Alexandria bereits ein ähnliches Konzept wie in Caesarea praktiziert wurde. 12 Zum Folgenden s. Fürst 2007, 263–270; Scholten 1995, 18–32; Wyrwa 2005, 281–286; Watts 2008, 143–168 und den Beitrag von Peter Gemeinhardt in diesem Band (S. 3).
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also der griechisch-paganen Philosophie, zu erwerben. Er absolvierte daher ein mehrjähriges Studium der griechischen Philosophie, womöglich bei dem Alexandriner Ammonios Sakkas, dem „Vater des Neuplatonismus“, der auch Lehrer Plotins wurde.13 Er lernte dabei Heraklas kennen, der zu seinem Gehilfen wurde und den propädeutischen ersten Teil des Unterrichts, die Einführung in Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, übernahm.14 Diese Fächer betrachtete Origenes als entscheidende Voraussetzung für das richtige Verständnis der heiligen Schriften, deren Studium die zweite Stufe bildete – ähnlich wie ja auch die Platoniker eine solche Grundlage für das Platonstudium einforderten. Auch sonst sind in vielen Zügen Ähnlichkeiten mit spätantiken Philosophenschulen zu sehen:15 So war die Lehre unentgeltlich; sie war aber weit mehr als nur Unterricht, nämlich ein ganzer, und das heißt in der Regel asketischer Lebensstil, ein φιλοσοφικὸς βίος. Damit hängt auch die Rolle des Lehrers zusammen, der ein enges spirituelles Verhältnis zu seinen Schülern hat, Psychagoge, Seelenarzt und Führer im praktischen Leben ist. Für Origenes bedeutete das konkret, dass er mehrere seiner Schüler auf dem Weg zum Martyrium bis zum Richtplatz begleitete, womit er sich auch selbst in Lebensgefahr brachte. Eusebios erwähnt mehrere hingerichtete Schüler des Origenes mit Namen, darunter auch drei Frauen, eine Herais, die noch gar nicht getauft war, eine Potamiaina, und eine Markella.16 Auch Schülerinnen gehörten also zum Kreis des Origenes. Philosophie war in erster Linie ein Privatvergnügen, und diejenige, die Origenes betrieb, bildete hier keine Ausnahme. Obwohl er nach einiger Zeit ganz offiziell vom alexandrinischen Bischof Demetrios mit dem religiösen Unterricht betraut worden war, wurde Origenes nicht von der Kirche bezahlt, sondern musste für seinen Lebensunterhalt weiterhin selbst aufkommen. Die Nachricht des Eusebios, Origenes habe alle seine Bücher „der alten Schriftsteller“ gegen eine tägliche Rente von 4 Obolen verkauft, wird oft als Absage an die pagane 13 Zu der umstrittenen Frage, ob Origenes identisch ist mit dem bei Eusebios, Historia ecclesiastica VI 19,5–8 (der einen Abschnitt aus Porphyrius’ Schrift Gegen die Christen zitiert) erwähnten Schüler des Ammonios Sakkas, oder ob man eher von zwei Personen, einem christlichen und einem platonischen Origenes ausgehen muss, s. Bäbler / Nesselrath 2018. S. auch Crouzel 1984, 27–31 (der zu keinem definitiven Urteil kommt) und Pietzner 2013, 283 Anm. 43 mit der früheren Literatur zu dieser Frage. 14 Scholten 1995, 21 f.; Wyrwa 2005, 287, der aber Heraklas’ Aufgabenbereich für unbestimmt hält; Fürst 2007, 272 f.; zur Schule des Ammonios Sakkas Watts 2008, 155–162, der den christlichen Origenes nicht für einen Schüler, sondern nur für einen gelegentlichen Hörer (ἀκροάτης) des Ammonios hält und auf die Häufigkeit des Namens Origenes im Ägypten des 3. Jh.s n. Chr. verweist. 15 S. den Beitrag von Ilinca Tanaseanu-Döbler in diesem Band, S. 101–127. Pietzner 2013, 324 hebt hervor, dass der von Eusebios, Historia ecclesiastica VI 3,9–12 betonte asketische Lebensstil des Origenes Parallelen zum Leben des Plotin aufweist. 16 Eusebios, Historia ecclesiastica VI 4,1–5; Clark 1992, 258 f.
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griechische Kultur und Bildung interpretiert, doch dürften ihn viel eher rein materielle Gründe zu diesem Schritt bewogen haben.17 Immer mehr kam es aber zu Spannungen mit dem alexandrinischen Bischof Demetrios, vielleicht über Fragen der Autorität; womöglich war auch das philosophische Curriculum zunehmend suspekt, vor allem als sich dann auch Origenes’ früherer Schüler und jetziger „Lehrerkollege“ Heraklas gegen seinen einstigen Mentor wandte und eine zunehmend „anti-intellektuelle“ Linie vertrat – für Alfons Fürst verkörpert der spätere Bischof Heraklas „die kirchliche Domestizierung der christlichen Philosophie“.18 Origenes unternahm während seiner Lehrtätigkeit in Alexandria mehrere Reisen, unter anderem nach Rom und Athen, um zu lehren und an öffentlichen Debatten teilzunehmen. 231/32 besuchte er Caesarea und ließ sich dort zum Presbyter weihen, was eine direkte Missachtung der Autorität des Demetrios darstellte, dem dieser Schritt zugestanden hätte; der alexandrinische Bischof veranlasste ein Lehrverbot und die Aberkennung des Presbytertitels gegen Origenes und machte Heraklas zum Leiter der Katechetenschule.19 Origenes ging daraufhin endgültig nach Caesarea, wo er mit offenen Armen empfangen wurde, bis zu seinem Tode blieb, seine wichtigsten Werke schrieb und seine Schule und Bibliothek gründete.
2. Caesarea Maritima 2.1. Topographie und Geschichte der Stadt In was für eine Stadt kam Origenes? In vieler Hinsicht war Caesarea Maritima Alexandria ganz ähnlich: kosmopolitisch, multikulturell, multireligiös – also besonders fruchtbar für die Wissenschaft. Caesarea Maritima liegt, wie der Name sagt, am Meer, am Nordrand der Scharon-Ebene zwischen Phönikien und Samaria; es gab dort bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. einen befestigten Ort, der Stratons Turm (Στράτωνος πύργος) hieß, nach seinem Gründer, dem König Straton I. von Sidon, der den Ort zum Schutz der Seefahrer auf der vielbefahrenen Handelsroute nach Ägypten anlegen ließ. Archäologisch ist diese Siedlung aber nur durch einige Funde von hellenistischer Keramik bezeugt.20 63 v. Chr. wurde das Gebiet von Pompeius im Zuge seiner Neuordnung des Ostens der römischen Provinz Syrien angeschlossen, einige Jahre später von Marc Anton der ägyptischen Königin Kleopatra geschenkt und schließlich von Historia ecclesiastica VI 3,8–9; Scholten 1995, 20 f.; Wyrwa 2005, 284. 2007, 273 f. 19 Fürst 2015, 467 f. 20 Holum u. a. 1988, 25–54; Elliger 2001, 1027. Es gab zwei Herrscher des Namens Straton in Sidon; als Gründer ist Straton I., der von ca. 374–362 herrschte, wahrscheinlicher, s. dazu Will 1983, 1–14. 17 Eusebios, 18 Fürst
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dem aus den römischen Bürgerkriegen als Sieger hervorgegangenen Octavian, dem späteren Kaiser Augustus, nach der Schlacht von Actium seinem Freund Herodes überlassen. Dieser machte sich ab 22 v. Chr. daran, eine völlig neue Stadt zu bauen, Caesarea (Kaisareia), genannt nach dem römischen Caesar und ganz nach römischem Vorbild angelegt, d. h. mit einem rechtwinkligen, hippodamischen Straßensystem, einem Theater, Tempeln, einem Hippodrom und, im Jahre 10 v. Chr., Einweihungsfeiern mit Spielen und Wagenrennen, die nach römischem Vorbild alle fünf Jahre wiederholt wurden. Unsere antike Hauptquelle für Herodes’ Bautätigkeit sind Flavius Josephus’ Jüdische Altertümer; seit den 1960er Jahren wird die Stadt systematisch ausgegraben.21 Ein besonders spektakulärer Bau ist der im Zentrum der Stadt gelegene Tempel für Roma und Augustus, der auf einer 13 Meter hohen künstlichen Plattform über dem inneren Hafen errichtet wurde, ein korinthischer Peripteros, von dem einige wenige Bauglieder erhalten sind.22 Eine monumentale Treppe führte vom Hafen zur Plattform. Die Westfassade bildeten zehn oder zwölf große Gewölbe, die als Lagerhäuser, vielleicht auch als Unterkunft für die Seeleute dienten. Die kolossale Kaiserstatue war nach dem Vorbild des olympischen Zeus des Phidias, diejenige der Roma nach der ebenso berühmten Hera von Argos des Polyklet geschaffen. Wenn dieses Zentrum einer von einem jüdischen König erbauten Stadt zunächst etwas stutzig macht, so muss man sich vor Augen halten, dass in Israel, anders als in den anderen Städten im Osten des Imperiums, der Herrscherkult sehr problematisch war: Im Unterschied zu einem ägyptischen oder seleukidischen Herrscher konnte sich ein König in Israel nicht einfach als Gott verehren lassen. Zudem war die Abstammung des Herodes hochgradig suspekt: Nicht nur stammte er nicht aus einer Priesterfamilie, seine Mutter war Nabatäerin und sein Vater Antipater Idumäer, also aus einem Volk, das erst kurz zuvor den jüdischen Glauben übernommen hatte. Seine ‚auctoritas‘ gegenüber den Untertanen konnte er also nur durchsetzen, indem er sich auf einen mächtigen Patron stützte, und am deutlichsten ließ sich sein Status vorführen durch einen Kultort für die Personifikation Roms und den Mann, nach dem die Stadt genannt war.23 Für sich selbst ließ Herodes einen riesigen, zweiteiligen Palast inklusive Swimmingpool auf einem Felsvorsprung errichten, der im Lauf der Zeit mehrere Umbauten erfuhr, aber jahrhundertelang in Benutzung blieb, seit dem Ende der herodianischen Dynastie 6 n. Chr. als römisches Prätorium.24
21 Josephus, Antiquitates Iudaicae XVI 137–141; zur Stadtanlage: Reifenberg 1950/51, 22–26; Holum u. a. 1988, 55–105; zur Grabungsgeschichte: Holum / Raban 1996, xxxii–xxxix. 22 Josephus, Antiquitates Iudaicae XV 339; De bello judaico I 414; Gersht 1996, 305; Elliger 2001, 1029. 23 Kahn 1996. 24 McGuckin 1992, 7 f.; Holum u. a. 1988, 108–111.
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Das von Herodes angelegte Theater war eines der ältesten im römischen Osten und zu Origenes’ Zeit weit über die Grenzen der Stadt hinaus für seine Pantomimen berühmt (oder, je nach Perspektive, berüchtigt). Zwischen Hafen und Palast befand sich die Pferderennbahn, die später in eine amphitheater-artige Arena umgebaut wurde. Die technische Sensation dieser Stadt war der Hafen, der erste künstlich in offener See angelegte Hafen der Antike, dessen 60 Meter breite, mit Türmen bewehrte Molen ein 200 Hektar großes Hafenbecken umfassen. Dieser Anlage, für die Herodes Ingenieure aus Rom kommen ließ, ist inzwischen ein eigener Forschungszweig gewidmet; sie wird vom „Caesarea Ancient Harbour Excavation Project“ untersucht.25 Außer dem zentralen Roma-Augustus-Tempel und einem Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. in einem gewölbeartigen, ursprünglich als Getreidespeicher dienenden Gebäude, angelegten Mithras-Heiligtum – dem einzigen bislang belegten Mithraeum in Palästina26 – ist bislang nur ein einziger weiterer paganer Kultort archäologisch überliefert. Wir wissen aber aus zahlreichen Münzen, Gemmen, Statuen und Statuetten, dass alle paganen Gottheiten in der Stadt vertreten waren, bisweilen in der für diese Zeit und Gegend nicht ungewöhnlichen synkretistischen Weise: So konnte etwa Demeter auch mit Isis, diese wiederum mit Tyche identifiziert werden. Stadtgöttin war die Tyche, lateinisch Fortuna, also die Personifikation von Schicksal, Zufall, oder, in diesem Fall, natürlich dem guten Geschick der Stadt. Wie wichtig diese Gottheit war, sieht man auch daran, dass noch im Jahre 310 ihr Geburtstag gefeiert wurde, wie Eusebios berichtet.27 Dargestellt wird sie im Typus einer Amazone, mit einer Mauerkrone auf dem Kopf, einer Lanze oder einem Zepter in der linken Hand und einer kleinen Kaiserbüste in der rechten; der rechte Fuß ruht auf einem Schiffsvorderteil. Sie wird oft von Dionysos und Demeter begleitet, oder zusammen mit Sarapis, der von den Ptolemäern geschaffenen synkretistischen Vatergottheit, als „gute Gottheiten“ (ἀγαθοὶ δαίμονες) verehrt. Zu den wichtigsten Göttern der Stadt gehörten außerdem der Heilgott Asklepios und seine Gefährtin Hygieia, die in allen künstlerischen Medien vertreten sind. In diesem Zusammenhang besonders interessant ist eine um die Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. geschaffene Bronzeschale mit Inkrustationen aus Silber und Kupfer, die sich heute im Louvre befindet und den Gründungsmythos der Stadt darstellt: Auch hier ist Tyche dargestellt, vor einem Tempel, vor dem Apollon sitzt; hinter ihr ist eine Nische mit fünf Götterbüsten zu sehen, über denen die Inschrift Agones Hieroi angebracht ist, was sich auf die Feier der Fünfjahres25 Holum
u. a. 1988, 90–105. u. a. 1988, 148–153; Hopfe 1990, 2389; Gersht 1996, 306 f.; Schrein für Isis und Sarapis in der östlichen Seite des Amphitheaters: Gersht 1996, 310–315. 27 Eusebios, De martyribus Palaestinae XI 30. 26 Holum
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spiele zur Stadtgründung bezieht. Tyche, Apollon und Hygieia schauen zu, wie Asklepios dem Gründer Straton die Hand reicht. Bemerkenswert sind dabei zwei Dinge: erstens, wie lebendig die heidnischen Kulte um diese Zeit, mehr als hundert Jahre nach dem Wirken des Origenes noch waren; und zweitens, dass der Kult des hellenistischen Gründers der ersten, ganz verschwundenen Siedlung bis in die Spätantike gefeiert wurde. In der offiziellen römischen Geschichtsschreibung existiert der eigentliche Erbauer von Caesarea Maritima, der suspekte jüdische König Herodes, nicht.28 Caesarea war von Beginn an eine blühende, stets von den römischen Kaisern geförderte Stadt; 6 n. Chr. kam sie unter direkte römische Verwaltung, wurde Hauptstadt von Judäa und Sitz des römischen Gouverneurs. Von diesen Statthaltern sind nun einige besonders prominente gut bezeugt, so z. B. Pontius Pilatus, der von 26–36 amtierte und hier seinem Dienstherrn, Kaiser Tiberius, einen Tempel (Tiberieum) errichtete, der zwar nicht erhalten, aber durch eine im Theater gefundene Stele bezeugt ist.29 Von 52/3 bis etwa 59 amtierte Felix, der laut der Apostelgeschichte (Apg 23) Paulus verhörte; sein Nachfolger war Festus (59/60–62), der den Apostel nach Rom überstellte. 66 n. Chr. machte Vespasian die Stadt zu seinem Hauptquartier und verlieh ihr nach seiner Erhebung zum Kaiser den Rang einer Kolonie, deren offizieller Name nun Colonia Prima Flavia Augusta Caesarea lautete. Die maßgeblichen Leute von Caesarea hatten offenbar immer ein gutes Gefühl dafür, wer der spätere Sieger sein würde: Septimius Severus verlieh ihr den Titel Fidelis Constans, da sie sich 193 auf seine Seite gegen den Gegenkaiser Pescennius Niger gestellt hatte.30 Caesarea wurde das wirtschaftliche und politische Zentrum Palästinas; die Stadt profitierte von ihrem Hafen, den Küstenstraßen, der Verbindung zu Rom, aber auch zahlreichen Inlandrouten z. B. nach Bostra, wodurch die Stadt auch mit der Seidenstraße verbunden war – und dies umso mehr, nachdem die ewige Rivalin Jerusalem nach ihrer Zerstörung im Jahre 70 als Konkurrenz auf lange Zeit ausgeschaltet war.31 Eine weitere Blüte erfuhr die Stadt unter Hadrian, der mehrere Legionen in Palästina stationiert hatte und die Urbanisierung der Gegend stark vorantrieb; Caesarea bekam ein neues Aquaedukt, ein Hadrianeum, und die Bauten und Gebäudeteile, für die Herodes noch den lokalen Sandstein mit Stucküberzug 28 Will 1983, v. a. 23; Gersht 1996, 315–318. Zu den paganen Kulten in Caesarea und ihrer Langlebigkeit s. auch Lehman / Holum 2000, 17 f. 29 Lifshitz 1977, 500 f. (der Titel erscheint häufig auf Münzen der Stadt); Holum u. a. 1988, 109 f. mit Abb. 67; Elliger 2001, 1033. Augustus hatte Herodes’ Sohn Archelaos 6 n. Chr. abgesetzt und nach Gallien verbannt (Josephus, Antiquitates Iudaicae XVII 342–345); Bietenhard 1974, 8. 30 Lifshitz 1977, 499 f.; Proklamierung der Stadt als Kolonie: Plinius maior, Naturalis historia V 14 (69); dazu Patrich 2011, 71–90. 31 McGuckin 1992, 12 f.; Elliger 2001, 1034 f.
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verwendet hatte, wurden nun durch echten Marmor ersetzt. Aus dieser Zeit sind zahlreiche qualitätvolle Marmorsarkophage sowie Inschriften erhalten, die den Cursus honorum, die Laufbahn der lokalen Beamten, wiedergeben. Die Verwaltungssprache war griechisch. Die Stadt, in die Origenes kam, war ein blühendes paganes, griechisch-römisches „Klein-Rom“ mit 50.000 oder noch mehr Einwohnern.32 2.2. Christen und Juden in Caesarea Zu der Christengemeinde gibt es interessanterweise einige sehr frühe Zeugnisse: In Caesarea wurde nämlich der erste Heidenchrist, der Centurio Cornelius, getauft (Apg 10,23–48), und der Apostel Paulus, der bereits erwähnt wurde, wurde auf seiner Reise von Milet nach Jerusalem (Apg 6–8) im Hause des Philippus aufgenommen, dessen vier jungfräuliche Töchter prophetisch begabt waren. Dieses Haus wurde später ebenso wie das des Cornelius zur Kirche und Pilgerstätte; allerdings beginnen alle erhaltenen archäologischen Zeugnisse christlichen Lebens erst mit dem 5. Jahrhundert, als Caesarea als Pilgerziel eine erneute Blütezeit erlebte.33 Erstaunlicherweise gibt es für das 2. Jahrhundert kaum schriftliche Quellen; erst mit Origenes wurde Caesarea zum intellektuellen Zentrum der christlichen Welt. Juden waren in Caesarea schon immer ansässig; eine substantielle jüdische Gemeinde ist aber erst seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. bezeugt. Ganz ähnlich wie in der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft von Alexandria kam es auch in Caesarea zu Spannungen zwischen den verschiedenen Religionen und ähnlich wie in Alexandria genügte dann eine Provokation, um die Lage eskalieren zu lassen. Im Jahre 66 entschied Kaiser Nero die Streitigkeiten zwischen den griechisch-syrischen und jüdischen Einwohnern Caesareas um die Isopolitie, das Bürgerrecht, zu Ungunsten der Juden und löste damit den ersten jüdischen Aufstand aus, in dessen Folge in Caesarea 20.000 Juden umgebracht wurden.34 Auch im Bar Kochba-Aufstand 132–135 war die Stadt römisches Hauptquartier. Trotz dieser Ereignisse siedelten sich bald wieder zahlreiche Juden in der Stadt an. Rabbi Schimon ben Lakisch, ein Zeitgenosse des Origenes, nennt Tyrus und Caesarea „Länder des Lebens“, in denen alles im Überfluss vorhanden sei. Zur Zeit des Origenes war Caesarea eines der wichtigsten Zentren der jüdischen Schriftgelehrten; im palästinischen Talmud ist „die Rabbinen von Caesarea“ ein stehender Ausdruck.35 Insbesondere die epigraphischen Zeugnisse zeigen, wie stark diese jüdische Gemeinde hellenisiert war. An den Inschriften aus dem 3. / 4. Jahrhundert, vor 32 Reifenberg
1950/51, 21 f. 26–29; Lehmann / Holum 2000, 24 f. 2000, 165 f.; Hopfe 1990, 2399–2404; Holum 1995 a, 849 f. 34 Lehmann / Holum 2000, 16 f.; Murray 2000, 127–137. 35 Bietenhard 1974, 7–14; Raban / Holum 1996, 19; Murray 2000, 143. 33 Ascough
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allem aus der Nekropole, lässt sich sehen, dass selbst die religiösen Titel übersetzt wurden: ein Priester, cohen, ist als hiereus verzeichnet, und auf dem 1956 entdeckten Fußbodenmosaik im Speisesaal der Synagoge von Caesarea wird der Stifter namens Beryllos archisynagogos und phrontistes genannt.36 Die Juden von Caesarea waren aber nicht nur hellenisiert, sondern auch romanisiert. Die Spiele und Gladiatorenkämpfe, die von Herodes eingeführt worden waren, hatten die Gewohnheiten der einheimischen Bevölkerung tiefgreifend verändert. Origenes nennt zwar die Juden das „Volk der Weisheit“, das alles zurückgewiesen habe, was der Menschheit nicht nützlich sei und nur die wahren Güter behalten habe und das daher keine Ringkämpfe, Schauspiele und Wagenrennen kenne37, doch das dürfte eher Wunschdenken gewesen sein, hatten sich doch zu seiner Zeit die Rabbiner bereits pragmatisch (oder resigniert) der Realität angepasst und verdammten den Besuch der Spiele nicht mehr grundsätzlich, wie früher, sondern beschränkten sich auf Formulierungen im Stil von „glücklich ist der Mann, der nicht mit den Götzenanbetern am Schauspiel teilnimmt“. Mehr noch, sie verwendeten immer öfter Metaphern aus Theater oder Spielen, um ein schwer verständliches Bibelwort zu erklären: So verdeutlichte Rabbi Aha, ebenfalls ein Zeitgenosse des Origenes, den Wunsch, am Tag des Jüngsten Gerichts nicht unter den Bestraften zu sein, mit der Erklärung, man möchte dann unter den Zuschauern, nicht bei den Gladiatoren sein.38 Das Theater zeigte zu dieser Zeit keine klassischen Tragödien mehr, sondern den sehr populären, derben bis obszönen ‚Mimos‘, und es gibt Hinweise darauf, dass sich Juden und Christen nicht nur unter den begeisterten Zuschauern, sondern auch unter den Schauspielern befanden. Der ‚Mimos‘ wirkte wohl bisweilen auch als Ventil für die Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen.39 Eine bedeutende religiöse Minderheit bildeten die Samaritaner, die sowohl zu den Christen wie auch zu den Juden in gespanntem Verhältnis standen; Rabbi Abbahu vollzog im frühen 4. Jahrhundert den endgültigen Bruch mit ihnen, da sie bereit gewesen waren, dem römischen Kaiser Diokletian Opfer darzubringen.40 In dieser Stadt baute nun also Origenes seine Institution auf. Was wurde dort gelehrt, gelernt, geschaffen?
36 Lehmann / Holum
2000, 21. Contra Celsum V 42: […] οὐδ’ ἀγῶνες ἦσαν γυμνικοὶ ἢ θυμελικοὶ ἢ ἱππικοὶ παρ’αὐτοῖς […]. 38 Weiss 1996, 445–451. 39 Weiss 1996, 445–450. 40 Hopfe 1990, 2380. 2404–2406; Raban / Holum 1996, 19. Archäologische Zeugnisse der Samaritaner in Caesarea sind vor allem Amulette und Tonlampen; Elliger 2001, 1044. 37 Origenes,
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3. Die Institution des Origenes 3.1. Schulbetrieb und Bibliothek Gregor Thaumaturgos, der Schüler, der sich dort im Paradies wähnte, hat uns dankenswerterweise einen recht genauen Einblick in den Unterrichtsbetrieb hinterlassen: Es gab eine grundlegende ἐγκύκλιος παιδεία, unterteilt in Dialektik, Physik und Ethik als Voraussetzung, um die Welt und die Ordnung des Alls zu erkennen.41 Innerhalb dieses Curriculums sind es besonders Geometrie und Astronomie, die den Geist des Menschen zum Erhabenen wenden. Höchste Stufe ist die Ethik, also das Streben nach den göttlichen Tugenden, nicht nur in der Theorie, sondern auch im praktischen Leben.42 Um zu der Frömmigkeit, dem εὐσεβεῖν, gelangen zu können, muss zunächst das vernünftige Leben und Denken, das φιλοσοφεῖν, gelernt sein. Und dies umfasste bei Origenes eine sehr anspruchsvolle „Leseliste“, die nun aber die Studierenden nicht einfach lesen, sondern sich kritisch und selbstdenkend aneignen sollten: Denn er [Origenes] hielt es für richtig, daß wir Philosophie trieben, indem wir unter Einsatz unserer ganzen Kraft alle vorhandenen Schriften der alten Philosophen und Dichter lasen, ohne etwas zu übergehen oder zu verwerfen, denn, so meinte er, wir könnten darüber ja auch noch gar kein Urteil fällen. Ausgenommen sollten alle Schriften der Atheisten sein, weil diese sich zugleich von der menschlichen Gedankenwelt ausgrenzen mit ihrer Behauptung, Gott oder die Vorsehung existiere nicht. […] Mit allen übrigen Schriften aber sollten wir uns befassen und vertraut machen, und dabei sollten wir weder eine einzelne philosophische Schule noch eine Lehre bevorzugen, aber auch nicht verwerfen, sei sie griechisch oder barbarisch, sondern alles sollten wir uns anhören.43
Origenes hatte also keine Berührungsängste gegenüber der heidnischen griechischen Philosophie und Dichtung; nur die Schriften der „Atheisten“, das heißt der Epikureer, sollten nicht studiert werden. Die griechische, vor allem die platonische Philosophie, bildete die Grundlage, an der die kritische Urteilsfähigkeit geschult werden sollte, die dann die Erkenntnis Gottes ermöglicht. Wie außergewöhnlich diese umfassende und weltoffene Grundausbildung war, betont Gregor noch einmal am Schluss seiner Rede: Darum also gab es für uns nichts, das nicht besprochen werden durfte, ja auch nichts Verborgenes und Unzugängliches, sondern es war möglich, jede Lehrmeinung zu studieren, mochte sie barbarisch oder griechisch, mehr religiös oder mehr politisch, göttlich oder 41 Gregor Thaumaturgos, Panegyricus in Origenem 8,109–114 (166,23–170,2 G. / K.); Gemeinhardt 2013, 457–460; Scholten 2000, 263–267. 42 Gregor Thaumaturgos, Panegyricus in Origenem 6,75 (150,17–23 G. / K.). 43 Gregor Thaumaturgos, Panegyricus in Origenem 13,151–153 (185,22–186,12 G. / K.). Zu Origenes’ Haltung gegenüber den verschiedenen Philosophenschulen s. Crouzel 1984, 207–215; Fürst 2015, 507–544.
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menschlich sein, wobei wir alles mit völliger Offenheit durchgingen und gründlich erforschten und uns an allem sättigten und diese Nahrung für die Seele genossen; wenn jemand entweder irgendeine alte Wahrheitslehre oder auch etwas anderes von dieser Art nennen konnte, dann ließen wir uns darauf ein und hatten damit bewundernswertes und mit den schönsten Ideen reich angefülltes geistiges Rüstzeug.44
Reich angefüllt musste dafür auch die den Studierenden zur Verfügung stehende Bibliothek sein, doch sind wir, was deren Bestand angeht, mangels materieller Überreste auf indirekte Schlüsse angewiesen, die aus den bei Origenes zitierten Autoren und Werken gezogen werden. Einige tausend Rollen dürften es sicher gewesen sein; die Schätzungen liegen jedoch recht weit auseinander.45 Es ist leicht einzusehen, dass ein solcher Unterricht nicht nur orthodoxe Christen, sondern auch sogenannte Häretiker anzog. Nach Eusebios erwarb sich Origenes auch bei den Heiden den Ruhm eines großen Philosophen46, und er habe selbst viele von denen, die der Bildung ferne standen, zum Studium der allgemeinen Wissenschaften veranlasst, indem er ihnen erklärt habe, dass sie damit eine sehr nützliche Unterlage für das Verständnis der göttlichen Schriften gewinnen würden. Seine umfassende philosophische Bildung wurde selbst von dem neuplatonischen Philosophen Porphyrios gewürdigt, dessen Urteil Eusebios überliefert: Sein Leben war das eines Christen und widersprach den Gesetzen. In seiner Auffassung von der Welt und von Gott dachte er wie ein Grieche und schob den fremden Mythen griechische Ideen unter. Ständig beschäftigte er sich nämlich mit Plato. Er war vertraut mit den Schriften des Numenius, Kronius, Apollophanes, Longinus, Moderatus, Nikomachus und der berühmten Männer aus der pythagoreischen Schule. Er benutzte aber auch die Bücher des Stoikers Chairemon und des Kornutus, von welchen er die allegorische Auslegung der heidnischen Mysterien erlernte, und wandte diese Methode auf die jüdischen Schriften an.47
Das Christentum hat bei Origenes mehr den Charakter einer Schule als eines Kultes; die wichtigste Rolle in der Kirche ist für Origenes die des Lehrers.48 Kommen wir zur nächsten Stufe, der Anwendung des erworbenen Wissens und der kritischen Fähigkeiten auf die Bibel, die sowohl als Basis der christlichen Philosophie wie auch selbst als eine Art Philosophie verstanden wird.49 Weltdeutung und Schriftdeutung sind daher für Origenes untrennbar verbunden, Thaumaturgos, Panegyricus in Origenem 15,182 (198,16–24 G. / K.). 2003, 8–12.30–36; Frenschkowski 2006, 57–62. Isidor von Sevilla, Etymologiae VI 6,1 erwähnt 30.000 Bücher, doch dürfte diese Zahl in erster Linie eine Metapher für „sehr viele“ sein; sie zeigt aber, welche Reputation die Bibliothek des Origenes noch in der ersten Hälfte des 7. Jh.s hatte. 46 Eusebios, Historia ecclesiastica VI 18,3–4. 47 Eusebios, Historia ecclesiastica VI 19,7–8; zitiert wird jeweils nach der Übersetzung von Haeuser. 48 Origenes, Homiliae in Leviticum I 4; Fürst 2011, 110. 49 Fürst 2016, 87–91. 44 Gregor
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denn Gott offenbart sich in der Schrift wie auch in der Natur, und beides kann mit den Mitteln der menschlichen Vernunft verstanden werden. Von zentraler Bedeutung ist daher bei Origenes die Exegese, die Deutung und Kommentierung der Bibelstellen, die dann auf das Leben der Christen angewendet werden. A. Fürst spricht daher vom „Bibelkommentar als spiritueller Übung“, und dem „Dasein als Exeget als religiöser Lebensform“.50 Origenes ist der Schöpfer des christlichen Bibelkommentars (zu Psalmen und Evangelien) und er hat dafür als erster die Methoden der hellenistisch-alexandrinischen Philologie systematisch in die christliche Theologie eingeführt. Konkret bedeutet dies, dass er Textkritik, Wort‑ und Sacherklärungen, Erläuterungen zu Grammatik und Stil des Textes liefert, aber auch zu Daten, Ereignissen, Sitten und Bräuchen; am Schluss erfolgt eine Würdigung und (moralische) Auswertung des Inhalts. Dabei zieht er intensiv nichtchristliches Wissen heran, pagane, v. a. platonische Philosophie und rabbinische Textauslegungen, aber auch Erkenntnisse aus der Physik, Astronomie, Astrologie, Zoologie und Medizin. Vorgeprägt war diese Methode bei dem jüdischen Gelehrten Philon, der von etwa 20 v. bis 42 n. Chr. in Alexandria gelebt hatte, der Origenes tief beeinflusst hatte und dessen Werke Origenes, wie aus seinen Schriften hervorgeht, sehr gut kannte. Wie Philon wendet sich auch Origenes oft gegen das wörtliche Verständnis des Bibeltextes und bietet eine allegorische Interpretation an.51 Eine Aufzählung von Philons Werken bei Eusebios wie auch ein Pinax, ein Inhaltsverzeichnis in einem Manuskript des 11. Jahrhunderts, das auf eine Kopie aus Caesarea zurückgeht und zahlreiche Werke Philons aufzählt, darunter auch etliche heute verlorene, geben einen Eindruck davon, wieviele Werke dieses jüdischen Gelehrten in Origenes’ Bibliothek vorhanden gewesen sein müssen. Die nichtkanonische, hellenistisch-jüdische Literatur, neben Philon auch Flavius Josephus, die auf uns gekommen ist, verdankt ihr Überleben in erster Linie der Bibliothek von Caesarea.52 Origenes stand in engem Austausch mit den jüdischen Gelehrten von Caesarea und erwähnt mehrfach in seinen Schriften, dass er eine Schriftdeutung von ihnen übernommen habe. Leider nennt er nie einen konkreten Namen, bis auf eine einzige Stelle, an der ein Iullos erwähnt wird, bei dem es sich womöglich um Hillel, dem Bruder des Patriarchen R. Jehuda II., handelt.53 Als ein weiterer 50 Fürst
2011, 100–103; Ders. 2016, 91–93. 2011, 83–89; Ders. 2015, 515 f.; Runia 1996, 492–494. 52 Eusebios, Historia ecclesiastica II 18; Runia 1996, 478–482; Grafton / Williams 2006, 211. 53 Origenes, Selecta in Psalmos (PG 12, 1056B); Bietenhard 19; Grafton / Williams 2006, 79 f. Wie gut Origenes Hebräisch konnte, ist umstritten: Stroumsa 1999, 38 schreibt kategorisch, aber ohne Angabe einer Quelle: „Even a biblical scholar such as Origen, living in Palestine and in relatively close contact with the Rabbis, did not feel embarassed by his ignorance of Hebrew.“ Aber sowohl Eusebios (Historia ecclesiastica VI 16,6) wie auch Hieronymus (De viris illustribus 54,6) heben hervor, Origenes habe zum Studium der Heiligen Schriften die hebräische Sprache erlernt. Auch Crouzel 1984, 31 und Grafton / Williams 2006, 11 nehmen an, dass Origenes 51 Fürst
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Gesprächspartner wird der damals in Caesarea residierende prominente R. Hoshaya vermutet, vor allem weil in den jüdischen Schriften dieser Zeit von einem Philosophen die Rede ist, der sich mit Hoshayas Interpretationen beschäftigt habe und bei dem es sich um Origenes handeln könnte.54 Im Zuge seiner theologischen Arbeit und der intellektuellen Auseinandersetzung mit den Juden von Caesarea stieß Origenes nun aber auf eine Schwierigkeit, die für den zentralen Text seiner Schule einmalig war und mit dem sich die alexandrinischen Grammatiker und Philologen nicht hatten befassen müssen: Er stellte fest, dass der Text des Alten Testaments von Christen und Juden in verschiedenen Versionen gelesen wurde. Dieses Problem führte Origenes zu einer seiner in mehrfacher Hinsicht großartigsten Leistungen, der Hexapla. Über Form und Inhalt wissen wir durch Beschreibungen christlicher Schriftsteller des 4. Jahrhunderts Bescheid; der früheste Zeuge ist Eusebios, und sicher auch der zuverlässigste, da er noch das Original in der Bibliothek von Caesarea gesehen hat.55 Von Abschriften des Originals sind nur zwei Fragmente erhalten: Eine aus dem Mittelalter stammende Handschrift wurde in der Kairoer Geniza, einem Magazin für nicht mehr gebrauchte heilige jüdische Texte, gefunden, wohin sie wahrscheinlich durch Zufall gelangt war, denn sie war von hebräischer Poesie überschrieben und vermutlich auf dem Markt als Schmierpapier gekauft worden.56 Eine griechische Minuskel-Handschrift von ca. 900 war 1896 in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand entdeckt, aber erst 1958 publiziert worden.57 Der Text des Alten Testaments war in sechs Kolumnen angeordnet (was dem Werk den Namen gab): Links stand der hebräische Text, danach folgten von links nach rechts die griechische Transkription des Hebräischen, dann vier griechische Übersetzungen, darunter die dreier hellenistisch-jüdischer Gelehrter aus dem aus dem 1. / 2. Jahrhundert n. Chr.: zunächst die griechische Übersetzung des Aquila, die sehr pedantisch wörtlich ist, dann diejenige des Symmachus in flüssigem Griechisch, danach die (von Origenes rezensierte) Septuaginta, und Hebräischkenntnisse hatte. Es ist schwer vorstellbar, dass Origenes die Wichtigkeit des Urtextes und eines Vergleichs der Übersetzungen hätte erkennen können, ohne mindestens Grundkenntnisse des Hebräischen zu haben. 54 Hopfe 1990, 2393 f.; Ascough 2000, 167–173; Williams 2000, 144 f. Zu antijüdischer Polemik, die es bei Origenes auch gibt, s. McGuckin 1992, 15 f.; sie richtete sich vor allem gegen (Juden‑) Christinnen, die weiterhin jüdische Bräuche befolgten. 55 Eusebios, Historia ecclesiastica VI 16; Grafton / Williams 2006, 86–132. 56 Mündliche Mitteilung von Dr. Ben Outhwaithe (Cambridge) vom 24. 1. 2017. Der Fundort schließt natürlich nicht aus, dass sich jüdische Gelehrte mit Origenes’ Hexapla beschäftigten. 57 Zu den Zeugnissen s. Grafton / Williams 2006, 90–92: Neben Eusebios ist die beste Quelle für Form und Inhalt der Hexapla Hieronymus, Commentarius in Epistolam ad Titum 3,9 (PL 26, 734D–735A). Nicht zuverlässig ist Epiphanius, Panarion 64,3–5 (GCS 31, 405,13–415,7 Holl), dessen Beschreibung wahrscheinlich aus Eusebios, einer zu seiner Zeit hundertjährigen Tradition sowie eigenen Vermutungen stammt. Das Fragment aus der Ambrosiana ist bei Nautin 1977, 303–308 transkribiert und analysiert.
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schließlich die Übersetzung des Theodotion, dessen Besonderheit die Übersetzung schwieriger hebräischer Wörter, insbesondere kultischer Realia war.58 Dieses Werk war eine Sensation und völlig anders als alle anderen zeitgenössischen Bücher: Codices hatten fast immer nur eine Kolumne pro Seite; mehrere waren zwar möglich, aber ungewöhnlich. Das Original der Hexapla umfasste nach den Berechnungen von Grafton und Williams etwa 40 Codices zu 400 Blättern, also jeweils 800 Seiten.59 Es war also ein unglaublich komplexes Werk, dessen technische und inhaltliche Ausführung enorme Ressourcen erforderte, an Gelehrsamkeit, Arbeitsaufwand wie auch an materiellen und finanziellen Mitteln. Schreiber waren hier mit einer ganz neuen Herausforderung konfrontiert; sie mussten Hebräisch können und in der Lage sein, das „Layout“ so zu gestalten, dass die Übersetzungen am richtigen Ort platziert waren. Origenes hatte sicher jüdische (vielleicht judenchristliche) Assistenten; in seinen Schriften gibt es, wie erwähnt, zahlreiche Hinweise auf jüdische Gesprächspartner in Caesarea. Er hatte wohl auch selbst Kenntnisse der Sprache; man hat ihm aber zahlreiche Fehler nachgewiesen, wenn er mit hebräischen Begriffen argumentiert. In jedem Fall brauchte er einen professionellen, spezialisierten Mitarbeiterstab, und dafür wiederum waren sicher beträchtliche finanzielle Mittel nötig. Damit kommen wir nun – nach Lehre und Forschung – zum dritten Bestandteil von Origenes’ einzigartiger Institution in Caesarea, dem Scriptorium. 3.2. Das Scriptorium Wie in Alexandria bekam Origenes auch in Caesarea keinerlei Unterstützung aus einer kirchlichen oder bischöflichen Kasse; was er betrieb, war das Privatunternehmen einer Religion, die zu dieser Zeit noch eine recht kleine Gruppe war, und, wie man sich immer vor Augen halten muss, eine religio illicita. Er hatte aber das Glück, einen Mäzen zu finden, von dem wir nicht viel mehr wissen als seinen Namen, Ambrosius, und was Eusebios in seiner Kirchengeschichte über ihn überliefert: Von da an begann Origenes seine Kommentare zu den göttlichen Schriften zu schreiben, wozu ihn Ambrosius nicht nur durch unzähliges Zureden und Ermuntern, sondern auch durch freigiebigste Unterstützung mit dem Nötigen anhielt. Es standen nämlich Origenes beim Diktieren mehr als sieben Schnellschreiber zur Verfügung, welche sich zu bestimmten Zeiten ablösten; nicht geringer war die Zahl der Reinschreiber nebst den
58 S. dazu Grafton / Williams 2006, 88 f.; der hebräische Text war nicht identisch mit der Vorlage der Septuaginta, die nur teilweise in Rollen vom Toten Meer erhalten ist. Für einige Bücher, v. a. die in Versen, kamen drei weitere griechische Versionen aus verschiedenen Quellen hinzu (Quinta, Sexta, Septima). Zu Aquila und Symmachus s. Nautin 1977, 340–344. 59 Grafton / Williams 2006, 102–105.
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im Schönschreiben geübten Mädchen (κόραις ἐπὶ τὸ καλλιγραφεῖν ἠσκημέναις). Die für dieses ganze Personal notwendigen Ausgaben bestritt Ambrosius in reichlichem Maße.60
Dieses Zitat ist das früheste Zeugnis für ein christliches Scriptorium. Der Arbeitsablauf entspricht durchaus dem, was wir von der antiken Buchproduktion wissen: Antike Autoren diktierten die erste Fassung ihrer Werke dem Stenographen, danach wurde eine Reinschrift hergestellt, die vom Verfasser korrigiert oder überarbeitet werden konnte. Schriftsteller wie Plinius oder Galen sagen ausdrücklich, dass sie diktieren, und bisweilen weisen Codices phonetische Fehler auf, die offensichtlich auf Schreiben via Hören zurückzuführen sind und später nicht mehr korrigiert wurden, vielleicht weil eine rasche Herstellung nötig war.61 Ganz ungewöhnlich sind hingegen die weiblichen Spezialistinnen in Origenes’ Scriptorium, und bis vor wenigen Jahren hat sich die Forschung mit seinen Schönschreiberinnen, den κόραι ἐπὶ τὸ καλλιγραφεῖν ἠσκημέναι, etwas schwergetan. 1962 bezeichnete Colin Roberts in einer Abhandlung über Buried books in Antiquity Eusebios’ Zeugnis als den frühesten bekannten Fall von „women’s invasion of the book trade“; meist wurde die Stelle aber einfach unkommentiert gelassen. In jüngerer Zeit hat sich Kim Haines-Eitzen in mehreren Arbeiten mit Fragen zu Frauen als Schreiberinnen, Leserinnen und Verteilerinnen von Büchern befasst.62 Sie konnte insgesamt elf lateinische Grabinschriften der hohen Kaiserzeit für junge Frauen nachweisen, die Berufe wie notaria grece [sic], Stenographin für Griechisch, amanuensis, Sekretärin, oder libraria, Kopistin in einer Bibliothek ausgeübt hatten; eine griechische Inschrift von Tralles bezeichnet die Verstorbene als γραμματεύσασα, und in einer Liste mit Wettkampfsiegerinnen im Gymnasium von Pergamon wird ein Mädchen angeführt, das in καλλιγραφία gewonnen hat.63 Bei diesen Frauen handelt es sich um Sklavinnen oder Freigelassene, die in der Regel im Dienst hochgestellter Damen der römischen Aristokratie standen. Näher am Milieu des Origenes sind vielleicht die Frauen frühchristlicher asketischer Zirkel, wie etwa die jüngere Melania (383–439), deren Hagiographie berichtet, sie habe die gesamte Bibel nicht nur drei‑ oder viermal jährlich gelesen, sondern auch eigenhändig kopiert (καλλιγραφοῦσα) und die Exemplare verteilt.64 Allerdings stammen diese Zeugnisse aus einer Zeit zweihundert Jahre nach Origenes; wirkliche Vergleichsbeispiele spezialisierter weiblicher Belegschaft in Scriptoria des frühen 3. Jahrhunderts sind bislang nicht nachgewiesen. Auch hier scheint Origenes einmalig fortschrittlich und weltoffen gewesen zu sein. 60 Eusebios,
Historia ecclesiastica VI 23,1–2.
61 So etwa beim Codex Sinaiticus, s. Petitmengin / Flusin 1984, 248; Dorandi 1991, 22; Haines-
Eitzen 2000, 38. 62 C. Roberts ist zitiert nach Haines-Eitzen 1998, 633 f. S. auch Dies. 2000, 42–52; Dies. 2011, 19–62. 63 Haines-Eitzen 1998, 642; Dies. 2000, 41–52; Dies. 2011, 30–33. 64 Gerontius, Sanctae Melaniae iunioris vita 26; Haines-Eitzen 1998, 641; Dies. 2011, 40–46.
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Unklar ist bislang auch der Status der Schönschreiberinnen: Es könnten Sklavinnen oder Freigelassene gewesen sein; gut ausgebildete Spezialisten für jedes Handwerk waren auf jedem Sklavenmarkt zu haben, und Christen war es nicht verboten, Sklaven zu haben, solange sie sie menschlich behandelten. Es lässt sich aber meines Erachtens auch nicht ganz ausschließen, dass es sich um freie Frauen handelte; ein unabhängiges asketisches Leben im Dienst Gottes wurde in frühchristlicher Zeit auch für Frauen der Oberschicht bisweilen eine attraktive Alternative zu einer arrangierten Ehe.65 Frauen gehörten höchstwahrscheinlich, wie bereits in Alexandria, auch zum Schülerkreis des Origenes; zumindest wissen wir von seinem Nachfolger Pamphilos, dass dieser ganz selbstverständlich Bücher an interessierte Frauen ausgeliehen hat.66 Die vorangehenden Ausführungen sollten zumindest angedeutet haben, was Origenes und sein „christliches Museion“ so einmalig machte: die Synthese von Bibel und Philosophie, von christlichem Evangelium und antiker Kultur, die Vereinigung von Jerusalem und Athen. Er legte Wert auf das eigene Nachdenken und hatte oft mehr Fragen als Antworten; der französische Theologe Henri Crouzel hat treffend von einer „théologie en recherche“ gesprochen. Origenes betonte den freien Willen des Menschen und benutzte in seinen Schriften immer wieder das Bild von der Bibel als Brunnen, aus dem jeder selbst schöpfen muss. Er lebte in einer Zeit, in der man noch Christ und Platoniker sein konnte, als noch kein Konzil beschlossen hatte, was rechtgläubig zu sein hatte.67 3.3. Archäologische Spuren? Was geschah mit Origenes’ Universität, Bibliothek und „Verlagshaus“, und was ist davon erhalten? Origenes wurde während der Christenverfolgung unter Kaiser Decius 251 verhaftet und gefoltert, dann wieder freigelassen, vielleicht weil er zu prominent war. Er starb jedoch im Jahr darauf an den Folgen der erlittenen Misshandlungen, nach einer womöglich nicht ganz zuverlässigen Quelle auf einer Reise in Tyros.68 Die Bedrohung, unter der das Christentum stand, blieb noch ein 65 Piepenbrink
2007, 32 f.91. Adversus Rufinum 89 (CChr.SL 79, 9,12 Lardet): Scripturas tribuebat […] et feminis; vgl. Eusebios, De martyribus Palaestinae 11,2. Origenes hielt sich einige Zeit am Kaiserhof in Antiochia auf, wohin ihn die Mutter des Alexander Severus, Mammaea, bestellt hatte, die (obwohl nicht Christin) von seinem Ruf beeindruckt war (Eusebios, Historia ecclesiastica VI 21,3 f.; s. Clark 1992, 260). 67 Crouzel 1984, 216–223; Fürst 2011, 81–83; Pietzner 2013, 335. 68 Hieronymus, De viris illustribus 54,11; das Grab in der Mauer der Kathedrale von Tyros wurde noch im 13. Jh. gezeigt, allerdings konnte dieses Gebäude zum Zeitpunkt des Todes des Origenes noch nicht existiert haben. Eusebios, Historia ecclesiastica VII 1,1 nennt nur das Datum, nicht den Ort des Todes des Origenes. Der Schulbetrieb erlosch wohl mit dem Tod seines Gründers, s. dazu den Beitrag von Peter Gemeinhardt in diesem Band (S. 4). 66 Hieronymus,
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halbes Jahrhundert präsent. Die letzte große Christenverfolgung des Kaisers Diokletian war auch in Palästina sehr spürbar: Zu den dortigen Märtyrern, über die Eusebios ein Buch verfasste, gehörte auch Origenes’ Nachfolger Pamphilos, der die Bibliothek enorm ausgebaut hatte; er wurde 307 verhaftet und drei Jahre später hingerichtet.69 Eusebios, Nachfolger des Pamphilos und Bischof von Caesarea, baute die Bibliothek weiter aus, jetzt aber unter ganz anderen Vorzeichen, denn das Christentum war nun als zugelassene Religion (religio licita) anerkannt. Welchen Ruf zu seiner Zeit das Scriptorium hatte, zeigt sich daran, dass Kaiser Konstantin 330 dort 50 Prachtbibeln für seine neue Hauptstadt in Auftrag gab; dieses Geschäft war von solcher Bedeutung, dass sich der Finanzminister der Diözese Oriens persönlich darum kümmern musste und zwei offizielle staatliche Fahrzeuge mit Eskorte nach Caesarea geschickt wurden, um die Bücher abzuholen.70 In den Jahren 340–365 bzw. 366–379 gaben die Bischöfe Akakios und Euzoios die Anweisung, die teilweise beschädigten Papyrusrollen durch Pergamentcodices zu ersetzen; wir sind also bei der Bibliothek von Caesarea in der einzigartigen Lage, ein präzises Datum für diese Umstellung auf das nun immer verbreitetere Material zu haben. In dem bereits erwähnten, auf ein Original aus Caesarea zurückgehenden Codex in Wien, der auch die Aufzählung von Philons Werken enthält, ist dies explizit in einer kreuzförmigen Anmerkung zu lesen: Εὐζώιος ὁ ἐπίσκοπος ἐν σωματίοις ἀνενεώσατο („Euzoios der Bischof, ließ neue Kopien in Codices herstellen“).71 Caesarea blühte auch noch in byzantinischer Zeit, da es zur Pilgerstätte wurde. Auch die arabische Eroberung ging nicht mit Zerstörungen einher; noch im 10. Jahrhundert wird die Stadt von arabischen Autoren als schön beschrieben. Ein Problem war die zunehmende Versandung, da Hafen und Aquädukte nicht mehr unterhalten wurden. Die größten Schäden entstanden ab 1884, als muslimische Flüchtlinge aus Bosnien dort angesiedelt wurden, deren einzige Einnahmequelle darin bestand, die Ruinen als Steinbruch zu benutzen und die behauenen Steine nach Jaffa und Akre zu verkaufen.72 Bislang wurden keine gesicherten Überreste der Bibliothek gefunden. Vor einigen Jahrzehnten wurde der Vorschlag gemacht, ein großes spätrömisches Gebäude an der Südecke der mittelalterlichen Kreuzfahrerstadt, das eine Portikus, eine Eingangshalle und eine Reihe daran angrenzender kleinerer Räume mit 69 Eusebios, Historia ecclesiastica VIII 13,6; De martyribus Palaestinae 11,2–3, wo Eusebios (wie auch in Historia ecclesiastica VII 31,25 f.) auf seine dreibändige Biographie des Pamphilos verweist, die aber nicht erhalten ist; Ascough 2000, 174–176. 70 Eusebios, De vita Constantini IV 36; Wendel 1974; Piepenbrink 2007, 70–77. 71 Hieronymus, Epistulae 24,1,1–2; Codex Vindobonensis Theologicus Graecus 29: Runia 1996, 479 f.; Carriker 2003, 23–27. Frenschkowski 2006, 82–86 glaubt allerdings, es habe sich lediglich um eine Rettungsaktion für die verschlissenen Handschriften gehandelt, deren Finanzierung die beiden Bischöfe womöglich nur versprochen hätten. 72 Zum Niedergang der Stadt Reifenberg 1950/51, 29–32; Patrich 2011, 141–166.
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umlaufenden Bänken an den Wänden umfasste, als Bibliothek des Origenes und Eusebios zu identifizieren. Dies wurde aber in der Forschung abgelehnt; der Bau gilt mittlerweile als Verwaltungsgebäude der kaiserlichen Steuerbehörde.73 Das Gebäude wurde wahrscheinlich im frühen 4. Jahrhundert n. Chr. errichtet und wurde bis weit in das 7. Jahrhundert n. Chr. benutzt; von den drei aufeinanderliegenden Mosaikfußböden stammt der oberste aus dem 6. Jahrhundert n. Chr., der unterste wurde um 450 n. Chr. gelegt. Diese Datierungen schließen einen Zusammenhang mit der Bibliothek des Origenes aus. Mehrere Mosaik-Medaillons an den Eingängen der Räume weisen Inschriften auf, wobei der Spruch aus Paulus’ Römerbrief (Röm 13,3) – „Willst du dich aber vor der Obrigkeit nicht fürchten? Dann tue das Gute, und du wirst Lob von ihr haben“ – in der Tat zu dem skrinion passt, das für Einkünfte und Ausgaben des Gouverneurs von Palästina zuständig war.74 Man sollte sich allerdings bewusst sein, dass bislang erst fünf bis zehn Prozent der antiken Stadt Caesarea Maritima ausgegraben sind, so beeindruckend die heute sichtbare Anlage auch ist. Verständlicherweise konzentrierten sich die Bemühungen in erster Linie auf die öffentlichen Gebäude, so dass die antiken Wohnviertel noch weitgehend unerforscht sind. Dies gilt insbesondere für das spätantike und frühbyzantinische Caesarea, das sich in der Gegend des östlichen Hippodroms und des Amphitheaters erheblich über die herodianische Stadtmauer hinaus erstreckte. Die Besiedlung dieser Zone hatte offensichtlich bereits im 2. und 3. Jahrhundert begonnen, doch nur das Hippodrom wurde bislang ausgegraben.75 Die Chancen, Überreste der Bibliothek des Origenes und Eusebios zu finden, sind daher durchaus noch intakt. Gibt es Anhaltspunkte für ihre Lokalisierung? Angesichts der Ähnlichkeit der Institution mit paganen Philosophenschulen wäre denkbar, dass sie sich außerhalb der Stadtmauern angesiedelt hatte, ganz ähnlich wie Platons Akademie in Athen, die sich etwa anderthalb Kilometer nordwestlich des Dipylontors befindet. Gerade für die Einrichtungen einer zunächst und noch für längere Zeit „illegalen“ Religion hätte sich eine solche Lage womöglich angeboten. Auch frühe Kirchenbauten wurden am Rand oder außerhalb der Orte errichtet. Zudem hatte Origenes’ stets expandierende Bibliothek einen riesigen Platzbedarf – es ist deutlich geworden, welchen materiellen Umfang allein schon seine Hexapla einnahm. Es brauchte zudem Räume für das Scriptorium, Räume für Unterricht 73 Als Bibliothek zuerst von A. Negev gedeutet, der das Gebäude 1961 entdeckte, dazu Levine 1975, 45 f.; ebenso McGuckin 1992, 19–21; dagegen s. Holum / Hohlfelder / Bull / Raban 1988, 169–171; Krentz 1992, 267 („no library or academy has yet been found“); Carriker 2003, 30 f.; Frenschkowski 2006, 102–104, der allerdings m. E. den Platzbedarf der Institution („kaum mehr als ein oder zwei große Räume“) sehr unterschätzt. 74 Holum 1995 b, 338 f. mit Abb. 4; in einem weiteren, rechteckigen Mosaik wird in der Inschrift Christus’ Hilfe für die hier tätigen Sekretäre (chartularioi) und den numerarios angerufen (Holum 1995 b, 340 f., Nr. 6 Abb. 5). 75 Patrich 2011, 92 f.
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und Debatten, und es ist anzunehmen, dass die Mitarbeiter und Studenten dort oder in der Nähe untergebracht waren. Auch Origenes’ Mäzen Ambrosius hatte sich höchstwahrscheinlich, wie für reiche römische Aristokraten üblich, in einer Villa vor der Stadt angesiedelt, wo es genug Platz gab und er sich unauffällig der etablierten Tradition eines gelehrten otium widmen konnte.76 Eine Nachbarschaft zu dem großzügigen Sponsor der Institution hätte sich angeboten. Andererseits ist zu bedenken, dass die Wohnviertel in der von Herodes nach römischem Vorbild angelegten Stadt aus innerhalb des rechtwinkligen Straßensystems errichteten insulae bestanden haben. Die Häuser, die sie enthielten, werden wohl nicht aus den in einem Ballungszentrum wie Rom üblichen engen, mehrstöckigen „Mietskasernen“ bestanden, sondern eher denen einer wohlhabenden Provinzstadt wie Pompeji geglichen haben: Es wird sich um ein-, höchstens zweistöckige großflächige Häuser gehandelt haben, die von hohen Mauern abgeschirmt waren. Auch innerhalb einer solchen Struktur hätte Origenes seine Einrichtung anlegen können, inklusive einer Kirche, denn monumentale Kirchenbauten sind vor der Zeit Konstantins nicht zu erwarten. Bei wachsendem Platzbedarf hätten dann angrenzende Häuser innerhalb der insula dazu erworben und angebaut werden können. Es ist denkbar, dass sich der Standort der Bibliothek im Lauf der Zeit veränderte und die Institution einen prominenteren Platz bekam, als das Christentum anerkannt war und sie Aufträge des Kaisers in Konstantinopel bekam. Zahlreiche Zentren in Palästina erlebten eine zweite Blütezeit in spätantiker Zeit, als Palästina von einer unruhigen Randprovinz zum Heiligen Land geworden war und Pilger aus der ganzen damaligen Oikumene anzog. Auch Caesarea Maritima erlebte einen enormen Aufschwung und könnte in dieser Epoche bis zu 100.000 Einwohner gehabt haben; das bewohnte Areal umfasste schätzungsweise 112 Hektar. Die Anlage eines neuen Aquäduktes um 385 n. Chr. deutet darauf hin, dass das Bevölkerungswachstum bereits im 4. Jahrhundert einsetzte.77 Ein eingehenderes Studium der Urbanistik vergleichbarer Stadtanlagen in spätantiker und frühbyzantinischer Zeit könnte daher Hinweise darauf geben, welche Lokalisierung für die Bibliothek plausibel wäre. Origenes’ und Eusebios’ christliches Museion wartet noch darauf, gefunden zu werden.
76 Frenschkowski 2006, 62–68 führt die Tatsache, dass die Bibliothek von den Christenverfolgungen offenbar nicht betroffen war, darauf zurück, dass sie sich nicht in Gemeindebesitz, sondern als wissenschaftliche Einrichtung in Privatbesitz (wie in der Antike üblich, s. o.) befand. 77 Patrich 2011, 93 f.
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Vom philosophischen Schulbetrieb zum kirchlichen Katechumenat Institutionalisierungen religiöser Bildung im spätantiken Christentum Peter Gemeinhardt / Tobias Georges* Einleitung Das Christentum ist eine Bildungsreligion. Und das ist es nicht erst in der Neuzeit und Moderne, sondern von Anfang an. Jesus von Nazareth trat als Lehrer auf, der Schüler um sich sammelte, denen er am Ende seines irdischen Wirkens befahl, sein Werk fortzusetzen, indem sie nun selbst als Lehrer in die Welt hinauszogen: Geht hin und lehrt alle Völker. Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles zu halten, was ich euch befohlen habe.1
Christ wird man demnach in einem Dreischritt. „Zu Jüngern gemacht“ zu werden – wie μαθητεύσατε früher übersetzt wurde – heißt: in die Lage versetzt zu werden, die Lehre Jesu und die Botschaft von Jesus wahr‑ und anzunehmen; „getauft zu werden“ bedeutet: in diese Lehr‑ und Lerngemeinschaft Eingang zu finden; „gelehrt zu werden“ heißt schließlich, darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, was zu glauben und wie zu handeln ist, wenn man Teil dieser Gemeinschaft ist.2 Und bei alledem geht es nicht nur um die Übermittlung von Informationen, sondern um lebens‑ und handlungsbestimmendes Wissen, man * Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekte C 05: „Der christliche Katechumenat von der Spätantike zum Frühmittelalter und seine religionspädagogische Rezeption“ und D 05: „Profilierung religiöser Identität im gebildeten Diskurs. Die Rolle der Bildung in Bezugnahmen christlicher Autoren des 12. Jh.s auf Juden und Muslime“. 1 Mt 28,19.20 a: πορευθέντες οὖν μαθητεύσατε πάντα τὰ ἔθνη, βαπτίζοντες αὐτοὺς εἰς τὸ ὄνομα τοῦ πατρὸς καὶ τοῦ υἱοῦ καὶ τοῦ ἁγίου πνεύματος, διδάσκοντες αὐτοὺς τηρεῖν πάντα ὅσα ἐνετειλάμην ὑμῖν. Übersetzung: revidierte Lutherbibel 2017. – Im Folgenden werden in den Anmerkungen lediglich die nötigen Belege und Hinweise auf weiterführende Literatur geboten. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Forschung zu den hier behandelten Themenkomplexen ist im Rahmen dieses Beitrags weder möglich noch intendiert. 2 Zur Auslegung dieser Stelle vgl. den erhellenden Beitrag von Reinbold 2012.
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könnte sagen: religiöses Orientierungswissen. Christ zu werden ist demnach ein Bildungsvorgang, wie es schon um 200 n. Chr. der nordafrikanische Theologe Tertullian pointiert ausdrückte: Wir stammen aus eurer Mitte: Menschen werden erst zu Christen, sie werden nicht als solche geboren.3
Dieser Prozess währt im Prinzip lebenslang – denn gelehrt werden soll ja, wie das Matthäuszitat sagt, vor und nach der Taufe. Und wenn, um es mit einer klassischen Wendung Anselms von Canterbury († 1109) auszudrücken, „der Glaube nach Verstehen sucht“ (fides quaerens intellectum)4, wenn solcher Glaube aber nicht nur ein Wissen um Gott, sondern die Haltung unbedingten Vertrauens auf diesen Gott ist – wer wollte behaupten, damit jemals fertig zu sein? Das Christentum war also, wie gesagt, von Anbeginn an eine Bildungsreligion.5 Aber es war niemals nur die Religion der Gebildeten. Mit denen nahmen es die frühen Christen zwar ihrer Selbsteinschätzung nach rhetorisch und philosophisch auf: Paulus, gefragt, „was für eine neue Lehre du lehrst“ (τίς ἡ καινὴ αὕτη ἡ ὑπὸ σοῦ λαλουμένη διδαχή), stellte sich mitten auf den Areopag und erklärte den Athenern erst einmal, dass sie in Bezug auf das Göttliche bisher unwissend gewesen seien, er sie aber nun zu ihrem eigenen Besten aufklären wolle (Apg 17,16–34, bes. vv. 19.23). Die Apologeten des 2. Jahrhunderts n. Chr., von denen weiter unten die Rede sein wird, verstanden sich als Philosophen, ja sogar als Vertreter der einzig wahren Philosophie. Aber zugleich legten sie Wert darauf, dass bei den Christen, salopp gesagt, jeder mitmachen durfte: Frauen, Sklaven, Kinder, in einem Wort: alle Menschen unabhängig von ihrem Bildungsstand.6 Dieser Glaube und seine Praxis waren nicht nur einer Elite zugänglich, sondern der Masse. Wie macht man aber Menschen zu Christen – Eliten wie Massen? Wie kann der Dreischritt von Lehren, Taufen und erneutem Lehren praktisch umgesetzt werden, wer soll das tun und welcher Rahmenbedingungen bedarf es dafür? Vor diesen Fragen standen christliche Missionare, Theologen und Gemeindevorsteher nur allzu bald. So zu fragen war in der antiken Welt nicht selbstverständlich. Religion gezielt zu verbreiten war weder ein Kernanliegen des zeitgenössischen Judentums noch der traditionellen griechischen und römischen Kulte. Man
3 Tertullian, Apologeticum 18,4 (FC 62, 148,11 f. Georges): De uestris sumus: fiunt, non nascuntur Christiani. Vgl. Seneca, De ira II 10,6: scit [sc. sapiens] neminem nasci sapientem, sed fieri. 4 So der ursprüngliche Titel der als Proslogion bekannten Schrift Anselms mit dem sogenannten „ontologischen Gottesbeweis“. 5 So jetzt auch (im Blick auf heutige Rezeptionsmöglichkeiten frühchristlicher Bildung) Söding 2016. 6 Vgl. z. B. Minucius Felix, Octavius 16,5 (13,3–5 Kytzler); Origenes, Contra Celsum III 44 (FC 50/2, 590,16–592,15 Fiedrowicz / Barthold); vgl. dazu Schöllgen 2002; Merkt 2007.
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kannte in der hellenistischen Welt umherziehende Wanderphilosophen7, und ganz ähnlich wie diese müssen christliche Wanderprediger gewirkt haben, die um das Jahr 100 n. Chr. rund um das Mittelmeer unterwegs waren.8 Aber „alle Völker“, also Menschen beiderlei Geschlechts, jedes Standes und unterschiedlicher Vorbildung, in den Blick zu nehmen – das war zwar nicht völlig neu (auch der Epikureismus, Teile der Stoa und natürlich die Kyniker hatten breitere Rezipientenkreise ansprechen wollen), für die tonangebenden zeitgenössischen Platoniker aber extrem anstößig. Doch war es – aller Kritik an den selbsternannten christlichen Philosophen zum Trotz – offensichtlich attraktiv. Ein solches Missionsprogramm brachte freilich auch Herausforderungen mit sich, und dafür brauchte man Lösungen. Freilich gab es vor dem 4. Jahrhundert keine Instanz, die quasi auf gesamtkirchlicher Ebene über theologische oder strukturelle Fragen des Christentums beraten und entschieden hätte. Doch dass sich bestimmte Probleme an unterschiedlichen Orten in analoger Weise stellten, nahmen christliche Gemeinden untereinander sehr wohl wahr, und es zeichnete das Christentum schon in dieser frühen, formativen Phase aus, dass nicht jeder Apostel und nicht jede Gemeinde das missionarische Rad neu erfinden musste: Man tauschte sich mündlich und brieflich aus, übernahm, womit andere bereits erfolgreich experimentiert hatten, und ließ die Finger von Strategien, die sich andernorts als kontraproduktiv erwiesen hatten. Mit einem Wort: Nicht nur der Glaube und seine Praxis wurden gelehrt und gelernt, auch die im Namen des Herrn unterwegs befindlichen Lehrer lernten dazu, und zwar rasant. Die skizzierte Situation führte schon im 2. Jahrhundert n. Chr. zu vielschichtigen Prozessen der Institutionalisierung im frühen Christentum9 – auch und gerade in Bezug auf Bildung. Wie andernorts im vorliegenden Band erläutert wird, eröffnet die moderne Unterscheidung von Institution und Organisation – mit der nötigen Umsicht angewendet – Spielräume für die Interpretation vormoderner Phänomene:10 Eine Bildungsinstitution kann einen organisatorischen Rahmen mit festangestelltem Lehrpersonal, eigenen Räumlichkeiten und einem Jahreshaushalt haben – muss dies aber nicht, denn Dauerhaftigkeit im Wandel (und das leistet eine Institution) kann sich auch einstellen, wo freie Lehrer unter freiem Himmel beitragsfrei ihre Lehre anbieten. Institutionalisierte Bildung gab 7 Vgl. hierzu Peter von Möllendorff, „Dieser ans Kreuz geschlagene Sophist!“ Die Auseinandersetzung mit religiösen Erweckern in der Hohen Kaiserzeit (in diesem Band S. 85–100). 8 Das Phänomen und die damit verbundene Herausforderung, dass sich Wanderpropheten und ‑lehrer bisweilen durchfüttern ließen und damit Zweifel an ihrer Seriosität weckten, bezeugt die sogenannte „Zwölf-Apostel-Lehre“ (Didache 11–13; FC 1, 126,5–132,12 Schöllgen). 9 Zu solchen frühchristlichen Institutionalisierungsprozessen vgl. allgemein Markschies 2007. 10 Vgl. dazu Peter Gemeinhardt, „Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen“. Institutionen religiöser Bildung in interdisziplinärer Perspektive (in diesem Band S. 1–24); für die spätantike Kirche breiter ausgeführt in: Gemeinhardt 2017 a.
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es im frühen Christentum daher nicht nur da, wo archäologisch rekonstruierbare Schulgebäude und schriftlich überlieferte Curricula existieren; sonst kämen wir mit unseren Überlegungen, nicht nur was die Anfänge angeht, schnell zum Ende. Vielmehr ermöglicht ein offener Institutionenbegriff, den Bogen von wenig formalisierten Anfängen religiöser Bildung im 2. und 3. Jahrhundert bis zum besser organisierten, in vieler Hinsicht aber immer noch im Fluss befindlichen Katechumenat im 4. und 5. Jahrhundert, zu spannen. Genau das soll im Folgenden anhand ausgewählter Stationen dieses Institutionalisierungsprozesses geschehen.
1. Vom philosophischen Schulbetrieb … Mit der Bildung und ihren Institutionalisierungen im Christentum des 2. und 3. Jahrhunderts verhält es sich wie mit den Puzzles kleiner Kinder: Immer fehlen einige Teile und oft ergeben die Puzzleteile nur noch in Ansätzen ein Gesamtbild. Entsprechend rudimentär ist die Quellenlage zur Geschichte des antiken Christentums insgesamt und zu dessen religiöser Bildung im Speziellen. Da die Institution Kirche in dieser Zeit erst Ausdehnung und Profil gewinnt, und zwar innerhalb des durchaus weitläufigen Römischen Reiches, ist davon auszugehen, dass sich die Entwicklungen regional durchaus unterschiedlich vollzogen haben. Wir dürfen also von den Puzzleteilen, die aus der einen Region auf uns gekommen sind, nur sehr bedingt auf Entwicklungen in einer anderen schließen. Das Füllen der Leerstellen im Puzzle bleibt stets mit recht großen Unsicherheiten verbunden. Aber immerhin haben wir solche Puzzleteile. Zwei solcher Puzzleteile sollen hier nun beleuchtet werden, zwei recht große Teile, an denen Institutionalisierungen christlicher Bildung greifbar werden: die Christen Justin und Origenes sowie ihre ,Schulen‘. Beide bezeichne ich als „große Puzzleteile“, weil wir sie – anders, als es in der Regel der Fall ist – aus mehreren Perspektiven betrachten können, sozusagen von innen wie von außen: durch ihr eigenes Schrifttum wie durch zeitnahe Berichte über sie. „Große“ Puzzleteile auch, weil sie an herausragenden Orten des Imperium Romanum wirkten: Justin in der Hauptstadt Rom, um die Mitte des 2. Jahrhunderts und Origenes in Alexandria, der geistigen Metropole des Imperiums, in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts. Mit ihren ,Schulen‘ fällt Licht auf einen recht speziellen, wenn auch sicher nicht unwichtigen Aspekt innerhalb der Institutionalisierungen christlicher Bildung. Mit und neben ihren ,Schulen‘ erlauben Justin und Origenes aber auch, das weitere Spektrum solcher Institutionalisierungen zu beleuchten.
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1.1 Justin und die Institutionalisierung christlicher Bildung Zuerst also zu Justin (Lebensdaten: ca. 100–165).11 Soweit wir es seinen erhaltenen Werken – den beiden „Apologien“ und dem „Dialog mit dem Juden Trypho“ – entnehmen können, stammte er aus Flavia Neapolis in Palästina, wohl aus einer paganen Familie, wuchs in der antiken Bildung auf und setzte sich mit den philosophischen Strömungen seiner Zeit, insbesondere mit dem Platonismus, auseinander, begegnete auch den Lehren der Christen und konvertierte schließlich, wohl im Erwachsenenalter, zu diesem Glauben (Dialogus 1,1–8,2). Er ließ sich in Rom nieder, lehrte dort selbst den Glauben und die Lebenslehre der Christen und verstand sich als christlicher Philosoph; die Lehren der Christen galten ihm als „die allein zuverlässige und nutzenbringende Philosophie.“12 Bei Justin haben wir nun, wie gesagt, das Glück, dass wir die Informationen, die wir aus seinen Schriften erhalten, mit weiteren Hinweisen korrelieren können, die von außen auf seine Lehre blicken. Somit lässt sich in Ansätzen das soziale Umfeld seines Lehrens nachzeichnen: Irenäus von Lyon, ein weiterer bedeutender frühchristlicher Schriftsteller, berichtet etwa 20 Jahre nach Justins Ableben von einem gewissen Tatian, er sei „Hörer“ (ἀκροατής) Justins gewesen, habe seiner „Schule“ (διδασκαλεῖον) später aber eine „eigene Richtung“ gegeben,13 und die Verbindung zu Justin wird von Tatian (Oratio contra Graecos 18,6; 19,2) bestätigt, der wiederum selber ein bemerkenswerter christlicher Literat werden sollte. Justin hat in Rom also offensichtlich im Rahmen eines διδασκαλεῖον, einer ,Schule‘, unterrichtet.14 Einen etwas näheren Blick auf die Gestalt dieser Schule erlaubt uns der Bericht vom Martyrium Justins und seiner Gefährten. Dieser in seiner frühesten Fassung wohl nicht allzu lange nach Justins Tod verfasste Text schildert, wie Justin zusammen mit fünf Schülern und auch einer Schülerin (!) vor den römischen Stadtpräfekten Rusticus gebracht wird, sie aufgrund ihres Christseins angeklagt und wegen ihres beharrlichen Geständnisses zu ihrem Glauben zum Tode verurteilt werden. Die Christengruppe erweist sich in dieser Darstellung als zahlenmäßig überschaubarer Zirkel von Schülern um 11 Zu Justins Leben und Werk sei hier nur verwiesen auf Heid 2001, 801–822; Georges 2017, 1151–1154. 12 Justin, Dialogus 8,1 (204 Bobichon): διαλογιζόμενός τε πρὸς ἐμαυτὸν τοὺς λόγους αὐτοῦ ταύτην μόνην εὕρισκον φιλοσοφίαν ἀσφαλῆ τε καὶ σύμφορον. Der Übersetzung dieses Passus aus Justins Dialog wird die BKV-Übersetzung (Philipp Haeuser, München 1917) zugrunde gelegt; ebenso greifen die Übertragungen der folgenden Passagen aus Justins Apologien auf die BKV-Übersetzung (Gerhard Rauschen, München 1913) zurück. Wo erforderlich, werden die Übersetzungspassagen dem Text der neuen Editionen angepasst. Vgl. zum Selbstverständnis als Philosoph Tertullian, Adversus Valentinianos 5,1. 13 Irenäus, Adversus haereses I 28,1 (FC 8, 324,7–10 Brox), auch zitiert bei Euseb, Historia Ecclesiastica IV 29,3 (GCS Eus. II / 1, 390,12–16 Schwartz): Ὃς Ἰουστίνου ἀκροατὴς γεγονώς, ἐφ’ ὃσον μέν συνῆν ἐκέινῳ, οὐδέν ἐξέφηνεν τοιοῦτον· μετὰ δὲ τὴν ἐκείνου μαρτυρίαν ἀποστὰς τῆς ἐκκλησίας, οἰήματι διδασκάλου ἐπαρθεὶς καὶ τυφωθεὶς ὡς διαφέρων τῶν λοιπῶν, ἴδιον χαρακτῆρα διδασκαλείου συνεστήσατο. 14 Siehe zu Justins Schule in Rom Georges 2012, 75–87.
