Psychoanalytisches Verstehen – von Liebe beseelt und von Wissen geleitet: Erinnerungen an Stavros Mentzos [1 ed.] 9783666451379, 9783525451373


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Psychoanalytisches Verstehen – von Liebe beseelt und von Wissen geleitet: Erinnerungen an Stavros Mentzos [1 ed.]
 9783666451379, 9783525451373

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Thilo Maria Naumann / Cornelia Krause-Girth (Hg.)

Psychoanalytisches Verstehen – von Liebe beseelt und von Wissen geleitet Erinnerungen an Stavros Mentzos

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Thilo Maria Naumann/Cornelia Krause-Girth (Hg.)

Psychoanalytisches Verstehen – von Liebe beseelt und von Wissen geleitet Erinnerungen an Stavros Mentzos

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit Fotos von Dominik Mentzos und 5 Grafiken Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-45137-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Stavros Mentzos © Dominik Mentzos © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Thilo Maria Naumann und Cornelia Krause-Girth Erinnerungen an Stavros Mentzos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Alois Münch Zur Geschichte einer Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Stavros Mentzos wird zu seinem 80. Geburtstag von Alois Münch interviewt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Günter Lempa Mentzos und die Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Elisabeth Troje Lesen Sie »Die Brüder Karamasow«! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Friedrich Markert Philosophie der Lebenskunst und Psychoanalyse. Stavros Mentzos – ein Stoiker und Epikureer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Jannis S. Kontos Das Negative als Konsequenz der mütterlichen Psychose – der Fall Antigone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Waltraud Nagell Von der unerbittlichen Nachgiebigkeit. Persönliche Erfahrungen in der (Ausbildungs-)Supervision mit Stavros Mentzos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Anatoli Pimenidou Das Bipolaritätsmodell und die hinreichend gute Therapeutin . . . . . . . . . . 146

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Inhalt

Marianne Andrasch-Roth, Dieter Brockschmidt, Eva Fischer-Mertens, Renate Hausmann, Werner Menz, Gabriele Otto, Hildegard Wollenweber Gruppensupervision bei Professor Mentzos – Erfahrungen einer Ärztegruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Thilo Maria Naumann Die universelle Bipolarität des Menschen – destruktive Tendenzen und schöpferische Potenziale im psychosozialen Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

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Erinnerungen an Stavros Mentzos

»Das gute Leben ist von Liebe beseelt und von Wissen geleitet« (Russell, 1968, S. 64). Das berühmte Zitat von Bertrand Russell schien uns zur Erinnerung an Stavros Mentzos besonders geeignet. Seine Art des psychoanalytischen Verstehens lässt sich am besten mit diesen Worten charakterisieren: »von Liebe beseelt und von Wissen geleitet«. Ebenso wie Mentzos als Psychoanalytiker hatte Russell als Philosoph einen zutiefst humanistischen Blick auf den Menschen und seine Würde, und auch er setzte sich kritisch mit dem Krieg auseinander. 1930, im Geburtsjahr von Mentzos, unterzeichnete er gemeinsam mit Sigmund Freud, Albert Einstein, Jane Addams und anderen das pazifistische »Manifest gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend« (Richter, 2004, S. 2680). Parallelen zu Mentzos weist auch Russels Erkenntnisinteresse auf: »Für ihn bestand die wesentliche Aufgabe von Intellektuellen und Gelehrten darin, auf die Fragen der menschlichen Existenz verständliche und an der Wirklichkeit orientierte Antworten zu formulieren« (Rattner u. Danzer, 2007, S. 95). Der durch Russel inspirierte Titel dieses Buches eröffnet eine Annäherung an Mentzos’ Persönlichkeit und seine psychoanalytische Haltung: menschlich zugewandt und grundsätzlich verstehen wollend. Er war überzeugt, dass psychische Störungen nicht nur defizitäre Entwicklungen anzeigen, sondern sinnhafte (Not-)Lösungen und aktive Bewältigungsstrategien unlösbar erscheinender Konflikte sind, die es zu verstehen und anzuerkennen gilt. Neugierig, genügend angstfrei und auf der Suche nach Sinn und Funktion nahm Mentzos auch Patienten und Patientinnen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen in Therapie, begleitet von der Frage nach adäquaten Settings und Methoden. Mit dieser Haltung erforschte er lebenslang die Psychodynamik und die »Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen«, wie er den Untertitel seines Lehrbuchs nannte (2009). Seine psychodynamischen Erklärungsmodelle und weiterführenden Behandlungsmethoden entwickelte er aus seinen Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit. Damit realisierte er auf seine originelle Weise das Junktim vom Heilen und Forschen, das von Freud 1918 so formuliert worden war: »Neues kann man

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nur aus Analysen erfahren, die besondere Schwierigkeiten bieten, zu deren Überwindung man dann viel Zeit braucht. Nur in diesen Fällen erreicht man es, in die tiefsten und primitivsten Schichten der seelischen Entwicklung herabzusteigen und von dort aus Lösungen für die Probleme der späteren Gestaltungen zu holen. Man sagt sich dann, daß, streng genommen, erst die Analyse, welche so weit vorgedrungen ist, diesen Namen verdient« (Freud, 1918, S. 32). In seinem Lehrbuch dankt Mentzos an erster Stelle seinen Patienten, »weil die Begegnung mit ihnen und mit ihrem je eigenen individuellen Schicksal und Leid erheblich zum Verständnis psychodynamischer Zusammenhänge bei­getragen hat« (2009, S. 15). Auf bescheidene Art zeigt er so seine intersubjektive Haltung, die seine Begegnungen mit Patienten ebenso wie mit Supervisanden und Kollegen auszeichnete: Lernen und Veränderung gelingt am besten in gemeinsamen, wechselseitigen Entwicklungsprozessen. Mentzos verstarb plötzlich und unerwartet am 16. Mai 2015 im Alter von 85 Jahren. Bis zuletzt ist er seiner Leidenschaft, der psychotherapeutischen und wissenschaftlichen Arbeit, nachgegangen. Sein Tod traf uns ebenso wie viele Kollegen und Kolleginnen, Wegbegleiter, Supervisanden und Patienten unvorbereitet und bedeutete einen erzwungenen vorzeitigen Abschied. In gemeinsamen Gesprächen entstand bei uns, den Herausgebern dieses Buchs, recht schnell das Bedürfnis, diesem Tod etwas entgegenzusetzen – indem wir uns weiterhin und nun erst recht mit Mentzos und seinem Werk befassen. Wir beide kennen einander seit mehr als zehn Jahren, in denen wir intensiv und mit großer Freude an der Hochschule Darmstadt zusammengearbeitet haben. In unser beider Leben hat Stavros Mentzos eine wichtige Rolle gespielt. Thilo Maria Naumann hat ihn familiär als Stiefvater erlebt und fachlich als aufgeschlossenen Wissenschaftler in fruchtbaren Gesprächen und Projekten zum Verhältnis von Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie. Cornelia Krause-Girth hat bei Mentzos ihre Lehranalyse absolviert und verdankt ihm die Erfahrung einer ermutigenden, unkonventionellen Lehranalyse, in der das Setting gemeinsam ausgehandelt wurde, und ein überaus anregendes Vorbild für eine sozialkritische, intersubjektive, zugleich warmherzig-humorvolle Behandlungsweise und für eigenständiges Denken, auch als DPV-­Mitglied. In unnachahmlicher Weise gelang es ihm, menschlich zugewandt und zugleich distanziert zu bleiben. Gemeinsam wollten wir uns an Stavros Mentzos erinnern – so gewann das Buchprojekt immer mehr Kontur. Bei der Trauerfeier trafen wir neben langjährigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auch Kolleginnen und Kollegen, von denen wir zunächst nicht wussten, was sie mit Mentzos verband. Der Verlust, den sein Tod für jeden Einzelnen bedeutete, kam bereits dort in persönlichen

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Gesprächen zum Ausdruck. Und so war es einige Wochen später nicht schwer, interessierte Kolleginnen und Kollegen zu finden und zu fragen, ob sie an unserem Buchprojekt mitwirken möchten. Wir erhielten schnell genug Zusagen. Auch »sein« Verlag Vandenhoeck & Ruprecht zeigte sich an unserem Projekt interessiert, namentlich Günter Presting, Verlagsbereichsleitung Psychologie. Bei Zusammenkünften mit den Autoren »wurde schon eindrucksvoll deutlich, wie Mentzos erlebt wurde: neugierig, tolerant, liberal, Autonomie fördernd, ermutigend, positiv, offen für die Diskussion von Fehlern und das Nachdenken über Behandlungsabbrüche«, wie es im Protokoll unseres Treffens im April 2016 heißt. So entstand schnell ein Erinnerungsraum, in dem neben Anekdoten, Eindrücken und Erfahrungen vor allem viel Dankbarkeit zum Ausdruck kam. In unserer gemeinsamen Erinnerung wurde Stavros Mentzos gleichsam lebendig – ganz dem Ziel unseres Buchprojekts entsprechend. Ebenso wie wir als Herausgeber waren auch alle anderen Autoren dieses Buchs auf unterschiedliche Weise und zu verschiedenen Zeiten mit Mentzos persönlich und fachlich verbunden: als Mitarbeiterin Elisabeth Troje, als Mitarbeiter Alois Münch, Günter Lempa, Friedrich Markert und Jannis S. Kontos, als Supervisandinnen Waltraud Nagell und Anatoli Pimenidou sowie als Supervisionsgruppe Marianne Andrasch-Roth, Dieter Brockschmidt, Eva Fischer-Mertens, Renate Hausmann, Werner Menz, Gabriele Otto und Hildegard Wollen­weber. Ihre Beiträge sind aus den jeweiligen Arbeitszusammenhängen und fachlichen Beziehungen entstanden, in denen die Autoren Mentzos persönlich begegnen konnten, und sie bringen vielfältige Facetten seiner Persönlichkeit und seines Wirkens zum Ausdruck. Als Mitherausgeber der Buchreihe »Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie« führte Alois Münch anlässlich seines 80. Geburtstags ein Interview mit Mentzos, das einen lebendigen Eindruck seiner Person und seines Werdegangs vermittelt. Unseren Wunsch, das hier erneut abgedruckte Interview um dessen Entstehungsgeschichte zu ergänzen, hat Münch gern erfüllt. Die »Geschichte einer Kooperation« zeigt Mentzos in seiner Vielseitigkeit als freundlichen, anregenden Lehrer und toleranten Chef aus der Sicht des ehemaligen Studenten und späteren Mitarbeiters, als ermutigenden Supervisor des niedergelassenen Psychoanalytikers und als publikationsfreudigen, kreativen Wissenschaftler und Mitherausgeber. Der Artikel gibt einen guten Überblick über die rege Publikationstätigkeit und die vielseitigen Themen, die Mentzos bis zu seinem Tod bearbeitet hat. Günter Lempa gehört zu den langjährigen Mitarbeitern von Mentzos, die sein Konzept zur Behandlung von Psychosen und insbesondere Schizophrenie mit entwickelt haben und seit vielen Jahren anwenden und lehren. Inzwischen

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hat er neben zahlreichen Veröffentlichungen auch ein Manual zur Psycho­ dynamischen Psychotherapie der Schizophrenie vorgelegt (Lempa, von Haebler u. Montag, 2016). Sein Beitrag »Mentzos und die Schizophrenie« macht deutlich, welch immense praktische wie theoretische Bedeutung Mentzos’ Konzepten zur psychoanalytischen Behandlung der Schizophrenie zukommt. Lempa verortet die dreißigjährige Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieses neuen Behandlungskonzeptes vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung psychoanalytischer Psychosentherapie und den jeweiligen alternativen Behandlungsmodellen. Elisabeth Troje arbeitete viele Jahre an der psychotherapeutischen Beratungsstelle für Studierende, die mit vier bis fünf Arbeitsstellen zu der von Mentzos geleiteten Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik im Zentrum für Psychiatrie des Universitätsklinikums Frankfurt am Main gehörte. Als niedergelassene Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin, als Autorin zahlreicher Fachbeiträge und als Mitherausgeberin des »Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie« war der Schwerpunkt ihres Interesses die Entstehung und Behandlung von Psychosen. Als sie mit Mentzos über die Werke Dostojewskis sprach, die sie mit wachsender Begeisterung las, sagte er: »Lesen Sie die ›Brüder Karamasow‹!«. Anhand ausgewählter Textpassagen aus diesem letzten Roman Dostojewskis illustriert sie ihre Beziehung zu Mentzos, ihre und seine Beziehung zu Dostojewski und macht seine Haltung den Menschen gegenüber spürbar. Friedrich Markert, ebenfalls einer der frühen Mitarbeiter von Mentzos, teilte mit ihm das Interesse an antiker Philosophie und Lebenskunst und wurde von ihm dazu ermutigt, sich mit dem Thema Philosophie der Lebenskunst und Psycho­analyse auseinanderzusetzen. Seine Erinnerungen an den Menschen Stavros Mentzos, der für ihn Vorbild war, reflektiert er unter der Frage, ob Mentzos stoische und epikureische Lebenseinstellungen in sich vereinte. Er widmet ihm seine Arbeit, die hier erstmalig veröffentlicht wird. Markert war viele Jahre an der gruppenanalytischen Fortbildung chinesischer Psychologen und Psychiater in Shanghai beteiligt. Bemerkenswert ist, dass mehrere Kollegen, die bei Mentzos gearbeitet hatten, namentlich Alf Gerlach, Matthias Elzer, Ulrich Ertel, Klaus Kocher, Hermann Schultz, Michael Wolf, Thomas Pollak und Joachim Rothaupt, an dieser Fortbildung als Dozenten mitwirkten bzw. mitwirken. Mit einem Schmunzeln nannten sie sich die »Mentzosbuben«. Auf diese Weise wurde der Mentzos’sche Geist auch nach China getragen. Jannis S. Kontos hat in den 1970er Jahren in Frankfurt am Main seine psychiatrische und psychoanalytische Ausbildung absolviert und als Assistenzarzt bei Mentzos gearbeitet. Später, in seiner Praxis in Athen, hat er weiterhin

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schwer gestörte Patientinnen behandelt und dabei eine eigene Theorie über »lebend-tote Patientinnen« entwickelt. In seinem eindrücklichen Fallbeispiel von Antigone schildert er die Auswirkungen einer psychotischen Mutter auf die Entwicklung der Tochter sowie deren langjährige psychoanalytische Behandlung, die sich an Bion und Green orientiert. Im Fokus der Falldarstellung stehen die negativen Halluzi­nationen (Green) und der negative intermediäre Raum (Winnicott) im Erleben der Patientin. Auch Kontos widmet seinen Beitrag Mentzos in Dankbarkeit. Waltraud Nagell war vor ihrer Ausbildung zur Psychoanalytikerin und Gruppenanalytikerin eine engagierte leitende Internistin. Sie analysiert ihre Supervisions­erfahrungen mit Mentzos vor dem Hintergrund der eigenen Erforschung von Supervisionsprozessen in der analytischen Ausbildung (Nagell, Steinmetzer, Fissabre u. Spilski, 2014). Differenziert arbeitet sie die Besonderheiten der Supervision mit Mentzos heraus: seine »unerbittliche Nachgiebigkeit«, seine erlebbare intersubjektive Haltung, seine ständige Bereitschaft zum probehaften Perspektivenwechsel, das »Primat des Mitmenschlichen« sowie die Bedeutung dieser Haltung für ihre Entwicklung der eigenen analytischen Haltung und des eigenen Arbeitsstils. Anatoli Pimenidou, in Deutschland psychodynamisch und humanistisch ausgebildete Einzel- und Gruppenpsychotherapeutin aus Griechenland, war von 2009 bis zu seinem Tod in Supervision bei Mentzos und konnte mit ihm zuweilen in griechischer Sprache plaudern. Beginnend mit der Anwendung des Bipolaritätsmodells auf die griechische Tragödie des Königs Ödipus von Sophokles, veranschaulicht sie an Fallbeispielen, wie sie gelernt hat, ihr therapeutisches Handeln und die Probleme mit ihren Patientinnen im Spiegel der haltgebenden, ermutigenden und theoriegeleiteten Supervision zu sehen. Besonders hebt sie hervor, wie sie mit Mentzos erkennen konnte, dass es genügt, eine hinreichend gute Therapeutin zu sein. Was Gruppensupervision bei Mentzos bedeutete, wurde ein halbes Jahr nach seinem Tod auf eindrückliche persönliche Weise von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer langjährigen Gruppe, die bis zu seinem Tod mit ihm arbeitete und weiterbesteht, bei der 25. Jahrestagung des Frankfurter Psychose-Projekts auf einem Podium geschildert. Die Gruppe hat unsere Bitte, ihre Vorträge für unser Buch zu einem Beitrag zusammenzufassen, gern erfüllt und gibt einen lebendigen Eindruck seiner Person und seiner Arbeitsweise. Thilo Maria Naumann gewährt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive einen umfassenden Einblick in das wissenschaftliche Werk von Mentzos und seine wichtigsten Konzepte, wie das der Bipolarität des Menschen, des DreiSäulen-Modells, der institutionalisierten Abwehr und Pseudo-Wir-Bildungen

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sowie des innovativen Vier-Felder-Modells, das Mentzos in einem unveröffentlichten Manuskript entwickelt hat (Mentzos, 2015). Auf diese Weise rückt er das sozialpsychologische und sozialkritische Schaffen von Mentzos in den Fokus. Dabei verliert er die Person, den Menschen Stavros Mentzos nicht aus dem Blick, sondern zeigt dessen persönliche Zielsetzungen auf: die Anwendung seiner bipolaren Psychoanalyse auf psychosoziale Probleme und zur Untersuchung der »psychodynamischen Dimension sozialer Prozesse«. Unter dem Titel »Die universelle Bipolarität des Menschen – destruktive Tendenzen und schöpferische Potenziale im psychosozialen Feld« gelingt es Naumann, die vielseitige Anwendbarkeit des Bipolaritätsmodells in diversen psychosozialen Feldern zu demonstrieren, beispielsweise auf Themen wie Neoliberalismus, Individualisierung und Rechtspopulismus, Geschlecht und Sexualität sowie zur Prävention destruktiver Tendenzen und zur Entfaltung dialektisch-schöpferischer Potenziale. Ein herzlicher Dank gilt Ro Naumann-Mentzos, die Bilder aus dem Familienarchiv für dieses Buch zur Verfügung gestellt und den Hinweis auf das titelgebende Zitat Bertrand Russells gegeben hat. Ein ebenso herzlicher Dank gilt Dominik Mentzos. Er hat die Bilder aus dem Familienarchiv professionell aufbereitet, eigene Fotos in das Buchprojekt eingebracht und im Dialog mit den Herausgebern das Arrangement der Bilder gestaltet.1 Daneben geht ein besonderer Dank an das Archiv zur Geschichte der Psycho­analyse e. V., insbesondere an Hans-Joachim Rothe und Michael GieferPalme, die über viele Tage den wissenschaftlichen Nachlass von Stavros Mentzos gesichtet und vorgeordnet haben. Die umfänglichen Archivalien lagern im Bundesarchiv Koblenz und werden archivwissenschaftlich bearbeitet, so dass sie für Recherche, Forschung und zukünftige Publikationen genutzt werden können. Dabei gebührt großer Dank auch Gudrun Liehr-Völker, die Stavros Mentzos über viele Jahre gewissenhaft als Sekretärin begleitet hat. Ohne ihre Unterstützung und ihr Hintergrundwissen wäre diese Arbeit kaum zu bewältigen gewesen. Nicht zuletzt gilt unser herzlicher Dank dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht sowie den Autorinnen und Autoren. Das gemeinsame Engagement und die allseits spürbare Verbundenheit über die integrierende Persönlichkeit von Stavros Mentzos haben wesentlich zum Gelingen dieses Buchprojekts beigetragen.

1 Die Bilder, die Dominik Mentzos selbst fotografiert hat, sind mit D. M. gekennzeichnet. Alle anderen stammen aus privaten Archiven der Familie Mentzos.

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Literatur Freud, S. (1918). Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. G W XII (S. 27–157). Frankfurt a. M.: Fischer. Lempa, G., von Haebler, D., Montag, C. (2016). Psychodynamische Psychotherapie der Schizophrenien. Ein Manual. Gießen: Psychosozial-Verlag. Mentzos, S. (2009). Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (2015). Die psychodynamische Dimension sozialer Prozesse. Unveröffentlichtes Manuskript-Fragment aus dem Nachlass. Nagell, W., Steinmetzer, L., Fissabre, U., Spilski, J. (2014). Research into the relationship experience in supervision and its influence on the psychoanalytical identity formation of candidate trainees. Psychoanalytic Inquiry, 34, 554–583. Rattner, J., Danzer, G. (2007). Politik und Psychoanalyse: Plädoyer für ein Leben in Freiheit, Vernunft und Frieden. Würzburg: Königshausen & Neumann. Richter, H.-E. (2004). Freud war Pazifist. Deutsches Ärzteblatt, 40, 2680. Russell, B. (1968). Warum ich kein Christ bin. Reinbek: Rowohlt.

Alois Münch

Zur Geschichte einer Kooperation

Stavros Mentzos war eine wissenschaftlich, klinisch und philosophisch bedeutsame Persönlichkeit, und sein Umgang mit seinen Mitarbeitern und Kollegen spiegelt nicht unwesentlich seine Haltung in der psychotherapeutischen Behandlung von seelischen Störungen wider. Dem Interview, das ich zum 80. Geburtstag mit Professor Stavros Mentzos geführt habe (Mentzos u. Münch, 2010) und das im Folgenden anlässlich der »Erinnerungen an Stavros Mentzos« nochmals zu lesen ist, möchte ich einige persönliche Bemerkungen vorausschicken, die meine Erfahrungen und meine mehrjährige Zusammenarbeit mit ihm reflektieren. Als Student der Psychologie wollte ich ein Praktikum an der Uniklinik in Frankfurt am Main machen, in der Mentzos als Chef der Abteilung »Psychosomatik und Psychotherapie« tätig war. Als ich erstmals die Treppen zur Abteilung in dem auf mich eher kalt und abweisend wirkenden Gebäude der Uni­klinik hochstieg, fiel mir das Schild »Notausgang« auf, das in die entgegengesetzte Richtung wies und sich irgendwie gleich mit meinen stillen Befürchtungen und Ängsten verband, so dass ich gebremsten Schrittes die Treppe weiterging. Da kam mir ein freundlicher Mann entgegen, der offenbar meine suchende Haltung erkannte und mir den Weg zum Sekretariat von Mentzos wies, was mich ein Stück erleichterte! Als ich später mit dem Praktikum dort begann, wurde mir klar, dass der hilfreiche und freundliche Wegweiser Mentzos selbst gewesen war. Ich erwähne diese beiläufige, aber für mich eindrückliche Episode, da sie vieles von meinen späteren Erfahrungen mit Mentzos zum Ausdruck bringt. Er war mir durch seine freundliche, zugewandte, interessierte und unterstützende, meine Suchbewegungen fördernde Art eine bedeutsame und meine Kreativität annehmende Bezugsperson. Ich hatte dann später die Gelegenheit, ihn näher kennenzulernen. Zunächst durch meine Tätigkeit in der »Psychotherapeutischen Beratungsstelle für Studierende der Goethe-Universität«, die auch zu der Abteilung »Psychosomatik und Psychotherapie« gehörte. Mentzos kam hier regelmäßig als Chef zu den Teamsitzungen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, wo dann eine Kollegin

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bzw. ein Kollege eine Beratung zur Teamsupervision vorstellte. Mentzos konnte gut zuhören, aber auch kurze, treffende Bemerkungen machen. So sagte er einmal zu mir, als ich eine, sagen wir etwas »heikle« Patientin vorstellte: »Merken Sie, was hier für eine Spannung existiert!«, was die Gegenübertragung der Gruppe auf den Punkt brachte und auch den zentralen Punkt der Inszenierungen der Ratsuchenden benannte. Seine Äußerungen und Bemerkungen haben auf mich nie in erster Linie belehrend oder besserwisserisch gewirkt, sondern sind mir als hilfreiche Benennungen eines am geschilderten Prozess emotional und gedanklich um Verständnis bemühten Beteiligten in Erinnerung geblieben. Andererseits brachte er sich in solche und ähnliche Sitzungen und Besprechungen über die verschiedenen Unterabteilungen mit eigenen Fragestellungen und Arbeitshypothesen, die ihn gerade beschäftigten, ein. Das führte manchmal dazu, dass der jeweilige Kollege, der eigentlich einen Patienten vorstellen sollte und wollte, etwas unruhig wurde und innerlich fürchtete, nicht genug Zeit zu bekommen, um sein Anliegen vorzustellen. Mir ist aber nie eine Situation bekannt geworden, wo dies der Fall gewesen wäre; letztlich kam nach meinem Empfinden doch immer jeder ausreichend zu Wort. Das konnte heißen, dass kontroverse Standpunkte und Einschätzungen zum Ausdruck kamen, die auch unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestanden. Dies erkennt man leicht, wenn man sich die verschiedenen Veröffent­lichungen anschaut, die Mentzos gemeinsam mit seinen damaligen Mitarbeitern der Abteilung herausgegeben hat. So in dem Buch mit dem für Stavros Mentzos gewissermaßen programmatischen Titel »Psychose und Konflikt« (Mentzos, 1992), der Unterschiede und Kontroversen, eben auch Konflikte zwischen den verschiedenen Beiträgen und Positionierungen erkennen lässt und somit einen Diskussions­ prozess abbildet. Ebenso wird in der Titelgebung ein zentraler theoretischer Ansatz von Mentzos in Bezug auf die Psychosen schon früh deutlich. Er sieht nämlich die Psychose nicht als psychisches Geschehen, dem primär ein Defekt und damit einhergehend eine primäre Ich-Schwäche zugrunde liegt, sondern er betrachtet die Psychose auf dem Hintergrund von seelischen Konflikten, unlösbaren Antinomien oder Antagonismen, intrapsychischen Gegensätzlichkeiten bzw. Dilemmata, aus denen sich die Patienten nicht ohne Weiteres zu befreien vermögen. Den psychotischen Symptomen schreibt Mentzos primär eine Schutz-, Abwehr- und Kompensationsfunktion gegen solche dilemmatischen inneren Konfliktkonstellationen zu. Eine zentrale Konfliktkonstellation bzw. dilemmatische Konstellation besteht dabei für Mentzos in dem lebenslangen dialektischen Prozess zwischen – wie er es pointierend nennt – Selbstbezug und Objektbezug! Damit meint er, dass der Mensch einerseits in sich die Tendenz hat, eine autonome Identität zu entwickeln, autark und selbstständig, auf sich selbst bezogen

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zu sein, andererseits gibt es aber auch die Tendenz zur Bindung, zur Kommunikation, zur Solidarität und zur Vereinigung mit dem Objekt, also den Objektbezug. Das Individuum bewegt sich in der gesamten Lebensspanne in und zwischen dieser Bipolarität und muss sich in den verschiedenen Lebensphasen und Konflikten immer wieder dieser Aufgabe der dialektischen Konflikt­lösung stellen. Ich glaube, man liegt nicht falsch, wenn man in solchen Gedanken einen Übertrag von Mentzos’ Beschäftigung mit dialektischer Philosophie auf klinische Prozesse und Aufgabenstellungen der menschlichen Entwicklung sieht. Mentzos hat diesen Ansatz in seinen frühen Veröffentlichungen, Büchern und Artikeln im »Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie« entwickelt und in seiner letzten Veröffentlichung, dem »Lehrbuch der Psychodynamik« (Mentzos, 2009; siehe auch Mentzos, 1982), in seiner ausformuliertesten Form dargelegt. Seine umfängliche Publikationsgeschichte bildet so auch zum Teil die verschiedenen Kontexte ab, in denen Mentzos als Neurologe und Psychiater, als Psychoanalytiker und Psychotherapeut, als Supervisor, Lehranalytiker und Lehrtherapeut für Psychotherapeuten, als auch als Wissenschaftler, Autor, Herausgeber, Vortragender, Mitgestalter und Initiator von Ausbildungsgängen in psychoanalytischer Psychosentherapie tätig wurde. Der hier vorliegende Band lässt nun verschiedene Kolleginnen und Kollegen zu Wort kommen, die Mentzos zu unterschiedlichen Zeiten und somit in verschiedenen Aus- und Weiterbildungskontexten kennen und schätzen gelernt haben. Er spiegelt somit zum Teil das breite Tätigkeits- und Interessenfeld wider, in dem sich Mentzos zu bewegen wusste und das er beeinflusste und mitgestaltete. Ich habe ihn vorwiegend zunächst als Chef der Abteilung »Psychosomatik und Psychotherapie«, als Spiritus Rector der Arbeitsgruppe »Psycho­analytische Psychosentherapie«, dann lange Jahre als Supervisor von Patienten und Patientinnen meiner Praxis und schließlich bei der gemeinsamen Herausgabe von Bänden der Schriftenreihe »Forum der psychoanalytischen Psychosen­therapie« kennengelernt. In all diesen Bereichen erinnere ich mich vor allem an einen Menschen, dessen Freundlichkeit, Zugewandtheit, dessen Fähigkeit zu spontanem Interesse und Engagement, zu kritischem Abwägen und zum Zweifeln, zur Vorsicht, aber auch zur beherzten Tatkraft in mir wachgerufen werden. Stavros Mentzos hatte die seltene, aber sehr bedeutsame Fähigkeit, Mitmenschen zu beeindrucken, zu bestärken und zu gewinnen, ohne sie dominieren zu müssen. Und gerade diese Haltung hat sehr vieles in der Zusammenarbeit mit ihm möglich gemacht. Als Chef brachte er zusammen und tolerierte Assistenten, die auch in der Theoriebildung eigene und unterschiedliche Wege gingen, was für eine gewisse

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Spannung und Lebendigkeit in den Diskussionen sorgte. Er unterstützte sie auch in ihren psychoanalytischen Weiterbildungen. Dies galt für Ärzte wie für Psychologen, mit denen die Abteilung zu meiner Zeit etwa paritätisch besetzt war. Als Supervisor war seine Haltung mir gegenüber immer von Neugierde und Interesse bestimmt. Das galt auch bei »schwierigen« Behandlungen. Nicht selten kam ich zu ihm mit Behandlungen, bei denen ich nicht recht weiterwusste. Aber Mentzos hatte als Supervisor die Gabe, meist einen Ansatzpunkt für ein progressives Moment in der Behandlung zu finden, so dass zumindest der Mut bestärkt wurde, die therapeutische Beziehung weiter zu wagen. Dabei war es immer möglich, Patienten mit den unterschiedlichsten Störungsbildern von den klassischen Psychoneurosen über Borderline-Störungen bis hin zu den Psychosen vorzustellen. Diese Offenheit und Breite der Behandlungserfahrung eines Supervisors hat mir bei meinen Supervisionserfahrungen in meiner engeren psychoanalytischen Ausbildung hier und da doch gefehlt, da es hier immer wieder meines Erachtens vorurteilige Kollegen und Kolleginnen gab, die an den »klassisch« genannten Psychoneurosen orientiert waren und sich schwertaten, den veränderten Gegebenheiten bei Patienten mit diesen Störungsbildern zu folgen, die weniger häufig Psychotherapeuten und Psychoanalytiker aufsuchten. Mentzos hatte keine Probleme, sich auf solche Veränderungen einzustellen, und hat sich unter anderem in seinem viel gelesenen Buch über die Hysterie (Mentzos, 1980) früh damit auseinandergesetzt. Charakteristisch war auch, dass Mentzos immer am Befinden des supervidierten Kollegen und an dessen aktuellen Themen interessiert war bzw. daran, was dieser wohl zu dem dachte, womit Mentzos sich selbst gerade beschäftigte. Die Supervisionssitzung wurde so meist mit der Fragestellung »Wie geht’s?«, »Was gibt es Neues?«, »Was halten Sie davon?« eingeleitet. Das konnte dazu führen, dass man befürchtete, auf dem eigenen Anliegen, der Besprechung des Patienten, sitzen zu bleiben. Was aber eigentlich nie geschah. Durch eine entsprechende Wendung wurde der Patient oder die Patientin zum Zentrum des Gesprächs. Wobei es dann gelang, auch verwirrende Dynamiken schließlich mit klärenden Perspektiven zu erhellen. Das hinterließ bei mir Mut und gestärktes Engagement auch für schwierige Behandlungen. Nach seiner Pensionierung gründete Mentzos gemeinsam mit einigen ehemaligen Mitarbeitern und Kollegen das »Frankfurter Psychose-Projekt e. V.«. Der Verein, dessen Vorsitzender er bis zu seinem Versterben war, organisiert seither alljährlich in der ersten Dezemberwoche eine Tagung in Frankfurt am Main, die sich mit theoretischen und praktischen klinischen Fragestellungen der psychoanalytischen Psychosentherapie auseinandersetzt. Einige Mitglieder des Vereins sind auch in Weiterbildungsangeboten in anderen deutschen Städten, etwa

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in München und Berlin, als Organisatoren und Dozenten tätig geworden und haben so auch dazu beigetragen, die Ideen von Mentzos und des »Frankfurter Psychose-Projekts« weiterzuvermitteln. Mit der Vereinsgründung entstand auch ein Publikationsorgan. Die erste Ausgabe bestand noch in einer kopierten und so vervielfältigten Version, die mehr einem internen Lesepublikum zugänglich war. Dann aber fand sich der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht bereit, das »Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie« (Mentzos, 1999–2015) zwei Mal im Jahr als Buch zu verlegen. Mentzos war nun der Herausgeber und fünf Kollegen inklusive meiner Person wurden Mitherausgeber. Dabei bildeten sich drei Herausgeberpaare, die jeweils für die thematische Gestaltung und Herausgabe eines Bandes zuständig waren. Ich bildete in diesem Zusammenhang mit Mentzos ein solches Herausgeberpaar, das dann das Thema des Bandes bestimmte, die Autorinnen und Autoren dazu suchte, die eingehenden Arbeiten las, diese an den Verlag weiterleitete und die weitere Gestaltung und Fertigung des Buchs mit dem Verlag abstimmte. Dabei war aufseiten des Verlags Frau Ulrike Rastin eine stets ansprechbare und hilfreiche Kooperationspartnerin. Von diesem Periodikum sind zwischenzeitlich immerhin 31 Exemplare erschienen. Davon habe ich zehn Bände gemeinsam mit Stavros Mentzos gestaltet und herausgegeben. Das letzte gemeinsame Buch in dieser Reihe ist 2015 unter dem Titel »Widerstände gegen ein psychodynamisches Verständnis der Psychosen« erschienen. Es ist auch deshalb wichtig, weil es die letzte von Mentzos noch vor seinem Tod fertiggestellte Arbeit enthält. Darüber hinaus reflektieren die verschiedenen Beiträge des Bandes kritisch die sich stark verbreitenden gesundheitspolitischen Tendenzen einer szientistischen Psychiatrie und Psychologie, die auf Psychosen im Wesentlichen unter organmedizinischen Aspekten reagiert, also mit Psychopharmakologie, mit Elektrokrampftherapie und zur Verhaltensmodulierung bzw. Anpassung an die sozialen Realitäten und Normsetzungen mit Entspannungstraining und verhaltenstherapeutischen Übungen. Die Beiträge, die in diesem Band versammelt sind, reflektieren diese Entwicklung in der psychiatrischen Versorgung aus einer aktuellen und kritischen psychoanalytischen Perspektive. Mentzos war es wichtig, dass wir in unserer Einleitung zu dem Band auf die schwierige Entstehung und die sperrige Rekrutierungsgeschichte von Autoren zu dieser Thematik hinweisen. Andere Titel des »Forums« verweisen auf ein weites Spektrum an Themen. Ich möchte hier nur einige der Titel anführen, die ich mit Mentzos gemeinsam herausgegeben habe. Eines der ersten Hefte beschäftigt sich mit der Bedeutung des psychosozialen Feldes für die Psychosen (Mentzos u. Münch, 1999) und macht deutlich, dass für Mentzos nicht nur intrapsychische, sondern auch interpersonelle und psychosoziale Konflikte von Bedeutung waren.