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Justin als philosophischem Lehrer, der sich in Justins Wohnung traf (Martyrium Iustini 3,3), eine enge Lehr‑ und Lebensgemeinschaft pflegte und sich höherer christlicher Bildung widmete – das Christsein selbst hatten die Schüler aber, wie zwei von ihnen bekennen, schon von ihren „Eltern … gelernt.“15 Dieser Lehrer-Schüler-Kreis ähnelt nun, abgesehen von der christlichen Ausrichtung der Lehre, in auffälliger Weise den zeitgenössischen paganen Philosophenschulen, wie wir sie aus dem Umfeld der Stoiker Musonius Rufus und Epiktet in Rom und Nikopolis sowie des Mittelplatonikers Calvenus Taurus in Athen kennen: Auch diese Philosophen versammeln zahlenmäßig begrenzte Lernzirkel um sich, die anspruchsvollen geistigen Austausch suchen, und auch bei ihnen ist die enge Lehrer-Schüler-Gemeinschaft in Lehre wie Lebenspraxis, das „contubernium“, zentraler Bestandteil.16 Der Zuschnitt des Lehrformats in Analogie zu den Philosophenschulen entspricht genau Justins Selbstverständnis als Philosoph, freilich als christlicher Philosoph, und über die differierenden Lehrinhalte sollte Justin sich, wie wir seinen Schriften entnehmen können, mit den geistigen Strömungen seiner Zeit auch intensiv auseinandersetzen – insbesondere natürlich mit Philosophen wie dem namentlich bekannten Creszens (2 Apologia 8), aber, wie der Dialog mit dem Juden Trypho nahelegt, auch mit gelehrten Juden. Noch kleinere Puzzleteile, die wir v. a. von weiteren Autoren wie Aristides und Athenagoras erhalten, die wie Justin apologetische Werke verfassten, also das Christentum gegenüber der nichtchristlichen Umwelt verteidigten, sprechen sehr dafür, dass Justins Lehrkontext ,Schule‘ für seine Zeit exemplarische Bedeutung hat.17 Vor diesem Hintergrund scheint mir Justins Lehrzirkel einen nicht unbedeutenden Ansatzpunkt für die Institutionalisierung christlicher Bildung zu bieten – den offenen Institutionalisierungsbegriff vorausgesetzt, auf den eingangs (S. 9–13) verwiesen wurde. Denn natürlich darf man hier den Institutionalisierungsgrad nicht zu hoch ansetzen: Wenn man für Justin von einer ‚Schule‘ sprechen will, dann wohl – wie übrigens auch im Falle der paganen 15 Martyrium Iustini 4,6 f. (44,22–25 Musurillo): Παίων ἑστὼς εἶπεν· Κἀγὼ Χριστιανός εἰμι. Ῥούστικος εἶπεν· Τίς σε ἐδίδαξεν; Παίων εἶπεν· Ἀπὸ τῶν γονέων παρειλήφαμεν. Εὐέλπιστος εἶπεν· Ἰουστίνου μὲν ἡδέως ἤκουον τὸν λόγον, παρὰ τῶν γονέων δὲ παρείληφα Χριστιανὸς εἶναι. Die in diesem Passus gängige Übersetzung von παρειλήφαμεν mit „lernen“ (vgl. z. B. Guyot / Klein 2006, 69) wird hier beibehalten. Zwar legt das griechische Verb den Akzent eher auf das „Übernehmen“ der christlichen Tradition, vom Kontext her ist aber deutlich, dass hier das „Lernen“ übergeordnetes Thema ist: Die Ausgangsfrage, auf welche Justins Schüler antworten, lautet: Τίς σε ἐδίδαξεν („Wer hat dich gelehrt / Wer war dein Lehrer?“). 16 Siehe Hahn 1989, 67–85. 17 So scheint das Selbstverständnis als „Philosoph“ gerade in dieser Autorengruppe die Regel gewesen zu sein (Aristides wird z. B. im Titel der armenischen und der syrischen Version seiner „Apologie“ als „Philosoph“ bezeichnet, Athenagoras im Titel seiner „Legatio pro Christianis“), und das passt wiederum zu den häufigen Auseinandersetzungen apologetischer Schriften mit den Philosophen.
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Philosophenkollegen – von einer „Zwergschule“18, und auch die Dauerhaftigkeit dieses Lehrarrangements scheint begrenzt gewesen zu sein, wiewohl mit Tatian immerhin ein Schüler Justins bekannt ist, der seinerseits unterrichten sollte, freilich mit modifizierter inhaltlicher Ausrichtung seiner „Schule“ (Irenäus, Adversus haereses I 28,1). Und man darf nicht meinen, mit dieser Art ,Schule‘ den Regelfall für christliche Bildungsinstitutionalisierung vor Augen zu haben. Philosophenschulen, ob christlich oder nicht, zogen wohl zumindest tendenziell einen elitären Kreis Intellektueller an, richteten sich nicht an die breite Masse der Bevölkerung, und in Justins Lernzirkel scheint, soweit die Quellentexte darüber ein Urteil erlauben, christliche Grundbildung bzw. Taufvorbereitung nicht Gegenstand gewesen zu sein. Dass es eine solche Bildung auf elementarer Ebene aber ihrerseits gegeben haben muss, wird in den Quellen zu Justins ,Schule‘ zumindest auch sichtbar: Seine Gefährten bekennen, wie oben zitiert, gemäß dem Martyriumsbericht, das Christsein „gelernt“ zu haben, nur eben nicht von Justin, sondern ihren Eltern – hier wird die religiöse Grundbildung in der Familie verortet. Das entspricht dem Normal-Befund in der nichtchristlichen Umwelt,19 und die Familie sollte auch ein Ankerpunkt christlicher Bildung bleiben, und zwar bis heute. Dass „Lehre“ für die Christwerdung als solche grundlegend ist, unterstreicht Justin auch selbst in 1 Apologia 61,2. Dort beleuchtet er die christliche Taufe und verweist darauf, dass sich alle werdenden Christen im Vorfeld ihrer Taufe „von der Wahrheit unserer Lehren und Aussagen überzeugen lassen“ und „ihr Leben darnach einrichten“ müssen.20 Wie dies näher geschehen soll, bleibt bei Justin und in den Quellen bis zum Ende des 2. Jahrhunderts recht offen – jenseits der vielgestaltigen Hinweise auf christliche Lehrerfiguren,21 die wohl gerade beim Fehlen eines christlichen Elternhauses (das ja in dieser Zeit noch nicht die Regel war) gebraucht wurden, wie es auch für Justin selber anzunehmen ist. Zu Justins Zeit ist jedenfalls mit einem formalisierten „Katechumenat“, also einem irgendwie schematisierten Unterricht für die Taufbewerber, noch nicht zu rechnen. Aber im Hinweis auf die Notwendigkeit der „Lehre“ fürs Christwerden ist eben der Ausgangspunkt für diesen Katechumenat enthalten, der sich ab dem Ende des 2. und im 3. Jahrhundert als fundamentale Institution christlicher Bildung herausbilden sollte und dessen Konturen im 4. Jahrhundert dann deutlich erkennbar werden. Für das späte 2. und das 3. Jahrhundert erhalten wir nur kleine Puzzleteile zu diesem Katechumenat, die auf eine allmähliche Profilierung 18 Löhr
2002, 261. Drews 2004, 498. 20 Justin, 1 Apologia 61,2 (236,9–238,1 Minns / Parvis): ὅσοι ἂν πειθῶσι καὶ πιστεύωσιν ἀληθῆ ταῦτα τὰ ὑφ’ ἡμῶν διδασκόμενα καὶ λεγόμενα εἶναι, καὶ βιοῦν οὕτως δύνασθαι ὑπισχῶνται. 21 Von „Lehrern“, διδασκάλοι, berichten z. B. schon die Paulusbriefe (1 Kor 12,28 f.) sowie die Didache (11; 13; s. o. Anm. 8). Für Justin wäre hier an den „alten Mann“ aus Justin, Dialogus 3,1–8,2 zu denken. 19 Siehe
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hindeuten und regional recht unterschiedliche Ausprägungen vermuten lassen. Da die klaren Konturen erst im 4. Jahrhundert sichtbar werden – sofern man nicht die Traditio Apostolica als Quelle heranzieht, deren historisch-kontextuelle Einordnung in der gegenwärtigen Forschung dafür mit zu vielen ungeklärten Variablen verbunden scheint22 –, wird der Katechumenat auch erst in der zweiten Hälfte des vorliegenden Beitrags näher in den Blick genommen. Beim zweiten Protagonisten für die Frühzeit christlicher Bildung, Origenes, finden wir aber immerhin, gleichsam innerhalb des großen Puzzleteils, auch einige der besagten Puzzlekleinteile zum Katechumenat, die natürlich nicht unerwähnt bleiben sollen. 1.2 Origenes und die Institutionalisierung christlicher Bildung Da Origenes im vorliegenden Band schon an anderer Stelle eingehende Betrachtung erfährt,23 kann er hier stärker kursorisch behandelt werden als Justin, und gleich im Vergleich zu ihm.24 Traktiert werden muss Origenes aber noch einmal – denn beim Thema „Bildung im frühen Christentum“ führt an ihm kein Weg vorbei. Mit ihm begeben wir uns von Justin aus chronologisch ins folgende 3. Jahrhundert bzw. dessen erste Hälfte (Lebensdaten: ca. 185–253) und räumlich an den südöstlichen Rand des Mittelmeeres, nach Alexandria, in den Heimatort des Origenes und damit in ein herausragendes Zentrum der Gelehrsamkeit, das wohl auch auf das Gepräge des ortsansässigen Christentums und speziell auf Origenes selbst abgefärbt hat. Die Übersiedlung des Origenes nach Caesarea im Jahr 232 scheint seine christliche Lehrtätigkeit nicht grundsätzlich geändert zu haben: Neuere Untersuchungen betonen die generellen Übereinstimmungen zwischen seinen ,Schulen‘ in Alexandria wie in Caesarea.25 Im Folgenden werden Origenes’ ,Schulen‘ an beiden Orten prinzipiell in der Zusammenschau behandelt,26 wobei der spezielle Fokus auf Alexandria gerichtet wird. Einige der zahlreichen Schriften des Origenes, so das berühmte systematische Hauptwerk De principiis, lassen einen Lehr-Kontext schon vermuten, und zur Profilierung dieses Lehrumfeldes haben wir wie bei Justin nun wieder Quellentexte, die von außen auf Origenes blicken: zum einen die Kirchengeschichte Eusebs von Caesarea, die im 6. Buch eine Art Vita Origenis liefert und in diesem Zusammenhang ausführ-
22 Siehe
hierzu Markschies 1999. hierzu Balbina Bäbler, Für Christen und Heiden, Männer und Frauen: Origenes’ Bibliotheks‑ und Lehrinstitut in Caesarea (in diesem Band S. 129–151). 24 Zu Leben und Werk des Origenes sei hier über den in der letzten Anmerkung genannten Beitrag hinaus nur verwiesen auf Fürst 2015, 460–567. 25 Siehe hierzu Gemeinhardt 2013, 449. Das Verhältnis dieser ,Schulen‘ ist freilich kontrovers diskutiert worden. 26 Siehe zu diesen ,Schulen‘ Georges 2014. 23 Siehe
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lich von seiner Lehrtätigkeit, speziell in Alexandria, berichtet,27 zum anderen die Dankesrede des Gregor Thaumaturgos. Gregor war Schüler des Origenes in Caesarea und hat beim Abschied von der ,Schule‘ seinem Lehrer mit der Rede ein Denkmal gesetzt. Welche Aspekte sind nun besonders hervorzuheben, wenn man Origenes und seine Lehrtätigkeit, speziell in Alexandria, hinsichtlich der Institutionalisierung christlicher Bildung befragt? An erster Stelle wiederholt sich das Profil dieser Lehrstätten nach Art zeitgenössischer Philosophenschulen, wie wir es bei Justin vorgefunden hatten, freilich in noch akzentuierterer Weise und mit einer eigenen Bibliothek28: In Alexandria und später in Caesarea scharen sich auch um Origenes Lernzirkel, für welche die enge Bindung zwischen ihm als Lehrer und seinen Schülern konstitutiv ist.29 Und der Lehrer Origenes versteht seine Tätigkeit wie Justin ganz nach Art eines „Philosophen“30 und urteilt entsprechend kritisch über die anderen, in erster Linie paganen, daneben wiederum auch jüdischen Fachvertreter, im Bewusstsein der eigenen Überlegenheit.31 Die Parallelen zu den Philosophenschulen gehen bei Origenes sogar so weit, dass er gemäß der Darstellung Gregors ein elaboriertes Lehrcurriculum erkennen lässt, das deutliche Bezüge zur klassischen stoischen Dreiteilung des Lernstoffs in Logik, Physik und Ethik32 aufweist: Origenes bot seinen Schülern Dialektik, Naturwissenschaften und Ethik – wobei die Ethik bei ihm auf die „göttliche Tugend“ der „Frömmigkeit“ (εὐσέβεια) hinführte, welche ihrerseits in die „Theologie“ als das „Allerwichtigste und Notwendigste“ mündete;33 hier sind natürlich auch bei Origenes die inhaltlichen Grenzlinien zu den paganen Philosophen unverkennbar. Bei allen Parallelen zu Justin und seiner ,Schule‘ sind hier dann allerdings auch die Verschiebungen kenntlich zu machen, die mit der wachsenden Institutionalisierung von Kirche zusammenhängen dürften: Während bei Justin der Bezug seiner ‚Schule‘ zu anderen kirchlichen Strukturen – die ja auch noch sehr an ihren Anfängen stehen – recht vage bleibt, erfahren wir bei Origenes 27 Euseb schreibt zwar erst zwei Generationen später, aber wohl auf Grundlage von Dokumenten, speziell Briefen, die in die Zeit des Origenes weisen, und in enger persönlicher Verbundenheit als „Enkelschüler“ des Origenes. 28 Siehe zur Bibliothek des Origenes den Beitrag von Balbina Bäbler (in diesem Band S. 129– 151). 29 Gerade Gregor betont in seiner Dankesrede (Panegyricus in Origenem 6,81; FC 24, 154,3– 22 Guyot / Klein) die „Freundschaft“ (φιλία) und in 6,83 die „Liebe“ (ἔρως) zum Lehrer als Grundlagen des Lernens. Vgl. hierzu z. B. Euseb, Historia Ecclesiastica VI 3,12–4,3. 30 Gregor, Panegyricus 9,124 (FC 24, 172–175 Guyot / Klein): οὐ πάνυ τι διδασκόντων αὐτὴν τῶν ἄλλων φιλοσόφων. Vgl. Euseb, Historia Ecclesiastica VI 3,7.13. 31 Siehe zur Auseinandersetzung mit paganen Philosophen z. B. auch Euseb, Historia Ecclesiastica VI 18,3; 19,11–14. Zu Origenes’ direkter Konfrontation mit jüdischen Gelehrten siehe Origenes, Contra Celsum I 45.55. 32 Siehe hierzu Thorsteinsson 2010, 15. 33 Siehe Gregor, Panegyricus 8,109–114; 11,133–13,150 (FC 24, 166–170. 176–184 Guyot / Klein).
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ein halbes Jahrhundert später davon, dass er, nachdem er schon gewisse Zeit unterrichtet hatte, vom alexandrinischen Bischof Demetrius zum „Vorsteher des διδασκαλεῖον τῆς κατηχήσεως“ gemacht wurde.34 Auf diese Bezeichnung der Schule ist später noch kurz einzugehen. Zunächst aber soll Origenes’ Einsetzung zum „Vorsteher“ der Schule beleuchtet werden. Hier scheint es, dass die Lehrstätte und ‑tätigkeit des Origenes gewissermaßen „kirchlich approbiert“ und damit in die Institution Kirche eingebunden wurde. Diese Einbindung erwies sich für Origenes zumindest mittelfristig als problematisch und sein Verhältnis zu Bischof Demetrius entwickelte sich durchaus krisenhaft. Origenes wurde zwar schließlich Teil der sich profilierenden kirchlichen Ämterhierarchie, er wurde zum Presbyter geweiht – aber eben nicht von Demetrius, sondern von den Bischöfen von Caesarea und Jerusalem (Historia Ecclesiastica VI 8,4 f.). Damit war das Zerwürfnis mit dem alexandrinischen Bischof besiegelt, woraufhin Origenes nach Caesarea übersiedelte. Seine ,Schule‘ in Alexandria sollte aber, ohne ihn, fortbestehen, und in der Folgezeit lässt sich dort tatsächlich so etwas wie eine Lehrersukzession ausmachen.35 Im Zuge dieser Entwicklung fällt zudem auf, dass die Nachfolger des Origenes in der Schulleitung häufig zu Bischöfen aufstiegen. So lässt sich in diesem Fall beobachten, wie der Institutionalisierungsgrad christlicher Bildung im Verbund mit der generellen kirchlichen Institutionalisierung steigt – und zugleich die Zeit der gegenüber der Institution Kirche weitgehend „freien Lehrer“ endet.36 Eine weitere Verschiebung gegenüber Justin, auf die zuletzt noch zu blicken ist, führt wieder zur Bezeichnung der Lehrstätte in Alexandria als „διδασκαλεῖον τῆς κατηχήσεως“. Ihre traditionelle Wiedergabe als „Katechetenschule“ ist insofern problematisch, als sie suggerieren kann, Origenes habe vorrangig zukünftige Katecheten, christliche Tauflehrer unterrichtet – und das entspricht nicht dem Quellenbefund. Die „κατήχησις“, von der hier die Rede ist, bezeichnet wohl schlicht den Unterricht des Origenes, dessen christlich-philosophischer Zuschnitt schon beleuchtet wurde und für den seine ,Schule‘ stand. So irreführend die Übersetzung als „Katechetenschule“ also sein kann, so interessant ist sie dennoch, weil sie auf das Phänomen des Katechumenats verweist, in dessen Rahmen 34 Euseb, Historia Ecclesiastica VI 3,2 f. (GCS Eus. II / 2, 524,10–15 Schwartz): ὧν πρῶτον ἐπισημαίνεται γεγονέναι Πλούταρχον, ὃς μετὰ τὸ βιῶναι καλῶς καὶ μαρτυρίῳ θείῳ κατεκοσμήθη, δεύτερον Ἡρακλᾶν, τοῦ Πλουτάρχου ἀδελφόν, ὃς δὴ καὶ αὐτὸς παρ’ αὐτῷ πλείστην βίου φιλοσόφου καὶ ἀσκήσεως ἀπόδειξιν παρασχών, τῆς Ἀλεξανδρέων μετὰ Δημήτριον ἐπισκοπῆς ἀξιοῦται. ἒτος δ’ ἦγεν ὀκτωκαιδέκατον καθ’ ὃ τοῦ τῆς κατηχήσεως προέστη διδασκαλείου. Euseb, Historia Ecclesiastica VI 3,8 (GCS Eus. II / 2, 526, 13–15 Schwartz): ἐπειδὴ δέ ἑώρα φοιτητὰς ἤδη πλείους προσιόντας, αὐτῷ μόνῳ τῆς τοῦ κατηχεῖν διατριβῆς ὑπὸ Δημητρίου τοῦ τῆς ἐκκλησίας προεστῶς ἐπιτετραμμένης. 35 Siehe hierzu und zum Folgenden Scholten 1995, 32–37. Für die Zeit von Pantänus bis Origenes wird eine solche Lehrersukzession durch Euseb, Historia Ecclesiastica VI 6 auch schon suggeriert, wobei die historische Korrektheit dieser Angaben zweifelhaft ist. 36 Siehe hierzu Fürst 2007, 49 f.
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Katecheten ja gehören und auf das bei Origenes nun tatsächlich Licht fällt: Das Schülerspektrum des Origenes war sehr weit, umfasste sowohl Männer als auch Frauen – übrigens wie bei Justin –, und, worauf hier nun der Fokus zu richten ist, sowohl Christen als auch Heiden. Denn unter den zu ihm kommenden Heiden scheint sein Unterricht durchaus auch der grundständigen christlichen Bildung gedient, auf die Konversion und die Taufe hingewirkt und somit gewissermaßen die Rolle des Taufunterrichts übernommen zu haben, wenn auch wohl auf überdurchschnittlich hohem Niveau: Euseb spricht in Historia Ecclesiastica VI 4,3 ausdrücklich von „Katechumenen“ in den Reihen von Origenes’ Schülern, also von Taufwilligen, welche den der Taufe vorausgehenden christlichen Unterricht erhielten – und übrigens für die christlichen Lehren gleich voller Überzeugung mit ihrem Leben einstanden und das Martyrium erlitten. Genau diese Nützlichkeit des Origenes für den kirchlichen Katechumenat mag Bischof Demetrius mit im Blick gehabt haben, als er Origenes offiziell zum „Vorsteher“ des διδασκαλεῖον machte.37 Damit wandelte dessen Lehrstätte sich aber wohl nicht in eine reine „Katechumenenschule“. Origenes dürfte die schon vorfindliche Ausrichtung der Schule und ihre geistige Weite beibehalten haben, nun eben mit einem ausdrücklichen kirchlichen Auftrag. Und so begegnet uns an seiner ,Schule‘ in Alexandria das bemerkenswerte Phänomen, dass die beiden Institutionalisierungen christlicher Bildung, die hier speziell beleuchtet werden, ineinandergreifen: christliche ,Philosophenschule‘ und Katechumenat in Symbiose.
2. … zum kirchlichen Katechumenat So bemerkenswert die Schule des Origenes in Caesarea als Synthese zweier Bildungswelten war – die Wege der christlichen Philosophie und des kirchlichen Katechumenats strebten bald auseinander. Schon in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts, als sich das Christentum vier Jahrzehnte lang weitgehend unbehelligt entwickeln konnte, und erst recht nach dem Ende der Christenverfolgungen und dem Beginn der Förderung der christlichen Kirche durch Kaiser Konstantin und seine Nachfolger traten Institutionalisierungsprozesse anderer Art in den Vordergrund: Angesichts heftiger innerchristlicher Auseinandersetzungen über die orthodoxe Lehre zogen die Bischöfe das theologische Grundsatzreferat an sich,38 freie Lehrer wie Origenes, deren Lehrpraxis nur schwer zu kontrollieren war, traten in den Hintergrund und die Unterweisung von Taufwilligen und am Christentum Interessierten gewann festere Struktur. Beide Entwicklungen, die zunehmende Dominanz von Bischöfen im theologischen Diskurs und die Formalisierung der Katechese, waren vielschichtige Prozesse. diesen Hintergrund könnte Euseb, Historia Ecclesiastica VI 3,1–3.8 verweisen. diesen Transformationen christlicher Theologie in der Spätantike vgl. Lössl 2016.
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Mit ihnen einher ging eine breite Diskussion über die Frage, ob ein christlicher Bischof nach den Standards der „heidnischen“ Schule gebildet sein durfte und, wenn er das war, wie man die paganen religiösen Gehalte dieser Bildung neutralisieren oder sogar gewinnbringend einsetzen konnte.39 Die Ambivalenz, dass das entscheidende Kriterium für einen Redner die Wahrheit seiner Rede sei, es aber keinesfalls gleichgültig sei, wie diese Wahrheit zur Sprache gebracht werde, brachte Augustin in De doctrina christiana prägnant zum Ausdruck: Aber da die einen es abgestumpft, formlos und kalt tun, die anderen aber scharfsinnig, ausgeschmückt und leidenschaftlich, ist es schon nötig, dass derjenige sich der hier behandelten Aufgabe stellt, der weise erörtern oder sprechen kann, auch wenn er es nicht beredsam vermag, so dass er den Zuhörern nützt, wenngleich weniger, als er nützen würde, wenn er beredsam sprechen könnte. Vor dem aber, der vor unverständiger Beredsamkeit überströmt, muss man sich umso mehr hüten, je mehr der Zuhörer von ihm in dem, was er hört, erfreut wird und, weil er ja hört, dass er beredt spricht, glaubt, dass er auch wahrhaft spricht. Dieser Sachverhalt entging aber auch jenen nicht, die glaubten, dass die rhetorische Kunst lehrbar sei. Sie gestanden nämlich ein, „daß Weisheit ohne Beredsamkeit den Bürgerschaften wenig nütze, dass aber Beredsamkeit ohne Weisheit meistens allzusehr schade und niemals nütze.“40
Die rhetorischen Qualitäten christlicher Bischöfe waren durchaus unterschiedlich, aber es leidet keinen Zweifel, dass dem eingangs zitierten Lehr‑ und Taufbefehl Jesu grundsätzlich mit großem Eifer entsprochen wurde, in den Metropolen des Imperium Romanum ebenso wie nach und nach auch auf dem Land. Freilich ging die Entwicklung der katechetischen Unterweisung nicht an allen Orten in gleicher Form vonstatten. So erfolgte, um einige Beispiele zu nennen,41 die Unterweisung der Taufbewerber in Jerusalem und Mailand durch Bischöfe wie Kyrill bzw. Ambrosius, in Antiochien dagegen durch den Presbyter Johannes Chrysostomus. Und während in Jerusalem und Mailand in der vorösterlichen Fastenzeit eine Einführung in das Glaubensbekenntnis und die christliche Ethik stattfand, nach der an Ostern vollzogenen Taufe hingegen eine Initiation in die Sakramente – in sogenannten „mystagogischen Katechesen“ –, richteten sich die Katechesen, die aus Antiochien, Mopsuestia und Hippo erhalten sind, 39 Dies
349.
wird im Blick auf Bischöfe und Kleriker untersucht in Gemeinhardt 2007, bes. 307–
40 Augustin, De doctrina christiana IV 5,7 (CChr.SL 32, 120,1–12 Martin): Sed cum alii facent obtunse, deformiter, frigide, alii acute, ornate, uehementer, illum ad hoc opus, unde agimus, iam oportet accedere, qui potest disputare uel dicere sapienter, etiamsi non potest eloquenter, ut prosit audientibus, etiamsi minus quam prodesset, si et eloquenter posset dicere. Qui uero affluit insipienti eloquentia, tanto magis cauendus est, quanto magis ab eo in his, quae audire inutile est, delectatur auditor et eum, quoniam diserte dicere audit, etiam uere dicere existimat. Haec autem sententia nec illos fugit, qui artem rhetoricam docendam putarunt; fassi sunt enim „sapientiam sine eloquentiam parum prodesse ciuitatibus, eloquentiam uero sine sapientia nimium obesse plerumque, prodesse numquam“ (Cicero, De inventione I 1,1). Übers.: Augustinus, Die christliche Bildung (De doctrina Christiana), übers. von Karla Pollmann, Stuttgart 2002, 153 f. 41 Vgl. den materialreichen Überblick bei Metzger u. a. 2004, daneben auch Gavrilyuk 2007.
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offenbar an alle Christen, d. h. an frisch Getaufte, an langjährige Praktiker der christlichen Lebensweise, aber auch an Menschen, die noch unentschieden waren, ob sie wirklich dazugehören wollten, und die Taufe erst einmal auf die lange Bank schoben. Aus Alexandrien, wo wir durch Origenes über das 3. Jahrhundert überdurchschnittlich gut informiert sind, hören wir dagegen aus dem Folgejahrhundert gar nichts von einer geregelten Taufunterweisung; die dortige kirchliche „Schule“ (διδασκαλεῖον), für die Euseb von Caesarea42 und später Philipp von Side43 sogar eine regelrechte Diadoche von Lehrern postulierten, ist schon für das 3. Jahrhundert schwer zu greifen und verschwindet später ganz aus den Quellen. Völlig unklar ist das Verhältnis des Bischofs Athanasius, der dominierenden Gestalt der alexandrinischen Kirche im 4. Jahrhundert, zu dem freischaffenden Exegeten und Lehrer Didymus („dem Blinden“). Es ist schwer vorstellbar, dass es in Alexandrien keine Unterweisung von Katechumenen gab, aber von einer ‚Schule‘ ist jedenfalls bei Athanasius und seinen Nachfolgern nirgends die Rede.44 Die Beispiele ließen sich vermehren; sie machen deutlich, dass einerseits die Institutionalisierung religiöser Bildung im Christentum in der Spätantike einen erheblichen Schub erfuhr, dass uns andererseits die Zeitgenossen aber nur hier und da Einblicke gewähren, was konkret geschah. Aufgrund dieser unbefriedigenden Quellenlage schaut man oft nach Jerusalem, wo im Jahr 351 n. Chr. Bischof Kyrill die erste, zugleich aber auch umfangreichste und informativste Reihe von Taufkatechesen hielt, die uns überliefert ist.45 Dabei wird deutlich, dass mit „Katechumenat“ nicht nur die unmittelbare Taufvorbereitung in der Fastenzeit (diese ist das „Photizomenat“), sondern die ständige Unterweisung aller Anwesenden im Gottesdienst gemeint ist: Auch die schon Getauften sollten, wie eingangs erwähnt, „alles halten, was ich euch befohlen habe.“ Das heißt für Kyrill: Sie sollen der aus freiem Willensentschluss getroffenen Entscheidung eingedenk sein, die sie zur Taufe veranlasst hat, und entsprechend leben: Wir, die wir derart mahnen und lehren, sind Menschen […] An mir liegt es, zu reden, an dir, dir den rechten Vorsatz zu geben, an Gott, (das alles) zu vollenden.46 Historia ecclesiastica VI 3,3; 6 (GCS Eus. II / 2, 524,14 f.; 534,1–3 Schwartz). Diskussion über die historische Aussagekraft des entsprechenden Fragments aus der Universalgeschichte des Philipp von Side vgl. Le Boulluec 2006, 45 f. und Fürst 2007, 34 f. 44 Der Begriff διδασκαλεῖον begegnet in Athanasius’ Werk nur einmal, und hier mit Bezug auf Gesetz und Propheten als „Schule für die Welt“, die diese auf die Gotteserkenntnis vorbereitet hätten; vgl. Athanasius, De incarnatione Verbi 12,5 (SC 199, 308,24–310,29 Kannengiesser): πάσης δὲ τῆς οἰκουμένης ἦσαν διδασκάλιον ἱερὸν τῆς περὶ θεοῦ γνώσεως, καὶ τῆς κατὰ ψυχὴν πολιτείας. διδασκαλεῖον wird als varia lectio – allerdings aus der ältesten Handschrift (Ms. Florenz, Bib. Laurentiana IV 23, saec. X) – aufgeführt. 45 Zum Folgenden vgl. Lorgeoux 2018. 46 Kyrill von Jerusalem, Procatechesis 17 (24 Reischl / Rupp): Ἡμεῖς μὲν ταῦτα, ὡς ἄνθρωποι, καὶ παραγγέλλομεν καὶ διδάσκομεν […] Ἐν ἐμοὶ μὲν γάρ ἐστι τὸ εἰπεῖν, ἐν σοὶ δὲ τὸ προθέσθαι, ἐν Θεῷ δὲ τὸ τελειῶσαι. 42 Euseb, 43 Zur
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Im Katechumenat ist also eine Dreiecksbeziehung am Werke: Religiöse Bildung wird von Mensch zu Mensch vermittelt, erfordert aber auch die aktive Mitwirkung des zur Konversion Willigen, dessen selbst angenommener Vorsatz (πρόθεσις) bzw. bereits getroffene Entscheidung (προαίρεσις) von Gott zum guten Ende gebracht wird. Das macht die Aufgabe des Katecheten durchaus nicht leichter, denn er muss den Hörenden ja Grund und Gehalt des Glaubens nahebringen; es relativiert sie aber in heilvoller Weise, denn das Gelingen der Katechese liegt eben nicht nur an ihrer professionellen Durchführung. Einer solchen triangulären Grundkonstellation entspricht, dass es auf verschiedenen Ebenen Dinge zu lernen gibt. Der Katechet lehrt zunächst Verhaltensweisen, an denen man den Christen erkennt: So hoffte Johannes Chrysostomus, die schon Getauften in Antiochien würden ein quasi asketisches Leben führen, das auf die verbliebenen „Heiden“ attraktiv wirken und diese zur Konversion motivieren würde.47 Die Reaktion war freilich eher reserviert: Das ist es, was viele Menschen mir entgegnen, wenn ich sie dazu ermahne, sich um tugendhaftes Leben oder Schriftstudium zu bemühen: „Das ist nicht mein Ding“, heißt es, „oder habe ich etwa der Welt entsagt? Bin ich etwa ein Mönch?“48
Zum anderen bemühten sich die Katecheten um Vermittlung und Einschärfung des basalen Glaubenswissens, anhand des jeweils vor Ort üblichen Glaubensbekenntnisses oder, nachdem sich das Credo der Synode von Nizäa (325) als einheitlicher Standard in der „Reichskirche“ durchgesetzt hatte, am Leitfaden dieses Textes, der zur Orientierung der Christen und zur Abgrenzung gegen Häretiker dienen konnte, so bei Theodor von Mopsuestia: Ihr aber, die ihr schon seit geraumer Zeit der Welt entsagt und euch guten Willens der Religion genaht und euch mit viel Eifer und gutem Gewissen auf den Empfang der göttlichen Geheimnisse vorbereitet habt – zu einer Zeit freilich voller Furcht –, ihr braucht gedrängte Worte, die sich wegen ihrer Kürze dem Gedächtnis leicht einprägen, so dass ihr das Bekenntnis, das ihr abgelegt habt, fest im Gedächtnis behaltet. Notwendigerweise wird die Lehre dargeboten, damit ihr sie genau begreift und euch vor den Reden der Feinde der Religion in Acht nehmt.49
Christen sollen also nicht nur mit dem charakteristischen Lebensstil dieser Religion vertraut sein, sondern auch mit deren ‚idée directrice‘, die sowohl von 47 Vgl.
Johannes Chrysostomus, Homiliae in Matthaeum 43,5 (PG 57, 464).
48 Johannes Chrysostomus, Homiliae in Genesim 21,6 (PG 53, 183): Ταῦτα τοῖς πλείοσιν ἔθος
λέγειν, ἐπειδὰν αὐτοὺς παρακαλῶμεν εἰς τοὺς ὑπὲρ τῆς ἀρετῆς πόνους, ἢ περὶ τὴν τῶν Γραφῶν ἀνάγνωσιν πολλὴν ποιεῖσθαι τὴν σπουδήν. Οὐκ ἔστιν ἐμὸν τοῦτο, φησί· μὴ γὰρ ἀπεταξάμην; μὴ γὰρ μοναχός εἰμι; Zu Chrysostomus’ Umgang mit seiner Gemeinde in Antiochien vgl. Maxwell 2006, 129–133; zu seinem pädagogischen Programm und der Triangulation der katechetischen Situation vgl. Rylaarsdam 2014. 49 Theodor von Mopsuestia, Homiliae catecheticae 1,13 (FC 17/1, 84 f. Bruns). Die katechetischen Homilien Theodors wurden in griechischer Sprache gehalten, sind aber nur in Syrisch überliefert.
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Irrlehrern intra muros als auch von paganen Kritikern angegriffen wird. Die kritische und konstruktive Auseinandersetzung mit anderen Glaubens‑ und Denkweisen, die Origenes in seiner Schule unternahm, war im kirchlichen Katechumenat nicht vorgesehen, vielleicht auch gar nicht möglich. Die Grenzen zwischen Christlichem und Nichtchristlichem wurden nun jedenfalls sehr viel deutlicher markiert als noch im 3. Jahrhundert, und auch das gehört zur Institutionalisierung im spätantiken Christentum: Man wusste, wer man war und was man nicht war. Ob das auch die einzelnen Christen so sahen, steht auf einem anderen Blatt; die Katecheten hatten vielfach ihre liebe Not mit der Freiheit der Christenmenschen in Bezug auf den Glauben und dessen Praxis.50 Dass zu einem institutionalisierten Katechumenat Lehrende und Lernende gehören, ist im Grunde nicht erstaunlich. Signifikant ist aber, dass von einer Dreiecksbeziehung auszugehen ist, zu der auch Gott bzw. Christus als erschaffender und lehrender Logos gehörte – und d. h. als menschgewordener göttlicher Lehrer. Christus als der eigentliche Lehrer ist wohl am ehesten als augustinische Gedankenfigur bekannt, tatsächlich aber im spätantiken Christentum eine weit verbreitete Vorstellung: Schon Kyrill von Jerusalem machte auf seine Weise deutlich, dass das Lehren des Glaubens zwar nicht ohne menschlichen Lehrer, aber eben auch nicht allein durch ihn erfolgte. Kyrill erklärte, er selbst lehre den „dogmatischen Glauben“, also den intellektuell erfassbaren Inhalt, während es Christus vorbehalten bleibe, Glauben im Sinne eines existentiellen Vertrauens zu schenken – beides sei aber ein Lernvorgang, von unterschiedlichen Lehrern initiiert.51 Johannes Chrysostomus berief sich für die Rolle Christi als Lehrer auf Mt 23,8, wonach die Jünger sich nicht selbst „Rabbi“ nennen lassen sollten, denn „einen Lehrer habt ihr, ihr selbst seid aber alle Brüder.“52 Dieser Lehrer ist Christus, der Mensch gewordene Gott, der bereits durch die Theophanien des Alten Testaments lehrte,53 und diese Lehrtätigkeit setzte er in der Zeit der Kirche durch sein Bodenpersonal fort. Der Bezug auf die Matthäusstelle sollte keinesfalls menschliches Lehren verhindern, sondern vielmehr den dafür Verantwort50 Hierzu
vgl. Gemeinhardt 2014, 47–69 und 259–287. Kyrill von Jerusalem, Catecheses baptismales 5,10 (146 Reischl / Rupp: Ἔστι μὲν γὰρ ἓν εἶδος τῆς πίστεως, τὸ δογματικὸν, συγκατάθεσιν ψυχῆς ἔχον περὶ τοῦδέ τινος); 5,11 (ebd.: Δεύτερον δέ ἐστιν εἶδος πίστεως, τὸ ἐν χάριτος μέρει παρὰ τοῦ Χριστοῦ δωρούμενον); 5,12 (aaO. 148): Πίστιν δὲ ἐν μαθήσει καὶ ἀπαγγελίᾳ κτῆσαι καὶ τήρησον μόνην). Hierzu vgl. jetzt Gemeinhardt 2017 b. 52 Johannes Chrysostomus, Homiliae in Matthaeum 72,3 (PG 58, 670): Τὰ μὲν οὖν ἄλλα μέχρι τῆς ἐκείνων κατηγορίας ἔστησεν, ὡς μικρὰ καὶ εὐτελῆ, καὶ μὴ δεομένων τῶν μαθητῶν καὶ ὑπὲρ τούτων διορθωθῆναι· ὃ δὲ πάντων αἴτιον ἦν τῶν κακῶν, ἡ φιλαρχία, καὶ τὸ τὸν θρόνον ἁρπάζειν τὸν διδασκαλικὸν, τοῦτο εἰς μέσον ἀγαγὼν διορθοῦται σπουδαίως, ὑπὲρ τούτου σφόδρα καὶ αὐτοῖς εὐτόνως ἐπισκήπτων. Τί γάρ φησιν; „Ὑμεῖς δὲ μὴ κληθῆτε Ῥαββί.“ Εἶτα καὶ ἡ αἰτία· „Εἷς γὰρ ὑμῶν ἐστιν ὁ Διδάσκαλος· πάντες δὲ ὑμεῖς ἀδελφοί ἐστε“· καὶ οὐδὲν ἕτερος ἑτέρου πλέον ἔχει, κατὰ τὸ μηδὲν εἰδέναι παρ’ ἑαυτοῦ. 53 Johannes Chrysostomus, Homiliae in Genesim 28.42 (PG 53.254 f.387); Homiliae in Johannem 75 (PG 59, 407 f.). 51
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lichen die nötige Demut einschärfen. Entsprechend erklärte eine Generation später Theodor von Mopsuestia: Er (sc. Christus) erwählte sich Jünger und befestigte die Lehre des Gesetzes und die neue Lehre, zeigte an seiner Lehre den entsprechenden Lebenswandel auf, der von der Lehre des Gesetzes verschieden ist, und lehrte, dass auch bei uns Gläubigen die Sitten mit jenen (sc. Lehren) übereinstimmen mussten.54
Mit dem Gedanken von Christus als Lehrer griffen spätantike Theologen die Rede vom göttlichen „Paidagogos“ auf, als den schon Clemens von Alexandrien im späten 2. Jahrhundert „den heiligen Gott Jesus, den die ganze Menschheit leitenden Logos“ identifiziert hatte.55 Am prononciertesten findet sich dieses Konzept in der Spätantike, wie erwähnt, bei Augustin. In seiner Predigt De disciplina christiana erklärte er Christi Lehrtätigkeit in ihrem Verhältnis zu menschlichen – apostolischen wie episkopalen – Beteiligten wie folgt: Wer ist nämlich der Lehrer, der lehrt? Nicht irgendein Mensch, sondern der Apostel. Ja, offensichtlich ist es der Apostel – und dennoch nicht der Apostel. Der Apostel sagt: „Wollt ihr den Beweis haben, daß Christus in mir redet?“ (2 Kor 13,3). Christus ist es, der lehrt. Seine Lehrkanzel hat er im Himmel, wie ich es eben zuvor sagte. Seine Schule ist auf Erden, und seine Schule ist sein Leib. Das Haupt lehrt seine Glieder, die Zunge spricht zu seinen Füßen. Christus ist es, der lehrt.56
Das heißt freilich nicht, dass solche Lehre unmittelbar, direkt von oben, erfolgte, im Gegenteil: Christus lehrt durch den Apostel und dessen Nachfolger, also auch durch den amtierenden Bischof von Hippo. Wie man dabei vorgeht, wenn ein Lernwilliger bei einem Katecheten auftaucht, dafür hat uns Augustin mit seiner Schrift De catechizandis rudibus ein praxisorientiertes Handbüchlein hinterlassen (das in der Religionspädagogik der Neuzeit und Moderne immer wieder Aufmerksamkeit gefunden hat);57 und wie katechetische Unterweisung praktisch funktionieren konnte, davon legen Augustins Predigten ein vielstimmiges Zeugnis ab.58 Das kann und muss hier nicht im Detail verfolgt werden. Festgehalten sei aber, dass es angesichts der Institutionalisierung des Katechumenats im Blick auf menschliche Akteure, Inhalte, Zeiten und Orte (einschließlich der konkreten organisatorischen Ausgestaltung) überaus bemerkenswert ist, dass sich LehrLernvorgänge nicht auf das Eintrichtern von Wissensbeständen und Handlungsvon Mopsuestia, Homiliae catecheticae 6,11 (FC 17/1, 164 Bruns). von Alexandrien, Paedagogus I 7,55,2 (GCS Clem. I, 123,5 f. Stählin / Treu): ὁ δὲ ἡμέτερος παιδαγωγὸς ἅγιος θεὸς Ἰησοῦς, ὁ πασῆς τῆς ἀνθρωπότητος καθηγεμὼν λόγος. 56 Augustin, De disciplina christiana 15 (CChr.SL 46, 223,379–384 vander Plaetse): quis est enim magister qui docet? non qualiscumque homo, sed apostolus. plane apostolus, et tamen non apostolus. an uultis, inquit, experimentum eius accipere, qui in me loquitur Christus? Christus est qui docet; cathedram in caelo habet, ut paulo ante dixi. schola ipsius in terra est, et schola ipsius corpus ipsius est. caput docet membra sua, lingua loquitur pedibus suis. Christus est qui docet. 57 Zur Wirkungsgeschichte vgl. Reil 1989, 57–100 sowie jetzt auch Gemeinhardt 2018. 58 Hierzu ausführlich Harmless 2014. 54 Theodor
55 Clemens
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maximen beschränkten, sondern die Mitwirkung des individuellen Menschen an seiner religiösen Bildung voraussetzten und darüber hinaus Gott bzw. Christus als Akteur einbezogen – als bewusste Limitierung der menschlichen Möglichkeiten bei der Vermittlung des Glaubens als Inhalt und als Haltung. Was das in der Praxis hieß, wäre genauere Blicke in einzelne pädagogische und katechetische Settings an konkreten Orten wert – denn bei allem Wissen um die beschriebene trianguläre Konstellation war es gewiss nicht das Ziel der Bischöfe, sich selbst als Lehrer überflüssig zu machen. Wenn Athanasius den Wüstenvater Antonius als „von Gott gelehrt“ (θεοδίδακτος) bezeichnete,59 galt das zweifellos nicht in gleicher Weise für die Durchschnittschristen in Alexandrien. Zugleich lag hier, im entstehenden Mönchtum, ein nachhaltiger Konfliktherd: Dass der Wüstenvater Apollo „durch seine Lehre und seinen Lebenswandel eine Menge Menschen dazu brachte, der Welt völlig abzusagen“60, stand in Konkurrenz zum bischöflichen Katechumenat, der die Menschen in die Kirche holen, nicht in die Wüste treiben sollte. Dass man durch institutionalisierte Bildung Menschen zu Gott zu bringen hoffte, sahen Mönche durchaus kritisch und pflegten deshalb andere, spontanere Formen der Unterweisung, von denen die Sammlungen der „Wüstenvätersprüche“ (Apophthegmata Patrum), aber auch zahlreiche Lebensbeschreibungen von Mönchen berichten.61 Man könnte solche Viten sogar als „Bildungsbiographien“ bezeichnen – freilich nicht im Sinne des Erwerbs schulischer oder kultureller, sondern biblischer und geistlicher Bildung. So leitete Theodoret von Kyros seine Historia religiosa, eine Sammlung von hagiographischen Miniaturen über syrische Asketen des späten 4. und frühen 5. Jahrhunderts, programmatisch wie folgt ein: Wir verfassen einen Lebensbericht als Lehrmeister der Philosophie, die eifrig nach dem Lebenswandel im Himmel strebt.62
Eine solche eremitische „Philosophie“ war einerseits vorbildlich, andererseits gefährlich, denn die Mönche entzogen sich der bischöflichen Aufsicht über Theologie und Lehre. Wie es scheint, lebte in dieser Form die Institution der freien Lehrer in der Spätantike weiter. Anders gesagt: Der Katechumenat, der von Bischöfen durchgeführt oder beaufsichtigt wurde, war und blieb nicht der einzige Ort der Vermittlung christlicher Bildung in der Spätantike, und es ist neben dem entstehenden Mönchtum auch auf die Familie als Ort der christlichen
59 Athanasius,
Vita Antonii 66,2 (SC 400, 308,4 f. Bartelink).
60 Historia monachorum in Aegypto 8,18 (SHG 53, 53,122–54,127 Festugière): διὰ τῆς διδαχῆς
αὐτοῦ καὶ τῆς ἀναστροφῆς πλείστων παντελῶς ἀποταξαμένων τῷ κόσμῳ. 61 Dazu vgl. Rubenson / Larsen 2018. 62 Theodoret, Historia religiosa prol. 3 (SC 234, 130,16 f. Canivet / Leroy-Molinghen): Ἡμεῖς δὲ βίον μὲν συγγράφομεν φιλοσοφίας διδάσκαλον καὶ τὴν ἐν οὐρανοῖς πολιτείαν ἐζηλωκότα.
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Erziehung und der Lehraktivität von Frauen hinzuweisen. Das ist aber eine andere Geschichte, die im vorliegenden Band an anderer Stelle erzählt wird.63 Insgesamt lässt sich die Institutionalisierung des Katechumenats in der spätantiken Kirche als beständiger Prozess beschreiben, der freilich seit dem 6. Jahrhundert – im Zeichen der Erosion des westlichen Imperium Romanum und der vollendeten Dominanz des Christentums im byzantinischen Reich – neue Wendungen nahm, die hier nicht mehr behandelt werden können. Gegenüber der vorkonstantinischen Zeit hatte sich schon im 4. und 5. Jahrhundert manches verändert: Einen philosophischen Schulbetrieb wie bei Justin und Origenes gab es in der Spätantike nur vereinzelt, eine theologische Diadoche hingegen schon, zumal die „Väter“ sukzessive als autoritative Instanz Bedeutung gewannen. Dass aber Christen und Christinnen recht glauben und ihren Glauben im Handeln zeigen sollten – das verbindet die spätere mit der früheren Zeit.
3. Schluss Vom philosophischen Schulbetrieb zum kirchlichen Katechumenat – unseren Titel kann man unterschiedlich lesen. Man kann das „von – zu“ vorrangig chronologisch bzw. diachron verstehen: von der Philosophenschule bei Justin zum Katechumenat bei Kyrill von Jerusalem. Man kann ihn aber auch eher synchron lesen, also in der Art, dass er auf einer Zeitebene die Spannbreite spätantiker Bildung zum Ausdruck bringt: von der Elitenbildung an Philosophenschulen zur christlichen Allgemeinbildung im Katechumenat. Rückblickend auf unseren zweiteiligen Durchgang durch die Institutionalisierungen religiöser Bildung im spätantiken Christentum bis zum 5. Jahrhundert ist zu konstatieren: Das „von – zu“ umfasst sowohl die diachrone als auch die synchrone Perspektive. Sicher sind wir eine historische Entwicklung abgeschritten, von den ersten ,Zwergschulen‘ nach Art von Philosophenschulen über die Herausbildung und Profilierung des Katechumenats bis hin zur Ausdifferenzierung verschiedener Typen innerhalb des Katechumenats. Während die Zeit der „freien Lehrer“ endet, erlebt der Katechumenat eine vielfältige Ausgestaltung. Zugleich wird in diesen Entwicklungen aber durch die Zeiten hindurch die Spannbreite christlicher Bildung sichtbar. Gerade christliche Philosophen wie Justin betonen: Jesus Christus und seiner Lehre hätten „nicht allein Philosophen und Gelehrte geglaubt, sondern auch Handwerker und ganz gewöhnliche Leute.“64 Die Lehren der Christen „kann man“ laut Justin sogar „bei uns hören und lernen von solchen, die nicht einmal die Züge der Buchstaben kennen, von einfältigen und 63 Vgl. hierzu den Beitrag von Irene Salvo und Maria Munkholt Christensen in diesem Band (S. 177–200). 64 Justin, 2 Apologia 10,8 (312,6 f. Minns / Parvis): οὐ φιλόσοφοι οὐδὲ φιλόλογοι μόνον ἐπείσθησαν, ἀλλὰ καὶ χειροτέχναι καὶ παντελῶς ἰδῶται.
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in ihrer Sprache rohen Menschen, die aber einen verständigen und guten Sinn haben.“65 Und die Schüler Justins verweisen darauf, das Christsein im Elternhaus gelernt zu haben. Auf der anderen Seite waren im Katechumenat gerade in der Lehre natürlich auch christliche Intellektuelle engagiert, sei es nun ein Origenes oder ein Augustinus. Wenn Augustin sein Büchlein zur Unterrichtung der Neulinge im christlichen Glauben „De catechizandibus rudibus“ bezeichnet, mag auch ein gewisser Dünkel des großen lateinischen Kirchenvaters gegenüber den „rohen“ Debütanten durchscheinen. Schließlich wurde gerade im Mönchtum, das sich selbst gerne gegenüber der klassischen Bildung der gesellschaftlichen Eliten abgrenzte und ihr das Leitbild des allein von Gott gelehrten Analphabeten, des „Theodidakten“ entgegenstellte, wiederum ein anderes, nicht minder elitäres Bildungsideal geprägt – das dann sogar als die „wahre Philosophie“ verstanden werden konnte. Bei aller z. T. rasanter Entwicklung gesellschaftlicher und kirchlicher Strukturen erweist sich damit die Kombination von elementarer und spezialisierter christlicher Bildung – die freilich je unterschiedlich konzipiert wurden und nicht immer friedlich koexistierten – als Konstante, ebenso wie die erhebliche Lern‑ und Anpassungsfähigkeit gerade der Lehrenden in den sich wandelnden Rahmenbedingungen. Dabei mögen in der Tat die eingangs zitierten Worte Jesu nach Mt 28,19 durchscheinen: „… gehet hin und lehrt alle Völker …“. Auf sie sei hier abschließend noch kurz der Blick gerichtet. Wie eingangs erwähnt, wurde der griechische Terminus „μαθητεύσατε“ in der vielen noch mehr als geläufigen Ausgabe der Lutherbibel von 1984 wiedergegeben als „machet zu Jüngern“. Wer bei „Jüngern“ an einen esoterischen Kreis um einen Guru denkt, kann sich sicher auf ein heute naheliegendes Verständnis dieses deutschen Begriffs berufen. Doch verdeckt diese Konnotation den zentralen Aussagegehalt des Verbs „μαθετεύειν“: Ein „μαθητής“ ist ein Schüler. Jesus, der selbst in den kanonischen Evangelien mit Vorliebe als „Lehrer“ charakterisiert wird,66 fordert also seinerseits dazu auf, alle Völker zu Schülern zu machen, zu unterrichten. Damit ist natürlich auf der einen Seite der christliche Lehrer gefordert, und diese Lehrer entwickelten, wie wir schon bei den christlichen Philosophen sehen konnten, ein ausgeprägtes Standesbewusstsein. Auf der anderen Seite sollen diese Lehrer aber eben nicht nur ihre gebildeten Standesgenossen lehren, sondern „alle Völker“. Damit ist das Ineinander von allgemeiner und weiterführender Bildung angelegt, das sich auch in den Institutionalisierungen christlicher Bildung niederschlagen sollte: eben vom philosophischen Schulbetrieb zum kirchlichen Katechumenat und darüber hinaus, bis zum Mönchtum oder, später dann, im Mittelalter, zur Universität. 65 Justin, 1 Apologia 60,11 (236,2–5 Minns / Parvis): παρ’ ἡμῖν οὖν ἐστι ταῦτα ἀκοῦσαι καὶ μαθεῖν παρὰ τῶν οὐδὲ τούς χαρακτῆρας τῶν στοιχείων ἐπισταμένων, ἰδιωτῶν μὲν καὶ βαρβάρων τὸ φθέγμα, σοφῶν δὲ καὶ πιστῶν τὸν νοῦν ὄντων [καὶ πηρῶν καὶ χήρων τινῶν τὰς ὄψεις]. 66 Vgl. Feldmeier 2015, 37–55.
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Sicher sollte dieses Ineinander durch die Zeiten mal besser, mal schlechter funktionieren und sich bisweilen harmonischer, bisweilen spannungsgeladener darstellen. Grundsätzlich prägt dieses Ineinander christliche Bildung aber bis heute.
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Die Familie als Ort der religiösen Bildung Das antike Athen und das spätantike Christentum Maria Munkholt Christensen / Irene Salvo* 1. Einleitung: Eine religionswissenschaftliche komparatistische Perspektive Antike griechische Philosophie und Religion und frühes Christentum wurden bereits mehrfach in einen Dialog gebracht. Hier fokussieren wir uns auf die Familie als Ort der religiösen Bildung in den beiden Kulturen bzw. Traditionen, ohne dabei eine abschließende Untersuchung darüber bieten zu wollen.1 Nach einem kurzen Einblick in die Methodik der vergleichenden Religionswissenschaft und einem Definitionsvorschlag des Begriffes ‚Familie‘, der sich auf die griechische und christliche Antike bezieht, werden wir die Rolle von Vätern und Müttern als religiösen Vermittlern vorstellen. Abschließend werden wir unsere Ergebnisse vergleichen. Bevor wir die Rolle von Familienmitgliedern als religiösen Lehrern und Lehrerinnen im klassischen Athen, das heißt im 5. und 4. Jh. v. Chr., und dann im spätantiken Christentum, das heißt ungefähr zwischen dem 3. und 8. Jh. n. Chr.2 – * Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekte C 01: „Aufgeklärte Männer – abergläubische Frauen? Religion, Bildung und Geschlechterstereotypen im klassischen Athen“ und C 04: „Vermittler von Bildung im spätantiken Christentum: Lehrerrollen in Gemeinde, Familie und asketischer Gemeinschaft“. Maria Munkholt Christensen ist verantwortlich für die Paragraphen 1.2, 2.2, 3.2, Irene Salvo für die Paragraphen 1., 1.1, 2., 2.1, 3., 3.1., beide zusammen für Paragraph 4. Falls nicht anders angegeben, sind die Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen unsere eigenen. Wir danken Elisabetta Abate, Christoph Birkner, Peter Gemeinhardt, Karin Gottschalk, Tanja Scheer und Ilinca Tanaseanu-Döbler für Hinweise auf Fehler und für Vorschläge zu einer klareren Darstellung. Verantwortlich für verbleibende Fehler und Unklarheiten sind nur die Verfasserinnen selbst. 1 Wir beide werden dieses Thema in unseren zukünftigen Publikationen aus dem Sonderforschungsbereich 1136 weiter erforschen. 2 Wie die Spätantike genau chronologisch definiert werden soll, wird in der Forschung debattiert. Schon mit Brown 1978 wurde die Spätantike als die Periode von 250–800 definiert. Für einen Überblick verschiedener Meinungen zur Abgrenzung der Periode siehe Inglebert 2012, 3–28. Zur Differenz und Kohärenz der Epoche siehe z. B. Gemeinhardt 2016.
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hier aber mit Fokus auf das 4. Jh. n. Chr. – untersuchen, lohnt es sich zu fragen, inwiefern wir in einem gemeinsamen Beitrag zwei in Bezug auf Chronologie und Eigenschaften so unterschiedliche Kulturen diskutieren können. Was tun wir, wenn wir zwei verschiedene Religionen und zwei verschiedene historische Kontexte vergleichen? Welcher wissenschaftlichen Methode folgen wir? Vergleichbare intellektuelle Versuche haben eine lange Geschichte innerhalb der Disziplin der vergleichenden Religionsforschung. Es gibt mehrere Möglichkeiten, um Kulturen zu vergleichen und die Ergebnisse zu interpretieren. Man kann die gemeinsamen kulturellen Grundzüge der verschiedenen Gesellschaften identifizieren oder die Singularitäten jeder Kultur unterstreichen und betonen. Außerdem kann aus historischer Perspektive versucht werden, vertieftes Wissen über eine bestimmte Zivilisation durch eine sozialanthropologische Analyse zu erarbeiten.3 Seit den 1980er Jahren versucht eine neue Disziplin – die kognitive Religionswissenschaft – die Ähnlichkeiten zwischen religiösen Phänomenen verschiedener Kulturen zu erklären, indem sie die zugrundeliegenden kognitiven Mechanismen der Religionen hervorhebt und untersucht, wie die Physiologie und Psychologie des menschlichen Gehirns diese Mechanismen beeinflussen.4 Dieser Beitrag versucht, sowohl universale als auch historische Eigenschaften zu berücksichtigen. Wir untersuchen zwei unterschiedliche Traditionen, das klassische Athen und das frühe Christentum, aber aus derselben analytischen Perspektive, und wir stellen dabei die gleichen Fragen: Welche Funktion hatte die Familie bei der Vermittlung religiöser Bildung? Und spielte Geschlecht eine Rolle? 1.1. Familienbegriff und religiöse Bildung im klassischen Athen Bevor wir unsere Quellen betrachten, ist es notwendig, zuerst eine Definition der Kategorien zu versuchen, die unserer Untersuchung zugrunde liegen. Wie wurde das Konzept der Familie im alten Athen und im frühen Christentum konstruiert? Was verstehen wir unter religiöser Bildung? Im antiken Griechenland kann unsere moderne Idee von Individuen, die durch familiäre Verhältnisse verbunden sind, mit zwei Worten ausgedrückt werden: genos und oikos. Der erste Begriff bezieht sich auf diejenigen, die gemeinsame Voreltern haben und derselben Familienlinie und Blutsverwandtschaft angehören, während das zweite den stärker eingeschränkten Innenraum des täglichen Lebens in einem Wohnsitz anzeigt.5 Wir interessieren uns für dieses zweite Konzept, das Aristoteles folgen3 Zu diesen methodologischen Möglichkeiten und ihrer Historiographie, Mancini 2007. Vgl. auch Calame / Lincoln 2012. 4 Siehe, e plurimis, Geertz 2013; Paden 2016. 5 Für eine Behandlung der Definitionen von oikos und genos, mit vorheriger Literatur, siehe Patterson 1998.
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dermaßen definiert: „Die primären und kleinsten Teile des Haushalts sind: Herr und Sklave, Ehemann und Ehefrau, Vater und Kinder.“6 Die letzte Beziehung, diejenige zwischen Vätern und Kindern, steht hier im Fokus, wobei die Mütter auch mit im Blick sind. Wie hoffentlich am Ende dieses Beitrags deutlich werden wird, hatten Frauen eine entscheidende Rolle als Akteurinnen der Vermittlung von religiösem Wissen. Andere Personen, die im Raum des oikos lebten und Mitglieder des Haushalts waren, waren die Großeltern, die Schwiegertöchter, die Sklaven, die Ammen und die Haushälterinnen. Verschiedene Personen könnten also am religiösen Leben der Familie mitgewirkt haben. Was die Definition der religiösen Bildung betrifft, so beziehen wir uns auf die Kontexte und Orte, in denen athenische Bürger rituelle Kompetenzen und mythisches Wissen erwarben. Insbesondere wird die Bildung und Erziehung der künftigen Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich religiöser Themen untersucht. Der Lernprozess nahm unterschiedliche Formen an, je nachdem, ob die Lernenden Jungen oder Mädchen waren, aus einer aristokratischen oder einer armen Familie kamen, einen städtischen oder einen ländlichen Hintergrund hatten. Wie zu erwarten, ist die Datenbasis besonders günstig im Kontext von Familien der Elite; aufgrund des begrenzten Raumes präsentiert dieser Beitrag insbesondere das Bild, das in den literarischen Quellen reflektiert wurde. 1.2. Familienbegriff und religiöse Bildung im spätantiken Christentum In der Forschung zur spätantiken Religionsgeschichte lautet die leitende Frage häufig: Worin unterschied sich das Christentum von seiner Umwelt?7 In Bezug auf die Kategorie ‚Familie‘ ist die Antwort auf diese Frage, dass das Christentum in vielen familiären Aspekten keinen großen Unterschied machte. Die Christen übernahmen in hohem Maße die Familienstruktur und ‑beziehungen aus der griechisch-römischen Gesellschaft. Doch im Christentum wurden außereheliche Beziehungen zwischen Mann und Frau nicht mehr akzeptiert, und die Ehepaare konnten sich nicht scheiden lassen.8 Einige Forscherinnen und Forscher weisen auch darauf hin, dass mit dem Christentum eine zunehmende Ablehnung der Praxis der expositio, d. h. der Kindesaussetzung, einherging und dass die christlichen Autoren sexuelle Beziehungen mit Kindern überhaupt nicht duldeten.9 Man kann für eine Steigerung der Sensibilität gegenüber 6 Aristot. Pol. I 1253 b: πρῶτα δὲ καὶ ἐλάχιστα μέρη οἰκίας δεσπότης καὶ δοῦλος, καὶ πόσις καὶ ἄλοχος, καὶ πατὴρ καὶ τέκνα. Siehe dazu Cantarella 2011, 334. 7 Harper 2012, 677. Harper 2012, 679 bezieht sich direkt auf MacMullen 1986 und stellt die Frage: „What difference did Christianity make?“ 8 Harper 2012, 668. 9 Z. B. Bakke 2009. Solche Ergebnisse muss man aber mit einigen Vorbehalten versehen, so wie Castelli 1998, 230: „One cannot necessarily assume that all the people who called themselves Christians in the early centuries of the church necessarily agreed with the church fathers’
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Kindern in der Spätantike argumentieren, mit langen Entwicklungslinien und mehreren Faktoren, unter denen besonders die christliche Philosophie und Praxis bedeutsam waren. Auch unter den Christen wurde der ganze Haushalt als eine Einheit betrachtet, die domus oder oikos genannt wurde. Im Haus hatte der Vater, der pater familias, sowohl die Gewalt als auch die Verantwortung für seine Frau, seine Kinder, seine Sklaven und für eventuelle Ammen, Hauslehrer und so weiter.10 Doch auch die Mutter hatte großen Einfluss auf kleine Kinder und heranwachsende Mädchen, ebenso im Haushalt. In den ersten Jahrhunderten ergibt sich dennoch kein völlig klares Bild vom christlichen Familienleben.11 Häufig war es so, dass nicht der ganze Haushalt christlich war. Es gibt Fälle, in denen erst die Mutter Christin wurde und dann ihren Kindern den Glauben beibrachte, obwohl der Vater kein Christ war.12 Es konnte aber auch passieren, dass sich eine ganze Familie auf einmal zum Christentum bekehrte. Die biblische Apostelgeschichte kennt z. B. eine Frau, die Purpurhändlerin Lydia, die sich mit ihrem ganzen Haushalt taufen ließ.13 Dem theologischen bzw. religiösen Ideal nach galten nach der Taufe alle Christen als Brüder und Schwestern,14 wobei die realen Haushalte natürlich weiterhin bestanden.15 Es muss hier auch erwähnt werden, dass ab dem 4. Jahrhundert eine bedeutende asketische Strömung innerhalb des Christentums aufkam. Laut den Asketen sollten Christen eigentlich auf die Welt und ihre biologischen Familien verzichten, um ein vollendetes christliches Leben zu führen.16 Die asketische Bewegung teachings on these matters, or put them immediately or unproblematically into practice in their own lives.“ 10 Herlihy 1995, 116 ff. 11 Für eine Übersicht über die ersten sporadischen Hinweise zu Ermahnungen über christliche Kindererziehung siehe Bakke 2006, 145–163. Bakke verweist erstens auf biblische Texte und Texte der frühesten Kirchengeschichte: Eph 6,1–9; Col 3,20; Tit 1,6–9; 1 Tim 4,4; Did. 4.9; Barn. 19.5; Polykarp von Smyrna, Phil. 4.2; 1 Clem. 21.6–8; zweitens nimmt er Bezug auf Texte des 3. und 4. Jh.s: Didascalia, Apostolische Konstitutionen und Schriften von Johannes Chrysostomus. Siehe dazu auch Bakke 2005, Kapitel 5: „Making ‚athletes of Christ‘: upbringing and education of children“, darin bezieht er sich auf Hieronymus, Chrysostomus, Hermas, Tatian und die Didascalia. 12 Ein bekanntes Beispiel dafür ist Augustinus. Seine Mutter Monica war Christin (siehe dazu z. B. Augustinus, Confessiones IX 9). 13 Apg 16,14 f. 14 Wie in den christlichen Gemeinden wurde Familienrhetorik auch in der paganen Umwelt außerhalb der Familie benutzt, z. B. in klassischen Bildungskontexten (Watts 2012, 472 und 478). 15 Auch die christlichen Schriftsteller gingen von einer besonderen, der Familie eigenen Liebe aus. So kennt z. B. Origenes eine Hierarchie der Liebe. Er schreibt, dass man erstens Gott lieben müsse; danach folgen gradiert Eltern, Kinder und andere Menschen im Haus. Erst danach erwähnt er überhaupt Nächsten‑ und Feindesliebe (Homiliae in Canticum Canticorum 2.8). Einen solchen ‚ordo caritatis‘ kennen auch andere Theologen der Spätantike, z. B. Augustinus In epistolam Iohannis 8.10. Zum Thema Liebe in der Familie siehe Herlihy 1995, 122–125. 16 Mt 10,37 und Lk 14,26 sind paradigmatische Schriftstellen dafür.
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war groß, und sie nimmt viel Platz in den überlieferten Quellen ein. Es ist aber irreführend zu glauben, dass alle Christen der Spätantike unverheiratete enthaltsame Asketen gewesen wären. Es gab natürlich eine Mehrheit von „normalen“ christlichen Haushalten in der Gesellschaft und in den christlichen Gemeinden, also eine schweigende Mehrheit von christlichen Familien.17 Obwohl die christliche Familienstruktur von nichtchristlichen Familien der Antike nicht sehr verschieden war, gelangten die Christen doch schnell zu einer besonderen Selbstwahrnehmung, auch in Bezug auf Kindererziehung. So schrieb Johannes Chrysostomus im 4. Jahrhundert, dass schon der Apostel Paulus eine besondere Auffassung von Erziehung gehabt habe. Johannes Chrysostomus versucht, den Satz des Paulus „Wenn sie Kinder aufgezogen hat“ (1 Tim 5,10)18 auszuleuchten, und schreibt: Er [Paulus] meint hier nicht das, was die Masse darunter versteht, dass man nämlich seine Kinder nicht umkommen lässt, wenn sie hungrig sind […]. Er versteht hier unter Kinderaufzucht die Sorge für die Gerechtigkeit, die Aufzucht mit Frömmigkeit.19
Aus der Spätantike sind leider nur wenige Texte erhalten, die das Thema Erziehung in der Familie direkt und ausführlich behandeln. Der bekannteste Text wurde vom erwähnten Bischof Johannes Chrysostomus verfasst. Er stammt aus dem späten 4. Jahrhundert und trägt die Überschrift Über Geltungssucht und Kindererziehung. Dazu kommen verschiedene Bemerkungen in Briefen, in Kirchenordnungen, in Schriften über heilige Männer und Frauen, worauf wir uns auch im Folgenden beispielsweise beziehen.20 Inwiefern diese mehr oder weniger normativen Texte die Realität widerspiegeln, ist schwierig einzuschätzen. Der Text von Johannes Chrysostomus richtet sich an die obersten Schichten der Gesellschaft in Antiochia. Der Stil des Textes ist elitär und ermahnend, zeigt uns aber, dass man ein christliches Ideal von Kindererziehung in der Spätantike in den Schriften eines bedeutsamen Bischofs wie Chrysostomus finden kann.21
17 Carol Harrison hat einen Aufsatz über christliche Familien der Antike geschrieben, mit dem Titel „The Silent Majority: The Family in Patristic Thought“ (Harrison 1996, 87–105). 18 Johannes Chrysostomus, In illud: vidua eligatur IV (Übersetzung in Gärtner 1985): Εἰ ἐτεκνοτρόφησε […]. 19 Johannes Chrysostomus, In illud: vidua eligatur VII (Übersetzung in Gärtner 1985): Τροφὴν γὰρ ἐνταῦθα λέγει οὐ ταύτην τὴν ψιλὴν καὶ παρὰ τοῖς πολλοῖς νομιζομένην, τὸ μὴ λιμῷ φθειρομένους περιιδεῖν τοὺς παῖδας· […] ἀλλὰ τὴν τῆς δικαιοσύνης ἐπιμέλειαν, τὴν ἀνατροφὴν τὴν μετ’ εὐλαβείας […]. 20 Für Beispiele siehe z. B. Bakke 2005 und Bakke 2006 u. a. 21 Mehrere bedeutende Kleriker und Theologen haben sich mit dem allgemeinen Thema Kinder beschäftigt und dadurch auch indirekt das Thema Erziehung berührt, denn innerhalb der christlichen Theologie gab es verschiedene Vorstellungen von Kindern und ihrer Natur. Die Frage war, ob schon Kinder sündigten oder ob sie vielmehr vorbildlich seien, weil sie noch nicht begehrten. Augustin meinte z. B., dass Kinder schon Sünder seien, und deswegen ist auch Kindertaufe laut Augustin nötig (siehe dazu Bakke 2005, 100 und 284).