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Ein viel gelesener Band behandelt das Thema »Borderline-Störung und Psychose« (Mentzos u. Münch, 2001), er hat ein breites Interesse und für ein solches Fachthema einen großen Leserkreis gefunden. Das Thema »Sexualität und Psychose«, das schon früher in der Abteilung kontrovers diskutiert wurde, wurde im Dezember 1999 ein Tagungsthema des »Frankfurter Psychose-Projekts«. Die unterschiedlichen Fragestellungen und Positionen zu diesem Zusammenhang wurden in lebendigen Referaten und Diskussionsbeiträgen vorgetragen, kritisch besprochen und schließlich in dem gleichnamigen Band des »Forums« veröffentlicht (Matejek u. Müller, 2002). Bemerkenswert ist, dass das Thema »Psychose und Sucht« (Mentzos u. Münch, 2003), das bei psychiatrischen Patienten von recht großer Bedeutung, aber nicht gerade häufig Gegenstand theoretischer und praktischer Erörterungen auch bei psychoanalytischen Autoren ist, in einem Band des »Forums« bearbeitet wurde. Der Band 18 mit dem Titel »Britische Konzepte der Psychosentherapie« (Mentzos u. Münch, 2007) versucht, der Entwicklung der Psychosentherapie in England Rechnung zu tragen, indem er Autoren, die verschiedene angelsächsische Schulen darstellen, zu Wort kommen lässt und auch der damals neuen Frage nachging, ob die gerade entstandene Theorie der Mentalisierung von Fonagy und Target, die vorrangig für die Behandlung von traumatisierten und Borderline-Patienten entwickelt worden war, auch einen Beitrag zum Verständnis und der Therapie der Psychosen leisten könne (vgl. Münch, 2007). Die in der Behandlung von Psychotikern sehr wichtigen Aspekte der therapeutischen Beziehung werden in dem Band mit dem Titel »Gegenübertragung – Arbeitsprozesse in der psychoanalytischen Psychosentherapie« (Mentzos u. Münch, 2009) bearbeitet, in dem die Mentalisierungsthematik von Mentzos fortgesetzt wird und von den Autorinnen und Autoren vor dem Hintergrund verschiedener Fälle und auch mit Blick auf das stationäre Setting reflektiert wird, so dass sich hier eingehende Beschreibungen der therapeutischen Arbeits­ prozesse finden lassen. Sehr beschäftigt war der Psychiater und Psychoanalytiker Stavros Mentzos auch mit der Frage der Medikation von psychotischen Patienten. Er hat dazu verstreut in Supervisionen, Vorträgen und in seinen verschiedenen theoretischen Arbeiten immer wieder kritisch Stellung bezogen und eine Position eingenommen, die sich vielleicht kurz mit dem Satz umreißen lässt: So viel wie nötig und so wenig wie möglich! (siehe dazu auch Münch, 2016). Hervorzuheben ist auch, dass künstlerische Prozesse in den Bänden immer wieder zum Gegenstand der Betrachtungen wurden, unter anderem in dem Band »Psychose und Literatur« (Mentzos u. Münch, 2004), wo Mentzos einen Artikel

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Alois Münch

zu »Psychose und Kreativität« liefert und unter anderen Autoren auch Leo Navratil etwas zu dem schizophrenen Dichter Ernst Herbeck schreibt. Die Auseinandersetzung mit kreativen Prozessen wird weitergeführt in den Bänden »Psychose im Film« (Mentzos u. Münch, 2006) und auch besonders in »Das Schöpferische in der Psychose« (Mentzos u. Münch, 2012). Hier finden sich Erörterungen zu künstlerischen Produkten von psychotisch erkrankten Menschen (Film, Bildhauerei, Literatur, Malerei, Kunstgeschichte u. a.) und theoretische Reflexionen über die Bedeutung des Schöpferischen in der Psychose. Es wird so deutlich, dass dem Psychotischen nicht nur etwas Defizitäres, sondern auch eine kreative, eine schöpferische Potenz innewohnen kann, was die einzelnen Beiträge der Bände an verschiedenen künstlerischen Beispielen, auch mit dem Verweis auf bedeutende Wissenschaftler und Künstler, die eine Psychose hatten, eindrücklich deutlich machen. Eine andere Seite von Stavros Mentzos wird in den Bänden des »Forums« nicht so deutlich, ist aber gleichwohl bedeutsam, denn er war auch an politischen und sozialen Fragen sehr interessiert. Sein Buch »Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen« (Mentzos, 1993) sei deshalb vor dem Hintergrund aktueller Beunruhigungen in dieser Welt hier noch besonders erwähnt. Abschließend möchte ich nochmals auf das folgende Interview hinweisen, das ich mit Mentzos zu seinem 80. Geburtstag geführt habe. Er gibt hier auf sehr lebendige Art und Weise Auskunft über seine Herkunft, seine Familie, seine Ausbildung, seinen beruflichen Werdegang, seine philosophischen und politischen Positionierungen und die Entwicklung seiner zentralen Ideen und Gedanken. Ich möchte es als Einstieg in seine Gedankenwelt und um mit seiner Persönlichkeit in Beziehung zu kommen sehr empfehlen, da es ihn in gewisser Weise noch einmal lebendig werden lässt.

Literatur Matejek, N., Müller, T. (Hrsg.) (2002). Sexualität und Psychose. Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Bd. 6. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (1980). Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (1982). Neurotische Konfliktverarbeitung. München: Kindler. Mentzos, S. (Hrsg.) (1992). Psychose und Konflikt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (1993). Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen. Frankfurt a. M.: Fischer. Mentzos, S. (2009). Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S., Münch, A. (Hrsg.) (1999). Die Bedeutung des psychosozialen Feldes und der Beziehung für Genese, Psychodynamik, Therapie und Prophylaxe der Psychosen. Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Bd. 2. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S., Münch, A. (Hrsg.) (2001). Borderline-Störung und Psychose. Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Bd. 5 (2. Aufl. 2003). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Mentzos, S., Münch, A. (Hrsg.) (2003). Psychose und Sucht. Forum der psychoanalytischen Psychosen­therapie, Bd. 8. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S., Münch, A. (Hrsg.) (2004). Psychose und Literatur. Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Bd. 11. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S., Münch, A. (Hrsg.) (2006). Psychose im Film. Forum der psychoanalytischen Psychosen­ therapie, Bd. 14. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S., Münch, A. (Hrsg.) (2007). Britische Konzepte der Psychosentherapie. Forum der psycho­ analytischen Psychosentherapie, Bd. 18. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S., Münch, A. (Hrsg.) (2009). Gegenübertragung – Arbeitsprozesse in der psycho­ analytischen Psychosentherapie. Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Bd. 21. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S., Münch, A. (2010). Stavros Mentzos wird zu seinem 80. Geburtstag von Alois Münch interviewt. In S. Mentzos, A. Münch (Hrsg.), Reflexionen zu Aspekten einer Theorie der Psychosen. Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Bd. 24 (S. 95–120). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S., Münch, A. (Hrsg.) (2012). Das Schöpferische in der Psychose. Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Bd. 28. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S., Münch, A. (Hrsg.) (2015). Widerstände gegen ein psychodynamisches Verständnis der Psychosen. Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Bd. 31. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Münch, A. (2007). Mentalisierung: Ein Beitrag zur Theorie der Psychosen? In S. Mentzos, A. Münch (Hrsg.), Britische Konzepte der Psychosentherapie (S. 70–84). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Münch, A. (2016). Psychodynamische Modelle der Medikamentenapplikation und ihre Synergien mit der Psychotherapie. In J. Küchenhoff (Hrsg.), Psychoanalyse und Psychopharmakologie. Grundlagen, Klinik, Forschung (S. 91–108). Stuttgart: Kohlhammer.

Stavros Mentzos wird zu seinem 80. Geburtstag von Alois Münch interviewt

Münch: Lieber Professor Mentzos, Sie sind 1930, im März, in Athen geboren und mithin dieses Jahr 80 Jahre alt geworden. Das ist ja doch eine lange Wegstrecke der Erfahrung, der Lebenserfahrung, aber auch der beruflichen Erfahrung als Psychiater und als Psychoanalytiker. Ich habe mich gefragt, ob Ihre Berufswahl den Erwartungen, die Ihre Eltern an Sie hatten, wohl entsprochen hat. Mentzos: Ich glaube, dazu muss ich zunächst etwas zu meiner Herkunft sagen. Ich komme nicht aus einer Akademikerfamilie. In meiner Familie zählten mehr die handfesten Dinge. Mein Vater – seine Ursprungsfamilie stammt aus Nordgriechenland – war ursprünglich Bäcker und Konditor und hat später mit Getreide gehandelt. Meine Mutter kommt aus einer kinderreichen Familie von Fischern von einer Insel in der Ägäis bzw. aus Lavrion im südlichen Attika. Das ist die Verbindung vom Norden und dem Süden. Von daher bestand nicht nur kein Interesse, sondern auch kein Wissen darüber, das zu Ambitionen für eine akademische Ausbildung hätte führen können. Mein Vater hat Anfang der dreißiger Jahre etwas mehr Geld verdient, was er alles zu Beginn des Krieges verloren hat. Der Krieg war eine dramatische Situation. Mein Vater erwartete, dass einer seiner drei Söhne einmal Bäcker oder Konditor oder Kaufmann werden würde. Er war aber dann letztlich nicht enttäuscht, sondern akzeptierte mein Studium. In Athen gab es einen sehr strengen Numerus clausus für die Medizin. Also von über 1200 Kandidaten wurden nach einer schweren Prüfung nur 100 angenommen. Und als mein Vater erfuhr, dass ich bei den Ersten war, da konnte er nichts mehr sagen (beide lachen). Münch: Das heißt, Sie waren eigentlich ein guter Schüler? Mentzos: Ich war ein guter Schüler, aber zum Glück kein Primus! Ich war bei den ersten vier fünf und das ist eine bessere Position, als wenn man der Primus ist, der alles wissen muss, der die Verantwortung trägt, der keine Fehler machen darf. In dieser Zeit hat mir sehr geholfen, dass ich in eine gute PeerGruppe von Jungs kam, die aus Athener Akademiker- und Literatenfamilien

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stammten, so dass mein Interesse für intellektuelle Themen durch unsere Diskussionen ziemlich früh geweckt wurde. Ich habe damals, mit 16 Jahren, für eine Arbeit über die deutsche Philosophie in einer kleinen lokalen Zeitschrift sogar einen Preis bekommen. Münch: Oh! Mentzos: Also, diese Interessen waren früh da. Münch: Das heißt, Sie haben sich also anscheinend schon damals für philosophische Fragen interessiert? Mentzos: Ja, ziemlich früh, mit 14 und 15 Jahren habe ich ein bisschen reingelesen, ich konnte selbstverständlich noch kein Deutsch, aber es gab ziemlich viele Wissenschaftler in Griechenland, die in Deutschland studiert hatten, so dass die entsprechende Literatur zugänglich war. Gleichzeitig mit dieser philo­sophischen Lektüre hatte ich auch meine erste Lektüre von FreudTexten in einer schlechten Übersetzung mit 17, 18 Jahren. Und ebenso, aber mehr, um ein wenig Englisch zu lernen, las ich ein psychologisches Buch von William James. Münch: William James? Mentzos: Ja. Einer der Begründer des Pragmatismus. Und das war das erste Mal, wo zwei Gegensätze, der deutsche Idealismus, meine preisgekrönte Arbeit, und der amerikanische Pragmatismus zusammengestoßen sind. Der James hat mich fasziniert mit seiner realitätsnahen Art, mit psychologischen Problemen umzugehen. Es gibt diese »James Lange«-Emotionstheorie, die ist von diesem James. Ich will damit sagen, es war ziemlich früh, dass ich mich damit beschäftigt habe. Münch: Wenn ich das richtig verstehe, dann sind Sie ja schon sehr früh mit gegensätzlichen Lebenskonzepten konfrontiert worden. Zu Hause mit einer mehr handwerklichen, ich sage einmal William-James-artigen Pragmatik, und in der Schule mit den Freunden aus Akademikerfamilien. Mentzos: Ja, richtig, mein Vater sagte: Studieren kannst du, aber das ist brotlose Kunst (beide lachen). Münch: Das ist ja verständlich für einen Bäcker. Mentzos: Ja. Aber wie gesagt, dann war er einverstanden und später auch stolz auf seinen Sohn. Münch: Ich entnehme dem auch, dass Sie doch gerne zur Schule gegangen sind? Mentzos: Doch, ich ging gerne in die Schule. Ich ging auf ein Gymnasium, das waren damals acht Schuljahre. Das hat sich in der Zwischenzeit geändert. Wir wohnten damals in der Nähe der Akropolis, in Theseion, und während dieser acht Jahre lief ich in die Schule, die etwa einen halben Kilometer ent-

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fernt war, direkt unter der Akropolis. Ich musste dabei über die Agora laufen, die damals noch kein touristischer Ort war. Anfang der dreißiger Jahre konnte noch jeder dort reingehen und dort spielen. So habe ich sozusagen früh die Luft der Agora, wo die größten Philosophen ständig spaziert sind und diskutiert haben, eingeatmet. Ob das geholfen hat (beide lachen)?! Wie gesagt, ich war nicht nur durchschnittlich, sondern ein bisschen besser als andere Schüler, aber interessiert an vielen anderen Dingen. In unserer Gruppe versuchten wir schnell mit den Schularbeiten fertig zu werden, um etwas anderes zu machen (beide lachen). Um Wichtigeres zu machen! Münch: Da ist die Peergroup doch eine sehr, sehr wichtige Erfahrung für Sie gewesen. Mentzos: Der Austausch war sehr wichtig. Allerdings auf der Basis einer guten Familie. Wir waren eine große Familie von sechs Kindern, drei Mädchen und drei Jungs, und meine Mutter war eine gutmütige Frau, ich konnte da emotional sehr viel haben, aber sagen wir, in kognitiver Hinsicht war die Peergroup wichtiger. Münch: Was mich noch beschäftigt hat, ist: Die dreißiger und vierziger Jahre, das sind ja doch in Deutschland die Jahre von Hitler, des Nationalsozialismus, und in Griechenland ist es die Zeit der Okkupation und wirtschaftlich schwerer Nöte.

Mentzos mit seinem Vater Georgios und seinem älteren Bruder Ioannis

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Mentzos: Ja, es war eine sehr schwierige Zeit. Denn es war nicht nur in Deutschland eine Zeit der Diktatur, sondern auch in Griechenland, die Dik­tatur von Metaxas. Als er 1936 an die Macht kam, hat er alle sozialistischen Kräfte und Persönlichkeiten ins Exil geschickt und mit dem Aufbau der »Metaxas-­ Jugend« begonnen und die Nationalsozialisten nachgemacht. Münch: Also ähnlich wie in Deutschland? Mentzos: Ja, mir war als 10-Jährigem überhaupt nicht bewusst, was sich da abspielt. Mich hat nur gestört, dass wir in der Schule danach beurteilt wurden, ob wir der Obrigkeit gehorchten. Münch: Ob Sie bereit waren, sich anzupassen! Mentzos: Er hieß nicht Führer, sondern Vater. Münch: Vater? Mentzos: (beide lachen) Vater! Wir hatten einen Lehrer, der neu und offenbar ziemlich infiziert war. Als er meinen ersten Aufsatz gelesen hat, sagte er zu mir: Das hast du abgeschrieben oder jemand hat das gelesen. Es war ihm zu gut (beide lachen). Er hatte offenbar ein Vorurteil gegen mich, weil ich nicht so konform war. Dann kam der italienische Angriff gegen Griechenland, der eine nationale Bewegung erzeugte. Es war auch beschämend für die Italiener, denn Mussolini hatte nicht nur Griechenland nicht besetzt, sondern wurde auch zurückgeworfen. Sie kamen von Albanien und nach sechs Monaten hatten sie nicht nur keinen Boden gewonnen, sondern verloren. Das hat den Hitler nervös gemacht, der mit dem Balkan vor dem Angriff auf die Sowjetunion fertig sein wollte, und er erklärte 1941 den Krieg. Was folgte, war gute deutsche Arbeit, in drei Wochen war alles besetzt. Tausend Flugzeuge, unzählige Bombardements, eine gewaltige Übermacht. Nur Kreta hat noch einen Monat gehalten, mit Hilfe der Engländer. Man sagt, die Griechen sind darauf stolz, dass diese Verzögerung den Beginn des Russlandfeldzuges um einen Monat verzögert hat. Hitler hat auch gemeint, wenn die Deutschen einen Monat früher begonnen hätten, dann hätte sie der Winter vor Moskau nicht erwischt. Münch: Aber war das nicht auch in Athen eine Zeit des Hungers? Mentzos: Es war eine allgemeine Regelung für alle von den Deutschen besetzten Länder in Europa: Das Militär wird durch das betreffende Volk gefüttert. In Griechenland hat es insgesamt 500.000 Hungertote gegeben. Ich kann mich erinnern, als Kind von elf, zwölf Jahren, wie jeden Morgen die skelettierten Leichen aus den Häusern herausgetragen wurden. Da wurde ich sozusagen Widerstands­kämpfer. Wir konnten, durch eine gewisse Einrichtung, BBC hören, was sonst nicht ohne Weiteres möglich und streng verboten war. Und da habe ich die Nachrichten, die man hörte, aufgeschrieben, vervielfältigt und verteilt. Das war selbstverständlich lebensgefährlich, aber ich war damals elf, zwölf Jahre alt (beide lachen).

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Münch: Da haben Sie viel riskiert. Mentzos: Ja, aber das ging an sich gut und es ist mir auch nichts passiert. Ja, die Hungerzeit war schlimm, aber noch schlimmer waren die brutalen Gegenmaßnahmen, wenn ein oder zwei Soldaten durch griechische Partisanen in Dörfern getötet wurden. Die Strafe erfolgte dann mit tausend Toten, also, das ist unvorstellbar! Was zwar viele Ressentiments und Wut hinterlassen hat. Aber komischerweise vergessen die Griechen schnell (lacht). Münch: Haben Sie es denn vergessen? Mentzos: Ich auch, Sie sehen, ich bin nach Deutschland gekommen. Aber nicht nur ich. Auf Kreta, wo die Leute so viel gelitten haben, fiel mir auf, wie deutschfreundlich, germanophil die Leute schon einige Jahre nach dem Krieg waren. Münch: Ja? Mentzos: Ja, es war etwas von dem alten Image, das Land der Dichter und Denker zu sein, geblieben, so dass man ein wenig schnell vergessen hat. Schlimmer war der Bürgerkrieg. Münch: Aja! Mentzos: Der kam nach Beendigung der Besetzung. Die Deutschen mussten schnell den Balkan räumen, denn sonst bestand die Gefahr, abgeschossen zu werden von den Russen. Von heute auf morgen ist dann alles frei von Deutschen gewesen. Die Kommunisten wurden verfolgt. Die wurden auf Inseln geschickt und so richtig gequält. Münch: Wenn ich das so höre, dann denke ich, da waren Sie in dieser Zeit doch immer wieder sehr bedrohlichen Situationen ausgesetzt. Mentzos: Ja, und das war einmal durch die Besatzung, aber das war 1944, als ich ein bisschen bewusster geworden war, schon vorbei, so dass das andere das Schwierige war, die Extremisten, die Rechten und die Linken. Zum Kriegsende bestand auch bei allen besetzten Ländern ein Vakuum. In dem Moment, wo sich die Besatzungsmacht zurückzog, entstand zunächst ein Vakuum an Ordnung. Es gab keinen Staat, keine Polizei, und so ist alles möglich. Stalin hat das gesehen und versucht, schnell zu handeln. Was Sie fragten, Medizin habe ich nicht studiert mit der Absicht, um Psychiater oder Psychoanalytiker zu werden, sondern ich wollte Medizin aus hehren sozialen Gründen, um Menschen zu helfen, studieren. Ich war erstaunt, als ich merkte, dass es viele Kommilitonen gab, die es wegen des Geldes und des Prestiges studierten. Münch: Das war bei Ihnen nicht das Entscheidende. Mentzos: Ne, ne. Münch: Sie waren ja dann auch als Sanitätsarzt tätig.

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Mentzos: Ja, 1953; man durfte nicht ausreisen, wenn man keinen Militärdienst gemacht hatte. Kurz nach der Beendigung des Bürgerkrieges, mit dem Sieg der konservativen Kräfte, musste man eine lange Zeit Militärdienst machen. Gerade die Ärzte mussten drei Jahre dienen, sie waren billige Kräfte. Ich war von 1953 bis 1957 Sanitätsoffizier in verschiedenen Orten, z. B. an der bulgarischen Grenze. Münch: Wissen Sie, was mir da einfällt? Als ich noch in der psychotherapeutischen Beratungsstelle arbeitete, da habe ich einmal eine Patientin vorgestellt, die mir so gut gefallen hatte, und die kam aus Bulgarien, und da haben Sie mir erzählt, dass Sie einmal als Soldat an der bulgarischen Grenze tätig waren und dort durchs Fernglas einen bulgarischen Soldaten sahen und überrascht waren, dass der so gut und nett aussah. Mentzos: Ja, dort war ich ein Jahr. Das waren wichtige und neue Erfahrungen. Denn ich kam ja aus der Mittelklasse und glaubte, ich kenne die Welt. Die Mehrheit der Leute gehörte aber einer anderen Klasse an, die ich erst beim Militär kennengelernt habe. Bei der Rekrutengrundausbildung waren etwa 1800 Leute, die zum großen Teil Analphabeten waren, und daneben 18 Ärzte. Da sieht man, dass die Welt ganz anders ist, als man glaubt. Wieder der Realismus und der Pragmatismus. Und man sieht, das ist eine ganz dünne Schicht von entweder reichen oder intellektuellen Typen und alles andere ist ganz anders. Münch: Das ist auch ein starker Gegensatz, den man da erlebt.

Mentzos als Sanitätsarzt in der griechischen Armee

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Mentzos: Ja. Ich war, wenn Sie so wollen, ein bisschen gefährdet, Kommunist zu werden. Ich wurde es aber nicht. Und zwar spielt die Religiosität, die mehr von meiner Mutter kam, eine Rolle. Es gab aber heftige Auseinandersetzungen mit Kommunisten und mit Christen. Münch: Das ist ja auch eine wichtige Erfahrung, dass man so was diskutieren kann. Sie sind ja dann nach der Militärdienstzeit nach Deutschland, nach Hamburg gegangen. Mentzos: Ja, sieben Tage nach der Entlassung aus dem Militär. Ich hatte einen Kommilitonen, einen Endokrinologen, der schon in Weiterbildung in Hamburg war, den ich schon aus Griechenland kannte. Er hat mich geschickt nach Hamburg gelockt. Er schrieb: »Hier ist es phantastisch, eine tolle Psychiatrie, du musst kommen!« Im Lauf des Medizinstudiums war auch mein Interesse für Psychiatrie und Psychoanalyse geweckt worden. Denn ich merkte, dass das, was mit den Patienten gemacht wurde, tatsächlich sinnlos war! Die Hälfte der Fälle waren praktisch psychosomatische Fälle und sie wurden nur organisch behandelt. Das hat mir den ersten Impuls gegeben, doch etwas anderes zu machen. Als ich mein Staatsexamen machte, da war ich schon entschlossen, ein Psychofach zu machen. Zunächst mal Psychiatrie. Ich hatte eine falsche Vorstellung von der Psychiatrie, weil ich ein bisschen über die amerikanische Psychiatrie gelesen hatte, die damals psychodynamisch orientiert war, es war Ende der fünfziger Jahre. Zu dieser Zeit hatten viele Psychoanalytiker auch Professuren. Münch: In Amerika. Mentzos: Ja, und ich dachte, das wird auch in Deutschland so sein (beide lachen). Deutschland war auch billiger und näher für mich und dieses alte Bild über die Dichter und Denker, das hatte ich auch. Ich habe in meiner Militärzeit in Mazedonien den ganzen Jaspers, das dicke Lehrbuch, gelesen mit Hilfe eines Lexikons. Von daher war ich schon infiziert. Wenn ich auch später ein Kritiker von Jaspers wurde. Münch: Sie sind ja dann nach Hamburg gegangen, in die Psychiatrie, der Leiter war damals Professor Bürger-Prinz. War er nicht auch NSDAP-Mitglied? Mentzos: Ja, er musste eigentlich entnazifiziert werden. Er war zwar Mitglied der NSDAP, aber er hat viele Juden gerettet und das hat ihn dann geschützt. Münch: Ach? Mentzos: Indem er sie zu Patienten erklärt hat! Aufgenommen hat. Verstehen sie? Sie sind also dadurch vor dem Konzentrationslager gerettet worden. Dem verdankt er seine eigene Rettung nach dem Krieg und dass er den Lehrstuhl behalten hat.

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Münch: Ja, das wusste ich nicht. Mentzos: Ich glaube, in seinem Kopf ist er so geblieben, wie er war. Aber auf jeden Fall hatte er ein großzügiges, großherziges Verhalten. Und hat auch zum Teil bekannten Leuten, Homosexuellen, wie Giese und dem Gustav Gründgens, geholfen und alles das zusammen hat dazu geführt, dass er geblieben ist. Münch: Wie haben Sie ihn denn persönlich erlebt? Mentzos: Ich habe ihn als einen Hyperthymen wahrgenommen, das ist ein Wort, das er selbst benutzt hat, nicht um sich selbst zu beschreiben, aber andere; also entweder depressiv oder hypomanisch, man könnte ihn auch als einen Zyklothymen bezeichnen. Und er hat auch viel getrunken, oft eine Flasche Whisky an einem Tag. Münch: Oh! Mentzos: Aber er hatte eine tolle Konstitution, er ist immerhin auch (fast) 80 geworden. Aber ich weiß nicht, ob speziell für ihn das galt, aber es war der Grand Senior von damals. Die Ordinarien von damals galten als gottähnlich, wir waren nix! Wir wurden geduzt, ihn durften wir selbstverständlich nicht duzen, sondern nur siezen, und er sprach manchmal von sich im Pluralis Majestatis. Als ich ihn scheinheilig fragte, ob ich ein bisschen Psychoanalyse machen kann, ich hatte insgeheim schon längst angefangen, da hat er mich angeguckt und gesagt, du alter Hellene, wie lange bist du bei uns? Da habe ich gesagt, fünf Jahre, Herr Professor. Ich habe dabei einen kleinen Diener gemacht, weil man das so machen musste. Da sagte er: »Wer bei Bürger-Prinz fünf Jahre gewesen ist, dem kann nichts passieren. Du darfst.« Münch: Er war eine Autorität für Sie. Mentzos: Ja. Münch: Könnte seine Ablehnung der Psychoanalyse auch noch aus dem Geist des Nationalsozialismus bestimmt gewesen sein? Mentzos: Wahrscheinlich, ja, es war mehr politisch bedingt. Er versuchte, die Psychoanalyse lächerlich zu machen. Ich habe ihn zunächst geschätzt, aber später merkte ich, dass viel heiße Luft, Seifenblasen, dahinter waren. Ich fing an, psychodynamisch zu denken. Aber nicht durch meine psychoanalytische Ausbildung. Die reichte zu dieser Zeit nicht aus. Ich konnte damit in der Klinik nichts anfangen. Ich musste etwas Neues erfinden. Die Psychodynamik der Psychosen überzeugte mich nicht. Münch: Ich wollte Sie noch etwas fragen zu Bürger-Prinz, nämlich, ob Sie glauben, dass die Behandlung der Patienten noch durch die nationalsozialistische Einstellung von Bürger-Prinz beeinflusst war.

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Hamburger Ärzteschaft

Mentzos: Das glaube ich nicht, in der Zeit nicht mehr. Es war aber eine ausschließlich biologisch orientierte Behandlung. Mit allem drum und dran. Mit viel Insulinbehandlung, jeden Morgen ein induziertes Koma, und mit viel Elektroschocks. Das habe ich selbst machen müssen, ich war noch ein Lehrling. Aber was mich philosophisch sehr beschäftigt hat, wie konnte man jemand, der fast tot schien, plötzlich, mit Zucker, wieder zum Leben erwecken. Das hat mich beeinflusst. Ebenso wie die Tätigkeit in der Pathologie. Ich habe öfters ein Gehirn in der Hand gehabt. Denn unsere Patienten mussten seziert werden. Und das Gehirn eines Menschen in der Hand zu haben, war etwas, was mich erschüttert hat. Ich dachte, in diesem Gehirn sind enorm viele Dinge entstanden und erlebt worden, und was ist jetzt? Ich konnte so nicht einseitig werden. Münch: Man muss auch die biologische, anatomische Seite sehen? Mentzos: Das wurde mir bei Bürger-Prinz eingeimpft, das habe ich nicht vergessen. Münch: Sie sagten, dass Sie in der psychoanalytischen Ausbildung damals nicht wirklich etwas mitbekommen haben, was Sie für ihre klinische Praxis nutzen konnten. Mentzos: Also sagen wir: für die Psychosen! Münch: Für die neurotischen Störungen schon. Mentzos: Auf jeden Fall. Münch: Wie würden Sie denn das Klima in der Psychoanalyse beschreiben? Sie wissen, die Ausbildung zum Psychoanalytiker ist über die Jahre hin immer

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wieder in der einen oder anderen Weise kritisiert worden. Auch heute noch ist es in Deutschland so, dass die Behandlung von Psychosen im Rahmen der Ausbildung doch eher randständig ist. Auch andere Dinge stehen in der Kritik. Mich interessiert, wie das nach dem Zweiten Weltkrieg war und insbesondre für Sie, wo Sie aus Griechenland nach Deutschland kamen. Mentzos: Es war gemischt. Es war auch eine Zeit, wo es bei den Psycho­ analytikern, auch in Hamburg, einen großen Durst nach Neuem gab. Es kam ständig Besuch aus London oder New York, z. B. die Paula Heimann oder der Michael Balint. Dem Balint habe ich die Hand gegeben (beide lachen). Verstehen Sie, da gab es viele neue Impulse. Das hat mich immer sehr begeistert und über andere Schwächen hinwegsehen lassen. Mein Lehranalytiker, der heißt Groziki, er ist nicht sehr bekannt, der steht in der Mitte und er war nicht so besonders rigide. Münch: Haben Sie auch eine vierstündige Lehranalyse gemacht? Mentzos: Ja, eine lange, vierstündige Lehranalyse, etwa 600 Stunden. Bis ich nach Frankfurt kam, das war etwa das Ende. Ich will Ihnen ein Beispiel geben, wie der Groziki war. Der war in gewisser Hinsicht auch pragmatisch (lacht). Er war gut ausgebildet und sicher abstinent. Ich war damals stark kurzsichtig und plötzlich ging meine Brille kaputt. Da sagte er, jetzt müssen wir erst einmal die Brille wieder reparieren (beide lachen). Er stand auf, brachte mir Leukoplast und dann haben wir zusammen die Brille geklebt, und als die Brille okay war, da konnten wir weitermachen. Er war nicht realitätsfremd. Das war, glaube ich, auch ein Glück, dass ich so einen hatte. Münch: Vielleicht haben Sie ihn auch schon deswegen ausgesucht? Mentzos: Wahrscheinlich. Ich hatte selbstverständlich erst einmal zwei, drei Interviews, aber der gefiel mir. Münch: Hatte er denn Verständnis für Ihre psychiatrische Neigung? Mentzos: Doch, doch. Ich habe auch nachträglich den Eindruck, dass seine Hoffnung war, dass ich in die Psychiatrie Psychoanalyse reinbringen würde. Denn er merkte, dass ich doch einigermaßen gut gegenüber den Psychiatern argumentieren konnte. Einiges davon war sicher auch, wie soll ich sagen, neurotisch oder widerstandsbedingt. Einen Satz von ihm werde ich nie vergessen. Er hat gesagt: Herr Mentzos, gelernt ist gelernt! Also ob man das aufgrund einer neurotischen Haltung gelernt hat oder einem wissenschaftlichen Interesse, das ist letztlich egal, wenn man ein wissenschaftliches Gebiet gelernt hat. Damit bezog er sich etwas ironisierend auf meine Neigung zu intellektualisieren. Münch: Was mich noch interessieren würde, hat denn das Thema Ihrer Migration, Sie sind ja einer der ersten, einer der frühen Migranten, wenn man so will (Mentzos: Ja), hat das denn eine Rolle gespielt?

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Mentzos: Wenig. Ich hatte es ja leichter als die vielen Gastarbeiter, die Ärmsten von Nordgriechenland. Ich als ein Akademiker aus Athen, der philoso­phische Texte schrieb. Das ist so wie in Frankreich mit Paris. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die das Unglück hatten, dass sie am Ende weder richtig Griechisch noch Deutsch konnten. Die ihre Sprache verloren haben. Bei mir war es umgekehrt. Ich hatte die Gelegenheit, mich durch beide Kulturen zu bereichern. Schon in den ersten Jahren hatte ich z. B. Thomas Mann gelesen. Das war eine große Bereicherung. Ich hatte auch meine Kenntnisse aus Griechenland. Das haben meine Kollegen auch gemerkt. Weshalb sie auch meine Bekanntschaft suchten. Münch: Das war für Ihre Kollegen auch eine Bereicherung. Mentzos: Ja, das ist das Schicksal von Migranten, entweder isolieren sie sich, so dass sie fast alles verlieren, oder sie bereichern sich doppelt. Münch: Ich dachte, weil Sie sich ja auch später mit den Psychosen beschäftigt haben und da geht es ja, zumindest wie Sie sie verstehen, um das Thema der Identität oder um das Thema der Wertigkeit (Mentzos: Ja); und aus meiner Erfahrung aus Analysen mit Migranten weiß ich, da geht es auch oft um diese Thematik: Wie behalte ich meine kulturelle Identität, wie gestalte ich die, oder wie behalte ich meinen Wert. (Mentzos: Ja.) Ich frage mich also, ob vielleicht dieser Hintergrund auch ihre Sensibilität für diese Thematik bei den Psychosen gefördert, gestärkt hat. Mentzos: Das ist möglich, aber es gilt für alle meine, ich wollte sagen Entdeckungen (lacht), Schriften, dass ich meistens intuitiv therapeutisch gedacht oder gehandelt habe und die Theorie erst danach kam. Die Theorie war der Versuch, das intuitiv Gedachte begrifflich zu verstehen. Das war der Pragmatismus und anschließend die deutsche Ordnung. Deswegen weiß ich nicht, wie sich das entwickelt hat. Münch: Vielleicht ist da wieder der Vater wirksam, der gesagt hat, also erst muss man einmal die Brötchen backen und dann hat es auch noch Zeit für die Theorie. Mentzos: Es könnte sein, ich kann mich erinnern, nicht nur bei mir war das so, sondern bei allen in der Abteilung Anfang der achtziger Jahre, als die »Psychose-Geschichte« begann, da wurde in den Konferenzen jeden Dienstag erzählt und berichtet und man hatte das Gefühl, wir tun alle etwas, was erstaunlicherweise auch Erfolg hat, aber keiner weiß, was er eigentlich macht! Alle waren halbwegs ausgebildete Psychoanalytiker und versuchten daher erst einmal die klassische Methode anzuwenden. Sie merkten aber, dass das nicht ging. Sie veränderten sie daher ein wenig, aber es gab keine Systematik. Denn wir hatten es nicht gelernt, wie man es machen muss. Aber gut war andererseits offenbar, dass wir nicht voreingenommen waren durch bestimmte Richtungen.

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Münch: Durch bestimmte Schulen. Mentzos: Es hat sich aus der Erfahrung entwickelt. Daher sind meine Vorträge immer voll von Beispielen, die mich »geweckt«, angeregt haben. Münch: Es ist aus der Klinik heraus entstanden. Mentzos: Ja. Münch: Sie sind dann 1967 von Hamburg nach Frankfurt gekommen und Ihrem Doktorvater, dem Hans-Joachim Bochnik, gefolgt. Mentzos: Ja, so ist es. Der war mein Doktorvater. Ich habe 1960 schon eine EEG-Arbeit gemacht, die ich leider nicht mehr finde. Damals wurden die Arbeiten nicht gedruckt. Obwohl eine große Entdeckung darin steckt. Das ist eine rein statistische Arbeit. Viereinhalb tausend EEGs. Münch: Oh! Mentzos: Gelocht! Münch: Mit Lochkarten! Mentzos: Ja, nach der alten Methode. Fotostimulation! Also die Ansprechbarkeit des Gehirns auf Licht war das Thema. Normalerweise oder oft wird der Rhythmus beeinflusst. Das Gehirn übernimmt den äußeren Rhythmus der Blitzlicht­reize. Und das heißt Fotosensibilität. Und da habe ich festgestellt, dass die Frauen doppelt so fotosensibel sind wie die Männer. Münch: Oh! Mentzos: Und das bei viertausend Fällen, also ein ganz handfester Befund! Münch: Das ist ja ein früher Befund zur Geschlechterdifferenz! Mentzos: Ja, aber die Erklärung ist auch einfach, dieser Unterschied besteht nur im Alter zwischen 15 und 45 Jahren. Also, wo die hormonelle Situation anders ist. Das heißt die weiblichen Hormone machen das Gehirn empfind­ licher für äußere Reize. Münch: Ich wollte Sie noch einmal zu Ihrem Verhältnis zu ihrem Doktorvater, Herrn Bochnik, befragen, der dann Leiter der Psychiatrie hier in Frankfurt war und der es anscheinend toleriert hat, dass Sie Leiter einer neuen Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik wurden, die von der Psychiatrie unabhängig war. Mentzos: Der ist genauso antipsychoanalytisch orientiert gewesen wie der Bürger-Prinz. Aber er war menschlich sehr zuverlässig und auch in Geld­ sachen sehr korrekt und entgegenkommend und er half. Er hat mich persönlich geschätzt, auch als Doktorand, er hat mich auch nach Hause eingeladen, er kannte die Familie. Und als er den Ruf nach Frankfurt bekam, da hat er mich gefragt, ob ich mitgehe. Und dann bin ich auch mitgegangen. Und ich war dann die ersten drei Jahre leitender Oberarzt. Es war eine riesige Klinik. Da war alles drin. Die Assistenten kamen jeden Morgen und der Bochnik war meist unter-

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wegs. Und ich musste da als kleiner griechischer Arzt (beide lachen) vor dieser deutschen Übermacht stehen. Aber das hat mir auch geholfen. Ich habe gelernt, keine Angst zu haben (beide lachen). Ich war der Chef. Der Bochnik versuchte, verschiedene Dinge zu erreichen auf anderer Ebene. Das waren die ersten drei Jahre. Und dann kam 1970/71 das neue Psychotherapiegesetz. Das war im Wesentlichen das Werk von Horst-Eberhard Richter und dem Heidelberger (Walter) Bräutigam. Die Psychosomatik und Psychotherapie bekamen ein selbstständiges Praktikum. Und wer ein Praktikum hat und dafür einen Schein ausgibt, der hat Macht, der ist etwas in der Medizin. Sonst ist er nichts. Ist ja klar. Es wird erzählt, am letzten Abend vor der Veröffentlichung des Gesetzestextes sei der Text verschwunden, der Drucker konnte es nicht drucken und der Text musste deshalb telefonisch durchgesagt werden! Sie sehen, es gab eindeutige Kräfte, die dagegen waren. Auf jeden Fall, es hieß dann gleich: Es müssen neue Abteilungen an allen Universitäten gegründet werden. Ich nehme an, dass Bochnik, der sehr clever war, gedacht hat, da wird man ihm einen Psycho­analytiker als Professor reinboxen. Dann schien es ihm günstiger, schnell mich zum Professor zu machen, denn ich war wenigstens sein Doktorand, und er dachte, ich fühlte mich ihm verpflichtet und werde Schuldgefühle haben, gegen ihn zu sein. So ist das dann passiert. Ich bin der Letzte, der von der Fakultät benannt wurde; die Fakultät wurde dann aufgelöst und durch die neuen demokratischen Gremien, den Fachbereich, ersetzt, wo die Professoren gewählt wurden. Davor wurden sie nicht gewählt, sondern vom Minister ernannt. Deswegen spielte die Politik eine noch größere Rolle als heute. Ich war der Letzte, der auf diese Weise Professor wurde. Und ich bekam die Abteilung und hatte drei Assistentenstellen. Münch: Wichtig war aber anscheinend doch, dass diese neue Abteilung der Psychotherapie und Psychosomatik nun unabhängig von der Psychiatrie war. Würden Sie denn sagen, dass dies für die Entwicklung dieser Abteilung, und jetzt meine ich auch für die Entwicklung des Fachs Psychosomatik und Psycho­ therapie, wichtig war? Mentzos: Das war es bestimmt und man hatte nun auch eigene Einflussbereiche, so dass aus den ursprünglich drei Assistentenstellen, Frau Lindemann, Herr Schultz und Herr Dehe waren die Ersten, nach 25 Jahren 16 Stellen geworden waren. Das ging selbstverständlich nicht von selbst, man musste kämpfen, Gespräche führen, Hilfe von außen bekommen usw. Alles das wäre nicht möglich gewesen, wenn wir eine Unterabteilung der Psychiatrie geblieben wären. Münch: Das hätte diese Entwicklung nicht zugelassen! Mentzos: Ja, und selbstverständlich auch kein Psychose-Projekt! Heute ist diese Entwicklung leider wieder rückläufig!