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2. Religiöse Erziehung und Männlichkeit Im Folgenden beschränkt sich unsere Analyse vor allem auf die Kategorie des Geschlechts, deswegen trennen wir in unserer Behandlung männliche und weibliche Akteure. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern erlaubt uns, Identitäten und Rollen in den Vermittlungsprozessen zu identifizieren. Wir beginnen unsere Analyse mit den Männern und stellen dabei folgende Fragen: Waren sie die wichtigsten Inhaber von religiösem Wissen? Welche Werte haben antike Väter vermittelt? Haben sie ihre Kinder spezifisch männliche oder geschlechtsübergreifende Konzepte und Praktiken in Bezug auf das Göttliche gelehrt? Anhand von konkreten Beispielen aus Athen und aus dem frühen Christentum versuchen wir, diese Fragen zu beantworten. 2.1. Ein Blick auf die Väter als Vermittler religiösen Wissens: Athen „Any father and mother (or grandfather and grandmother) would teach a minimum of prayers to be recited in given circumstances and to given gods.“22 Das betont Momigliano mit Blick auf Rom im späten 1. Jahrhundert v. Chr., und diese Bemerkung könnte ebenso auf das klassische Athen zutreffen. Es wird nicht überraschen, dass im Vergleich zu Frauen eine größere Anzahl von schriftlichen Quellen über die griechischen Männer überlebt hat. Darüber hinaus behandeln die überlieferten Texte oft Väter im Verhältnis zu Jungen und Mütter im Verhältnis zu Töchtern. Jungen folgten dem Vorbild ihrer Väter, und die Persönlichkeit der Jungen und deren Entwicklung wurde oft mit derjenigen ihrer Väter verglichen. Wir finden einen Beweis dafür schon bei Homer, dem archaischen Dichter, dessen Werk für das Fest der Panathenäen in der klassischen Epoche zentral war.23 In der Odyssee bemerkt die Göttin Athene zu Telemachus, dem Sohn des Odysseus: „Denn es werden dem Vater ähnlich nur sehr wenige Söhne, meistens werden sie schlechter und nur sehr wenige besser.“24 Ähnlichkeit meinte, dass die Söhne die von ihren Vätern geleistete Arbeit fortsetzen konnten. Dies ist auch auf der tragischen Bühne repräsentiert. Orestes verspricht dem Gott Zeus, die Leere, die der Tod seines Vaters hinterlassen hatte, zu füllen: Und hast du dann des Vaters Kinder, der dich fromm, der dich mit Opfern ehrte, einst hinweggetilgt, wer reicht dir dann noch gleiche Hände voller Dank? Nicht bleibt dir, wenn das Geschlecht des Adlers du vertilgst, zu senden glaubhaft Zeichen an die Sterblichen, noch opfert dieser Königsstamm, so ganz verdorrt, auf deinem Altar dir am Feststieropfertag!25 22 Momigliano
1987, 86. 2010, 21. 24 Homer, Od. II 276 f.: παῦροι γάρ τοι παῖδες ὁμοῖοι πατρὶ πέλονται, / οἱ πλέονες κακίους, παῦροι δέ τε πατρὸς ἀρείους. Übersetzung von Hampe 2010. 25 Aeschylus, Cho. 255–61: καὶ τοῦ θυτῆρος καί σε τιμῶντος μέγα / πατρὸς νεοσσοὺς τούσδ᾽ ἀποφθείρας πόθεν / ἕξεις ὁμοίας χειρὸς εὔθοινον γέρας; / οὔτ᾽ αἰετοῦ γένεθλ᾽ ἀποφθείρας, πάλιν / 23 Nagy
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Dies ist eine berühmte Passage aus dem Gebet von Electra und Orestes an Zeus, als sie sich dafür entscheiden, Agamemnon zu rächen und Clytemnestra und Aegistus zu töten.26 Orestes erklärt den Kern der Beziehung zwischen Zeus und Agamemnon. Agamemnon wird als ein Verehrer dargestellt, der den Göttern hingebungsvoll Opfer darbringt und sie ehrt (τοῦ θυτῆρος καί σε τιμῶντος μέγα πατρὸς). Ein anderer wichtiger Aspekt des antiken griechischen religiösen Systems, der hier beleuchtet wird, ist die Interpretation der Zeichen, die die Götter an die Menschen senden (σήματ᾽… βροτοῖς). Orestes weiß, was die religiöse Verantwortung seines Vaters war, und er erbt die Zuständigkeit für diese drei grundlegenden Elemente (Opfer, Verehrung, Interpretation der göttlichen Zeichen); ihre Weiterführung innerhalb seiner Familie ist in Gefahr, wenn Zeus Orestes und Electra nicht hilft ihre legitime Autorität im Argiverpalast wiederherzustellen. Aeschylus impliziert, dass man, um die Kontinuität einer Familie zu bewahren, über Generationen hinweg die kultische Verehrung gewährleisten und eine aktive Kommunikation zwischen Menschen und Göttern sichern muss. Orientierung am Herkommen und Kontinuität sind die ersten Merkmale religiöser Bildung innerhalb der Familie. Eine dritte Eigenheit ist der Beitrag zum Entstehung der Bürgeridentität. Die Väter hatten die Autorität, ein neugeborenes Kind auszusetzen, wenn sie es für nicht gesund genug oder für illegitim hielten. Wenn sie beschlossen, das Neugeborene in ihre Familie aufzunehmen, gaben sie damit dem neuen Menschen eine Identität innerhalb der sozialen Gemeinschaft.27 Zudem waren Väter für das Feiern des jährlichen Festes der Apaturia verantwortlich, während derer Neugeborene, Kinder vor dem vierten Lebensjahr, und – wahrscheinlich in einem zweiten Schritt – Jugendliche in die Register der verschiedenen Phratrien eingeschrieben wurden (eine Phratrie, wörtlich ‚Bruderschaft‘, war die Einheit einer sozialen Gruppe, die mehrere Familien versammelte).28 Diese Zeremonie markiert die Aufnahme des Kindes in die athenische Gesellschaft als legitimer Bürger mit bürgerlichen und religiösen Rechten und Pflichten.29 Eine Passage aus einer Rede des Demosthenes ist besonders erhellend:
πέμπειν ἔχοις ἂν σήματ᾽ εὐπιθῆ βροτοῖς, / οὔτ᾽ ἀρχικός σοι πᾶς ὅδ᾽ αὐανθεὶς πυθμὴν / βωμοῖς ἀρήξει βουθύτοις ἐν ἤμασιν. Übersetzung von Nölle 2008. 26 Dazu Strauss 1993, 27: „For Orestes, it is only the father who gives the house its meaning in the divine order“. 27 Vgl. Etym. Magn. s. v. Apatouria: vor dem Fest waren die Kinder ἀπάτορες, „ohne Vater“, und deswegen ohne familiale Identität. 28 Vgl. Lambert 1993, 153: „Phratry membership was a fundamental aspect of citizenship. Partaking in the festival of the phratres was hence an exercise and affirmation of an Athenian’s status as citizen and of the principle of kinship on which that status was based, expressed and guaranteed by his membership in a phratry.“ Zu Apaturia und Legitimation vgl. Lambert 1993, 143–178; Ogden 1996, 110–115; Parker 2005, 458. 29 Zur athenischen Bürgerschaft, siehe jüngst Blok 2017.
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Als ich ein Kind war, führten sie mich sofort zu den Männern der Phratrie, sie brachten mich zum Tempel Apollons, unseres Stammgottes, und zu anderen Heiligtümern.30
Der Vater und andere männliche Figuren, wie die Mitglieder der Phratrie, leiteten den rituellen Vollzug von Opfern und Zeremonien, die für die Erziehung eines Kindes zu einem aktiven Bürger erforderlich waren. Sie fungierten als die Vermittler ritueller Kompetenzen und trugen zur Sozialisation in die religiöse Praxis bei. Die Teilnahme an der Zeremonie der Apaturia ab einem frühen Alter könnte dazu beigetragen haben, die Verbreitung der athenischen religiösen Wertvorstellungen und des entsprechenden Wissens unter den Bürgern und jüngeren Bürgern zu garantieren. Ähnliches gilt für die Einrichtung des Symposions, des gemeinschaftlichen rituellen Trinkens der Männer.31 Wenn man bedenkt, dass Männer in der Regel etwa in ihren 30er Jahren heirateten, wird deutlich, dass sie für einen langen Zeitraum im väterlichen Haushalt blieben. Es wird diskutiert, ob sie bereits als Jugendliche am Symposion teilnahmen.32 Sicherlich war dies aber ein weiterer Kontext, in dem Väter als Vermittler religiöser Bildung wirken konnten.33 Hier wurden wahrscheinlich eher theoretische Inhalte tradiert, nämlich die theologische Deutung der göttlichen und mythischen Geschichten, die auf den Vasen dargestellt waren oder in den Dichtungen erzählt wurden. Neben den Vätern waren auch andere männliche Akteure im griechischen Haushalt wichtig, wie zum Beispiel Großväter. Xenophon erzählt, wie der junge Cyrus der Große von seinem Großvater mütterlicherseits, dem medischen König Astyages, erzogen wurde: Wie du siehst, Mutter, habe ich auf diese Weise schon umfassend gelernt, was das Gerechte ist. Wenn ich aber noch weitere Kenntnisse benötige, dann wird sie mir mein Großvater schon noch beibringen.34
Auch wenn diese Passage mit Vorsicht zu behandeln ist, angesichts der Gattung und des persischen Kontextes, tritt hier die pädagogische Rolle des Großvaters klar zutage, und wir können annehmen, dass im Begriff der ‚Gerechtigkeit‘ auch die Idee von eusebeia, ‚Frömmigkeit‘ und ‚Verehrung der Götter‘, impliziert war.35 Andere Anhaltspunkte liefert der Redner Isäus in einer Rede über Nachfolge und Erbschaft. Der Sprecher muss seine Blutsverwandtschaft mit Kiron beweisen, 30 Demosthenes, or. 57.54: ἀλλὰ παιδίον ὄντα μ᾽ εὐθέως ἦγον εἰς τοὺς φράτερας, εἰς Ἀπόλλωνος πατρῴου ἦγον, εἰς τἄλλ᾽ ἱερά. 31 Das Symposion nahm möglicherweise seinen Anfang mit dem altorientalischen marzeah, ein rituelles Bankett ursprünglich für eine Gottheit; siehe Murray 2016, 24–26. 32 Vgl. Wecowski 2014, 33: die Jungen in Vasenbildern waren Sklaven, nicht Aristokraten. Aber es gibt eine Debatte darüber, mehr Literatur in Wecowski 2014, 33 F. 49. 33 Zum Symposion als Ort der Vermittlung religiöser Bildung siehe Bremmer 1995, 35. 34 Xenophon, Cyr. I 3.17: οὕτως ἐγώ σοι, ὦ μῆτερ, τά γε δίκαια παντάπασιν ἤδη ἀκριβῶ· ἢν δέ τι ἄρα προσδέωμαι, ὁ πάππος με, ἔφη, οὗτος ἐπιδιδάξει. Übersetzung von Nickel 1992. 35 Zu der Nahbeziehung von Gerechtigkeit und Frömmigkeit siehe Isäus, Panath. 124.6, 183.7; Din. In Dem. 85; Ps.-Platon, Def. 412 e.
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dessen Eigentum angefochten wird, und in dieser Passage erinnert er sich an die Darbringung von Opfern, die auf Familienmitglieder beschränkt ist: Wie von einem Großvater gegen seine Tochterkinder zu erwarten war, stellte er niemals ein Opfer an, ohne uns dazu zu ziehen: mochte es groß oder klein sein, überall waren wir dabei, und opferten mit ihm zusammen; […] wir feierten alle Feste bei ihm, und auch wenn er dem Zeus Ktesios opferte, ein Opfer, welches er sehr hoch hielt, und wozu er weder Sklaven noch Freie außer seinen nächsten Verwandten zuließ, sondern alles selbst besorgte, so nahmen wir auch hieran teil, und taten ihm beim Opfer Handreichung, legten es mit ihm auf (den Altar), und verrichteten alles Übrige mit ihm gemeinschaftlich, und er betete für uns um Gesundheit und Wohlstand, wie es ihm als Großvater zukam.36
Die Person des Großvaters scheint eine große Verantwortung bei der Vermittlung von Ritualkompetenz sowie hinsichtlich theologischer Vorstellungen zu haben: Als Leiter des häusliches Kultes weiß er, welche Opfer passend sind, um sie innerhalb des Hauses darzubringen. Und durch die bloße Tatsache der Unterstützung und Teilnahme an der Zeremonie sind zwei Generationen am Lernprozess beteiligt. Nicht nur blutsverwandte Akteure waren Bezugspunkte als Lehrer und Mentoren, sondern auch enge Freunde, vor allem ältere Männer. Ein Beispiel finden wir hierfür in der Ilias. Als sich Achilleus in seiner Wut auf Agamemnon weigert, in den Kampf zu ziehen, wird eine Abordnung mit reichen Geschenken zu ihm gesandt. Sie schließt Nestor und Phönix ein, beide alte Männer, die versuchen, Achilleus’ Einstellung zu ändern. Nestor ruft zu männlicher Tapferkeit auf, während Phönix versucht, mit der Autorität eines Vaters zu sprechen,37 weil er zur Ausbildung des jungen Prinzen beigetragen hat und ein emotionales Band zwischen ihm und Achilleus besteht. In seiner Ansprache an Achilleus bittet er um Erbarmen: Bezwinge den großen Mut! Musst du doch nicht ein mitleidloses Herz haben! Nachgiebig sind auch die Götter selber, denen doch noch größer die Kraft ist, die Ehre und die Gewalt. Doch auch sie lassen sich mit Rauchopfern und sanften Gebeten und Weihguss und Fettdampf umstimmen von den Menschen, die da bitten, wenn einer sich vergangen und verfehlt hat. Denn da sind auch die Bitten, die Töchter des großen Zeus, lahm und runzlig und seitwärts blickend mit den Augen, deren Geschäft es auch ist, hinter Ate, der Verblendung, herzugehen.38 36 Isäus VIII 15 f.: οἷα γὰρ εἰκὸς παίδων ὄντων ἐξ ἑαυτοῦ θυγατρός, οὐδεπώποτε θυσίαν ἄνευ ἡμῶν οὐδεμίαν ἐποίησεν, ἀλλ᾽ εἴ τε μικρὰ εἴ τε μεγάλα θύοι, πανταχοῦ παρῆμεν ἡμεῖς καὶ συνεθύομεν. (…) καὶ τὰς ἑορτὰς ἤγομεν παρ᾽ ἐκεῖνον πάσας· τῷ Διί τε θύων τῷ Κτησίῳ, περὶ ἣν μάλιστ᾽ ἐκεῖνος θυσίαν ἐσπούδαζε καὶ οὔτε δούλους προσῆγεν οὔτε ἐλευθέρους ὀθνείους, ἀλλ᾽ αὐτὸς δι᾽ ἑαυτοῦ πάντ᾽ ἐποίει, ταύτης ἡμεῖς ἐκοινωνοῦμεν καὶ τὰ ἱερὰ συνεχειρουργοῦμεν καὶ συνεπετίθεμεν καὶ τἆλλα συνεποιοῦμεν, καὶ ηὔχετο ἡμῖν ὑγίειαν διδόναι καὶ κτῆσιν ἀγαθήν, ὥσπερ εἰκὸς ὄντα πάππον. Übersetzung adaptiert von Schömann 1831. 37 Van Nortwick 2008, 131. 38 Homer, Il. IX 494–504: δάμασον θυμὸν μέγαν· οὐδέ τί σε χρὴ νηλεὲς ἦτορ ἔχειν: στρεπτοὶ δέ τε καὶ θεοὶ αὐτοί, / τῶν περ καὶ μείζων ἀρετὴ τιμή τε βίη τε. / καὶ μὲν τοὺς θυέεσσι καὶ εὐ-
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Die Szene der Gesandtschaft an Achilleus ist eine der berühmtesten der Ilias. Bereits früher ist von Gelehrten unterstrichen worden, wie die intergenerationellen Beziehungen Väter / Söhne, alte / junge Männer hier konstruiert werden. Sie haben darauf hingewiesen, dass bei Homer Väter und alte Männer den Söhnen und jungen Männern den Kriegerkodex zu vermitteln versuchen, die Furcht vor der Schande in der Gemeinschaft und den Lobpreis der Heldentaten und der unsterblichen Ehre.39 Die Gesandtschaft an Achilleus sollte diesen offensichtlich dazu bewegen, als stärkster Held auf dem Schlachtfeld wieder mitzukämpfen. Jedoch ist es auch möglich, diesen Text aus einer anderen Perspektive zu lesen. Tatsächlich spricht Phönix nicht nur als ein Botschafter, der zu überzeugen versucht, sondern auch als ein Akteur der religiösen Bildung: Er schafft eine Parallele zwischen Achilleus, den man um Hilfe anfleht, und den unsterblichen Göttern, und erklärt auf diese Weise den Anwesenden, ebenso wie den Leserinnen und Lesern des Gedichts, einige der wichtigsten Aspekte der griechischen religiösen Mentalität und Frömmigkeit. Er betont vor allem zwei wesentliche Elemente des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern: 1. die Opfergaben und das Flehen zu den Göttern (θύος, εὐχωλή); 2. den Mechanismus der Bitten und Gebete (λιταί). Die poetische Darstellung eines nahen Freundes der Familie, der Ratschläge gibt, sozial-religiöse Regeln erläutert und den Jungen im Haus Verhaltensnormen lehrt, scheint eine realistische Darstellung auch in Bezug auf die reale griechische Gesellschaft zu sein, wenn man bedenkt, dass die biologischen Väter oft fern von zu Hause mit Krieg beschäftigt waren. Darüber hinaus müssen wir bedenken, dass diese didaktische Vermittlung der griechischen Religion nicht nur an Achilleus, sondern auch an die Zuhörerinnen und Zuhörer der homerischen Gesänge und ihre Leserinnen und Leser gerichtet ist. Wenn Plato den Dichter und seine Ansichten über die Götter kritisiert, zitiert er diese Passage von Phönix.40 Dies zeigt, wie Homer über mehrere Jahrhunderte einflussreich und auch theologisch umstritten war, da sein Werk der zentrale und primäre Text der griechischen literarischen Bildung vom sechsten Jh. v. Chr. bis ins Mittelalter war.41
χωλῇς ἀγανῇσι / λοιβῇ τε κνίσῃ τε παρατρωπῶσ᾽ ἄνθρωποι / λισσόμενοι, ὅτε κέν τις ὑπερβήῃ καὶ ἁμάρτῃ / καὶ γάρ τε λιταί εἰσι Διὸς κοῦραι μεγάλοιο / χωλαί τε ῥυσαί τε παραβλῶπές τ᾽ ὀφθαλμώ, / αἵ ῥά τε καὶ μετόπισθ᾽ ἄτης ἀλέγουσι κιοῦσαι. Übersetzung von Schadewaldt 1975. 39 Crotty 1994, 33. 40 Platon, Pol. 364 d–e. 41 Zu den religiösen und pädagogischen Wirkungen Homers siehe z. B. Marrou 1966, 32–34; Fornaro 2008, 232; Tanaseanu-Döbler 2012, 107; Graziosi 2016, 35; Fürst 2016, 103 f.
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2.2. Ein Blick auf die Väter als Vermittler religiösen Wissens: spätantikes Christentum Wenden wir uns nun wieder dem Christentum zu. In seiner Schrift über die Kindererziehung vergleicht Johannes Chrysostomus den Erziehungsprozess mit dem kreativen Prozess eines Künstlers – ein Kind zu erziehen sei wie eine Statue zu formen. Sowohl die Mutter als auch der Vater werden in dieser Hinsicht als Künstler angesprochen; beide müssen das Kind „formen“, d. h. erziehen.42 Im frühen Christentum wurden aber Väter als die hauptverantwortlichen Akteure der Erziehung betrachtet, während die Mütter in normativen Texten als sekundäre Erzieher dargestellt wurden.43 So spricht Johannes Chrysostomus in seiner Schrift direkt den Vater an und macht damit klar, dass der Vater für seine Söhne verantwortlich ist. Die Mutter muss ihm dabei helfen, und sie ist daneben dafür verantwortlich, die Mädchen im Haushalt zu erziehen.44 Das christliche Ideal der Erziehung besteht nach Johannes Chrysostomus darin, dass das Kind Gottesfurcht, Frömmigkeit und gute Sitten von Anfang an lernt. Durch eine solche Erziehung können nämlich nicht nur das Kind, sondern auch die Eltern ewiges Heil erlangen.45 In mehreren Texten findet man die Drohung an die Eltern, dass sie sündigen würden, wenn sie ihre Kinder nicht zu Gottesfurcht erziehen würden. Johannes Chrysostomus mahnt: Erziehe einen Kämpfer für Christus und lehre ihn, auch wenn er in der Welt lebt, von frühester Jugend an, gottesfürchtig zu sein.46 Und: Du freust dich zuerst an dem guten Verhalten […] dann (freut sich) Gott. Du arbeitest für dich selbst.47
Wie in der klassischen Antike so war auch unter Christen Nachahmung ein grundlegendes didaktisches Prinzip.48 Kinder mussten die Eltern nachahmen, sich wie kleine Erwachsene verhalten und entsprechend agieren. Johannes Chrysostomus geht davon aus, dass Kinder lebendige Bilder der Eltern sind und dass Kinder und Eltern Gottesfurcht und Frömmigkeit miteinander teilen. Dies ist das Bild der idealen Beziehung nach Chrysostomus. Die Eltern dürfen gar nicht erst erlauben, dass das Kind mit schlechten Leuten umgeht und diese nachahmt. Die Eltern müssen das soziale Leben des Kindes deswegen kontinuierlich und streng regulieren.49 Hieronymus ist der Meinung, dass, wenn man kleine Mädchen für ein streng religiöses Leben erziehen wolle, sie am besten wenig Kontakt Chrysostomus, Inani glor. 12. Didascalia XXII. O’Roark 1999, 72. 44 Johannes Chrysostomus, Hom. 9 in 1 Tim.; Joh. Chrys. Inani glor. 29. O’Roark 1999, 79. 45 Johannes Chrysostomus, Inani glor. 209 c. 46 Johannes Chrysostomus, Inani glor. 19 c–e: Θρέψον ἀθλητὴν τῷ Χριστῷ καὶ ἐν κόσμῳ ὄντα δίδαξον εὐλαβῆ ἐκ πρώτης ἡλικίας. Übersetzung von M. Gärtner. 47 Johannes Chrysostomus, Inani glor. 20 c: Σὺ πρῶτος ἀπολαύεις τῶν ἀγαθῶν […] καὶ τότε ὁ Θεός· σαυτῷ κάμνεις. Übersetzung von M. Gärtner. 48 Vgl. hier Paragraphen 2.1 und 3.1. 49 Vgl. Didascalia XXII. 42 Johannes 43 Vgl.
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mit weltlichen Vergnügungen haben dürften und es am besten sei, wenn das Mädchen eine Freundin habe, die ernst, blass, einfach und betrübt sei.50 In Bezug auf das didaktische Prinzip der Nachahmung unterstreicht Hieronymus auch, dass es sich mehr lohnt, ein Kind zu belohnen, wenn er oder sie etwas Gutes und Richtiges nachahmt, als das Kind zu zwingen oder zu prügeln.51 Im Allgemeinen gibt es unter den christlichen Schriftstellern ein Bewusstsein davon, dass Lob und Tadel zusammen wichtige pädagogische Werkzeuge sind. Daher überlegt Johannes Chrysostomus, dass man als Vater wie Gott handeln und führen müsse – sowohl mit Lob als auch mit Tadel: In derartigen Angelegenheiten muss der Vater überall Herr sein. Wenn die Gesetze übertreten werden, soll er streng und ungeduldig sein, wenn sie eingehalten werden, jedoch nett und angenehm und dem Kind viele Belohnungen geben. Denn es regiert auch Gott so den Erdkreis mit der Furcht vor der Hölle und dem Versprechen des Himmelreiches. So wollen auch wir es mit unseren Kindern halten.52
Die christliche Kindererziehung hatte, zumindest gemäß dem christlichen Idealbild, eine starke moralische Konnotation, und es gab keine alternative christliche Schulbildung im Vergleich zur traditionellen griechisch-römischen Bildung. Vielmehr fokussierten sich die Christen auf biblische Erzählungen und deren moralische Auslegungen – das wurde zum Hauptinhalt christlicher Erziehung und stand damit im bewussten Gegensatz zu den Disziplinen der antiken paganen Bildung. De facto wurde aber christliches und nichtchristliches Bildungsgut in der Erziehung von christlichen Kindern gemischt, und auch Kinder aus christlichen Familien besuchten den nichtchristlichen, „öffentlichen“ Unterricht. Einen Beleg dafür bieten z. B. einige Papyrus-Blätter aus einem Schulbuch, das aus Ägypten im 4. Jahrhundert erhalten ist und im paganen Unterricht benutzt wurde, worin man aber auf der ersten Seite auch christliche Symbole findet. Das heißt, dass ein christliches Kind am nichtchristlichen Unterricht teilgenommen haben muss, und das ist auch nicht weiter erstaunlich, da es ja – wie erwähnt – noch lange keine offiziellen alternativen Schulen für christliche Kinder gab.53 Hieronymus, Ep. 107.9: […] gravis, pallens, sordidata, subtristis. Chrysostomus, Inani glor. 67. In christlichen Quellen gibt es aber auch Beispiele, dass Eltern ermutigt werden, ihre Kinder zu prügeln, um sie zu erziehen (Didascalia 22 und Constitutiones Apostolorum 4, siehe dazu Bakke 2006, 149–153). 52 Johannes Chrysostomus, Inani glor. 67: Πανταχοῦ δὲ ἐν τοῖς τοιούτοις ὁ πατὴρ κύριος, παραβαινομένων μὲν τῶν νόμων χαλεπὸς ὢν καὶ ἀφόρητος, κατορθουμένων δὲ μείλιχος καὶ προσηνὴς καὶ πολλοῖς τὸν παῖδα τοῖς ἐπάθλοις δωρούμενος. Οὕτω γὰρ καὶ ὁ Θεὸς τὴν οἰκουμένην διοικεῖ τῷ φόβῳ τῆς γεέννης καὶ τῇ τῆς βασιλείας ἐπαγγελίᾳ. Οὕτω δὴ καὶ ἡμεῖς τοὺς παῖδας τοὺς ἑαυτῶν. Übersetzung von M. Gärtner. 53 Dieses Beispiel findet man auf dem ägyptischen Papyrus Boriant: Auf der ersten Seite ist ein Kreuz gemalt und das griechische Wort für Gott geschrieben. Dieser Papyrus wird in Sandnes 2009, 3 dargestellt und wie folgt kommentiert: „The textbook is probably evidence of a schoolboy between 7 and 12 years of age, coming from a Christian home, and seeking some kind of protection against the curriculum he was expected to memorize.“ 50
51 Johannes
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In dem oben erwähnten Text von Johannes Chrysostomus, Über Geltungssucht und Kindererziehung, sind mehrere Paragraphen dem Thema „Geschichtenerzählen“ gewidmet. Chrysostomus erklärt, wie die Eltern mit Hilfe von biblischen Erzählungen ihre Kinder erziehen sollen. Er benutzt hierfür die Metaphern „Statue“ und „Pflanze“, um die wesensmäßige Natur eines Kindes zu beschreiben.54 Das Kind müsse nach und nach „aufgebaut“ und vorsichtig behandelt werden. Deswegen müssen die Erzählungen, die man Kindern weitergibt, unbedingt biblisch sein. Chrysostomus schreibt: Nun sollen die Kinder nichts Unanständiges hören … Aber wie die Pflanzen dann besonders viel Pflege nötig haben, wenn sie noch zart sind, so ist es auch mit den Kindern.55
Chrysostomus folgend, müssen die Geschichten beim Essen vom Vater erzählt werden – oder von einem hervorragenden Sklaven –,56 und die Mutter muss dabei sein, um zustimmen zu können und auch um die Erzählung später mit dem Kind wiederholen zu können.57 In seinem Text gibt Chrysostomus mehrere Beispiele von biblischen Erzählungen, die für ein Kind geeignet und passend seien. Zuerst erwähnt er die Geschichte von Kain und Abel aus Genesis 4. Chrysostomus meint, dass diese Geschichte für ein Kind unmittelbar verständlich sei und ihm viel beibringen könne. Laut Chrysostomus lerne das Kind aus dieser Geschichte, dass man seinem Bruder nicht Unrecht tun dürfe, und dass Gott alles sehe, weshalb man kein Unrecht vor Gott verbergen könne.58 Das Kind lerne auch, dass Abel der glücklichere von den beiden Brüdern sei, weil Abel seit seinem Tod bei Gott sei, während Kain auf der Erde bleibe und hier große Angst vor Gottes Strafe habe. Das Kind lerne dadurch auch etwas über die Auferstehung der Toten, und damit geht Chrysostomus in seiner Auslegung darüber hinaus, was eigentlich, d. h. vom Text her gesehen, in der Genesis über Kain und Abel steht. Die Kinder müssen also nicht nur christliche Geschichten hören und verinnerlichen, sondern auch eine besondere Auslegungsmethode und ein christliches Weltbild annehmen. Um Kains Angst vor Gott für das Kind verständlich zu machen, benutzt Chrysostomus das Beispiel von der Beziehung zwischen Kind und Lehrer. Er schreibt: Und erzähle von der Strafe, nicht einfach (wie es in der Bibel steht) […] Denn das kleine Kind weiß noch nicht, was dies wohl meint. Sage besser: ‚Wie wenn du vor dem Lehrer
54 Leyerle
1997, 264, und Bakke 2006, 146. Chrysostomus, Inani glor. 38: Μηδὲν οὖν ἄτοπον ἀκουέτωσαν […] Ἀλλὰ καθάπερ τὰ φυτὰ τότε μάλιστα πολλῆς χρείαν ἔχει τῆς ἐπιμελείας, ὅταν ἁπαλὰ ᾖ, οὕτω καὶ οἱ παῖδες. Übersetzung von M. Gärtner. 56 Johannes Chrysostomus, Inani glor. 38. 57 Johannes Chrysostomus, Inani glor. 39. 58 Gärtner 1985, 118: „Die Grundgedanken besteht also darin, die leicht verständlichen und zugleich zur moralischen Bekehrung verwendbaren Schriften an den Anfang zu stellen“. 55 Johannes
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stehst, wenn du zitterst und dich fürchtest, so lebte auch jener fortwährend, weil er sich gegen Gott vergangen hatte‘.59
Dadurch gewinnen wir als Leser einen Eindruck vom stereotypen Verhältnis zwischen Kind und Lehrer. Bemerkenswert ist, dass Chrysostomus auch erwähnt, dass man das Kind nicht allzu sehr verängstigen dürfe. Geschichten über göttliches Gericht und Hölle dürfe man erst viel später erzählen. Chrysostomus gibt in seiner Schrift die ganze Geschichte über Kain und Abel wieder und fügt Regieanweisungen hinzu, so dass der Vater weiß, wie er die Geschichte genau erzählen soll – mit Kunstpausen und so weiter. Er schreibt auch ganz pädagogisch: „Mache die Erzählung auch angenehm, damit es auch für das Kind etwas sehr Angenehmes ist und seine Seele nicht ermüdet.“60 Die Art und Weise, die Chrysostomus hier fordert, ist natürlich ein Ideal und wurde vielleicht nicht im Detail befolgt. Aber dass christliche Eltern ihren Kindern Geschichten aus ihrer „Heiligen Schrift“ und über heilige Männer und Frauen erzählt und damit zugleich christliches Glaubensgut weitergegeben haben, ist durchaus belegt.61 Während die biblischen Geschichten vorbildlich sind, gibt es auch Geschichten, die man gar nicht erzählen soll: Nun sollen sie aber auch keine albernen Altweibermärchen hören. ‚Irgendeiner, so heißt es, liebte irgendeinen‘ – ‚Der Sohn des Königs und die jüngste Tochter haben dieses da getan‘. Davon sollen [die Kinder] nichts hören. Aber sie sollen andere (Geschichten) hören, ohne jede Abschweifung, in großer Einfachheit.62
Sein Grund dafür ist qualitativ: Das Kind muss zum christlichen Philosophen erzogen werden. Johannes Chrysostomus richtet sich an den Vater und schreibt: „Derartige Märchen sollen sie also nicht hören […] Denn du ziehst einen Philosophen auf, einen Kämpfer und Bürger des Himmels.“63 Nicht die Polis, die Stadt, sondern der Himmel ist das Ziel des familiären Unterrichts im spätantiken 59 Johannes Chrysostomus, Inani glor. 39: Καὶ εἰπὲ τὴν τιμωρίαν σφοδρῶς, μὴ ἁπλῶς, ὅτι […] Οὐ γὰρ οἶδεν τὸ παιδίον τί ποτε τοῦτό ἐστιν, ἀλλ’ εἰπὲ ὅτι „καθάπερ σὺ τῷ διδασκάλῳ παρεστὼς καὶ ἀγωνιῶν, εἴ ποτε μέλλεις μαστίζεσθαι, τρέμεις καὶ δέδοικας, οὕτω δὴ κἀκεῖνος διαπαντὸς ἔζη προσκεκρουκὼς τῷ Θεῷ“. Übersetzung von M. Gärtner. 60 Johannes Chrysostomus, Inani glor. 39: Καὶ καταγλύκαινε τὰ διηγήματα, ὥστε τινὰ εἶναι τῷ παιδὶ καὶ τερπνότητα καὶ μὴ ἀποκάμνειν αὐτῷ τὴν ψυχήν. Übersetzung von M. Gärtner. 61 Siehe Belege dafür unten. Dass Berichte über Heilige als bildende Texte galten, scheint durchaus plausibel. 62 Johannes Chrysostomus, Inani glor. 38: Μὴ τοίνυν, μηδὲ μύθους ἀκουέτωσαν ληρώδεις καὶ γραώδεις. „Ὁ δεῖνα, φησί, τὸν δεῖνα ἐφίλησεν“. „Ὁ τοῦ βασιλέως υἱὸς καὶ ἡ μικροτέρα θυγάτηρ τόδε ἐποίησαν“. Μηδὲν τούτων ἀκουέτωσαν· ἀλλ’ ἀκουέτωσαν ἕτερα χωρὶς πάσης περιόδου μετὰ πολλῆς τῆς ἁπλότητος. Übersetzung von M. Gärtner. 63 Johannes Chrysostomus, Inani glor. 39: Μὴ τοίνυν ἀκουέτωσαν μύθους τοιούτους […] φιλόσοφον γὰρ τρέφεις καὶ ἀθλητὴν καὶ πολίτην τῶν οὐρανῶν. Übersetzung von M. Gärtner. Gärtner 1985, 118, folgert entsprechend: „Ein wiederholt geäußerter Wunsch der Kirchenväter war es, dass die heiligen Schriften und ihre Erzählungen die heidnischen Mythen und Fabeln aus dem täglichen Gebrauch verdrängen sollten.“
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Christentum. Das heißt aber nicht, dass die christlichen Theologen keine Vorstellung vom jetzigen Leben hatten, ganz im Gegenteil: Sie versuchten die Kinder für das irdische und das himmlische Leben vorzubereiten.
3. Religiöse Erziehung und Weiblichkeit Das Wissen über den Himmel und das Göttliche war nicht auf Männer und Jungen begrenzt. Der weibliche Beitrag zur Religion verdient große wissenschaftliche Aufmerksamkeit,64 und der Zugang von Frauen und Mädchen zu religiösem Wissen und ritueller Kompetenz in verschiedenen Religionen ist ein fruchtbares Forschungsthema. Dass Frauen vom sozialen und politischen Leben der antiken Gesellschaften ausgeschlossen waren, ist eine communis opinio, die die aktuelle Forschung in jüngerer Zeit erfolgreich widerlegt hat.65 Es ist möglich, die Frauenrollen im Bereich religiöser Erziehung zu beleuchten. Inwiefern waren sie verantwortlich für die Weisheit und Religiosität ihrer Kinder? Welche Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit, oder Autorität beanspruchten sie? 3.1. Ein Blick auf die Mütter als Vermittlerinnen religiösen Wissens: Athen Wie von Chrysostomus in der Spätantike empfohlen,66 spielte das Geschichtenerzählen auch im alten Griechenland eine große Rolle, und es war eine der Methoden, durch die Kinder religiöse und moralische Werte lernten. Die zentralen Verantwortlichen dieser Tätigkeit waren Mütter und Ammen, wie wir bei Platon lesen: Fürs erste also müssen wir die Mythendichter beaufsichtigen und wenn der Mythos, den sie gemacht haben, gut ist, diesen wählen, wo nicht, ihn verwerfen. Dann werden wir die Ammen und Mütter veranlassen, den Kindern die ausgewählten (Geschichten) zu erzählen und ihre Seelen weit mehr durch die Mythen zu bilden als ihre Leiber durch die Hände.67
Mythologische und literarische Erzählungen vermittelten den Kindern Ideen und Verhaltensmodelle.68 Der große Einfluss der von Müttern erzählten Geschichten ist auch in diesem Text deutlich: Auch sollen sich die Mütter von diesen nicht überreden lassen und ihren Kindern Angst machen, indem sie die Mythen auf unpassende Weise erzählen, dass irgendwelche Götter e plurimis, Höpflinger / Jeffers / Pezzoli-Olgiati 2008. e plurimis, Kraemer 1994 und 2012; Scheer 2011. 66 Siehe hier oben am Ende des Paragraphs 2.2. 67 Platon, Pol. II 377 b–c: πρῶτον δὴ ἡμῖν, ὡς ἔοικεν, ἐπιστατητέον τοῖς μυθοποιοῖς, καὶ ὃν μὲν ἂν καλὸν μῦθον ποιήσωσιν, ἐγκριτέον, ὃν δ᾽ ἂν μή, ἀποκριτέον. τοὺς δ᾽ ἐγκριθέντας πείσομεν τὰς τροφούς τε καὶ μητέρας λέγειν τοῖς παισίν, καὶ πλάττειν τὰς ψυχὰς αὐτῶν τοῖς μύθοις πολὺ μᾶλλον ἢ τὰ σώματα ταῖς χερσίν. Übersetzung von Haller 2005. 68 Vgl. ähnliche christliche Lernstrategie hier in 2.2, 3.2. 64 Siehe, 65 Siehe,
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bei Nacht herumgehen in der Gestalt von vielen und vielerlei Fremden, damit sie nicht gleichzeitig die Götter lästern und die Kinder furchtsamer machen.69
Platon stellt Mütter als Lehrer vor, die der autorisierten Sammlung von Erzählungen folgen sollten, um zu vermeiden, falsches Wissen über die Natur der Götter zu vermitteln. Generell kümmerten sich die Mütter um die allgemeine Erziehung ihrer Kinder, insbesondere ihrer Töchter, die in ihrem Haus blieben, ohne, wie die Jungen, an externen Schulaktivitäten teilzunehmen.70 Wenn ein Mädchen zwischen zwölf und fünfzehn Jahren heiratete, wurden ihr Mann und ihre Schwiegermutter ihre neuen Lehrenden. Mütter waren verantwortlich für die Vermittlung von moralischen Werten und Verhaltensweisen, wie eine Passage aus Xenophons Hauswirtschaft betont: „Meine Aufgabe ist es, wie meine Mutter sagte, mäßig zu sein.“71 Das Verb σωφρονέω und das Substantiv σωφροσύνη umfassen nicht nur die Bedeutung von ‚maßvoll, mäßig‘, sondern auch ‚diskret sein‘, im Sinne von ‚nicht zu viel reden, sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen‘. Darüber hinaus umfasst der Begriff auch die Bedeutungen ‚gesunder Sinn, Selbstbeherrschung‘, und eine Person kann auch περὶ θεοὺς σωφρονεῖν,72 das heißt fromm sein, εὐσεβής, und die heiligen Pflichten gegenüber den Göttern mit Gewissenhaftigkeit erfüllen. Mütter waren ein Vorbild von und an dem Töchter lernen konnten, wie sie sich verhalten sollten und wie sie tägliche Tätigkeiten, wie zum Beispiel Kochen und Weben, durchführen sollten. Wichtige Lernstrategien waren Nachahmung und visuelle Beobachtung: Töchter beobachteten ihre Mütter und halfen ihnen im Haushalt. Auf ähnliche Weise konnte auch ein Sohn an Ritualen der Mutter mitarbeiten, wie wir aus Demosthenes’ ironischer Beschreibung des Aeschines ersehen können: Dieser hilft seiner Mutter, die Priesterin einer exotischen Gottheit ist, indem er die rituellen Bücher liest und andere Dinge, wie die Reinigung der Katechumenen oder die Libationen, vorbereitet.73 Diese Kooperation war ein Weg zum Wissenserwerb durch Gesten und hatte eine pädagogische Wirkung: Imitation war das Schlüsselelement des Erfahrungslernens.74
69 Platon Pol. II 381 e: μηδ᾽ αὖ ὑπὸ τούτων ἀναπειθόμεναι αἱ μητέρες τὰ παιδία ἐκδειματούντων, λέγουσαι τοὺς μύθους κακῶς, ὡς ἄρα θεοί τινες περιέρχονται νύκτωρ πολλοῖς ξένοις καὶ παντοδαποῖς ἰνδαλλόμενοι, ἵνα μὴ ἅμα μὲν εἰς θεοὺς βλασφημῶσιν, ἅμα δὲ τοὺς παῖδας ἀπεργάζωνται δειλοτέρους. Übersetzung von Haller 2005. 70 Siehe Räuchle 2017, 141–187 zu den Bildquellen, wie Vasen und Grabreliefs, über athenische Mütter und Kindererziehung. 71 Xenophon, Oec. VII 14: ἐμὸν δ᾽ ἔφησεν ἡ μήτηρ ἔργον εἶναι σωφρονεῖν. 72 Xenophon, Mem. I 1.20. 73 Demosthenes XXVIII 259 f. Vgl. Wankel 1976, 1132–1149. Zur Identität der Gottheit, Sabazios oder Dionysos oder Kybele, Martin 2009, 104–115. 74 Vgl. Becchi 1996, 17: „pedagogia dell’esempio“.
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Einen weiteren Blick auf die Rolle der Mütter als Akteurinnen der Vermittlung religiöser Bildung bietet Euripides’ Alcestis, wenn Alcestis angesichts ihres kommenden Todes die Schicksale ihres Sohnes und ihrer Tochter vergleicht: Nun hat der Sohn am Vater eine feste Burg; Doch du, mein Kind, wie führst du hold dein Mädchentum, wenn deines Vaters Ehefrau es böse meint?75
Dieser Text zeigt uns, dass Alcestis’ Tod einen üblichen Weg unterbrochen hätte: Ein Mädchen wurde von ihrer Mutter erzogen, um eine fromme, ehrenhafte und respektierte Bürgerin zu werden. Ähnliche Zeugnisse sind wertvoll, da die Mutter-Kind-Beziehung innerhalb der Wohnungsmauern unter Ausschluss der Öffentlichkeit gelebt wurde, und es kann schwierig sein, entsprechende Dokumente zu finden. Sehr wahrscheinlich verfolgten die Mütter die religiöse Erziehung ihrer Töchter auch außerhalb des Haushalts. Ein besonderes Beispiel bietet sich im Artemistempel in Brauron, in der Nähe von Athen, wo athenische Mädchen zwischen fünf und zehn Jahren für eine kurze Periode vor der Hochzeit lebten.76 Artemis war eine jungfräuliche Göttin, die Frauen beschützte. Obwohl das Wesen dieser Rituale unsicher und die Überlieferung fragmentarisch ist,77 bieten sie wichtige Elemente für das Verständnis der religiösen Bildungsprozesse. Mädchen waren dort vermutlich an der Darbringung von Opfern ebenso beteiligt wie an Wettrennen, Tänzen, und rituellen Prozessionen, wahrscheinlich unter der Leitung von Tutorinnen. Die Eltern weihten beispielsweise Statuen, um ihre Kinder unter den Schutz der Göttin zu stellen.78 Die Votivgaben waren verschieden, von Kleidungsstücken und Schmuck bis hin zu Bronzespiegeln. Diese Gaben wurden auf Inschriften ihrer Chronologie und Typologie entsprechend registriert. Wir haben sechs fragmentarische Stelen aus der Mitte des vierten Jh. v. Chr., vermutlich wurden die Rituale aber bereits seit früherer Zeit vollzogen. In diesen Texten wird z. B. ‚neue‘, d. h. nie getragene Kleidung erwähnt.79 Erwachsene Frauen und jüngere Mädchen, Frauen und Töchter, gaben ihre Votive nebeneinander.80 Foxhall und Stears deuten darauf hin, dass Frauen Kleidungsstücke darbrachten, weil diese ihr besonders geschätztes Eigentum waren, die von Mutter zu Tochter als Mitgift weitergegeben wurden.81 Davon ausgehend können wir vermuten, 75 Euripides, Alc. 311–314: καὶ παῖς μὲν ἄρσην πατέρ᾽ ἔχει πύργον μέγαν· / σὺ δ᾽, ὦ τέκνον μοι, πῶς κορευθήσῃ καλῶς; / ποίας τυχοῦσα συζύγου τῷ σῷ πατρί; Übersetzung von Meinerts 1963. 76 Vgl. Sourvinou-Inwood 1988. 77 Vgl. Faraone 2003. 78 Parker 2005, 41. 79 IG II2 1514.31: [Νικ]οβούλη ἐπίβλη[μ]α ποικίλον καινόν. Nikoboule einen gemusterten neuen Umhang. 80 IG II2 1514.20: Γλυκέρα Ξανθίππου γυνὴ, „Glykera, die Frau des Xantippos“; IG II2 1514.24 f: Ἀρχεστράτ[η] Μνησιστράτου Παιανιῶς θυγάτηρ, „Archestrate, die Tochter des Mnesistratos Paianios“. 81 Foxhall / Stears 2000.
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dass Mütter ihre Töchter instruierten, wie man Artemis Kleidungsstücke weihte, vor allem Kleidung, die in entscheidenden Lebensmomenten wie der Geburt gebraucht worden war. 3.2. Ein Blick auf die Mütter als Vermittlerinnen religiösen Wissens: Christentum Leider sind keine systematischen Belehrungen an ‚normale‘ christliche Mütter erhalten, und man kann daher ,das‘ altkirchliche Konzept der Mutterschaft nur aus Texten verschiedener Gattungen zusammenfügen. Natürlich wussten schon die Christen in der Spätantike, dass Mütter und Ammen einen sehr großen Einfluss auf Kinder haben und diese informell ausführlich unterrichten konnten. Der christliche Schriftsteller Prudentius beklagte, dass Kinder von paganen Müttern und Ammen schon mit der Muttermilch Irrlehren aufnehmen könnten, da sie ihre religiöse Praxis nachahmten.82 Es scheint mir eine begründbare Annahme zu sein, dass das Christentum von Anfang an von Müttern zu Kindern tradiert wurde. Ein bekanntes Beispiel einer christlichen Mutter mit großem Einfluss auf ihren Sohn ist Monica, die Mutter des Kirchenvaters Augustinus. Sie war Christin, ihr Gatte aber nicht. Obwohl Augustinus erst als Erwachsener getauft wurde, wissen wir, dass seine Mutter seit seiner Kindheit versucht hatte, ihn für das Christentum zu gewinnen. Sie nahm ihn mit zum Gottesdienst83 und klagte und weinte darüber, dass er kein Christ war.84 Ein anderer großer Theologe des 4. Jahrhunderts, Basilius von Caesarea, erwähnt in einem Brief, dass er sein grundlegendes christliches Wissen von seiner Mutter und Großmutter erhalten habe.85 Es gibt mehrere solche Beispiele, wo Mütter ihre Kinder zur Kirche und zu den Asketen mitnahmen und ihnen dabei religiöses Wissen und religiöse Praxis beibrachten.86 Wir können diese Art von Erziehung Sozialisation nennen, weil religiöses Wissen und religiöse Praxis vermittelt werden, ohne dass dies das erklärte Ziel gewesen wäre.87 Bei diesen Prozessen ging es insbesondere um das Weitergeben und Empfangen von Erfahrungen christlichen Lebens. Wie die Väter ihre Kinder mit Erzählungen unterrichten sollten, so gibt es auch Erwähnungen von Müttern, die ihren Kindern Geschichten erzählten; z. B. wird dies nebenbei in der Vita Hilarionis 40 erwähnt. Hier hören wir von den Wundern, die der heilige Hilarion während seiner Lebenszeit übte, und der Hagiograph, Hieronymus, fügt hinzu: „… die Mütter unterrichten darüber ihre C. Symm I 197–232. Conf. I 11.17; III 3.5. 84 Augustinus, Conf. IX 9. 85 Horn 2009, 127. Horn bezieht sich auf Basilius Ep. 204.6. 86 Siehe z. B. Martyrius (Sahdona) 79 sowie die Beispiele in Vuolanto 2009, 283 und Vuolanto 2013, 585. 87 Leyerle 1997, 254. 82 Prudentius,
83 Augustinus,
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Kinder, damit auch sie die Knde der Nachwelt überliefern.“88 In seinem Kontext dient dieser Satz einem rhetorischen Zweck, es ergibt sich aber daraus, dass Hieronymus es für selbstverständlich hielt, dass Mütter eine Traditionslinie bilden. Ein anderes Beispiel stammt aus der auf Syrisch überlieferten Vita Febroniae. In diesem Text hören wir von einem römischen Beamten, der viel über das Christentum und die christliche Lehre weiß, obwohl er selbst kein Christ ist. Folgende Worte sind ihm in den Mund gelegt: […] obwohl mein Vater als Heide starb, starb (doch) meine Mutter als Christin, und sie war begierig, dass auch ich Christ werden sollte. Dennoch war ich aus Furcht nicht fähig, dies zu verwirklichen […] Doch ich empfing von ihr den Befehl, niemals einem Christen irgendeinen Schaden zuzufügen, sondern vielmehr ein Freund Christi zu sein […]89. [Es geht weiter:] [Die] Mühen [der Märtyrerin] sind für die Vergebung von vielen, vielleicht auch für mich. Ich habe das von meiner Mutter gehört […] (602).90
Die hier angeführten Beispiele zeigen deutlich, wie groß der Einfluss der Mutter sein kann, sowohl im Blick auf ihre Funktion im Rahmen der Sozialisation als auch im Blick auf ihre Rolle in Erziehungsangelegenheiten innerhalb ihrer Familie. Die Männer hatten zwar immer die formelle Autorität in der spätantiken Familie inne, doch ergibt sich häufig indirekt, dass die Mütter gewissermaßen die tatsächliche religiöse Autorität besaßen. Nicht nur die Mutter spielte eine große Rolle neben dem pater familias, ab und zu gibt es sogar auch Kinder und Enkel, die ihre Eltern und Großeltern beeinflussen und sozusagen ins Christentum „hineinsozialisieren“. Außerdem gibt es Geschichten von Schwestern, die Brüder bekehren, und umgekehrt, und wir erfahren, dass Haussklaven auch gelegentlich eine Rolle in der Erziehung spielten.91
4. Fazit: Kulturen im Vergleich Kommen wir nun zum Schluss, indem wir unsere Befunde kurz vergleichen und daraus ein Fazit ziehen. Wir haben gefragt, wie sich die familiäre Erziehung im antiken Athen von der Erziehung im frühen Christentum unterscheidet und welche Rolle das Geschlecht spielte. Als Antwort haben wir insbesondere drei auffällige Unterschiede wahrgenommen, gleichsam drei kulturspezifische Merkmale in Bezug auf familiäre Bildung. Erstens: Obwohl das Erzählen von Geschichten in beiden Traditionen eine große Bedeutung hatte, sind die Geschichten, die erzählt wurden, doch sehr unterschiedlich. So sollten sich die Christen dem religiösen Ideal nach immer auf 88 Hieronymus, Vita Hilarionis 40: […] matresque docent liberos suos ad memoriam in posteros transmittendam. 89 Vita Febroniae 573, ed. P. Bedjan (AMSS 5). 90 Vita Febroniae 602, ed. P. Bedjan (AMSS 5). 91 Zu Familienbeziehungen s. z. B. Vuolanto 2013, 591 f. und Horn 2009, 127.
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die biblischen Schriften oder auf Geschichten von christlichen Heiligen beziehen. Die leicht verständlichen und zugleich zur moralischen Unterweisung verwendbaren Schriften wurden den Kindern zuerst erzählt, und die Kirchenväter hofften, dass die Heilige Schrift und die Erzählungen von den Heiligen die heidnischen Mythen und Fabeln verdrängen würden. Zweitens: Ein anderer Unterschied scheint zu sein, dass Kinder in Athen von klein auf in rituelle Handlungen eingebunden waren und ihnen durchaus auch eine aktive Rolle in religiösen Zeremonien zugewiesen wurde. Kinder waren zwar offensichtlich auch Mitglieder der christlichen Gemeinden und nahmen an der Liturgie Teil, aber doch eher passiv. Drittens: Das Ziel des Unterrichts ist vielleicht der auffälligste Unterschied zwischen den beiden Traditionen. Im Christentum war das erklärte theologische Ziel der Erziehung, dass die Eltern ihren Kindern Gottesfurcht und gute Sitten beibringen sollten, weil dadurch nicht nur das Kind, sondern auch die Eltern das ewige Heil erlangen konnten. Eine eschatologische Perspektive rahmt die christliche Erziehung, zugleich hatten die Christen aber auch den Anspruch, die besseren Bürger des irdischen Reiches sein zu wollen. Die Erziehung in Athen ist auf den ersten Blick dagegen mehr auf die diesseitige Welt fokussiert. Im antiken Athen war das Ziel der Erziehung vor allem darauf gerichtet, einen idealen Bürger der diesseitigen griechischen polis zu formen. Die Christen waren sich in vielen Fällen bewusst, dass sie in Bezug auf Bildung und Erziehung eine neue Position vertraten. Sie stellten die griechisch-römische Religion als falsche Erziehung dar und boten eine neue, ,wahre‘ religiöse Erziehung. Das heißt, die Christen erzogen ihre Kinder im bewussten Gegensatz zu vorherigen religiösen Idealen und machten den Kindern schon auf diesem Wege die Andersheit ihrer religiösen Identität im Vergleich zu anderen Religionen in ihrer Lebenswelt bewusst. Obwohl die Unterschiede stark sind, werden doch auch kulturübergreifende Merkmale deutlich. Peter van der Veer hat treffend bemerkt, dass man Religion nur durch kulturelle Praktiken, nicht von Natur aus lernen kann; in der neuesten Forschung wird die rituelle Kommunikation als eine Art Sprache behandelt, so dass das Lernen von Religion dem Lernen von Sprache vergleichbar wäre.92 Wir könnten diese Überlegungen weiterentwickeln und hervorheben, dass Menschen zuerst in der Familie zu sprechen lernen. Es ließe sich geradezu sagen, dass die Kinder die ‚Mutterreligion‘ so wie ihre Muttersprache lernen. Aus unserem Überblick geht hervor, dass im klassischen Athen und auch im frühen Christentum die Frauen, obwohl sie nur selten in normativen Texten direkt angesprochen werden, vorbildhafte und wesentliche Akteure bei der Gestaltung der religiösen, sozialen und kulturellen Identität ihrer Kinder waren. Die Mütter hatten eine kaum zu überschätzende Rolle in der religiösen Erziehung, und zusammen mit 92 Van der Veer
2011, 236 über das zeitgenössische China und Indien.
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den Vätern vermittelten sie grundlegende religiöse Inhalte an Mädchen und Jungen. Als eine weitere kulturübergreifende Charakteristik hat sich ergeben, dass Religiosität zu lernen Grundsätze für ein besseres Verhalten miteinschließt. Im klassischen Athen sollten die Kinder σωφροσύνη (Mäßigkeit) und Respekt erlernen, nicht nur gegenüber den Göttern, sondern auch gegenüber den Eltern, der Heimat und den anderen Menschen. Entsprechend kann es als ein Hauptanliegen der christlichen Kindererziehung angesehen werden, dem Kind Gottesfurcht und den rechten sittlichen Lebenswandel beizubringen. Nicht zuletzt scheint sich der Eindruck zu bestätigen, dass die Nachahmung der Eltern als eine wichtige und universale Lernstrategie betrachtet werden kann, die bei der Vermittlung von religiösem Wissen und religiösen Kompetenzen angewendet wurde. Am Ende dieser – wenn man so will – Bildungsreise können wir sagen, dass der Titel dieses Beitrags etwas spezifiziert und eingeschränkt werden sollte, um sein Ziel noch präziser zu identifizieren: Wir haben die Familie als eine Institution untersucht, in der für die religiöse Erziehung der jungen Menschen Sorge getragen wurde. In zwei verschiedenen Kulturen war die Familie der Kernort für die ersten Schritte des lebenslangen Prozesses religiöser Bildung, und Religion wurde im Alltag durch bewusste und unbewusste Aktionen, also durch Erziehung und Sozialisation, vermittelt.
Zitierte Literatur a) Quellen Aeschylus, Tragische Stücke (übers. von Rolf Nölle; Norderstedt: Books on Demand, 2008). Augustinus, Confessions, 3 Bde. (hg. von John J. O’Donnell; Oxford: Clarendon Press, 1992). –, In epistolam Ioannis ad Parthos (hg. von Paul Agaesse; SC 75; Paris: Les Editions du Cerf, 41994). Constitutiones Apostolorum, 3 vols. (hg. von Marcel Metzger; SC 320, 329, 336; Paris: Les Editions du Cerf, 1985, 1986, 1987). Demosthenes, Rede für Ktesiphon über den Kranz (übers. von Hermann Wankel; Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 1976). Didascalia Apostolorum (hg. von Arthur Vööbus; CSCO 401/402 = Scriptores Syri 175/176; Leuven: Peeters, 1979). Euripides, Alcestis: ders., Griechische Tragödien: Aischylos, Sophokles, Euripides (übers. von Hans Jürgen Meinerts; Gütersloh: Bertelsmann Lesering, 1963). Hieronymus, Epistula 107 (hg. von Isidor Hilberg; CSEL 55; Wien: Tempsky, 1912) 338– 371. –, Vita Hilarionis (hg. von Pierre Leclerc / Edgardo M. Morales; SC 508; Paris: Les Editions du Cerf, 2007) 212–299; Übersetzung: Des heiligen Kirchenvaters Hieronymus ausgewählte Schriften (übers. von Ludwig Schade; München: Kösel, 1914). Homer, Ilias (übers. von Wolfgang Schadewaldt; Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1975). –, Odyssee (übers. von Roland Hampe; Stuttgart: Reclam, 2010).
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Zwischen Schule und Schweigen Der hl. Isaak von Ninive und die ostsyrischen „Schulphilosophen“* Dmitrij F. Bumazhnov 1. Einführendes Was ist ein mitleidvolles Herz? […] Entflammen des Herzens für die ganze Schöpfung: für Menschen, Vögel und Tiere und für die Dämonen und [für] alles, was ist, so dass, wenn man sich an sie erinnert oder sie sieht, die Augen aus Mitleid und einem starken Mitgefühl, welche das Herz bedrücken, Tränen vergießen. Das Herz wird schwach und kann es nicht ertragen, wenn es Verletzung oder [auch] ein winziges Leid eines [beliebigen] Teiles der Schöpfung wahrnimmt oder mitverfolgt.1
Diese vielfach zitierten Worte des ostsyrischen christlichen Mönches und Mystikers Isaak von Ninive stellen in einer gewissen Weise seine Visitenkarte dar. Wie selten einem anderen ist es ihm hier wie auch an anderen Stellen gelungen, die kosmische Dimension des menschlichen Daseins und die menschliche Berufung im Kosmos in Worte zu fassen. Isaaks Reflektionen über Gott, Mensch und Schöpfung, das Verhältnis zum Mitmenschen, Gerechtigkeit und Liebe, Paradies und Hölle – um nur einige seiner Themen zu nennen – bewegen auch heutige Leser und werden es sicherlich auch in den kommenden Generationen tun. Das Ziel dieses Artikels ist, die Person und das Werk dieses Mannes kurz vorzustellen, um im zweiten Schritt der Frage nach seinem Umgang mit der Bildung im spezifisch monastischen Kontext nachzugehen. Wie auch sonst in den Beiträgen zu dieser Ringvorlesung soll dabei der Aspekt der Bildungsinstitutionen zur Sprache gebracht werden. Isaak gehörte zu der syrischen Kirche des Ostens, deren Mitglieder man gelegentlich bis heute mit dem ursprünglich polemisch gemeinten spätantiken * Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt B 04 „Schriftauslegung und religiöse Polemik in syrischen Texten der Spätantike“. 1 Isaak von Ninive, 1,74; syrischer Text: Bedjan 1909, 507, 14–19. Bei den Zitaten aus den Werken Isaaks verweist die erste Ziffer auf den jeweiligen Band, die zweite und eventuell auch dritte – auf die Nummer des Traktates in diesem Band und das jeweilige Kapitel innerhalb des Traktates. Überall, wo es nicht anders angegeben ist, stammen die Übersetzungen von mir.
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Begriff „Nestorianer“ bezeichnet. Diese Kirche geht auf die christlichen Gemeinden zurück, die mindestens seit dem 2. Jahrhundert im heutigen Irak und Iran sowie z. T. auch östlich davon zu finden waren.2 Zu Isaaks Zeiten, das heißt in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, lebten die meisten Nestorianer auf dem Territorium des muslimischen Kalifats der Umayyaden. Zwei wichtige Merkmale der Kirche des Ostens, die für ein besseres Verständnis des Folgenden kurz angesprochen werden müssen, sind ihre asketischen und monastischen Traditionen sowie ihre Schulbewegung.
2. Isaak von Ninive und asketisch-mystische Traditionen der Kirche des Ostens Isaak selbst verstand sich als īḥīḏāyā („Eremit, Einsiedler“) und schrieb für die īḥīḏāyē. Im syrischen protomonastischen Kontext des 3.–4. Jahrhunderts bezeichnete īḥīḏāyā einen Asketen. Dieser Terminus verband in sich gleich mehrere Bedeutungen, die alle mit der Wurzel ḥaḏ, „eins“, zu tun haben, von der er gebildet ist: allein, alleinlebend; innerlich einheitlich, nicht gespalten; unverheiratet, zölibatär und andere. Im 7. Jahrhundert war īḥīḏāyā die Bezeichnung eines eremitischen Mönchs, wobei vielfältige Nebenbedeutungen den syrischen Muttersprachlern sicherlich bewusst blieben. Die Idee des religiös motivierten Alleinseins, das bereits im syrischen Namen des mönchischen Standes, zu dem Isaak gehörte, angelegt ist, ist eines der wichtigsten Themen seines theologischen Denkens. Des Weiteren ist zu betonen, dass Isaak von Ninive der bekannteste Vertreter einer ganzen Gruppe von ostsyrischen monastischen Mystikern ist, die in der frühislamischen Zeit (7.–8. Jahrhundert) im Kalifat wirkten. Zu dieser Gruppe gehören Dadisho‘ Qaṭraya (zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts), Schemʿon d-Ṭay butheh (spätes 7. Jahrhundert), Johannes von Dalyatha (8. Jahrhundert) und Joseph Ḥazzaya (8. Jahrhundert).3 Obwohl zeitlich und räumlich getrennt und unabhängig voneinander tätig, vertraten diese Mystiker weitgehend ähnliche theologische und asketische Ansichten. Das erlaubt in bestimmten Fällen, auf ihre Schriften zurückzugreifen, um die Situation und Ideen Isaaks besser zu verstehen.
2 Eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Kirche des Ostens vor der islamischen Zeit bietet Labourt 1904; ein allgemeiner geschichtlicher Überblick ist bei Baum / Winkler 2000 und Hage 2007, 269–308 zu finden. 3 Zu diesen Mystikern und ihrer Theologie siehe Blum 2009, 91–98 (Dadisho‘ Qaṭraya); 105– 115 (Schemʿon d-Ṭaybutheh); 347–449 (Johannes von Dalyatha); 287–339 (Joseph Ḥazzaya), sowie die einschlägigen Beiträge bei Brock 2011.
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3. Die ostsyrische Schulbewegung Die religiöse Bildung spielte bei den Ostsyrern eine prominente Rolle. Unsere Quellen berichten immer wieder von Schulen, die seit dem späten 4. Jahrhundert an unterschiedlichen Orten Ostsyriens und Mesopotamiens für die christliche Unterweisung sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen betrieben wurden.4 Die bekannteste und einflussreichste davon war die theologische Schule von Edessa / Nisibis (heute Städte Şanlıurfa und Nusaybin in der Südost-Türkei). Ihre Tätigkeit im 4.–6. Jahrhundert ist gut belegt;5 von anderen Schulen kennen wir oft nur noch Namen ihrer Begründer beziehungsweise der Orte, wo sie gelegen waren. Theresia Hainthaler und andere Forscher verwenden für diese Schulen den Begriff „ostsyrische Schulbewegung“,6 der sicherlich berechtigt ist. Für die Fragestellung dieses Beitrages ist wichtig, dass in der Schule von Nisibis spätestens seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts die Logik des Aristoteles sowie die neuplatonische Tradition ihrer Kommentierung rezipiert wurden.7 Die entwickelte asketisch-mystische Tradition und die Schulbewegung sind zwei Pole, zwischen denen sich Isaak von Ninive als Einsiedler, monastischer Lehrer und geistlicher Schriftsteller bewegte. Dass die beiden Pole durchaus Spannung erzeugen konnten, belegt das ostsyrische „Buch der Äbte“8 des Thomas von Marga (9. Jahrhundert). Thomas berichtet von dem Wunsch des nestorianischen Katholikos Ischoʿyahb III., in unmittelbarer Nähe des Klosters Beth ʿAbe im Nordost-Irak eine theologische Schule für Kinder und Jugendliche zu bauen.9 Ischoʿyahb lebte in Beth ʿAbe noch als Mönch und fühlte sich mit diesem Kloster deswegen in einer besonderen Weise verbunden. Seine Absicht war, das Studium der Heiligen Schrift und das spirituelle Leben zu kombinieren, den gelehrten Nachwuchs für das Kloster zu sichern und dadurch seinen Ruhm zu erhöhen. Das Vorhaben scheiterte jedoch an offenem Protest der Klostermönche. Zunächst entsandten sie zu dem Kirchenoberhaupt eine Delegation, die ihn vergeblich zu überreden versuchte. Darauf verließen siebzig Mönche in einer Nachaktion Beth ʿAbe und nahmen die Reliquien des Klosterpatrons mit. Der Rest der Siehe Becker 2006, 155–168. wichtigster Quellen in englischer Übersetzung bei Becker 2008. Eine Übersicht der Geschichte der Schule von Nisibis im 5.–6. Jh. bietet Possekel 2015. 6 Siehe Hainthaler 2002, 257–258 und Hainthaler 2004, 191; vgl. auch Becker 2008, 22 „[s]chool [m]ovement“. 7 Vgl. Becker 2006, 126–154 und Bumazhnov 2016 a, 198–199. Zu syrischen Übersetzungen der aristotelischen Logik und syrischen Kommentaren dazu im Allgemeinen siehe Brock 1993 mit Literatur zu der Frage. 8 Der syrische Titel ist ktābā d-rešānē, „Buch der Äbte [des Klosters Beth ʿAbe]“; in der wissenschaftlichen Literatur ist das Werk auch als Historia monastica bekannt. 9 Thomas von Marga, Historia monastica 2,7–10; syrischer Text: Budge 1893, Vol. I, 73,10– 78,6; englische Übersetzung: Budge 1893, Vol. II, 131–153. Ischoʿyahb leitete die Kirche des Ostens in den Jahren 649–659, also schon zu Isaaks Lebenszeit. Die Biographie Isaaks von Ninive wird weiter unten kurz dargestellt. 4
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Brüder drohte, ihnen Folge zu leisten, wenn der Katholikos seine Entscheidung nicht ändern würde. Der Konflikt wurde erst durch einen Traum Ischoʿyahbs beigelegt, in dem ihn Christus verstehen ließ, dass die Schule woanders gebaut werden soll. Der Katholikos beugte sich. Die beiden wichtigsten Argumente, die die Mönche gegen die Errichtung einer Schule vorbrachten, waren gemäß unserem Berichterstatter Thomas von Marga fehlende Schrift‑ und Traditionsbelege für die Verbindung von Schule und Kloster, sowie die Befürchtung, dass der Schulbetrieb ihr kontemplatives Leben stören würde. Für die Idee eigener Weiterbildung hatten die Brüder wenig übrig. Wie wir im Folgenden sehen werden, hatten nicht allein Klostermönche, sondern auch ostsyrische Eremiten wie Isaak von Ninive ihre Schwierigkeiten mit Schulen und Bildung, die allerdings anderer Art als bei den Mönchen von Beth ʿAbe waren. Um die Hintergründe dieser Spannungen besser zu verstehen, sollen nun Isaak und sein Werk und im nächsten Schritt die Bildungsauffassung Isaaks kurz vorgestellt werden.
4. Isaak von Ninive: Leben und Werk Über Isaak von Ninive ist wenig bekannt.10 Er stammte aus der Region um das heutige Emirat Katar am Persischen Golf. Das einzige mehr oder weniger sichere Datum seines Lebens sind die Jahre von 676 bis 680. Während dieser Zeitspanne soll er zum Bischof der Stadt Ninive (heute Mosul im Nordirak) erhoben worden und also vermutlich zwischen etwa vierzig und etwa sechzig Jahre alt gewesen sein.11 Gemäß dem Liber castitatis des Išoʿdnaḥ von Basra (9. Jahrhundert) zog sich Isaak allerdings nach nur fünf Monaten im Amt zurück in die Berge der Provinz Huzistan im West-Iran, wo er bis zum Ende seines Lebens als Eremit in loser Bindung an das Kloster Rabban Šabūr blieb.12 Eine von Ignatius Rahmani 1904 publizierte namenlose syrische Quelle13 berichtet über diese Zeit: Gegen das Ende [seines Lebens] erlosch das Licht [seiner Augen] und [es waren] die Brüder, [die] seine Lehre aufschrieben. Sie nannten ihn „den zweiten Didymos“,14 denn er war sanftmütig, angenehm [im Umgang mit Menschen] und bescheiden, und seine Rede war mild. 10 Ausführliche Besprechungen der überlieferten Quellen zum Leben Issaks von Ninive bieten Chialà 2002, 53–63 und Muraviev 2016, 40–51. 11 Siehe Chialà 2002, 56–57. 12 Išoʿdnaḥ von Basra, Liber castitatis 125; syrischer Text: Bedjan 1901, 509,2–5; italienische Übersetzung: Chialà 2002, 54. Zur Lokalisierung des Klosters Rabban Šabūr siehe Jullien 2007, 337–338. 13 Syrischer Text: Rahmani 1904, lg [33],12–13; lateinische Übersetzung: ebd., 32. 14 Der besagte Didymos der Blinde lebte in der zweiten Hälfte des 4. Jh.s in Alexandrien und war als Lehrer der dortigen christlichen theologischen Schule tätig. Zu Didymos und seinem Schülerkreis in Alexandrien siehe z. B. Layton 2004, 13–26.
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Die Quelle Rahmanis ist unter anderem auch insofern wertvoll, als sie uns einen Einblick in den kleinen Schülerkreis um Isaak gewährt. Der italienische Isaakforscher Sabino Chialà ist der Meinung, dass Isaak die Mehrheit seiner Schriften an einen Schülerkreis richtete, der eine Verbindung mit dem Kloster Rabban Šabūr unterhielt.15 An Sonn‑ und Festtagen nahm man an den klösterlichen Gottesdiensten teil,16 während der Woche oder auch längere Zeit verblieb man in den Zellen außerhalb des Koinobions. Der Klostergründer Rabban Šabūr übernahm die Klosterregel des großen Reformers des ostsyrischen Mönchtums Abraham von Kaschkar17 und gestaltete das Mönchsleben seiner Klostergründung nach dem Vorbild des Großen Klosters Abrahams auf dem Berg Izla unweit von Nisibis.18 Das Mönchtum des Abraham lässt sich als eine Verbindung der koinobitischen Grundlage mit Elementen der Anachorese beschreiben; dem gleichen Typus folgte auch das Kloster Rabban Šabūr.19 Die aus der Reform des Abraham von Kaschkar entstandene Klosterregel schrieb den neu aufgenommenen Mönchen vor, mindestens drei Jahre im Kloster zu bleiben, bevor sie sich dem semianachoretischen Leben außerhalb der Klostermauern widmen konnten.20 Während dieser Zeit übten sich die Novizen unter anderem in der Lektüre und Meditation der Heiligen Schrift, die die innere Ruhe21 zu bewahren verhelfen sollte.22 Diese Aktivitäten setzen eine klösterliche Unterweisung voraus. Die Lektüre der Bibel und der heiligen Väter der Kirche des Ostens wurde in den der abrahamischen Reform verpflichteten Klöstern ausgesprochen positiv gesehen, obwohl sie nicht ein „intellektuelles“ Mönchtum repräsentierten.23 Theologische Studien vor der Aufnahme ins Kloster und wohl auch bis zu einem gewissen Grade danach wurden begrüßt.24 Die generelle Auf-
15 Chialà 2002, 43. Auf diesen Schülerkreis werden wir weiter unten noch zu sprechen kommen. 16 Jullien 2007, 339. Zum liturgischen Leben der Mönche des Isaak von Ninive siehe Kavvadas 2011. 17 Zu Abraham von Kaschkar († 588) und seiner Reform des ostsyrischen Mönchtums siehe Chialà 2005 und Jullien 2008. 18 Siehe dazu Chialà 2002, 42 und Jullien 2007, 334–337. 19 Chialà 2002, 40; Jullien 2007, 338–339. 20 Siehe die Regel des Dadischoʿ, Kanon 13, syrischer Text und englische Übersetzung: Vööbus 1960, 170–171, und die Regel des Babai, Kanon 7, arabischer Text und englische Übersetzung Vööbus 1960, 179. Vgl. auch kurze Kommentare dazu bei Chialà 2005, 85–86 und Camplani 2007, 281–282. 21 Syrisch šelyā; in der monastischen Literatur entspricht šelyā dem griechischen Begriff ἡσυχία. 22 Vgl. die Regel des Abraham von Kaschkar, Kanon 1, syrischer Text: Vööbus 1960, 155,9–10, englische Übersetzung, ebd. 23 So Chialà 2005, 92. 24 Vgl. Chialà 2011, 72–73.