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Münch: Ja, auch an der Frankfurter Universitätsklinik ist ja die Abteilung wieder zurückgeführt worden in die Psychiatrie und auch die Mitarbeiterzahl ist sehr geschwunden. Mentzos: Von den 16 sind nach etwa zwei Monaten nur acht übrig geblieben. Also Exekution! Münch: In dieser Zeit der Leitung der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik haben Sie auch viele verschiedene Funktionen wahrgenommen. Sie waren Leiter der Psychosomatik und Psychotherapie, dazu kam noch später die Psychotherapeutische Beratungsstelle für Studierende. Andererseits waren Sie auch Lehranalytiker in der DPV. (Mentzos: Ja.) Sie haben sich auch in der psychotherapeutischen Weiterbildung für Ärzte sehr engagiert. Mentzos: Ja, sehr, bei der Ärztekammer. Münch: Das sind auch verschiedene Funktionsbereiche für sich gewesen, die auch ihre eigene Dynamik und Gesetzmäßigkeit hatten und nicht immer unbedingt miteinander verträglich sind, friedlich koexistiert haben (beide lachen). Mentzos: Sie meinen, ob ich nicht schizophren geworden bin? Münch: Nein, aber ich finde das doch bemerkenswert, das, finde ich, zieht sich auch ein wenig wie ein roten Faden durch Ihr Leben, dass Sie doch so unterschiedliche, verschiedene, teils auch heterogene Funktionen gleichzeitig innehatten. Mich würde auch interessieren, wie das zusammenging. Z. B. die Lehranalytikertätigkeit in der DPV und das gleichzeitige Engagement in der ärztlichen Psychotherapieausbildung. Mentzos: Ich hatte zwar Unterstützung zum Teil von oben, aber zum großen Teil von unten. Z. B. zum Lehranalytiker wurde ich nicht durch Empfehlung des Instituts, sondern durch aufdringliches Verlangen der Kandidaten. Die haben eine Art Kommission gemacht und haben gesagt: Warum ist der Mentzos kein Lehranalytiker! Münch: Interessant, das finde ich sehr interessant. Mentzos: Aber auch von oben, z. B. der Mitscherlich, der mochte mich, der hat aber gesagt: Der Mentzos, der ist gut, aber er muss sich mal entscheiden, entweder Psychoanalyse oder Psychiatrie! Ich habe an sich nicht so viele offene Feinde, aber es gab manche, die meiner Vielfältigkeit misstrauten. Ich hatte auch immer den Wunsch, doch in Kontakt mit der Medizin zu bleiben. Dazu half mir die Tatsache, dass ich drei Mal im Jahr an der Schlussprüfung der Ärzte teilnehmen musste. So kann ich sagen, ich war »in« in der Medizin und die hat mich immer wieder interessiert. Münch: Sie haben dann ja auch eine ganze Reihe von Veröffentlichungen getätigt, auch zusammen mit ihren Mitarbeitern und Kollegen herausgegeben. Wenn man sich diese Bücher einmal anschaut, dann wird doch auch deutlich,

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dass sich bei allen Gemeinsamkeiten doch auch immer unterschiedliche Positionen und Akzentsetzungen darin finden. (Mentzos: Ja.) Münch: Das finde ich doch auch sehr bemerkenswert, auch sehr gut. Mentzos: Das ist in »Psychose und Konflikt« und in der »Angstneurose« zu beobachten. Münch: Ja, da ist es ganz deutlich. Mentzos: Unterschiedlich. Münch: Ja, aber auch, wenn man heute das »Forum (der psychoanalytischen Psychosentherapie)« anschaut, die einzelnen Hefte liest, so sieht man doch, dass da zwar Gemeinsamkeiten vieler Art sind (Mentzos: sogar Kleinianer!) (beide lachen), aber doch auch Unterschiede, was die Veröffentlichungen, zumindest aus meiner Sicht, letztendlich spannend und interessant macht. Mentzos: Ja. Münch: Ich möchte gerne noch einmal auf einzelne Veröffentlichungen eingehen, es sind ja so viele, da können wir hier nicht auf alles eingehen. Aber, was ja doch eine sehr nachhaltige Rezeption erfahren hat, das ist ihr Buch über die Hysterie. Mentzos: Ja. Münch: Nun ist ja die Hysterie sozusagen verbunden mit der Geburtsstunde der Psychoanalyse, also einmal ein wichtiges, zentrales Konzept gewesen und heute eigentlich zunehmend mehr randständig. Also, wenn man sich zumindest an der Nosologie, dem ICD-10 oder DSM-IV, orientiert, dann ist die Hysterie nicht mehr erwähnt oder verschwunden, sie taucht nur noch als histrionische Persönlichkeit auf. Wie ist denn Ihre Meinung dazu? Mentzos: Also speziell zu der Hysterie, ich habe mich damit sehr beschäftigt. Münch: Dann ist die »Hysterie« zumindest bei den Lesern nach wie vor gefragt. Mentzos: Ja. Mich hat daran nicht die deskriptive Sicht interessiert, sondern das vereinigende Psychodynamische. Und ich habe viele Patienten gesehen, sowohl in der Psychiatrie als auch in der Psychoanalyse. Mir wurde klar, dass es keine überzeugenden einheitlichen Konzepte für alle klinischen Bilder gibt. Die Psychiatrie benutzte den Namen ja noch in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Er wurde aber obsolet. Einmal, weil er aus der Psychoanalyse kam, zweitens, weil man ihn deskriptiv nicht festlegen konnte. Die Psychiater haben daher gesagt, lieber weg damit. Sie haben das, was die Symptomneurose betrifft, durch den Begriff der Somatisierung ersetzt, und was die Persönlichkeit betrifft mit dem Terminus der histrionischen Persönlichkeit. Man wollte die pejorative Bedeutung, die dem Begriff des Hysterischen eigen schien, der seinem etymologischen Ursprung nach (Gebärmutter) ein

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Frauenleiden nahe legte, wogegen sich die amerikanische Frauenbewegung wehrte, vermeiden und glaubte, mit der deskriptiven Anknüpfung an den Begriff des Histrionen, also dem Schauspieler im alten Rom, der besonders dramatisierende Rollen spielte, eine bessere Bezeichnung gefunden zu haben. Es liegt eine gewisse Komik darin, dass eine etymologische Verknüpfung mit dem griechischen oistros besteht, was dort Brunst heißt, auch der Terminus »Oestrogen« ist davon abgeleitet, das heißt, es gibt wieder eine Anspielung auf den hormonellen Status. Ich glaube, dass die nosologische Einheit nicht mehr existiert, aber dass der Modus, also die spezifische Art, Unbewusstes in Szenisches zu übersetzen, eine so wichtige Sache ist, dass es schade wäre, wenn das Hysterische verloren ginge. Das Hysterische als Modus ist erhaltenswert, aber nicht in Kombination mit einem bestimmten Konflikt, einem ödipalen Konflikt. Es gibt viele Borderline-Patienten, auch psychotische Patienten, die auch hysterisch sein können. Münch: Sie sagen, es gibt den hysterischen Modus, aber der taucht nicht notwendig im Zusammenhang mit dem ödipalen Konflikt auf? Mentzos: Ja, Freud hat ihn entdeckt bei Fällen, wo auch ein ödipaler Konflikt war, aber das ist bei den meisten genialen Entdeckungen von Freud so, dass er etwas sehr Wichtiges in einem kleinen Gebiet fand. Münch: Aber nicht auf die gesamte Breite der betroffenen Patienten. Mentzos: Ja. Und das Buch wird auch viel gelesen, weil es viele Beispiele enthält. Münch: Das ist ja insgesamt ein Charakteristikum ihrer Veröffentlichungen, dass Sie anschauliche Beispiele bringen, sich aber auch insgesamt durch eine sehr klare und im positiven Sinne einfache, sachbezogene, nicht über­sophistizierte, klinikferne Sprache auszeichnen, sondern versuchen, die Zusammenhänge herauszuarbeiten. Mentzos: Das ist mein Vorteil, dass ich nicht so gut Deutsch kann, dass ich nicht eine zu differenzierte Sprache schreibe. Münch: Ich finde Ihre Sprache eigentlich nicht zu wenig differenziert, aber sie ist auch in der Differenzierung nicht vernebelnd. Oder sie entfernt sich auch nicht in sehr abstrakte, klinikferne Konstruktionen. Das finde ich einen Vorteil und denke, dass dies auch ein Grund ist, warum Sie so viel gelesen werden. Dies gilt ja auch für das Buch »neurotische Konfliktverarbeitung«. Mentzos: Das ist selbstverständlich der größte Erfolg gewesen. Es war auch für den Verlag ein finanzieller Erfolg, freilich weniger für mich. Es erscheint jetzt die 21. Auflage mit insgesamt 90.000 Exemplaren. Münch: Das ist für ein Fachbuch enorm. Ich erinnere, wenn man sich für Psychoanalyse interessiert hat und auch am Konflikt interessiert war und erfah-

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ren wollte, wie sich die Psychoanalyse mit neueren Ideen auseinandersetzt, dann hat man zu diesem Buch gegriffen. Mentzos: Es ist an sich sehr alt, das Buch, 1982. Münch: Aber es ist doch ein Buch, wo Sie sich auch mit Neuerungen in der damaligen Psychoanalyse auseinandergesetzt haben. (Mentzos: Ja.) Münch: Das war sicher auch für viele ein Anreiz, es zu lesen. Mentzos: Viele Dinge, die da angedeutet waren, entwickelten sich später weiter und zu einer konkreten, systematischen Theorie. Münch: In Ihrer Theorie hat ja der Konflikt als pathogene Grundkonstellation immer eine große Rolle gespielt. Jetzt ist es so, dass das Thema der Traumatisierung in der öffentlichen Diskussion, aber auch in der Psychoanalyse einen großen Raum einnimmt, auch aktuell, durch diese vielen Missbrauchsfälle in Schulen und anderen Institutionen, der Familie, die öffentlich werden und früher nicht so gesehen wurden. Mich würde interessieren, wie Sie das Verhältnis von Trauma und Konflikt konzeptualisieren oder verstehen würden; die Bedeutung, die es für die Ätiologie von seelischen Erkrankungen hat. Mentzos: Ich sehe selbstverständlich auch ein, dass das Trauma von großer Verbreitung und Bedeutung, prägender Bedeutung für das Leben eines Menschen ist. Ich meine nur, dass für die aktuelle, klinisch relevante und für die Psychotherapie wichtige Psychodynamik der Konflikt, selbst bei traumatisch entstandenen Störungen, das Wichtigere ist. Das heißt Traumen wirken nicht als solche pathogen, sondern durch das, was sie reaktiv bewirkt haben, welche Reaktion durch das Trauma zustande kam, das ist wichtiger. Diese sind auch oft neurotischer Art. Der Betreffende verwickelt sich in komplizierte, widersprüchliche Abwehr und Kompensationsmechanismen aufgrund des Traumas, weil das Trauma die normale Entwicklung, die »normale« konflikthafte Geschichte des Individuums, wie Freud schon sagte, zerstört, stoppt oder den Menschen zu Umwegen zwingt. So sage ich, auch im »Lehrbuch der Psychodynamik«, wo ich ein Kapitel über Trauma und Konflikt geschrieben habe, das Trauma ist sehr bedeutsam, aber für die relevante Psychodynamik und Therapie sind die daraus entstandenen Mechanismen und die darin steckenden Konflikte und ihre dialektischen Lösungsmöglichkeiten noch wichtiger. Denn mit diesen kommt der Patient zu uns. Außerdem kommt man zu einer fruchtlosen Betrachtung, wenn man nur das Trauma sieht. Was machen wir dann? Müssen wir den Patienten in Watte packen und abwarten, bis er stirbt? Oder müssen wir versuchen, Defizite zu ersetzen? Die gesamte Defizittheorie, die ist mir nicht so lieb. Obwohl sie Rudolph, der Leiter der Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie in Heidelberg, in einer enormen Perfektion dargestellt hat. Die Schule in der Psychoanalyse, die weiterhin den Konflikt betont, ist z. B. die

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Kleinianische. Nur dass die von einem anderen Konflikt ausgehen als ich. Aber irgendwie fühle ich mich paradoxer Weise verwandt mit den Kleinianern, weil sie auch glauben, dass die Dynamik eben durch den Konflikt bestimmt bleibt. Ich merke das auch im Alltag der Psychotherapie. Wenn ich mich frage, was beschäftigt den Patienten jetzt, dann ist das meistens etwas Widersprüchliches in ihm oder eine paradoxe Handlung. Münch: Könnte man sagen, der Konflikt beschreibt mehr die Verarbeitungsseite, während das Trauma mehr die »Noxe« markiert? Mentzos: Ja, eine einmal stattgefundene Schädigung, aber was wird daraus? Es gibt Menschen, die, wenn sie eine gute Gesundheit hatten, es fertig bringen, ohne Schäden mit dem Trauma fertig zu werden. Das ist sehr erstaunlich. Es gab eine Untersuchung über Leute, die ganz gesund sind, obwohl sie eine schreckliche Kindheit hatten. Die haben es geschafft. Es reicht anscheinend, wenn ein paar günstige Faktoren hinzukommen. Eine gute Tante oder ein Onkel oder Vorgesetzter, und siehe da, die finden die Fortsetzung der normalen Entwicklung, die ja die Lösung des Grundkonfliktes darstellt. Münch: Würden Sie sagen, es muss zumindest ein Element von einem guten Objekt vorhanden gewesen sein, auf das man sich beziehen kann in der Verarbeitung der Grundkonflikte und der traumatischen Einflüsse? Mentzos: Es ist auch so, dass derjenige, der traumatisiert ist und kein solches gutes Objekt in der Umgebung hat, etwas anderes, z. B. seinen Körper, sucht und findet. Oft entwickelt sich daraus ein Konflikt. Der Körper wird drangsaliert und trotzdem auch anders behandelt. Münch: Könnte man sagen, die Kreativität des Menschen setzt da ein und versucht zu reparieren, zu ergänzen? Mentzos: Der Körper dient als Objekt. Das ist sehr oft bei traumatischen Störungen wichtig. Münch: Wo dem Körper dann die teils selbst erfahrene Schädigung zugefügt wird. Mentzos: Ja, der Patient versteht den Körper wie einen anderen wich­tigen Mensch in diesem Moment. Das erkennt man sofort, wenn man eine ent­ sprechende Deutung gibt. Der Patient fühlt sich in diesem Moment verstanden. Das ist anders, als wenn sie indirekt sagen, Du bist ein Krüppel, oder wenn sie nur mit Mitleid reagieren. Was hat der Patient davon? Münch: Das Thema des Konflikts haben Sie dann weitergeführt und auch auf die Psychosen appliziert, was ja auch in dem Buchtitel »Psychose und Konflikt« zum Ausdruck kam. Andererseits sprechen Sie aber auch immer wieder von Dilemmata in ihren Veröffentlichungen im Zusammenhang mit den Psychosen. Was unterscheidet das eine vom anderen?