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fassung von Bildung, insbesondere nach den Prüfungsjahren, war jedoch wohl zurückhaltender.25 Die Werke Isaaks wurden in größeren Sammlungen überliefert, die auf Syrisch Bände oder Teile26 heißen. Nach den mittelalterlichen Zeugnissen gab es mindestens fünf Bände.27 Die Schriften des ersten Bandes wurden im 9. Jahrhundert im Kloster des heiligen Sabas in Palästina ins Griechische übersetzt.28 Die griechische Übersetzung des ersten Bandes diente als Vorlage für die lateinische sowie altkirchenslawische Übersetzung, so dass dieser Teil sowohl in West‑ wie auch in Osteuropa bekannt und in mehrere europäische Sprachen übertragen wurde.29 Die Popularität Isaaks als geistlichen Schriftstellers in Byzanz und darüber hinaus geht allein auf die Ausstrahlung der griechischen Übersetzung des ersten Bandes zurück;30 sie ist wohl auch der einzige Grund dafür, dass Isaak bis heute – trotz seiner „nestorianischen“ Herkunft – in den hauptsächlich slawischen Kirchen des byzantinischen Ritus als Heiliger verehrt wird.31 Das syrische Original des ersten Bandes wurde erst 1909 herausgegeben.32 Der zweite und dritte Band wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert in Oxford und Teheran entdeckt und danach publiziert.33 Etwa die Hälfte des syrischen Originals des zweiten Bandes bleibt allerdings nur in handschriftlicher Überlieferung zugänglich.34 Im August 2016 hat Gregory Kessel auf der syrologischen Tagung in Rom über die Entdeckung des kompletten fünften Bandes berichtet.35 Eine Edition ist in Vorbereitung. Wenden wir uns nun dem eigentlichen Thema dieses Beitrags zu: der Bildungsauffassung des Isaak von Ninive und seinem Konflikt mit den sogenannten ostsyrischen Schulphilosophen. 25 Vgl. Chialà 2013 b, 186: „Evidentemente è in atto una rilettura della tradizione monastica, a partire da Abramo di Kashkar, che su questo punto si propone con una novità di rilievo. Da una parte si afferma l’importanza dello studio, nelle scuole teologiche prima e nel monastero poi, ma dall’altra si tende a separare e distinguere i due ambiti, vale dire scuola e monastero, e [. . .] anche i due approcci [. . .] Di conseguenza il monachesimo di stampo kashkarense, a differenza di quello precedente e coevo ma che non aveva seguito la riforma di Abramo, si concepisce estraneo ad un coinvolgimento diretto nelle istituzioni scolastiche.“ 26 Syrische Bezeichnung ist penqīṯā < πίναξ oder pālgūṯā. 27 Quellen bei Chialà 2002, 66. 28 Zur Übersetzungsgeschichte im Sabas-Kloster siehe Brock 2001 und Pataridze 2014. 29 Zur vormodernen Übersetzungsgeschichte siehe Chialà 2002, 325–362; zu Übersetzungen in moderne Sprachen siehe ebd., 363–364. 30 Zur Rezeption des Isaak von Ninive in Byzanz siehe Muraviev 2016, 113–115. 31 Zu liturgischer Verehrung Isaaks in unterschiedlichen Kirchen siehe Chialà 2002, 307–309. 32 Syrischer Text: Bedjan 1909; englische Übersetzung: Wensinck 1923. 33 Zweiter Band, syrischer Text und englische Übersetzung: Brock 1995; dritter Band, syrischer Text und italienische Übersetzung: Chialà 2011. 34 Die Texte liegen in englischer und italienischer Übersetzung vor, siehe Brock 1997 und Bettiolo 1990, 49–197. Zu weiteren Übersetzungen des kompletten zweiten Bandes siehe Bumazhnov 2015, 151 Anm. 10. 35 Ob die von Chialà 2013 a edierten Texte tatsächlich Teile des fünften Bandes sind, war für den Herausgeber selbst zweifelhaft.
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5. Bildung und Konflikt mit „Schulphilosophen“ Wenn wir von der Bildungsauffassung Isaaks sprechen, so sprechen wir von der Bildung der Eremiten. Eine detaillierte Darstellung dieses Themas würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, ich verweise hier auf meine vor kurzem erschienene Publikation, deren Thesen in diesem Abschnitt zusammengefasst werden.36 Die grundsätzliche Einstellung Isaaks ist vor allem aus einem noch nicht publizierten Text des 2. Teiles 2,1 und einer kürzeren Passage aus 1,4 ersichtlich.37 An diesen beiden Stellen geht Isaak am ausführlichsten auf die Problematik der Lektüre der Eremiten ein und drückt wohl seine grundsätzlichen Überlegungen zu dem Thema aus. Anzumerken ist, dass Isaak unter den unerwünschten Büchern nicht ausdrücklich philosophische Werke anspricht und sie andererseits aber auch nicht empfiehlt, wobei er selbst beispielsweise die Vita des heidnischen „schweigenden Philosophen“ Secundus kennt und sie für eine asketische Paränese nutzt.38 Zum Lesen empfohlen
Zum Lesen nicht empfohlen
Isaak von Ninive, 2,1 (Oxford Bodleian Library, ms.syr.e.7, f. 10 v–11 r)
Isaak von Ninive, 2,1 (Oxford Bodleian Library, ms.syr.e.7, f. 10 v–11 r)
1. [Lektüre, die] deine Leidenschaften abtötet.
1. [Lektüre, die zum] Aneignen von Wissen [dient].
2.1 Viten der Heiligen, die vor [uns] waren 2. [Lektüre, die] mal über dieses, mal über jenes verworren redet und manchmal in und den überweltlichen Lebenswandel sich Geschichten bringt, die deine geistige anachoretisch ausübten. Meditation über das Überweltliche stören und verwirren. 2.2 Berichte über Offenbarungen, die ihnen zuteil geworden sind,
3. [Lektüre,] die allgemein redet.
2.3 die Lehre, die sie von Gott empfangen haben über die Ordnung dieses Lebenswandels
4. [Lektüre,] die unterschiedslos dich und einen Laien belehrt.
2.3.1 und über Leiden und Kämpfe, die ihnen zuteil geworden sind
5. [Lektüre,] die für den Gebrauch in Unterweisung von allen [Menschen]gruppen gleichermaßen geeignet ist.
6. [Lektüre] über Ereignisse und Streitig2.3.2 und über Arten von Sieg und Verurteilung, Aufstehen und Niederfallen, die keiten in der Kirche. sie ertrugen. 36 Bumazhnov
2015. die syrischen Texte siehe Bumazhnov 2015, 155–156. 38 Die philosophischen Werke können aber z. B. in der Spalte 2, Zeile 1 mitgemeint sein. Zur Secundusvita (2. Jh. n. Chr.) bei Isaak von Ninive siehe Brock 1978/1992. Isaak geht darauf ein in 1,57 ein; syrischer Text: Bedjan 1909, 403,18–404,19. 37 Für
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Zum Lesen empfohlen
Zum Lesen nicht empfohlen 7. Kanones (qānūnē < κανών).
2.4 (Zusammenfassend zu 1–2.3.2) Und, kurz gesagt, lasst uns mit den Büchern uns beschäftigen, die ausschließlich über den Weg des Mönchslebens, seine Ordnung und äußere Form berichten.
8. [Lektüre, die] dich [über] die Angelegenheiten der Könige, ihre Siege und Lebensgeschichten informiert.
9. [Lektüre, die] voll von Polemik und Widerlegungen [ist], die gegeneinander ausgesucht sind. Isaak von Ninive, 1,4 (48,12–13 Bedjan)
Isaak von Ninive, 1,4 (48,8–9 Bedjan)
3. Zwei Testamente.
10. Bücher, die sich mit Unterscheidungen von Lehren der Häresien beschäftigen, um [diese] zu widerlegen.
4. Bücher über die Vorsehung Gottes.
Die Tabelle zeigt, dass Isaak den Eremiten fast ausschließlich nur die Lektüre der Bibel und der spezifisch von und für Eremiten verfassten Literatur nahelegt (Spalte 1, Zeile 3; 2.4). Nicht empfehlenswert sind dagegen profane Werke (Spalte 2, Zeile 8) die über „die Angelegenheiten der Könige, ihre Siege und Lebensgeschichten“ informieren, und auch der überwiegende Teil der nichtmonastischen christlichen Literatur (Rest der Spalte 2).39 In Isaaks eigenen Schriften trifft man allerdings nicht selten auf Polemik gegen die nicht näher definierten „Philosophen“. Bei einigen dieser Texte fällt auf, dass sie nicht die – zeitgenössischen oder früheren – heidnischen Philosophen im Blick haben, sondern eher Mönche, welche sich in ihrer asketischen und mystischen Praxis in der einen oder anderen Weise auf die Werke der Philosophen stützen beziehungsweise ein wie auch immer zu verstehendes philosophisches Leben führen. Ein Beispiel: Im Traktat 68 des ersten Bandes erwähnt Isaak, dass manche Asketen vergeblich versucht hätten, die Wahrheit (d. h. göttliche Dinge beziehungsweise Gott) zu betrachten, ohne vorher göttliches Licht zu erlangen. Dabei bedienten sich diese der „philosophischen Lebensweise“ (rahṭā pīlāsōpāyā), was unter anderem zur Folge hatte, dass sie ihre gewöhnliche (das heißt nicht mystische) Sehkraft ruinierten.40 Es ist evident, dass es in diesem Text um Mönche geht. 39 Wichtig ist Spalte 2, Zeile 9: „[Lektüre, die] voll von Polemik und Widerlegungen [ist], die gegeneinander ausgesucht sind“. Aus dem Folgenden wird klar, dass es Isaak von Ninive darum geht, polemischen Eifer in eigenen Reihen durch Kontroversliteratur nicht zusätzlich zu entfachen. 40 Isaak von Ninive, 1,68; syrischer Text: Bedjan 1909, 474,11–18. „Und [was] jene natürliche Kraft des Intellekts [anbetrifft], welche auch seelisches Begreifen genannt wird, [so] ist es für die
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Ein ähnlicher Text aus dem dritten Band betont, dass sich Gott jeglicher asketischen Aktivität bzw. Lebensweise (rahṭā)41 entzieht und nur durch äußere Bemühungen42 nicht gefunden werden kann. Wäre dies der Fall, dann wäre eine Annäherung an Gott auch für Philosophen möglich, sagt Isaak.43 Diesem Weg gegenübergestellt wird die „Regel des Intellekts“ (dubārā ḏ-reʿyānā),44 die Sabino Chialà ganz richtig als Meditation und innere Konzentration auf Gott deutet.45 Auch hier scheinen die „Philosophen“ vielmehr Bezeichnung für eine besondere asketische Richtung als Hinweis auf Berufsphilosophen zu sein.46 Ein auffallender Aspekt der Polemik des Isaak gegen die Philosophen ist, dass sie teilweise schriftlich geführt wurde. Auf der einen Seite kritisiert Isaak „diejenigen, die außerhalb der [mönchischen] Abgeschiedenheit und großen Entbehrungen waren, und es [dennoch] wagten, über jenes Mysterium der göttlichen Herrlichkeit in den Kreaturen zu reden und zu schreiben.“47 Auf der anderen Seite zeigt sich Isaak selbst dazu bereit, gegen „die heidnischen Philosophen […] und auch diejenigen, die nach ihnen [sind / waren]“48 zu „polemisieren“.49 Was die erste Gruppe betriff, so glaubten ihre Vertreter, dass die „Kontemplation der Philosophen“50 zur Erkenntnis der göttlichen Geheimnisse führe.51 Gerade diese Meinung wird von Isaak im ersten Teil seiner Werke ausdrücklich in Ab-
Seele nicht möglich, sich an der Schau (< θεωρία) der Wahrheit zu beteiligen, ohne dass [diese Kraft vorher] das göttliche Licht empfangen hat. […] Denn viele wagten, [noch] behaftet mit Affekten der Seele und des Leibes [diese Schau] durch die philosophische Lebensweise – [und zwar] sich ausschließlich darauf stützend – [zu erreichen], und irrten [auch] von [dem [Maße] der Wahrheit ab, das sie besaßen, ab und zerstörten [dazu auch noch ihre] normale Sehkraft.“ 41 Isaak von Ninive, 3,1,15; syrischer Text: Chialà 2011, 6,10. Vgl. rahṭā pīlāsōpāyā in Isaak von Ninive, 1,68; syrischer Text: Bedjan 1909, 474,16. 42 Isaak von Ninive, 3,1,15; syrischer Text: Chialà 2011, 6,10. Zu vergleichen damit wären die Versuche, Gott mit den äußeren Augen zu sehen, vgl. oben das Zitat aus Isaak von Ninive, 1,68 in Anm. 40. 43 Isaak von Ninive, 3,1,15; syrischer Text: Chialà 2011, 6,9–11. Die heidnischen Philosophen können an dieser Stelle durchaus mitgemeint sein. 44 Isaak von Ninive, 3,1,15; syrischer Text: Chialà 2011, 6,8. 45 Chialà 2011 (Übers.), 11 Anm. 53. Daraus ergibt sich die wichtige Gegenüberstellung des äußeren, von Isaak als philosophisch kritisierten, und des inneren, von Isaak selbst vertretenen, mystischen Weges. 46 Für weitere Beispiele siehe Becker 2006, 184–188, Kavvadas 2015, 38–40 und Bumazhnov 2015, 161–164; ebd., 161 wird auch die allgemeine Einstellung Isaaks gegenüber der Philosophie zusammengefasst. 47 Isaak von Ninive, 2,35,6; syrischer Text: Brock 1995, 141,14–16. 48 Isaak von Ninive, 1,3; syrischer Text: Bedjan 1909, 21,17–18. 49 Isaak von Ninive, 1,3; syrischer Text: Bedjan 1909, 22,4. Der Traktat 1,3 ist ein Beispiel dieser Polemik. 50 Isaak von Ninive, 2,35,7; syrischer Text: Brock 1995, 141,20. Aus dem Kontext wird klar, dass damit die Erkenntnis der Kreatur im Gegensatz zu den Mysterien Gottes angesprochen ist, vgl. Isaak von Ninive, 2,35,8; syrischer Text: Brock 1995, 142, 4–5. 51 Isaak von Ninive, 2,35,7; syrischer Text: Brock 1995, 141,20–22.
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rede gestellt und zwar im Kontext der Gegenüberstellung von psychischem (das heißt gewöhnlichem) und spirituellem Wissen:52 Sieh zu, dass du auf keinen Fall denkst, dass jenes geistige Wissen durch dieses psychische Wissen erlangt wird. Nicht allein ist es unmöglich, das geistige Wissen durch das psychische Wissen zu erlangen, sondern es ist auch unmöglich, dass diejenigen, die sich Mühe geben, sich das [psychische Wissen] anzueignen, für würdig erachtet werden, das [geistige Wissen] wahrzunehmen.
Der nordamerikanische Syrologe Adam Becker hat angenommen, dass der Begriff „Philosoph“ bei Isaak von Ninive für christliche monastische Anhänger der logischen Lehre des Aristoteles steht.53 Einer der für Isaak wohl schwerwiegendsten Gegensätze zwischen seiner eigenen Auffassung des mönchischen Tuns und den aristotelisch geprägten Mönchen lag wohl in Bereich der Gotteserkenntnis. Nach der „Ursache der Begründung der Schulen“ des Barḥadbschabba ‘Arbaya54, der die ostsyrische Schultradition im späten 6. Jahrhundert vertritt und zusammenfasst, kann Gott unmittelbar aus den Zusammenhängen und Strukturen der Natur erkannt werden.55 Dieser scholastischen Tradition stellt Isaak von Ninive seine mystische Lehre von der rein geistlichen Erkenntnis Gottes gegenüber.56 Es unterliegt keinem Zweifel, dass die logischen Werke des Aristoteles den ostsyrischen Mönchen der zweiten Hälfte des 7. Jahrhundert sehr wohl bekannt 52 Isaak
von Ninive, 1,77; syrischer Text: Bedjan 1909, 526,18–22. 2006, 187: „‘Philosopher’ seems to be a code word for those Christian intellectuals engaged in the study of Aristotle’s logical works. […] Philosophy is often, but not always, a negative term for the monastic writers.“ 54 Die in der Wissenschaft gebräuchliche Bezeichnung dieser Schrift ist Causa. Der Herausgeber Addai Scher hat die Causa nicht in Kapitel eingeteilt, verwiesen wird deswegen auf die Seiten und Zeilen seiner Edition. 55 Die entscheidende Passage ist Barḥadbschabba, Causa, Scher 1908, 344,8–345,4: „Daher zeichnet der Intellekt mit diesem wunderbaren Instrument (< ὄργανον) der Rationalität sämtliche klaren Bilder des exakten Wissens und formt mit ihm die herrliche Statue (< ἀνδριάς) jenes Urbildes [des Menschen] (d. h. Gott). Damit nun nicht die Intelligenz und Rationalität des Intellekts unbeschäftigt und nutzlos bleiben – er (d. h. der Intellekt) hatte [nämlich] kein Alphabet, mit dem er die Namen zusammenstellen und aussprechen sowie die Belehrung hinsichtlich jenes Wesens (d. h. Gott) empfangen wie auch ferner die Macht seiner Herrschaft demonstrieren könnte – war es nötig, dass der Schöpfer gleichsam für sein (d. h. des Intellekts) Training und als Zeichen seiner Freiheit diese Körperlichkeit konstruierte, sie mit Wirkkräften und Farben mischte, in Gattungen (< γένος) und Arten (< εἶδος) aufteilte, durch Formen (< σχῆμα) und Handlungen schied und mit individuellen Eigenschaften versah. Er brachte [sie] hinein und brachte sie im riesigen Zwischenraum zwischen Himmel und Erde unter. Für ihn [d. h. den Intellekt] schrieb Er wie auf einer Schreibtafel und setzte zusammen alle sichtbaren Körper, damit er in ihnen lesen und aus ihnen Den erkennen könnte, Der für ihn die Ursache dieser Belehrung gewesen ist, wie [auch] Paulus sagte: „Sie suchen Gott und forschen nach und finden ihn aus seinen Geschöpfen heraus“ (Apg 17,27 nach der Peschitta).“ Zu diesem Text und seinem durch die Rezeption der neuplatonischen Adaption der aristotelischen Logik geprägten Kontext der Causa siehe Bumazhnov 2016 a, 186–191. 56 Siehe darüber ausführlich Kavvadas 2015, 38–40. Im Ansatz war die polemische Wendung Isaaks gegen die Schulphilosophie schon bei Becker 2006, 184–187 herausgearbeitet. 53 Becker
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waren. Das geht z. B. aus dem Kommentar zum Buch des ägyptischen Wüstenvaters des 5. Jahrhundert Abba Jesaja hervor, den ein Zeitgenosse Isaaks, Dadischoʿ Qaṭraya, verfasst hat:57 Zu jener Zeit also, in den Tagen der ägyptischen Wüstenväter, führten die Dämonen einen unheilvollen und gefährlichen Krieg gegen die Einsiedler, [die] in der kontemplativen Stille [lebten], indem sie die Gebildeten und Temperamentvollen unter ihnen dazu drängten, sich der Lehre der Philosophen und der Weisheit der Griechen zu befleißigen, so dass sie die Schriften des Philosophen Aristoteles über die Wissenschaft der Logik lasen und damit ihre Zeit verbrachten. Ich meine die Kategorien, Peri Hermeneias, Apodeiktikos und die übrigen [Bücher] wie diese.
Die drei in diesem Stück erwähnten aristotelischen Schriften gehören zu dem sogenannten Organon, einem Logiklehrbuch bestehend aus sechs Werken, die die Logik als Werkzeug der Wissenschaft analysieren und vorstellen. Zu diesen sechs Schriften zählen:58 1. Die Kategorien 2. Hermeneutik (Περὶ ἑρμηνείας) 3. Erste Analytiken 4. Zweite Analytiken (Ἀποδεικτικός) 5. Die Topik 6. Sophistische Widerlegungen
Zwar spricht Dadischoʿ im zitierten Abschnitt von den ägyptischen Wüstenvätern der früheren Zeit. Eigentliche Gefahren, welche vielen Eremiten seiner Generation drohen, sieht er in einem ganz anderen Bereich.59 Aber seine genaue Auskunft über die Namen der aristotelischen Schriften zeugt davon, dass das Wissen über die Lehre des Stagiriten unter den ostsyrischen Eremiten in den Tagen Dadischoʿs vorhanden und aktuell war.60 Zu welchen Gedankengängen das Studium des Aristoteles in den ostsyrischen christlichen Kreisen führen konnte, kann man am Beispiel der Einführung in die aristotelische Logik studieren, die ein gewisser Paul der Perser wohl nach 577 verfasst hat61. In der Widmung dieses Textes an den persischen Großkönig Chosrau I. Anuschirwan (gestorben 579) schreibt Paul:62 Qaṭraya, Commentarius 13,4; syrischer Text: Draguet 1972, 181,13–20. dazu Höffe 2006, 37–38. Kursiv sind die von Dadischoʿ erwähnten Werke gesetzt. 59 Vgl. Dadischoʿ Qaṭraya, Commentarius 13,5; syrischer Text: Draguet 1972, 182,8–16. Es handelt sich um eine übermäßige Vorliebe für antiphonale Gesänge und gesungene Kanones (ebd., 182,13–14), die die Einsiedler vom Gebet ablenkt. Kanones (syrisch qānūnē < κανών) werden auch von Isaak von Ninive unter den zum Lesen der Eremiten nicht empfohlenen Genres erwähnt (siehe Spalte 2, Zeile 7 in der Tabelle auf S. 208). Es ist schwer zu sagen, ob Isaak dabei an die Entscheidungen der Konzilien oder wie Dadischoʿ Qaṭraya an die Gesänge denkt. 60 Vgl. dazu Kavvadas 2015, 42–43. 61 Zur Identität des Autors der Einführung und zu seinem Werk siehe Bruns 2009, 28–34 und Bruns 2010, 266–268. 62 Paul der Perser, De opere logico; syrischer Text: Land 1875, 1,4; 2,26–3,3. 57 Dadischoʿ 58 Siehe
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Philosophie ist das wahre Wissen von allen [Dingen]. […] Denn Wissen gilt allem, was nah, offenbar und erkennbar ist. Glaube dagegen gilt allen Dingen, die weit entfernt sind, nicht gesehen und nicht exakt erkannt werden können. Das eine (d. h. der Glaube) unterliegt dem Zweifel, das andere (d. h. das Wissen) ist ohne Zweifel. Jeder Zweifel führt aber zu Spaltung, das Fehlen des Zweifels [führt] dagegen zur Einigkeit. Wissen ist deswegen besser als Glaube und [es ziemt sich], es diesem vorzuziehen.
Paul hat seine Einführung am Ende der 570er Jahre kurz vor dem Tode des Großkönigs in Pahlavi geschrieben.63 Nach Peter Bruns und anderen Forschern wurde sie knapp hundert Jahre später von dem Bischof des miaphysitischen Klosters Qenneschre in Nordsyrien Severus Sebokht „für den Philosophieunterricht an den kirchlichen Hochschulen des Zweistromlandes“64 ins Syrische übersetzt.65 Mit Severus Sebokht († 666/667)66 sind wir räumlich, zeitlich und sprachlich ganz nah an Isaak von Ninive. Stimmt die Vermutung von Bruns und anderen hinsichtlich seiner Autorschaft der syrischen Übersetzung, dann war die syrische Fassung der Einführung Pauls in den gelehrten christlichen Kreisen Mesopotamiens zu Isaaks Lebenszeit im Umlauf. Isaak von Ninive widmet der von Paul dem Perser angesprochen Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissen und Glauben67 einen längeren Traktat, seine Stellungnahme ist allerdings erwartungsgemäß der des Paul diametral entgegengesetzt. Bevor ich diesen Punkt etwas näher beleuchte, wäre anzumerken, dass Isaak ausdrücklich klarstellt, dass er mit dem Glauben nicht etwa Glaubenssätze der christlichen Dogmatik, wie z. B. den Glauben an die drei Hypostasen Gottes oder die Menschwerdung Christi im Sinn hat.68 Der Glaube, wie Isaak ihn versteht, ist eine mystische Erfahrung Gottes. Im genannten Traktat sagt er: „Als Glaube bezeichne ich das intelligible Licht, das aus Gnade [Gottes wie die Sonne] in der Seele aufgeht.“69 Der so aufgefasste Glaube ist für Isaak die höchste Stufe des Wissens.70 Das Wissen, welches er mit dem Glauben vergleicht, ist dagegen das einfachste rein empirische Wissen.71 Nun können wir Isaaks Stellungnahme zum Verhältnis zwischen Glauben und Wissen betrachten:72 63 Siehe Gutas 1983, 244 Anm. 24 mit der Forschungsgeschichte der Frage nach der Ursprache der Einführung und Bruns 2009, 34.37. 64 Bruns 2009, 37. 65 So Gutas 1983, 239 Anm. 16; ihm folgt Bruns 2009, 37. 66 Severus war auch als Astronom, Philosoph und Mathematiker bekannt, zu seiner Person und seinem Wirken siehe Reinink 2011. 67 Speziell zu diesem Thema bei Paulus dem Perser siehe Hayati 2016. 68 Isaak von Ninive, 1,51; syrischer Text: Bedjan 1909, 376,9–12. 69 Isaak von Ninive, 1,51; syrischer Text: Bedjan 1909, 376,12–13. 70 Auf seiner höchsten Entwicklungsstufe wird das Wissens von dem Glauben „verschlungen“, vgl. Isaak von Ninive, 1,51; syrischer Text: Bedjan 1909, 373,22–374,1. 71 Isaak von Ninive, 1,51; syrischer Text: Bedjan 1909, 361,6–362,19; 369,1–372,12). 72 Isaak von Ninive, 1,51; syrischer Text: Bedjan 1909, 361,6–8; 362,7; 366,9; 367,12–13; 371,2–6.
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Denn Glaube ist das Gegenteil von Wissen, und überall in seinem Bereich löst er die Gesetze des Wissens auf. […] Wissen ist behaftet mit Furcht, Glaube ist dagegen von Vertrauen begleitet. […] Wissen ist nicht verwerflich, Glaube ist dennoch erhabener als es. […] Wissen ist also eine Leiter, auf der man zur Höhe des Glaubens aufsteigt und die nicht mehr gebraucht wird, nachdem man ihn (d. h. den Glauben) erreicht hat. […] Es (d. h. gewöhnliches Wissen) spürt kleinen Makeln der anderen sowie Nachteilen und Schwächen der Menschen nach, und in ihm sind [enthalten] polemische Zusammenkunft und Widerlegungen der Argumente und listige Fertigkeiten und der Rest von allen Mitteln, den Menschen zu verschmähen. In ihm [ist] auch Stolz und Überheblichkeit.
Sieht man zunächst einmal davon ab, dass Isaaks Traktat, über den die zitieren Aussagen verstreut sind, viel länger als die prägnante Aussage Pauls des Persers ist, und konzentriert man sich nur auf die zwei zitierten Stellungnahmen, so kann man in ihnen ähnliche Bausteine erkennen: Wissen / Glaube – ihre Gegensätzlichkeit – ihre Eigenschaften – was ist besser? – Streit als soziale Konsequenz des Schlechteren Ob Isaak direkt auf die logische Schrift des Paul reagiert, bedarf einer weiteren Klärung. Größere Wahrscheinlichkeit hat allerdings die Vermutung, dass Isaak zeitgenössische, aristotelisch geprägte Christen im Blick hat, die wie oder in etwa wie Paul argumentierten. Weil sich nun Isaak von Ninive, wie schon mehrfach betont, an Eremiten, genauer vor allem an seine Schüler-Mönche wendete, wäre anzunehmen, dass die Widerlegung einer aristotelisch untermauerten Auffassung vom Glauben und Wissen, die den Ansichten Paul des Persers nahekommt, kein unwichtiges Anliegen für das innere Leben des Schülerkreises des Isaak von Ninive gewesen ist.
6. Schülerkreis Besonders bemerkenswert ist dabei, dass beide Autoren von sozialen Konsequenzen sprechen, die die weltanschauliche Orientierung am Wissen beziehungsweise am Glauben mit sich bringt.73 Diese Fragestellung führt indes zu dem kleinen Schülerkreis Isaaks zurück, an den er einige seiner Schriften richtete. Wenn 73 Vgl. Paul der Perser, De opere logico: „Das eine (d. h. der Glaube) unterliegt dem Zweifel, das andere (d. h. das Wissen) ist ohne Zweifel. Jeder Zweifel führt aber zu Spaltung, das Fehlen des Zweifels [führt] dagegen zur Einigkeit“ und Isaak von Ninive, 1,51: „Es (d. h. gewöhnliches Wissen) spürt kleinen Makeln der anderen sowie Nachteilen und Schwächen der Menschen nach, und in ihm sind [enthalten] polemische Zusammenkunft und Widerlegungen der Argumente und listige Fertigkeiten und der Rest von allen Mitteln, den Menschen zu verschmähen. In ihm [ist] auch Stolz und Überheblichkeit.“
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man überhaupt von einer dauerhaften Institution beziehungsweise Bildungsinstitution im Zusammenhang mit Isaak von Ninive sinnvoll reden kann, dann ist es genau dieser Schülerkreis. Meine These beläuft sich nun auf die Vermutung, dass Isaak im zitierten Traktat wie auch an anderen Stellen, wo es um negative Einwirkungen der Bildung auf zwischenmenschliche Relationen geht, vor allem um den Erhalt seines Schülerkreises besorgt ist. Dieser ist uns quellenmäßig nur durch die oben zitierte anonyme Quelle Rahmanis greifbar. Insofern ist der Bezug zwischen ihm und der Lehre Isaaks bis zu einem gewissen Grad spekulativ, aber zumindest nicht unwahrscheinlich. In diesem Licht sollen die folgenden Ausführungen betrachtet werden. Der nächste vorzustellende Text soll demonstrieren, welche Lösungen Isaak für die Schlichtung der Konflikte zwischen Gebildeten und Ungebildeten beziehungsweise innerhalb jeder Gruppe sieht. Bei dem Text handelt es sich um ein Kapitel aus den nicht publizierten Kephalaia gnostika:74 1 Du möchtest einen Mann erkennen, dessen Herz gebrochen ist? 2 [Du kannst ihn] daran [erkennen, dass] er viel redet, und an der Verwirrung seiner Gefühle und daran, dass er bei allem, worüber er redet, Streit sucht, [um] in dieser [Sache] die Oberhand zu gewinnen. 3 Wer die Wahrheit gekostet hat, streitet nicht über die Wahrheit. 4 Wer mit Menschen wegen Wahrheit zu wetteifern scheint, der hat die Wahrheit noch nicht erkannt, wie sie ist. 5 Denn wenn er sie wahrhaftig erkannt hat, nimmt er von dem Eifer ihretwegen Abstand. 6 Die Gabe Gottes und seine Erkenntnis sind keine Ursache für Unruhe und Geschrei, vielmehr ist jede [Stätte], wo der Geist Wohnung nimmt, voll von Frieden, Liebe und Demut. 7 Und dies ist das Zeichen des Kommens des Geistes, dass derjenige, auf dem Er ruht, durch diese (d. h. Frieden, Liebe und Demut) vollkommen wird. 8 Die Wahrheit ist Gott. 9 Der Intellekt, der Gott wahrgenommen hat, hat keine Sprache, um zu reden, und in großer Ruhe wohnt Er in seinem Herzen ein. 10 Und er hat weder eine Bewegung des Eifers, noch Streitsucht, noch die Bewegung des Zornes, noch [ist er in der Lage,] wegen des Glaubens in Bewegung gesetzt zu werden, noch [hat er] Begierde nach irgendetwas, noch begehrt der Wille seiner Seele nach dem Tun. 11 Sondern seine Seele bleibt in großem Frieden ohne Worte und in großer Ruhe. 12 Man wird nämlich aus Unwissenheit dazu getrieben, wegen der Unwissenheit und Korrektion der anderen [zu wetteifern].
Die Quelle dieses Textes ist der 7. Brief des großen christlichen Mystikers des späten 5. Jahrhunderts Dionysius Areopagita.75 Die irenische Haltung, die Isaak von Dionysius übernimmt, ist in der streitlustigen frühchristlichen Literatur mehr oder weniger exzeptionell.76 Nach Dionysius soll man nicht um die Wahr-
74 Isaak von Ninive, Kephalaia gnostika 2,2,4,77, syrischer Text: Oxford Bodleian Library, ms.syr.e.7, f. 102 r–v. Kephalaia gnostika ist die Bezeichung des Traktates 2,2, der aus vier Zenturien, etwa hundert kürzere und längere Sprüche umfassend, besteht. Die Ziffern 4,77 verweisen auf die Nummer der Zenturie und die des zitierten Spruches. 75 Siehe dazu ausführlich Bumazhnov 2016 b; ebd. 35 Anm. 7 ist auch der syrische Originaltext des zitierten Stückes zu finden. 76 Siehe Suchla 2008, 119–121.
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heit streiten. Es genügt, sie einmal erkannt zu haben; im Übrigen wird sie sich selbst behaupten.77 Isaak setzt sich im zitierten Text gerade mit einer Streitsituation auseinander.78 Man wetteifert offensichtlich um religiöse Wahrheit.79 Auf Dionysius sich stützend, versucht Isaak den Streit zu schlichten, indem er das bloße Vorhandensein eines Konfliktes für das Kriterium der fehlenden Erkenntnis der Wahrheit erklärt (Vers 4): „Wer mit Menschen wegen Wahrheit zu wetteifern scheint, der hat die Wahrheit noch nicht erkannt, wie sie ist.“ Sein eigenes Konzept der Wahrheitserkenntnis ist im Unterschied zu Dionysius mystisch: Wahrheit ist Gott80 beziehungsweise die Gabe Gottes81 oder die Einwohnung des Heiligen Geistes.82 Die Wahrheitserkenntnis im Sinne Isaaks führt zu Frieden, Liebe und Demut,83 Wahrheitseifer und Streitsucht weichen,84 die Seele verstummt: sie „bleibt in großem Frieden ohne Worte und in großer Ruhe“ (Vers 11). Isaaks Schlichtungsversuch ist insofern radikal, als er einer gelehrten wie auch ungelehrten Diskussion ein grundsätzliches Ende dadurch zu setzen sucht, dass er die Diskussion selbst als Mangel an Wahrheitserkenntnis denunziert, zu der die Diskussion nach der Meinung der Streitenden offenbar führen soll. Die höchste Form des Wissens und der Erkenntnis, die für Isaak mit dem Glauben zusammenfällt,85 ist die unmittelbare mystische Wahrheits‑ beziehungsweise Gotteserkenntnis.86 Diese schließt alle Konflikte aus und wird unter anderem durch das Fehlen der Streitlust offensichtlich.87 Mit persönlichem Erreichen dieses Erkenntnisziels oder mit einer Annäherung daran durch jeden Eremiten im Schülerkreis des Isaak wird auch das Ziel der inneren Stabilisierung des Kreises als Bildungsinstitution erreicht, was die weitere Überlieferung der isaakschen 77 Vgl. Dionysios Areopagita, Epistula 7,1; griechischer Text: Heil / Ritter 1991, 165,3–7; deutsche Übersetzung: Ritter 1994, 93: „Was mich betrifft, so habe ich meines Wissens niemals gegen Heiden oder andere polemisiert. Gehe ich doch davon aus, rechtschaffenen Leuten genüge es, die Wahrheit in sich selbst erkennen und aussprechen zu können, so wie sie tatsächlich ist. Sofern diese nämlich, was immer es mit ihr auf sich hat, der Wahrheitsregel entsprechend einwandfrei bewiesen wird und klar vor Augen steht, wird alles, was sich anders verhält, von selbst als bloße Vortäuschung von Wahrheit entlarvt […]“ 78 Vgl. Verse 10 und 12. 79 Vgl. Verse 5 und 10. Über den Gegenstand der Polemik kann man nur rätseln. Genauso unklar bleibt, ob es um einen Streit im Schülerkreis Isaaks geht, oder vielmehr Isaak seine Mönche über den Umgang mit anderen belehrt. Dass der Konflikt unter den Mönchen ausgetragen wird und dass das Wissensgefälle dabei eine bestimmte Rolle spielt (vgl. Vers 12) ist relativ evident. 80 Vgl. Vers 8. 81 Vgl. Vers 6. 82 Vgl. Vers 7. 83 Vgl. Verse 6–7. 84 Vgl. Vers 10. 85 Vgl. Anm. 69 oben. 86 Vgl. Verse 6–10. 87 Vgl. Vers 3.
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Lehre ermöglicht. Die mystische Lehre Isaaks, die zu der Gotteserkenntnis in seinem Sinne anleitet, enthält in sich somit ein Instrument zur Sicherung eigener Weitergabe in einer Bildungsinstitution, die durch innere wie äußere Streitigkeiten um religiöses Wissen – man denke z. B. an die oben skizzierte Polemik mit mönchischen „Philosophen“ – destabilisiert wird. Der Schülerkreis um Isaak von Ninive – sofern man über einen Kreis überhaupt reden kann88 – wäre somit eine ganz besondere Bildungsinstitution, ausgerichtet auf die Weitergabe eines Wissens, das sich selbst nicht mehr als Wissen definiert. Die von Isaak von Ninive angestrebte menschliche Haltung ist Schweigen in Gott.89 Isaak wiederholt das noch einmal ausdrücklich in einem kurzen Spruch, der inhaltlich mit der soeben zitierten Passage zusammenhängt. Mit diesem Zitat möchte ich die Behandlung meines Themas abschließen:90 Wenn du die Wahrheit liebst, liebe auch das Schweigen. Wie die Sonne wird es dich in Gott erleuchten lassen und dich von den Illusionen des Nichtwissens befreien. Das Schweigen wird dich mit Gott vereinen.
Im Sinne einer kurzen Zusammenfassung kann man sagen, dass Isaak von Ninive offenbar an den mönchischen Konflikten seiner Zeit viel stärker beteiligt war, als es z. B. seine eigene Lehre von der Nichteinmischung in die religiösen Streitigkeiten vermuten lässt. Eine mögliche Erklärung dieses Widerspruchs wäre, dass das Nichteinmischungspostulat mehr für den internen Gebrauch im Schülerkreis Isaaks gedacht war, den er von den Diskussionen um religiöse Themen frei, deswegen stabil und letztlich um die Erkenntnis der mystischen Wahrheit, das heißt Gott, geeint wissen wollte. Für sich selbst konnte Isaak andere Regeln gelten lassen, denn, wie er selbst sagt, „die Altväter (d. h. die erfahrenen Mönche, D. B.) haben die [Zeit der] Achtsamkeit überstanden [. . .] und treiben Handel, womit sie wollen, und verstehen es, Gewinn zu erzielen.“91
Zitierte Literatur a) Quellen Becker, Adam H., Sources for the Study of the School of Nisibis (Translated Texts for Historians 50; Liverpool: Liverpool University Press, 2008). Bedjan, Paulus (Hg.), Liber superiorum seu Historia monastica auctore Thoma, episcopo Margensi; Liber fundatorum monasteriorum in regno Persarum et Arabum; Homiliae Mar-Narsetis in Joseph; Documenta partum de quibusdam verae fidei dogmatibus (Paris / Leipzig: Harrassowitz, 1901). 88 Siehe
oben, S. 214. Vers 11: „die Seele bleibt in großem Frieden ohne Worte und in großer Ruhe.“ 90 Isaak von Ninive, 1,65; syrischer Text: Bedjan 1909, 446,5–7. 91 Isaak von Ninive, 1,18; syrischer Text: Bedjan 1909, 143,17–18. 89 Vgl.
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LernOrte im spätantiken Judentum Susanne Talabardon 1. Avant-Propos Der nachfolgende Essay versteht sich als eine Reflexion auf die tiefgreifenden Paradigmenwechsel, wie sie sich in der wissenschaftlichen Wahrnehmung der rabbinischen Epoche während der letzten Jahrzehnte vollzogen haben:1 Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser, teilweise grundlegend veränderten Sicht auf die Anfänge des (rabbinischen) Judentums für die Darstellung der für jene Strömung grundlegenden Lehr‑ und Lernprozesse? Um Überschneidungen zum Beitrag von Elisabetta Abate2 zu vermeiden, wird im Folgenden weniger auf die sich entwickelnden Institutionen abgehoben, sondern vielmehr der Blick „nach innen“ gerichtet: Wie verhielt sich die (selbstgewählte) Aufgabe, ein „Judentum“ ohne Tempel zu konstituieren, zu Formen, Inhalten und Kontexten des Lernens im spätantiken Judentum? Eine solche Nachfrage könnte sich angesichts der besonderen Wertschätzung von Traditionsvermittlung im klassischen ‚Judentum‘ als relevant zeigen, da sie auch in der umfangreichen Forschungsliteratur zum Stellenwert vom Lehren und Lernen rabbinischen Kontext zum Ausdruck kommt.3 Dabei wird es – im Sinne einer rélecture – darauf ankommen, Einsichten der erwähnten neuen Perspektive auf das rabbinische Judentum konsequent auf deren Lehr‑ und Lernprozesse abzubilden.4 1 Exemplarisch für die gewichtigen Veränderungen der Forschungsperspektiven mag der Sammelband von Reed und Becker 2003 gelten. – Die rabbinischen Textcorpora werden mit den üblichen Abkürzungen zitiert (m = Mischna, t = Tosefta, j = Talmud Jeruschalmi, b = Talmud Bavli), die jeweiligen Traktate hingegen ausgeschrieben. 2 „Woher wissen wir, dass die Ehre seines Schülers einem Menschen lieb wie er selbst sein soll?“ Das Schulwesen im rabbinischen Judentum (S. 69–83 in diesem Band). 3 Grundlegend: Bacher 1903; historisch-kritisch, mit umfangreichen Angaben zu rabbinischen und außerjüdischen Quellen des 3. und 4. Jhs.: Perlow 1931; erste umfassende Darstellung: Morris 1937; dazu Gerhardsson 1961 und Safrai 1977. Eine erste Sammlung von wichtigen Essays zum Thema: Dimitrovsky 1976 und Aberbach 1982. Zu den babylonischen Jeschivot: Gafni 1990 und Goodblatt 1975/1980. 4 Zu (Lern)Struktur und Lehrformen der werdenden rabbinischen Bewegung nach dem erwähnten Paradigmenwechsel sind einige Werke von Catherine Hezser von besonderer Relevanz, vgl. beispielsweise Hezser 1997; 2001; 2016, 5–24. Einschlägig wäre außerdem Hirshman 2009.
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2. „Ein Königtum von Priestern und ein heiliges Volk“ (Ex 19,6) Nach den zwei verheerenden Aufständen gegen das Imperium Romanum des 1. und 2. Jahrhunderts sah sich die überlebende jüdische Bevölkerung Judäas und Galiläas nicht nur mit dem Verlust wesentlicher Siedlungsräume, sondern eben auch mit dem Untergang des Tempels zu Jerusalem als dem Gravitationszentrum der israelitisch-jüdischen Identität konfrontiert. Anstelle der freiwillig entrichteten Tempelsteuer, welche die jüdischen Gemeinschaften außerhalb und innerhalb des Heiligen Landes zusammengebunden hatte, erhoben die Besatzer nun den Fiscus Iudaicus.5 Damit vollzog die römische Verwaltung einen bis dato exzeptionellen Akt der rechtlichen und steuerlichen Markierung einer einzelnen Bevölkerungsgruppe. In Reaktion auf die Niederschlagung des Großen Jüdischen Aufstands (66–70) und der Bar-Kochba-Revolte (132–135) hätte – so eine der zentralen Thesen der neuen Perspektive auf das spätantike Judentum6 – die Kernideologie Israels (Tora und Bund mitsamt ihrer narrativen Verankerung in Mythos und „Geschichte“) ihre Integrationskraft verloren. Die Rabbinen als gelehrte Traditionalisten wären – anders als in der herkömmlichen Historiographie vermerkt – allenfalls ein Randphänomen gewesen, eine marginale Gruppe innerhalb der jüdischen Gesellschaft des 2. und 3. Jahrhunderts: It would be misleading to focus attention only on the rabbis and implicitely suppose the rest of the Jewish population either to have been basically inert, quietly waiting to be convinced or, alternatively, under the temporary religious control of some nonrabbinic group […] – in short, to construct a history of the Jews between 70 and 350 (or even 640) around the story of the rise of the rabbis.7
Diese Beobachtung hätte für sich genommen noch keine gravierenden Auswirkungen auf eine phänomenologische Beschreibung der Konzepte vom Lernen und Lehren, wie sie von rabbinischen Gelehrten des 2. bis 5. Jahrhunderts entwickelt wurden. Solange man berücksichtigt, dass es sich dabei um Vorstellungen einer marginalen (und zahlenmäßig eher unbedeutenden) Gruppierung handelte, bräuchte man womöglich die älteren Darstellungen noch nicht einmal zu hinterfragen. Stellt man jedoch in Rechnung, dass mit der Marginalität auch das weitgehende Fehlen institutioneller Strukturen wie einem rabbinischen (!) Gerichtshof (Sanhedrin), einer auf das kommunale Gebet ausgerichteten Sy-
5 Zu den zahlreichen (auch identitätsrelevanten) Problemen des Fiscus Iudaicus vgl. Heemstra 2010. 6 Vgl. Schwartz 2004, 103 f. 7 Ebd. 103. Vgl. auch ders. 2002. Andere Gelehrte (vgl. Hirshman 2009, 133 und Goodblatt 2006 a, 208–210) beurteilen den Kollaps des gesellschaftlichen Zusammenhalts skeptischer und vermuten insgesamt eine größere Kontinuität zwischen den Verhältnissen vor und nach 70.
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nagoge oder einer klar ausgeprägten Hierarchie („Patriarchat“) einhergeht,8 so verändert dies die Perspektive auf die Lernorte und gesellschaftlichen Kontexte rabbinischer Bildung natürlich erheblich. Im Folgenden wird es also darum gehen, die Ausgangsfrage nach einer (Neu)Konstituierung des Judentums durch Studium und Lehre auf dem Hintergrund eine randständigen Gruppe von jüdischen Traditionalisten abzubilden, die in den ersten Jahrhunderten ihrer Wirksamkeit eine lediglich informelle Struktur aufwies.9 Im sog. „palästinischen Judentum“10 haben sich zu keiner Zeit differenzierte rabbinische Organisationsformen ausgeprägt, auch wenn die Textkorpora jener Region ebendies suggerieren. Dezidiert rabbinische Bildungsinstitutionen wie besonders die „Akademien“ ( ישיבות/ Jeschivot bzw. aram. מתיבתא/ Metivta) entwickelten sich, so die derzeit herrschende Auffassung in der Forschung, erst im frühmittelalterlichen „Babylon“, frühestens ab dem 7. Jahrhundert.11 Es ist also nicht nur von einer tief greifenden Differenz des gesellschaftlichen Umfelds zwischen ‚Palaestina‘ und der ‚babylonischen‘ Diaspora auszugehen, sondern auch von einer mit den Korpora wachsenden Infrastruktur. Pointiert formuliert, schufen nicht die Akademien den Talmud, sondern der (Babylonische) Talmud schuf ‚sich‘ die ihm gemäßen Lehr‑ und Lerninstitutionen.12 Um die Dialektik zwischen den rabbinischen Texten und den zugehörigen Lehr-Lernstrukturen besser zu erfassen, sollte man einen Moment bei der Diskrepanz zwischen imaginierter Struktur und dezidiertem Desinteresse an einer – wie auch immer gearteten – historischen Kontextualisierung verweilen. Den sich im Kollektiv verbergenden Autoren der Mischna und Tosefta, der Midraschim und der Talmudim war es darum zu tun, ihr politisches und sozio-ökonomisches 8 Jacobs 1995, Sivertsev 2002 und Schwartz 2004, 110–128, für die späte Relevanz des Patriarchats; ebd. für den Sanhedrin; für die Synagoge vgl. das monumentale Werk Levines 2005, Runesson 2010 und – weitaus zurückhaltender – Schwartz 2004, 215–239. Zur informellen Struktur der rabbinischen Bewegung überhaupt vgl. Heszer 1997. 9 Hezser 1997, v. a. 228–239. Sie bezeichnet diese Struktur als informelles Netzwerk („personal alliance system“). Es konstituierte sich aufgrund und entlang persönlicher Beziehungen, die dann Zugriff auf bestimmte Ressourcen ermöglichten. Zunächst bildeten sich nur vereinzelt Gruppen von Gelehrten; erst mit zunehmendem Einfluss und der Ausrichtung der Strömung auf urbane Zentren nahmen Struktur und Organisation zu. 10 Der Begriff „palästinisch“ ist angesichts der wechselnden Bezeichnungen der Region schwierig; er bezieht sich hier auf die römische Provinz (Syria‑) Palaestina, die in der Folge des Bar-Kochba-Aufstands eingerichtet wurde. 11 Rubenstein 2005 und 2007. Die Bezeichnung „Babylon“ ist auf ihre eigene Weise kompliziert und komplex. Sie ist historisch ganz offensichtlich vollkommen anachronistisch. Im Unterschied zum politisch-verwaltungstechnisch korrekten „palästinisch“ deutet „babylonisch“ auf den kulturellen Bezugspunkt, den die jüdische Diaspora mit dem mesopotamischen Siedlungsraum verband: die Grunderfahrung des Exils im 6. Jh. Das „rabbinische“ Judentum entwickelte sich mithin in zwei sehr unterschiedlichen Herrschaftssystemen: im graeco-romanisch geprägten Imperium Romanum (ca. 2.–5. Jh.) sowie im Sasanidenreich (3. bis 7. Jh.). Zu den Transferprozessen zwischen den beiden Gelehrtengruppen Nikolsky / Ilan 2014 sowie Rubenstein 1999. 12 Hezser 1997, 195–227; Brody 1990; Rubenstein 2007. Skeptischer: Goodblatt 2006 b.
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Umfeld möglichst gründlich auszublenden, die allgegenwärtige graeco-romanische (bzw. ‚babylonisch‘-neupersische) Kultur an den Rand des Blickfelds zu rücken. Ins Zentrum des Interesses wird ein fiktives (!) System heiliger und somit ewig-unveränderlicher Lern‑ und Lehrorte gesetzt, welches garantieren soll, was nach Auffassung der Rabbinen für das Überleben Israels nach der Zerstörung des Tempels nötig ist: den idealen Rahmen, um Tora zu studieren und zu leben. Die zu diesem Zweck verwendeten Begriffe wie Sanhedrin und Patriarch ( נשיא/ Nassí), Bejt Midrasch und Synagoge knüpfen an Institutionen vor Zerstörung des Zweiten Tempels an, entwerfen jedoch eine Art institutionelle Utopie im Versuch, ein „Königtum von Priestern und ein heiliges Volk“ zu schaffen. Wie verhalten sich nun die Formen und Inhalte des Lernens zu einer solcherart institutionellen Utopie?
3. „Das Studium der Tora aber wiegt alles auf“13 Das Studium der Tora fand in den frühen Phasen des rabbinischen Judentums in Privathäusern von Gelehrten statt, um die sich Schülerkreise scharten.14 Dabei bezog sich das Vorbild des Lehrers nicht nur auf die Lehrinhalte im engeren Sinne, sondern auch auf dessen persönliches Verhalten im Hause und in der Öffentlichkeit. Sogar seine Gewohnheiten bis hin zu Mimik und Gestik wurden imitiert. Einen formellen Abschluss des Lernens beim gewählten Meister (gar im Sinne eine „Ordination“) gab es nicht: Der ‚Titel‘ (Rabbi) und die damit verbundene eigene Lehrtätigkeit fußten auf individueller Anerkennung durch die Gesellschaft. Es steht zu vermuten, dass Form und Inhalte der Lehre, wie sie von den einzelnen Rabbinen an ihre Schüler weitergegeben wurden, sich zunächst recht heterogen präsentierten. Umso sorgfältiger galt es, die einzelnen, anfangs vor allem mündlich weiter gereichten Aussagen mit einer Traditionskette abzusichern: Rabbi Chisqija Bar Jirmeja, Rabbi Chija im Namen Rabbi Jochanans: Wenn es möglich ist, etwas Gehörtes [eine Tradition; ]שמוצהbis zu Mosche zu ‚verketten‘,15 soll man verketten. Wenn aber nicht, dann erfasse die erste zuerst oder die letzte zuletzt. Gidul sagte: Jeder, der eine Tradition im Namen dessen sagt, der sie [zuerst] gesagt hat, sollte sich selbst betrachten, als stünde der Autor der Tradition vor ihm (jQiddushin I,7; 61 a).16
Die Sorgfalt beim Zitieren von Lehrinhalten, wie sie dem (vorbildlich dokumentierten) Dictum Rabbi Jochanans zufolge angezeigt ist, wird noch unterstützt durch die Forderung, sich den jeweiligen Urheber einer Tradition bildlich vor ( ותלמוד תורה כנגדmPe’a I,1 parr). Vgl. tPe’a I,2. 2007, 59. 15 Mosche steht für die Tora, letztlich für den Urgrund jeglicher Lehre – der Offenbarung vom Sinai. 16 Vgl. bQiddushin 29 b. Vgl. die prominenteste Traditionskette in mAvot I,1. 13 כולם
14 Rubenstein
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Augen zu stellen. Ein solches Verfahren setzt in der Tat einen kleinen Personenkreis und relativ überschaubare Zeitspannen voraus, innerhalb derer die Schüler überhaupt in der Lage waren, bestimmte Meister von Angesicht zu Angesicht kennengelernt zu haben. Bei aller Individualität und möglicher Heterogenität der Lehren bestimmter Meister sorgten die der Interpretation zugrundeliegenden Grundschriften und Methoden dennoch für eine gewisse Kohärenz der rabbinischen ‚Bewegung‘. Einige Aussagen in Midrasch und Talmud vermitteln darüber hinaus Einsichten in eine Art Kerncurriculum, welches von den Lernenden zu absolvieren war. So empfiehlt Wajiqra Rabba, ein haggadischer Midrasch aus dem 5. Jh., sich von Teilen der Mischna (wörtlich: „zwei Ordnungen“) zu Rechtstraditionen (Halakhot), dann zur Hermeneutik (im Text: מידה/ Midda) und schließlich zum Talmud vorzuarbeiten.17 Dabei wird sehr nachdrücklich betont, dass der jeweilige Eleve die jeweils untere Stufe ‚fließend‘ (auswendig) beherrschen müsse, bevor er sich an das nächst höhere Projekt wagen dürfe. Eine ähnlich gelagerte Reflexion bietet bQiddushin 49 a im Kontext der Wertigkeit eines potentiellen Ehemanns auf dem Heiratsmarkt. Sollte dieser im Zuge der Eheanbahnung geäußert haben, er sei fähig, (einigermaßen) Bibel zu lesen ()קריינא, so müsse er mindestens drei Verse im Lehrhaus vortragen können. Andernfalls wäre seine Aussage unglaubwürdig und die Verlobung deshalb ungültig. Hätte er sich gar als Schriftkundiger ()קרא bezeichnet, dann sollte er alle drei Teile der Bibel akkurat vorlesen können. Im Falle, dass er sich als Gelehrtenschüler vorgestellt habe, gehen die Meinungen der Rabbinen zu den Kriterien der Beurteilung (naturgemäß) auseinander: Chisqija sagte, Halakhot; und Rabbi Jochanan sagte: Tora. Man wandte ein: Was ist Mischna? Rabbi Me’ir sagt: Halakhot und Rabbi Jehuda sagt: Midrasch. Was ist Tora? Auslegung von Tora [Midrasch Tora]. Siehe aber, dies gilt, wenn er ihr [der künftigen Frau] sagte: Ich lerne. Wenn er ihr aber sagte: Ein Gelehrter [ ]תנאbin ich!, dann muss er Halakha, Sifra und Sifré und Tosefta studiert haben (bQiddushin 49 a.b).18
Das Nachdenken über die verschiedenen Stadien der anstrebenswerten jüdischen Bildung wird im Babylonischen Talmud flankiert von der Frage, was die Verpflichtung für einen Vater, seinen Sohn Tora zu lehren (bQiddushin 29 a), denn nun genau beinhaltet: Bis wohin ist ein Mensch verpflichtet, seinen Sohn Tora zu lehren? Rav Jehuda sagte [im Namen] Schmu’els: Wie zum Beispiel Sevulon, Sohn des Dan, den sein Großvater Bibel [ ]מקראund Mischna und Talmud, Halakha und Aggadot lehrte. Man erhob einen Einwand: Man lehre ihn Bibel, nicht aber lehre man ihn Mischna. Und es sagte Rava: Bibel – das ist Tora (bQiddushin 30 a). Wajiqra Rabba 3,1. Zur Datierung vgl. Stemberger 2011, 323. ist ein halachischer Midrasch zu Lev, der (wie die Tosefta) ein Parallelunternehmen zur Mischna darstellt (2.–4. Jh.; vgl. Stemberger 2011, 291 f.). Sifré sind Midraschim zu Num und Dtn, beide aus dem 3. Jh. (vgl. Stemberger, ebd. 296.302). 17 Vgl.
18 Sifra
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Die Bibel ()מקרא, soweit gehen die verschiedenen Quellen einigermaßen d’accord,19 bildet die Grundlage des angestrebten Curriculums. Sie ist es auch, die jeder jüdische Vater seinem Sohn zu vermitteln verpflichtet ist. Daher definiert der Babylonische Talmud, dem Dictum Ravas zufolge (Qiddushin 30 a), den Begriff Tora mit Miqra (Bibel). Das reduzierte Curriculum impliziert nun allerdings keineswegs eine Geringschätzung der häuslichen Bildung, wie eine Sequenz aus dem palästinischen Talmud zu verdeutlichen weiß. Dort wird von Rabbi Jehoschua ben Levi berichtet, er habe seinen Sohn an jedem Freitag den passenden Wochenabschnitt der Tora rezitieren lassen. Einmal vergaß er es und befand sich bereits im öffentlichen Bad, als es ihm wieder einfiel und er eilends seine Körperpflege unterbrach und nach Hause zurückkehrte: Sagte ihm Rabbi Chija bar Bá: Lehrtest du uns nicht, mein Meister: Wenn man [das Bad] begonnen hat, dann unterbricht man es nicht?!20 Sagte er ihm: Chija, mein Sohn, ist es leicht in deinen Augen,21 dass jeder, der einen Abschnitt [Parascha] vom Sohn seines Sohnes hört, wie einer ist, der es [direkt] vom Berg Sinai gehört hätte? Was ist der Grund [dafür]? [Dtn 4,9 f.] ‚Du sollst aber deine Söhne und die Söhne deiner Söhne wissen lassen etc.‘ […] ‚Der Tag, an dem du vor dem Ewigen, deinem Gott, am Horeb standest‘ – wie der Tag, an dem du vor dem Ewigen, deinem Gott, am Horeb standest (jQiddushin 1,7; 61 a).
Bei den Termini, welche die Gegenstände „höherer Bildung“ beschreiben sollen, herrscht indessen ein ziemliches Chaos. Dies muss insofern nicht erstaunen, als dass zur Zeit der mutmaßlichen Entstehung der jeweiligen Traditionen die Corpora (z. B. Midrasch und Talmud) noch gar nicht vorlagen bzw. erst im Entstehen begriffen waren. So benennt Wajiqra Rabba außer der Mischna gar keine konkreten Sammlungen, sondern eher Genres und Fertigkeiten (Halakhot, Middot).22 In Qiddushin 30 a treten zu den beiden elementaren Herangehensweisen Halakha (Tradition im Sinne der Darstellung des vorbildlichen Wandels) und Aggada (narrative Tradition) die zwei (?) Schriftgruppen Mischna und Talmud. Am schwierigsten gebärdet sich bQiddushin 49 a.b. Zwar wird abschließend mit Mischna (?),23 Sifra, Sifré und Tosefta ein recht klar umrissenes Textfeld festgelegt, das ein Gelehrter zu beherrschen habe, die einleitende Diskussion der 19 Die Aussage Ravas, Miqra sei Tora, wird (u. a. von Rasch”i) dahingehend interpretiert, dass sich „Schrift“ nur auf den Pentateuch, nicht aber auf Propheten und Schriften bezöge: ולא – תורה נביאים וכתובים. 20 mSchabbat I,2. 21 Im Sinne eines Qal wa-Chomer („leicht und schwer“), eines argumentum a fortiori: Was fungiert hier als das gewichtigere Gebot zur Schabbat-Vorbereitung: das Baden nicht zu unterbrechen oder den Tora-Abschnitt abzuhören? 22 Ob Wajiqra Rabba mit Talmud tatsächlich den palästinischen Talmud (Jeruschalmi), ein Konglomerat aus (vor allem) mündlich tradierten Lehrdiskussionen oder ein Genre bezeichnet, muss offen bleiben. Das Verhältnis zwischen Wajiqra Rabba und dem Talmud Jeruschalmi ist in der Forschung umstritten, vgl. Stemberger 2011. 23 Im Text: Halakha. Im Sinne der „Sesamstraße“ – nur Dinge, die zueinander gehören, sollten in einer Gruppe (hier: konkrete halachische Texte) genannt werden – könnte man vermuten, dass damit die Mischna bezeichnet sein soll.
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Grundbegriffe (Tora, Halakhot, Midrasch, Mischna) sorgt jedoch für ein wenig Verwirrung: Zu studieren: Halakhot (Chisqija) und Tora (Jochanan) Was ist dann: Mischna?
Halakhot (Me’ir)
Midrasch (Jehuda)
Was ist dann: Tora?
Midrasch Tora
Zunächst scheinen zwei ‚Kompetenzen‘ in Frage zu stehen, die ein Gelehrtenschüler zu studieren hat: Halakhot (die Rechtstradition) einerseits, andererseits aber Tora. Was aber ist dann Mischna? Zur Erklärung greifen die talmudischen Gelehrten auf eine Baraita zurück, der zufolge Mischna mit Halakhot oder mit Midrasch definiert worden ist. Die Gleichsetzung von Mischna mit Halakha scheint somit durch zwei Traditionen abgesichert; die Auffassung von Rabbi Me’ir erweist sich (wie häufig) als die dominierende. Bleibt das Problem, was ‚Rabbi Jochanan‘ mit Tora gemeint haben könnte. Gehörte die Befassung mit Tora nicht bereits zum Elementarprogramm? Was also bedeutet Tora im Kontext eines gehobenen Curriculums? Hier verständigt man sich auf die Kenntnis der relevanten Auslegungstradition (Midrasch Tora) – Sifra und Sifré.
4. Wie studiert werden soll: Das Schm’a Jissra’el als Anleitung zum talmud Tora24 Nachdem die Frage geklärt scheint, was an Grundbildung vom Vater auf den Sohn weiterzugeben ist und welche Texte zum Curriculum eines Gelehrtenschülers ( תלמיד חכם/ Talmid Chakham) gehören, soll nun danach gefragt werden, in welcher Weise das Lernen von statten ging. Aus dem großen Reservoir an möglichen rabbinischen Quellen25 wurde für den vorliegenden Essay der hohen Bedeutung des biblischen Ausgangstextes wegen die Interpretation des Sch’mà Jissra’el als Leitmotiv gewählt: 24 Zur Unterscheidung von den als Talmud bezeichneten Textcorpora wird das Konzept rabbinischen Lernens im Folgenden als „talmud Tora“ gekennzeichnet. 25 Das Ethos eines rabbinischen Gelehrten lässt sich am besten aus den Avot, einem nachträglich in die Mischna eingefügten ethischen Traktat und an dessen Midrasch, den Avot deRabbi Nathan (ARN) ablesen. Diesbezüglich instruktiv ist ferner Tanna de-ve Elijahu, ein frühnachtalmudischer ethischer Midrasch (vgl. Stemberger 2011, 378 f.). Als zentrale rabbinische Texte zum Lernen und Lehren wären neben den bereits genannten zum Beispiel tHorajot II,5; Mekhilta Wajjassa 3; bSchabbat 31 a; bEruvin 53 a–55 a; bBava Batra 20 b–22 a; bAvoda Zara 18 b–19 b zu nennen.
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Und es seien diese Worte, die ICH dir heute gebiete, auf deinem Herzen. Und du sollst sie deinen Kindern einschärfen ( )ושננתםund sollst sie sprechen, wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du des Weges gehst und bei deinem Liegen und bei deinem Aufstehen (Dtn 6,6 f.).
Das Sch’ma Jissra’el enthält idealtypisch die großen drei Strukturelemente rabbinischen Judentums: Studium, Gebot und Gebet. Der Text scheint, darauf deuten mindestens Funde wie derjenige des Papyrus Nash (wohl 2. Jh. v. Chr.) und Texte wie mTamid V,1 hin,26 bereits zur Zeit des Zweiten Tempels eine liturgische Funktion gehabt zu haben. Die Kombination der drei Perikopen (Dtn 6,4.5–9; Dtn 11,13–21 sowie Num 15,37–41) sowie die Fassung der rahmenden Berakhot werden hingegen auf rabbinische Setzungen zurückgehen. In jedem Fall wirkt der klar paränetisch ausgerichtete Text wie eine Vorwegnahme des rabbinischen Konzepts des talmud Tora ()תלמוד תורה. Dies zeigt sich u. a. am Einsatz des Hapax legomenon ( שנןpi.), das eine besonders aktive und intensive Form des Lernens einfordert. Zusätzlich erläutert Dtn 6,7aβ.b, was man sich darunter vorzustellen habe: Die Gebote seien wiederholt zu „sprechen“, zu Hause und unterwegs, abends und morgens. Die Tosefta (tSchabbat 14,1[13,1]) ergänzt zur (öffentlichen) Lesung27 die folgenden bevorzugten Methoden des Lernens: Obwohl sie sagten: Man liest [[ ]קוריןam Schabbat] nicht in den Heiligen Schriften, aber man wiederholt []שונין28 und interpretiert [ ]דורשיןsie. Wenn es aber jemandem nötig ist, eine Sache zu überprüfen, dann nimmt er [die Heiligen Schriften] und überprüft (tSchabbat 14,1[13,1]).29
Neben der Rezitation, dem „Sprechen“, und dem Repetieren der Tradition zum Zwecke des Auswendiglernens tritt als dritte Funktion die aktualisierende Interpretation (Midrasch).30 Diese Konstellation bildet kein Proprium jüdischer 26 Papyrus Nash enthält eine Mischform aus beiden biblischen Dekalogfassungen gefolgt von Dtn 6,4 f. Die Mischna (mTamid V,1) bietet eine Darstellung einer priesterlichen Liturgie, welche die Vorbereitung von Brandopfern am Tempel begleitet haben soll: „Sagte ihnen der Zuständige: Segnet mit einem Segensspruch [B’rakha]! Und sie segneten. Sie rezitierten die zehn Gebote, das Sch‘mà, das ‚Und es wird sein, wenn zu hören ist‘ [Dtn 11,13–21], das ‚Und er sagte‘ [Num 15,37–41]. Und sie segneten das Volk mit drei Segenssprüchen [B‘rakhot]: ‚Treu und fest‘ [Emet we-jaziv] und der Avoda und dem Priestersegen [Num 6,24–26]. Am Schabbat fügten sie einen Segensspruch [B’rakha] für die hinausziehende [Priester‑] Wache hinzu.“ – Cohn 2013, 2 f. (mit zahlreichen Belegen aus Quellen und Sekundärliteratur, ebd. 133 Anm. 7) argumentiert indessen, dass viele der Darstellungen des Tempelrituals Erzählungen darstellen, die nicht vordringlich eine Beschreibung des damaligen Verfahrens bieten, sondern eine Eigenakzentuierung der Rabbinen beinhalten („that in writing or talking about the Temple and its rituals, the rabbis who created the Mishna were arguing for their own authority over post-destruction Judean law and ritual practice“; ebd. 3) 27 לקראת, deshalb die Bezeichnung Miqra ( ;מקראetwa: Auszurufendes) für die Bibel. 28 לשנות, vgl. Mischna ()משנה. 29 Vgl. auch Sifré Devarim 48 zu Dtn 11,22. 30 לדרוש, vgl. מדרש.
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Bildung, sondern berührt sich in Inhalt und Form mit Lehr-Lern-Praktiken anderer zeitgenössischer Strömungen, wie der hellenistisch-philosophischen Schulen (Stoiker, Kyniker, Epikureer) oder anderer Kulturen der Levante. As a Greco-roman phenomenon, talmud Torah looks suspiciously and surprisingly like philosophy as it was understood at the time. The Rabbis saw the study of the texts, accompanied by rigorous training of both mind and body, as a path to personal development and perfection.31
Dem Programm des Sch’ma Jissra’el folgend, erarbeitet der erwähnte halachische Midrasch Sifré (Devarim) grundlegende Einsichten zum talmud Tora. ‚Und es wird sein, wenn ihr gewiss auf meine Gebote hört‘ [Dtn 11,13]. Warum heißt es nach dem, was gesagt ist: ‚Ihr aber sollt sie [die Gebote] sie [die Nachkommen] lehren und sie bewahren, um sie zu tun‘ [Dtn 5,1]? Höre ich,32 dass sie nicht zum Studium [talmud] verpflichtet waren, es sei denn, sie waren zum Tun verpflichtet?! Die Schrift lehrt: ‚Und es wird sein, wenn ihr gewiss auf meine Gebote hört‘ – das setzt fest, dass sie unmittelbar zum Studium verpflichtet waren.33
Ihrer literarischen Figur nach richtet „Mose“ die paränetischen Reden des Deuteronomiums vor dem Einzug in das Gelobte Land an Israel. Eine Vielzahl der Gebote, die das Volk am Sinai zu hören bekommt, kann es also erst etliche Jahre34 später wirklich „tun“ – wie es auch die Fortsetzung des Midrasch problematisiert. Impliziert dies, dass man etwa die fraglichen Gebote nicht „lernen“ muss? Die Antwort der Sifré (ja, natürlich muss man!) gewinnt im historischen Kontext der Rabbinen eine große Bedeutung: Auch sie konnten viele der in der Tora vorgesehenen Mizwot nicht tun – aber lernen und lehren konnten sie sie. Talmud Tora erwächst also zu einer heiligen Handlung sui generis, die sogar ersatzweise für das Tun eintreten kann.35 Mehr noch: Letztlich bildet das Lernen nicht nur eine von mehreren möglichen heiligen Handlungen, sondern es bildet Basis und Rahmen aller sakralen Tätigkeiten, wie Sifré Devarim in Auslegung des zweiten Teils des Schm’a weiter ausführt:
31 Satlow 2006, 122. Vgl. auch ebd. 121 f.: „Their frame of reference was similar to that of other literate Roman provincials throughout the Near East, with whom, no doubt, they would have had more in common than they would have with, say, their revered progenitor Ezra.“ 32 Geprägte halachische Formel für: „bedeutet das etwa, dass“. 33 Sifré Devarim 41 (Edition Finkelstein). 34 Der Midrasch (ebd.) führt aus: „Groß ist das Studium [talmud], denn es geht der Challa [Teighebe] um vierzig Jahre voraus, dem Zehnt um 54 Jahre, dem Schabbatjahr um 61 Jahre und dem Jovel um 103 Jahre.“ 35 So heißt es im Folgenden: „‚Ihr aber sollt sie sie lehren und sie bewahren, um sie zu tun‘. Das setzt fest, dass das Tun vom Studium abhängt, nicht aber hängt das Studium vom Tun ab.“
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[‚Den Ewigen, deinen Gott, zu lieben] und Ihm zu dienen‘ [Dtn 11,13 b] – dies ist Studium [talmud]. Du behauptest, dies sei Studium – aber ich habe nichts als Dienst [avoda]!?36 Sieh, es heißt: ‚Da nahm der Ewige Gott den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden um ihn zu bearbeiten [ ]לעבדהund zu hüten.‘ [Gen 2,15]. Denn was war Dienst damals und was war damals Hüten? Du wirst lernen, ‚ihn zu bearbeiten‘ – das ist talmud. Und ‚ihn zu hüten‘ – das sind die Gebote. So, wie der Dienst [ ]עבודהam Altar Dienst genannt wird, so wird auch talmud Dienst genannt.37
Wie man also beim ersten Menschen kaum unterstellen kann, dass sich das Dienen auf den (in der Urzeit inexistenten) Altarkult bezogen haben dürfte, so ist auch nach Zerstörung des Tempels das Studium als ein völlig gleichwertiges Handeln anzusehen.
5. Talmud Tora und Neue Setzung ‚Und es seien diese Worte, die ICH dir heute gebiete, auf deinem Herzen‘ [Dtn 6,6]. Rabbi pflegte zu sagen: Warum heißt es, wie geschrieben steht: ‚Und du wirst den Ewigen, deinen Gott, mit ganzem Herzen lieben‘ [Dtn 6,5]? Ich weiß nicht, wie man den Ewigen lieben soll!? Die Schrift lehrt: ‚Und es seien diese Worte, die ICH dir heute gebiete, auf deinem Herzen.‘ Setze diese Worte auf dein Herz, und in dieser Disposition lernst du Den, Der sprach und es ward die Welt kennen und heftest dich an seine Wege. ‚Welche ICH dir heute gebiete‘. Denn nicht seien sie in deinen Augen wie eine alte Setzung [διάταγμα], welche keinen Menschen kümmert, sondern wie eine neue Setzung [διάταγμα], denen alle begegnen wollen. […] ‚Und du sollst sie deinen Kindern einschärfen‘ [Dtn 6,7]. Dass sie in deinem Munde geschärft werden, so dass, wenn dich jemand eine Sache fragt, du nicht deshalb herumstotterst, sondern ihm sofort eine Auskunft geben kannst. Denn so ist gesagt: ‚Sprich zur Weisheit: Meine Schwester bist du! Und nenne die Einsicht eine Bekannte!‘ [mMischlé 7,3–4].38
Hat die bisher vorgestellte, vor allem ‚historio-theologisch‘ anmutende Interpretation des Schm’a durch den Midrasch darauf abgezielt, den talmud Tora als eine nach dem Ende des Tempels legitime heilige (Ersatz‑) Handlung zu etablieren, so argumentiert die Deutung von Dtn 6,5–7 dezidiert theologisch: Den Ewigen zu lieben bedeutet (wie das Dienen) talmud Tora. Das Studium repräsentiert – insofern sich dadurch Kenntnis des Ewigen vermittelt – den Weg zum Ewigen schlechthin. Letztlich, was sich bei näherem Hinsehen sofort erschließt, ist ja
36 Sifré Devarim bietet einen klassischen halachischen Einwand: ( אתה אומרDu sagst xy) – ואינו „( אלאich aber habe nichts als“) – ich kann aber nichts anderes belegen als yz! – Der Terminus ( עבודהavoda) ist sehr facettenreich und daher schwer zu übersetzen. Von seiner Grundbedeutung („Dienst“) her kann er sowohl mit Kult als auch neutraler mit Arbeit übersetzt werden. 37 Sifré Devarim 41 (Finkelstein). 38 Sifré Devarim 33–34 (Finkelstein).
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auch das Schm’a Jissra’el kein ‚richtiges‘ Gebet, sondern die Proklamation des Königtums Gottes.39 Neben der Rezitation und dem steten Wiederholen der Tradition erfordert der rabbinische Umgang mit dem biblischen Text aber noch ein drittes: Midrasch. Die aktualisierende Interpretation der überlieferten Worte verankert Sifré Devarim – naheliegend – im „heute“ des Dtn 6,6. Interessanter Weise wird für das zu Vergegenwärtigende das griechische Lehnwort ( דיוטגמאδιάταγμα; vgl. Hebr 11,33) eingesetzt: Edikt oder Setzung. Selbst anscheinend unveränderliche AnOrdnungen bedürfen der Neudeutung, was für die rabbinische und die nachfolgende jüdische Tradition von entscheidender Bedeutung ist. Der gesamte Prozess des Lernens mit Rezitation, Wiederholung und Aktualisierung mündet letztlich in eine tiefe Vertrautheit mit der Tradition. Niemand sollte herumstottern müssen, wenn er dazu Auskunft gibt. Die Aktualität des „Diatagma“ bezieht sich dem entsprechend nicht nur auf neue Interpretationen, sondern auch auf die Präsenz der Wissensbestände im Kopf des Einzelnen. Die Tradition muss auswendig beherrscht werden und umfassend verfügbar sein. Hier spiegelt sich das elitäre Selbstbild einer Strömung, die sich als informelles Netzwerk von Gelehrten konstituiert.