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Mentzos: Die Bezeichnung sollte zur Unterscheidung von anderen, neurotischen Gegensätzlichkeiten dienen. Obwohl es immer mehr auch in der all­ gemeinen Sprache verwendet wird und damit seine Spezifität verliert. Münch: Das ist ja mit vielen psychopathologischen Begriffen so, dass die mit der Zeit Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch finden. Mentzos: So ist es auch mit dem Dilemma. Ich hatte zunächst den Begriff gewählt, um zu sagen, es geht nicht um diese reifen Konflikte zwischen ÜberIch und Es, was die frühe Psychoanalyse entdeckt hatte. Solche Konflikte setzten ausgebildete Strukturen und Instanzen voraus. Das sind neurotische Konflikte. Das Dilemma aber liegt tiefer, es betrifft die totale Existenz: Bin ich oder bin ich nicht? Oder: Wo und wer ist der Andere? Oder: Wie ist meine Beziehung zu dem Anderen? Die Angst, verschmolzen zu werden, wegen der auch vorhandenen großen Anziehung durch das Objekt, das nenne ich Dilemmata. Es gibt Autoren, die stattdessen von intrapsychischen Gegensätzlichkeiten sprechen, um das auszudrücken. Münch: Ich finde den Begriff des Antagonismus ganz gut. Mentzos: Ja, könnte man auch sagen. Münch: Was würden Sie denn als zentralen Antagonismus oder als zentrales Dilemma oder den zentralen Konflikt einer psychotischen Erkrankung bezeichnen? Mentzos: Der Mensch ist normalerweise mit zwei Tendenzen, nämlich einer selbstbezogenen und einer objektbezogenen Tendenz ausgestattet. Obwohl die sich oft beißen, gelingt es meist, eine dialektische Lösung zu finden, die beide Bedürfnisse abdeckt. Die Evolution wählt deswegen diesen Weg, weil diese Dynamik Fortschritt und Erneuerung ermöglicht. Es wäre langweilig und statisch, wenn nur eine Tendenz wirksam wäre. Deswegen gibt es auch zwei Geschlechter. Norbert Bischof aus Zürich erklärt sehr gut, er war ein Konrad Lorenz Schüler und Psychotherapeut, wie die Teilung ganz früh stattgefunden hat, weil diese beständig neue Impulse gibt. Es gibt ja Organismen, die diese Teilung nicht kennen, und die sind in der Entwicklung zurückgeblieben. Münch: Es ist ein Selektionsvorteil. Mentzos: Ja, das ist aber nur eines von vielen Beispielen. Es gibt im Bio­ logischen und im Psychischen eine Unzahl von Beispielen: den Agonisten und Antagonisten im Muskelsystem, Sympathikus und Parasympathikus und im Nerven­system die dopaminabhängigen und die ihnen entgegengesetzten Neuronensysteme oder der Gegensatz zwischen triebhaften Impulsen und dem »Sozialgehirn« (Stirnlappen). Es geht dabei immer um eine Balance. Die Krankheit ist nicht ein Fehlen des Einen oder Anderen, sondern eine Imbalance. Alle Menschen kommen mit diesem doppelten Equipment zur Welt und einige Men-

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schen haben das Unglück, dass ihnen ihre Umgebung leider nicht die Möglichkeit gibt, eine dialektische Lösung zu finden. Eine dialektische Lösung ist leicht erreichbar bei einer Mutter, die verständnisvoll ist, aber auch Grenzen setzt, und einem Vater, der dazwischen kommt und sagt, die Mutter ist zwar wie ein riesen Berg, aber ich bin auch hier. So dass die Relativierung durch die Triangulierung erfolgt. Das heißt es gibt viele Faktoren, die normalerweise dazu beitragen und eine fruchtbare Entwicklung ermöglichen. Wenn das aber nicht der Fall ist, dann entsteht ein unüberwindbarer Gegensatz, der u. Umständen zu einer rigiden Entscheidung führt: entweder in die Richtung Autismus, Rückzug zum Selbst, Desinteresse für Objekte oder in die andere Richtung, eins werden mit dem Objekt, eine pathologische Identifikation, eine hebephrene Klebrigkeit oder eine Durchlässigkeit der Ichgrenzen mit Beeinflussungserleben. Der Unterschied zwischen Selbst und Objekt wird so immer kleiner. Wenn kein Unterschied existiert, dann gibt es auch keinen Konflikt oder kein Dilemma. Der Konflikt ist »gelöst«, aber um welchen Preis! Das eben keine richtige Beziehung zwischen Subjekt und Objekt möglich ist. Dies ist auch für die Therapie von Bedeutung. Oft habe ich den Eindruck, dass die Kollegen keine klare Vorstellung von einer Differentialtherapie bei Psychosen haben. Man kann aber einen Patienten mit Verfolgungswahn oder einen eher autistischen Patienten oder einen klebrigen Hebephrenen oder einen total ekstatischen Patienten nicht je in der gleichen Weise behandeln. Intuitiv nehmen wir jeweils eine andere Haltung ein. Gibt es hier eine Regel? Zum Teil wohl ja. Bei Selbstbezogenen ist die Dynamik eine andere als bei Objektbezogenen und entsprechend passt sich die therapeutische Haltung an. Wenn diese Hypothese zutrifft, dann hätten wir zunächst einen ersten klaren Hinweis, wie man mit dem konkreten Patienten umgehen sollte. Sonst ist es zufällig, ob der Therapeut den richtigen Zugang für den spezifischen Patienten findet oder nicht. Ich habe noch eine weitere Hypothese. Nach einem Vortrag über dieses bipolare Modell wurde ich gefragt, welche Patienten denn die eine, die selbstbezogene, und welche die andere, die objektbezogene Symptomatik wählen? Da war ich zunächst verlegen! Ich fand aber dann eine Lösung, nachdem ich meine Patienten durchging. Ich glaube, dass die Patienten, die eine dominante, besitzergreifend »liebende« Mutter hatten, die alles bestimmt hat, selbstbezogene Abwehrmechanismen entwickeln, um sich zu schützen, die entwickeln Mechanismen bis zum Verfolgungswahn, um die Distanz zu sichern. Diejenigen aber, die eine indifferente oder schwache oder sogar feindliche Mutter hatten, die sind so »verhungert«, sie haben einen Mangel und deswegen kleben sie an dem Therapeuten. Leuchtet Ihnen das ein? Münch: Das leuchtet mir sofort ein! Mentzos: Ich will das nun zum ersten Mal öffentlich vortragen.

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Münch: Also meine Unterstützung haben Sie da, auch aufgrund meiner klinischen Erfahrung. Ich habe zurzeit eine Patientin, die hat zwar keine Psychose, sondern eine andere frühe Störung, aber eine Mutter gehabt, die sehr unzuverlässig und letztlich emotional nicht zugänglich war. Und sie entwickelt in der Übertragung zu mir ein enormes Bedürfnis nach Nähe. Mentzos: Ja, das geht bis zum sogenannten Liebeswahn. Münch: Ja Mentzos: Aber man weiß nicht, was dahinter steckt. Münch: Also, mir scheint das eine recht plausible Erklärung. Ich wollte Sie in diesem Zusammenhang noch einmal fragen. Sie würden, wenn ich Sie richtig verstehe, letztendlich doch sagen, die frühen Objekterfahrungen (Mentzos: Ja), die sind dafür verantwortlich und die Verarbeitung dieser Erfahrungen, ob jemand dazu instand gesetzt wird oder in die Lage kommt, dialektische Lösungen zu finden. (Mentzos: Ja) Also müsste man bei den Psychosen auch diese biographischen Elemente finden. Mentzos: Ja, auf jeden Fall. Und ich merke, in verdünnter Form gilt dieses Modell auch für andere Störungen. Einleuchtend war mir in diesem Zusammenhang der Gegensatz zwischen Agoraphobie und Klaustrophobie. Zwei Kleinianer, der Heinz Weiß aus Stuttgart, und der Rey, den Weiß in seinem neuen Buch über das Labyrinth des Borderline erwähnt, sprechen von einem agoraklaustro­phoben Dilemma. Das Wort Dilemma kommt bei Rey schon 1979 vor. Die verstehen es ein wenig anders, aber immerhin, die zentrale Idee ist, es gibt ein solches Dilemma. Und zwar nicht nur bei Psychosen, sondern auch später bei Phobien. Münch: Also unterscheiden letztlich die Verarbeitungsformen dieses Dilemmas die verschiedenen Krankheitsformen? Mentzos: Ja. Münch: Ich wollte noch einmal zurück zu den Psychosen. Denn Sie unterscheiden doch den Konflikt bzw. das Dilemma bei den schizophrenen Erkrankungen von dem bei den affektiven Störungen. Mentzos: Ja. Anfangs beschäftigten wir uns in der Abteilung nur mit den Schizophrenien. Vielleicht deswegen, weil bei den Psychiatern die affektiven Psychosen so eindeutig als biologisch bedingt angesehen wurden. Als ich aber angefangen habe, solche Patienten zu behandeln, da wurde mir sofort deutlich, dass diese Patienten auch unter einem schweren Dilemma litten. Es war aber ein Dilemma anderer Art. Es geht da nicht um Identität und Selbstkohärenz, sondern um den Wert! Also der bipolare Patient, der weiß, dass er da ist und wo seine Grenzen sind. Was er nicht weiß, ist, wie viel er wert ist. Ich habe viele dieser Patienten behandelt und ich kann sagen, jede Stunde ist eine Bestätigung dieser Tatsache. Sie haben schon in der Kindheit eine Delegation bekommen,

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von Müttern und Vätern, die sie lieb hatten, die aber immer die Forderungen hatten: Aber du musst das werden, der berühmteste Klavierspieler usw.! Der Patient lebte sein ganzes Leben unter diesem Druck und dieser Angst. Wenn er auch nur einen kleinen Fehler macht, dann ist das schon gegen dieses Diktat. Und wenn er stattdessen frei zu leben versucht, dann ist er zwar zunächst einmal glücklich, aber dann besteht die Gefahr, dass das Objekt für immer verloren, er gegen die Eltern gehandelt hat, dann kehrt er wieder zurück. Und dieses Hin und Her, das sehe ich bei jedem der Patienten. Das ist also der Konflikt des bipolaren Patienten: Freiheit versus Bindung und »Liebe«. Münch: Ja, im Grunde eine Wertproblematik. Mentzos: Das ist weniger schwer als das schizophrene Dilemma, denn da geht es um den Kern, das Sein oder Nichtsein, aber hier geht es um den Wert und das ist auch wichtig. Viele dieser Patienten suizidieren sich. Münch: An der Stelle frage ich mich, in der Klinik beobachtet man, dass jemand, der eine Psychose hat, dann in eine Depression verfällt. Es kommt zu wechselnden Zuständen. Mentzos: Da habe ich keine Schwierigkeiten, das zu erklären. Denn auch der Schizophrene hat eine Wertigkeitsproblematik. Warum soll er die nicht haben? Münch: Es gab ja auch in der Psychiatrie das Konzept der Einheitspsychose. Mentzos: Genau, richtig. Münch: Sozusagen dass beides auf dem gleichen Grund beruht. Meine Überlegung war: Wenn der Depressive sich sozusagen völlig entwertet, er ist gar nichts mehr wert, er steht vor dem Suizid, schlägt dann diese Wertthematik um in eine Identitätsthematik? Und ist da der Punkt, wo sich beide treffen? Mentzos: Also, ich habe dieses Phänomen bei den schizoaffektiven Psychosen gesehen. Dass z. B. ein manischer Patient plötzlich auf dem Höhepunkt Zweifel darüber bekommt, wer er ist, und dann schizoaffektiv wird. Geht er einen Schritt weiter, dann wird er schizophren. Analog ist es bei den Depressiven. Denn am Schluss erschüttert die Wertigkeitsproblematik auch die Identität, so wie Sie sagten. Damit wäre ich einverstanden. Münch: Ja. Ich schaue auf die Uhr und es sind noch viele Fragen, die ich stellen könnte. Auf eine Sache möchte ich noch einmal eingehen, weil es mir auch gesundheitspolitisch wichtig erscheint. Und zwar auf das Verhältnis zu den psychiatrischen Diagnosen. Wir unterhalten uns ja jetzt auch zweigleisig, wir sprechen einmal mit den Diagnoseschemata der Psychiatrie, Psychose, Schizo­ phrenie, affektive Störung usw., andererseits versuchen wir, diese seelischen Erkrankungen psychodynamisch zu verstehen. Und ich mache als Analytiker und Therapeut die Erfahrung, dass diese Diagnosen, sofern sie als psychia­trische Diagnosen formuliert sind, auch störend sein können für die Behandlungs­

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prozesse, oft auch, weil sie nicht die Information liefern, die ich bräuchte oder gern hätte, um dann mit dem Patienten sinnvoll therapeutisch zu arbeiten. Es gibt da ganz viele kritische Punkte. Mentzos: Ja, man steckt den Patienten dann in eine Schublade. Ich kann Ihnen dazu einmal eine Anekdote erzählen. Der Bochnik hat zu mir gesagt: Herr Mentzos, Sie waren früher ein sehr guter Diagnostiker und seitdem Sie mit der Psychoanalyse zu tun haben, wird es immer diffuser (beide lachen). Ich sagte: Das ist ein Kompliment, was Sie da sagen (beide lachen). Münch: Ja, ist das vielleicht der Preis, dass man sich einer gewissen Diffusität oder sagen wir mal Unsicherheit aussetzen muss? Mentzos: Ja, ich konnte ihm ja keine ICD-Ziffer nennen. Aber mein Eindruck ist, dass die meisten Patienten auch deskriptiv außerhalb der ICD-Schubladen liegen. Münch: Ja. Mentzos: Zu mir kommen immer wieder »ungeklärte Fälle«. Münch: Würden Sie denn sagen, dass wir als Psychotherapeuten darauf hinarbeiten sollten, eine eigene psychotherapeutisch orientierte Diagnostik, oder wie man das dann nennen will, zu entwickeln? Mentzos: Also meine Bemühung ist, eine psychodynamisch orientierte Therapie und Diagnostik zu machen. Aber interessant ist, dass diese Diagnostik sich deckt mit der psychiatrischen, nur dass die Psychiater unter diesen Namen etwas ganz anderes verstehen. Die verstehen darunter zufällige Cluster von Merkmalen. Aber das ist nicht so. Es handelt sich um Alternativlösungen desselben Problems. Das ist meine psychodynamische Position. Und so erkläre ich mir sehr schnell den Syndromwechsel, mit dem ich mich intensiv beschäftigt habe. Aber Sie haben Recht, das muss man anstreben, eine psychodynamisch orientierte Therapie und Diagnostik. Münch: Glauben Sie denn, dass die neurobiologische Forschung, die ja zurzeit eine große Beachtung findet auch aufgrund der neuen bildgebenden Verfahren, dazu einen Beitrag liefern kann? Oder wie schätzen Sie diese Entwicklung ein? Mentzos: Das muss kein Gegensatz sein. Ich bin überzeugt, dass jeder geistige und psychische Prozess, auch die feinsten, eine Entsprechung im Gehirn hat. Aber dass wir heute diesen Prozess auch neurobiologisch prüfen oder erfassen, das ist eine Lüge und eine Illusion. Unsere Methode, die Psycho­analyse, ist viel feiner als das, was die Neurobiologen erfassen können. Die erfassen nur einen energetischen Zustand, aber freilich nicht dessen Inhalt. Ob sie in einem Radio gerade Beethoven hören oder einen Klamauk, das können sie nicht entscheiden, das rote Licht zeigt nur, das Radio ist in Betrieb. Es gibt aber auch interessante Zusammenhänge in Bezug auf die Imbalance, von der ich schon

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gesprochen habe. Verschiedene biologische Befunde sprechen dafür, dass z. B. die Psychosen auf einer Imbalance basieren. Es gibt analoge bzw. von der Gestalt her ähnliche Prozesse, die nicht zufällig zu sein scheinen. Unsere Imbalance und deren Imbalance. Münch: Gestaltanalogien kann man vielleicht sagen. Mentzos: Ja. Münch: Kann man sagen, es gibt zwar Korrespondenzen, aber das eine geht nicht im anderen auf!? Mentzos: Man wird dann vielleicht sagen: Wieso haben wir dann so gute Resultate mit den Pharmaka? Das ist aber sehr leicht zu erklären. Die Psychopharmaka machen den Psychosepatienten meistens psychoseunfähig. Sie reduzieren seine Leistung, die er braucht, um eine so komplizierte Abwehr aufzubauen, und dann ist er unauffällig, aber dafür ist er bei hoher Dosierung nur ein halber Mensch Münch: Ja. Mentzos: Aber im akuten Fall, da muss man Medikamente geben, um die sehr schädlichen Circuli vitiosi zu unterbrechen. Münch: Aber es ist in der Hauptsache eine Art sedierende Wirkung. Mentzos: Ja. Allerdings heute nicht mehr eine allgemeine Sedierung, sondern bestimmte Systeme, insofern ist es ein Fortschritt, denn ein Patient, der total in dieser Verwirrung ist, mit dem können sie keine psychoanalytische Therapie anfangen. Münch: Das wäre eine Überforderung. Mentzos: Ja. Münch: Jetzt haben wir eine ganze Reihe von Punkten doch ansprechen können, ich möchte Sie zu einem letzten Punkt noch befragen. Sie haben sich immer wieder einmal auch mit gesellschaftlichen Fragen beschäftigt. Sie haben auch ein Buch über den Krieg und seine psychosozialen Funktionen geschrieben. Sie sind in gewisser Weise auch ein Kind des Krieges. Ob das wohl einen Zusammenhang hat? Aber meine Frage zielt auf etwas anderes ab: Was würden Sie denn in unserer heutigen gegenwärtigen Gesellschaft, in der wir leben, mit den Konflikten, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, als eine zentrale, interessante, gesellschaftliche Fragestellung ansehen? Mentzos: Dieses Nebeneinander, die postmoderne Beliebigkeit, das ist etwas Borderline-artiges. Schon in meinem ersten Buch über »Interpersonale und institutionalisierte Abwehr« und später auch im Kriegsbuch habe ich versucht, das Modell der Bipolarität des Menschen mit seinen Implikationen, das sich fruchtbar im Bereich der Psychodynamik erwies, auch auf psychosoziale Frage­stellungen anzuwenden. Das Kriegsbuch entstand so als paradigmatischer

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Stavros Mentzos wird zu seinem 80. Geburtstag von Alois Münch interviewt

Anwendungsfall einer in diesem Sinne erneuerten Psychoanalyse auf psychosoziale Probleme. Wenn mir das Schicksal noch genügend Lebenszeit schenkt, so möchte ich dieses Ziel noch überzeugender verwirklichen als im Kriegsbuch. Die Desorientierung besonders der jungen Menschen in dieser rasant sich verändernden Welt ist dabei ein großes Problem. Aber, ich sehe auch, dass jetzt viel mehr Menschen informiert werden und nachdenken, und bin erstaunt, was es doch für Einsichten gibt. Münch: Es ist dann doch erstaunlich, was die Einzelnen aus dieser Vielfalt und diesen Gegensätzen an kreativen Lösungen finden. Mentzos: Der Beitrag der Psychoanalytiker zur Überwindung des Chaos muss also in dem Versuch bestehen, aus der erneuerten Psychoanalyse gewonnene Einsichten auf den gesellschaftlichen Prozess anzuwenden. Münch: Ich danke Ihnen für das Gespräch. Mentzos: Ich danke Ihnen für das Interesse.

Literatur Mentzos, S. (1976). Interpersonale und institutionalisierte Abwehr. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mentzos, S. (1980/2009). Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen (9. Auflage). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (1982/1996). Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanaly­ tische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. Mentzos, S. (1991): Psychodynamische Modelle in der Psychiatrie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (Hrsg.) (1992/2000). Psychose und Konflikt (4. Auflage). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (2002). Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen (2., erweiterte Neufassung). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (2009). Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen (3. Auflage). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Mentzos im Jahre 2013 (D. M.)