6. LernOrte: Drinnen und Draußen Wie bereits erwähnt, bietet der untypische Mischnatraktat Avot eine Art Magna Charta der rabbinischen Ethik, in der folgerichtig dem Lernen und Lehren der Tora die dominierende Rolle zukommt. mAvot bietet vor allem Aphorismen und weisheitlich geprägte Sentenzen.40 Sie dienen wesentlich dazu, die Tradition vor Zerstörung des Tempels mit der rabbinischen Bewegung zu verknüpfen und die Auffassungen der Gelehrten somit zu autorisieren. Nach den in Sifré Devarim vorgestellten Grundlinien kann es niemanden überraschen, dass auch Avot das Studium in den Mittelpunkt menschlicher Aktivität rückt: Talmud Tora ist der Seinszweck des Menschen; Lernen muss man immer und überall. Rabban Jochanan ben Sakkai […] pflegte zu sagen: Wenn du viel Tora lernst, dann halte es dir nicht zugute, denn dazu wurdest du geschaffen. (mAvot II,8)
39 „Warum heißt es, ‚Voll sind Himmel und Erde seiner Herrlichkeit‘ (Jes 6,2)? Weil man nämlich sagt: Der König, der über allen Königen ist, wenn [seine] Herrlichkeit nicht auf der Erde ist, dann hat Sein Name weder auf Erden noch in der Höhe Gewicht. Denn wenn sein Volk sein Königtum auf Erden nicht proklamiert, dann hat er sozusagen auch kein Königtum hinsichtlich des Himmels. Aber, siehe, Israel sagt: ‚Höre, Israel, der Herr unser Gott ist Einer!‘“ (Dtn 6,4; Schir ha-Schirim Zuta I,1). 40 Vgl. Stemberger 2005 sowie Tropper 2004.
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Rabbi Dostai, Sohn des Rabbi Jannai pflegte im Namen des Rabbi Me’ir zu sagen: Jeder, der [auch nur] ein Wort der Tora vergisst, dem rechnet es die Schrift an, als hätte er sich an seinem Leben schuldig gemacht. (mAvot III,8) Schim’on pflegte zu sagen: Wer des Weges wandelt und repetiert []שונה – und er unterbricht sein wiederholendes Lernen [ ]משנתוund sagt: Wie schön ist dieser Baum! Oder: Wie schön ist dieses frisch gepflügte Feld! – dem rechnet es die Schrift an, als hätte er sich an seinem Leben schuldig gemacht. (mAvot III,7)
Das Lernen immer und überall, also an allen Orten, impliziert jedoch gerade nicht das Lernen von den Orten, an denen man sich gerade befindet – zum Beispiel im Bestreben, sich an Gottes Schöpfung zu begeistern. Die rabbinischen Gelehrten waren keine Naturburschen; die gewünschte Tugend bestand vielmehr gerade darin, die Schönheit der umgebenden Flora und Fauna vollständig zu ignorieren. Die letztliche Ort-losigkeit (Utopie!) des rabbinischen Lernens ist ein Erfordernis der steten Befassung mit der Tora – und (historisch gesehen) natürlich auch des Fehlens geeigneter Institutionen, die man sich aber fiktiv konstruiert. Der Weg rabbinischer Existenz von den Rändern der Gesellschaft in deren Zentrum, ihre Entwicklung von einem ‚personal alliance system‘41 zu einer zunehmend organisatorisch etablierten Strömung im „Babylon“ des 6. und 7. Jahrhunderts, führte letztlich auch zu einer Transformation fiktionaler in reale Lehr‑ und Lernorte. Die in den frühen42 rabbinischen Texten skizzierten Institutionen wie Synagogen und Baté Midraschim erweisen sich, so der gegenwärtige Stand der Forschung, mehr als idealtypische Konstrukte denn als Beschreibungen „real existierender“ Etablissements. Die diesbezüglichen rabbinischen Traditionen erweisen sich somit gerade in ihrer Fiktionalität als wesentliche Auskünfte über die Konzepte jener spätantiken jüdischen Gelehrten. Ihre Anliegen hinsichtlich der Synagogen, Lehrhäuser und Orte der Rechtspflege (vgl. Sanhedrin) kann man vor diesem Hintergrund folgendermaßen zusammenfassen: Ein idealer Lernort ist der, in dem man beisammensitzen kann, um die Tora bzw. die Mischna zu lehren, zu lernen und zu diskutieren, ohne von anderen Dingen wie Bäumen, Dämonen oder herumflanierenden Frauen abgelenkt zu sein. Das Studieren in geschlossenen Räumen ist daher dem Lernen in der freien Natur vorzuziehen – wenn man nicht durch äußere Umstände zu einem Ortswechsel gezwungen ist. Sollte also keine passende Räumlichkeit verfügbar sein oder ist ein längerer Aufenthalt im Freien erforderlich, muss diese Zeit dennoch zum talmud Tora genutzt werden. In jedem Fall sollte die fragliche Lokalität den direkten und intensiven Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden ermöglichen, wobei jeder prinzipiell von jedem lernen sollte (mAvot IV,1). Im 41 Hezser
1997, 238 f.
42 Hiermit sind die sog. tannaitischen (2. Jh.) und amoräischen (3.–5. Jh.) Gelehrten gemeint.
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letztgenannten Punkt widerspiegelt sich der lange dominierende Schülerkreis im Privathaus des Meisters43 als institutionelles Modell.44
7. Resumé Mit der Absicht, die eigene Identität und die ‚jüdische Tradition‘ nach der Zerstörung des Tempels zu Jerusalem (70 n. Chr.) zu wahren (bzw. recht eigentlich neu zu etablieren) entwickelt sich der talmud Tora zu einer heiligen Handlung sui generis. Neben seiner Funktion als eine quasi kultische Verrichtung, die anstelle des Altardienstes etabliert werden soll, sichert das Studium die Aktualisierung der Tradition (Midrasch des diatagma), deren Weitergabe und somit letztlich die Prägung der Gemeinschaft durch die Tora. Aus der somit umrissenen, sehr umfassenden Aufgabe des talmud Tora innerhalb des rabbinischen Denkgebäudes ergibt sich das Erfordernis lebenslangen und quasi ununterbrochenen Lernens. Das gleichzeitige Fehlen von geeigneten respektive für die Gelehrten verfügbaren Institutionen (wie Lehrhäusern oder zugänglichen Synagogen) motivierte die Entstehung eines besonderen Textkorpus (insbesondere der Mischna), das letztlich neue Formen des Lernens und neue Institutionen kreierte. Sobald sich das Textgefüge konsolidierte und (insbesondere zum Babylonischen Talmud) perfektionierte, entwickelten sich – der Gunst der Umstände geschuldet – mit den babylonischen „Akademien“ passende Institutionen, die wiederum auf das Korpus zurückwirkten. Etliche Eigenheiten jenes spätantik-jüdischen Gelehrtennetzwerks können, so scheint es mindestens, für (weitaus) spätere Generationen Lehrender und Lernender Anregung und Inspiration vermitteln: Das Lernen als eine heilige Handlung verweigert sich jedweder vordergründigen Abzweckung. Es ist ein Lernen ohne „um zu“ – was sich im Ideal der „Tora um ihrer selbst willen“ ( תורה )לשמהmanifestiert. Wie gegenwärtig häufiger postuliert, so erstrebten auch die Rabbinen ein lebenslanges Lernen, was aber – anders als in unseren von Institutionen geleiteten pädagogischen Konzepten – das Lernen von jedem Menschen impliziert. In den spätantiken Texten zeigt sich ein enger (und konzeptionell interessanter) Zusammenhang zwischen dem geistigen respektive spirituellen Bedürfnis nach lernender Befassung mit der eigenen Tradition und der Insti-
43 Vgl.
Rubenstein 2007, 59–67.
44 Eine interessante ‚Renaissance‘ des rabbinischen Lehrgestus findet sich übrigens im Sohar.
Auch hier wird das Lernen „immer und überall“ – auch und gerade draußen – propagiert. Wie in den rabbinischen Texten, die ja das Modell für die kastilischen Kabbalisten vermitteln, wird indessen nur in der Natur und nicht von ihr studiert. Der Sohar entwirft eine äußerst vielschichtige Fiktion, die sich – wie bei ihren spätantiken Vorbildern – in den nachfolgenden Generationen zu tatsächlichen Riten und Institutionen verfestigt.
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tution, die daraus folgt. Es wäre zweifelsohne lohnend, diesem Zusammenhang zukünftig intensiver nachzugehen.
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„Nur Wissen, das durch Lehre lebendig wird, sichert den Eingang ins Paradies“ Die Madrasa als höhere Bildungseinrichtung im mittelalterlichen Islam* Sebastian Günther In einer arabischen Chronik aus dem 10. Jahrhundert zur Geschichte der Stadt Buchara im heutigen Usbekistan findet sich folgender Bericht1: Zur Regierungszeit des Emirs Saʿīd Naṣr ibn Aḥmad ibn Ismāʿīl brach im Monat Raǧab des Jahres 325 (der islamischen Zeitrechnung; das ist Mai-Juni 937 n. Chr.) in Buchara ein Großfeuer aus. Alle Märkte brannten dabei nieder. Das Feuer begann in einer Suppen küche am Samarkand-Tor als der Inhaber die Asche unter dem Suppenkessel zusammenfegte, um damit eine Senke auf dem Dach [des Hauses] aufzufüllen. Doch unter der Asche war noch Glut, die er nicht bemerkt hatte. Ihre Funken wurden durch einen Windstoß zu einer benachbarten Strohhütte getragen, die sofort Feuer fing. Dadurch gerieten auch die Märkte in Brand und das gesamte Stadtviertel am Samarkand-Tor brannte nieder. Wie eine Wolke wurde das Feuer davongetragen, so dass auch das benachbarte Bakār-Stadtviertel, die Geschäfte des Basars, die dort befindliche Madrasa [am Tor] Fārǧak, der Markt der Schuhmacher, der Markt der Geldwechsler und der Kleiderbasar sowie alles auf der anderen Seite Bucharas bis zum Flussufer niederbrannte. Ein Funke sprang schließlich zur Māḫ-Moschee über, so dass diese Feuer fing und komplett niederbrannte. Das Feuer wütete zwei Tage und zwei Nächte. Die Einwohner Bucharas waren hilflos und litten außerordentlich. Erst am dritten Tag konnten sie das Feuer löschen. Doch die hölzernen [Fundamente der Häuser] unter der Erde schwelten noch einen ganzen Monat lang weiter. Die Einwohner Bucharas verloren mehr als hunderttausend Dirham und waren nicht in * Der vorliegende Aufsatz entstand im Kontext des DFG-geförderten SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen, Teilprojekt D 03: „Ethische Unterweisung als Bildungsdiskurs: Der islamische Moralphilosoph und Historiker Miskawaih (gest. 1030) zwischen Rezeption und Transformation“. 1 Häufige und im Deutschen geläufige arabische Namen und Begriffe sind im Haupttext des Beitrages in vereinfachter deutscher Umschrift wiedergegeben. Fachtermini und bibliographische Angaben in den Anmerkungen und im Literaturverzeichnis folgen den Transkriptionsregeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Aus dem Koran wird in der Übersetzung Rudi Parets 2010 zitiert (mitunter leicht angepasst). Alle anderen Übersetzungen aus dem Arabischen und Persischen sind meine eigenen. Das Zitat im Titel des Beitrages ist am Schluss des Aufsatzes nachgewiesen. Zeitangaben beziehen sich auf „n. Chr.“, nicht auf den islamischen Kalender.
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der Lage, die Gebäude Bucharas zu retten bzw. diese wieder so zu errichten, wie sie vor dem Brand waren.2
Das schon im Altertum bekannte, an der Seidenstraße gelegene Buchara hatte sich ab dem 8. Jahrhundert – nun unter muslimischer Herrschaft – zu einem bedeutenden ökonomischen, geistigen und kulturellen Zentrum Zentralasiens entwickelt. Im 9. bis 11. Jahrhundert war Buchara die Hauptstadt der Samaniden, d. h. einer iranischen Dynastie, die sich wie andere lokale Herrscherhäuser weitgehend von den abbasidischen Kalifen Bagdads gelöst hatte, obgleich sie diesen nominell noch unterstanden. Doch es sind weniger die Informationen zu den vielen Märkten und dem wirtschaftlichen Reichtum Bucharas, wie sie auch aus der eingangs wiedergegebenen Schilderung ersichtlich sind, die den Auftakt für unsere weiteren Ausführungen bilden sollen. Viel wichtiger für die Fragestellung dieses Beitrages ist die in diesem Bericht erwähnte Madrasa (oder eingedeutscht: Medrese). Denn diese Notiz zur Geschichte Bucharas im frühen 10. Jahrhundert enthält den ältesten bekannten historischen Beleg zur Existenz einer Madrasa, also jener Institution der höheren religiösen und juristischen Bildung, die dann vor allem vom 11. bis zum 14. Jahrhundert sowie darüber hinaus bis in die Gegenwart die Geistes‑ und Kulturgeschichte des Islams entscheidend geprägt hat. Doch bevor wir uns mit der Madrasa im mittelalterlichen Islam detaillierter beschäftigen, wollen wir einen Blick auf die Vorgeschichte und den Kontext der Entstehung und Entwicklung dieser wichtigen Bildungseinrichtung werfen. Der erste Teil des Beitrages wird sich deshalb mit einigen Grundsätzen der islamischen Gelehrsamkeit im frühen Islam befassen und dabei auch auf die Moschee als einen Ort des Gebets und des Lernens eingehen. Der zweite Teil ist dann der Madrasa-Hochschule und den Charakteristika ihrer Verwaltungs‑ und Lehrorganisation gewidmet.
2 Die Geschichte Bucharas (Tārīḫ Buḫārā) wurde von dem aus einem Dorf in der Nähe Bucharas stammenden Historiker Abū Bakr Muḥammad ibn Ǧaʿfar an-Naršaḫī (899–959) auf Arabisch verfasst. Der Autor widmete sein Werk im Jahre 943 oder 944 dem SamanidenHerrscher Nūḥ ibn Naṣr (reg. 943–954). Eine gekürzte Version dieser wichtigen Quelle zur frühen islamischen Geschichte Zentralasiens wurde im 12. Jh. ins Persische übersetzt und später erneut verschiedentlich ergänzt und gekürzt. Da das arabische Original der Chronik verloren ist, habe ich für die deutsche Wiedergabe des hier zitierten Abschnitts die ältere persische Fassung zugrunde gelegt. Die englische Übersetzung und die neuzeitliche arabische Rückübertragung aus dem Persischen wurden dafür konsultiert. Vgl. an-Naršaḫī 1970, 113; sowie ders. 1954 (Engl.), 96; und ders. 1965 (Arab.), 127–129. Zu den in diesem Text genannten Gebäuden und Örtlichkeiten siehe u. a. Barthold 1928, 103. Halm 1977, 438, macht dankenswerter Weise auf diese wichtige Information und Quelle im Kontext der islamischen Bildungsgeschichte aufmerksam.
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1. Bildungsideale und ‑grundsätze 1.1. Koran und Prophetentradition Grundkonzeptionen der Bildung – generell verstanden als Vorgang, Prozess oder Resultat der Vermittlung und Aneignung von Wissen, Werten und Fähigkeiten – finden sich für Muslime bereits im Koran, d. h. der im 7. Jahrhundert vom Propheten Muhammad kommunizierten Offenbarungsschrift des Islams. So betonen beispielsweise bestimmte koranische Verse die Bedeutung des Verstandes für die Bildung, wenn es heißt: „Sag: Sind etwa die Wissenden den Nichtwissenden gleich[‑zusetzen]? Doch nur diejenigen, die Verstand haben, lassen sich mahnen“ (K 39:9). Im Koran wird auch festgestellt, dass der ideale politische Herrscher – exemplifiziert an dieser Stelle durch Saul (Tālūt), den legendären ersten König Israels – eine Person sein solle, der „Gott […] ein Übermaß an Wissen und Körpergröße verliehen hat“ (K 2:247). Ebenso wichtig waren und sind für Muslime bis heute die prophetischen Maximen, die in Aussagen, die dem Propheten Muhammad zugeschrieben werden, und in Berichten über sein vorbildhaftes Leben enthalten sind. Zu diesen zählen die oft zitierten Prophetenworte: „Strebe nach Wissen, selbst wenn dies in China wäre“ und „Die Suche nach Wissen ist für Männer und Frauen gleichermaßen Pflicht“. Grundsätze dieser Art unterstreichen das islamische Ideal eines Wissenserwerbs, der weder geographische oder kulturelle Grenzen kennt noch geschlechterspezifisch ist. Doch die Verpflichtung zur Wissensaneignung war im Islam in seiner klassischen Periode (9.–15. Jahrhundert) immer auch mit einer mehr oder weniger deutlich formulierten Jenseitsorientierung verbunden. Denn erst im Jenseits und durch die dort erwartete größtmögliche Nähe zu Gott finden die Gläubigen nach orthodoxer Auffassung wirkliches Glück und die Erfüllung ihres irdischen Strebens. 1.2. Klassisches arabisches Schrifttum Die wissenschaftlichen Auffassungen zur Bildung in religiösen und säkularen Bereichen wurden vor allem zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert in zahlreichen arabischen Schriften von muslimischen Gelehrten unterschiedlicher wissenschaftlicher Interessen und theologischer, philosophischer oder juristischer Spezialisierungen weitergedacht und in zum Teil vielschichtigen Gedankensystemen vertieft. Für diese gelehrten Überlegungen spielten die von Muslimen als göttlich erachteten Bildungsideale, die sich im Koran und in der Prophetentradition finden, eine zentrale Rolle. Doch nicht minder produktiv wirkten sich im Islam jene Vorstellungen zu Bildung und Erziehung aus, welche die Muslime durch die schöpferische Rezeption des antiken griechischen sowie des byzantinischen,
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iranischen und indischen intellektuellen Erbes im 9. und 10. Jahrhundert in den Bildungskontext des Islams einbrachten und mithin islamisierten.3 Davon zeugen insbesondere auch jene klassischen arabischen Schriften, die dezidiert den Fragen der Bildungstheorien und Bildungspraktiken gewidmet sind und die als frühes pädagogisches Schrifttum in arabischer Sprache gelten dürfen.4
2. Bildungsinstitution und Lehrformen Orte des religiös orientierten Wissenstransfers im frühen Islam waren zunächst vor allem die Moscheen. Doch auch die Privathäuser von Gelehrten fungierten als Lehrstätten, in denen Wissenssuchende im Koran und in der Koranexegese, in der Prophetentradition, der islamischen Geschichte, im Recht sowie in der arabischen Sprache und Literatur unterwiesen wurden. Unterrichtsformen in den Moscheen wie auch in den Häusern der Gelehrten waren zum einen informelle Sitzungen (maǧlis, Pl.: maǧālis), in denen ein Scheich bzw. Professor den Studierenden eine thematische Lehreinheit oder den Textabschnitt eines Werkes anhand seiner Aufzeichnungen in einer Art Vorlesung vortrug. Zum anderen gab es Lehr‑ bzw. Studienzirkel (ḥalqa, Pl.: ḥalaqāt), in denen Professoren spezifische Unterrichtsinhalte lehrten bzw. vertieften oder in denen Studenten zusammen mit ihrem Lehrer bzw. einem beauftragen Lehrassistenten die mitgeschriebenen Vorlesungen gegenseitig überprüften, die Lehrtexte memorierten und relevante Fragen erörterten.5 Das relativ dichte Lehrprogramm und die thematische Abfolge der Unterrichtsfächer werden beispielhaft deutlich am Lehrzirkel des bedeutenden Rechtsgelehrten Muḥammad ibn Idrīs aš-Šāfiʿī (767–820), der als der Begründer der schafiitischen „Rechtsschule“ (maḏhab) gilt. Einige Einblicke in den Unterrichtsalltag aš-Šāfiʿīs werden von einem seiner Studenten vermittelt. Sie können in gewisser Weise als repräsentativ für den frühen Islam gelten. Danach konnte der Unterricht schon sehr früh – mit der Morgendämmerung – beginnen. Nach dem Morgengebet wurden zunächst die Studenten unterrichtet, die Lehrstunden zu Koran und zur Koranrezitation erhielten. Dem folgten nach Sonnenaufgang Unterweisungen für die Studenten der Prophetentradition. Lehrstunden zum islamischen Recht mit Diskussions‑ und Disputationsrunden fanden am späteren Vormittag statt. Die arabische Sprache, Prosodie, Grammatik und Dichtung wurden zur Mittagszeit unterrichtet und beschlossen damit den täglichen Unterrichtszyklus.6 Die Nachmittags‑ und Abendstunden wurden von den Studenten zur Wiederholung des Unterrichtsstoffs und zum Selbststudium genutzt. Natür3 Siehe
hierzu insbesondere Gutas 1998 und Biesterfeldt 2003. 2016, 222–225; ders. 2017 a, 29 f. 5 Makdisi 1981, 17; Schoeler 1985, 204. 6 Makdisi 1981, 81. 4 Günther
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lich gab es in diesem Unterrichtsablauf Spielräume sowohl im Hinblick auf die thematischen Präferenzen des Lehrers als auch die örtlichen Konstellationen des Unterrichts. 2.1. Elementarunterricht und frühe Schulen Neben diesen Formen der informellen, zumeist mündlichen Unterweisung entwickelten sich schon frühzeitig, d. h. ab der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts und dann vor allem im 8. und 9. Jahrhundert, Schulen im Sinne einer an einen bestimmten Ort oder eine Person gebundenen Einrichtung, die ausdrücklich Unterrichtszwecken diente. Dabei handelte es sich um Orte bzw. Räume in Moscheen (etwa ein Seitenbereich in der Moschee oder im Moscheevorhof) sowie um Privathäuser und Buchläden. Unter Umständen konnte eine solche „Schule“ auch mit einer Moschee identisch sein, was dadurch deutlich wurde, dass die betreffende Moschee unter dem Namen eines bestimmten Gelehrten bekannt war. Während einige dieser auch für Schulzwecke genutzten Gebäudebereiche keine gesonderte Bezeichnung besaßen, wurden frühe Schulen für den Elementarunterricht zumeist kuttāb oder maktab genannt, was so viel heißt wie: „Ort, an dem geschrieben wird“ oder „Ort, an dem das Schreiben gelehrt wird“. Die arabischen Quellen sagen wenig über Schülerzahlen, Architektur und Lehrpläne dieser frühesten Grundschulen, die wohl vor allem dem Unterricht im Koran, in Koranrezitation, im Lesen und Schreiben sowie der Vermittlung von Grundkenntnissen in der religiösen Praxis dienten. Aber auch Kenntnisse der arabischen Grammatik, der islamischen Geschichte sowie der arabischen Poesie und Prosa wurden zuweilen vermittelt, wie in dem im 9. Jahrhundert verfassten Handbuch für Schulmeister des Rechtsgelehrten Muḥammad ibn Saḥnūn (817– 870) aus Kairouan im heutigen Tunesien vermerkt ist. Die Bezahlung der Lehrer erfolgte durch die Eltern der Schüler.7 Einen Eindruck von dem enormen Bildungspotenzial der arabischen Städte in frühislamischer Zeit, das sich nicht nur auf die Eliten beschränkte, sondern auch die allgemeine Bevölkerung einbezog, wird von dem Bagdader Historiker und Geographen des 9. Jahrhunderts al-Yaʿqūbī (gest. ca. 905) vermittelt. AlYaʿqūbī schreibt in seiner großen Geschichte Bagdads (Tārīḫ Baġdād), dass sich im Bagdad des 9. Jahrhundert 30.000 Moscheen allein auf der Westseite der abbasidischen Hauptstadt und weitere 15.000 Moscheen auf der Ostseite befanden. Auch wenn diese Zahlenangaben nicht als absolute Größen betrachtet werden können, sind sie doch für das Gesamtbild der Bildung im mittelalterlichen Islam bemerkenswert, vor allem wenn man bedenkt, dass jede Moschee nicht nur als ein Ort des Gebets, sondern potentiell auch als Unterrichtsstätte diente.8 7 Günther 8 Günther
2005, 92–119; ders. 2017 a, 74–76. 2017 b, 34 f.
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2.2. Höhere Bildung Der Unterricht zur höheren religiösen Bildung, gleich ob dieser in einer Moschee oder in einem Privathaus stattfand, war flexibel und informell. Es gab keine festen Curricula und auch keine Prüfungen. Die Zeiten und Orte einer Lehrsitzung sowie die Namen der Anwesenden wurden allerdings ausdrücklich festgestellt. Das geschah nicht selten durch einen schriftlichen „Hörervermerk“ auf dem zum Unterricht verwendeten Manuskript. Hörervermerke Hörervermerke (samāʿ, Pl.: samāʿāt) bestätigten zum einen in namentlicher Nennung die physische Anwesenheit bestimmter Personen in einer Lehreinheit sowie zum anderen, dass diese Personen den betreffenden Text oder Textabschnitt, der in dieser Lehreinheit behandelt wurde, „gehört“ hatten, d. h. darin unterrichtet worden waren. Die Hörervermerke wurden oft mit Linien umrandet, um auf diese Weise zu verhindern, dass im Nachgang einer Lehreinheit die Namen von weiteren Personen hinzugefügt würden, die nicht am Unterricht teilgenommen hatten.9 Ein Beispiel mag dies veranschaulichen. Hierbei handelt es sich um einen Hörervermerk, der sich in einer unikalen arabischen Handschrift eines Werkes mit dem Titel Riyāḍat al-mutaʿallimīn (Anleitung für die Nach-Wissen-Strebenden) findet. Verfasst wurde das Buch im 10. Jahrhundert in Damaskus von dem Traditionsgelehrten Ibn as-Sunnī (gest. 974). Das Werk enthält eine nach Themen in sieben Kapitel gegliederte Sammlung von Aussprüchen des Propheten Muhammad, die sich in propädeutischer Weise damit befassen, wie verschiedene Wissensgebiete zu unterrichten und zu erlernen sind. Behandelt werden religiöse Bereiche von Studium und Lehre wie der Koran und die Prophetentradition, aber auch weltliche Disziplinen wie die arabische Dichtung, Genealogie, Geometrie, Ingenieurkunst und Architektur.10 Generell wurde das Recht zur Tradierung eines oder mehrerer Texte vom Lehrer auf den oder die Schüler zumeist durch eine mündliche oder schriftliche Überlieferungsberechtigung erteilt, für die im Arabischen der Begriff iǧāza („Erlaubnis“, „Zertifikat“) steht. Um diese Erlaubnis etwa von einem besonders prominenten Gelehrten zu erhalten, legten Studenten nicht selten weite Strecken zurück. Die zentrale, in den religiösen wie in den nichtreligiösen Wissenschaften praktizierte Form eines regionen‑ und länderübergreifenden Lernens und Studierens ist im Islam mit dem Ausdruck ṭalab al-ʿilm („Suche nach Wissen“) zu einem geflügelten Wort geworden. Diese transregionale Form des Studie 9 Die Hörervermerke werden in jüngster Zeit von der Islamwissenschaft verstärkt als historische Dokumente zur Wissenschafts‑ und Kulturgeschichte des Islams erkannt und ausgewertet. Vgl. u. a. Leder 1999, 147–150. 10 Vgl. auch Schoeler 1990, 42.
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Abb. 1: Ibn as-Sunnī, Riyāḍat al-mutaʿallimīn, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Orientabteilung, Ms. Arab. Oct. 3196, Hörervermerk zum Unterricht des dritten Kapitels, Folio 25 b.
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rens diente neben dem Wissenserwerb nicht zuletzt auch der Entstehung weitgespannter Gelehrtennetzwerke.11 Massenvorlesungen Neben den individuellen Lehrvorträgen und Studienzirkeln mit begrenzten Teilnehmerzahlen gab es auch regelrechte Massenvorlesungen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Traditionsgelehrte Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Buḫārī (Buchari), der – wie seine Namensform verrät – aus Buchara stammte. Al-Buḫārī erlangte Berühmtheit durch seine im 9. Jahrhundert vorgenommene kritische Sichtung und Herausgabe von Texten, die Aussprüche des Propheten Muhammad oder Berichte über sein Leben enthalten. Diese Sammlung al-Buḫārīs besitzt für die Mehrheit der Muslime bis heute die höchste Autorität als Standardwerk zur islamischen Prophetentradition, dem Hadith (bzw. ḥadīṯ; „Rede“, „Erzählung“, „Überlieferung“). Von al-Buḫārī wird nun berichtet, dass seine öffentlichen Vorlesungen zur Prophetentradition in Bagdad von nicht weniger als 20.000 Studenten besucht worden sein sollen. Obgleich auch diese Zahlenangaben als absolute Größen sicher übertrieben sind, vermitteln sie dennoch einen Eindruck von dem erstaunlichen Ausmaß und der Beliebtheit dieser Formen öffentlicher religiöser Wissensvermittlung im mittelalterlichen Islam. Organisatorisch seien diese Veranstaltungen im Übrigen derart abgelaufen, dass sich die Studenten jeweils in Reihen um den Gelehrten gruppierten, wobei in regelmäßigen Abständen ein „Übermittler“ (muballiġ) platziert war, der das Vorgetragene für die weiter hinten sitzenden Vorlesungsteilnehmer laut wiederholte und auf diese Weise weitergab.12 Diktatkollegs Auch von Massen-Diktatkollegs ist die Rede. Dabei wirkte ein gut ausgebildeter, oft professionell arbeitender „Diktatsekretär“ (mustamlī) – oder auch mehrere Personen, die ein Scheich bzw. Professor in dieser Funktion beschäftigte –, derart, dass dieser zumeist von einem erhöhten Platz aus den Studenten Unterrichtstexte des Scheichs diktierte. Auch sorgte der Diktatsekretär als Vertrauensperson des Scheichs für Ruhe und Ordnung vor und während der Vorlesung.13 11 Ephrat
2000, 114 f. Funktion des muballiġ vgl. Weisweiler 1951, 36–38. 13 Ders., 28.30 f. Ibn as-Sunnī sagt zu den Aufgaben des Diktatsekretärs: „Wenn die Menschen älter werden, schadet es nicht, wenn sie einen mustamlī zu Hilfe nehmen. Er wird ihnen das Verständnis [eines Vortrages] erleichtern, indem er [den Unterrichtsstoff] von den näher [beim Lehrer sitzendenden] Hörern an die weiter entfernten übermittelt. Denn die Hörer dürfen vom Gelehrten nicht verlangen [so laut sprechen zu müssen], dass ihn alle hören können.“ Diese Aussage ist zudem ein Indiz für die Umsetzung des Ideals eines lebenslangen Lernens im Klassischen Islam. Auch solle „der mustamlī die Leute [zur Ruhe bringen und] zum Zuhören 12 Zur
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Als der bereits erwähnte al-Buḫārī zum Beispiel die irakische Stadt Basra besuchte, um ein solches großes Diktatkolleg abzuhalten, wurde diese Information von einem Ausrufer in der Stadt öffentlich verkündet. Die Ausrufung erwies sich offenbar als der probate Weg der Ankündigung, da diese Massen-Diktatkollegs nicht nur in Moscheen, sondern auch auf Straßen und Plätzen abgehalten wurden, wodurch sie zu einem städtischen Großereignis avancierten.14 Inwieweit allerdings die philologische Treue zum Originaltext bei Unterrichtsformen dieser Art beibehalten werden konnte (bzw. gelitten hat), sei hier erst einmal dahingestellt. Individuelle Lehrsitzungen Die Sufis hingegen, also die Mystiker unter den Muslimen, zogen für ihre spirituellen Formen des Lernens und der Gotteserfahrung andere Formen der Unterweisung wie etwa Gruppen mit begrenzten Teilnehmerzahlen vor. Sie fanden sich zu Unterrichtszwecken vor allem in Khanqahs bzw. Konventen mit angeschlossenen Beherbergungs‑ und Lehrräumen (Sing. ḫānqāh) sowie ähnlichen Orten ein, die zur spirituellen Erbauung, mystischen Kontemplation und Lehre genutzt wurden (zāwiya; ribāṭ). Auch die Grabstätten (Sing. turba; mašhad) von Gelehrten oder Märtyrern sowie kleinere Moscheen und die privaten Wohnbereiche der Gelehrten wurden für die religiöse Unterweisung genutzt. Ebenso erfolgte die philosophische Ausbildung wie auch die Instruktion in den Naturwissenschaften eher im kleinen Kreis, das heißt in Privathäusern, Bibliotheken, Observatorien und – wenn es sich um theoretischen und praktischen medizinischen Unterricht handelte – in spezialisierten Gelehrtenzirkeln sowie den für jene Zeit erstaunlich gut ausgestatteten Krankenhäusern.15 Ein prominentes Beispiel für den praxisorientierten medizinischen Unterricht ist der auch in Europa berühmt gewordenen Arzt, Naturwissenschaftler und Philosoph Abū Bakr Muḥammad ibn Zakarīyā ar-Rāzī (latinisiert: Rhazes; 865–925). Von ar-Rāzī berichten zeitgenössische mittelalterliche Quellen beispielsweise, dass er in seinem Lehrzirkel bzw. seiner „Klinik“ umringt von seinen Studenten gesessen habe, wo er unermüdlich studierte und lehrte. Wenn ein Patient eintrat, so habe dieser sein Anliegen demjenigen vorgetragen, der den Patienten als erster empfing. Falls die Diagnose unklar war, wurde eine weitere Person aus ar-Rāzīs Lehrkreis hinzugezogen; und wenn auch dieser keine veranlassen, bevor der Gelehrte mit seinem Vortrag beginnt“. Vgl. Ibn as-Sunnī, Riyāḍat almutaʿallimīn fol. 38 B. 14 Weisweiler 1951, 36, führt mehrere Beispiele aus den Quellen dafür an, dass solche Massenkollegs im mittelalterlichen Islam stattfanden. Im Falle des Kollegs des Traditionsgelehrten Abū Muslim Ibrāhīm ibn ʿAbdallah al-Kaǧǧī (815–904) aus Basra beispielsweise habe der Raum auf dem Ġassān-Platz in Bagdad für das Diktatkolleg nicht ausgereicht, so dass die Schüler stehend mitschreiben mussten. 15 Günther 2016, 214 f.
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Diagnose stellen konnte, nahm sich ar-Rāzī selbst des Problems an. Ar-Rāzī sei im Übrigen außergewöhnlich mitfühlend mit den Armen und Kranken gewesen und habe diesen nicht selten zusätzliche Essenrationen zukommen lassen.16 Frühe Moschee-Schulen Die Moschee war und blieb in den ersten Jahrhunderten des Islams ein wichtiger Ort des Unterrichts. Unter den frühesten Moscheeschulen ist die OlivenbaumMoschee (Ǧāmiʿ az-Zaitūna) im heutigen Tunis eine der besonders berühmten. Ihre Anfänge werden in das frühe 8. Jahrhundert datiert. Später entwickelte sie sich zu einer bedeutenden Einrichtung der höheren islamischen Bildung im Maghreb. Die Zaituna wird heute gelegentlich auch als die älteste Universität der islamischen Welt bezeichnet. Gleichermaßen zu nennen ist im marokkanischen Fès Die Moschee [im Stadtviertel] der Leute aus Kairouan (Ǧāmiʿ al-Qarawīyīn). Diese Moschee wurde im Jahre 859 von Fāṭima al-Fihrī, der frommen Tochter des wohlhabenden Händlers Muḥammad al-Fihrī, gegründet, der wiederum ursprünglich aus der tunesischen Stadt Kairouan stammte. Benannt ist diese Moschee nach dem Stadtviertel in Fès, in dem sie sich befindet und in dem in jener Zeit vor allem Einwanderer aus Kairouan lebten. Aus diesem Grunde wurde die Moschee als Qarawiyin bekannt.17 Ihr Gebäudekomplex wurde im 10. und 12. Jahrhundert von lokalen Berberdynastien umfangreich erweitert. Seitdem spielt die Qarawiyin im Maghreb eine wichtige Rolle als ein Zentrum der religiösen, kulturellen und sozialen Bildung.18 Die schiitische Dynastie der Fatimiden (r. 909–1171 in Nordafrika) gründete 970 in Kairo die Azhar, was so viel heißt wie Die Leuchtende oder Die Blühende. Die Azhar war zunächst die Moschee für den Imam-Kalifen und seinen Hof. Doch schon im Jahre 988 ordnete der Staatsminister der Fatimiden, Ibn Killīs (gest. 991), die Errichtung eines Gebäudes neben der Azhar-Moschee an, welches ausschließlich Lehrzwecken, d. h. vor allem dem Unterricht im islamischen Recht, dienen sollte. Mit Übernahme der Macht in Ägypten durch die sunnitische Dynastie der Ayyubiden (r. 1171–1250) wurde die Azhar eine sunnitische Moschee und Lehranstalt und ist dies bis in die Gegenwart geblieben. Diese über eintausend Jahre alte Bildungseinrichtung gilt vielen Muslimen heute als die wichtigste religiöse Universität der islamischen Welt.19 16 Vgl. Ibn al-Nadīm 1970, II, 701–702. Ibn al-Nadīm (ca. 935–995), der Verfasser des berühmten Fihrist (d. h. eines „Verzeichnisses“ aller in seiner Zeit bekannten Bücher in arabischer Sprache) benutzt im arabischen Original maǧlis für den „Lehrzirkel“ ar-Rāzīs. Der Herausgeber und Übersetzer des Fihrists, Bayard Dodge, schlägt in diesem Zusammenhang „Klinik“ als geeignete Übersetzung vor. 17 Ibn Ḫaldūn 2000, 20. Zur Tatsache, dass auch wohlhabende Frauen Madrasas stifteten, vgl. Jacobi 2009, 153–166. 18 Brandenburg 1978, 56. 19 Entgegen der auch in neueren Publikationen vertretenen Meinung, wonach der Azhar als einer Gründung der schiitisch-ismailitischen Dynastie der Fatimiden (r. 909–1171 in Nord-
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Zwischen der Moschee und dem höheren Schulbetrieb bestand im mittelalterlichen Islam eine enge Verbindung. George Makdisi, dessen bahnbrechende Publikation The Rise of Colleges bis heute die klassische Studie zu den zentralen Institutionen islamischer Bildung ist, fasst dieses Phänomen zusammen, wenn er es als sicher erachtet, dass „die Moschee die erste Art [Schule bzw.] College im Islam war“20. Doch Makdisi weist noch auf einen weiteren wichtigen Aspekt hin, wenn er ausführt, dass eine solche Moscheeschule für höhere Bildung von Stiftungen unterhalten wurde, aus deren Vermögen das Gehalt des Lehrpersonals bzw. der Lehrperson bezahlt wurde. Zumeist war der Imam (bzw. Vorsteher im Gebet) der betreffenden Moschee gleichzeitig auch die Person, die hier unterrichtete. Die Studenten profitierten von der Stiftung insofern, als sie keine Gebühren für das Studium zahlen mussten. Für ihre Unterkunft und ihren Lebensunterhalt mussten sie allerdings selbst aufkommen.21 Mit anderen Worten: schon die frühen Moscheeschulen wurden zumeist von wohlhabenden Privatpersonen finanziert oder zumindest finanziell unterstützt. Diese monetäre Förderung des schulischen Unterrichts in den Moscheen unterscheidet diesen signifikant von den informellen Sitzungen und Studienzirkeln, den maǧālis und ḥalaqāt, die zwar ebenfalls in den Moscheen stattfanden, aber nicht durch einen Mäzen finanziell gefördert wurden.
3. Die Madrasa 3.1. Zum Begriff Die Lehreinrichtung für höhere islamische Bildung par excellence ist die madrasa. Das arabische Wort madrasa ist abgeleitet von dem Verb im Grundstamm, darasa, das in der altarabischen Dichtung und im klassischen Arabisch „ein Tier abrichten“ bzw. allgemein „instruieren“ bedeutet. In der zweiten Form des Verbs – darrasa – bedeutet es „jemanden [wiederholt] zum Lesen verlassen“ bzw. „zum Studium bewegen.“ Das nomen loci madrasa bezeichnet demnach einen „Ort, an dem gelesen wird“ bzw. „an dem Unterricht und Studium stattfindet“22. Etymologisch betrachtet hat das Wort madrasa also nicht notwendigerweise eine afrika und Ägypten) eine wichtige Rolle in der ismailitischen Propaganda zukam, weist Halm 1995, 99 f., darauf hin, dass in den arabischen Quellen im Zusammenhang mit der Einrichtung des Lehrbetriebes an der Azhar im Jahre 988–989 nur von Rechtsgelehrten (fuqahāʾ) die Rede ist. Auch die (esoterischen) ismailitischen Sitzungen, die maǧālis al-ḥikma („Sitzungen der Weisheit“), fanden nicht hier, sondern in einem Saal des Palastes statt, wie Heinz Halm in seinem Beitrag in diesem Band ausführt (S. 271–278). 20 Makdisi 1981, 29. Makdisi kommt diese Pionierfunktion für die islamische Bildungsgeschichte zu, auch wenn einige seiner Feststellungen durch neuere Forschungsergebnisse – etwa von Berkey 1992, Chamberlain 2002 und Ephrat 2000 – relativiert bzw. modifiziert wurden. 21 Makdisi 1981, 28 f. 22 Lane 1893, 870 f.
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religiöse Konnotation; und im modernen arabischen Sprachgebrauch bedeutet madrasa schlichtweg „Schule.“ In der klassischen Zeit des Islams steht das Wort madrasa aber vor allem für die Einrichtung zum spezialisierten und professionalisierten Unterricht im islamischen Recht und der damit verbundenen Fachgebiete. Dies ist auch der Grund dafür, warum madrasa im Englischen (und inzwischen auch im deutschen Sprachgebrauch) oft mit „College“ bzw. „College of Law“ bzw. „Hochschule für islamisches Recht“ wiedergegeben wird. 3.2. Madrasas als personenbezogene Schulen Die frühesten Belege für Schulen zur höheren Bildung, die als madrasa bezeichnet wurden, stammen, wie eingangs erwähnt, vom Anfang des 10. Jahrhunderts. Es handelte sich hierbei wohl zunächst um kleinere Lehranstalten, die sich zwar in unmittelbarer Nähe einer Moschee befanden bzw. dieser angegliedert sein konnten, die aber nicht mit dieser identisch waren. Frühe Madrasas finden sich auch als Teil der Privathäuser von Gelehrten bzw. waren diesen unmittelbar vorgelagert. Diese frühen Madrasas waren entweder von einem Gelehrten selbst bzw. von einem Stifter für einen bestimmten Gelehrten gegründet worden. Sie waren fachlich ganz auf diesen Gelehrten als Person und auf seine juristische Lehrmeinung ausgerichtet.23 Die weit im Osten des islamischen Imperiums liegenden Städte und Regionen scheinen bei der Entstehung und Entwicklung der Madrasa eine Vorreiterrolle gespielt zu haben. Neben Buchara ist es vor allem die Stadt Nischapur im Nordosten Irans, die in den frühen arabischen Quellen prominent als ein Ort mit vielen Madrasas – wenn nicht gar als die eigentliche Wiege dieser Bildungseinrichtung – genannt wird. Nischapur war nicht nur (wie Buchara auch) eine seit alters bekannte Handelsstadt an der Seidenstraße, sondern gleichzeitig ein wichtiges militärisches und administratives Zentrum. Tatsächlich galt Nischapur zwischen 950 und 1050 – mit bis zu zweihunderttausend Einwohnern – als die größte Stadt der islamischen Welt ohne einen befahrbaren Fluss‑ oder Meereszugang,24 was einen besonders fruchtbaren Nährboden auch für die Errichtung zahlreicher Schulen bereitet haben dürfte. Die Frage, warum es im Islam überhaupt zur Etablierung der Madrasa als einer Einrichtung der höheren religiösen und juristischen Bildung zusätzlich zur Moschee kam, ist in der Islamwissenschaft immer noch nicht abschließend geklärt. Meines Erachtens sind hierbei zumindest drei Gesichtspunkte zu bedenken: Erstens machte es die äußerst dynamische Entwicklung der islamischen Kultur und Zivilisation unter den Abbasiden ab Mitte des 8. Jahrhunderts erforderlich, 23 Einige
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Beispiele hierfür finden sich in Günther 2017 b, 36. 2006, 562 f.
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dass sich auch die Art und Weise des Unterrichtens und des gelehrten Austauschs den gewachsenen ökonomischen und kulturellen Erfordernissen anpasste und diese gewissermaßen im Bereich der Bildung „unterfütterten“. In diesem Kontext hielten in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts die „Disputation“ (munāẓara) und das Streitgespräch (ǧadal) als neue Formen des aktiven akademischen Meinungsaustausches zunächst am Hofe der Abbasiden Einzug. Sie nahmen am Hof bald Schlüsselstellungen ein und wurden dann zunehmend auch von Gelehrten außerhalb des Hofes praktiziert. Dies betraf gleichermaßen die kontroversen Auseinandersetzungen zwischen den zwei Hauptrichtungen der islamischen Theologie in jener Zeit: d. h. die traditionsorientierten (orthodoxen) Aschʿariten einerseits und die rationalistischen Muʿtaziliten andererseits. Doch auch andere für die islamische Religion zentrale Bereiche der Gelehrsamkeit begannen, die Disputation für sich zu entdecken: so etwa die Grammatiker und die Literaturkritiker wie auch die Naturwissenschaftler und die Mediziner. Mehr noch: Debatte, Disputation und Streitgespräch als Methoden des „interaktiven“ Lehrens und Lernens, wie wir heute sagen würden, wurden von den Gelehrten und den Lernenden auch als effektive Möglichkeiten erkannt und genutzt, um die eigene Lehrmeinung anderen Personen gegenüber zu verteidigen oder um Erlerntes zu vertiefen und zu festigten. Im Fortgang der Geschichte erlangten diese Unterrichtsformen immer größere Bedeutung im Vergleich zu konventionellen Lehrmethoden, bei denen Studenten die mündlich vermittelten Lehrtexte lediglich nachschrieben und memorierten.25 Die Moschee allerdings war für einen „interaktiven“ Unterricht mit größeren Teilnehmerzahlen eher ungeeignet. Dieser konnte viel besser in Schulen – Madrasas – außerhalb der Moscheen und der Privathäuser erfolgen, auch wenn sich die neu errichteten Schulgebäude oft in unmittelbarer Nähe einer Moschee oder des Privathauses eines Gelehrten befanden. Wir haben es hier also offenbar mit einem Phänomen der Bildungsgeschichte zu tun, wonach neue Ziele und neue Formen des Unterrichts auch die Herausbildung einer neuen Lehrinstitution – in unserem Falle der Madrasa – erforderlich machten bzw. diese beförderten.26 25 So wird beispielsweise von dem bereits erwähnten Rechtsgelehrten des 8. und 9. Jh.s aš-Šāfiʿī berichtet, dass er im Debattieren eine besonders effektive Form des akademischen Austauschs sah und diese auch im Unterricht für seine Studenten regelmäßig anwandte. Diese Ansicht wurde aber auch schon von dem berühmten Lexikographen des 8. Jh.s al-Ḫalīl ibn Aḥmad (718–791) vertreten. Vgl. Günther 2017 b, 35. 26 Eine ähnliche Feststellung hat Susanne Talabardon für das spätantike Judentum getroffen (siehe dazu ihren Beitrag in diesem Band, S. 221–236). Welche Vorbilder außerhalb des Islam für die Etablierung von Madrasas möglicherweise eine Rolle gespielt haben könnten, ist damit allerdings noch nicht geklärt. Der Auffassung, dass buddhistische Klostergebäude (Sanskrit: vihāra), wie Max van Berchem 1903 und Wilhelm Barthold 1927 (vgl. Leiser 1986, 16–17) annahmen, in architektonischer Hinsicht als Vorbilder für die Madrasa fungierten, ist, soweit ich erkennen kann, in der Islamwissenschaft bislang nicht weiter nachgegangen worden. Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Madrasas in den weit östlich gelegenen Gebieten des islamischen Imperiums allerdings wäre es dieser Gedanke durchaus wert, weiterverfolgt zu
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Zweitens ist das 9. und 10. Jahrhundert eine Zeit des lebhaften Austauschs der konkurrierenden sunnitischen Rechtsschulen. Da die frühe Madrasa ganz auf die Person eines einzelnen Gelehrten und die von ihm vertretene juristische Lehrmeinung bzw. Rechtsschule zugeschnitten war, stärkte diese – nunmehr institutionalisierte – Form des Unterrichts auch das Ansehen und die Verbreitung des hier unterrichteten juristischen Ritus bzw. der vermittelten juristischen Lehrposition. Drittens gibt es auch noch einen eher praktischen Grund für die schnelle Verbreitung der Madrasa. Dieser hängt mit dem Umstand zusammen, dass Studenten oft weite Reisen unternahmen, um sich für eine gewisse Zeit einem bestimmten Gelehrten anzuschließen. Dem trugen die Madrasa-Schulen insofern Rechnung, als sie sowohl Räume für die Lehre als auch zur Unterbringung von Gelehrten und Studenten umfassten. Für diesen speziellen Personenkreis in der mittelalterlichen islamischen Gesellschaft, die man „Leute des Wissens“ (ahl al-ʿilm) nannte, dienten die Madrasas somit nicht nur als Lehrstätten, sondern auch als Herbergen.27 Oft war den Madrasas deshalb – wie im Übrigen auch manchen zu Unterrichtszwecken genutzten Moscheen – ein khān angegliedert. Khān ist ein Wort persischen Ursprungs, das „Wohnbereich“ oder „Lodge“ bedeutet und das Räume bezeichnete, die zugereisten Studenten sowie Reisenden im Allgemeinen und gelegentlich auch Armen eine Unterkunft boten. Diese Tatsache bestätigt u. a. im 14. Jahrhundert der legendäre Vielreisende Ibn Baṭṭūṭa (1304–1368 oder 1377), der in seinem großen Reisebericht, bekannt unter dem Kurztitel Riḥlat Ibn Baṭṭūta (Die Reise des Ibn Baṭṭuṭa) zahlreiche Madrasas erwähnt, die als Herbergen fungierten. 3.3. Die Madrasa als öffentliche Hochschule Die Nizamiya Ein signifikanter qualitativer Schritt in der Geschichte der Madrasa ist im 11. Jahr hundert mit dem Namen Niẓām al-Mulk (1018–1092) verbunden. Niẓām al-Mulk war der einflussreiche Staatsminister der Seldschuken-Sultane, d. h. einer turkstämmigen, sunnitischen Fürstendynastie, die im 11. und 12. Jahrhundert unter nomineller Oberherrschaft der abbasidischen Kalifen über weite Teile Syriens, des Irak, Irans und Zentralasiens herrschte. Den Seldschuken (1040–1194) war es zudem gelungen, die politische Einheit der sich regional immer mehr zersplitternwerden. Die Annahme, dass die Ähnlichkeit des arabischen Wortes madrasa mit dem syrischen Begriff madrāšā (lyrische Lehrhymne) in Zusammenhang steht, ist eher abzulehnen. Für Schule benutzte das syrische Christentum das Wort ʾeskūlā (lateinisch: schola, das wiederum auf das griechische σχολή zurückgeht). Diese Feststellung lässt eine begriffliche bzw. konzeptionelle Beziehung der islamischen madrasa zum orientalischen Christentum als wenig wahrscheinlich erscheinen. Für den Hinweis auf den syrischen Begriff danke ich meinem Göttinger Kollegen, Herrn Dr. Dmitrij Bumazhnov. 27 Makdisi 1981, 21–24; Ahmed 1968, 106.
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den islamischen Welt im Osten zeitweilig wiederherzustellen. Ihr Staatsminister – sein Ehrenname Niẓām al-Mulk bedeutet so viel wie „Organisator des Reiches“ bzw. „Reichsverweser“ – veranlasste, dass zunächst in Bagdad, der Hauptstadt des abbasidischen Großreiches, und dann auch in anderen Städten im Irak und in Iran religiöse Hochschulen errichtet wurden. Die größte und bedeutendste dieser Hochschulen wurde im Jahre 1067 in Bagdad gegründet und nach ihrem Gründer Madrasa Niẓāmīya oder auch nur kurz Nizamiya genannt – eine Bezeichnung, die im Übrigen später auf weitere Hochschulen dieser Art übertragen wurde. Niẓām al-Mulk stammte aus Nischapur. Sehr wahrscheinlich hatte er die Institution der Madrasa in seiner Heimatstadt kennen und schätzen gelernt, was ihn dazu bewogen haben mag, diese Bildungseinrichtung auch in Bagdad und anderen Orten des Reiches zu etablieren. Doch anders als die frühen, von einem Gelehrten privat gegründeten und auf die Person dieses Gelehrten zugeschnittenen Madrasas war die Nizamiya (sowie die ihr vergleichbaren religiös-orientierten Hochschulen) von einem Repräsentanten des Staates initiiert und gegründet worden. Die Gebäude dieser neuen Hochschulen waren nun zum einen um ein Vielfaches größer als die der kleinen, personalisierten Madrasas. Zum anderen wurde an diesen neuen Madrasas professionelles Lehrpersonal eingestellt, das seine Gehälter aus einer gemeinnützigen Stiftung erhielt und dessen Lehre institutionell geregelt war. Diese neue Form der religiösen Hochschule, die den klassischen Islam prägen sollte, ergänzte die Moschee als Bildungseinrichtung in wichtigen Bereichen, allerdings ohne die Moschee bzw. die Moscheeschulen als Orte des Unterrichts zu verdrängen bzw. zu ersetzen. Im Gegenteil, viele Studenten und Lehrer wechselten ungehindert zwischen diesen beiden Typen von Lehreinrichtungen – motiviert nur durch ihre akademischen Ansprüche und Interessen.28 Auf den ersten Lehrstuhl für schafiitisches Recht an der Bagdader NizamiyaMadrasa wurde der Theologe und schafiitische Rechtsgehrte Abū Isḥāq aš-Širāzī (1003–1083) berufen, der diese Position immerhin 16 Jahre innehatte. Der berühmteste Professor und Rektor der Nizamiya aber ist zweifellos der autoritative Theologe, schafiitische Rechtsgelehrte und Mystiker Abū Ḥāmid al-Ġazālī (1058–1111). Für al-Ġazālī waren die Vermittlung und der Erwerb religiösen Wissens sowie die Spiritualität als grundlegende Verbindung des Menschen zu Gott vornehmliche Aufgaben und Inhalte eines frommen muslimischen Lebens. Die damit verbundenen Vorstellungen stellten Hauptthemen seines intellektuellen Schaffens dar. Diese Tatsache wird in seinem Opus magnum mit dem Titel Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften (Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn) ebenso wie in mehreren anderen seiner theologisch-mystischen Schriften deutlich, die sich mehr oder weniger direkt auch mit pädagogischen und didaktischen Fragen befassen. 28 Tibawi
1972, 212–227.
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Dass diese Themen für al-Ġazālī jedoch nicht nur Fragen der theoretischen Reflexion waren, sondern dass er diese erfolgreich in die Praxis umsetzte, zeigt nicht zuletzt die große Popularität seiner Vorlesungen, an denen 300 Studenten und mehr je Veranstaltung teilgenommen haben sollen. Die Mustansiriya Eine andere besonders berühmte Einrichtung der höheren islamischen Bildung ist die Mustanṣirīya-Hochschule oder kurz Mustansiriya in Bagdad. Sie ist eine besondere Rechtshochschule im Islam insofern als es sich bei der Mustansiriya erstmals in der Geschichte der öffentlichen islamischen Lehranstalten um eine universale Madrasa handelte, also nicht um eine Einrichtung, in der lediglich eine der vier großen sunnitischen Rechtslehren, sondern alle vier unterrichtet wurden. Zugleich ist die Mustansiriya die einzige Schulstiftung eines abbasidischen Kalifen, denn der Grundstein für die Gründung der Mustansiriya am östlichen Ufer des Tigris wurde im Jahre 1227 auf Befehl des siebenunddreißigsten Abbasidenkalifen al-Mustanṣir bi-llāh (r. 1226–1242) gelegt. Als das Gebäude im Jahre 1234 fertiggestellt war, bestellte der Kalif seinen Wesir Muʾaiyad ad-Dīn Ibn ʿAqamī (1197–1258) zum ersten ustaḏ ad-dār, d. h. zum ersten Rektor dieser Einrichtung. Dem zweistöckigen Gebäude angeschlossen waren vier große rechteckige Hallen, die mit einem Tonnengewölbe überdeckt waren. Jede dieser Hallen war der Nutzung durch eine der vier großen sunnitischen Rechtsschulen vorbehalten: den Schafiiten, Hanafiten, Hanbaliten und den Malikiten. Die finanzielle Grundlage der Mustansiriya war eine umfangreiche Stiftung des Kalifen mit Einkünften aus mehreren Ländereien und Dörfern. Diese Stiftung stellte die Versorgung der ungefähr 400 Mitglieder der Madrasa sicher, von denen etwa 300 in der Madrasa wohnten.29 In der schon erwähnten Reisebeschreibung des Ibn Baṭṭūṭa vermittelt uns der Autor einen anschaulichen Eindruck der Mustansiriya, als er diese im 14. Jahrhundert besuchte. In seinem Bericht über die Östliche Seite Bagdads schreibt Ibn Baṭṭūṭa:
وأعظم أسواقها سوق تُعرف،وهذه اجلهة الشرقية من بغداد حافلة األسواق عظيمة الترتيب ّ ،بسوق الثالثاء ويف وسط هذا السوق املدرسة النظامية العجيبة اليت،كل صناعة فيها على حدة ويف آخره املدرسة املستنصرية ونسبتها إىل أمري املؤمنني املستنصر،صارت األمثال تُضرب حبسنها ّ ، وهبا املذاهب األربعة،باهلل أيب جعفر بن أمري املؤمنني الظاهر بن أمري املؤمنني الناصر لكل مذهب ،ّ وجلوس املُدرّس يف قبّة خشب صغرية على كرسي، وموضع التدريس،إيوَان فيه املسجد وعلى ميينه، البسًا ثياب السواد معتمًّا، وعليه السكينة والوقار، ويقعد املدرّس،عليه البسط 30.كل جملس من هذه اجملالس األربعة ّ وهكذا ترتيب،كل ما يُـمليه ّ ويساره مُعيدان يُعيدان 29 Schmid
1980, 1 f. Baṭṭūṭa 1994, II, 109. Siehe auch ders. 1962, II, 332. Zur Architektur der Mustansiriya vermittelt der Band von Schmid 1980 reichhaltige Informationen. 30 Ibn
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Die östliche Seite Bagdads ist voller großartiger und wohlgeordneter Märkte. Der beste davon ist der Markt, der als der Dienstagsmarkt bekannt ist und in dem jedes Handwerk seinen eigenen Distrikt hat. In seinem Zentrum liegt die wunderbare Nizamiya-Hochschule, die aufgrund ihrer Pracht zum Vorbild [für andere Hochschulen] wurde, und an seinem Ende die Mustansiriya-Hochschule, die nach dem Befehlshaber der Gläubigen al-Mustanṣir bi-llāh Abū Ǧaʽfar, Sohn des Befehlshabers der Gläubigen aẓ-Ẓāhir, der der Sohn des Befehlshabers der Gläubigen an-Nāṣir ist, benannt wurde. [Die MustansiriyaHochschule] beherbergt alle vier [sunnitischen] Rechtsschulen. Jede Rechtsschule hat ihr [eigenes] großes Hallengebäude (īwān), mit eigener Moschee und eigenem Unterrichtsraum (mauḍiʿ at-tadrīs). Der Professor nimmt seinen Platz unter einem kleinen hölzernen Pavillon auf einem mit Teppichen belegten Sitz ein. Er sitzt dort mit innerer Ruhe und in würdiger Haltung. Er trägt eine schwarze Robe und einen Turban. Zwei Assistenten rechts und links von ihm wiederholen [mit lauter Stimme für die anwesenden Studenten] alles, was er diktiert. Diese Anordnung [und Lehrweise] gilt in jeder der vier Sitzungsräume (maǧālis).
Zu den Unterrichts‑ und Versammlungsräumen gehörten im Weiteren: fünf große Hörsäle und ein kleiner Hörsaal, eine Bibliothek mit Lese‑ und Magazinraum, eine Gebetshalle, eine Garküche mit Brotbäckerei und Vorratsmagazin, ein Hospital mit medizinischem Behandlungsraum, Krankenstation und Apotheke sowie ein Badehaus und diverse Hof‑ und Gartenanlagen.31 Noch vor der offiziellen Eröffnung der Mustansiriya besuchte der stellvertretende Staatsminister zusammen mit dem Rektor die Hochschule. Zunächst küsste er die Schwelle am Eingang des Gebäudes, inspizierte dann das Gebäude, um sodann dem Rektor und dessen Bruder Ehrenroben sowie eine Schatulle mit einem Koran sowie nicht zuletzt eine große Sammlung wertvoller Bücher zu überreichen. Es sollen 160 Träger notwendig gewesen sein, um die Bücher in die Hochschule zu befördern, die dort sofort mit Unterstützung des Bibliothekars des Kalifen registriert wurden. Einige Tage später besuchte der Kalif selbst die Hochschule in einem noch festlicheren Rahmen. Doch das Fest zur offiziellen Einweihung der Einrichtung am 6. April 1234 scheint alles Vorstellbare übertroffen zu haben.32 Hier kamen nicht nur nahezu alle Regierungsvertreter, sondern auch viele Kämmerer, Richter, Lehrer, religiöse Würdenträger, Mystiker, Prediger, Koranleser, Poeten und eine große Zahl ausländischer Händler zusammen. Der zentrale Teil der Feierlichkeiten war ein großartiges Bankett auf dem Hofgelände der Hochschule, währenddessen dem Lehr‑ und Verwaltungspersonal der Hochschule und anderen Anwesenden zahlreiche Geschenke überreicht wurden. Als die Regierungsbeamten und Würdenträger sich am Ende der Veranstaltung erhoben und den Ort der Feierlichkeiten verließen, beobachtete 31 Schmid
1980, 56. arabischen Quellen nennen nahezu überstimmend „Donnerstag, 5. Raǧab 631“ als Einweihungsdatum der Mustansiriya; vgl. u. a. die Informationen der Historiker Ibn al-Fuwaṭī (gest. 1323) 2003, 58 f. und Ibn Kathīr (gest. 1373) 1998, Bd. 17, 212 f. Die Umrechnung von Daten der islamischen in die christliche Zeitrechnung erfolgte nach Wüstenfeld / Mahler 1961. 32 Die
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der Kalif den Auszug der Ehrengäste durch ein Fenster in der Mitte der zentralen, palastartigen hohen Halle (īwān).33 Während die meisten mittelalterlichen Lehreinrichtungen im Irak während der Invasion der Mongolen im Jahre 1258 zerstört wurden, blieb der Mustansiriya dieses Schicksal erspart. Allerdings wurde sie ihrer Bibliothek beraubt und vorübergehend geschlossen. Doch schon ein Jahrzehnt später sei sie wieder in Stand gesetzt worden und diente dann bis ins späte 17. Jahrhundert als Lehreinrichtung. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Gebäudekomplex restauriert und beherbergt heute ein Museum für islamische Kultur und Kunst. 3.4. Gründe für die Einrichtung religiöser Hochschulen Es gibt mehrere gewichtige Gründe für die Etablierung solcher nun viel größeren, professionell strukturierten Madrasa-Einrichtungen im 11. und bis zum 14. Jahrhundert. Erstens war der Bedarf der Herrschenden an gut ausgebildeten Staatsbeamten um ein Vielfaches gestiegen, um die Verwaltung der in sozialer und politischer Hinsicht immer komplexer werdenden Herrschertümer (im nominellen Hoheitsbereich der Abbasiden) funktional und effizient zu gestalten. Zweitens ermöglichten die durch Privatpersonen oder Regierungsvertreter bereitgestellten finanziellen Grundlagen in Form von Stiftungen die solide finanzielle und auf eine langfristige Nutzung ausgerichtete Basis, um solche Einrichtungen zu unterhalten. Drittens und nicht zuletzt hat auch die religiös-doktrinäre und kulturelle Rivalität zwischen dem sunnitischen Bagdad und dem in jener Zeit ökonomisch starken, allerdings schiitisch regierten Kairo offenbar dazu beigetragen, dass sich die Regierenden in Bagdad veranlasst sahen, durch eine konzertierte sunnitische Initiative im Bereich der institutionellen Bildung dem wachsenden schiitischen Einfluss entgegenzuwirken. 3.5. Curriculum und Studienziele Der Lehrplan an den Madrasa-Hochschulen umfasste traditionell fünf Unterrichtsbereiche: (1) religiöse Studien, einschließlich: a) Koran, Koranexegese (tafsīr) und die unterschiedlichen Lesarten des Korans (qirāʾāt); sowie b) Prophetentradition (ḥadiṯ), zu der auch die Biographien der Überlieferer (siyar tarāǧim) zählten, sowie c) die Grundlagen der islamischen Religion (uṣūl ad-dīn); 33 Awad
1945, 13 f.
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(2) islamisches Recht (šarīʿa; fiqh), d. h.: a) die Grundlagen der religiös-fundierten, islamischen Jurisprudenz (uṣūl al-fiqh) mit den Prinzipien, den Quellen und der Methodologie des Rechts generell sowie speziell auch der Rechtsschule (maḏhab), der ein Student angehörte; b) die Unterschiede zwischen den vier großen sunnitischen Rechtsschulen (ḫilaf); (3) die arabische Sprache (luġa), Grammatik (naḥw) und Literatur (adab); (4) dialektische Argumentation (ǧadal) und Logik (manṭiq) sowie (5) Arithmetik (riyāḍiyāt) und die Grundzüge der Astronomie (ʿilm an-nuǧūm). Zusätzlich zu den regulären Lehrveranstaltungen, in denen die Inhalte dieser Fächer unterrichtet wurden, erteilten die Professoren auch Rechtsauskünfte in Form von Gutachten (fatwā, Pl. fatāwā) und hielten Predigten (Si. waʿẓ) oder Diskussionsrunden (munāẓarāt) für Lehrkräfte und fortgeschrittene Studenten ab.34 Diese religiösen und juristischen sowie die weiteren begleitenden Studienfächer der sogenannten einheimischen islamischen Wissenschaften wurden für die Tätigkeit von Staatsbeamten als essenziell erachtet.35 Das Spektrum der Studienfächer sollte dabei sicherstellen, dass die Absolventen der Madrasa fachlich auf diese Arbeit gut vorbereitet waren und gleichzeitig den rechten Glauben besaßen. Adäquate Kenntnisse im religiösen Bereich vermittelte der Unterricht im Koran, in der Koranexegese und der Prophetentradition. Die Fähigkeiten im guten sprachlichen Ausdruck sowie in logischer Gedankenführung waren in juristischen Belangen unverzichtbar; und mathematische und astronomische Kenntnisse waren für eine effiziente Verwaltung ebenso vonnöten wie für zahlreiche andere Bereiche in religiös geprägten Gesellschaften, so etwa für die Bestimmung der Gebetszeiten. 34 Vgl. beispielweise Makdisi 1981, 16; ders. 1991, 6. Einen wissenschaftsgeschichtlich interessanten Einblick in das islamische Unterrichtswesen in Indien im 17. Jh. gibt Sprenger in seinem 1878 veröffentlichten Aufsatz „Die Schulfächer und die Scholastik der Muslime“. Er vermerkt dabei im Ergebnis seiner Auswertung eines Handschriftenkatalogs des Indian Office, dass in jener Zeit das Persische die Sprache am Hofe und der gebildeten Muslime Indiens war, dass großer Wert auch auf die profane Bildung gelegt wurde und dass „weder der Koran und die Kommentare noch die Sunna […] zu den Schulstudien“ gehörten (Sprenger 1878, 1–2.10). Bezeichnenderweise nennt Sprenger bestimmte Werke, die in dem besagten Schulbetrieb verwendet wurden, „Schulbücher“ – womit er die für die moderne Schulbuchforschung wichtige Frage aufwirft, was im islamischen Kontext als Schulbuch gelten kann und ob dieser Begriff bzw. die damit verbundene Konzeption ein begriffliches Pendent im islamischen Lehrbetrieb besitzt. 35 Für die einheimischen islamischen Wissenschaften stehen die Begriffe al-ʿulūm aš-šarʿīya („die auf dem göttlich geoffenbarten Gesetz beruhenden Wissenschaften“) und al-ʿulūm annaqlīya („die überlieferten Wissenschaften“). Epistemologisch werden diese unterschieden von den ʿulūm al-awāʾil („die Wissenschaften der Altvorderen“, das sind vor allem die antiken griechischen Wissenschaften) bzw. al-ʿulūm al-ʿaqlīya („die rationalen Wissenschaften“), zu denen in erster Linie die Philosophie, Astronomie, Medizin und Mathematik zählten.
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Die fremden, nicht genuin islamischen Fächer – vor allem die auf der antiken griechischen Philosophie beruhende arabisch-islamische Philosophie – fehlten im regulären Curriculum der klassischen Madrasa. Ein zentraler Grund hierfür war, dass bestimmte philosophische Lehrsätze als im Widerspruch zu prinzipiellen Doktrinen des Islams (‚Gott ist allmächtig und allwissend‘; ‚der Anfang der Welt ist von Gott initiiert und sie existiert nicht ewig‘; ‚es gibt eine körperliche Auferstehung nach dem Tod‘) angesehen wurden.36 In einigen iranischen Madrasas im Herrschaftsbereich der Fürstendynastie der Seldschuken allerdings scheinen schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt auch mathematische und philosophische Wissenschaften sowie die diskursive Theologie (kalām) Eingang in den Unterricht gefunden zu haben – eine Feststellung, die das Bild eines starren und für alle Zeit unabänderlichen MadrasaCurriculums teilweise relativiert.37 Die tägliche Abfolge der Studienfächer in der Madrasa scheint sich dabei nicht wesentlich vom Unterricht in den Moscheen oder in den privaten Lehrzirkeln der Gelehrten unterschieden zu haben: nach dem Morgengebet beginnend mit Koran und Exegese, gefolgt von Prophetentradition, islamischem Recht, Logik sowie arabischer Sprache, Grammatik und Literatur. Dies ist auch deshalb festzuhalten, da viele Gelehrte zwischen ihrem Unterricht in einer Madrasa und dem in einer Moschee sowie in ihren Privaträumen pendelten. Zu den allgemeinen Zielen des Wissenserwerbs an den Madrasa-Schulen äußert sich repräsentativ der namhafte syrische Rechtsgelehrte und Oberrichter in Damaskus und Kairo, Badr ad-Dīn ibn Ǧamāʿa (1241–1333) in seiner Denkschrift für Studenten und Lehrer zum Verhaltenskodex der Gelehrten und der Wissenssuchenden (Taḏkirat as-sāmiʿ wa-l-mutakallim fī adab al-ʿālim wa-lmutaʿallim). Hier führt er Folgendes aus:
فإ ّن املدارس وأوقافها مل تُجعل جملرَّد املقام والعشرة وال جملرَّد التعبّد بالصالة والصيام بل لتكون مُعين ًة على حتصيل العلم والتفرّغ له والتجرُّد عن الشواغل يف أوطان،كاخلوانك ِ ويُكسب عدوّه والعاقل يَعلم أن أبرك األيّام عليه يوم يزداد فيه فضيل ًة وعلمًا،األهل واألقارب 38.من اجلنّ واإلنس كربًا وغمًّا
Die Madrasa-Hochschulen und ihre Stiftungsgebäude sind weder dafür gedacht, dass man sich dort lediglich aufhält und gesellschaftlichen Umgang pflegt, noch dafür, durch Gebete und Fasten [Gott] zu dienen, wie es an Orten der Andacht und Gottesverehrung (ḫawānik) der Fall ist. [Im Gegenteil,] die Schulen sollen beim Wissenserwerb helfen und dabei, sich ihm ganz zu widmen, sich von Ablenkungen in Bezug auf die Heimatländer und die Verwandten freizumachen. Der Vernünftige weiß, dass sein segenreichster Tag jener ist, an dem er seine Tugendhaftigkeit und sein Wissen vermehrt und seine Feinde unter den Dschinnen und den Menschen [dadurch] in Bedrängnis und Elend versetzt. 36 Makdisi 1981, 75–78.80–84. Zu diesen Gottesprädikationen im Christentum siehe Feldmeier / Spieckermann 2017, 49–202 (Kapitel 5: „Der Allmächtige“). 37 Endress 2016, 379–383. 38 Ibn Ǧamāʿa 2009, 195.
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فإ ّن ذلك عالمة قصور الِهمّة وعدم، إذا أمكنه،وال يقتصر يف احللقة على مساع درسه فقط ً بل يعتين بسائر الدروس املشروحة ضبطًا وتعليقًا ونق،الفالح وبُطء التنبّه ال إن احتمل ذهنه 39 َّ ويشارك أصحاهبا حتّى كأ ّن،ذلك .كل درس منها له [Der Student] soll – wenn möglich – den Lehrzirkel (ḥalqa) nicht nur zur Teilnahme (wörtlich: „hören“, samāʿ) an seiner eigenen Unterrichtseinheit aufsuchen; denn dies wäre ein Zeichen von geringer Strebsamkeit, Erfolglosigkeit und mangelnder Aufmerksamkeit. Vielmehr soll er sich mit allen erläuterten Unterrichtsinhalten (durūs) in Bezug auf Genauigkeit, Kommentar und Überlieferung beschäftigen, sofern ihm dies seine Geisteskraft ermöglicht. Er soll an all diesen Unterrichtseinheiten genauso wie die (dort regulär anwesenden) Mitstudenten teilnehmen, so als ob diese ihn direkt betreffen würden.
Die Exklusivität des Curriculums und seine grundsätzliche Fokussierung auf einige wenige Wissensgebiete, in deren Zentrum das islamische Recht als Nukleus stand, unterscheidet die Madrasa als Bildungseinrichtung von der Moschee, da in der letzteren die Vielfalt der unterrichteten traditionellen Fächer und die Flexibilität der Lehre fortbestand. Die nicht selten in der Stiftungsurkunde einer Madrasa festgelegte Orientierung der Lehre auf die religiösen Fächer schloss allerdings nicht vollkommen aus, dass in der Madrasa de facto auch weitere Wissensdisziplinen unterrichtet wurden. Hierzu zählten die Medizin ebenso wie die islamische Geschichte sowie die mathematischen und physikalischen Wissenschaften, deren Studium auf der Grundlage der Lektüre und Kommentierung entsprechender Lehrtexte erfolgte. Allerdings fand der Unterricht in diesen nicht vordergründig religiös orientierten Fächern weniger im Rahmen des Madrasa-Curriculums, sondern eher auf individueller Basis statt, wobei die akademische Qualifikation der Lehrenden und die wissenschaftlichen Interessen der Studenten die Impulsgeber waren. Untersuchungen zum Lehrbetrieb in Damaszener Madrasas des 13. und 14. Jahrhundert beispielsweise haben in diesem Zusammenhang erwiesen, dass einige Gelehrte, die vor allem als Rechtsexperten bekannt waren und die in Madrasas Vorlesungen zu den verschiedenen Zweigen des islamischen Rechts abhielten, hier gleichzeitig auch Unterricht in weiteren Fächer – etwa der Medizin und der Mathematik, aber auch der Theologie und der schöngeistigen Literatur – erteilten.40 Auffällig ist in jedem Fall, dass bei den in den „klassischen“ Madrasas sowie in den Moscheen unterrichteten Wissensgebieten die sogenannten fremden Wissenschaften weitgehend fehlen. Zu diesen zählen vor allem die philosophischen und die Mehrheit der naturwissenschaftlichen Disziplinen, welche die Muslime durch die Rezeption der antiken griechischen Wissenschaften im 8. bis 10. Jahrhundert kennengelernt und fest im islamischen Wissenschaftskanon verankert hatten. Diese fremden Wissenschaften wurden vor allem in 39 Ibn Ǧamāʿa 2009, 132. Zu Person und Schaffen Ibn Ǧamāʿas sowie einer Zusammenfassung wesentlicher Inhalte der Taḏkira siehe Rosenthal 1970, 296–298. 40 Chamberlain 1994, 82–89.
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individuellen Lehrzirkeln in den Privathäusern von Gelehrten gepflegt oder in halböffentlichen Einrichtungen betrieben, die Begriffe wie bait und dār (Haus) oder ḫizāna ([Schatz‑]Kammer) in ihrer Bezeichnung trugen. Besonders prominente Beispiele für letztere sind das Bait al-ḥikma (Haus der Weisheit), d. h. die Bibliothek der Abbasidenkalifen in Bagdad (mit Möglichkeiten für philologische und naturwissenschaftliche Forschungen und zum gelehrten Austausch)41 sowie das vergleichbare Dār al-ḥikma („Haus der Weisheit“), die Akademie und kalifale Bibliothek der Fatimiden in Kairo. Auch Bibliotheken, Observatorien und Krankenhäuser wurden, wie schon erwähnt, in diesem Zusammenhang für Unterrichtszwecke genutzt. Frauen waren an den Madrasas nicht zugelassen. Sie konnten allerdings an Vorlesungen und Studienzirkeln in den Moscheen teilnehmen – eine Tatsache, die u. a. durch Namen von Frauen belegt ist, die auf Hörervermerken in mittelalterlichen arabischen Handschriften vermerkt sind, welche als Textgrundlage für solche Vorlesungen dienten.42 3.6. Administrative Organisation Organisiert war eine Madrasa folgendermaßen: Eine Stiftung (waqf) sicherte die finanzielle Grundlage. Sie zahlte die Gehälter der Lehrkräfte und des Verwaltungspersonals und gewährte mitunter auch Stipendien für Studenten. Der wohltätige Stifter besaß dabei die Freiheit, generell zu entscheiden, in welcher Art und Weise seine finanziellen Zuwendungen verausgabt wurden oder beispielsweise auch welche Rechtsschule in der Madrasa bevorzugt unterrichtet werden sollte. Regularien dieser Art wurden in einer Stiftungsurkunde festgehalten, an die sich später auch der Stifter selbst halten musste. Bei der Besetzung von Professuren konnte der Stifter ebenfalls Festlegungen treffen. Keinen Einfluss allerdings hatte er auf die Lehrfreiheit des Unterrichtspersonals im Hinblick auf die Gutas / van Bladel, Bayt al-ḥikma (online); Janos 2014, 439–441. interessantes Beispiel hierfür ist ein Hörervermerk auf dem unikalen Manuskript des für die Anfänge der islamischen Dogmengeschichte wichtigen Traktat Šarḥ as-sunna (Erläuterung der Sunna). Dieses wahrscheinlich früheste Werk zur Bestimmung dessen, was Sunna, d. h. was für die Mehrheit der Muslime überlieferte und autoritative Norm, ist, wurde von dem konservativen Gelehrten und Prediger Abū ʿAbdallāh Aḥmad ibn Muḥammad al-Bāhilī, bekannt als Ġulām Ḫalīl (gest. 888) aus Basra, verfasst. Am Ende dieses Manuskripts findet sich nämlich der Vermerk, dass das gesamte in dem Manuskript enthaltene Werk im Jahre 1112 in einer (wahrscheinlich Bagdader) Freitagsmoschee öffentlich gelesen bzw. unterrichtet wurde. Dies geschah in Anwesenheit des Imams Abū l-Ḥusain ʿAbd al-Ḥaqq (gest. 1179), des jüngsten und letzten im Manuskript genannten autorisierten Überlieferers des Werkes. Vorgetragen wurde der Text offenbar von dem Lehrassistenten des Imams. An dem Studienzirkel nahmen weitere vierzehn Personen teil, unter ihnen eine Frau namens Hazar bint al-Harawī. Letztere Namensnennung ist einer von zahlreichen weiteren Belegen dafür, dass Frauen mitunter auch in konservativen Lehrkreisen an Unterrichtsveranstaltungen teilnehmen konnten. Vgl. Jarrar / Günther 2003, 3. Siehe im Weiteren auch Leder 1999, 150 f. 41
42 Ein
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konkreten Lehrinhalte. Die Stiftung wurde administrativ von einem mutawallī (Treuhänder) und in rechtlichen Belangen von einem qāḍī (Richter) verwaltet. Akademisch geleitet wurde die Madrasa von einem Imam-Professor, der dem professoralen Unterrichtspersonal und anderen fachlich ausgewiesenen Lehrkräften in der Funktion eines Rektors vorstand. Die Lehrperson wurde mudarris (Dozent) genannt. Oft besaß dieser einen muʿīd (Assistenten) bzw. nāsiḫ (Kopist, Schreiber) oder mehrere Personen in diesen Funktionen. Der Studierende am Anfang des Studiums hieß ṭālib (Student), ein schon fortgeschrittener muṯaqqaf (gut Ausgebildeter) bzw. dann auch faqīh (Kenntnisreicher [im islamischen Recht]). Die Studenten waren weitestgehend frei in der Wahl der Studienfächer, der Studienabfolge und der Studiendauer. Auch kannte das Studium an der klassischen Madrasa keine formellen Prüfungen. Die politischen Herrscher überwachten die Besetzung von Schlüsselpositionen an den Madrasas. Sie nahmen üblicherweise aber keinen direkten Einfluss auf diese Stellenbesetzung oder die Berufungen des Lehrpersonals bzw. der Professuren. In sozialer Hinsicht war die klassische Madrasa eine private Stiftungseinrichtung, die aber für die Öffentlichkeit bestimmt und allen Muslimen zugänglich war.43 Insofern war diese also keine staatliche Einrichtung, selbst in den Fällen, in denen Repräsentanten des Staates ihre Gründung initiiert hatten. Vielleicht noch wichtiger sind aber folgende zwei Punkte: Zum einen blieb dem höheren Studium auch an der Institution der Madrasa der persönliche Charakter erhalten, den der Unterricht an den Moscheen und in den Lehrzirkeln im privaten Räumen hatte. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt das, dass auch in den Madrasas das direkte Lehrer-Schüler-Verhältnis, das so kennzeichnend für den Lehrbetriebe im frühen und mittelalterlichen Islam ist, fortbestand.44 Doch zum anderen konnten nun auch Personen von der Madrasa als höherer Bildungseinrichtung profitierten, die nicht zur Elite der Religions‑ und Rechtsgelehrten einer bestimmten Stadt zählten oder die dorthin aus anderen Regionen zugewandert waren. Dadurch, dass die Madrasas Personen unterschiedlicher sozialer Schichten sowie verschiedener geographischer Herkunft und Bildungstraditionen anzogen, förderten diese Institutionen in sozialer Hinsicht eine Egalisierung der höheren Bildung sowie in struktureller Hinsicht eine überregionale Verbindung der Gelehrten sowie die Entwicklung von Netzwerken insbesondere der Religions‑ und Rechtsgelehrten, die weite Teile des islamischen Imperiums umspannten.45 43 Makdisi sagt dazu: „The madrasa was […] essentially a privately endowed institution destined for the public, but [it was so] according to the wishes of the individual founder who established the institution, and who limited its public character“; vgl. Makdisi 1981, 300 (Kursiv wie im Original) und 229 f.281. 44 Einen hilfreichen Überblick über die Kontroversen in der Islamwissenschaft zur Entwicklung und Funktion der Madrasa gibt Chamberlain 2002, 70–90 (Kapitel „Madrasa, the production of knowledge, and the reproduction of elites“). 45 Ephrat 2000, 114 f.
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3.7. Verhaltensregeln im Unterricht und im Studium Studenten an einer Madrasa waren gehalten, die Lerninhalte kontinuierlich durch zusätzliche Erläuterungen ihres Lehrers zu festigen und zu vertiefen. Der persönliche Kontakt der Studenten zum Lehrer besaß insbesondere deshalb eine zentrale Bedeutung, da dieser als Garant für die Korrektheit der Überlieferung bzw. des religiös-orientierten Wissenserwerbs erachtet wurde. Deshalb hatten sich die Studenten in ihren Studien nicht allein auf Bücher als Informationsquelle zu beschränken, selbst wenn Bücher im mittelalterlichen islamischen Lehrbetrieb einen hohen Stellenwert besaßen. Für ihren Studienanfang waren die Studenten gehalten, sich zunächst auf die allgemein anerkannten Kernpunkte einer Wissenschaftsdisziplin zu konzentrieren und Meinungsunterschiede zwischen Gelehrten zu meiden. Ein Themenbereich bzw. eine Schrift zu einer bestimmten Thematik sollte zunächst intensiv und abschließend studiert werden, bevor zu einem weiteren Wissensbereich übergegangen bzw. verschiedene Themenbereiche gleichzeitig studiert werden konnten. Die Beschäftigung mit verschiedenen Themenbereichen, sofern ein Student diese Studienmethode ausdrücklich wünschte, erforderte die Konsultation des Professors und dessen Zustimmung. Die Kontrolle des Gelernten durch den Professor (oder durch eine von ihm bestimmte Person) sowie reguläre Wiederholungen waren gängige Bestandteile des Madrasa-Unterrichts. Diese Repetitionen fanden statt, um sicherzustellen, dass sich die Studenten Sachverhalte korrekt einprägten. Doch obgleich dem Lehrer eine autoritative Expertise für diesen studentischen Lernprozess zugemessen wurde, waren Studenten im Idealfall auch in den religiösen Fächern gehalten, eine gewisse kritische Haltung ihren Studieninhalten gegenüber einzunehmen und diese auf ihre Korrektheit zu prüfen. Das Gebot bestand in jedem Falle darin, Lernaktivitäten zeitnah umzusetzen und nicht aufzuschieben. Die Leistungsfähigkeit im Jugendalter wurde dabei ausdrücklich als besonders förderliche Lernvoraussetzung erkannt und Studenten darauf aufmerksam gemacht. Doch auch die Warnung, dass das Aufschieben von Studienaktivitäten das Risiko in sich berge, dass sich Studenten womöglich an den Aufschub wichtiger Dinge gewöhnen, war präsent. Die Studienmaterialien bzw. Bücher, welche Gegenstand einer Lehreinheit waren, wurden durch die Studenten zumeist käuflich erworben (oder ausgeliehen). Dies wurde deshalb so gehandhabt, da das Abschreiben eines Buches als zu zeitaufwendig erachtet wurde. Zeit, die auf diese Weise gewonnen wurde, sollte ausdrücklich für die Beschäftigung mit den Studieninhalten verwendet werden. Neben dem Lehrpersonal besaßen die Bücher ein besonders hohes Ansehen im mittelalterlichen islamischen Lehrbetrieb. Studenten wurde geraten, Bücher nicht etwa offen auf den Boden herumliegen zu lassen. Bücher seien sorgfältig zu behandeln und auf dem Schreibplatz oder im Bücherregal aufzubewahren, um
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sie nicht zu beschädigen. Ausgeliehene Bücher sollten im bestmöglichen Zustand an den Eigentümer zurückgegeben werden. Höfliches und respektvolles Benehmen im Unterricht und in dessen unmittelbarem Umfeld gehörte zum generellen Verhaltenskodex der Lehrer und Studenten im gegenseitigen Umgang miteinander sowie der Studenten untereinander. Ebenso gehörten studentischer Fleiß, Bescheidenheit und Demut zu den Idealen religiösen Lernens in der klassischen Madrasa.46 3.8. Geographische Ausbreitung Die Nizamiya in Bagdad hatte Modellfunktion auch für weitere sunnitische Einrichtungen der höheren Bildung. Schon bald entstanden ähnliche Schulen in anderer Teilen des Irak, in Iran und in Zentralasien sowie im heutigen Afghanistan: in Basra, Isfahan, Merw und Tus sowie in Balch und Herat. Auch in Anatolien, Syrien, Palästina, Ägypten und auf der arabischen Halbinsel wurden Madrasas von lokalen Dynastien ab dem 11. und 12. Jahrhundert gegründet. Besonders erwähnenswert sind die Einrichtungen in Konya, Aleppo, Damaskus, Kairo und Mekka. So berichtet im 12. Jahrhundert der spanische Geograph und Reisende Ibn Ǧubair (1145–1217) in seinem Reisetagebuch ar-Riḥla (Die Reise) beispielsweise von sechs Madrasas in Aleppo und zwanzig in Damaskus. Viel detaillierter sind die Ausführungen des Damaszener Richters und Historikers ʿAbd al-Qādir an-Nuʿaimī (1442–1521) in seinem ad-Dāris fī tārīḫ almadāris (Studienführer zur Geschichte der höheren Bildungsanstalten). In diesem zweibändigen Werk zur Topographie der Bildungslandschaft der Stadt Damaskus in der Zeit zwischen dem 11. und dem 16. Jahrhundert nennt der Autor nicht nur eine beträchtliche Zahl von Einrichtungen und Orten zur höheren religiösen Bildung namentlich, sondern bietet auch detaillierte Informationen über ihre Lage, Architektur, Lehrpersonal und Lehrprogramm. Einige statistische Grunddaten, die sich aus diesem Kompendium erschließen lassen, seien im Folgenden genannt, um das besondere Bildungspotential einer mittelalterlichen islamischen Metropole wie Damaskus zu veranschaulichen. An-Nuʿaimī macht hierzu folgende Angaben:47 Anzahl Einrichtung 7 16 3 61
Lehranstalt zum Studium des Korans, Dār al-Qurʾān Lehranstalt zum Studium der Prophetentradition, Dār al-Ḥadīṯ Lehranstalt zum Studium des Korans und der Prophetentradition, Dār al-Qurʾān wa-l-Ḥadīṯ Madrasa der Schafiiten
Nachweis I, 3–18 I, 19–122 I, 123–128 I, 129–472
46 Vgl. Ibn Ǧamāʿa 2009, Kapitel 4 („Verhaltensregeln im Umgang mit Büchern“) und Kapitel 5 („Verhaltensregeln für Madrasa-Studenten“) 151–172.173–208; ders. 2006, 87–98.99–109. 47 Verwendet wurde die Ausgabe an-Nuʿaimī 1988.
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Anzahl Einrichtung 52 4 11 3 29 21 26 79 629
Madrasa der Hanafiten Madrasa der Malikiten Madrasa der Hanbaliten Madrasa zum Studium der Medizin (madrasat aṭ-ṭibb) Khanqah bzw. Konvent, insbesondere für Mystiker (ḫānqāh, Pl. ḫawāniq; später bekannt auch als takīya oder tekiyye, Kloster, Herberge) Herberge bzw. Karawanserei (ribāṭ, Pl. ribāṭāt) Rückzugsort zur mystischen Kontemplation und zum Studium (zāwiya, Pl. zawāyā) Grabmal mit angeschlossener Lehrstätte (turba, Pl. turab) Moschee (ǧāmiʿ, Pl. ǧawāmiʿ)
Nachweis I, 473–650 II, 3–28 II, 29–126 II, 127–138 II, 139–191 II, 192–195 II, 196–222 II, 223–302 II, 303–445
Mit anderen Worten, zu den 629 Moscheen, die in Damaskus zwischen dem 11. und 16. Jahrhundert zu Unterrichtszwecken genutzt wurden, kommen insgesamt 128 Madrasas der vier großen sunnitischen Rechtsschulen hinzu (wobei die Schafiiten mit 61 Lehranstalten die Mehrheit bildeten). Weiterhin werden insgesamt 26 Lehranstalten zum Studium des Korans und der Prophetentradition sowie 155 Konvente, Herbergen und Grabstätten, die auch als Ort der Lehre dienten, genannt. Interessanterweise gab es drei Madrasas, die ausdrücklich dem Studium der Medizin vorbehalten waren. Das bedeutet schließlich auch, dass es in dem besagten Zeitraum in Damaskus insgesamt 941 Lehranstalten bzw. Orte zur höheren religiös orientierten Bildung gab. Allerdings ist hierbei zu bedenken, dass diese Einrichtungen nicht alle gleichzeitig existierten bzw. fortwährend funktionstüchtig waren.48 Weiter westlich, in Jerusalem, ließ der legendäre Sultan Saladin (Ṣalāḥ ad-Dīn, r. 1171–1193 in Ägypten, ab 1174 auch in Syrien), der neben Niẓām al-Mulk der bekannteste Gründer von Madrasas ist, nach der Vertreibung der Kreuzfahrer im Jahre 1187 zahlreiche Madrasas erbauen.49 Für Mekka und den Hidschaz des 12. bis 15. Jahrhunderts nennen die Historiker Taqī ad-Dīn al-Fāsī und Naǧm ad-Dīn ibn Fahd (beide 15. Jahrhundert) 23 Madrasas, die sie z. T. auch beschreiben. Hervorzuheben ist hierbei, dass die Große Moschee in Mekka, al-Masǧid al-Ḥaram, die schon seit der islamischen Frühzeit sowohl als Gebetsort und als Ort des Unterrichts fungierte, aufgrund ihrer religiösen Vorzugsstellung als Vorbild und Impulsgeber für die Madrasa-Gründungen der Region gedient haben 48 Mit vollem Namen: Abū l-Mafātir Muḥyī ad-Dīn ʿAbd al-Qādir ibn Muḥammad ʿUmar alNuʿaimī aš-Šāfiʿī. Zu Leben und Schaffen dieses wichtigen, bislang immer noch unzureichend erforschten Autors siehe Brockelmann 1996, II, 165 (orig. II, 133) und II, 164; nun auch Ǧunndail 2013, 2–6. Das besagte Werk ist auch bekannt unter dem längeren Titel Tanbīh aṭ-ṭālib wa-l-iršād ad-dāris fī-mā fī Dimašq min al-ǧawāmiʿ wa-l-madāris („Belehrung für Studenten und Anleitung für Studierende zu den Moscheen und höheren Lehranstalten in Damaskus“). Siehe auch Sauvaire 1894–1896. 49 Brandenburg 1978, 23–54; Hillenbrand 1986, 136–154; Mahamid 2013, 602.610 f.
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dürfte.50 In Kairo etablierten interessanterweise die Mamluken (r. 1250–1517), eine aus Militärsklaven türkischer und kaukasischer Herkunft hervorgegangen Dynastie, wichtige Lehrstätten – wohl vor allem, um durch die Berufung von Gelehrten aus dem Ausland ein Gegengewicht zum lokalen Machtgefüge in den Bereichen der Bildung und Religion zu erzeugen.51 Für Syrien vor allem ist im 14. und 15. Jahrhundert ein signifikanter Niedergang der institutionellen Bildung zu verzeichnen. Dieser hatte einerseits mit den internen Rivalitäten der in Ägypten und Syrien herrschenden Dynastie der Mamluken zu tun. Doch noch viel tragischer wirkten sich die Invasionen der Mongolen in Syrien 1260 und 1299 und erneut 1400 aus, bei denen viele Moscheen und Madrasas geplündert und z. T. zerstört wurden. Zudem wurde durch die Verwüstung der Märkte und Kulturlandschaften dem Land die ökonomische Grundlage entzogen, was wiederum schwerwiegende negative Auswirkungen auf die an Stiftungen gebundene Finanzierung der institutionellen Bildung hatte. In Nordafrika und auf der Iberischen Halbinsel erfolgte die religiöse Bildung zunächst auch weiterhin vorrangig in Moscheen, Koranschulen und in den Privathäusern von Gelehrten. Erst mit Übernahme der Macht durch die Dynastie der strenggläubigen (sunnitischen) Almohaden (r. 1147–1269) fasste die Madrasa als Bildungseinrichtung auch im Maghreb und im islamischen Spanien Fuß. So wurde im 12. Jahrhundert u. a. neben der Großen Moschee von Salé in Marokko eine Madrasa errichtet und im 14. Jahrhundert im marokkanischen Fès eine große Madrasa auf der Nordseite der Qarawiyin-Moschee erbaut. Diese Madrasa in Fès zählt zu den schönsten Bauwerken ihrer Art im Maghreb. Heute ist sie als Madrasat al-ʿAṭṭārīn („Hochschule im [Stadtviertel der] Parfümhändler“) bzw. in der französischen Schreibweise als Medersa Attarine bekannt. Das sunnitische Erfolgsmodell der religiösen Hochschulen wurde auch von den Schiiten erkannt. Vor allem im 16. und bis zum 18. Jahrhundert entstanden in Iran zahlreiche Madrasas für Schiiten – nicht zuletzt, um nun dem zunehmenden sunnitischen Einfluss in dieser Region durch eine höhere Bildung mit schiitischer Ausrichtung entgegenzuwirken.52 Gleichzeitig setzten die Schiiten auf ihre möglicherweise schon ab dem 9. und 10. Jahrhundert etablierten und dann vor allem mit dem Namen des berühmten schiitischen Gelehrten Scheich aṭ-Ṭūsi (995–1067) verbundenen theologischen Seminare. Diese sind heute vor allem im irakischen Nadschaf und im iranischen Qom unter der Bezeichnung Hausa, d. h. heißt so viel wie „Schutzort [des religiösen Wissens]“ (ḥauza, ḥauza ʿilmīya) bekannt.53 50 Mortel
1997, 236 f.250–252. 1987, 98. Siehe zur Problematik auch Mauder 2012, 10.52.131 f.166 f. 52 Zur Architektur und Geschichte von Moscheen und Madrasbauten der frühen Qadscharen-Zeit in Iran (1785–1848), siehe den substantiellen Band von Ritter 2006. 53 Der Aufsatz von Heern 2017 untersucht die Frage der historischen Grundlagen für die schiitische Sicht, dass die Hausa in Nadschaf über eintausend Jahre alt sei, und ordnet dafür die Entwicklung der schiitischen theologischen Seminare in den generellen Kontext der Evolution islamischer Bildungsinstitutionen, einschließlich der Madrasas, ein. Moazzen 2017 schließt 51 Fernandes
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In Südasien sind Madrasas ab dem 13. Jahrhundert belegt. Die bekannteste islamische Hochschule Indiens in klassischer Tradition ist die im Jahre 1866 im Bundesstaat Uttar Pradesch gegründete Dar al-Ulum Deoband.
4. Schlussbemerkung Folgende Punkte seien zum Abschluss dieser Ausführungen genannt. Erstens, die Etablierung eines umfangreichen Netzwerkes von Madrasa-Hochschulen bewirkte zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert, d. h. in der Blütezeit dieser Institution der höheren Bildung, eine sichtbare Professionalisierung und Institutionalisierung der religiös orientierten islamischen Unterweisung. Diese betraf zunächst die östlichen Regionen der mittelalterlichen islamischen Welt, später aber auch den Maghreb und das islamische Spanien. Zweitens, die Madrasas ermöglichten eine höhere Ausbildung und Bildung nicht nur für gelehrte Eliten, sondern auch für sozial unterprivilegierte Schichten. Dies wurde möglich durch den relativ offenen Zugang zur Madrasa sowie durch die Vergabe von Stipendien an ärmere Studenten. Letztlich bewirkte diese Funktion der Hochschulen auch eine gewisse Egalisierung des generellen Bildungsniveaus im mittelalterlichen Islam. Sie erfüllten aber auch noch eine zusätzliche soziale Aufgabe, indem sie Armen und Reisenden für eine gewisse Zeit Unterkunft boten, selbst wenn diese keine Studenten waren. Drittens stärkten die Madrasas das wirtschaftliche Gefüge der Stadt oder Region, in der sich diese Einrichtungen befanden. Der ständige Zustrom von Fremden, die ihren Lebensunterhalt bestreiten mussten, eine Unterkunft benötigten, Bücher kauften und Bibliotheken benutzten, hatte eine deutlich stimulierende Wirkung auf die wirtschaftliche Situation der betreffenden Gegenden.54 Hinzu kam die Tatsache, dass die Madrasas auch prominente Gelehrte anzogen – ein Umstand, der wiederum seine eigene Dynamik und Magnetwirkung im Hinblick auf die Wirtschaft, die Kultur und die Reputation einer Region besaß. Und nicht zuletzt wurden wohltätige Stifter oft in der Nähe einer Madrasa beigesetzt, wodurch sich ihre Gräber zu Pilgerstätten mit den entsprechenden wirtschaftlichen und kulturellen Impulsen entwickeln konnten.55 Doch das Aufkommen und die weite Verbreitung der Madrasa hatten durchaus nicht nur positive Auswirkungen auf den Wissenschaftsbetrieb und die Bildung im Islam. Vor allem das streng religiös orientierte, restriktive Curriculum der Madrasa wirkte sich im Fortgang der Geistes‑ und Kulturgeschichte zunehmend nachteilig auf die thematische Ausgewogenheit und die Vielfalt der islamit ihrer wichtigen Monographie zur Geschichte der höheren schiitischen Bildung unter den Safawiden (1501–1722) eine Forschungslücke. 54 Siehe auch Leiser 1986, 22. 55 Pahlitzsch 2005, 80, stellt interessanterweise fest, dass die Integration von Stiftergräbern in Madrasas den Stiftergräbern lateinischer Stiftungen gleicht.
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mischen Gelehrsamkeit aus. Dieser Umstand führte teilweise zu intellektuellem Konservatismus und unter bestimmten Gelehrten auch zu einer generellen Ablehnung säkularer Bereiche des Lernens.56 Diese institutionell unterfütterten, curricularen Beschränkungen einerseits und ein zunehmender intellektueller Konservatismus bei bestimmten Gelehrten anderseits erwiesen sich letztlich nicht nur als wenig förderlich für die weitere Entfaltung der mittelalterlichen islamischen Gelehrsamkeit selbst, sondern auch als hemmend für die ökonomischen und kulturellen Entwicklungen in den islamisch geprägten Gesellschaften der Vormoderne. Tatsächlich wirken diese historischen Phänomene im Bereich der islamischen Bildung bis in die Moderne nach, auch wenn sich die arabischen und islamischen Länder heute mehrheitlich auf säkulare, internationalen Standards verpflichtete Hochschulen und Universitäten stützen.57 Doch auch diese kritische Seite in der facettenreichen Entwicklung der mittelalterlichen islamischen Bildungseinrichtungen – mit der Madrasa als der Institution zur höheren religiösen Bildung par excellence – relativiert nicht die zentrale Bedeutung, die diese Lehranstalten für die Geistes‑ und Kulturgeschichte des Islams insgesamt bis heute besitzen. Insofern mag eine Feststellung des großen Theologen und Mystikers al-Ġazālīs, die dieser in seinem Opus magnum, dem Ihyāʾ ʿulūm ad-dīn (Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften), prominent im Kapitel über den „Vorzug des Lehrens“ getroffen hat, unseren Beitrag zu Fragen von Bildung und Religion im Klassischen Islam beschließen. Al-Ġazālī schreibt:
بفضل: فيقول العلماء، ادخلوا اجلنّة:إذا كان يوم القيامة يقول اهلل سبحانه للعابدين واجملاهدين ّ ّ فيقول اهلل عز.علمنا تعبدوا وجاهدوا ، أنتم عندي كبعض مالئكيت؛ اشفعوا تشفعوا:وجل وهذا إنّما يكون بالعلم املتعدّي بالتعليم ال العلم الالزم الذي ال، مثّ يدخلون اجلنّة.فيشفعون 58.يتعدّى Am Tage der Auferstehung wird Gott zu den Frommen und den Glaubenskämpfern sagen: ‚Tretet ein ins Paradies‘. Daraufhin werden die Gelehrten sagen: ‚Aufgrund der Vorzugsstellung [des von uns vermittelten] Wissen haben sie ihre Frömmigkeit erlangt und sind für Gott eingetreten‘. Da wird Gott [zu den Gelehrten] sprechen: ‚Ihr seid für mich wie ein Teil meiner Engel. Legt Fürbitte ein und eure Fürbitte wird erhört werden‘. Sodann werden sie Fürbitte einlegen und [sie alle] ins Paradies eintreten. All dies ist nicht möglich durch Wissen (ʿilm), das man für sich behält und nicht weitergibt, sondern nur aufgrund von Wissen, das durch Lehre (taʿlīm) lebendig wird.59 56 Makdisi 1981, 153; Makdisi 1961, 14 f.; Fück 1999, 161–184; Berkey 1992, 44–94; Chamberlain 2002, 72–90.106 f. 57 Zur Madrasa in der Gegenwart siehe den Sammelband von Sukurai 2011. 58 Al-Ġazālī 2005, 17. 59 Die Frage des Wissens im Spannungsfeld von persönlichem Gebrauch und Öffentlichkeit war prinzipiell ein wichtiges Thema für mittelalterliche muslimische Gelehrte. Dies zeigt auch die berühmte Debatte zwischen dem christlichen Logiker, Philosophen und Übersetzer Abū Bishr Mattā Yūnus (870–940) und dem dialektischen Theologen, Rechtsgelehrten und
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Al-Azhar und Dār al-ʿilm Forschungs‑ und Lehranstalten der Fatimiden in Kairo* Heinz Halm Der Universität al-Azhar in Kairo wird oft eine tausendjährige Geschichte nachgerühmt. Ganz richtig ist das nicht, denn die eigentliche Gründung der Azhar als sunnitische Lehranstalt geht zurück auf eine Stiftung aus der Zeit des Mamlukensultans Baibars: Im Jahre 1266 ließ der Mamluken-Emir Aydamur al-Ḥillī, der in der Nachbarschaft der Ruine der Azhar wohnte, den verfallenen Baukomplex restaurieren, sodass darin wieder der Freitagsgottesdienst und die Freitagspredigt (ḫuṭba) im Namen Baibars’ gehalten werden konnten; damals wurden auch die ersten Lehrstühle für sunnitische Religionsgelehrte (ʿulamāʾ) gestiftet. Seitdem erst wird dort ununterbrochen gelehrt. Welche Rolle aber spielte die Azhar seit ihrer Gründung durch die schiitischismailitischen Fatimiden-Kalifen im Jahre 969? Meist wird behauptet, sie sei das intellektuelle Zentrum der religiösen Propaganda der Ismailiten gewesen: „During the whole of this epoch al-Azhar, by its teaching, played an important role in Fatimid propaganda, which explains why it suffered from the Sunni reaction of the Ayyubids“1 – so heißt es noch in Jomiers Artikel al-Azhar in der neuen Encyclopaedia of Islam. Das ist unzutreffend. Die „Sitzungen der Weisheit“ (maǧālis al-ḥikma), die Lehrsitzungen, in denen die Eingeweihten in der esoterischen Lehre der Ismailiten unterwiesen wurden, fanden nicht in der Azhar, sondern in einem Saal des Palastes statt, wie al-Musabbiḥī, der Hofchronist der Kalifen al-Ḥākim und al-Ẓāhir, ausführlich schildert.2 Nach diesem Bericht fanden nur die Lehrsitzungen für die nicht zum Palast gehörenden Frauen in der Azhar statt, doch war auch das offenbar nur eine vorübergehende Regelung, * Überarbeitete Fassung des Aufsatzes „Al-Azhar, Dar al-‘Ilm, al-Rasad. Forschungs‑ und Lehranstalten der Fatimiden in Kairo“: Egypt and Syria in the Fatimid, Ayyubid and Mamluk Eras. Proceedings of the 1st, 2nd and 3rd International Colloquium organized at the Katholieke Universiteit Leuven in May 1992, 1993 and 1994 (hg. von Urbain Vermeulen / D. De Smet; Orientalia Lovaniensia Analecta 73; Leuven: Peeters Publishers, 1995) 99–109. 1 Jomier 1960, 814 b. 2 Zit. von Maqrīzī, Ḫiṭaṭ (Druck Būlāq 1853/54) I, 391, Z. 19–29.
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denn nach dem Bericht des spätfatimidischen Autors Ibn al-Ṭuwair (1130–1229) wurden die Lehrsitzungen für die Männer im Großen Saal (īwān) des Schlosses, die für die Frauen im Saal des Obersten Missionars (maǧlis al-dāʿī) – ebenfalls im Schloss – abgehalten.3 Die Azhar war seit ihrer Gründung durch den General Ǧauhar im Jahr 969 nichts anderes als die Palastmoschee des fatimidischen Hofes; hier wurden Gebet, Predigt und Freitagsversammlung nach ismailitischem Ritual und Formular gehalten, aber eine Lehrstätte der ismailitischen Geheimlehre (ḥikma) war sie nicht. Dennoch hat der Gebetssaal der Azhar auch in fatimidischer Zeit einmal als Unterrichtsraum gedient. Im Jahre 988–989 machte der Wesir Yaʿqūb ibn Killis dem Kalifen al-ʿAzīz den Vorschlag, einigen Rechtsgelehrten (fuqahāʾ) ein Gehalt (rizq) auszusetzen. Der Kalif war einverstanden und befahl, ein an die Palastmoschee angrenzendes Anwesen zu kaufen und zu einem Wohnhaus für die Gelehrten auszubauen. Jeden Freitagnachmittag zwischen dem Hauptgebet (ẓuhr) und dem Nachmittagsgebet (ʿaṣr) „bildeten sie in der Moschee Kreise (taḥallaqū)“, d. h. sie scharten, auf dem Boden sitzend, Zirkel von Zuhörern um sich. Für 35 Personen wurde ein Gehalt ausgesetzt; auch der Wesir steuerte einen jährlichen Geldbetrag zu ihrem Unterhalt aus seinem privaten Säckel bei; am Tage des Fastenbrechens (nach dem Ende des Ramaḍān) erhielten die Gelehrten Ehrengewänder und durften auf Maultieren durch die Stadt reiten.4 Der Zeitpunkt der Lehrveranstaltungen – freitags zwischen Mittags‑ und Nachmittagsgebet – war traditionell: als die Fatimiden noch in al-Manṣūriyya bei Kairuan im heutigen Tunesien residierten, hatte der Begründer der ismailitischen Jurisprudenz, der Qāḍī al-Nuʿmān, zu eben diesem Termin regelmäßig juristische Vorlesungen in der Freitagsmoschee gehalten. Auch damals schon waren die esoterischen Lehrsitzungen, die maǧālis al-ḥikma, davon getrennt, am Donnerstag, in einem Saal des Palastes abgehalten worden.5 Bei der Einrichtung des Lehrbetriebs in der Azhar im Jahre 988–989 ist nur von Juristen (fuqahāʾ) die Rede; wir dürfen annehmen, dass sie die ismailitische Rechtstradition (maḏhab) auf der Grundlage jenes juristischen Kompendiums lehrten, das Ibn Killis selbst verfasst und bereits im Jahre 980 der Öffentlichkeit bekannt gemacht hatte.6 Namen werden nicht genannt. Die Lehrer erhalten ein Gehalt (rizq) und die üblichen Ehrengeschenke; von einer Stiftung (waqf), der Voraussetzung für eine dauerhafte Institution, ist noch nicht die Rede. Die Einrichtung scheint denn auch bald wieder verschwunden zu sein; die große Stiftung des nachfolgenden Kalifen al-Ḥākim zugunsten der Azhar aus dem Jahr 3 Zit. von Maqrīzī, op.cit. I, 391, Z. 9 f. = Ibn al-Ṭuwair, Nuzhat al-Muqlatain (ed. A. Fuʾād Sayyid; Beirut: Steiner, 1992) 111, Z. 4 f. 4 Maqrīzī, Ḫiṭaṭ II, 273, Z. 27 ff., wahrscheinlich nach Ibn Zūlāq. 5 Halm 1991, 330.332 f. 6 Yaḥyā al-Anṭākī, ed. / trad. Kratchkovsky / Vasiliev (Patrologia Orientalis 23), 434; Ibn Ḫallikān, Wāfī, ed. I. ʿAbbās, VII, 30.
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1010 (deren Urkunde uns im Wortlaut überliefert ist)7 listet zwar das Personal und die Ausstattung auf, erwähnt aber keinerlei Lehrbetrieb. Das hatte seinen guten Grund, denn genau fünf Jahre vorher, am 10. Ǧumādā II 395 (24. März 1005), hatte derselbe al-Ḥākim ein besonderes Lehrinstitut gegründet und mit einer umfangreichen Stiftung ausgestattet: das „Haus der Wissenschaft“ bzw. „der Weisheit“, die dār al-ʿilm oder dār al-ḥikma (beide Namensformen werden nebeneinander verwendet). An diesem Samstag […] wurde das sog. Haus der Wissenschaft in Kairo eröffnet. Die Rechtsgelehrten nahmen darin Wohnung und die Bücher aus den Bibliotheken der Paläste wurden dorthin verbracht. Die Leute konnten es besuchen, und jeder, der etwas, was ihn interessierte, kopieren wollte, konnte das tun; desgleichen jeder, der etwas von dem dort Aufbewahrten lesen wollte. Nachdem das Gebäude möbliert und dekoriert und nachdem an allen Türen und Durchgängen Vorhänge angebracht worden waren, hielten Koranleser, Astronomen, Grammatiker und Philologen sowie Ärzte darin Vorlesungen ab; Wärter, Diener, Hausknechte u. a. wurden angestellt, um dort Dienst zu tun. In dieses Haus brachte man alle die Bücher, die der Befehlshaber der Gläubigen al-Ḥākim […] dorthin zu bringen befahl, und zwar von allen Gebieten der Wissenschaft und Bildung die entsprechenden Handschriften, in einem Umfang, wie er noch nie für einen Fürsten zusammengebracht worden war. Er gestattete den Zugang zu alledem den Leuten aller Schichten, ob sie nun Bücher lesen oder einsehen wollten. Eine jener schon erwähnten Wohltaten, derengleichen man noch nie gehört hatte, war auch, dass er reichliche Gehälter (rizq) all denen gewährte, die er dorthin berief und dort Dienst tun ließ – Juristen und andere. Leute aus allen Schichten besuchten das Haus; manche kamen, um Bücher zu lesen, manche, um zu kopieren, wieder andere, um zu studieren. Er stiftete auch, was die Leute brauchten: Tinte, Schreibrohre und Papier sowie Tintenfässer. Es handelte sich aber um das Haus des Slawen Muḫtār.8
Unsere Quelle – bzw. die von al-Maqrīzī – ist al-Ḥākims Zeitgenosse und Chronist al-Musabbiḥī. Die Lage des Hauses ist bekannt: Es stieß nördlich an den Westlichen („Kleinen“) Palast und war von der Gasse der Strohhändler (Darb al-tabbānīn) her zugänglich; wie sein Nachfolgebau, die dār al-Ḥaḍīrī, lag es gegenüber der noch heute erhaltenen kleinen Aqmar-Moschee. Der ehemalige Besitzer des Hauses, Muḫtār al-Ṣaqlabī, ist uns ebenfalls bekannt: er war Kastellan (ṣāḥib al-qaṣr) des Kalifen al-ʿAzīz gewesen.9 Welche Disziplinen in der dār al-ʿilm gelehrt wurden, geht aus dem zitierten Text – dem einzigen zeitgenössischen, den wir haben – hinlänglich hervor.10 Wir können den Lehrbetrieb dieser ersten – und bis in die Neuzeit einzigen – 7 Ḫiṭaṭ
II, 273, Z. 36 ff. in Maqrīzī, Ḫiṭaṭ I, 458 f.; vgl. ders., Ittiʿāẓ al-ḥunafāʾ II, 56; Yaḥyā al-Anṭākī, ed. / trad. Kratchkovsky / Vasiliev, 469 f.; edd. Cheikho u. a., 188, Z. 4–7; Ibn Saʿīd al-Maġribī, al-Muġrib I / 2, ed. Ḥ. Naṣṣār, 60. 9 Hrbek 1953, 573 f. 10 Dass es sich bei der dār al-ʿilm um eine rein sunnitische madrasa gehandelt habe, wie Bianquis 1975, 39 ff. in einem Vortrag auf dem 29. Internationalen Orientalistenkongress in Paris annahm, hat schon van Ess 1977, 33 f. (bes. Anm. 180), zu Recht bestritten. 8 Musabbiḥī
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islamischen Universität anhand der erhaltenen Zitate aus der Chronik des Musabbiḥī über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgen. So wurden im Ḏū l-Ḥiǧǧa 399 (August 1009) zwei Gelehrte des Instituts, der Philologe Abū Usāma Ǧunāda ibn Muḥammad al-Harawī (al-Luġawī?) und der Grammatiker Abū ʿAlī al-Ḥasan ibn Sulaimān al-Anṭākī, hingerichtet; ein dritter, der Traditionsgelehrte (muḥaddiṯ) ʿAbd al-Ġanī ibn Saʿīd al-Azdī, vermutlich der Lehrer unseres Chronisten al-Musabbiḥī, konnte entkommen.11 Dass diese Strafmaßnahmen aus der Enttäuschung des Kalifen über die Sunniten resultierten und „mit der Schließung der Akademie“ verbunden waren,12 ist unzutreffend; die Akademie erfreute sich auch später noch der Gunst al-Ḥākims und ist erst 1122 geschlossen worden. In Wahrheit wissen wir über die Ursache für die Hinrichtungen nichts. Unter dem Jahr 403/1012–13 berichtet al-Musabbiḥī:13 „Aus dem Haus der Wissenschaft wurden einige Mathematiker, Logiker und Rechtsgelehrte, darunter auch ʿAbd al-Ġanī ibn Saʿīd [ebender, der drei Jahre zuvor entkommen war!] sowie einige Ärzte vor al-Ḥākim gerufen; die Vertreter jeder Disziplin erschienen getrennt, um vor ihm zu disputieren; dann zeichnete er sie alle durch Ehrengewänder aus und beschenkte sie.“ Al-Ḥākims Wesir ʿAlī ibn Ǧaʿfar ibn Falāḥ al-Kutāmī, der von 1015 bis 1018 amtierte, lud durch ein Schreiben an den Emir von Aleppo, Abū Šuǧāʿ Fātik, den Dichter Abū l-ʿAlāʾ al-Maʿarrī ein, nach Kairo zu kommen und einen Posten an der dār al-ʿilm zu übernehmen, doch der lehnte höflich ab.14 Die Entlohnung der Professoren erfolgte zunächst, wie wir hörten, durch Gehälter (rizq), die der dīwān bezahlte; so war es ja auch schon unter al-ʿAzīz und dem Wesir Ibn Killis gehalten worden. Erst im Ramaḍān 400 (April / Mai 1010) gab der Kalif der Akademie eine ganz neue ökonomische Basis, indem er sie in seine große Stiftung einbezog, mit der er damals die drei fatimidischen Hauptmoscheen – die Azhar in Kairo und die Moscheen in Rāšida und al-Maqs nahe Kairo – ausstattete. Die Stiftungsurkunde ist uns von al-Maqrīzī – wohl nach alMusabbiḥī – in zwei Bruchstücken im Wortlaut überliefert.15 Gestiftet wurden aus dem Privatvermögen (amlāk) des Kalifen mehrere Immobilien und Betriebe in al-Fusṭāṭ, aus deren Einkünften die Mittel für die Erhaltung der Azhar, der Moschee in Rāšida und des „Hauses der Weisheit“ (hier dār al-ḥikma genannt) fließen sollten (die Moschee von al-Maqs sollte andere Einkünfte erhalten). Diese Immobilien waren die Alte Münze (dār al-ḍarb) in al-Fusṭāṭ, die Halle für kostbare Wollstoffe (qaisāriyyat al-ṣūf) im Sūq und ein weiteres, dār al-ḫiraq 11 Maqrīzī, Ittiʿāẓ II, 80; Yaḥyā, 470; Bianquis 1975, 43 und 47; van Ess 1977, 32 Anm. 169; 34 Anm. 179. 12 Bianquis 1975, 43 f.; van Ess 1977, 34 Anm. 180. 13 In Ḫiṭaṭ I, 459, Z. 4 ff. 14 Smoor 1985, 96 f. 15 Ḫiṭaṭ II, 273, Z. 36–275, Z. 6 (Azhar); I, 459, Z. 8–14 (Dār al-ʿilm).
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al-ǧadīda genanntes Gebäude.16 Der die Azhar betreffende Teil der Urkunde enthält – wie schon erwähnt – keinerlei Hinweis mehr auf einen dortigen Lehrbetrieb; alle Lehre war also wohl nun an der dār al-ʿilm oder dār al-ḥikma konzentriert. Die Einkünfte aus den genannten Betrieben sollten zunächst zur Instandhaltung der Gebäude verwendet werden, um die Stiftung in ihrem Bestand zu sichern; der Überschuss war dann in 60 Teile zu teilen; davon sollten der dār al-ḥikma „ein Zehntel und ein Achtel von einem Zehntel“ zukommen – insgesamt 257 Golddinar jährlich, „davon für den Kauf von ʿabdānī-Matten und anderem für das Haus 10 Dinar; für Papier für den Schreiber, d. h. den Kopisten, 90 Dinar [das ist der größte Einzelposten]; für den Bibliothekar 48 Dinar, für den Kauf von Wasser 12, für den Hausdiener (farrāš) 15 Dinar, für Papier, Tinte und Schreibrohre für die dort studierenden Gelehrten 12, für die Reparatur der Vorhänge 1 Dinar, für die Reparatur etwaig zerrissener Bücher oder herausgefallener Blätter 12, für den Kauf von Filz für Decken im Winter 5, für den Kauf von Teppichen im Winter 4 Dinar […].“ Hier bricht die Urkunde ab; die Summe ergibt nur 209 Dinar, so dass wir nicht wissen, wofür die restlichen 48 Dinar bestimmt waren. Von den Gelehrten, die in der dār al-ḥikma wirkten, kennen wir kaum mehr als die wenigen schon genannten Namen. Die bedeutendste wissenschaftliche Leistung, die das Institut hervorbrachte, war wohl die astronomische Tabelle, der nach dem Kalifen benannte zīǧ al-Ḥākimī des Abū l-Ḥasan ʿAlī ibn ʿAbd alRaḥmān ibn Aḥmad ibn ʿAbd al-Aʿlā ibn Yūnus al-Šāmī al-Miṣrī al-Ḥākimī.17 Diese Vergleichstabelle astronomischer Daten ersetzte die ältere des Bagdader Kalifen al-Maʾmūn und blieb jahrhundertelang das Standardwerk der arabischen Astronomen. Die Tabelle wurde anscheinend ohne Observatorium erarbeitet, denn das fatimidische Observatorium auf dem Muqaṭṭam-Gebirge östlich von Kairo, das al-Ḥākims Ober-Qāḍī Mālik ibn Saʿīd im Monat Ǧumādā I 403 (November / Dezember 1012) beginnen ließ,18 wurde nicht vollendet und blieb fast ein Jahrhundert ungenutzt. Nach dem Tode al-Ḥākims ist die dār al-ḥikma nicht mehr besonders hervorgetreten; sie scheint unter seinen Nachfolgern al-Ẓāhir und al-Mustanṣir keine bedeutende Rolle mehr gespielt zu haben. Anscheinend wurde sie in den allgemeinen Niedergang mit hineingezogen, den der fatimidische Staat in der Mitte des 11. Jahrhunderts erfuhr und der schließlich im Jahre 1067/68 zum gänzlichen Zusammenbruch der Herrschaft, zum finanziellen Bankrott des Fiskus und zu völliger Anarchie in Ägypten führte. Als in den Monaten Muḥarram und Ṣafar 461 (November bis Dezember 1068) marodierende Soldaten und sich 16 Ḫiṭaṭ
II, 274, Z. 8 f. ʿImād al-Dīn, ʿUyūn al-aḫbār, ed. by M. Ġālib, Bd. VI, Beirut 1984, 295. 18 Maqrīzī, Ittiʿāẓ II, 95, Z. 8; ebd., 117. 17 Idrīs
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absetzende Beamte die Schatzkammern und die Paläste des Fatimidenkalifen plünderten, wurde auch die dār al-ʿilm nicht verschont.19 Aus der Bibliothek [des Palastes] wurden 18 000 Bände über die antiken Wissenschaften verschleppt sowie 2 400 mit Gold und Silber verzierte Koranhandschriften mit Herkunftsangabe (mansūba); all das schleppten die Türken fort […] Im Monat Muḥarram zogen an einem einzigen Tag 25 mit Büchern beladene Kamele von dort zum Haus des Wesirs Abū l-Faraǧ Muḥammad ibn Ǧaʿfar ibn al-Muʿizz, und dieser sowie [der ehemalige Wesir] al-Ḫaṭīr ibn al-Muwaffaq teilten sich diese [Bücher] in ihren beiden Häusern [als Entschädigung] für Dienstleistungen, für die der dīwān al-Ḥalabiyyīn ihnen und ihren Bediensteten (ġilmān) noch etwas schuldete; der Anteil des Wesirs Abū l-Faraǧ wurde auf 5000 Dinar veranschlagt, war aber [in Wirklichkeit] mehr als 100 000 Dinar wert […].
Als der Wesir im folgenden Monat Ṣafar aus Ägypten floh, wurde sein Haus geplündert, und alle diese Bücher wurden in alle Winde zerstreut. Auch die Bibliothek der dār al-ʿilm in Kairo wurde ausgeräumt. Viele der Bücher gelangten an ʿImād al-Daula Abū l-Faḍl ibn al-Muḥtariq20 in Alexandria; dann, nach dessen Ermordung, wurden viele davon in den Maghreb verbracht. Die Luwāta[‑Berber] nahmen sie mit, die durch Kauf oder Raub unzählige unbeschreiblich schöne Bücher an sich brachten; deren Sklaven und Mägde machten aus ihren Einbänden Sandalen für ihre Füße. Die Blätter verbrannten sie in der Annahme, [die Bücher] stammten aus dem Palast und enthielten die Lehren der Orientalen [mašāriqa, d. h. der Ismailiten], die im Gegensatz zu ihren Glaubensüberzeugungen stünden; ihre Asche bildete große Haufen (tilāl) in der Provinz Ibyār21, die ‚die Bücher-Hügel‘ (tilāl al-kutub) heißen. Viele Bücher gingen [im Fluss] unter oder wurden [anderweitig] vernichtet; unvorstellbar viele gelangten in die Metropolen [der anderen Länder].
Die dār al-ʿilm war damit ruiniert. Erst nachdem der armenische Offizier Badr al-Ǧamālī im Jahre 1074 die fatimidische Herrschaft wieder stabilisiert und eine Art Militärdiktatur errichtet hatte, hören wir wieder etwas von der dār al-ʿilm: im Jahre 1077 wurde der ismailitisache Missionar und bekannte Autor al-Muʾayyad fī l-Dīn al-Šīrāzī dort begraben – vielleicht nachdem das Gebäude ihm in seinen letzten Lebensjahren als Wohnung oder Lehranstalt gedient hatte.22 Während der Regierung von Badr al-Ǧamālīs Sohn al-Afḍal, der 1094 auf seinen Vater gefolgt war, nistete sich im Jahr 111923 in der dār al-ʿilm eine Schar von Sektierern ein, über die uns der zeitgenössische Chronist Ibn al-Maʾmūn al-Baṭāʾiḥī ausführlich berichtet.24 An ihrer Spitze stand ein gewisser Ḥamīd b. Makkī aus dem mittelägyptischen Aṭfīḥ, von Beruf Walker (qaṣṣār), ein zwergfolgende nach Maqrīzī, Ittiʿāẓ II, 294 f. Ittiʿāẓ II, 283, Z. 4. 21 Im Delta, östlich des Nilarms von Rosette / Rašīd; Halm 1982, 339 ff., und Karte Nr. 33. 22 Maqrīzī, Ḫiṭaṭ I, 460, Z. 26 f., nach Ibn ʿAbd al-Ẓāhir. 23 Datum in Ḫiṭaṭ I, 460, Z. 16 f. 24 Zit. in Maqrīzī, Ḫiṭaṭ I, 459, Z. 14 ff. = Ibn al-Maʾmūn, Passages de la Chronique d’Égypte d’Ibn al-Maʾmūn (ed. A. Fuʾād Sayyid; Kairo: Institut Français d’Archéologie Orientale, 1983) 44–46. 19 Das
20 Vgl.
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wüchsiger Wundertäter und Thaumaturg, der eine Anhängerschaft von kleinen Leuten, zumeist Bediensteten aus dem Palast und Handwerkern aus dem Sūq, um sich scharte. Über die Irrlehren dieser Ketzer, die sich selbst „die Einzigartigen“ (al-Badīʿiyya) nannten, werden nur vage Angaben gemacht; dem berüchtigten Erzketzer Ḥallāǧ gleich soll Ḥamīd sich selbst göttlichen Rang angemaßt haben. Die religiösen Verirrungen dieser Häretiker brauchen uns indes hier nicht zu interessieren; wichtig ist in unserem Zusammenhang nur, dass der Diktator alAfḍal den dubiosen Zirkel ausheben und das Haus schließen ließ. Eine andere Quelle, Ibn ʿAbd al-Ẓāhir, nennt als Gründe für die Schließung des Hauses, „dass sich dort Leute versammelten und sich in [alle möglichen] religiösen Lehren vertieften, und dass man fürchtete, dort könnten Zusammenkünfte im Sinne der nizāritischen Lehre stattfinden.“25 Im Jahre 1121 ließ der Fatimidenkalif al-Āmir den allmächtigen Minister alAfḍal durch Meuchelmord beseitigen und nahm die Regierungsgeschäfte wieder selbst in die Hand. Alsbald trieb der Zwerg Ḥamīd al-Qaṣṣār al-Aṭfīḥī mit seinen Gesellen wieder sein Unwesen im Gebäude der ehemaligen dār al-ʿilm. Einer der führenden ismailitischen Geistlichen, der Missionar Ibn ʿAbd al-Ḥaqīq, führte darüber Klage bei dem Wesir al-Baṭāʾiḥī (dem Vater unseres Gewährsmannes), und der ließ nun die ganze Gesellschaft verhaften und zum Widerruf auffordern; wer sich weigerte, wurde hingerichtet. Dies war im Ḏū l-Ḥiǧǧa 516 (Februar 1123). Damit stand das Gebäude abermals leer. Da „befahl der Kalif al-Āmir […] seinem Wesir al-Maʾmūn al-Baṭāʾiḥī, die dār al-ʿilm wieder in Beschlag zu nehmen und sie entsprechend den gesetzlichen Verfügungen zu öffnen.“26 Mit den „gesetzlichen Verfügungen“ (al-audāʿ al-šarʿiyya) kann nur die Stiftung al-Ḥākims gemeint sein, die ja für alle Ewigkeit verfügt worden war und nun wiederhergestellt wird. Nach dem Bericht des Chronisten Ibn ʿAbd al-Ẓāhir27 erkundigt sich der Kalif, wo denn die neue dār al-ʿilm untergebracht werden solle; als ihm seine Berater das alte Gebäude vorschlagen, wendet der Wesir al-Baṭāʾiḥī ein, dieses Haus an der Nordseite des Kleinen Palastes diene inzwischen als Zugang zum Palast, und das dortige Kommen und Gehen werde den Lehrbetrieb beeinträchtigen. Da der Kalif das Institut auf keinen Fall innerhalb des Palastbezirkes im engeren Sinn haben will, schlägt schließlich der Kastellan ein weiträumiges Gebäude in der Nachbarschaft des östlichen Palastes (nahe dem späteren Ḫān al-Ḫalīlī) vor; dort wird dann die neue dār al-ʿilm untergebracht.28 Der Wesir macht zur Bedingung, „dass ihr Leiter ein frommer Mann sein und dass der Oberste Missionar die Aufsicht darüber haben müsse“; offenbar fürchtete man, die heterodoxen Umtriebe 25 Zit.
von Maqrīzī, Ḫiṭaṭ I, 460, Z. 27 f. Die Nizāriten waren ismailitische Schismatiker. Ḫiṭaṭ I, 459, Z. 35 ff. (= Ibn al-Maʾmūn, Passages, 45). 27 Zit. in Ḫiṭaṭ I, 460, Z. 25 ff.; ebd., 445, Z. 29–37. 28 Zur Lage s. Maqrīzī, Ḫiṭaṭ I, 445, Z. 29–37. 26 Maqrīzī,
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könnten wieder aufleben. Ein gewisser Abū Muḥammad Ḥasan ibn Ādam wird als Leiter berufen; ihm werden mehrere Koranleser (muqriʾūn) unterstellt. Im Monat Rabīʿ I des Jahres 517 (Mai 1123) wird die Neue Akademie (dār al-ʿilm al-ǧadīda) eröffnet, und sie bleibt nun bis zum Ende der fatimidischen Dynastie im Jahre 1171 – also 48 Jahre lang – in Betrieb. Außer diesem kurzen Bericht des Ibn ʿAbd al-Ẓāhir haben wir kaum Informationen überdiese neue dār al-ʿilm. Sie ist anscheinend nicht viel mehr gewesen als ein dār al-qirāʾa, ein Haus der Koranwissenschaft, denn außer den Koranlesern werden keine anderen Wissenschaftler erwähnt oder gar namhaft gemacht. Nur Ibn al-Ṭuwair erwähnt beiläufig, die dem Obersten Missionar unterstellten ismailitischen Gelehrten hätten ein Lokal namens dār al-ʿilm gehabt (wa-lahum makān yuqālu lahū dār al-ʿilm).29 Als der sunnitische Sultan Saladin im Jahre 1171 den letzten fatimidischen Kalifen entthronte, nahm er mit den Palästen auch die Bibliotheken der Fatimiden in Besitz. Nach gut verbürgtem Bericht schenkte er seinem Berater, dem gelehrten Juristen al-Qāḍī al-Fāḍil, die 120 000 Bände, die seit der Plünderung des Jahres 1068 – 103 Jahre zuvor – wieder zusammengetragen worden waren.
Zitierte Literatur Bianquis, Thierry, ʿAbd al-Ġanī ibn Saʿīd, un savant sunnite au service des Fatimides: Actes du XXIXe Congrès International des Orientalistes, Paris, juillet 1973, vol. 1: Études Arabes et Islamiques. I – histoire et civilisation (section organisée par Claude Cahen; Paris: L’Asiathèque, 1975) 39–47. Halm, Heinz, Ägypten nach den mamlukischen Lehensregistern, Bd. II: Das Delta (BTAVO.B 38/2; Wiesbaden: Reichert, 1982). –, Das Reich des Mahdi (München: C. H. Beck, 1991). Hrbek, Ivan, Die Slawen im Dienste der Fatimiden: Archiv Orientální 21 (1953) 543–581. Jomier, Jacques, al-Azhar: Encyclopaedia of Islam 1 (21960) 813 b–821 b. Smoor, Pieter, Kings and Bedouins in the Palace of Aleppo as Reflected in Maʿarrī’s Works (JSSt 8; Manchester: University of Manchester, 1985). van Ess, Josef, Chiliastische Erwartungen und die Versuchung der Göttlichkeit. Der Kalif al-Ḥākim (386–411 H.) (AHAW 1977/2; Heidelberg: Winter, 1977).
29 Zit.
in Ḫiṭaṭ I, 391, Z. 6 f. (= Nuzhat al-Muqlatain, 110, Z. 6).
Ist religiöse Bildung institutionalisierbar? Beobachtungen zu klösterlichen Befunden des Mittelalters Gert Melville Wie keine andere Epoche in der Geschichte Europas brachte das Mittelalter eine Kultur hervor, die ihre Immanenz derart fundamental auf das Göttliche transzendierte, dass prinzipiell alle Lebensbereiche davon betroffen waren. Aus dem Begreifen der Transzendenz des Göttlichen suchte man das Immanente der Welt zu deuten, zu gestalten und letztlich sogar zu überwinden. Dies führte zu bemerkenswerten Dichotomien, deren fundamentalste wohl die des Sündenfalls und der Erlösung oder die der civitas terrena und der civitas Dei waren, aus welchen sich wiederum Binarismen wie das Profane und das Geistliche, Babylon und Jerusalem, Sünder und Heiliger, ja in gewisser Weise auch Körper und Seele extrapolierten und somit das Weltliche dieser Welt immer als begründungsbedürftig erscheinen ließ. Die Welt wurde als etwas Transitorisches angesehen, das es zu passieren galt im paulinisch-augustinischen Sinne eines Weges vom irdischen Exil zu Gott (via ad Deum). Der Franziskanertheologe Bonaventura hat dies in seinem Werk Itinerarium mentis ad Deum unter dem Gedanken einer Aszendenz der Seele mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht: „Das höchste Gut ist ‚über‘ uns, und so kann keiner selig werden, solange er nicht über sein eigenes Selbst hinaus emporsteigt, nicht körperlich, sondern mit seiner Seele.“1
Einen solch aufsteigenden Weg zu beschreiten, bedurfte nach Auffassung des Mittelalters eines willentlichen Aktes, denn so stark auch ein Deus creans, gubernans et disponens über das Weltliche verfügte, dem Menschen zeigte sich das Göttliche selbst grundsätzlich als unverfügbar. Ein willentlich gesuchter Aufstieg der Seele konnte also als Mittel verstanden werden, sich die göttliche Transzendenz durch Übersteigung des Immanenten zu erschließen. Damit aber ist die Substanz des Religiösen angesprochen: nämlich das Bestreben, sich den unverfügbaren, numinosen Gott durch Kommunikation verfügbar zu machen. Wenn auch die kulturellen Praktiken einer solchen Kommunikation sehr stark divergierten,2 wusste man Religion in diesem Sinne immer als etwas 1 Vgl. 2 Vgl.
Melville 2010; zum Zitat siehe 393 f. Gemeinhardt 2017, 169 f.
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Tentatives und nur begrenzt Erfolgreiches zu verstehen, das man – zumal allein auf sich gestellt – kaum zu bewältigen vermochte. In der christlichen Religion des Mittelalters war es die Urgemeinde von Jerusalem, die man als ein institutionelles Modell zur Abhilfe dieser Schwäche verstand, weil sich dort – wie überliefert – alle Mitglieder alles geteilt hatten und so zu einer charismatischen Einheit verschmolzen waren, in der sie den Geist Gottes anwesend glaubten.3 Aus dieser Urgemeinde sah man die Kirche sich verfestigen, die man ebenso als Braut Christi, als mystischer Leib Christi oder vor allem als „Gemeinschaft der Heiligen“ wie aber auch als Anstalt – als universitas – der Heilsvermittlung bezeichnen konnte.4 Beides kann man nicht voneinander trennen. Religion institutionalisierte sich sowohl als spirituelles System als auch als rechtliche Organisation. Genauer gesagt, bedeutete dies Folgendes: Die kirchliche Gemeinschaft, der man durch den Eingangsritus der als ein göttlicher Gnadenakt verstandenen Taufe beitrat, wurde als Teilhabegemeinschaft an der Eucharistie und anderen Heilsgütern gesehen (von denen man auch ausgeschlossen werden konnte) und von daher als „Gemeinschaft der Heiligen“ (communio sanctorum)5 postuliert, welche sich zudem in einer pilgernden Kirche der Gläubigen und letztendlich in einer triumphierenden der Märtyrer, der Bekenner und der Gerechten heilsgeschichtlich konfigurierte – herrlich dargestellt von Andrea de Bonaiuto in Santa Maria Novella.6 Diese fundierende Sakramentalität ließ sich jedoch von einer sich im Irdischen befindlichen Kirche auf eine im Jenseits verankerte (im Bild des Himmlischen Jerusalems anagogisch fassbare) Kirche transzendieren und verlieh der Institution damit eine spirituelle Geltung als „Himmelreich auf Erden“7. Gleichzeitig formte sich diese Kirche als eine Organisation mit genau definierten Ämtern in festgelegten Hierarchien aus, schuf sich rechtlich fixierte Normen und normstiftende Gewohnheiten, entfaltete judikative und administrative Verfahren, kreierte Standards der Kommunikation und entwickelte Rituale sowie kultische Riten, um spirituelle und profane Abläufe kanalisieren zu können – und stellte letztlich den Anspruch auf das Monopol der Heilsvergabe. Extra ecclesiam
3 Vgl.
Miccoli 1960. im Überblick noch immer Congar 1971. 5 Siehe Kruse 1993. 6 Siehe Russo 2011. 7 So von Moos 2001, 301–303, unter Verweis auf Angenendt 1997, 310, der allerdings von einem „bereits gegenwärtigen Himmelreich“ spricht. Man hat die Formulierungen von Moos’ 2001 genau zu lesen, um sie nicht zu missverstehen. Er sagt zwar: „Das Himmelreich […] kann man schwerlich als Institution verstehen“, aber es geht ihm spezifisch um das „Himmelreich auf Erden“ als eine spirituelle Form der irdischen Kirche, die – weil sie sich eben schon auf Erden ausgestaltet – gar nicht ohne institutionelle Elemente wie zum Beispiel Symbole des Glaubens auskommen kann. Institutionalität sollte nicht mit dem Vorhandensein von Organisation verwechselt werden und hier nur der „Anstalt“ Kirche zugesprochen werden; vgl. Rehberg 1994; siehe noch hier unten. 4 Vgl.
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salus non est (Cyprian von Carthago8), lautete der steinerne Satz von höchster religiöser, aber auch kirchenpolitischer Kraft. Beide so unterschiedlich erscheinenden Ebenen – Himmelreich auf Erden und Anstalt – waren notwendig, wollte Kirche eine institutionalisierte Form der Religion sein – so wie wir diese definierten, nämlich als Versuch, das Göttliche verfügbar zu machen. Institutionalisierungen sind auf den Erhalt von Dauer hin angelegt.9 Dabei fußen sie zum einen auf Instrumentarien und praktischen Konzepten, die einen „methodischen Betrieb“ – wie Max Weber das nannte10 – zur Bewältigung des Alltags ermöglichen und dabei vor allem die Wiederholbarkeit des Tuns sicherstellen, zum anderen aber auch auf Leitideen und Werteordnungen, die dem „methodischen Betrieb“ Sinn und Legitimation verleihen. Wie der Dresdner Sonderforschungsbereich 537 (1996–2008) im Besonderen herausarbeitete, stützen beide Ebenen des Institutionellen sich gegenseitig und bringen dies auch symbolisch zum Ausdruck.11 Letzteres zeigt sich bei der Institution Kirche wohl am eindrücklichsten an der Symbolik der zwei Schlüssel im päpstlichen Wappen, die die Löse‑ und Bindegewalt auf Erden und im Himmel vor Augen führen sollen.12 Nur weil beide – das Himmelreich auf Erden wie auch die Anstalt des Heils – sich hatten zusammenfügen lassen, unterschied sich die Institution Kirche fundamental von anderen Institutionen. Diese beanspruchten zwar auch, die Ebene der Leitideen und Werte mit der einer Organisation zu einem Ganzen zu verknüpfen. Aber nur die Kirche vermochte mit Erfolg dauerhaft zu behaupten, den Sinn ihrer Organisation darin zu sehen, zugleich spirituell über das Institutionelle hinaus zu transzendieren auf die Unverfügbarkeit des Göttlichen. Genau diese Institutionstranszendenz gab der Kirche die entscheidende Legitimation.13 Hierin jedoch liegt ein latentes Problem. Institutionstranszendenz bedeutet in konkreten Fällen zwangsläufig auch die Auflösung des Institutionellen. Institutionen sind vom Menschen in irdischer Immanenz geschaffene Entitäten, wenngleich die Annahme bestehen mochte, dass die Grundordnungen des Gesellschaftlichen von Gott vorgegeben worden seien. Gott selbst aber lässt sich nicht institutionalisieren. In dieser Hinsicht ist er dem Menschen tatsächlich unverfügbar, auch wenn es den gegenteiligen Anschein haben mag angesichts der institutionalisierten Praktiken des Gebets, der Opferung, der Askese, der Sakramente und insbesondere auch der religiösen Rituale14, die alle darauf zielen, sich die Unverfügbarkeit Gottes aufzuschließen. Tatsächlich aber waren diese 8 Vgl.
Fietta 1975. 1992. 10 Weber 1972, 696 f. 11 Melville 2002; Rehberg 1994; Rehberg 2012. 12 Vgl. Schneidmüller 2016. 13 Dazu schon grundlegend von Moos 2003. 14 Vgl. Sonntag 2008. 9 Melville
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Praktiken nur helfende Ermöglichungen für die Gott suchende Seele (und sind durchaus auch als solche verstanden worden15), wenn diese sich ganz individuell erhob „zum höchsten Gut über uns“, wie Bonaventura formulierte, und sie sich in innerer Reinheit sowie in höchstem Verlangen Gott „verähnlichte“16, um sich dabei von jeglicher irdischen Institutionalität freizumachen. In dieser Weise ist auch jener Satz des Paulus (2 Kor 3,17) – „Wo aber der Geist des Herrn ist, ist Freiheit“ – interpretiert worden, als dann im 12. Jahrhundert an höchst prominenter Stelle, nämlich im Decretum Gratiani, gesagt wurde, es gebe zwei Gesetze im Christentum, die lex publica und die lex privata. Letztere stünde höher als die erstere, denn sie sei vom Heiligen Geist durchdrungen und so könne sich ein Kleriker, der gegen den Willen seines Bischofs in ein Kloster einzutreten beabsichtigte, mit ihr, also dem Recht des von Gott erfüllten Individuums, über die lex publica, das allgemeine Recht der Kirche, gemäß dem Satz ubi Spiritus sanctus, ibi libertas hinwegsetzen.17 Es liegt also der scheinbar paradoxe Sachverhalt vor, dass die Institutionstranszendenz der Kirche durchaus einen Punkt erreichen ließ, wo sich Kirche ihrer selbst enthob. Dann nämlich, wenn der Akt der individuellen Annäherung an Gott die institutionellen Ermöglichungen und Rahmungen mittels des Autonomie verleihenden Heiligen Geistes überstieg und Gottes Unverfügbarkeit zumindest ein Stück weit aufbrach – mithin das Kernanliegen von Religion erfüllt war. Die Problematik dieser Struktur zeigt sich aber meines Erachtens recht deutlich dort, wo man vermeint, gerade von einer besonders weitgreifenden Rolle des Institutionellen sprechen zu können: bei der religiösen Bildung. Der Begriff „Bildung“ hat eine weitgesteckte Semantik.18 Entsprechend hat man zu unterscheiden einmal zwischen einer Bedeutung, welche in Richtung zweckmäßiger Ausbildung weist, und einer, welche eine umfassende, persönlichkeitsformende sowie Werte und Wissen vermittelnde Belehrung meint, und zum anderen versteht man darunter entweder die Aktion des Bildens oder dessen Ergebnisse, also die erworbenen Bildungsinhalte. In Verbindung mit dem Religiösen verlangen alle diese Möglichkeiten von Bildung einen beträchtlichen Aufwand, denn – wie Peter Gemeinhardt pointierte19 – „Religion will gelernt sein“. 15 So spricht zum Beispiel Regula Benedicti 4,75 in diesem Zusammenhang ausdrücklich von „Werkzeugen der geistlichen Kunst“ (instrumenta artis spiritalis; Benediktsregel 1992, 86 f.). 16 Zu diesem treffenden Ausdruck von Bernhard von Clairvaux vgl. Diers 1991, 45–53. 17 Vgl. Landau 1991; von Moos 2001, 326–336; Melville 2007, 66–68 (die dortige Kennzeichnung des Sachverhaltes als „anti-istituzionale“ würde ich heute allerdings nicht mehr gebrauchen). 18 Siehe den Überblick von Lichtenstein 1971, neuerdings auch von Gemeinhardt 2017, 167–169. Freilich ist zu beachten, dass das Mittelalter keinen analogen Begriff kannte. Im Lateinischen standen formatio, educatio, institutio, cultus und eruditio mit jedoch jeweils wesentlich begrenzterem Bedeutungsfeld zur Verfügung. 19 So in Gemeinhardts Beitrag im vorliegenden Band (S. 4).
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Religiöse Bildung äußert sich nach einer Phase institutionalisierten Lernens als eine Fertigkeit im Umgang mit kirchlichen Praktiken und Lehren. Ich kann das im Folgenden nur sehr kurz anreißen. Das Feld der religiösen Bildungsgegenstände war schon im Mittelalter weitgespannt und im Laufe der Jahrhunderte großen Veränderungen unterworfen. Es umfasste Kenntnisse ebenso über kultische und pastorale Handlungsweisen wie über kirchenrechtliche Systeme und Gebäude der Theologie, welche gemäß Anselm von Canterbury der „Glauben ist, der verstehen will“ (fides quaerens intellectum).20 Das Feld war aber auch bezüglich der Zusammensetzung der Gläubigen, also der zu Bildenden, außerordentlich aufgefächert.21 Es reichte von einer weit überwiegenden Menge an Analphabeten über Mönche, Kleriker und eine geringe Zahl von Laien als litterati bis hin zu professionellen Spezialisten.22 Dementsprechend unterschiedlich waren die Formen der Unterweisung. Sie reichten von der einfachen Volkspredigt durch den Bischof, dann auch durch Pfarrer und schließlich durch Vertreter der Bettelorden über Domschulen, deren Einrichtung spätestens ab Alexander III. den Bistümern zur Pflicht gemacht wurde, bis hin zu den Universitäten ab dem späten 12. Jahrhundert, wo Theologie zum professionalisierten Lehrinhalt einer eigenen Fakultät wurde.23 Ähnlich breit war der Fächer der Bildungsmedien. Er spannte sich vom Bild – insbesondere dem öffentlichen in den Kirchen – und dem liturgischen Schauspiel über das gesprochene Wort bis zur Schrift.24 Wesentlich bedeutsamer aber war die Tatsache, dass im Mittelalter Bildung ein inhaltlicher Baustein der christlichen Lehre war und dementsprechend das Thema „Bildung“ selbst zu den religiösen Bildungsinhalten gehörte. Der Grund hierfür lag in einer heilsgeschichtlichen Interpretation des Sündenfalls, in welchem der Mensch – wie man glaubte – sich seiner gewissermaßen ‚entwirklicht‘ und sich in einen Zustand völliger Ignoranz gestürzt hatte, aus der er nur durch Bildung wieder befreit werden konnte.25 Es gebe, sagte der große Enzyklopädist des 13. Jahrhunderts, Vincenz von Beauvais, eine entsetzliche Fülle von Unwissenheit, aus der jeglicher Irrtum entstehe, und die alle Söhne Adams mit ihren finsteren Falten umstricke, so dass ihr der Mensch ohne Erziehung voll Mühen, Schmerz und Furcht nicht entrissen werden könne.26 Um die Nachfahren Adams und Evas sich wieder ihrer selbst verwirklichen zu lassen, habe ihnen Gott die Vernunft gegeben. Sie solle sie befähigen, wie es schon bei Hono20 Vgl.