Günter Lempa

Mentzos und die Schizophrenie »Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind – die am wenigsten verstandenen Menschen in unserer Welt.« (Yrjö Alanen, 2015)

Yrjö Alanen, seit den 1960er Jahren als Psychiater und Psychotherapeut in Finnland aktiv und ein Pionier eines verstehenden Zugangs zur Schizophrenie, schrieb diesen Satz am Ende eines langen Arbeitslebens. Er wollte auf etwas hinweisen, was man als verwunderlich, aber auch als skandalös bezeichnen könnte. Schizophrene Menschen werden nicht verstanden. Es gibt eine Distanz, eine Verkennung, ein Aneinander-vorbei zwischen den Schizophrenen und dem sogenannten Mann auf der Straße, der an alle möglichen Dinge denkt, wenn er das Wort »Schizophrenie« hört: an Dr. Jekyll und Mister Hyde, an eine völlig unberechenbare oder eine gespaltene Persönlichkeit. Alanen meinte aber auch und vor allem die Profis, die Experten, die Professoren und Forscher, die seit mehr als einem Jahrhundert – Kraepelin erfand oder entdeckte das Krankheitsbild 1899 und gab ihm den Namen Dementia praecox – einen enormen Aufwand betreiben, um das Rätsel Schizophrenie zu lösen. Man könnte eine lange Liste verfassen mit allem, was man behauptet hat, um zu erklären, warum Menschen, die unter Schizophrenie leiden, offensichtlich Dinge erleben, die anderen fremd sind, und sie in Welten leben, die andere nicht nachvollziehen können, und mit dem, was man alles erfunden hat, um diese Menschen wieder in die Normalität zurückzuführen. Es geht dabei, so meine Hypothese, immer um eine Figur des Denkens und auch des Handelns, die zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Formen auftaucht. Sie besteht darin, dass im Patienten etwas ist (oder sitzt), das böse, das schlecht ist und das man finden und dann austreiben, ausmerzen oder entfernen müsse. Hatte man, bevor Kraepelins Krankheitslehre sich weltweit durchsetzte, den Wahnsinn, die Tollheit, die Raserei als Besessenheit von Dämonen oder vom Teufel, als Teufelswerk oder Sünde gesehen und entsprechend auf oft grausame Weise versucht, dieses Böse auszutreiben, so blieb, auch als man begann, wissenschaftlich zu denken, diese Denkweise und auch die entsprechende Praxis unverändert, sie änderte nur ihre Gestalt. Kraepelin war immer überzeugt, dass bei der Schizophrenie ein verborgenes, prozesshaft verlaufendes destruktives Krankheitsgeschehen nach dem

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Vorbild der Lues (Syphilis) vorliegt, das über verschiedene Stadien unaufhaltsam zur vorzeitigen Verblödung (= Dementia praecox) führt (Lempa, 2014). Diese Sichtweise, die von einer Wurzel des Übels im Patienten ausging, nahm entsprechend der jeweilig in den Wissenschaften geltenden Paradigmen später andere Formen an. Es ging um Degeneration, um das »erbliche Gift«, mit dem Aufkommen der Genetik waren es krankhafte Gene, bis hin zur noch aktuellen genetischen Vulnerabilität, die nach wie vor etwas ist, was den Erkrankten vom Gesunden kategorial unterscheidet und abtrennt und das man erforschen und endlich finden will, um es dann beseitigen zu können. Auch Psycho­analytiker kann man in diese Reihe stellen. Für sie waren (bzw. sind nach wie vor) Schizo­ phrene besonders destruktiv oder aggressiv oder von einer besonders intensiven Ausprägung des Todestriebs befallen. Immer war also der Schizophrene der Andere, der etwas in sich trägt, vor dem wir (Gott oder der Natur sei es gedankt) verschont geblieben sind. Die Behandlungsmethoden in der Psychiatrie verhielten sich analog zum theoretischen Konzept der »Wurzel des Übels«. Sehr oft ging es um Austreibung. Man versetzte die Patienten in Todesangst, fügte ihnen Schmerzen und Qualen zu. Das waren in früheren Jahrhunderten Drehstühle, das Werfen in eiskaltes Wasser, das Herbeiführen von unstillbarem Erbrechen usw. Dabei ging es Patienten, die man nur verwahrte und die nur Aderlass und Beruhigungsmittel erhielten, oft besser als Patienten, die man »behandelte«. Folgt man der hier vorgeschlagenen Hypothese, dann kamen Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts moderne Verfahren der Austreibung auf: die Schock-»Therapien« durch Insulin, Kardiazol und Elektrizität (anfangs ohne Narkose und ohne Muskel-Relaxation durchgeführt). Der portugiesische Arzt Egas Moniz führte 1935 als Erster eine sogenannte Leukotomie durch. Bei dieser Operation werden die Verbindungen zwischen Stirnhirn und Thalamus unterbrochen. Der Eingriff führte dazu, dass die Erkrankten besser handhabbar waren, es zeigten sich jedoch massive Folgeschäden, vor allem der Verlust der Gefühlsdimensionen Trauer und Freude. Moniz erhielt für die Entwicklung der Psychochirurgie 1949 den Nobelpreis. Die Leukotomie, die schließlich in Verruf geriert, wurde in den 1950er und 1960er Jahren vor allem in den USA an Tausenden Menschen, darunter vor allem schizophrene Patienten, durchgeführt. Die Einführung der Neuroleptika wird gern als eine Abkehr von diesen drastischen Methoden dargestellt. Die Neuroleptika, die vor allem in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Einführung, aber in einem geringeren Ausmaß auch noch bis heute angewendet werden, verursachen jedoch oft, neben einem Parkinsonoid mit Gang- und Bewegungsstörungen, akute schmerzhafte Krämpfe der Zungen- und Schlundmuskulatur. Man muss hinzufügen, dass Patienten, denen oft

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das Zeitgefühl und die Fähigkeit fehlen, sich selbst zu beruhigen und Ängste zu relativieren, dies als existenzielle Bedrohung erleben. Das Gegenmittel, das das Auftreten dieser Krämpfe verhindert, wird keineswegs routinemäßig zur Prophylaxe gegeben, man wartet in vielen Fällen ab. Man könnte diese Praxis somit in den Kontext der weiter oben dargestellten Methoden der Austreibung stellen.

Psychoanalytische Therapie der Schizophrenie – historische Bemerkungen Die Psychoanalyse der Psychosen war und ist umstritten. Freud (1917) hatte sich dazu widersprüchlich geäußert. Einmal schrieb er, dass die Psychosen (die er narzisstische Neurosen nannte) nicht durch die psychoanalytische Methode behandelbar seien, weil die Betroffenen keine Übertragung ausbildeten, das heißt keine intensive Beziehung zum Therapeuten, an der man dann arbeiten könne, weil sich in ihr problematische Beziehungsmuster wiederholen. Hier war Freud wohl von Kraepelin beeinflusst, der von der »gemüthlichen Verblödung« bei der Dementia praecox sprach, worunter er den Verlust der emotionalen Bezogenheit zu den Mitmenschen verstand. In Freuds Terminologie, ähnlich auch bei Abraham (1908/1971), entspricht dies dem Libidoentzug, wodurch die Objektbesetzungen aufgegeben werden. An anderer Stelle derselben Arbeit sagt Freud aber auch, dass eine geeignete Modifikation der analytischen Methode hilfreich sein könnte. Sie müsse die »Störungen und Zerstörungen des Ich« (Freud, 1917, S. 438) analysieren. In einigen Ländern war, trotz dieser Skepsis des Meisters, die Psychoanalyse mit psychotischen Patienten einige Zeit sehr en vogue, besonders in den USA. Als Mekka der psychoanalytischen Psychosentherapie galt lange Zeit Chestnut Lodge, eine Klinik in Rockville Maryland, die mit Namen wie Frieda Fromm-Reichmann, Harald F. Searles und anderen verbunden ist. Sie wurde Mitte der 1980er Jahre in eine Einrichtung für kognitive Verhaltenstherapie umgewandelt. Es gab in den USA, nach den Aufbruchszeiten der 1970er Jahre, einen erheblichen Widerstand gegen die psychoanalytische Behandlung von Psychosen, wohl auch teilweise dadurch verursacht, dass frühe Psychoanalytiker und leider eben gerade auch die begabte Psychosetherapeutin Frieda Fromm-Reichmann den Eltern, vor allem den Müttern – Stichwort: schizophrenogene Mutter –, die Schuld an der Erkrankung gaben. Viele Angehörige, die sich damals zu organisieren begannen, fühlten sich erleichtert, als die Hirnforschung ihnen einfache Ursachen für die Erkrankung bot, wobei psychologische Faktoren keinerlei Rolle spielten. Dies führte bedauerlicherweise dazu, dass die Angehörigen

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keinerlei psychologische Hilfen für ihr oft aufreibendes Leid, verursacht durch die schwerwiegenden Beziehungsprobleme mit ihren kranken Familienmitgliedern, erfuhren. Hatte so die psychoanalytische Psychosentherapie mit erheblicher, sicherlich nicht völlig unberechtigter Kritik zu kämpfen, stand dies doch in einem auffälligen Kontrast dazu, dass die drastischen, weiter oben beschriebenen Schockverfahren und die Eingriffe in die Gehirnsubstanz, die man – durch die psychiatrische Wissenschaft legitimiert – in großem Ausmaß durchführte, weniger zur Zielscheibe von sowohl fachlicher als auch öffentlicher Aufmerksamkeit, Kritik und Entrüstung wurden. Insgesamt hatten Psychoanalytiker, anders als die Psychiater, wenig Zeit und Möglichkeiten, aus ihren Fehlern zu lernen und ihre Methode weiterzuentwickeln. Zum Teil lag dies aber auch an den eigenen großen Widerständen, ihre Standardmethode infrage zu stellen. Ganz anders die Verhältnisse in Deutschland. Hier war die psycho­analytische Tradition durch die Nazidiktatur weitgehend abgerissen. Die Morde an den Kranken – die Diagnose Schizophrenie war ein Kriterium für zwangsweise Sterilisation und für die sogenannte »Euthanasie« – wurden über Jahrzehnte verdrängt und führten zu keinen Versuchen, etwas gutzumachen, den Kranken näherzukommen, sie besser zu verstehen oder sich gar auf intensive Psycho­ therapien mit ihnen einzulassen. Viele Psychoanalytiker waren geflohen oder emigriert, einige hatten die Psychoanalyse an die NS-Ideologie angepasst. Es gab in der deutschen Psychiatrie nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der Ausnahme von Daseinsanalytikern wie Binswanger, über eine längere Zeitspanne nur sehr wenige Psychoanalytiker und Psychotherapeuten, die sich für Patienten mit Psychosen zuständig fühlten. In der Nachkriegszeit gelang es zwar, die Psychoanalyse für Neurosen als eine Leistung des öffentlichen Gesundheitswesens zu etablieren. Psychoanalytiker behandelten aber nur in Ausnahmefällen Patienten mit der Diagnose Schizophrenie. Die Forschungsgruppe am Max-PlanckInstitut für Psychiatrie in München unter der Leitung von Paul Matussek, die von 1965 bis 1984 bestand und psychoanalytische Therapien mit psychotischen Patienten durchführte und erforschte, hatte einige beachtenswerte Ergebnisse gebracht, die aber keinen größeren Einfluss auf die analytische Community ausübten. Die meisten Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen sahen weiterhin wenig Nutzen in einer analytischen Behandlung der Psychosen. Man war weitgehend der Meinung, dass Psychosen nicht zum Anwendungsbereich der Psychoanalyse gehörten, da bei ihnen eine Ich-Schwäche, ein Ich-Defekt bzw. eine irreversible Regression vorliege. Die Psychiater wiederum waren sich in ihrer Ablehnung einig. Sie warnten vor der Anwendung der psychoanalytischen Methode bei schizophrenen Patienten. Das sei gefährlich, dadurch könne etwas aufgewühlt werden und zu einem Rückfall in die Psychose führen.

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Die Konzepte zur Theorie und Behandlung der Schizophrenie von Stavros Mentzos Die Bedeutung von Stavros Mentzos für das Verständnis und die Behandlung der Schizophrenie wird erst in dem skizzierten Kontext verständlich. Eine psycho­analytische Behandlung der Schizophrenie galt im deutschen Sprachraum bei Psychiatern als gefährlich und obsolet, bei Psychoanalytikern als wirkungslos. Es gab sicherlich charismatische Analytiker, die mit Schizophrenen arbeiteten, es gab auch einige sehr schwer verständliche Konzepte, an denen man sich abmühen konnte. Was es nicht gab, war eine praktikable und anschlussfähige psycho­analytische Theorie und Therapie der Psychosen. Mentzos’ Bedeutung liegt also nicht in erster Linie darin, dass er einmalig den Stein der Weisen gefunden hätte, den vorher niemand bemerkt hat, sondern in einem langfristigen Projekt. Mentzos behandelte über Jahrzehnte psychotische Patientinnen und Patienten und entwickelte seine Konzepte parallel zu seiner tagtäglichen Behandlungspraxis. Dieses enge, viele Jahre lang bestehende Junktim zwischen Forschen und Heilen ist ja keineswegs immer vorzufinden. Aus einer Idee wurde im Verlauf von Jahrzehnten eine Theorie, die einen neuen Zugang und vor allem auch eine neue Haltung zu den Erkrankten ermöglichte. Mentzos wollte verstanden werden und er wollte wirksam sein. Das zeigte sich in seiner nachvollziehbaren Darstellung, was bei Analytikern, die sich mit Psychosen beschäftigen (siehe Bion oder Lacan), durchaus bemerkenswert ist, und in seinem lebenslangen Bemühen, Brücken zu anderen Paradigmen wie Neurowissenschaften und kognitiver Verhaltenstherapie zu bauen. Er wollte der Psycho­ analyse der Psychosen einen Platz innerhalb der Psychoanalyse, innerhalb der psychiatrischen Wissenschaft und auch ganz konkret in der Krankenversorgung verschaffen, da er aus seiner Erfahrung als Therapeut in der psycho­ analytischen Methode das Potenzial sah, diesen schwer leidenden Menschen wirksam zu helfen. Man kann sagen, dass dieses Ziel – sicherlich nicht nur durch die Beiträge von Mentzos, aber mit ihm als Vordenker – doch in einem nicht unerheblichen Ausmaß erreicht wurde. Der Weg dahin, seine Etappen sollen im Folgenden nachgezeichnet werden. Der schizophrene Grundkonflikt Mentzos begann in Zusammenarbeit mit seiner Arbeitsgruppe, der seit 1984 regelmäßig einmal im Monat stattfindenden Psychosekonferenz an seiner Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik am Zentrum der Psychiatrie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, sich intensiv mit der Thematik der

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psychoanalytischen Psychosentheorie und Therapie zu befassen. Das erste Ergebnis der Arbeit war eine Gegenposition zu der damals weit verbreiteten Anschauung der Ich-Schwäche, des Ich-Defekts bei den Psychosen. Mentzos formulierte die Hypothese des Grundkonflikts der Psychosen, was damals den meisten Konzepten zuwiderlief. Er stellte damit die bei fast allen Psychiatern, aber auch bei den meisten Psychoanalytikern fest verankerte Überzeugung infrage, dass bezüglich der Psychosen eine nachvollziehbare Psychodynamik und ein Verständnis nicht möglich seien und deswegen die analytische Methode nicht den Anspruch erheben könne, das Krankheitsgeschehen an sich positiv zu beeinflussen. Alles, was man tun könne, sei, ein schwaches und defektes Ich durch Ich-stützende Maßnahmen zu stärken. Den Grundkonflikt beschreibt Mentzos (1992, S. 10) in dem Buch »Psychose und Konflikt« folgendermaßen: »Im Falle der Schizophrenie scheint dieser Prozess die Bipolarität zwischen den selbstbezogenen und den objektbezogenen Tendenzen zu betreffen. Der daraus unter Umständen entstehende rigide Konflikt lässt nur zwei grob pathologische ›Lösungen‹ zu: den extremen narzisstischen Rückzug oder die Auflösung der Ich-Grenzen und die Fusion mit dem Objekt.« Bei den affektiven Psychosen wiederum geht es um die Bipolarität von (normalerweise sich keineswegs ausschließender) Selbstwertigkeit und Objektwertigkeit. »Bei dem hieraus entstehenden erstarrten Konflikt bieten sich ebenfalls nur zwei mögliche, aber grob pathologische ›Lösungen‹ an: absolute Herrschaft des archaischen, strengen, übermächtigen Über-Ich (Depression) oder das ›Über-Bord-Werfen‹ des Über-Ich, also die Herrschaft des Größenselbst (Manie)« (Mentzos, 1992, S. 11). Diese Hypothese zu den affektiven Psychosen wird Mentzos später weiterentwickeln und zu einer Theorie der Selbstwert­ regulation (Mentzos, 1995) ausarbeiten. Ich werde im Folgenden vor allem auf die Konzepte, die sich mit der Schizophrenie befassen, eingehen. Die Hypothese des Grundkonflikts bei den Psychosen stimmte mit der Erfahrung vieler Therapeuten und Ärzte, die mit psychotischen Patienten arbeiteten, gut überein. Genau diese Konflikte erlebt man in der Therapie mit schizophrenen Patientinnen und Patienten. Man kommt an einen schizophrenen Patienten nicht heran, oder genauer gesagt, man kommt weder richtig an ihn heran noch richtig von ihm weg. Es gibt weder die Möglichkeit einer konstruktiven Nähe noch die Möglichkeit einer konstruktiven Abgrenzung. Bei einem bipolaren Patienten ergibt sich eine ähnliche Schwierigkeit. Ein bipolarer Patient hat keinerlei Spielraum: Seine für ihn wesentlichen Werte und Tendenzen, die sein Selbstwertgefühl bestimmen, sind nicht vermittelbar mit den Werten der Mitmenschen, der Objektwertigkeit. Es gibt im Fall eines Aufeinandertreffens der antagonistischen Tendenzen nur quälende Unterwerfung (Depression) oder

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rücksichtslose Revolte (Manie). Damals, in den Anfängen, hätte man zu Recht die Frage stellen können, was man mit diesen Erkenntnissen, die vielen auf Anhieb nachvollziehbar und treffend erschienen, anfangen solle. Waren das sozusagen nachhaltige Konzepte oder nur wieder eine neue Version, eine Theorie der Psychosen zu entwickeln, mit einem Begriffspaar, das irgendwie in der Luft hing? Es gab ähnliche Vorschläge, Psychosen theoretisch zu erfassen. Um einige zu nennen: Burnhams (1969) »need-fear dilemma«, Balints (1968, dt. 1970) Konflikt zwischen Philobatie und Oknophilie, Mahlers Konflikt zwischen Abhängigkeit und Autonomie (Mahler, Pine u. Bergmann, 1975, dt. 1978), die Gegenüberstellung von Narzissmus und Antinarzissmus bei Racamier (1980, dt. 1982) und Benedettis (1992) Konflikt zwischen symbiotischem und separatem Selbst. Mentzos arbeitete auf seine bedächtig-zielstrebige Art weiter an seiner Idee. Das Konzept erwies sich als geeignet, psychotische Symptome auf eine neue Weise zu erklären. Nach Karl Jaspers’ (1913) Dogma, das lange in der Psychiatrie als unangreifbar galt, ging man davon aus, dass bei den sogenannten endogenen Psychosen das Verstehen an eine Grenze stoße, hier müsse das naturwissenschaftliche Erklären ansetzen. Ein Verfolgungswahn etwa bediene sich demnach zwar in seiner Ausgestaltung aus dem jeweiligen kulturellen Umfeld, sein Auftreten an sich sei aber durch zerebrale Ursachen (das »organische Substrat«) und somit in keiner Weise durch sinnhafte Prozesse bedingt. Hier seien ein Verstehen und eine Einfühlung nicht mehr möglich. Dieses Dogma verlor in den letzten Jahren spürbar an Bedeutung. Im Nachhinein erscheint es vielen wohl bereits als selbstverständlich, dass psychotische Symptome eine Funktion haben und nachvollziehbar sind. Ein Verfolgungswahn zum Beispiel ist in aller Regel eine Reaktion darauf, dass der Grundkonflikt nicht mehr zu bewältigen ist. Objektbezogene Wünsche nach Nähe zum Objekt verursachen Angst vor der Auflösung des Selbst. Die selbstbezogene Tendenz und damit das Selbst sind in ihrer Existenz gefährdet. Der Grundkonflikt wird sozusagen akut. Wenn keine anderen Auswege wie Rückzug möglich sind, kollabiert der Realitätsbezug. Es kommt zur Desorganisation des Ich, alle Grenzen und Bezüge lösen sich auf. Der Wahn schafft neue Ich-Grenzen. Das Selbst hat wieder eine klare Kontur und ein klares Gegenüber, den Verfolger. Dadurch kann auch die Beziehung zum Objekt aufrechterhalten werden. Diese »Lösung« des Konflikts, die mit einer Wiederherstellung einer, wenngleich jetzt wahnhaften strukturierten Realität einhergeht, geschieht allerdings um den hohen Preis des Ausstiegs aus der mit anderen teilbaren sozialen Realität. Es blieb nicht bei einer einleuchtenden Theorie der Wahnentstehung, das Verständnis ließ sich auch auf andere psychotische Symptome ausweiten. Auch Halluzinationen und die sogenannte Negativsymptomatik wurden als