Dalferth 1984.
21 Siehe zu Folgendem im Überblick Boehm 1981; Dies. 1996; Kintzinger 2007; jetzt vor allem
die umfassende Studie von Steckel 2011. 22 Siehe Fried 2009; neue methodische Zugänge zu den verschiedenen Wissenskulturen des Mittelalters diskutiert Steckel 2015. 23 Siehe Leppin 2015. 24 Vgl. Reinl 2011. 25 Melville 1982, 90–93.118–127. 26 Vincenz von Beauvais, Speculum doctrinale (Ed. Dvaci 1624, 5 f.).
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rius Augustodunensis und anderen Autoren des 12. Jahrhundert hieß, sich von der ignorantia, die einem Exil gleichkam, zur wahren Heimat, der sapientia, zu führen. „Der Weg von diesem Verbannungsort zur Heimat ist die scientia, die Wissenschaft“, liest man weiter bei Honorius27, sich auf Augustinus stützend. „Durch die Wissenschaft, scientia, nämlich werden Betrachtungen durchgeführt in den naturhaften Dingen, durch die Weisheit, sapientia, aber in den göttlichen Dingen“. Dabei konnte „Weg“ durchaus wörtlich genommen und die Beschäftigung mit den einzelnen Fächern der scientia als ein Durchschreiten hierarchisch geordneter Etappen verstanden werden – veranschaulicht zum Beispiel einmal mit einem Bild von zehn Städten, die zu passieren seien und die jeweils ein Fach vertreten. Vorgestellt wurden dabei in einem strikten Curriculum zunächst: grammatica, rhetorica, dialectica, arithmetica, musica, geometria, astronomia, physica und mechanica – also die sog. sieben freien Künste plus Naturkunde und Mechanik.28 Den Abschluss fand dieser Weg dann folgerichtig in der Stadt der Heiligen Schrift als der wahren Heimat, in der nichts anderes als Weisheit, also die Befassung mit den göttlichen Dingen, herrsche. Das Ziel aller Studien, welche der Verstand anleite, müsse darauf gerichtet sein, die Unversehrtheit der menschlichen Natur wiederherzustellen, wie sie vor dem Sündenfall im Paradies bestand, wo der Mensch die Nähe Gottes besaß. Bildung also, Wissen über die Gesetze dieser Welt, vermochte man als ein remedium, als ein Heilmittel, zu begreifen, das nichts Anderes sein konnte als ein religiös bestimmtes im Sinne unserer Definition der Suche nach Verfügbarmachung des Göttlichen. Es galt, durch Wissen (scientia) über das Sichtbare der Welt die Weisheit (sapientia) zu gewinnen, zum Unsichtbaren des Göttlichen vorzudringen, wie Augustinus formulierte und dann im Mittelalter immer wieder unterstrichen und insbesondere von Richard von St. Viktor gedanklich weiterentwickelt wurde.29 So lautete hier demnach die Formel: Verfügbarmachung Gottes durch die einsichtsfähige (intelligibilis) Kraft der Seele, die dadurch das „höchste Wahre“ und „wahrhaft Unveränderliche“ (um die Begrifflichkeit des Vincenz von Beauvais aufzugreifen30) erkennen vermag. Zu Recht also dürfte man demnach sagen können, dass religiöse Bildung im Mittelalter ein inhärentes Element der Institution Kirche war, welche sich selbst als Inhaberin einer von Christus empfangenen Lehrautorität, des magisterium31, verstand. Als ein solches Element wurde religiöse Bildung selbst institutionell. Sie konfigurierte sich einerseits als institutionalisierter Bildungsprozess mittels organisatorischer Normen und Praktiken, mittels eines differenzierten Fächers an medialen Typen und mittels angepasster Didaktiken, wobei sie sich im Laufe Folgendem: Honorius Augustodunensis, De anima exsilio et patria (PL 172, 1241). fortgesetzt wichtigen Rolle der artes liberales über das 12. Jh. hinaus vgl. Bubert 2015. 29 Vgl. Coulter 2006. 30 Vincenz von Beauvais, Speculum doctrinale (Ed. Dvaci 1624, 8). 31 Vgl. Fahey 2008. 27 Zu
28 Zur
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der Jahrhunderte sogar immer stärker zu professionalisieren vermochte. Religiöse Bildung konstituierte sich andererseits aber auch als ein geschlossenes System von Bildungsinhalten, das insofern als institutionell gelten dürfte, als es sowohl einen normativ festgefügten Kanon an Fächern und Lerninhalten entwickelte als auch selbst symbolische Bedeutung als remedium der Seele gewann. Die als Thema dieses Beitrags gestellte Frage, ob religiöse Bildung institutionalisierbar sei, dürfte damit positiv beantwortet sein. Doch so einfach ist dies nicht – und so einfach hatte man es sich auch im Mittelalter nicht gemacht! Eben weil religiöse Bildung als ein remedium angesehen wurde, das fest im institutionellen Bereich der Kirche verankert war, konnte sie von jedem, der in ihren Genuss kam, ebenso nur als – wie oben definiert – eine „helfende Ermöglichung für die suchende Seele“ verstanden werden, welche zum „höchsten Gut“ aufsteigen wollte und dabei sich gerade vom Institutionellen befreien musste. Unter dem Blickwinkel einer solchen Institutionstranszendenz schien religiöse Bildung im eben beschriebenen Sinne nur eine propädeutische Rolle zu spielen oder als ein Heilsmittel unter vielen gar gänzlich zur Disposition gestellt werden zu können – mehr noch: vielleicht auch völlig anders, nämlich ohne jegliche Institutionalität, definiert worden zu sein. Träfe dies zu, dann wäre meine Frage wieder offen und gewänne nun ganz wesentlich an Spannung. Um hier voranzukommen, müssen wir uns denjenigen Bereich des mittelalterlichen Christentums eröffnen, der von sich behaupten konnte, die „religiösen Virtuosen“ (wie Max Weber formulierte32) zu beherbergen – diejenigen also, die um ihrer Gottessehnsucht willen die Welt verließen, um in einem abgeschiedenen Raum, den sie als sicheren Hafen zwischen Erde und Himmel bezeichneten, ihre Seelen zu vervollkommnen für die Begegnung mit Gott. Sie taten dies als Einzelne oder – häufiger – in Gemeinschaft und unterwarfen sich einer Regel, die den ganzen Menschen verlangte. Die Rede ist von den Frauen und Männern, die ein Leben in Klöstern wählten. Mit Hilfe eines Blickes in dieses Leben, das in so starkem Maße von konsequenter Vergegenwärtigung christlicher Spiritualität geprägt war und das seine Wurzeln einst in der Ablehnung aller institutioneller Bindungen zugunsten einer affektiv gesteuerten Gottessuche hatte, mag man das finden, was religiöse Bildung ganz anders hatte definieren lassen – nämlich als etwas, das eo ipso institutionstranszendent zu sein hatte – und dann auch nicht mehr zu institutionalisieren war. Zunächst jedoch zur Frage: Wie institutionell aber waren das Kloster und die dortige Bildung? – Eingangs hatte ich betont, dass der christliche Glaube die gesamte Welt mit allen Menschen als etwas Transitorisches verstehen ließ, als einen Weg von ihr zu Gott. Das mittelalterliche Kloster definierte sich als eine institutionalisierte Sonderform dieses Transitoriums, indem es die gemeinschaftlich getragene Organisation einer Durchgangsstation für jeden Einzelnen bedeutete, 32 Weber
1972, 327 und passim.
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welcher uneingeschränkt bereit war, den Weg zu Gott als alleinigen Kern des irdischen Daseins zu leben.33 Deshalb geht es vorderhand gar nicht darum, ob mittelalterliche Klöster Schulen hatten – es gab sie natürlich; einer der frühesten Belege ist der sog. Klosterplan von St. Gallen34 – , sondern um den Sachverhalt, dass ein Kloster selbst in seiner Ganzheit als Schule verstanden worden ist. Schon die Regel Benedikts sprach – und andere Regeln taten dies implizit auch – vom Kloster als einer „Schule für den Dienst des Herrn“ (dominici scola servitii), in welcher man in seinem religiösen Lebenswandel und in seinem Glauben fortschreiten solle (processu vero conversationis et fidei).35 Jedem einzelnen seien dafür – wie schon erwähnt – Werkzeuge der geistlichen Kunst (instrumenta artis spiritalis) bereitgestellt, die man Tag und Nacht unermüdlich zu gebrauchen habe. Das Kloster ist also sogar noch mehr als eine Schule, es ist – wie es heißt36 – eine Werkstatt (officina), wo beständig in einem großen Formungsprozess an einem selbst gearbeitet wird, um „jenen Lohn Gottes zu empfangen, den dieser versprochen hatte“ – nämlich: „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, hat Gott denen bereitet, die ihn lieben“ (1 Kor 2,9). Das Kloster zeigte sich also als eine große Bildungsanstalt, in welcher – wie sich zum Beispiel der Benediktinerabt Petrus Cellensis im 12. Jahrhundert ausdrückte – der alte irdische Mensch abgelegt und ein neuer Mensch geschaffen wird, der dann in einem neuen Leben wandelt.37 Einen solchen Lebensweg zum noch Unverfügbaren – diese Form der Religion musste man freilich auch erst und immer wieder lernen. Hierbei gab es verschiedene Weisen der Curricula. In Gemeinschaften, an deren Spitze eine charismatische Führungsgestalt stand, war diese allein die Quelle jenes Wissens, das – wie oben skizziert – zur Weisheit und Erkenntnis Gottes zu führen half.38 Stephan von Obazine, einer dieser Charismatiker im 12. Jahrhundert, wurde folgendermaßen beschrieben: „Es gibt aber einen unter ihnen, der ihnen allen vorsteht; von dessen Lehre unterwiesen und von dessen Beispiel geformt, erstrahlen sie. Sein Wort ist wie brennendes Feuer, welches die Seelen der Zuhörenden entzündet und mit derart viel Liebe berauscht, dass […] die Beschaffenheit ihres Lebens und ihrer Sitten verändert wird.“39
33 Siehe
ausführlicher zu dieser ‚Formel‘ Melville 2011, 74–80. Nieden 2008. 35 Regula Benedicti, praef. 45.49 (Benediktsregel 1992, 70 f.). 36 Regula Benedicti 4,78 (Benediktsregel 1992, 94 f.). 37 Petrus Cellensis, De disciplina claustrali (de Martel 1977, 192.194): Sic ingrediens claustrum, pellem pro pelle, et omnia quae habet dat pro anima sua, dum exuit veterem hominem, et induit novum, ambulans in novitate vitae, et in confessione detegens vitia prioris consuetudinis. 38 Vgl. Andenna / Breitenstein / Melville 2005. 39 Zit. n. Aubrun 1970, 58: Est autem unus inter eos qui ceteris preest, cujus magisterio edocti et informati exemplo ita refulgent. Sermo ejus quasi ignis ardens ita audientium mentes accendit et tanto amore inebriat ut […] vite eorum morumque qualitas immutetur. 34 Zur
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Allein das Wort und die Tat des Meisters zählten, er war die institutionelle Verkörperung der Wahrheit. Weiterer Belehrungen, Regeln und Normen, Ordnungen und Rituale bedurfte es innerhalb solcher Gemeinschaften nicht. Die Geschichte indes zeigt, dass derartige Gemeinschaften dann doch immer – sei es durch einen endogenen Prozess der „Veralltäglichung des Charismas“ im Weberschen Sinne40, sei es durch energische Interventionen der Amtskirche – in Organisationsformen festgefügter Klöster mündeten, die Regeln und Ordnungen unterworfen waren – oder sie waren zuvor gescheitert.41 Die Vorsteher von Klöstern waren der Regel absolut verpflichtet – befiehl alles, nur neben Gott nichts gegen die Regel, hieß es – und hatten für deren spirituellen Inhalte durch Handeln ein exemplarisches Muster zu sein, also eine – wie man sagte – lebendige Regel darzustellen. In diesen Klöstern hatte man auch – ganz anders als in den charismatischen Gemeinschaften – den anfänglichen Prozess der Selbstprüfung und des Lernens, Mönch zu sein, in Form eines Noviziats42 institutionalisiert. Welche Mühe eine solche Bildungsaufgabe in der Praxis des klösterlichen Alltags bereitete, zeigt der Umstand, dass man sich immer wieder zu nachhaltigen Ermahnungen an Novizen gezwungen sah, diese sollen sich von der „ungewohnten Strenge der Ordnung“, vom „neuen Joch des Gehorsams“ und von der „Strenge der Disziplin“ nicht schrecken lassen, „auch wenn die Glieder ermüden und abmagern durch das Fasten, wenn die Augen sich in Tränen auflösen, Kopf und Herz vor Wehklagen schier zu zerspringen scheinen“. Denn nur so könne man „das Weltliche in sich so ausspeien, dass man nicht mehr zum Ausgespiehenen zurückkehrt, dass die weltliche Lust abstirbt und man einen Sieg über die Welt erringt.“43 Man war sich bewusst, dass eine derartige Ausbildung sich nicht auf den Zeitraum des Klostereintritts beschränken durfte.44 So versuchten manche große Figuren der klösterlichen Welt – etwa Bernhard von Clairvaux, Petrus Cellensis, Aelred von Rievaulx und andere – vor allem ab dem 12. Jahrhundert, gleichwohl zurückgreifend auf frühe Schriften des Mönchtums, insbesondere Cassians – der monastischen Spannkraft durch eine Fülle paränetischer Traktate mit Titeln wie De ordine vitae, De disciplina claustrali oder De conscientia Dauer zu verleihen, sich also mit der Schrift als eines zeitübergreifenden Wissensspeichers eines sehr spezifisch institutionellen Mittels zu bedienen, um spirituelle Leitgedanken weiterzugeben als vertieftes Fundament künftigen mönchischen Verhaltens.45 40 Weber
1972, 142–148. Melville 2012, 110–113. 42 Siehe Breitenstein 2008. 43 Girardus de Avernia, Exhortatiunculae ad Cluniacensis ordinis professores, ungedruckt; zit. n. Melville 1989, 213. 44 Zu diesem wichtigen Aspekt siehe in Kürze Melville 2017. 45 Ein Überblick bei Bynum 1979, insbesondere 99–179. Zur Verbreitungsweise quer über die Orden und Klösterverbände hinweg siehe Breitenstein 2012. 41 Vgl.
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Gleichermaßen gehörte es zum Bildungsprogramm der Klöster,46 eben jene scientia zu pflegen, die – wie oben schon erläutert – zur sapientia führen sollte. Vor allem die klösterliche Welt war es bekanntlich, die wesentlich dazu beitrug, über dunkle Jahrhunderte hinweg eine Schriftkultur im lateinischen Europa aufrechtzuerhalten, das geistige Erbe der Antike zu tradieren, es weiterzuentwickeln, mit der christlichen Lehre zu vereinbaren und dann in den größten Bibliotheken jener Zeit zum Gebrauch bereitzuhalten. Im Besonderen stammten die meisten Werke zu den Artes liberales und zur Naturkunde sowie enzyklopädische Überblicke über all das aus der Schöpfung Hervorgegangene aus mönchischer Feder. Denn anhand des theophanischen Charakters des Geschaffenen glaubte man der Erkenntnis dessen, was Gott ist, näher zu kommen. Eine oftmals im gleichen Text sofort vorgenommene Exegese der faktischen Darlegung hin auf deren allegorisch-spirituellen Sinn belegt diese Annahme deutlich.47 Demjenigen, der – wie ich oben formulierte – uneingeschränkt bereit war, den Weg zu Gott als alleinigen Kern des irdischen Daseins zu leben, musste die Anfertigung und Lektüre solcher Schriften mehr als jedem sonstigen im Irdischen dieser Welt verbliebenen Christen tatsächlich ein remedium, ein Heilmittel seiner Seele sein. Die Bereitstellung war eine institutionalisierte Dienstleistung des Klosters. Die Institution Kloster war also in der Tat eine, wohl bis ins Hochmittelalter sogar die herausragende Anstalt religiöser Bildung. Es gab Lehrende, eine Phase der Einführung, Lehrschriften über Tugenden und Laster zur kontinuierlichen Verbesserung der spirituellen conversatio und Schriften der scientia, um die visibilia der Welt für ein Verständnis des Jenseitigen ausdeuten zu können. Offensichtlich hatte sich Bildung also auch hier bei diesem Sonderweg der „religiösen Virtuosen“ gänzlich in festen institutionellen Rahmungen und geregelten institutionellen Formen vollzogen. Doch dies war nur eine Seite und gewiss keine unwichtige, denn sie schuf die Grundlage für eine zweite Seite des klösterlichen Bildungswegs. Bei jenen nämlich, die – wie ich eben sagte – uneingeschränkt bereit waren, den Weg zu Gott als alleinigen Kern des irdischen Daseins zu leben, musste konsequenterweise die Formulierung „Schule für den Dienst des Herrn“ noch einen ganz anderen Sinn haben, als nur ein institutionalisiertes Bildungsprogramm zu absolvieren. Thesenhaft gesagt: Ein Leben, das ausschließlich auf den „Dienst des Herrn“ ausgerichtet war, musste sich letztlich in jenen Dimensionen erfüllen, die oben als institutionstranszendent bezeichnet wurden. Augustinus, der in seinem Werk De doctrina christiana vehement den ursprünglich paulinischen Gedanken vortrug, dass man durch die Erkundung der 46 Vgl.
Kintzinger 2006; zu Abgrenzungen siehe Rexroth 2014.
47 Besonders anschaulich sowohl für die Fokussierung auf sapientia und für den entsprechen-
den Umgang mit den Artes liberales als auch für die Exegese nach dem vierfachen Schriftsinn ist Hugos von Sankt Viktor Didascalicon de studio legendi; siehe Offergeld 1997; vgl. Mandreoli 2016.
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sichtbaren Dinge zur Erkenntnis der unsichtbaren vordringen konnte, und der damit den mittelalterlichen Bildungsbetrieb fundamental prägte, relativierte dies zeitgleich in seinen Confessiones, indem er darüber noch eine höhere Eben schob. Seine sehr bildhafte Kernaussage sei in voller Länge vorgelegt: „Der nämlich ist besser daran, der sich im Besitz eines Baumes weiß und für seine Früchte Dir, Gott, Dank sagt, denn er braucht gar nicht zu wissen, wie viel Fuß des Baumes Höhe beträgt oder wie weit sich dieser in der Breite ausdehnt, – besser nämlich als der, der ihn ausmisst und all seine Zweige zählt, ihn aber weder besitzt noch dessen Schöpfer kennt und liebt. So verhält es sich auch mit dem Gläubigen, dem die ganze Welt mit all ihren Schätzen gehört, der nichts hat und doch alles besitzt (1 Kor 6,10), weil er Dir, Gott, dem alles untertan ist, anhängt. Und wäre ihm sogar der Kreislauf des Großen Wagen unbekannt, so wäre es doch Torheit zu zweifeln, dass er auf jeden Fall besser daran ist als der, der den Himmel ausmisst, die Sterne zählt und die Elemente wägt, Dich aber, Gott, hintan stellt, der „Du alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hast“ (Weish 11,21).48
Kaum deutlicher konnte man zum Ausdruck bringen, dass man sich keineswegs auf einen Automatismus verlassen könne, der in hinreichender Weise von scientia zu sapientia und zur Erkenntnis Gottes führe. Im 13. Jahrhundert wird dies vor allem Bonaventura in seinem Werk Quaestiones disputatae de scientia Christi deutlich unterstreichen: „Nur wenige [sind] weise, mögen auch viele wissend sein“.49 Es geht um mehr. Augustinus hat es mit dem Wort „besitzen“ (possidere) angesprochen. Der wahre Besitzer der Güter Gottes ist nicht der, der sich vorderhand die Kenntnis über die von Gott geschaffenen Dinge aneignet, sondern der sich bereits ganz unmittelbar eine Einheit mit Gott selbst angeeignet hatte und so dessen Früchte genießen kann. Etwa ab dem frühen 12. Jahrhundert wurden solche Worte äußerst virulent, denn als Reaktion auf die Wirrnisse des Investiturstreits war es zu einem stark verinnerlichten und von Selbstverantwortung geprägten Glauben gekommen, der auch das Mönchtum in eine spirituelle Krise stürzte bzw. ganz neue Formen des Klösterlichen hervorbrachte.50 Überträgt man jene Aussage von Augustinus in den Alltag der klösterlichen Schulung jener Zeit, dann stößt man auf ein ‚Curriculum‘ (ein Ausdruck, den ich bewusst hier zum Vergleich benutzen möchte), das sich ganz woanders abspielt als in den gemauerten Unterrichtsräumen, im Skriptorium oder in der Bibliothek eines Klosters. 48 Augustinus, Confessiones V 7 (Verheijen 1981, 60): Sicut enim melior est qui nouit possidere arborem et de usu eius tibi gratias agit, quamuis nesciat uel quot cubitis alta sit uel quanta latitudine diffusa, quam ille qui eam metitur et omnes ramos eius numerat et neque possidet eam neque creatorem eius nouit aut diligit, sic fidelis homo, cuius totus mundus diuitiarum est et quasi nihil habens omnia possidet inhaerendo tibi, cui seruiunt omnia, quamuis nec saltem septentrionum gyros nouerit, dubitare stultum est, quin utique melior sit quam mensor caeli et numerator siderum et pensor elementorum et neglegens tui, qui omnia in mensura et numero et pondere disposuisti. 49 Bonaventura, Quaestiones disputatae de scientia Christi q. 4, ad 19 (Speer 1992, 131). 50 Vgl. im Überblick Melville 2012, 84–113.
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Die Erörterungen des Zisterziensers Wilhelm von Saint-Thierry in seinem sog. „Goldenen Brief“ an einen Kartäuserkonvent zielen auf den Kern eines solchen Curriculums, als er speziell über die Mühen sprach, die die Herstellung einer Einheit mit Gott verlange: „Wenn diese Bemühungen auch manchmal durch Bücher unterstützt werden und wenn man sich auch ihrer bedient, so sind sie doch nicht literarischer Art. Es geht nicht um Spitzfindigkeiten und Diskussionen, sondern um ein geistliches Wissen, um friedliche und demütige Dinge. […] Wenn diese Übungen auch nur äußerlich ausgeführt werden, so ist es doch eher ein innerliches Tun im Geiste der Seele (in spiritu mentis), wo der Mensch sich erneuert, wenn er den neuen Menschen anzieht, der nach Gott geschaffen ist in der Heiligkeit und Gerechtigkeit der Wahrheit. Hier nämlich bildet sich der Geist (animus), hier formt sich die gute Einsicht für alle, die danach leben. Hier werden wir belehrt, uns als Diener Gottes zu erweisen, durch große Geduld, in Bedrängnissen in Nöten, in Ängsten, in Mühen, in Nachtwachen, bei Ehre und Schmach … mit Langmut, mit dem Heiligen Geiste, mit ungeheuchelter Liebe, mit der Kraft Gottes … Das und andere sind die Übungen, in denen der Geist (animus) allein mit Gott sich prüft.“51
Ich breche diesen beeindruckenden Text hier ab, denn es dürfte deutlich geworden sein, wo sich dieses Curriculum abspielt: in der Seele nämlich jedes einzelnen Mönchs bei einem anwesenden Gott als alleinigem Partner. Der Seele mag das in Büchern Niedergeschriebene aus dem institutionalisierten Repertoire einer religiösen Bildung helfen, entscheidend aber ist es nicht. Sehr deutlich drückte dies auch ein anonymer Zeitgenosse Wilhelms aus, als er mit Emphase den nachhaltigen Nutzen speziell des paränetischen Schrifttums anzweifelte und einen anderen Inhalt des Curriculums progagierte: „Was nützen diese Buchstaben der Ermahnung, wenn Du nicht die Buchstaben des Todes in Deinem Buch des Gewissens (liber conscientiae) löscht? Was nützen Dir die Schriften, das Gelesene und Verstandene, wenn Du Dich nicht selbst liest und verstehst? Widme Dich der inneren Lektüre, damit Du Dich selbst liest, prüfst und kennenlernst. Lies dort, damit Du Gott liebst“.52 Wohl nicht insistierender konnte auf den Zwang zur Verinnerlichung der monastischen Normen und zugleich auf diejenige Instanz hingewiesen werden, anhand derer sich der Grad der Verinnerlichung selbst prüfen lässt: das Gewissen, jene Kraft im Individuum selbst, die ebenfalls ab dem frühen 12. Jahrhundert wieder ganz neu in das religiöse Bewusstsein gerückt war.53 Immer wieder wurde nun hervorgehoben, dass das Gewissen der unausweichliche Begleiter für einen selbst sei, denn niemand könne vor sich selber fliehen. Das Gewissen zwinge einen dazu, selbst sein Zeuge, Ankläger und Richter zu sein. Beim Umgang mit dem Gewissen, hieß es, stelle man sich vor sich und von Saint-Thierry, Goldener Brief (Ed. Eschenbach 1992, 86). Meditationes (PL 184, 508). 53 Siehe Chenu 1969; speziell zu Mönchtum und Gewissen siehe schon Breitenstein 2014 und jetzt vor allem Breitenstein 2017. 51 Wilhelm
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urteile über sich selbst. Man solle also durch die Gewissenserforschung sich zu sich selbst zurückbegeben (redde ergo te tibi) und wagen, sich selbst zu erkennen (aude cognoscere te).54 Und schließlich hieß es sogar: Wenn man seinem geprüften Gewissen folge, dann binde einen das eigene Gesetz (lex tua te constringit).55 Dieser bemerkenswerte Satz liegt auf der gleichen Ebene wie die Höherrangigkeit der lex privata gegenüber der lex publica, über die ich bereits sprach. Gegenstand des Curriculums war also die erforschende Hinführung zu seinem eigenen Inneren, zu seinem ‚eigenen Gesetz‘. Diese Hinführung befand sich allerdings unausweichlich unter dem Zeichen Gottes als des übergeordneten Beobachters und Prüfers, dem allein die „Herzen und Gedanken offenlägen“. Über der Instanz des Gewissens also stand die Instanz Gottes. „Es bleibt“, hieß es in einem anonymen Traktat über das Gewissen, „dennoch das Urteil Gottes, welches mir nicht gestattet, tatsächlich zu begreifen (intelligere), was ich tue, denn ich weiß ja nicht, ob Gott das akzeptiert, was ich tue. Er nämlich kennt mich besser als ich mich selbst – er, der Erforscher von Herz und Nieren, der Kenner der Geheimnisse, der um Alles weiß und um die Gründe (rationes) von Allem.“56 Gott selbst ist damit aber auch der Unterweiser in diesem Curriculum. Das berühmteste Beispiel einer Empfindung, dass eine solche Unterweisung tatsächlich durch Gott selbst und nur durch ihn allein erfolgt ist, findet sich im Testamentum des Franziskus von Assisi, wo dieser schrieb: „Nachdem mir der Herr Brüder gegeben hatte, zeigte mir niemand, was ich tun sollte, sondern der Höchste selbst hat mir offenbart, dass ich vollkommen nach der Form des Heiligen Evangeliums leben sollte“.57 Franziskus hatte diese Bildung seiner Seele erfahren, als er sich am Ende einer längeren spirituellen Entwicklung in eine einsame Grotte bei Poggio Bustone an den Hängen des Rieti-Tals zurückgezogen hatte. Schon Wilhelm von Saint-Thierry hatte die Einsamkeit mit sich selbst als Voraussetzung verstanden, dass „der Geist mit Gott sich prüfen, finden und bessern“ kann. Solche Bemühungen, schrieb er mit psychologischer Feinfühligkeit, „lieben das Schweigen, verlangen die Ruhe des Herzens in der Mühsal des Körpers, die Armut des Geistes und den Frieden in den äußeren Bedrängnissen und ein gutes Gewissen in aller Reinheit des Herzens und des Körpers“.58 Dabei wurde es keineswegs für notwendig erachtet, dass der Mönch sich von seiner klösterlichen Gemeinschaft distanziere oder gar löse. Es galt ihm nur, Gott spirituell als Kommunikationspartner gleichsam einzufangen und ihn so zu umfangen, dass dieser zum, ja in den Menschen kam. Ein Haus im Inneren sei aufMeditationes (PL 184, 494). De interiori domo (PL 184, 534). 56 Anonymus, Tractatus de conscientia (PL 184, 553 f.); vgl. Melville 2005, 31 f. 57 Et postquam Dominus dedit michi de fratribus, nemo ostendebat michi quid deberem facere, sed ipse Altissimus revelavit mihi quod deberem vivere secundum formam sancti Evangelii (Paolazzi 2009, 396); vgl. Feld 2007, 13–16; Melville 2012, 189–193. 58 Wilhelm von Saint-Thierry, Goldener Brief (Ed. Eschenbach 1992, 87). 54 Anonymus, 55 Anonymus,
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zubauen als Tempel Gottes, als Seelenkloster (claustrum animae) – so lauteten die gängigen Forderungen ab dem 12. Jahrhundert und nicht nachlassend auch in den nachfolgenden. Dieses Haus aber sei das geprüfte und gereinigte Gewissen.59 Dabei sei die erforderliche Wendung nach innen jedoch nur dann radikal zu vollziehen, wenn die Seele abließe, „durch die Augen, die Ohren und die anderen Sinne des Körpers hinauszuschreiten und sich an Äußerlichkeiten der Welt zu erfreuen“. Gott werde nämlich dort nicht eintreten – hieß es in schöner Bildlichkeit –, wo „die Wände beschädigt und die Mauern löchrig“ sind. Gelingt es aber, dann werde der schon genannte Weg zur Verähnlichung mit Gott zu einem Status führen, der nicht mehr als Verähnlichung bezeichnet werden kann, sondern der „Einheit des Geistes genannt wird“, wie Wilhelm von Saint-Thierry formulierte und fortsetzte: „Das ist dann der Fall, wenn der Mensch eins wird mit Gott, ein Geist, nicht nur in der Einheit des gleichen Wollens, sondern in der Liebe“.60 Zusammenfassend kann man sagen, dass ein solcher Bildungsweg, der zum Rück(be)zug auf sich selbst führte, um in sich die Einheit mit Gott zu erleben, nicht anderes bedeutete als die Autonomisierung des Ichs durch Partizipation an der Autonomie Gottes. Hier traf sich der Einzelne mit der Einzigartigkeit von Gott. Die Autonomisierung war nicht als Grundlage für beliebige Willkür zu verstehen, vielmehr führte sie letztlich zu einem Status, der treffend mit jenem verbreiteten paulinischen Satz aus dem 1. Brief an Timotheus umschrieben werden konnte: „Das Gesetz ist nicht für die Gerechten da“ (1 Tim 9) – ein Satz, der dann von Augustinus aufgegriffen worden ist, als er sein berühmtes und in mittelalterliche Klöster hineinwirkendes Dictum „Liebe und tue, was Du willst“ (dilige et quod vis fac!) formulierte.61 Es waren dies Worte, die sich nur rechtfertigen ließen, wenn man erkannte, dass jene Einheit mit Gott zugleich eine Autonomie von institutionellen Hilfsmitteln herstellte, weil man derer nicht mehr bedurfte, um richtig zu handeln. Eine solche Bildung, die tatsächlich den engsten Kern von Religion vermittelte, war institutionstranszendent und damit tatsächlich nicht institutionalisierbar. Sie konkretisierte sich nur in personaler Individualität, bezog sich nur auf ekstatisch durchlebte Inhalte, denen jegliche äußere Form entgleiten konnte, und blieb in der versteckten Einsamkeit der Seele, es sei denn, es wurden die Visionen des Herzens in Form von Niederschriften explizit gemacht – im Prinzip dann aber ohne das Innere identisch abbilden zu können. Freilich war man sich schon im Mittelalter bewusst, dass eine solche Bildung nur in seltenen Fällen und nach immer erneuerten Übungen der Seele zu den höchst denkbaren Erfolgen führen konnte. Bernhard von Clairvaux sprach von „rarer Stunde und kurzem Augenblick“ (rara hora et parva mora), wenn in völ59 Vgl.
Melville 2005, 32 f.; vor allem jetzt auch Breitenstein 2016. von Saint-Thierry, Goldener Brief (Ed. Eschenbach 1992, 100). 61 Augustinus, In epistulam Ioannis ad Parthos tractatus 7,8 (PL 35, 2033); vgl. Constable 1996; Melville 2015. 60 Wilhelm
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liger Entrückung des Geistes (in mentis excessu totali) das Gefühl der Einheit mit dem anwesenden Gott gespürt werde. Mystik, „das unmittelbare Ergriffenwerden des Menschen vom Numinosen und das Bewusstsein von der Gegenwart Gottes“, wie Hedwig Röckelein definierte62, war auch in der klösterlichen Welt nicht gerade alltäglich. Man sollte aber nicht den Fehler machen, das Institutionelle und das Institutionstranszendente als zwei gegensätzliche Ebenen zu begreifen, obschon sie im systematischen Sinne voneinander klar abzugrenzen sind. Es mag banal klingen, aber institutionstranszendente Bildung konnte sich nur konstituieren, wenn sie auf einem Fundament von Bildungsinstitutionen aufruhte. Beide Bereiche sind kommunizierende Gefäße mit einer klaren Hierarchie der Zwecke. Der Franziskaner David von Augsburg hat diese Struktur noch im 13. Jahrhundert lapidar auf den Punkt gebracht: „Die äußerlichen Übungen des religiösen Lebens sind alle durch die Inspiration des Heiligen Geistes auf die Erneuerung des inneren Menschen ausgerichtet. Wer das nicht einsieht, hält die Werkzeuge für die Kunst“.63 Und er hat gemäß dieser Feststellung sogar eine Typologie von Ordensleuten entworfen: Die erste Gruppe nehme mit anscheinender Inbrunst an allen äußerlich sichtbaren geistlichen Übungen des Klosters teil, um aber damit nur zu überdecken, dass sie „vor den schwierigen Mühen um die Heiligkeit zurückschreckten. Die zweite Gruppe sind diejenige, welche ein körperlich hartes Leben führen, ihren Leib mit Fasten, Nachtwachen und ähnlichen leiblichen Strapazen in Zucht nehmen. Sie glauben, in der Beobachtung des Ordenslebens sei dies das Höchste; doch sie kennen nicht die innere Süße und kümmern sich wenig um die wahren Mühen, nämlich um die Tugenden, die in Geist und Seele ihren Sitz haben.“ Die dritte und einzig vollkommene Gruppe „sind diejenigen, die ihren inneren Menschen, in dem Christus durch den Glauben wohnt, in Ordnung bringen wollen. Sie wollen sich in den wirklichen Tugenden üben und alle Laster des Fleisches und des Geistes austilgen […] und in ihr Herz die […] Tugenden einsenken: Demut, Liebe, Sanftmut […], Freigebigkeit, […] und Keuschheit. Diese Tugenden nämlich sind das wahre Heiligtum (verum sanctuarium), und wer sie besitzt, ist heilig“.64
Wo hier jedoch in der monastischen Welt die Grenzen zwischen „Werkzeug“ und „Kunst“ im Laufe der Geschichte tatsächlich verliefen, inwieweit sie verschoben werden konnten, bis eine Seite nicht mehr übrigblieb, wo also entweder die institutionelle Bildung zur Vermittlung mönchischer Religiosität völlig auszureichen schien oder wo man glaubte, nur der Stärke des Herzens in völliger Abgeschiedenheit folgen zu können, dies zu beantworten muss der empirischen Forschung überlassen werden. 62 Röckelein
2013, 348. von Augsburg, De exterioris et interioris hominis compositione (Ed. Quaracchi 1899, 87): Omnia autem, quae ad Religionis observantiam exterius videmus, ad interioris hominis reformationem Spiritus sancti inspiratione ordinata sunt; quae qui nondum intelligit ipsa instrumenta pro arte reputat. 64 Die Zitate ebd., 79–81. 63 David
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Man wird aber dann doch auf eine recht breite Präsenz institutionstranszendenter Zielsetzungen monastischer Bildung stoßen, ohne allerdings gleich mit den höchstgreifenden Ergebnissen rechnen zu dürfen. Etwa wenn am Wechsel vom 11. zum 12. Jahrhundert sich Eremiten und geflohene Klosterleute in die Wälder der Diözese von Chartres zurückzogen, weil ihnen die sich in formalen Riten erschöpfende Religiosität der alten Benediktinerabteien zuwider waren und sie sehr zum Entsetzen ihres Bischofs Ivo in privatis locis proprio jure leben wollten. Gott fände mehr Gefallen an einer spontanea servitus des Herzens als an einer coacta, argumentierten sie und empfanden sich bezeichnenderweise bereits als Meister des religiösen Lebens, ohne jemals Lernende im formellen klösterlichen Sinne gewesen zu sein.65 Geht man diesen Leitideen weiter in den folgenden Jahrhunderten nach, so blickt man auf ein reiches Feld: die franziskanischen Spiritualen66, Mystiker wie namentlich Meister Eckhart, der vom „Bildwerden“ sprach als „reines Anwesen und Empfangen Gottes, die Geburt des Sohnes in der Seele, ein transzendenter Vorgang ‚ohne Mittel‘“67 – und weiter dann die Beghinen68, die Devotio moderna69 und sicherlich auch den die Gnade Gottes im Inneren suchenden Mönch Luther70, die alle den höchsten Grad der religiösen Bildung – ja, wohl sogar die eigentliche religiöse Bildung – jenseits der institutionellen Strukturen einer klösterlichen Gemeinschaft, nur verankert im individuellen Seelenkloster, sahen, auch wenn sie sich der Werkzeuge des Institutionellen als Ermöglichung bedienten.
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65 Vgl.
dazu ausführlich Melville 2005. Manselli 1997. 67 Lichtenstein 1971, 921. 68 Siehe Murk-Jansen 1998. 69 Siehe Staubach 2012. 70 Siehe aus der reichen Literatur hierzu vor allem Hamm 2010; Leppin 32017. 66 Siehe
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David von Augsburg, De exterioris et interioris hominis compositione secundum triplicem statum incipientium, proficientium et perfectorum libri tres (hg. von PP. Collegii S. Bonaventurae; Quaracchi, 1899). Honorius Augustodunensis, De anima exilio et patria (PL 172, 1242–1246). Petrus Cellensis, De disciplina claustrali: Pierre de Celle, L’école du cloître (hg. von Gérard de Martel, Paris: Cerf, 1977). Vincenz von Beauvais, Speculum doctrinale (Dvaci 1624; Nachdruck Graz: Akademische Druck‑ und Verlagsanstalt, 1965). Wilhelm von Saint-Thierry, Brief an die Brüder vom Berge Gottes. Goldener Brief (hg. von der Zisterzienserinnen-Abtei Eschenbach; Eschenbach: Eigenverlag, 1992).
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Rehberg, Karl-Siegbert, Institutionelle Analyse und historische Komparatistik. Zusammenfassung der theoretischen und methodischen Grundlagen und Hauptergebnisse des Sonderforschungsbereiches 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“: Dimensionen institutioneller Macht. Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart (hg. von Gert Melville / Karl-Siegbert Rehberg; Köln u. a.: Böhlau, 2012) 417–443 = Ders., Symbolische Ordnungen. Beiträge zu einer soziologischen Theorie der Institutionen (hg. von Hans Vorländer; Baden-Baden: Nomos, 2014) 257–285. –, Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen: Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie (hg. von Gerhard Göhler; Baden-Baden: Nomos, 1994) 47–84 = Ders., Symbolische Ordnungen. Beiträge zu einer soziologischen Theorie der Institutionen (hg. von Hans Vorländer; Baden-Baden: Nomos, 2014) 43–83. Reinl, Afra, Lebensformung durch Medien im Mittelalter (Berlin: LIT, 2011). Rexroth, Frank, Monastischer und scholastischer Habitus. Beobachtungen zum Verhältnis zwischen zwei Lebensformen des 12. Jahrhunderts: Innovationen durch Deuten und Gestalten: Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt (hg. von Gert Melville; Regensburg: Schnell + Steiner, 2014) 317–336. Röckelein, Hedwig, Mystik: Enzyklopädie des Mittelalter, Bd. 1 (hg. von Gert Melville / Martial Staub; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 22013) 348–351. Russo, Daniel, Allégorie, analogie, paradigme: étude sur la peinture de l’église dominicaine par Andrea di Bonaiuto, à Florence, 1365–1367: L’allégorie dans l’art du Moyen Âge. Formes et fonctions. Héritages, créations, mutations (hg. von Christian Heck, Turnhout: Brepols, 2011) 79–94. Schneidmüller, Bernd, Die Schlüssel des Himmelreichs. Über die Päpste in der lateinischen Welt und die Wege der Menschen zu Gott: Die Päpste. Amt und Herrschaft in Antike, Mittelalter und Renaissance (hg. von dems. u. a.; Regensburg: Schnell + Steiner, 2016) 13–37. Sonntag, Jörg, Klosterleben im Spiegel des Zeichenhaften. Symbolisches Denken und Handeln hochmittelalterlicher Mönche zwischen Dauer und Wandel, Regel und Gewohnheit (Vita regularis. Abhandlungen 35; Berlin: LIT, 2008). Staubach, Nikolaus, Christiana perfectio und evangelica libertas. Die Krise des christlichen Lebensideals zwischen Devotio moderna und Reformation: Exemplaris imago. Ideale in Mittelalter und Früher Neuzeit (hg. von dems.; Frankfurt a. M.: Lang, 2012) 229–282. Steckel, Sita, Kulturen des Lernens im Früh‑ und Hochmittelalter. Autorität, Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten (Norm und Struktur 39; Köln u. a.: Böhlau, 2011). –, Wissensgeschichten. Zugänge, Probleme und Potentiale in der Erforschung mittelalterlicher Wissenskulturen: Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne (hg. von Martin Kintzinger / Sita Steckel; Basel: Schwabe, 2015) 9–58. Von Moos, Peter, Krise und Kritik der Institutionalität. Die mittelalterliche Kirche als „Anstalt“ und „Himmelreich auf Erden“: Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart (hg. von Gert Melville; Köln u. a.: Böhlau, 2001) 293–340. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (Tübingen: Mohr, 51972). Zur Nieden, Andrea, Der Alltag der Mönche. Studien zum Klosterplan von St. Gallen (Hamburg: Diplomica-Verlag, 2008).
Nachwort Ilinca Tanaseanu-Döbler / Peter Gemeinhardt Die Schlaglichter auf verschiedene Fallbeispiele von Institutionalisierungen religiöser Bildung im vormodernen Mittelmeerraum, die der vorliegende Band versammelt, lassen zum einen die kulturellen und religiösen Eigenarten der verschiedenen Kontexte, andererseits aber auch gemeinsame Muster und Institutionalisierungsmechanismen erkennen. Diesen sollen die folgenden Reflexionen auf der Grundlage der Beiträge gewidmet sein. Ausgehen möchten wir dabei von den zwei Facetten der Institutionalisierung, welche Gert Melville in seinem Beitrag festhält: einerseits das pragmatische, konkrete „Instrumentarium“, andererseits eine symbolische Repräsentation und Affirmation von objektiver Bedeutung und Dauerhaftigkeit, welche die erste Ebene legitimiert (S. 280 f.). Beide Aspekte lassen sich, mit wechselnden Schwerpunkten, in den hier versammelten Beiträgen greifen. Einerseits gehen diese auf verschiedene Lehr‑ und Lernkontexte mit Schülern, Lehrern, Infrastruktur, Büchern, mitunter auch Gehältern und sogar weitergehender ökonomischer Absicherung ein und verankern so die untersuchten Fallbeispiele religiöser Bildung im konkreten Alltag der Antike und des Mittelalters. Andererseits werden, mit dem Konkreten verflochten, verschiedene Muster symbolischer Konstruktion von Geltung vorgestellt. Dazu gehört zunächst einmal der Umgang mit (religiöser) Bildung, Lehren und Lernen in den zeitgenössischen Diskursen und ihre rhetorische Stilisierung und Wertung, sodann die symbolische Darstellung der Grundrollen im Bildungsprozess, die Zeichnung von idealen Schüler‑ oder Lehrerbildern, von idealen Bildungsorten und Bildungsformen, schließlich auch die Konstruktion von Kontinuität durch verschiedene Mittel wie Exegese, Traditionsketten oder „Eigengeschichten“ (Karl-Siegbert Rehberg, s. o. S. 107 und 123). Blicken wir zunächst auf die praktisch-konkrete Seite der untersuchten Beispiele. Diese bieten eine Fülle historischer Konkretionen von Bildungsinteraktionen: informelle Kontexte wie die Familie oder kleinformatige Lehrer-Schüler-Konstellationen bzw. kleine Kreise, die sich um einen Lehrer gruppieren, christliche und pagane philosophische Schulen, die regional in ihrer organisationsmäßigen Ausgestaltung variierende christliche Grundunterweisung im Katechumenat gleichsam als Spielart antiker religiöser „Erwachsenenbildung“, die stärker institutionalisierte athenische Philosophenschule, das „Haus der Weis-
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heit“ als – wenn auch kurzlebiges – institutionelles Großprojekt, die islamische Madrasa als Typus islamischer Bildungseinrichtung mit Curriculum und Lehrbetrieb, finanzieller Absicherung durch Stiftungen und einer bemerkenswerten Professionalisierung des Lehrpersonals, aber auch geschlossene Gemeinschaften mit hohem Organisationsgrad, in denen religiöse Bildung und religiöses Leben eine untrennbare, ihre Identität bestimmende Symbiose eingehen, wie etwa die von Reinhard Kratz beschriebene Gemeinschaft in Qumran oder christliche monastische Kreise, die bei Dmitrij Bumazhnov und Gert Melville in den Blick kommen. Allen diesen Verfestigungsformen religiöser Bildung liegt die Konstellation Lehrer-Schüler einerseits als sozialer Minimalkern, andererseits aber auch als empfundener Wesenskern zugrunde. Die betrachteten Fälle gehen davon aus, dass Bildung – in den meisten hier behandelten Fällen religiöse Bildung – sich in der konkreten lebendigen Interaktion von Personen vollzieht, deren eine die Autorität innehat, Bildung weiterzugeben, während die andere solche Bildung empfängt, sich praktisch und geistig aneignet und sie dann möglicherweise ihrerseits weiter tradiert. Die Konstellationen können dabei verschieden sein: Akteure sind Eltern oder Großeltern, welche den Kindern im antiken Griechenland oder im frühen Christentum religiöses Wissen vermitteln, christliche Philosophen in der Interaktion mit ihren Schülern, wie wir sie beispielhaft anhand von Justin und Origenes beobachten können, oder Rabbinen, die ihre Lehrtätigkeit in ihrem Schülerkreis überall ausüben können und programmatisch von der Pervasivität idealer Bildung, die das gesamte Leben durchdringt und prägt, und damit von der Irrelevanz einer konkreten Infrastruktur ausgehen. Beschrieben wurden aber auch islamische Gelehrte in informellen Zirkeln in ihren Privathäusern oder in der Moschee, Philosophieprofessoren mit ihrem Kreis von Meisterschülern und öffentlichen Vorträgen für ein breiteres Publikum oder spezialisierte und aus Stiftungseinkünften bezahlte Professoren in islamischen Einrichtungen wie dem fatimidischen „Haus der Weisheit“ oder der Madrasa. Selbst in den Fällen, wo ein vergleichsweise hoher Organisations‑ und Professionalisierungsgrad vorliegt, bleibt der Lehrer in diesem institutionellen Gefüge als Figur zentral: Es geht in den beleuchteten Beispielen weniger darum, wo man studiert hat, als vielmehr bei wem. „Starlehrer“ mobilisieren Studenten aus entfernteren Regionen und führen so zur Entstehung von überregionalen Gelehrtennetzwerken – dies zeigt insbesondere der Beitrag von Sebastian Günther für die islamische Welt im 11.–14. Jahrhundert eindrucksvoll; ähnliches ließe sich auch zu den rabbinischen Kreisen oder zur paganen wie christlichen Philosophie und Rhetorik der Kaiserzeit feststellen. Diese konkrete Bedeutung der Lehrerfigur als autorisierter Quelle der Bildung und somit als eines institutionellen Kristallisationspunktes, um den sich Schüler in unterschiedlichen Formen von Infrastruktur gruppieren, schlägt sich in entsprechenden symbolischen Repräsentationen nieder, auf die später noch einzugehen sein wird.
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Nicht nur der Idee nach (davon weiter unten), sondern auch im Blick auf die Praxis notieren viele Beiträge, dass die Bindung der Schüler (‑kreise) an die Lehrer häufig mehr als nur einen Transfer von Wissen und Kompetenzen beinhaltet, sondern eine weitergehende Lebensgemeinschaft mit dem Lehrer impliziert, die in gewisser Hinsicht mit dem in der Familie als Locus der ersten religiösen Sozialisation analysierten Ineinanderfallen der Eltern‑ und Vermittler‑ bzw. Lehrerrolle korreliert und diese Situation auf einer höheren Ebene transponiert und fortschreibt. Diese Bindung prägt die Darstellungen rabbinischer Schülerkreise (Elisabetta Abate, Susanne Talabardon); sie entspricht dem pervasiven Bildungsideal, welches das ganze Leben in das Zeichen des Torastudiums stellt. Für den Schülerkreis Justins, aber auch für denjenigen des Origenes in Alexandrien, wie ihn Eusebios im 6. Buch seiner Kirchengeschichte darstellt, setzt sich diese Bindung bis zum Martyrium fort, welches entweder Lehrer und Schüler gemeinsam erleiden (Justin) oder einzelne Schüler, die der Lehrer aber bis zum Schluss begleitet (Origenes); für den vergleichsweise ruhigen Alltag in Caesarea gestattet Gregors Dankrede einen Einblick in die Gemeinschaft mit dem Lehrer. Diese christlichen Modelle von Bildungs‑ und Lebensgemeinschaft knüpfen an die pagane Konstellation eines Philosophen in seinem engeren Kreis einiger weniger vertrauter Schüler an, die bis in die Spätantike die bestimmende Sozialform der Philosophie bleibt. Eine besondere Ausprägung der Lebensgemeinschaft zwischen Meister und Schülern lässt sich in den untersuchten Spielarten geschlossener intensivreligiöser Gemeinschaften finden, von Qumran bis hin zu den syrischen und westlich-mittelalterlichen Formen des Mönchtums. In den Aufsätzen des vorliegenden Bandes kommt diese ideale Lebensgemeinschaft mit dem Lehrer insbesondere in Beiträgen aus antiken und jüdisch-christlichen Kontexten zur Sprache, welche höhere Bildungsformen und elitäre Bildungsgemeinschaften mit entsprechenden Bildungsidealen thematisieren – wie diese in der Praxis mit anderen Formen niederschwelligerer, breiterer und schwächer existentiell aufgeladenen Bildungsvermittlung verflochten sind und wie sich das in anderen religiösen Traditionen darstellt, wäre ein lohnendes Feld für weitergehende Forschungen. Neben weniger formalisierten Ausprägungen der Lehrer-Schüler-Beziehung werden stärker organisierte Formen institutioneller Infrastruktur vorgestellt, insbesondere im Bereich der islamischen Bildungseinrichtungen: Zumeist handelt es sich um private Initiativen, Bildungseinrichtungen mit eigenen Gebäuden, Bibliotheken, Sachmitteln und Personal auszustatten, die dann ein breites Curriculum unterhalten. Durch Stiftungen wird die Finanzierung der Einrichtungen gesichert, was zumindest idealiter eine unabhängige materielle Grundlage ermöglicht. Für die anderen behandelten Kontexte scheint diese Dimension nur am Rande auf, wenn der Ausblick auf die rabbinischen Akademien der Geonim eröffnet wird, auf die ostsyrische Schulbewegung verwiesen wird oder der Aufbau größerer Einrichtungen mittels privater Spenden und Schenkungen in den
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Blick kommt (Origenes). Die infrastrukturelle und ökonomische Einbettung von Bildung müsste in weiteren Arbeiten noch vertieft werden; für die Frage des Bandes nach Spielarten und Bedeutung von Institutionalisierungen religiöser Bildung ist aber schon jetzt wichtig zu notieren, dass die beschriebenen konkreten Einrichtungen trotz der Versuche, sie materiell abzusichern und zu professionalisieren, letztlich nur solange Bestand haben, wie sie in ihrem soziokulturellen Kontext Geltung und Plausibilität beanspruchen können – besonders deutlich wird das an Heinz Halms Darstellung des „Hauses der Weisheit“ in Kairo. Neben dem Bezug auf den Lehrer zeichnen sich die verschiedenen untersuchten Institutionen durch gemeinsame epistemische Praktiken (im Sinne Wolfgang Detels, s. o. S. 119) und Bildungsformate aus, die ihre Kohäsion ermöglichen und durch Zuspitzung oder Umakzentuierung Identität schaffen. Ansätze zur Herausbildung von Curricula, von Schemata notwendiger und in einer bestimmten Ordnung zu vermittelnder Bildungsinhalte, werden in verschiedenen Beiträgen hervorgehoben, etwa für die Dankesrede Gregors des Wundertäters in einem christlichen Kontext (Balbina Bäbler, Tobias Georges), im Rahmen der neuplatonischen Schule (Ilinca Tanaseanu-Döbler), aber auch im rabbinischen Judentum (Susanne Talabardon) oder im Bereich der Madrasas (Sebastian Günther). Deutlich wird erkennbar, dass in Kontexten, in denen religiöse Praxis auf autoritative oder gar als ‚heilig‘ angesehene Schriften bezogen ist, die Vermittlung solcher Texte eine zentrale Rolle im Curriculum spielt und dass in diesem Zusammenhang Praktiken der Exegese zu einem komplexen festgelegten Instrumentarium entwickelt werden können – ob im Islam, im Judentum und Christentum oder in paganen Philosophenschulen. Die Disputation, auf die Sebastian Günther verweist, wäre ein weiteres Format, welches sich sowohl in der paganen und jüdisch-christlichen Antike wie im klassischen Islam finden lässt. Dmitrij Bumazhnov zeichnet für Isaak von Ninive und seinen Schülerkreis freilich ein anderes Bild: Hier wird durch kontrollierte eigene Lektüre und steter asketischer Selbstformung danach getrachtet, göttliche Erleuchtung zu erlangen, weshalb der Protagonist pointiert gerade von Diskussionen und Streitgesprächen Abstand nimmt. Die von Reinhard Kratz beschriebene theologische Überfärbung und Zuspitzung altorientalischer Genres und Wissensbestände in den biblischen Schriften können ebenfalls als Ausdruck einer gemeinsamen epistemischen Praktik gedeutet werden. Im Kontext des Katechumenats bilden sich regional unterschiedliche Lehrformate, z. B. katechetische Vorträge, aus, insbesondere für die letzte Phase, welche die unmittelbare Vorbereitung auf die Taufe in der Fastenzeit und mitunter auch die ‚Nachbereitung‘ in der ersten Osterwoche einschließt; darüber hinaus könnte man die Entwicklung von standardisierten argumentativen Anleitungen und inhaltlichen Überblicken im 4. / 5. Jh. – wie die von Peter Gemeinhardt vorgestellte Schrift Augustins De catechizandis rudibus oder die Oratio catechetica Gregors von Nyssa – ebenfalls als Element einer Institutionalisierung der christlichen Taufunterweisung lesen. Während in Fall
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des Katechumenats die konkreten Bildungsformate eher aus den pragmatischen Bedürfnissen der kirchlichen Taufunterweisung zu entspringen scheinen, weisen Susanne Talabardon und Sebastian Günther mit ihren Fallbeispielen darauf hin, dass veränderte bzw. neu aufkommende Bildungsformate und ‑ideale durchaus auch als Triebkräfte zur Etablierung neuer, ihnen entsprechender Institutionen wirken können; ähnlich könnte der Befund von Reinhard Kratz dahingehend gelesen werden, dass in fundamentalistischen hebräisch-jüdischen Gemeinden wie Qumran die zunächst nur als Textwirklichkeit entstandenen theologisch zugespitzten Bildungskonzepte und -ideale biblischer Schriften in die Praxis einer konkreten Gemeinde inklusive ihrer Organisationsform und ihrer Bildungsvorgänge umgesetzt wurde. Mit den Bildungsidealen betreten wir den Bereich der symbolischen Repräsentation und der Institutionalisierungsmechanismen, welche durch die Artikulation von „Leitideen und Werteordnungen“ (Gert Melville, S. 281) die Praxis prägen und legitimieren. Dieser Bereich lässt sich insbesondere dort greifen, wo es um höhere Formen von Bildung geht, bzw. um Gemeinschaften, die explizit nach Bildung streben – in rabbinischen Kreisen, elitären christlichen Intellektuellengruppen, monastischen Gemeinschaften, paganen Philosophenschulen oder höheren islamischen Bildungseinrichtungen. Die meisten Beispiele konzentrieren sich auf solche herausgehobenen Formen religiöser Bildung, die in der Regel Erwachsene als Zielpublikum haben. Aber auch für andere Kontexte wie etwa der religiösen Sozialisierung in der Familie können unter bestimmten Bedingungen Bildungsideale explizit artikuliert und eingefordert werden, wie es utopisch in Platons Staat oder als Versuch, die tatsächliche Praxis zu prägen, bei Johannes Chrysostomos oder Hieronymus konstatiert werden kann. Wie der Beitrag von Irene Salvo und Maria Munkholt Christensen zeigt, geschehen solche expliziten Artikulationen dann, wenn es nicht um selbstverständliche Alltagspraxis geht, sondern wenn ein ‚Mehr‘ eingefordert wird, wenn etwa in der Familie religiöse Bildung über das hergebrachte Erfahrungslernen bzw. ‚learning by doing‘ hinaus zum Thema wird. Aus den Beiträgen dieses Bandes, die naturgemäß ihr Augenmerk auf besonders markante Fallbeispiele religiöser Bildung richten, lässt sich eine breite Palette von rhetorischen Überhöhungen der Bildung im allgemeinen wie der religiösen Bildung im besonderen festhalten. Vorstellungen vom Lernen als einem lebenslangen Unterfangen, welches existentielle Auswirkungen auf die gesamte Person hat, werden von den Autoren immer wieder notiert, ob für die pagane Philosophie oder für christliche, jüdische oder islamische Bildungskontexte. Diese existentielle Bedeutung des Lernens und der Bildung kann auch religiös pointiert werden: So beschreibt Susanne Talabardon die rabbinische Äquivalenz von Lernen und Gottesdienst, welche eine Bewältigung des Verlustes des Tempels und damit essentieller ritueller Kommunikation mit Gott ermöglicht. Eine ähnliche Konstellation ließe sich in der paganen Philosophie
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greifen, wo aufgrund eingeschränkter kultischer Spielräume u. a. die schon vorher vorhandene Stilisierung der Philosophie als Mysterium bzw. des Lehrers als Mystenführers und als eines regelrechten Kultersatzes (Proklos, Parmenideskommentar 1,618 Cousin) konstatiert wird. Aber auch außerhalb solcher Bedrohungssituationen kann der Erwerb religiöser Bildung als religiöse Tätigkeit und Pflicht gezeichnet werden, ob im Islam, wie Sebastian Günther darlegt, bei Origenes, der den Lernprozess in die Ewigkeit ausdehnt, wie Peter Gemeinhardt im einleitenden Beitrag herausstellt, oder in mittelalterlichen Kontexten, welche Bildung allgemein als remedium der Seele beschreiben, wie es Gert Melville herausarbeitet. Wie Melville zeigt, wird hier die Bildung insgesamt aus einer religiösen Perspektive betrachtet und hierarchisiert; scientia soll zur sapientia hinführen. Ähnliche Skalen von Bildung, die speziell religiöse Aspekte als Höhepunkt eines längeren Weges darstellen, lassen sich auch in anderen Kontexten finden, etwa bei Origenes, der nach Ausweis der im Band mehrfach erwähnten Dankesrede Gregors die Exegese und die Frömmigkeit als Gipfel eines langen Prozesses des Lernens und der Selbstformung mit theoretischen und praktischen Dimensionen auffasst, oder aber in paganen platonischen Kreisen, welche die Theologie an die Spitze stellen, ob in explizit entfalteten Modellen oder durch die Auswahl und Anordnung der Dialoge für das Platon-Curriculum, welches von der Selbsterkenntnis im Alcibiades maior bis zur Theologie im Parmenides führt. Noch weiter als solche Hierarchisierungen geht die Theologisierung bzw. Religionisierung tradierter Bildungsformate und Wissensbestände, wie sie Reinhard Kratz für die Entwicklung biblischer Bildungskonzepte aus der altorientalischen Schreiberschule beschreibt. Die bisher skizzierten expliziten Überhöhungen existentiell gefasster Bildungsvorgänge entstammen sämtlich Kontexten, in denen religiöse Bildung, ob für eine Elite oder für breitere Schichten, explizit diskutiert und ausgehandelt wird. Dass dies nicht überall der Fall ist, zeigt das Material aus dem klassischen Griechenland. Explizite Diskussion religiöser Aspekte als Teil eines Bildungskanons lässt sich dort insbesondere im Kontext der Philosophie greifen. Ansonsten lässt sich eine Verflechtung verschiedener flexibler Kommunikations‑ und Vermittlungsformen religiös bezogenen Wissens finden, von der praktischen Einübung ritueller Kompetenzen bis hin zur Vermittlung mythischer Stoffe und Wissens über die Götter etwa durch Literatur oder in symposialen Kontexten, wie Irene Salvo es beschreibt. Tanja Scheer analysiert dementsprechend das delphische Orakel unter Distanzierung von früheren Theorien, die es als eine panhellenisch wirksame theologische Institution interpretierten, als Fokalpunkt von Praktiken, die auf die richtige Kommunikation mit Apollon als Garant göttlichen Wissens ausgerichtet sind. Dieses Wissen ist grundsätzlich praktisch und situationsbezogen; auch wenn es um religiöse Belange geht, stehen konkrete Handlungsoptionen im Vordergrund. Religiöses und Alltagsleben sind zwar auch hier eng verwoben, und Konzepte wie das Fromme (τὸ ὅσιον) regeln genau diese Ver-
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flechtung, indem allgemein Handlungen, Haltungen etc. als grundsätzlich gottgefällig oder nicht markiert werden. Jedoch ist diese Verflechtung gewöhnlich nicht Gegenstand expliziter Reflexion, wie es der platonische Euthyphron zeigt, der Sokrates’ Gespräch mit dem selbsternannten religiösen Spezialisten in der Aporie enden lässt. Die Inszenierung von Bildung im allgemeinen und religiöser Bildung im besonderen als erstrebenswertes, womöglich erst im Jenseits erreichbares Gut gehört zu den „Werteordnungen“ (Gert Melville), welche die konkreten der Bildung dienenden Einrichtungen sowie die in unterschiedlichen Maßen institutionalisierten Konstellationen von Bildungsprozessen legitimieren, treiben und tragen. Entsprechend der auf den Lehrer als Kernfigur zentrierten Auffassung von Bildung, welche in den verschiedenen Beiträgen greifbar wurde, lässt sich als ein weiteres Element solcher Werteordnungen wiederholt in den Fallbeispielen die Überhöhung und Stilisierung des Lehrers festhalten. Die hymnische Dankesrede Gregors des Wundertäters malt Origenes in den leuchtendsten Farben, ganz parallel zu den schier übermenschlichen Figuren, welche die Ahnengalerien der philosophischen Biographien der Spätantike bevölkern. Die überragende Autorität des Lehrers im rabbinischen Judentum wird von Elisabetta Abate wie von Susanne Talabardon gleichermaßen hervorgehoben. Die höchstgradige Überhöhung der Lehrerrolle, die zugleich, im Sinne der von Gert Melville beobachteten Selbsttranszendenz der Institution Kirche, den menschlich-institutionellen Rahmen sprengt, ist die von Peter Gemeinhardt notierte Vorstellung, dass Gott als Lehrer und Erleuchter im Prozess der Vermittlung religiöser Bildung wirkt. Je nachdem, wie die göttliche Pädagogik mit menschlichen Lehrern verbunden wird, kann das institutionstranszendente Moment im Vordergrund stehen (wie bei Antonios) oder aber, durch die Verquickung göttlicher mit menschlicher Handlungsmacht, die Position und Autorität der Lehrer – etwa der Bischöfe – unterstrichen werden. Eine ähnliche Konstellation lässt sich (wie Ilinca Tanaseanu-Döbler zeigt) in den neuplatonischen Sukzessionsketten feststellen, welche die Götter jedoch seltener als Lehrer (siehe freilich Hierokles zu Ammonios) und häufiger als Erleuchter und Urheber des wahren Wissens zeichnen, welches die menschlichen Lehrer vermitteln. Neben dem Aufbau von Autorität könnten solche Darstellungen auch die beobachtete Fragilität der Schülerkreise auffangen bzw. ein Versuch sein, ihr entgegenzuwirken, indem jenseits der kontingenten Situation die überzeitliche, im Göttlichen verankerte Bedeutung der jeweiligen Lehr-Lern-Konstellation betont wird. Eine ähnliche Funktion haben die vielfach konstatierten Traditionsketten, welche auf ihre Weise eine Kontinuität der Autorität und der Bildungsinhalte konstruieren und inszenieren; sie sind eine besondere Spielart der symbolischen „Eigengeschichten“ (Biographien, Märtyrerakten und Kirchengeschichten), welche ebenfalls narrativ die eigene Lehr‑ und Lerntradition verobjektivieren und in ein überzeitliches Licht stellen, als eine gegebene Größe mit einer Geschichte.
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Die Beiträge legen überwiegend nahe, dass die religiöse Überhöhung der Lehrerfigur und der „Eigengeschichte“ mit der Intensität der religiösen Färbung bzw. Zuspitzung der verhandelten Bildung korreliert. Dass diese nicht selbstverständlich ist, zeigt Peter von Möllendorff eindrücklich am Beispiel Lukians, welcher für eine andere Relationierung von Bildung und Religion steht: Bildung ist die Grundlage, von der aus der Einzelne religiöse und philosophische Ansprüche, eben auch solche, die eine Lehre höheren, göttlichen Ursprungs zu vermitteln behaupten, prüfen und kritisieren kann. Lukians literarische alter ego hinterfragen scheinbare Plausibilitäten und Geltungsbehauptungen, richten den Blick aufs Kontingente und Allzumenschliche und zeigen so u. a. auch die Schwachpunkte von Institutionalisierungsbestrebungen auf, sei es am Beispiel des Glykon-Kultes oder des Philosophiebetriebs der Kaiserzeit. Wie die Vorlesungsreihe, aus der die vorliegende Publikation hervorgegangen ist, bewusst exemplarisch angelegt war, so bietet auch dieser Band selbst nicht mehr, aber auch nicht weniger als ausgewählte Tiefenbohrungen, verknüpft mit Streiflichtern auf die Kontexte, in denen Institutionen religiöser Bildung in ihrer Vielgestaltigkeit zu beobachten sind. Der Band soll damit, wie bereits im Vorwort erwähnt, das Gespräch nicht beenden, sondern vielmehr in Gang bringen. Die thematisierten Konstellationen von Bildung und Religion wären zunächst in ihrer Spezifik weiter auszuleuchten, dann aber auch auf mögliche Genealogien hin zu befragen und – parallel oder alternativ dazu – als Typen zu beschreiben; denn die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen deutlich, dass bei aller Vielfalt doch auch bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen Institutionen, Personen, Curricula und Praktiken festzustellen sind, in poly‑ und monotheistischen Religionskulturen, in Judentum, Christentum und Islam. Inwieweit solche Theorien und Praktiken religiöser Bildung auch über Antike und Mittelalter hinaus einflussreich waren – was an der Pädagogik Platons ebenso zu zeigen wäre wie an der Augustins – ist nicht mehr Thema des vorliegenden Bandes, jedoch ein Horizont, in dem Untersuchungen zu historischen Konstellationen von Bildung und Religion Bedeutung auch für gegenwärtige Diskurse gewinnen können.
Die Autorinnen und Autoren Elisabetta Abate: Studium der Orientalistik und Judaistik an den Universitäten Venedig, Granada und Wien. 2009 Promotion an der Universität Venedig. 2010–2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Courant-Forschungszentrum EDRIS („Bildung und Religion von der frühen römischen Kaiserzeit bis zur klassischen Epoche des Islam“) an der Universität Göttingen. 2015–2017 ebendort Wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 1136 „Bildung und Religion“. Neuere Veröffentlichungen: Sabbath in the Netherworld: Reading the Way to the Netherworld: Education and the Representations of the Beyond in Later Antiquity (hg. von Ilinca Tanaseanu-Döbler / Anna Lefteratou / Gabriela Ryser / Konstantinos Stamatopoulos; Beiträge zur Europäischen Religionsgeschichte 4; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017) 489–507; ‚Il vostro cuore non venga meno‘ (Deut 20:3): La paura della battaglia secondo mSot 8: ‘Let the Wise Listen and Add to Their Learning’ (Prov 1:5): Festschrift for Günter Stemberger on the Occasion of his 75th Birthday (hg. von Constanza Cordoni / Gerhard Langer; Studia Judaica 90; Berlin / Boston: de Gruyter, 2016) 291–305. Balbina Bäbler: Studium der Klassischen Archäologie, Griechischen und Lateinischen Philologie an den Universitäten Bern und München. 1997 Promotion in Klassischer Archäologie an der Universität Bern. Seit 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen. Neuere Publikationen: Archäologie und Chronologie (2. Aufl. Darmstadt: WBG, 2012); zusammen mit Heinz-Günther Nesselrath: Philostrats Apollonios und seine Welt. Griechische und Nichtgriechische Kunst und Religion in der ‚Vita Apollonii‘ (Beiträge zur Altertumskunde 354; Berlin / Boston: de Gruyter, 2016); Die Passion zum Studio der Griechen. Winckelmann als Philologe (Heidelberg: Winter, 2017). Dmitrij F. Bumazhnov: Studium der Klassischen Philologie an der Universität St. Petersburg und der Sprachen und Kulturen des Christlichen Orients an der Universität Tübingen. 2001 Promotion zum Dr. phil., 2008 Habilitation für das Fach Christlicher Orient an der Universität Tübingen. Seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Courant-Forschungszentrum „Bildung und Religion“ (EDRIS) an der Universität Göttingen. Seit 2015 Leiter des Teilprojekts B 04 im SFB 1136 „Bildung und Religion“ ebendort. Neuere Veröffentlichung: (als Gast-
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herausgeber) Bildung und Religion in Syrien = Themenheft der Zeitschrift für antikes Christentum 19 (2015), Heft 1. Peter Gemeinhardt: Studium der Evangelischen Theologie an den Universitäten Marburg und Göttingen. 2001 Promotion zum Dr. theol. an der Universität Marburg. 2006 Habilitation an der Universität Jena. Seit 2007 Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen; seit 2015 Sprecher des SFB 1136 „Bildung und Religion“. Neuere Veröffentlichungen: Die Kirche und ihre Heiligen. Studien zu Ekklesiologie und Hagiographie in der Spätantike (Studien und Texte zu Antike und Christentum 90; Tübingen: Mohr Siebeck, 2014); Education and Religion in Late Antique Christianity. Reflections, Social Contexts, and Genres (Hg., mit Peter Van Nuffelen und Lieve Van Hoof; London / New York: Routledge, 2016); Was ist Kirche in der Spätantike? (Hg.; Leuven: Peeters, 2017); Athanasius von Alexandrien: Vita Antonii. Das Leben des Antonius (Hg. und Übers.; Fontes Christiani 69; Freiburg u. a.: Herder, 2018). Tobias Georges: Studium der evangelischen Theologie an den Universitäten München, Marburg und Erlangen. 2005 Promotion an der Universität HalleWittenberg, ebenda 2010 Habilitation. Seit 2015 Professor für Geschichte des Christentums und seiner interreligiösen Beziehungen an der Universität Göttingen und Leiter des Teilprojekts D 05 im SFB 1136 „Bildung und Religion“. Neuere Veröffentlichungen: Theologie und Bildung im Mittelalter (Hg., mit Peter Gemeinhardt; Archa Verbi. Subsidia 13; Münster: Aschendorff, 2015); Bedeutende Lehrerfiguren. Von Platon bis Hasan al-Banna (Hg., mit Jens Scheiner / Ilinca Tanaseanu-Döbler; Tübingen: Mohr Siebeck, 2015); „Summus Christianorum philosophorum“ – Origen as Christian philosopher in Peter Abelard: Origeniana undecima: Origen and Origenism in the History of Western Thought (hg. von Anders-Christian Jacobsen; Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 279; Leuven: Peeters, 2016) 431–440; Tertullien, Dieu et les Juifs: Dire Dieu. Principes méthodologiques de l’écriture sur Dieu en patristique. Actes du colloque de Tours, 17–18 avril 2015 (hg. von Bernard Pouderon / Anna Usacheva; Théologie Historique 124; Paris: Beauchesne, 2017) 113–127. Sebastian Günther: Studium der Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg; 1989 Promotion und danach wissenschaftlicher Mitarbeiter. 1998–2008 Assistant und Associate Professor of Arabic Language and Literature, University of Toronto, Kanada. Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren: Al-Azhar University in Ägypten; National University in Al Ain, Vereinigte Arabische Emirate; American University of Beirut, Libanon. Seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Arabistik und Islamwissenschaft der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: Roads to Paradise. Eschatology and Concepts of the Hereafter in Islam, 2 Bde. (Hg., mit Todd Lawson; Leiden: Brill,
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2016); Representations and Visions of Homeland in Modern Arabic Literature (Hg., mit Stephan Milich; Hildesheim: Olms, 2016); Mitherausgeber der Reihe Islamic History and Civilization (zusammen mit Hinrich Biesterfeldt und Wadad Kadi; Leiden: Brill). Heinz Halm: Studium der Islamkunde, Semitistik, Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität Bonn. Promotion zum Dr. phil. ebendort 1967. Habilitation für das Fach Islamkunde an der Universität Tübingen 1975. Professor für islamische Geschichte an der Universität Tübingen, jetzt im Ruhestand. Neuere Publikationen: Kalifen und Assassinen. Ägypten und der Vordere Orient zur Zeit der ersten Kreuzzüge (München: C. H. Beck, 2014); Die Assassinen. Geschichte eines islamischen Geheimbundes (München: C. H. Beck, 2017). Reinhard G. Kratz: Studium der Griechischen Philologie und Evangelischen Theologie in Frankfurt a. M., Heidelberg und Zürich. 1987 Promotion und 1990 Habilitation im Fach Altes Testament an der Universität Zürich; seit 1995 Professor für Altes Testament an der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: Historisches und biblisches Israel (2. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck, 2017; englische Ausgabe Oxford: Oxford University Press, 2015); Die Propheten Israels (München: C. H. Beck, 2003; erweiterte englische Ausgabe Winona Lake: Eisenbrauns, 2015); Kleine Schriften I: Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels (Forschungen zum Alten Testament 42; 2. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck, 2013); Kleine Schriften II: Prophetenstudien (Forschungen zum Alten Testament 74; Studienausgabe Tübingen: Mohr Siebeck, 2017); Kleine Schriften III: Mythos und Geschichte (Forschungen zum Alten Testament 102; Tübingen: Mohr Siebeck, 2015). Gert Melville: Studium der Geschichte, Germanistik und Rechtsgeschichte in München. 1971 Promotion und 1983 Habilitation in Mittelalterlicher Geschichte an der Universität München. Professur an der Universität Münster (1991–1994), Lehrstuhl an der Technischen Universität Dresden (1994–2010) für Mittelalterliche Geschichte. Sprecher des SFB 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ (1997–2008). Seit 2010 Seniorprofessor und Direktor der „Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte (FOVOG)“. Neuere Veröffentlichungen: Die Welt der mittelalterlichen Klöster (München: C. H. Beck, 2012; engl. Ausgabe Collegeville: Liturgical Press, 2016); Enzyklopädie des Mittelalters, 2 Bde. (2. Aufl. Darmstadt: WBG, 2013; englische Ausgabe Leiden: Brill, 2017); Frommer Eifer und methodischer Betrieb (Köln u. a.: Böhlau, 2014). Peter von Möllendorff: Studium der Klassischen Philologie und Romanistik an den Universitäten Köln, Freiburg i. Br. und München. Promotion 1995 in Klassischer Philologie an der Universität München, Habilitation 2000 eben-
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dort. Seit 2003 Professor für Klassische Philologie / Griechische Philologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Neueste Veröffentlichungen: Ein literarischer Prometheus. Lukian aus Samosata und die Zweite Sophistik, Heidelberg: Winter, 2017 (gemeinsam mit Manuel Baumbach); Dynamiken des Apokryphen. Lukians Schrift ‚Von der syrischen Göttin‘: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2016 (hg. von Christian Moser / Linda Simonis; Bielefeld: Aisthesis, 2017) 57–71; Stoics in the ocean: Iambulus’ novel as philosophical fiction: Philosophy and the Ancient Novel (hg. von Marília P. Futre Pinheiro / Silvia Montiglio; Rotterdam: Barkhuis & Groningen University Library, 2015) 19–33; „Nimm und verschling es!“ Elemente einer Poetik der Johannes-Apokalypse: Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse (hg. von Stefan Alkier / Thomas Hieke / Tobias Nicklas; Tübingen: Mohr Siebeck, 2015) 155–176. Maria Munkholt Christensen: Studium der Theologie an der Universität Aarhus. 2015 Promotion im Fach Kirchengeschichte ebendort. Seit 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: „Holy Women as Humble Teachers. An Investigation of hagiographical texts from Late Antiquity“: Teachers in Late Antique Christianity (hg. von Peter Gemeinhardt / Olga Lorgeoux / Maria Munkholt Christensen; SERAPHIM 3; Tübingen: Mohr Siebeck, 2018) 147–164; Relating through Prayer: Identity Formation in Early Christianity (Early Christianity in the Context of Antiquity; Frankfurt am Main: Peter Lang, 2018). Irene Salvo: Studium der Altertumswissenschaften an der Universität Pisa und der Scuola Normale Superiore. 2011 Promotion an der Scuola Normale Superiore di Pisa. 2009–2011 wissenschaftliche Assistentin an der Universität Oxford im ERC-Projekt „Emotions: the Greek Paradigm“. 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Scuola Normale Superiore. 2013–2015 Gerda-HenkelForschungsstipendiatin an der Royal Holloway University, London. Seit 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 1136 „Bildung und Religion“ an der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: A Note on the Ritual Norms of Purification after Homicide at Selinous and Cyrene: Dike: Rivista di storia del diritto greco ed ellenistico 15 (2012) 125–157; Sweet Revenge. Emotional Factors in ‘Prayers for Justice’: Unveiling Emotions: Sources and Methods for the Study of Emotions in the Greek World (hg. von Angelos Chaniotis; Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2012) 235–266; Owners of their Own Bodies: Women’s Magic and Reproduction in Greek Inscriptions: Women’s Ritual Competence in the Ancient Mediterranean (hg. von Matthew Dillon / Esther Eidinow / Lisa Maurizio; Farnham: Ashgate, 2016) 131–148; Emotions, Persuasion, and Gender in Greek Erotic Curses: Emotion and Persuasion in Classical Antiquity (hg. von Ed Sanders / Matthew Johncock; Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2016) 263–280.
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Tanja S. Scheer: Studium der Alten Geschichte, Klassischen Archäologie und Mittelalterlichen Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1992 Promotion, 1998 Habilitation in München. 2004–2011 Professorin für Alte Geschichte an der Universität Oldenburg; seit 2011 Professorin für Alte Geschichte an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen: Mythische Vorväter. Zur Bedeutung griechischer Heroenmythen im Selbstverständnis kleinasiatischer Städte (Münchener Arbeiten zur Alten Geschichte 7; München: Edition Maris, 1993); Die Gottheit und ihr Bild. Untersuchungen zur Funktion griechischer Kultbilder in Religion und Politik (Zetemata 106; München: C. H. Beck, 2000); Tempelprostitution im Altertum. Fakten und Fiktionen (Hg., unter Mitarbeit von Martin Lindner; Oikumene. Studien zur antiken Weltgeschichte 6; Berlin: Verlag Antike, 2009); Griechische Geschlechtergeschichte (Enzyklopädie der griechischrömischen Antike 11; München: Oldenbourg, 2011). Susanne Talabardon: Studium der Evangelischen Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1996 Promotion in Evangelischer Theologie an der HU Berlin, 2002 Habilitation für Jüdische Studien und Religionswissenschaft an der Universität Potsdam. Seit 2008 Professorin für Judaistik an der Universität Bamberg. Neuere Veröffentlichungen: Unterm Feigenbaum. Rekonstruktionen zu einem jüdisch-christlichen Thema (zusammen mit Helga Völkening; Judentum – Christentum – Islam. Interreligiöse Studien 9; Würzburg: Ergon, 2011), Die Hebräische Bibel. Eine Einführung (Berlin: Be.bra Wissenschaftsverlag, 2015); Der osteuropäische Chassidismus (UTB Jüdische Studien 4676; Tübingen: Mohr Siebeck, 2016); Vom Geist in den Buchstaben: Tora als heiligende Schrift: Sola Scriptura. Die Heilige Schrift als heiligende Schrift (hg. von Nadine Hamilton; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2017) 151–165. Ilinca Tanaseanu-Döbler: Studium der Religionswissenschaft, Biblischen Theologie und Philosophie in Bayreuth. 2005 Promotion in Religionswissenschaft an der Universität Bayreuth, 2012 Habilitation im selben Fach an der Universität Bremen. Seit 2015 Professorin für Religionswissenschaft – Schwerpunkt Europäische Religionsgeschichte an der Universität Göttingen. Neuere Veröffentlichungen: Reading the Way to the Netherworld: Education and the Representations of the Beyond in Later Antiquity (Hg., mit Anna Lefteratou / Gabriela Ryser / Konstantinos Stamatopoulos; Beiträge zur Europäischen Religionsgeschichte 4; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017); ‚Ein Lob Platons selbst wie auch derjenigen, die von ihm die Philosophie empfingen‘: Bemerkungen zur literarischen Inszenierung philosophischer Sukzession bei Proklos: Sukzession in Religionen: Autorisierung, Legitimierung, Wissenstransfer (Hg., von Markus Witte / Almut-Barbara Renger; Berlin / Boston: de Gruyter, 2017) 393–434; NeoPlatonic Readings of Embodied Divine Presence: Iamblichus and Julian: ReligioPhilosophical Discourses in the Mediterranean World: From Plato, through Jesus,
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to Late Antiquity (hg. von Anders Klostergaard Petersen / George van Kooten; Leiden / Boston: Brill, 2017) 338–374; Porphyrios und die Christen in De philosophia ex oraculis haurienda: Die Christen als Bedrohung? Text, Kontext und Wirkung von Porphyrios’ Contra Christianos (hg. von Irmgard Männlein-Robert; Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2017) 137–175.
Register 1. Antike und mittelalterliche Personen und Quellen R. Abbahu 138 Abraham von Kaschkar 205 ʿAbd al-Ġanī ibn Saʿīd 274 ʿAbd al-Qādir an-Nuʿaimī 261 Abū ʿAbdallāh Aḥmad ibn Muḥammad al‑Bāhilī, auch Ġulām Ḫalīl 258 Abū Bakr Muḥammad ibn Ǧaʿfar an-Naršaḫī 238 Abū Bakr Muḥammad ibn Zakarīyā ar-Rāzī 245 Abū Ḥāmid al-Ġazālī 251 Abū Isḥāq aš-Širāzī 251 Abū l-ʿAlāʾ al-Maʿarrī 274 Abū l-Ḥasan 275 Abū l-Ḥusain ʿAbd al-Ḥaqq 258 Abū l‑Mafātir Muḥyī ad‑ Dīn ʿAbd al‑Qādir ibn Muḥammad ʿUmar al-Nu ʿaimī aš‑Šāfiʿī 262 Abū Muslim Ibrāhīm ibn ʿAbdallah al-Kaǧǧī 245 Abū Saʿīd as-Sirāfī 266 Abū Šuǧāʿ Fātik 274 Aelred von Rievaulx 287 Aelius Aristides 87 Hieroi Logoi 86 Aidesia 114, 115 Aischylos 37, 183 Choephori 31, 182 Eumenides 30 R. Aha 138 Akakios 146 al-Afḍal 276, 277 al-Āmir 277 al-ʿAzīz 272, 273, 274 Alexander III. 283 al-Ḥākim 271, 272, 273, 274, 275, 277 al-Ḫalīl ibn Aḥmad 249
ʿAlī ibn ʿAbd al-Raḥmān ibn Aḥmad ibn ʿAbd al-Aʿlā ibn Yūnus al-Šāmī al-Miṣrī al-Ḥākimī 275 ʿAlī ibn Ǧaʿfar ibn Falāḥ al-Kutām 274 Alkibiades 115 al-Ḥākims Ober-Qāḍī Mālik ibn Saʿīd im Monat Ǧumādā 275 al-Maʾmūn al-Baṭāʾiḥī 276, 277 al-Musabbiḥ 271, 273, 274 al-Mustanṣir bi-llāh 252, 253 al-Muʾayyad fī l-Dīn al-Šīrāzī 276 al-Qāḍī al-Fāḍil 278 al-Yaʿqūbī 241 al-Ẓāhir 271, 275 Ambrosius von Mailand 143, 144, 148, 164 Ammianus Marcellinus 122 Ammonius Saccas 3 Andokides De mysteriis 27 Androtion 39, 44 Anselm von Canterbury 154, 283 Proslogion 154 Apollophanes 140 Apollonios von Tyana 104 Apuleius 88 Metamorphosen 86 Aristides 158 Aristoteles 108, 109, 118, 119, 178, 203, 210, 211 Athenaion politeia 38, 44 Fragmenta 26 Politica 38 Athanasius von Alexandrien 165, 169 De incarnatione Verbi 165 Vita Antonii 169 Athenagoras 158
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Register
Athenaios von Naukratis Deipnosophistae 25, 42, 91 Augustinus 168, 171, 180, 194, 284, 289, 292 Confessiones 8, 180, 194, 289 De catechizandis rudibus 168, 171, 302 De disciplina christiana 168 De doctrina christiana 164, 288 In epistulam Iohannis ad Parthos tractatus 180, 292 Aulus Gellius 16 Noctes Atticae 16, 96 Aydamur al-Ḥillī 271 Badr ad-Dīn ibn Ǧamāʿa 256 Badr al-Ǧamālī 276 Basilius von Caesarea 194 Homiliae in Hexaemeron 4 Benedikt von Nursia Regula Benedicti 282, 286 Bernhard von Clairvaux 282, 287, 292 Beryllos 138 Babylonischer Talmud 19, 71, 223, 225, 226 Avoda Zara 227 Bava Batra 227 Berakhot 78 Eruvin 227 Schabbat 227 Qiddushin 224, 225, 226, 227 Bonaventura 279, 282 Quaestiones disputatae de scientia Christi 289 Caligula 57 Calvenus Taurus 158 Cassian 287 Chairemon 140 Chairephon 25, 33, 42, 46 R. Chisqija Bar Jirmeja 224 Chosrau I. Anuschirwan 211 Cicero 3 De inventione 164 De divinatione 31 Clemens von Alexandrien 168 Paedagogus 168 Constutiones Apostolorum 188 Cornelius 137
Dadisho‘ Qaṭraya 202 Commentarius 211 Damaskios 110, 116, 117, 120 Vita Isidori 110, 114, 115, 116, 117, 121 David von Augsburg 293 De exterioris et interioris hominis compositione 293 De interiori domo seu De conscientia aedificanda 291 Decius 145 Demetrios 132, 133 Demosthenes 183, 192 Orationes 40, 184 Didache (Zwölf-Apostel-Lehre) 155, 159 Didascalia syriaca 180, 187, 188 Didymus von Alexandrien 165 Diodorus Siculus 31 Diokletian 138, 146 (Ps.‑) Dionysius Areopagita 214 Epistulae 215 R. Dostai 232 Epiktet 118, 158 Epiphanius von Salamis Panarion 142 Eucherius von Lyon 2 De contemptu mundi 2 Eukrates 89, 90, 91 Eunapios 108 Vitae sophistarum et philosophorum 116, 121 Euripides Alcestis 193 Ion 36, 41 Iphigenie 30 Orestes 30 Euseb von Caesarea 130, 131, 132, 141, 142, 144, 146, 147, 148, 161, 165, 301 De martyribus Palaestinae 135, 145, 146 De vita Constantini 146 Historia ecclesiastica 131, 132, 133, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 157, 160, 161, 162, 163, 165 Euzoios 146 Fāṭima al-Fihrī 246 Flavius Josephus 54, 134, 141 Antiquitates Judaicae 54, 134, 136 De bello Judaico 53, 54, 134
1. Antike und mittelalterliche Personen und Quellen
Felix 136 Festus 136 Franziskus von Assisi 291 Ǧaʿfar Ibn al-Furāt 266 Gerontius Sanctae Melaniae iunioris vita 144 Girardus de Avernia Exhortatiunculae ad Cluniacensis ordinis professors 287 Gregor Thaumaturgus 3, 302, 305 Panegyricus in Origenem 1, 3, 4, 130, 139, 140, 161 Hadrian 136 Ḥamīd al-Qaṣṣar al-Aṭfīḥī 277 Ḥamīd b.Makkī 276 Hera von Argos 134 Heraklas 132, 133 Herakles 95 Herais 132 Hermeias 114, 115, 120 Herodes 134, 135, 136, 138, 148 Herodot 28, 33, 36, 37, 39, 40, 41, 42, 44, 45, 46, 104 Hesiod 28, 29 Theogonia 28 Opera et Dies 28, 29 Hierokles von Alexandria 108, 109, 110, 114, 120, 305 Hieronymus 180, 187, 188, 303 Adversus Rufinum 145 Commentarius in Epistolam ad Titum 142 De viris illustribus 141, 145 Epistulae 146, 188 Vita Hilarionis 194, 195 Historia monachorum in Aegypto 169 Homer 29, 112, 182, 186 Hymnus in Apollinem 30, 32, 36 Hymnus in Mercurium 42, 43 Ilias 28, 29, 185 Odyssea 29, 182 Honorius Augustodunensis 284 De anima exsilio et patria 284 R. Hoshaya 142 Hypatia 114, 115, 117
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Ibn ʿAbd al-Ḥaqīq 277 Ibn al-Ṭuwair 272, 278 Ibn Baṭṭūṭa 250, 252 Ibn Ǧamāʿa 256, 257, 261 Ibn Ǧubair 261 Ibn Killīs 246, 272, 274 Ibn al-Maʾmūn al-Baṭāʾiḥī 276 Ibn al-Nadīm 246 Ibn ʿAbd al-Ẓāhir 276, 277, 278 Ibn as-Sunnī 242, 244, 245 Riyāḍat al-mutaʿallimīn 242, 243, 245 Irenaeus von Lyon 157 Adversus haereses 157, 159 Isaak von Ninive 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 216, 302 Isaeus 184, 185 Panathenea 184 Ischoʿyahb III. 203 Isidor (Neuplatoniker) 110, 116, 117 Isidor von Sevilla 140 Išoʿdnaḥ von Basra 204 Liber castitatis 204 Jamblich 109, 113, 114, 116, 120, 121, 122 De mysteriis 36, 120, 121 De vita pythagorica 113, 114, 117, 118 R. Jannai 232 R. Jehoschua ben Levi 226 R. Jehuda II. 141 Jerusalemer Talmud Qiddushin 224, 225, 226, 227 Jesus Christus / Jesus von Nazareth 89, 93, 94, 95, 96, 98, 153, 168, 170, 171 R. Jochanan 78, 224, 225, 227, 232 Johannes Chrysostomus 164, 166, 167, 180, 181, 187, 188, 190 De inani gloriae et de educandis liberis 187, 188, 189, 190 Homiliae in Genesim 166, 167 Homiliae in Johannem 167 Homiliae in Matthaeum 166, 167 In illud: vidua eligatur 181 Johannes von Dalyatha 202 Joseph Ḥazzaya 202 Julian 115, 120, 122 Contra Heraclium Cynicum 111, 115 Misopogon 122
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Register
Justin 6, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 170, 171, 300, 301 1 Apologia 159, 171 2 Apologia 158, 170 Dialogus cum Tryphone 157, 159 Justinian 129 Kleopatra 133 Konstantin 105, 146, 148, 163 Kornutus 140 Kronius 140 Kyriakos 129, 130 Kyrill von Jerusalem 164, 165, 167, 170 Catecheses baptismales 167 Procatechesis 165 Kyrill von Skythopolis Vita Cyriaci 129 Longinus 140 Lukian von Samosata 85, 87, 88, 89, 92, 93, 94, 96, 97, 99, 306 Adversus indoctum 89 Alexander sive Pseudomantis 89, 92 Apologia 87 Bis accusatus 87 De mercede Conductis 87 De morte Peregrini 89, 94, 95, 96, 97, 98 Eunuchus 89 Hermotimus 88, 89, 97, 98 Philopseudes 89, 90, 91, 93 Piscator 89 Rhetorum Praeceptor 88, 89 Symposium 89 Luther, Martin 130, 294 Lydia 180 Marc(us) Anton(ius) 133 Marc Aurel 89 Marinus 101, 102, 103, 104, 112, 113, 115, 116, 117, 121 Vita Procli 101, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 118, 119, 121 Marius Victorinus 7, 8, 10, 12, 18 Markella 132 Marsilio Ficino 130 Martyrium Iustini 158
Meditationes piissimae de cognitione humanae conditions 290, 291 R. Me’ir 225, 227, 232 Meister Eckhart 294 Mekhilta de R. Jishma’el 69 Traktat Amalek 76, 78, 80 Mekhilta Wajjassa 227 Melania 144 Midrasch 73, 74, 223, 225, 227, 228 Wajiqra Rabba 225, 226 Minucius Felix Octavius 154 Mischna 73, 75, 79, 223, 225, 226, 227, 228, 229, 232, 233 Avoda Zara 74 Avot 78, 224, 227, 231, 232, 233 Berakhot 79, 80 Tamid 228 Moderatus 140 Muʾaiyad ad-Dīn ibn ʿAqamī 252 Muḥammad al-Fihrī 246 Muḥammad ibn Idrīs aš-Šāfiʿī 240 Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Buḫārī 244 Muḫtār 273 Musonius Rufus 158 Nero 137 Nikomachus 140 Nūḥ ibn Naṣr 238 Numenios von Apameia 104, 107 De bono 104 Niẓām al-Mulk 250, 251, 262 Octavian 134 Origenes 1, 2, 3, 4, 5, 19, 20, 105, 108, 109, 110, 118, 129, 130, 131, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 156, 160, 161, 162, 163, 165, 167, 170, 171, 180, 300, 301, 302, 304, 305 Contra Celsum 138, 154, 161 De principiis 2, 160 Homiliae in Leviticum 140 In Cantica Canticorum Homiliae 180 Selecta in Psalmos 141
1. Antike und mittelalterliche Personen und Quellen
Pamphilos 130, 145, 146 Pantaenus 162 Paul der Perser 211, 212 De opere logico 213 Paulus 8, 136, 137, 147, 154, 159, 181, 210, 282 Pausanias 30, 31, 34, 36 Pescennius Niger 136, Petrus Cellensis 286, 287 De disciplina claustrali 286, 287 Philipp von Side 165 Philippus 137 Philon von Alexandrien 54, 57, 60 Philochorus 39, 44 Platon 3, 25, 101, 102, 103, 104, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 116, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 129, 191, 192, 306 Apologia Socratis 25, 37, 42, 47 Charmides 26 Euthyphron 102, 305 Nomoi 102, 119 Parmenides 118, 119 Phaidros 37, 102, 111, 120 Politeia 102, 112, 119, 186, 191, 192 Protagoras 26 Timaios 102, 118 Plotin 2, 3, 6, 105, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 117, 118, 132 Plutarch 31, 34, 36, 38, 42, 108, 109, 110, 111, 117, 121 Adversus Colotem 25, 42, 44 De defectu oraculorum 31, 33, 34, 35, 37, 42, 43, 46 De E apud Delphos 32, 34, 36, 43 De fraterno amore 38 De Pythiae Oraculis 26, 30, 31, 33, 34, 36, 37, 38, 40, 41, 42, 43, 44 Pericles 34 Quaestiones convivales 111 Quaestiones graecae 34, 36, 37 Pollux Onomasticon 36 Polykarp von Smyrna Epistula ad Philippenses 180 Pompeius 133 Pontius Pilatus 136
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Potamiaina 132 Porphyrios 105, 108, 109, 111, 112, 113, 115, 117, 119, 120, 121, 140 Philologos akroasis 111 Vita Plotini 2, 105, 109, 112, 113, 114, 115, 116 Proklos 101, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 120, 121, 304 In Parmenidem 304 In Platonis Alcibiadem 118 In Platonis rem publicam 112, 121 Theologia Platonis 109, 115, 119 Prolegomena ad Platonis philosophiam 118, 119 Proteus 94, 95, 96 Prudentius 194 Contra Symmachum 198 Pythagoras 104, 113, 114, 116, 129 Quintilian 3 Rusticus 157 R. Šabūr 204, 205 Saʿīd Naṣr ibn Aḥmad ibn Ismāʿīl 237 Ṣalāḥ ad-Dīn 262 Schemʿon d-Ṭaybutheh 202 R. Schimon ben Lakisch 137 Seneca De ira 154 Septimius Severus 130, 136 Severus Sebokht 212 Sidonius Apollinaris 16 Epistulae 16 Sifra Bechuqotai 71 Sifra Shemini, Mekhilta de-Millium Pereq 77, 80 Sifre Deuteronomium 78, 80 Sifre Devarim 229, 230, 231, 232 Simplicianus 7, 8, 9 Sokrates 25, 26, 29, 42, 43, 46, 47, 90, 95, 102, 111, 112, 113, 115, 305 Sophokles Oedipus tyrannus 27 Strabon Geographica 31, 40
318
Register
Synesios von Kyrene 115, 117 Epistulae 115, 117 Syrianos 108, 110, 114, 115, 116, 118 Tatian 6, 157, 159, 180 Oratio contra Graecos 157 Tertullian 154 Apologeticum 154 Theodor von Mopsuestia Homiliae catecheticae 166, 168 Theodoret von Kyros Historia religiosa 169 Theodoros von Asine 110, 117 Theognis 41 Thomas von Marga 203, 204 Historia monastica 203 Thukydides 44, 46 Tiberius 136 Tosefta 73, 223, 225, 227, 228 Horajot 228 Berachot 74, 80
Megillah 74, 80 Schabbat 229 Tractatus de conscientia 291 Tychiades 89, 90, 91, 92, 93, 94 Vespasian 136 Vincenz von Beauvais 283, 284 Speculum doctrinale 283 Vita Febroniae 195 Wilhelm von Saint-Thierry 290, 291, 292 Xenophon 25, 29, 33, 42, 43, 184 Anabasis 33, 43 Apologia Socratis 25 Institutio Cyri 184 Memorabilia 29, 42, 192 Oeconomicus 192 Yaʿqūb ibn Killis 272 R. Yochanan ben Zakkai 70
2. Antike und mittelalterliche Orte Abonuteichos 92, 94 Actium 134 Afghanistan 261 Akre 146 Aleppo 261, 274, 278 Ägypten 56, 78, 90, 91, 117, 132, 133, 188, 246, 247, 261, 262, 263, 275, 276 Alexandria 56, 57, 108, 117, 123, 129, 130, 131, 133, 137, 141, 143, 145, 156, 160, 161, 162, 163, 276 al-Fusṭāṭ 274 al-Maqs 274 Anatolien 261 Antiochien 122, 164, 166 Apameia 104, 123 Asien 92, 95, 238, 250, 261, 264 Asine 110, 117 Athen 6, 25, 27, 33, 38, 44, 101, 103, 108, 110, 115, 116, 117, 119, 123, 133, 145, 147, 158, 177, 178, 182, 191, 193, 195, 196, 197
Babylon, Babylonien 70, 71, 72, 223, 232, 279 Bagdad 71, 238, 241, 244, 245, 251, 252, 253, 254, 258, 261 Balch 261 Basra 204, 245, 258, 261 Beirut 1 Bethlehem 129 Bithynien 92 Böotien 30, 36 Brauron 193 Buchara 237, 238, 244, 248 Byzanz 206 Caesarea (Maritima) 1, 4, 129, 130, 131, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 141, 142, 143, 146, 147, 148, 160, 161, 162, 163, 301 Chaironeia 36 Chartres 294 China 239
2. Antike und mittelalterliche Orte
Damaskus 242, 256, 261, 262 Delphi 25, 26, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47 Edessa 203 Fès 246, 263 Flavia Neapolis 157 Galatien 92 Galiläa 70, 222 Granada 54 Griechenland 4, 17, 26, 27, 36, 45, 46, 178, 191, 300, 304 Herat 261 Hippo 164, 168 Indien 255, 264 Irak 202, 203, 204, 250, 251, 254, 261 Iran 202, 204, 248, 250, 251, 261, 263 Isfahan 261 Israel 17, 56, 60, 75, 78, 134, 239 Jaffa 146 Jerusalem 53, 56, 57, 62, 63, 64, 70, 136, 137, 145, 162, 164, 165, 222, 233, 262, 279, 280 Judäa 57, 136, 222 Kairo 142, 246, 254, 256, 258, 261, 263, 271, 273, 274, 275, 276, 302 Kairouan 72, 241, 246 Katar 204 Khirbet Qumran 59, 62 Konstantinopel 123, 148 Konya 261 Krisa 30 Kyrene 115, 117 Mailand 8, 142, 164 Mallos 90, 91 Marokko 263 Mekka 261, 262 Mesopotamien 70, 203, 212
319
Merw 261 Milet 137 Mopsuestia 164 Nahal Hever 59 Neocaesarea 1 Nikopolis 158 Ninive 204 Nischapur 248, 251 Nizäa 166 Ostsyrien 203 Palästina 1, 56, 58, 70, 73, 93, 94, 95, 135, 136, 146, 147, 148, 157, 206, 261 Pergamon 114, 144 Phaselis 35 Phönikien 133 Poggio Bustone 291 Pumbedita 71, 72 Qenneschre 212 Qumran 58, 59, 61, 62, 63, 64, 300, 301, 303 Rāšida 274 Rom 6, 7, 57, 59, 119, 123, 133, 134, 135, 136, 137, 148, 156, 157, 158, 182, 206 Samaria 56, 133 Sidon 133 Spanien 263, 264 Sparta 33, 34, 40, 44 St. Gallen 286 Sura 71 Syrien 56, 92, 104, 133, 203, 212, 250, 261, 262, 263 Teheran 206 Thrazien 92 Troja 41 Tunesien 241, 272 Tunis 246 Tus 261 Tyros 145 Tyrus 137
320
Register
3. Moderne Autoren Abate, Elisabetta 4, 19, 71, 77, 221, 301, 305 Aberbach, Moshe 221 Acham, Karl 9 Ahmed, Munir-ud-Din 250 Alexander, Philip 74 Altaner, Berthold 130 Amandry, Pierre 31 Andenna, Giancarlo 286 Angenendt, Arnold 280 an-Naršaḫī, Abū Bakr Muḥammad b. Ǧaʿfar 238 an-Nuʿaimī, ʿAbd al-Qādir b. Muḥammad 261, 262 Asad, Talal 17 Ascough, Richard 137, 142, 146 Ast, Friedrich 20 Athanassiadi, Polymnia 110, 116, 118 Aubrun, Michel 286 Awad, Gurgis 254 Bäbler, Balbina 132, 160, 161, 302 Bacher, Wilhelm 221 Bakke, Odd Magne 179, 180, 181, 188, 189 Baltes, Matthias 104 Barthold, Wassili Wladimirowitsch 238 Bauernfeind, Otto 53 Baum, Wilhelm 202 Baumbach, Manuel 88 Becchi, Egle 192 Bechtoldt, Hans-Joachim 57 Becker, Adam H. 203, 209, 210, 221 Becker, Matthias 108 Ben-Eliyahu, Eyal 70 Benner, Dietrich 15, 18 Berdozzo, Fabio 88 Berger, Wilhelm 9 Berkey, Jonathan Porter 247, 265 Berkowitz, Beth A. 73, 77 Betz, Hans-Dieter 94, 98 Bialoblocki, Samuel 72 Bianquis, Thierry 273, 274 Bienert, Wolfgang A. 2 Biesterfeldt, Hans Hinrich 240 Bietenhard, Hans 78, 136, 137, 141 Blok, Josine 183
Blum, Georg G. 202 Boehm, Laetitia 283 Bonazzi, Mauro 104 Borst, Eva 13 Bowden, Hugh 26, 27, 32, 34, 35, 36, 37, 38, 40, 42 Boyancé, Pierre 120 Brandenburg, Dietrich 246, 262 Breitenstein, Mirko 286, 287, 290, 292 Bremmer, Jan N. 184 Brock, Sebastian 202, 203, 206, 207 Brockelmann, Carl 262 Brody, Robert 71, 72, 223 Brown, Peter 177 Bruns, Peter 211, 212 Bubert, Marcel 284 Bumazhnov, Dmitrij F. 203, 206, 207, 209, 210, 214, 250, 300, 302 Burkert, Walter 26, 27, 28, 31, 32, 34, 36, 37, 38, 41, 43 Bynum, Caroline 287 Calame, Claude 178 Camplani, Alberto 205 Cantarella, Eva 179 Carr, David M. 59 Carriker, Andrew 140, 146, 147 Castelli, Elizabeth A. 179 Chamberlain, Michael 247, 257, 259, 265 Charlesworth, James H. 62, 63 Chenu, Marie-Dominique 290 Chialà, Sabino 204, 205, 206, 209 Christes, Johannes 3 Clark, Elizabeth 132, 145 Cohen, Shaye J. D. 70 Cohn, Leopold 57 Cohn, Naftali S. 228 Congar, Yves 280 Connelly, Joan Breton 32 Constable, Giles 292 Coulter, Dale M. 284 Crotty, Kevin 186 Crouzel, Henri 132, 139, 141, 145 Dalferth, Ingolf U. 283 De Boer, Jelle Zeilinga 31, 32
3. Moderne Autoren
Deines, Roland 69, 70 Detel, Wolfgang 119 Deuse, Werner 110, 117 Diers, Michaela 282 Dillon, John 113 Dimitrovsky, Haim Zalman 221 Döbler, Marvin 17 Dorandi, Tiziano 144 Dorion, Louis-André 25 Ebner, Martin 89, 90, 93 Eidinow, Esther 33, 42, 43 Elliger, Winfried 133, 134, 136, 138 Endress, Gerhard 256 Ephrat, Daphna 244, 247, 259 Erler, Michael 103, 104, 119 Etiope, Giuseppe 32 Fahey, Michael A. 284 Faraone, Christopher A. 193 Feld, Helmut 291 Feldmeier, Reinhard 171, 256 Fernandes, Leonor 263 Fietta, Pietro 281 Flower, Michael A. 28, 33, 44 Flusin, Bernard 144 Fontenrose, Joseph E. 25, 31, 41, 44 Fornaro, Sotera 186 Forrest, W. G. 26 Foucault, Michel 14 Fowden, Garth 114 Foxhall, Lin 193 Fraade, Steven D. 78 Frenschkowski, Marco 140, 146, 147, 148 Frevel, Christian 56 Fried, Johannes 283 Friese, Wiebke 30, 32, 36, 37 Fuchs, Harald 59 Fück, Johann 265 Fuhrmann, Manfred 21 Fürst, Alfons 8, 130, 131, 132, 133, 139, 140, 141, 145, 160, 162, 165, 186 Gafni, Isaiah M. 72, 221 Gärtner, Michael 189, 190 Gavrilyuk, Paul L. 164 Geertz, Armin W. 178
321
Gemeinhardt, Peter 1, 2, 3, 5, 6, 8, 9, 12, 14, 15, 21, 69, 102, 105, 106, 118, 130, 131, 139, 145, 155, 160, 164, 167, 168, 177, 279, 282, 302, 304, 305 Georges, Tobias 1, 5, 6, 21, 56, 105, 118, 157, 160, 302 Gerhardsson, Birger 221 Gersht, Rivka 134, 135, 136 Glucker, John 103 Goodblatt, David 71, 72, 73, 74, 221, 222, 223 Goodman, Martin 74 Goulet-Cazé, Marie-Odile 105, 114 Graf, Fritz 32, 36, 37 Grafton, Anthony 141, 142, 143 Graziosi, Barbara 186 Günther, Sebastian 5, 240, 241, 245, 248, 249, 258, 300, 302, 303, 304 Gumbrecht, Hans-Ulrich 106 Gutas, Dimitri 212, 240, 258 Guyot, Peter 158 Gzella, Holger 93 Haag, Ernst 56 Habicht, Christian 59 Hadot, Pierre 104 Hafner, Markus 87 Hage, Wolfgang 202 Hahn, Johannes 158 Haines-Eitzen, Kim 131, 144 Hainthaler, Theresia 203 Halfwassen, Jens 105, 111 Halm, Heinz 238, 247, 272, 276, 302 Hamm, Berndt 294 Harmless, William 168 Harper, Kyle 179 Harrison, Carol 181 Hauptman, Judith 75 Hayati, Said 212 Heemstra, Marcus 222 Heern, Zackery M. 263 Heid, Stefan 157 Heine, Heinrich 54 Heintel, Peter 9 Hengel, Martin 55, 56, 63 Herlihy, David 180 Hermelink, Jan 9 Herms, Eilert 13
322
Register
Hezser, Catherine 70, 71, 73, 74, 75, 76, 221, 223, 232 Hillenbrandt, Robert 262 Hirshman, Marc 75, 221, 222 Höffe, Otfried 211 Hoffmann, Philippe 104, 115, 118, 119 Holder, Stefanie 114 Holum, Kenneth G. 133, 134, 135, 136, 137, 138, 147 Honigman, Sylvie 59 Hopfe, Lewis M. 135, 137, 138, 142 Höpflinger, Anna-Katharina 191 Horn, Cornelia 194, 195 Hrbek, Ivan 273 Ibn al-Fuwaṭī, ʿAbd al-Razzāq b. Aḥmad 253 Ibn al-Nadīm, Abū ʾl-Faraǧ Muḥammad b. Abī Yaʿqūb b. Isḥāq 246 Ibn as-Sunnī, Abū Bakr ad-Dīnawarī 242, 243, 244, 245 Ibn Baṭṭūṭa, Abū ʿAbdallāh Muḥammad 250, 252 Ibn Ǧamāʿa, Badr ad-Dīn 256, 257, 261 Ibn Ḫaldūn, Walī ad-Dīn ʿAbd arRaḥmān b. Muḥammad 246 Ibn Kaṯīr, Abū l-Fidāʾ Ismāʿīl b. ʿUmar 253 Ilan, Ṭal 223 Inglebert, Hervé 177 Jacobi, Renate 246 Jacobs, Martin 223 Jaeger, Werner 16 Janos, Damien 258 Jeck, Udo Reinhold 104 Johnston, Sarah Iles 28, 32, 33, 37 Jomier, Jacques 271 Jullien, Florence 204, 205 Kahn, Lisa C. 134 Kamphausen, Georg 9, 12 Kavvadas, Nestor 205, 209, 210, 211 Keulen, Wytse 88 Kindt, Julia 25, 27, 42 Kintzinger, Martin 283, 288 Klein, Richard 1, 130, 158, 161 Koselleck, Reinhart 14, 20, 21
Kraemer, Ross S. 191 Kratz, Reinhard G. 55, 56, 58, 59, 60, 62, 63, 300, 302, 303, 304 Kratz-Ritter, Bettina 52 Krentz, Edgar 147 Krupp, Michael 79 Kruse, Heinz 280 Labourt, Jérôme 202 Ladenthin, Volker 16 Lambert, Stephen D. 183 Landau, Peter 282 Lane, Edward William 247 Langer, Gerhard 16 Lapin, Hayim 70 Larsen, Lillian 169 Layton, Richard A. 204 Le Boulluec, Alain 165 Leder, Stefan 242, 258 Lehman, Clayton M. 136, 137, 138 Leiser, Gary 249, 264 Leppin, Volker 283, 294 Levine, Lee 70, 74, 147, 223 Leyerle, Blake 189, 194 Lichtenstein, Ernst 282, 294 Lifshitz, Berekyahu 136 Lincoln, Bruce 178 Lloyd, Anthony C. 118 Löhr, Winrich A. 159 Lohse, Eduard 62, 63, 74 Lorgeoux, Olga 165 Lössl, Josef 163 Luhmann, Niklas 15 Maaß, Michael 26, 31, 32, 48 MacMullen, Ramsay 179 Mahamid, Hatim 262 Mahdi, Muhsin 266 Mahler, Eduard 253 Maier, Johann 62, 63 Makdisi, George 240, 247, 250, 255, 256, 259, 265 Mancini, Silvia 178 Mandreoli, Fabrizio 288 Männlein-Robert, Irmgard 105, 111, 112, 113, 114, 123 Manselli, Raoul 294 Markschies, Christoph 1, 5, 7, 9, 155, 160
3. Moderne Autoren
Marrou, Henri-Irénée 3, 15, 186 Martens, Peter W. 2 Martin, Gunther 33, 36, 39, 45, 192 Mauder, Christian 263 Maurizio, Lisa 26, 36, 37, 38, 39, 41, 42, 43 Maxwell, Jaclyn L. 166 Mayer, Günter 74 Mayerhofer, Martin 4 McGuckin, John Anthony 134, 136, 142, 147 Melville, Gert 9, 10, 12, 106, 107, 112, 123, 279, 281, 282, 283, 286, 287, 289, 291, 292, 294, 299, 300, 303, 304, 305 Merkt, Andreas 154 Metzger, Marcel 164 Miccoli, Giovanni 280 Michel, Otto 53 Mikalson, Jon 27, 36 Moazzen, Maryam 263 Momigliano, Arnaldo 182 Montuori, Mario 25 Morgan, Kathryn Anne 26, 42 Morris, Nathan 221 Mortel, Richard T. 263 Muraviev, Alexey 204, 206 Murk-Jansen, Saskia 294 Murray, Michele 137, 184 Nagy, Gregory 182 Naiweld, Ron 77 Nautin, Pierre 131, 142, 143 Nesselrath, Heinz-Günther 3, 132 Neuschäfer, Bernhard 55 Neusner, Jacob 75, 76 Nikolsky, Ronit 223 Nongbri, Brent 17 O’Roark, Douglas 187 Obsieger, Hendrik 34 Offergeld, Thilo 288 Ogden, Daniel 183 Osborne, Robin 38 Paden, William E. 178 Pahlitzsch, Johannes 264 Paolazzi, Carolus 291 Paret, Rudi 237
323
Parke, Herbert W. 41, 43 Parker, Robert 26, 27, 28, 38, 42, 44, 45, 46, 183, 193 Pataridze, Tamara 206 Patrich, Joseph 136, 146, 147, 148 Patterson, Cynthia B. 178 Peels, Saskia 36 Perlow, Towa 221 Petitmengin, Pierre 144 Piepenbrink, Karen 145, 146 Pietzner, Karin 131, 132, 145 Possekel, Ute 203 Price, Simon 26, 31, 32, 34, 36, 37, 38, 40, 42, 45, 46 Qimron, Elisha 62, 63 Raban, Avner 134, 137, 138, 147 Ramelli, Ilaria 94, 96 Räuchle, Viktoria 192 Rebenich, Stefan 12 Reed, Annette Y. 221 Rehbein, Christoph 52 Rehberg, Karl-Siegbert 9, 11, 106, 107, 108, 111, 120, 123, 280, 281 Reifenberg, Adolf 134, 137, 146 Reil, Elisabeth 168 Reinbold, Wolfgang 153, 171 Reinink, Gerrit J. 212 Reinl, Afra 283 Rexroth, Frank 288 Rhodes, P. J. 38 Richardson, Nicholas J. 30 Riesebrodt, Martin 17 Ritter, Markus 215, 263 Röckelein, Hedwig 293 Rosenberger, Veit 28, 33, 34, 35, 36, 38, 39, 40, 41 Rosenthal, Franz 257 Rubenson, Samuel 16, 169 Rubenstein, Jeffrey L. 69, 71, 73, 223, 224, 233 Runesson, Anders 223 Runia, David T. 141, 146 Rüpke, Jörg 14, 17, 85, 86, 89 Russo, Daniel 280 Rutherford, Ian 28, 33, 34, 35, 38 Rylaarsdam, David 166
324
Register
Saffrey, Henri-Dominique 110, 112, 119 Safrai, Shmuel 70, 221 Sallmann, Klaus 88 Sandnes, Karl O. 188 Satlow, Michael L. 229 Sauvaire, Henri 262 Schadewaldt, Wolfgang 26, 186 Schäfer, Peter 56, 57 Schaller, Berndt 57 Schär, Max 129, 130 Scheer, Tanja 27, 29, 41, 42, 44, 103, 113, 191, 304 Schlüter, Margarete 72 Schmid, Hansjörg 252, 253 Schmitz, Thomas 88 Schmitz, Winfried 27 Schneidmüller, Bernd 281 Schoeler, Gregor 240, 242 Schöllgen, Georg 154 Scholten, Clemens 131, 132, 133, 139, 162 Schröder, Bernd 6, 13, 15, 21 Schuller, Eileen 63 Schunk, Klaus-Dietrich 59 Schwartz, Seth 70, 76, 94, 222, 223 Schweitzer, Friedrich 14 Schwemer, Anna Maria 55 Simon, Erika 26, 32, 36 Simon-Shoshan, Moshe 75, 76 Sivertsev, Alexei 223 Smend, Rudolf 60 Smoor, Pieter 274 Snodgrass, Anthony 26 Söding, Thomas 12, 154 Sonntag, Jörg 281 Sorabji, Richard 14 Sourvinou-Inwood, Christiane 26, 30, 31, 32, 36, 193 Spickermann, Wolfgang 14 Spieckermann, Hermann 256 Sprenger, Alois 255 Staubach, Nikolaus 294 Stausberg, Michael 17 Stears, Karen 193 Steckel, Sita 283 Stegemann, Hartmut 63 Stemberger, Günter 69, 70, 71, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 225, 226, 228, 231 Stern, Menahem 57
Stern, Sacha 72 Steudel, Annette 62 Strauss, Barry S. 183 Stroumsa, Guy G. 141 Strugnell, John 62 Stuiber, Alfred 130 Suchla, Beate R. 214 Tanaseanu-Döbler, Ilinca 5, 17, 108, 113, 114, 115, 117, 120, 132, 186, 302, 305 Tarrant, Harold 118 Tcherikover, Victor 55 Thomas, Rosalind 40 Thorsteinsson, Runar M. 161 Tibawi, Abdul L. 251 Tomson, Peter J. 70 Trampedach, Kai 26, 28, 29, 31, 32, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 44, 45, 46 Tränkle, Hermann 26 Uhlig, Siegbert 61 Urbano, Arthur P. 113 Van Berchem, Max 249 Van Bladel, Kevin 258 Van der Toorn, Karel 59 Van der Veer, Peter 196 Van Ess, Josef 273, 274 Van Nortwick, Thomas 185 Von Möllendorff, Peter 88, 89, 98, 155, 306 Von Moos, Peter 280, 281, 282 Vössing, Konrad 15, 16 Vuolanto, Ville 194, 195 Watts, Edward J. 115, 131, 132, 180 Weber, Max 12, 281, 285, 287 Wecowski, Marek 184 Weiss Halivni, David 71 Weiss, Ze’ev 138 Weisweiler, Max 244, 245 Weltecke, Dorothea 12 Wendel, Carl 146 Wendland, Paul 57 Will, Ernest 133, 136 Williams, Megan 141, 142, 143 Winkler, Dietmar W. 202 Woolf, Greg 14
4. Sachen
325
Ziegenaus, Anton 8 Zur Nieden, Andrea 286
Wormell, Donald E. W. 41, 43 Wüstenfeld, Ferdinand 253 Wyrwa, Dietmar 131, 132, 133
4. Sachen Aberglaube (s. auch Deisidaimonie) 89, 93 Akademie „himmlische Akademie“ 4 platonische Akadademie 6, 103, 104, 147 rabbinische Akademie 71, 72 Amme 179, 180, 191, 194 Anthropologie 117 Apaturia 183, 184 Architektur 241, 242, 252, 261, 263 Archiv 40 Arithmetik 132, 255, 284 Askese 17, 117, 132, 144, 145, 166, 169, 180, 181, 194, 202, 203, 207–209, 281, 302 Astrologie 60, 61, 141 Astronomie 60, 61, 132, 139, 141, 212, 255, 273, 275, 284 Atheist 102, 139 Auditorium 3 Auferstehung 189, 256, 265 Auslegung (s. auch Exegese) 8, 58, 61, 62, 74, 76, 80, 118, 130, 140, 141, 188, 189, 225, 229 Auslegungsmethode 189 Auslegungstradition 64, 227 Autonomie 14, 87, 282, 292 Autorität 6, 9, 15, 25, 26, 30, 39, 45, 46, 47, 59, 71, 75–80, 104, 110, 115, 117, 133, 170, 183, 185, 191, 192, 195, 231, 244, 251, 258, 260, 284, 300, 302, 305 Barbar 3, 16, 104, 139 Belohnung 188 Bibel 7, 12, 51–65, 76, 131, 138, 140, 141, 144, 145, 169, 180, 188–190, 196, 205, 208, 225–228, 231, 302–304 Bibliothek 4, 56, 59, 130, 133, 139–148, 161, 245, 253, 254, 258, 264, 273, 275, 276, 278, 288, 289, 301 Bildung 2–7, 13–21, 54, 55, 57–59, 63–65, 87, 88, 92, 93, 99, 122, 133,
140, 155–158, 164, 170, 171, 179, 186, 188, 195, 196, 201, 204, 206, 207, 214, 226, 238, 239, 241, 246–249, 254, 255, 259, 261–265, 282–284, 288, 291, 300, 302–306 Bildungsbiographie 169 Bildungsideal 16, 171, 239, 240, 301, 303 Bildungsinstitution 2, 4, 5–7, 15, 20, 155, 159, 201, 214–216, 223, 240–247, 263, 293 Bildungskanon 59, 304 Bildungsreligion 153, 154 Bildungstheorie 240 höhere Bildung 158, 226, 238, 242–265, 301, 303 juristische Bildung 6, 60, 238,. 239, 248, 250, 255, 272 religiöse Bildung 4–7, 12, 13, 15, 17–19, 21, 52–55, 65, 101, 102, 117, 156, 158–163, 165, 166, 169–172, 183, 184, 186, 193, 197, 203, 223, 225, 228, 229, 242, 246, 247, 252, 261–263, 265, 282–285, 288, 292–294, 300, 303–306 Biographie 92, 113, 114, 116, 117, 169, 254, 305 Brauch 27, 28, 141 Buch 52, 54, 55, 61, 94, 95, 132, 140, 143–146, 192, 207, 208, 253, 260, 261, 264, 273, 275, 276, 290, 299 Bürger(in) 25, 35, 36, 38, 131, 179, 183, 184, 193, 196 Bürger des Himmels 190 Christenverfolgung 130, 145, 146, 148, 163 Curriculum (s. auch Lehrplan) 3, 19, 73, 117–119, 121, 123, 133, 139, 156, 161, 188, 225–227, 242, 254–258, 264, 265, 284, 286, 289–291, 300, 301, 302, 304, 306
326
Register
Deisidaimonie / δεισιδαιμονία (s. auch Aberglaube) 89–95, 99 Demut 42, 79, 168, 214, 215, 261, 290, 293 Detraditionalisierung 86 Dialektik 102, 139, 161, 255, 265, 266 Dichtung 55, 102, 118, 139, 184, 240, 242, 247 διδασκαλεῖον 4, 157, 162, 163, 165 Diktatkolleg 244, 245 Disputation 240, 249, 302 Eklektizismus 86 Elementarschule 6 Elementarunterricht 6, 159, 171, 227, 241 Elite / Elitenbildung 15, 36, 80, 103, 154, 170, 171, 179, 241, 259, 264, 304 Epikureismus 139, 155, 229 epistemische Praktik 119, 123, 302 Epos 28, 29, 60 Eremit 169, 202, 204, 207, 208, 211, 213, 215, 294 Erfahrungslernen 192, 303 Erkenntnistheorie 102, 103 Erwachsener 157, 187, 193, 194, 203, 303 Erzählung (s. auch Geschichten) 26, 30, 31, 33, 77, 79, 80, 89–92, 116, 188–192, 194, 196, 228, 244 Erziehung 2, 5, 13–18, 52, 59, 170, 179–197, 239, 283 Essen 189 Ethik (s. auch Moral) 26, 60, 80, 97, 139, 161, 164, 231 Exegese 3, 57, 104, 109, 119, 121, 123, 129, 141, 165, 240, 254–256, 288, 299, 302, 304 Familie 15, 16, 27, 53, 59, 62, 73, 75, 121, 130, 131, 134, 157, 159, 169, 177–197, 299, 301, 303 Fiktionalität 91, 232 Finanzierung 40, 62, 71, 115, 143, 146, 247, 252, 254, 258, 263, 300, 301 Frau 34, 75, 131, 132, 144, 145, 154, 163, 170, 179–182, 190–196, 232, 239, 246, 258, 271, 272, 285 Frieden 27, 214–216, 291
Frömmigkeit 4, 47, 89, 139, 161, 181, 184, 186, 187, 265, 304 Fundamentalismus 63, 64, 303 Gebet 52, 60, 63, 79, 183, 185, 186, 211, 222, 228, 231, 238, 240, 241, 247, 255, 256, 272, 281 Gehalt 247, 251, 258, 272–274, 299 Geographie 26, 60, 61 Geometrie 132, 139, 242, 284 Geschichte 20, 60, 113, 222, 240, 241, 257 Geschichtswerke 55, 208 Eigengeschichte 107, 122, 123, 299, 305, 306 Geschichten (s. auch Erzählungen) 16, 31, 47, 90, 116, 184, 207 Geschichtenerzählen 189–196 Geschlecht 34, 155, 178, 182–197, 239 Gesetz 45, 47, 94, 95, 140, 277, 282, 291, 292 „eigenes Gesetz“ 291 Gesetz Gottes 60, 61 jüdisches Gesetz 55, 61, 62, 77, 165, 168 „ungeschriebene Gesetze“ 27 Glaube 2, 10–12, 17, 88, 90, 153–155, 157, 166, 167, 169–171, 180, 190, 212–215, 255, 280, 283, 285, 286, 289, 293 Glaubensbekenntnis 8, 11, 164, 166 Gnade 212, 294 Grammatik 141, 240, 241, 255, 256, 284 Grammatikschule 6 Grammatiklehrer 131 Grammatiker 142, 249, 273, 274 Großeltern 179, 195, 300 Großmutter 194 Großvater 184, 185 225 Gründerfigur 103, 110, 113 Grundschule 241 Gymnasion 59, 144 Häresie 2, 129, 131, 140, 166, 208, 277 Halakha 62, 77, 80, 225–227 Heilige 2, 8, 9, 181, 190, 194–196, 205, 207, 280 Heilige Schriften 4, 8, 45, 55, 58, 59, 64, 95, 117, 132, 190, 196, 203, 205, 228, 284, 302 Heiligtum 25–47, 109, 135, 184, 293
4. Sachen
Hierarchie 9, 14, 34, 62, 70, 71, 76–79, 105, 121, 123, 162, 180, 223, 280, 284, 293, 304 Hierophant (s. auch Mysterienpriester) 115, 121 Hochschule 212, 238, 248, 251–254, 256, 263–265 Hölle 129, 188, 190, 201 Hörervermerk 242, 243, 258 Hörsaal 2, 19, 253 Holocaust 54, 64, 65 Hymnus 60, 63 Hyperboreer 34, 110 Imam 246, 247, 258, 259 Individualisierung 14, 85–99 Individualität 14, 225, 292 Ingenieurkunst 242 Initiation 6, 7, 16, 115, 164 Intellekt 208, 209, 201, 214 Intellektueller 8, 102, 111, 159, 171, 303 Irenische Haltung 214 Irrationalität 89, 90 Jenseits 2, 4, 20, 239, 280, 305 Jenseitsorientierung 239 Jünger 42, 61, 69, 70, 73, 76, 77–80, 153, 167, 168, 171 Jurist (s. auch Rechtsgele hrter) 272, 273, 278 Kalif / Kalifat 202, 238, 246, 250, 252–254, 271–278 Katechese (s. auch mystagogische Katechesen) 21, 163–169 Katechet 11, 163, 166–168 Katechetenschule 131, 133, 162, 163 Katechumenat 17, 19, 156, 159, 160, 162, 163–171, 299, 302, 303 Katechumene 11, 131, 159, 163–165 Kind 15, 16, 62, 154, 179–197, 203, 300 Kirche 6–12, 19, 132, 137, 140, 156, 161– 163, 165, 167, 169, 170, 194, 280–285 Kirchentheorie 9 Klerus 15, 164, 181, 282, 283 Kloster 6, 12, 16, 19, 203–206, 212, 262, 282, 285–294 Klosterregel 62, 205, 285–287 Klosterschule 203, 204, 286, 288
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Kommentar 61–63, 119, 123, 143, 203, 255, 257 Kommunikation 9, 19, 196, 304 mit dem Göttlichen 18, 33, 34, 86, 120, 183, 279, 280, 291, 303 Kompendium 119, 261, 272 Kompetenz 15, 16, 76, 87, 179, 184, 191, 197, 227, 301, 304 Konflikt 11, 12, 19, 46, 56, 58, 77, 121, 123, 169, 204, 207, 208,, 214–216 Kontemplation 109, 204, 209, 211, 245, 262 Kopist 144, 259, 275 Koran 18, 239–242, 253–256, 261–263, 276 Koranleser 273, 278 Krankenhaus 245, 258 Kult 15, 28, 43, 44, 46, 60, 85, 103, 121, 120, 122, 136, 143, 183, 233, 280, 283, 304 Kultverein 63, 86 Kyniker 88, 94, 155, 229 Labilität 114, 123, 124 Lebensführung 59, 62, 89, 96, 98 Lebensgemeinschaft 1, 59, 114, 158, 301 Lebenspraxis 75, 158 Lehre / Lehren Lehrfreiheit 258 Lehrhaus 62, 73, 74, 79, 80, 225, 232, 233 Lehrinhalt 158, 224, 259, 283 Lehrmeinung 3, 108, 109, 139, 248–250 Lehrmethode 249 Lehrorganisation 238 Lehrpersonal 155, 247, 251, 259–261, 300 Lehrplan 19, 241, 254 Lehrprogramm 240, 261 Lehrprozess 4, 6, 221 Lehrsitzung 242, 245, 271, 272 Lehrstätte 161–163, 224, 240, 250, 262, 263, 272 Lehrtext 240, 249, 257 Lehrzirkel 240, 245, 246, 256–259 Lehrer (s. auch Grammatiklehrer, Rhetoriklehrer) Lehrerkonzept 107, 114, 123
328
Register
Lehrerrolle 114, 116, 301, 305 Lehrer-Schüler-Beziehung (s. auch Meister-Schüler-Verhältnis) 19, 107, 123, 158, 259, 299–301 göttlicher Lehrer 167 Leitfigur 6, 107, 113 Lektüre 12, 118, 205, 207, 208, 257, 288, 290, 302 Lernen lebenslanges Lernen 4, 154, 197, 233, 244, 303 Lerngemeinschaft 6, 61, 153 Lernort 6, 221–223, 232, 233 Lernprozess 5, 6, 21, 73, 179, 185, 221, 260, 304 Lernzirkel 16, 19, 158, 159, 161 Liebe 161, 180, 201, 214, 215, 286, 290, 292, 293 Logik 102, 161, 203, 211, 255, 256, 266 Madrasa 238, 239, 247–252, 254–265, 273, 300 Mädchen 75, 144, 179, 180, 187, 188, 191–193, 197 Mamluke 263, 271 Martyrium 6, 96, 130–132, 157, 159, 163, 301 Massenvorlesung 244 Mathematik / mathematisch 102, 111, 117, 212, 255–257, 274 Meditation 205, 207, 209 Medizin 6, 60, 61, 141, 245, 249, 253, 255, 257, 262 Meister 29, 47, 69, 71, 73–80, 94, 97, 117, 119, 169, 224–226, 241, 287, 294 Meister-Schüler-Verhältnis 59, 73, 74, 76, 78–81, 233, 301 Meisterschüler 115, 300 Methode / methodisch 5, 20, 28, 31, 38, 39, 74, 93, 119, 140, 141, 177, 178, 189, 191, 225, 228, 249, 255, 260, 281, 283 Midrasch 60, 62, 69, 73, 74, 76–78, 80, 223–233 Mimos 138 Mission / Missionar 154, 155, 272, 276–278 Mobilität 85
Mönch / Mönchtum / monastisch 12, 16, 19, 129, 130, 166, 169, 171, 201–205, 280–210, 213, 215, 216, 283, 287–291, 293, 294, 300, 301, 303 Moral / moralisch 26, 54, 104, 108, 141, 188, 189, 191, 192, 196 Moschee 6, 19, 237, 238, 240–242, 245–251, 253, 256–259, 262, 263, 272–274, 300 Moscheeschule 246, 247, 251 Mündliche Unterweisung 241, 249 Museion (christliches) 145, 148 Musik 132 Mutter 130, 131, 144, 145, 180, 184, 187, 189, 192–196 Mystagoge 115 Mystagogische Katechesen 164 Mysterien 85, 95, 117, 140, 209, 304 Mysterienpriester (s. auch Hierophant) 109, 122 Mysterieninitiation 115 Mystik / Mystiker / mystisch 112, 129, 201–203, 208–210, 212, 214–216, 245, 251, 253, 262, 265, 280, 293, 294 Mythos / mythisch 16, 27, 31, 36, 38, 41, 46, 60, 102, 111, 135, 140, 179, 184, 190, 191, 196, 222, 304 Nachahmung 1, 187, 188, 192, 194, 197 Nachfolger / Nachfolge (s. auch Sukzession) 6, 18, 101, 108, 110, 112, 115–117, 130, 134, 145, 146, 162, 163, 165, 168, 184, 275 Natur 32, 102, 111, 141, 181, 189, 192, 196, 210, 232, 233, 284 Naturwissenschaft 31–33, 60, 161, 245, 249, 257, 258, 284, 288 Netzwerk 105, 123, 223, 264 Gelehrtennetzwerk 231, 233, 244, 259, 300 Neuplatonismus 3, 17, 104, 108–111, 114, 115, 118–124, 132, 140, 203, 210, 302, 305 Novize 205, 287 Observatorium 245, 258, 275 Offenbarung 61, 63, 120, 122, 123, 207, 224
4. Sachen
Offenbarungskonzept 117 Offenbarungsschrift 239 Offenbarungswissen 27, 46 Opfer 28, 34, 35, 37, 43, 60, 63, 64, 98, 105, 112, 113, 121, 138, 182–186, 193, 228, 281 Orakel 25, 26, 28–31, 33–36, 38–43, 45, 46, 85, 86, 90–93, 113, 118, 304 Orakelsammlung 41, 118 Organisation 9, 12, 19, 34, 36, 43, 46, 73, 106, 155, 223, 238, 258, 280, 281, 285, 287, 299, 300, 303 Origenismus 129 Orthodoxie 15, 63, 64, 140, 163, 239, 249 Pädagogik / pädagogisch 18, 79, 115, 119, 166, 168, 169, 184, 186, 188, 190, 192, 233, 240, 241, 305, 306 παιδεία / ἐγκύκλιος παιδεία (s. auch Bildung) 16, 17 Panathenäen 182 Paradies 1, 2, 4, 6, 19, 20, 130, 139, 201, 266, 284 Paränese 207, 228, 229, 287, 290 Pentateuch 58, 226 Philologie 20, 72, 111, 141, 142, 245, 258, 266, 273, 274 Philosoph 1, 3, 6, 19, 36, 89, 101–108, 110, 111, 113–117, 121–124, 139, 140, 142, 154, 155, 157–159, 161, 170, 171, 206–212, 216, 243, 265, 300, 301, 303 Berufsphilosoph 209 Wanderphilosoph 155 Philosophie 2–4, 16–18, 27, 32, 46, 55, 60, 86, 87, 89, 97, 98, 101–111, 113, 115–123, 130–133, 139–141, 145, 154, 157, 162, 163, 169, 171, 177, 180, 209, 210, 212, 239, 243, 256, 257, 300, 301, 303–306 Philosophie als Lebensstil 3, 208, 209 Philosophiestudium 101, 110, 114, 121 Philosophenschule 6, 14, 19, 103, 106, 107, 111, 113, 115, 117, 122, 132, 139, 147, 158, 159, 161, 162, 170, 229, 299, 302, 303 Phratrie 183, 184
329
Physik 139, 141, 161, 257 Platonismus 104, 105, 108, 157 Poesie: s. Dichtung Polemik / polemisch 56, 58, 64, 89, 90, 92, 118, 142, 201, 208–210, 213, 215, 216 Polis 15, 25–27, 33, 34, 46, 47, 56, 190, 196 Politik / politisch 13, 18, 26, 34, 41, 42, 44, 55–57, 59, 60, 85–88, 98, 102, 118, 136, 137, 139, 191, 223, 239, 250, 254, 259, 281 praktisch 6, 11, 18, 87, 97, 132, 139, 154, 168, 245, 250, 281, 299, 300, 304 Priester(in) 7, 15, 26, 29, 32, 36, 38–43, 46, 53, 55, 62, 63, 94, 109, 120, 122, 123, 138, 192, 224, 228 Priesterfamilie 134 Priesterwissen 26 privat 27, 33, 35, 42, 47, 59, 86, 91, 93, 103, 120, 132, 143, 148, 251, 256, 259, 272, 274, 282, 291, 294, 301 Privathaus 224, 233, 240–242, 245, 248, 249, 256, 258, 259, 263, 300 Privatperson 33, 35, 40, 247, 254 Privatuniversität 5 profan 208, 255, 279, 280 Professionalisierung / professionell 93, 143, 166, 244, 248, 251, 254, 264, 283, 285, 300, 302 propädeutisch 118, 132, 252, 285 Prophet / Prophetie 31, 36, 37, 40, 60–63, 77, 90, 92, 94, 129, 137, 155, 165, 226, 239, 242, 244 Prophetentradition 239, 240, 242, 244, 254–256, 261, 262 Prosa 39, 40, 241 Prosodie 240 protreptisch113, 123 Prozession 193 Prüfung 20, 89, 97, 98, 206, 242, 259, 287 prügeln 188 Psychagoge 132 Pythagoreismus 140 Pythia 25, 28, 35–39, 42, 44, 45, 90, 110 Qumran (Gemeinschaft) 58, 59, 61–64, 300, 301, 303
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Register
Rationalität 90, 210 Recht / rechtlich 8, 9, 11, 28, 34, 42, 60, 96, 139, 137, 183, 222, 232, 240, 252, 246, 248, 251, 255–257, 259, 280, 282, 283 Rechtsgelehrter 240, 241, 247, 249, 251, 252, 256, 259, 265, 272–274 Rechtsschule 1, 20, 240, 250, 252, 253, 255, 258, 262, 269 Rechtstradition 225, 227, 272 Reflexion 10, 13–18, 60, 75, 221, 225, 252, 299, 305 Reinheit 17, 34, 282, 291 Reise 43, 61, 90, 133, 137, 145, 197, 250, 252, 261, 264 religio licita 57, 144 Religion / religiös 4, 6–9, 15–21, 26, 46, 54, 55, 57, 58, 60, 63, 65, 75, 86, 88, 89, 91–93, 96, 99, 101–106, 110, 112, 114, 115, 117, 119, 122, 137–139, 143, 153, 154, 166, 177, 178, 180, 183, 186, 191, 194, 196, 202, 213, 214, 239, 242, 248, 249, 254, 255, 257, 262, 263, 265, 266, 271, 277, 279–282, 284, 286, 290, 292, 293, 300, 301, 304, 306 religiöse Bildung: s. Bildung religiöse Erfahrung 19, 90 religiöse Praxis 8, 13, 15, 18, 19, 53, 63, 69, 70, 73, 105, 107, 114, 122, 123, 184, 194, 241, 302 religiöser Spezialist 121, 177, 184, 187, 255, 268, 305 religiöses Wissen 26–28, 30, 33, 35, 39, 44–46, 69, 70, 73, 79, 86, 104, 121, 122, 154, 179, 182, 191, 197, 214, 240, 244, 251, 260, 263, 300, 304 religiöses Handeln 19, 27 Religionisierung 304 Religionsgelehrte 259, 271 Religionskultur 15, 20, 306 Religionspädagogik 168 Religionsstifter 94 Religionsunterricht 6, 13 Religionswissenschaft 177, 178, 251, 265 Rezeption 110, 154, 206, 210, 239, 257 Rezitation 228, 231, 240, 241 Rhetorik 17, 19, 87, 116, 180, 300
Rhetoriklehrer 7, 111 Rhetorikschule 6, 114 Ritual 34, 35, 37, 43, 46, 60, 105, 107, 117, 120–123, 192, 193, 228, 272, 280, 281, 287 Ritualexegese 121 Ritualkompetenz 185 Ritualtheorie 120 Ruhe 116, 205, 214–216, 244, 253, 291 Sanhedrin 222–224, 232 Scharlatan 89, 92, 93, 98, 99 Schöpfung 4, 201, 232, 288 Schreiber 59, 60, 62, 143, 144, 259, 275 Schnellschreiber 143 Schönschreiberin 144, 145 Schreiberschule 59, 60–62, 304 Schüler 2–4, 6, 19, 25, 26, 47, 61, 69, 71, 74–80, 105, 108, 110, 111, 114, 132, 133, 139, 153, 158, 159, 161, 163, 171, 213, 224, 225, 227, 241, 242, 245, 299–301 Schülerkreis 1, 78, 105, 145, 157, 158, 204, 205, 213–216, 224, 233, 300–302, 305 Schüler Gottes 61, 63 Schule (s. auch διδασκαλεῖον) 1–7, 13, 16, 19, 21, 59, 69, 72–75, 101, 106, 112, 114, 115, 117, 140, 142, 156–165, 167, 168, 203, 204, 226, 229, 241, 248–250, 256, 261 s. auch Elementarschule s. auch Grammatikschule s. auch Moscheeschule s. auch Philosophenschule s. auch Rechtsschule s. auch Rhetorikschule s. auch Schreiberschule s. auch Toraschule Schriftlichkeit / schriftlich 11, 27, 39, 40, 59, 137, 156, 182, 209, 242 Schriftstudium 64, 141, 166, 203 Schweigen 207, 216, 291 Scriptorium 143, 144, 146, 147 Sekretär(in) 144, 147, 244 Septuaginta 55, 58, 142, 143 Sklave / Sklavin 33, 144, 145, 154, 179, 180, 184, 185, 189, 195, 263, 276 Sophist / Sophistik 87, 93–95, 98, 211
4. Sachen
Soteriologie 77, 104, 117 Sozialisation 15, 17, 18, 184, 194, 195, 197, 301 Spontaneität 39, 45, 169, 294 Statue 134, 135, 187, 189, 193, 210 Stifter 92, 124, 248, 258, 264 Stiftung 247, 251, 252, 254, 256–259, 263, 264, 271–275, 277, 300, 301 Stipendium 71, 258, 264 Stoa / stoisch 86, 97, 155, 161 Streitgespräch (s. auch Disputation) 249, 266, 302 Streitsucht 214, 215 Studium 19, 61, 64, 72, 75, 130, 132, 140, 141, 223, 228–231, 233, 240, 242, 247, 257, 259, 261, 262 s. auch Philosophiestudium s. auch Schriftstudium s. auch Torastudium Sukzession 6, 102, 103, 107, 108, 110, 114–117, 123, 123, 162, 305 Symposium 111, 184, 304 Synagoge 6, 19, 51–54, 56, 57, 74, 80, 94, 138, 223, 224, 232, 233 Synkretismus 86, 135 Talmud 19, 64, 71, 72, 137, 223, 225–227, 233 Talmud Tora 227–233 Taufe / taufen 7, 8, 10, 15, 18, 131, 137, 153, 154, 159, 162–166, 180, 181, 194, 280, 302, 303 Taufbewerber s. Katechumene Tempel 6, 12, 15, 19, 26, 29–32, 36, 37, 40, 53, 59, 60, 90, 134–136, 184, 193, 292 Zweiter Tempel 53, 54, 56, 62, 70, 221, 222, 224, 228, 230, 231, 233, 303 Theater 134–136, 138, 147 Theologie 3, 27, 71, 105, 109, 110, 113, 117–119, 122–124, 141, 161, 163, 169, 181, 202, 249, 256, 257, 283, 304 Tora 18, 55, 59, 61, 62, 64, 69, 74–78, 222, 224–227, 229, 231–233, 303 mündliche / schriftliche Tora 64, 71, 74 Toraschule 62, 63 Torastudium 76, 224, 301 Tradition 2, 5, 6, 16, 27, 30, 31, 33, 34, 46, 53, 71–76, 79, 80, 85, 87, 88, 90, 96,
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102–107, 110, 112, 115, 117, 119–122, 142, 148, 154, 158, 177, 178, 188, 195, 196, 202–204, 210, 221–224, 226–228, 231–233, 249, 259, 264, 301 Traditionsgelehrter 242, 244, 245, 274 Traditionskette 77, 110, 115, 123, 224, 299, 305 Traum 204 Tugend(en) 2, 20, 139, 161, 166, 232, 256, 288, 293 Überlieferung (s. auch Tradition) 39, 54, 56–60, 64, 74, 75, 77, 193, 206, 215, 242, 244, 257, 260 Unglaube 12 Unterricht 1, 3, 5, 16, 117, 131, 132, 139, 140, 147, 157, 159, 162, 163, 171, 188, 190, 194, 196, 240–251, 254–262 Unterrichtsraum 253, 272, 289 Vater 15, 19, 115, 130, 131, 179, 180, 182–185, 187–190, 193, 195, 225–227, 276, 277 Verhaltensmodell 191 Vision 19, 86, 88, 120, 292 Vorbild / vorbildlich 55, 59, 78, 87, 113, 134, 148, 169, 181, 182, 190, 192, 196, 215, 224, 226, 233, 239, 249, 253, 262 Vorsehung 1, 108, 139, 208 Votivgabe 193 Wahrheit 90, 97, 104, 107, 109, 123, 140, 159, 164, 208, 209, 214–216, 266, 287, 290 Weiblichkeit 191 Weihgeschenk 33, 44 Weisheit 16, 25, 26, 47, 60, 87, 94, 98, 104, 108, 115, 116, 138, 164, 191, 211, 230, 231, 247, 258, 271, 273, 274, 284, 286, 300, 302 Werte 13, 54, 57, 96, 97, 182–184, 239, 281, 282, 303, 305 wetteifern 214, 215 Wiederholung 71, 231, 240, 260 Wissen (s. auch Mythos, Philosophie, Religion) 15, 26–30, 33, 39, 46, 47, 61, 62, 73, 75, 77, 80, 88, 97, 98, 113, 119, 121–123, 141, 153, 154, 178, 179, 182,
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Register
191, 192, 194, 197, 207, 210–213, 216, 239, 242, 265, 266, 282, 284, 290, 300, 301, 304 göttliches Wissen 29, 32, 34, 35, 39–42, 45 Offenbarungswissen 27, 46 Orientierungswissen 154 Zukunftswissen 41, 44
Wissenschaft 1, 3, 60, 72, 102, 124, 130, 131, 133, 140, 211, 242, 255–257, 260, 264, 273, 274, 276, 278, 284 Wissensvermittlung 28, 33, 38, 244 Wüstenvater 169, 211 Zwergschule 159, 170