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Reaktionen in ihrer unbewussten Motivation verständlich und einsehbar. Insgesamt hat sich damit das Bild der Psychosen geändert. Die Patienten wurden Psychoanalytikern, aber auch Psychiatern durch die neuen Konzepte vertrauter; vieles, was vorher unverstanden war, wurde als Reaktion auf eine existenzielle, allerdings ins Extrem zugespitzte Problematik, die bei allen Menschen besteht, wenngleich in abgemilderter Form, nachvollziehbar. Vom Konflikt zum Dilemma Ein weiterer Schritt in der Entwicklung von Mentzos’ Theorie war der vom Konflikt zum Dilemma. Der Terminus »Konflikt«, der bei Neurosen, bei Persönlichkeitsstörungen und bei Psychosen angewendet wurde, erlaubte ja keine klaren Unterscheidungen. Mit dem neuen Begriff des psychotischen Dilemmas erreichte Mentzos eine wichtige Differenzierung. Das Spezifische eines Dilemmas ist das völlige Fehlen der Möglichkeit, polare Gegensätze zu vermitteln. Es gibt keinerlei Kompromiss, der Antagonismus kann weder durch Verdrängung (Neurose) noch Spaltung (Borderline) bearbeitet und entschärft werden. Es bleibt nur der psychotische Mechanismus, wodurch die Realität oder Teile von ihr verlassen und darauf umgeschaffen werden. Das Dilemma, so Mentzos, entsteht durch ungünstige Entwicklungsprozesse, bei denen biologische, soziale und psychologische Faktoren beteiligt sind. Allerdings kann es durch Strategien der Vermeidung, des Rückzugs, des Versuchs, Affekt und Intellekt radikal zu trennen, oder durch psychosoziale Arrangements sozusagen latent sein. Sobald allerdings die polaren Strebungen in eine krisenhafte Spannung geraten, meist durch eine Trennung, durch die Aufnahme einer Liebesbeziehung, durch eine Anforderung, sich in neuen Positionen oder Aufgaben zu bewähren, oder durch eine Erschütterung des Selbstwertgefühls, entsteht unter großer Panik und Angst eine Situation, in der ein extremer Antagonismus erlebt wird. Dieser extreme Antagonismus führt dann zum Zusammenbruch von Ich und Realität und zum Ausbruch der Psychose. Man könnte an Mentzos’ Theorie die Frage stellen, warum denn ein Dilemma zu einer Psychose führen müsse. Wie lässt sich ein Dilemma genauer beschreiben? Was genau führt zu diesen massiven Reaktionen, in denen jemand völlig die Realität verlieren kann und in denen die Ich-Organisation zusammenbricht? In der Philosophie ist das Buridan’sche Paradoxon bekannt, nach dem Philosophen Buridan, der im 14. Jahrhundert lebte. Es lautet wie folgt: »Ein Esel steht zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen. Er verhungert schließlich, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst fressen soll.« Der Esel war ganz offensichtlich in einem Dilemma, er konnte sich

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nicht entscheiden. Aber passiert dasselbe, wenn jemand psychotisch wird und die Realität aufgibt? Mit Mentzos könnte man sagen, dass das Spezifische des Dilemmas darin besteht, dass der Antagonismus, der absolut unlösbar ist, die Kohärenz und Integration des Selbst zerstört. Im Gegensatz zu einer neurotischen Verarbeitung der Bipolarität ist das Dilemma intensiver und existenzieller. Das Dilemma betrifft also den Kern des Selbst, die Selbstidentität: »In der Schizophrenie geht es um die Identität« (Mentzos, 2009, S. 207). Dilemma und Identität Der Begriff der Identität, den Mentzos wiederholt zur Beschreibung des schizophrenen Dilemmas verwendet, spielte und spielt in der Psychoanalyse der Psychosen keine nennenswerte Rolle. Eine Ausnahme macht Winnicott (1963, dt. 1985, S. 246): In der Arbeit »Die Frage des Mitteilens und des Nicht-Mitteilens führt zu einer Untersuchung bestimmter Gegensätze« schreibt er: »Im Zentrum jeder Person ist ein Element das ›incommunicado‹, das heilig und höchst bemerkenswert ist. Vergewaltigung und von Kannibalen gefressen werden sind bloße Bagatellen im Vergleich zur Vergewaltigung des Kerns des Selbst, zur Veränderung der zentralen Elemente des Selbst, die eintritt, wenn Kommunikation durch die Abwehr einsickert.« Dazu passt eine Anekdote aus Roberto Bolaños Roman »2666«, auf die sich Schneider (2015, S. 72 ff.) in seiner Arbeit über das Identitätsproblem bezieht. Ein französischer Anthropologe auf Borneo gibt einem Eingeborenen aus einem Stamm, bei dem man sich, wenn man sich berührt, nicht in die Augen sieht, die Hand, schaut ihm in die Augen, versucht, ihm einen Blick aufzuzwingen. Der Eingeborene stößt einen fürchterlichen Schrei aus: »Dajiji« – ein Wort mit verschiedenen Bedeutungen: Vergewaltigung, Kannibale, Unmöglichkeit, der mich berührt und mir in die Augen schaut, um meine Seele zu verspeisen. Ein anderer Eingeborener wirft sich auf den Anthropologen und spaltet ihm mit einem Stein den Schädel. Ich denke, diese Geschichte gibt einen Eindruck von der Ebene, die in der Schizophrenie berührt wird und auf der es um das Überleben des Kerns des Selbst geht. Ähnlich hat Mentzos (2009, S. 223) über die bei schizophrenen Patienten auftretenden Ängste geschrieben: »Oft geht es auch um die Angst, von anderen im eigenen Kern gesehen und somit vereinnahmt zu werden.« Das Dilemma, das sei jedoch hier ausdrücklich betont, ist damit noch nicht vollständig beschrieben. Zum Dilemma gehört es, dass keine realistische Lösung wie Flucht oder Angriff möglich ist, weil das, was für die Identität bedrohlich ist, gleichzeitig für die Identität absolut unverzichtbar ist oder weil das, was man für die Identität absolut benötigt, verloren zu gehen droht. Es gibt keine

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Möglichkeit der alloplastischen (Ferenczi, 1919/1982) Veränderung der äußeren Realität, es kommt zu einer autoplastischen Reaktion, einer Ich-Desorganisation und einer darauffolgenden Umschreibung der Realität, wobei die Gegensatzpaare (jetzt allerdings in einer psychotischen Welt) wieder koexistieren und Ausdruck finden. Ein einfaches Beispiel: Das Dilemma zwischen mangelnder Autonomie bei Abhängigkeit von den Elternfiguren und drängenden Wünschen nach Erotik, Liebe und Anerkennung kann durch einen Liebeswahn auf Kosten des Realitäts­ bezugs »gelöst« werden. Da man im Liebeswahn sich wahnhaft als passives Objekt erlebt und sich der Wunsch nach Liebe und Anerkennung damit auf diese Weise ausdrücken kann, ist man der unmöglichen Aufgabe enthoben, sich aktiv auf ein Liebesobjekt zuzubewegen und die Beziehung zu den Eltern zu verändern, sich in gewisser Weise von ihnen zu trennen. Dieses Dilemma zwischen selbstgerichteten und objektgerichteten Tendenzen kann weitere Formen annehmen: Das kann die Angst vor der Vernichtung des Selbst durch Fusion mit einem Objekt sein, wobei gleichzeitig diese Objektbeziehung für die Aufrechterhaltung der Identität unabdingbar notwendig ist. Man empfindet die Nähe eines Objekts als existenzbedrohend, kann sich aber gleichzeitig absolut nicht vom Objekt abwenden und differenzieren. Das kann, wie gerade am Beispiel des Liebes­wahns gezeigt, die Angst sein, durch einen Entwicklungsschritt, eine neue Objektbeziehung, die für die Identität notwendigen Objekte zu verlieren. Das kann auch, um noch ein Beispiel zu nennen, der Verlust eines identitätsrelevanten Objekts sein. Freud (1894) gebraucht das Beispiel der verschmähten Braut, die in der Irrenanstalt in vollem Hochzeitsputz ihren einstigen Bräutigam erwartet. Das unlösbare Dilemma, unlösbar innerhalb des bestehenden Realitätsbezugs, verursacht etwas, das man als eine Kernschmelze des Selbst bezeichnen könnte. Die Struktur des Selbst und die Architektur seiner Bezüge brechen zusammen. Die sichtbaren Symptome sind der in unterschiedlichem Ausmaß gelingende Versuch, das Selbst und das Objekt wieder zu konstituieren und ein strukturiertes Verhältnis zwischen Selbst und Objekt herzustellen. Dies gelingt beim Wahn recht gut, bei der desorganisierten Schizophrenie oder Hebephrenie nur sehr unzureichend. Mentzos hat das manchmal in Falldiskussionen humorvoll so ausgedrückt: »Dieser Patient hat es leider nicht einmal geschafft, einen vernünftigen Wahn zu bilden.« Vom Dilemma zur allgemeinen psychodynamischen Krankheitslehre Mentzos hat in einer Weiterentwicklung seines Denkens die von der Psychiatrie seit Langem beschriebenen psychotischen Syndrome nach ihrer Nähe zum Selbstpol oder Objektpol (2009, S. 154) eingeteilt. Das Extrem des Selbstpols ist

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demnach der Autismus (hier gibt es kein Objekt), es folgen Katatonie, Verfolgungswahn, Halluzinationen (als Objekt-Ersatz). Näher zum Objektpol befinden sich Beziehungswahn, Liebeswahn, das Zerfließen der Ich-Grenze und schließlich das Extrem am Objektpol, die Fusion mit dem Objekt (hier gibt es kein Subjekt). Somit werden die psychotischen Phänomene allesamt als unterschiedliche Methoden verstehbar, den Antagonismus, das Dilemma, durch selbstbezogene oder objektbezogene Abwehr- und Kompensationsmechanismen zu bewältigen. Mentzos hat in den letzten Jahren seine Theorie der Bipolarität zu einer allgemeinen psychodynamischen Krankheitslehre weiterentwickelt, die als Lehrbuch der Psychodynamik (Mentzos, 2009) vorliegt. Demnach ist das psychotische Dilemma eine spezielle Ausgestaltung der Bipolarität, die auch auf anderen Ebenen der psychischen Organisation, sozusagen auf höheren, reiferen Ebenen, bei Neurosen und Persönlichkeitsstörungen auffindbar ist. Wobei auch hier selbstbezogene oder objektbezogene Abwehr- und Kompensationsmechanismen eingesetzt werden. Mentzos beschreibt dies unter anderem am Beispiel der neurotischen Störungen Agoraphobie und Klaustrophobie. Diese Patienten verarbeiten ähnlich wie psychotische Patienten eine Nähe-Distanz-Problematik, allerdings »auf eine relativ reife und von der Symbolik her gesehen eindeutig differenziertere Weise« (Mentzos, 2009, S. 260). Diese Krankheitslehre kann durchaus mit psychiatrischen Klassifikationssystemen konkurrieren, wobei sie den Vorteil hat, die Krankheitsbilder aus psychodynamischen Grundsätzen zu verstehen, was eine neue übersicht­liche Ordnung schafft und weitere Vorteile bietet. Unter anderem lassen sich etwa Syndrome, die entsprechend der psychiatrischen Lehre unverbunden und ohne Zusammenhang sind, als eine andere Form der Bearbeitung der gleichen Problematik begreifbar machen. Mentzos sprach von Abwehrlinien. Eine neurotische Abwehr kann nicht mehr ausreichen und zusammenbrechen, so dass psychotische Mechanismen notwendig werden. Mentzos (2015b) weist auch auf das Phänomen eines Syndromwechsels hin. Ein Beispiel wäre eine Neurodermitis, die abklingt, sobald eine Psychose auftritt, und nach deren Abklingen wieder in den Vordergrund tritt. Es geht dabei um den Versuch, die Schwierigkeit, sich unbedingt abgrenzen zu wollen, ohne es zu können (das Dilemma, die Bipolarität), zu lösen, wobei der psychotische und der psycho­somatische Modus alternierend auftreten. Auf diese Weise erlaubt es die Krankheitslehre Mentzos’, die rigide Klassifikation von Menschen, die unter psychischen Störungen leiden, zu überwinden. Abgetrennte Krankheitsbilder, die gleichsam eigenständige Wesenheiten ohne inneren Zusammenhang darstellen, lassen sich als verschiedene Weisen verstehen, einen Grundkonflikt, eine Bipolarität, zu bewältigen.

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Die psychoanalytische Behandlung der Schizophrenie Ein wichtiger Faktor für das Gelingen oder Misslingen einer Psychotherapie ist die Haltung des Psychoanalytikers gegenüber seinem Patienten. Mentzos betonte immer wieder, wie wichtig es sei, »dass der Therapeut den Patienten nicht als einen defektuös pathologisch strukturierten, sondern als einen in intrapsychischen Gegensätzlichkeiten verwickelten Mitmenschen betrachtet und ihm die Möglichkeit gibt, alternative Erlebens- und Handlungsformen bei sich zu entdecken und zu realisieren, die ihm früher nicht möglich waren« (Mentzos, 2015a, S. 31). Achtung und Respekt vor der Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen, wie er sein Lehrbuch der Psychodynamik untertitelte, sah er als entscheidend dafür an, einen konstruktiven therapeutischen Prozess mit psychotischen Patienten in Gang zu bringen. Mentzos sah psychotische Patientinnen und Patienten als kreativ und findig darin, mit Unmöglichem, mit Dilemmata zurechtzukommen, und versuchte, ihnen diese Leistung auch zu vermitteln. Dadurch unterschied er sich deutlich von einer Tradition innerhalb der Psychoanalyse, die im Patienten vor allem unbewussten Neid und Aggression vermutet. Er lehnte diese Konzepte nicht völlig ab, sah aber zum Beispiel Aggression nicht nur unter dem Triebaspekt, sondern vor allem in der Funktion, Abstand zu schaffen und ein bedrohtes Selbst zu reorganisieren. Hat sich Mentzos so in einer gewissen Distanz zu der psychoanalytischen Richtung positioniert, die wie Melanie Klein und viele ihrer Nachfolger eine primäre, nicht reaktive Aggressivität als wesentlich für das Verständnis der Psychosen ansehen, so setzte er sich in den letzten Jahren seines Schaffens auch zumindest teilweise von dem in der Psychiatrie gültigen Vulnerabilitätskonzept ab. Er vertrat zunehmend die Meinung, dass Menschen mit Psychosen eher besonders sensibel als besonders vulnerabel seien und dass ihre erhöhte Sensibilität mit allen ihren Gefahren ein wertvolles Element in der Evolution darstellen könnte (Mentzos, 2006). Mentzos hat in seinem Lehrbuch der Psychodynamik einige eher allgemeine Hinweise zur psychoanalytischen Therapie der Schizophrenie gegeben, die er in späteren Publikationen (Mentzos, 2013, 2014, 2015a, 2015b) auch durch Beispiele aus seiner Behandlungspraxis konkretisierte. Aus dem Dilemmakonzept ergibt sich eine klare Aufgabe für den Psychoanalytiker. Sie besteht darin, das Dilemma, wie Mentzos (2009, S. 229) es ausdrückte, zu »lockern«. Mentzos beschreibt das dabei notwendige therapeutische Vorgehen folgendermaßen: Es geht um die »schwierige Mischung zwischen empathischem Einfühlen und respektierender Distanz, also Zuwendung ohne Intrusion […]. Denn diese Mischung ist eigentlich das Beste, was man dem Patienten bieten kann, es ist ja auch im Hinblick auf das […] geschilderte Problem der Schizophrenie ein

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regelrechtes – und diesmal echtes und gesundmachendes – Antidot, also das richtige Gegenmittel. Es ermöglicht dem Patienten, zu beginnen, das Grunddilemma zu überwinden« (Mentzos, 2009, S. 232). Mentzos hat damit eine Haltung beschrieben, der er einen sehr hohen Stellenwert für eine erfolgreiche Psychosentherapie zuweist. Das eigentliche behandlungstechnische Vorgehen (Mentzos, 2009, S. 231) besteht nicht in tiefer gehenden Deutungen. »Es geht vielmehr um solche therapeutische Verfahren wie den Handlungsdialog, sonstige verbale und nonverbale Kommunikation, die Benennung von Gefühlen im Hier und Jetzt, das Benutzen von Metaphern und Bildern und Ähnliches mehr.« Mentzos (2013) wies auch auf paradoxe Anfänge und Beendigungen von Therapien hin. Ein Abbruch der Therapie durch den Patienten bedeute nicht notwendigerweise ein ungünstiges Resultat der Therapie, es könne ein erfolgreicher Versuch des Patienten sein, sich auf eigene Beine zu stellen. In seiner letzten Arbeit schreibt Mentzos (2015b, S. 347 f.): »Für einen erfolgreichen Umgang mit dem psychotischen Patienten sind mindestens zwei Voraussetzungen erforderlich: Erstens muss der Therapeut überzeugt sein, dass die schwersten, die ›verrücktesten‹ Symptome eine Funktion haben, dass also generell die Funktion der Dysfunktionalität anerkannt wird. Zweitens muss der Therapeut davon ausgehen, dass nicht nur die Übertragung und die Gegenübertragung, sondern auch die realen Beziehungen von Bedeutung sind.« Der Therapeut ermöglicht dabei eine Neuerfahrung, in der eine neue, weniger dilemmatische Beziehungsgestaltung erstmalig möglich wird. Die Wirksamkeit einer Behandlungstechnik, bei der die Konzepte und Anregungen von Mentzos in konkrete behandlungstechnische Werkzeuge umgesetzt wurden, wird seit Herbst 2015 in der Studie »Psychodynamische Psychotherapie bei Patienten mit Schizophrenie – eine randomisiert-kontrollierte Wirksamkeitsstudie« untersucht. Die Studie wird von der IPU (International Psycho­ analytic University, der Stiftung Charité und der DGPT (Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie) gefördert. Das behandlungstechnische Vorgehen, das in manualisierter Form vorliegt (Lempa, von Haebler u. Montag, 2016), vollzieht sich in drei Schritten: Es geht zuerst um die Etablierung eines therapeutischen Raums, das heißt, eine Situation in der Therapie zu schaffen, in der Forderungen nach Fortschritten (Beruf, Lebenssituation) nicht so drängend werden können, dass sie die zum Erreichen dieser Ziele unabdingbare Abmilderung des schizophrenen Dilemmas innerhalb der therapeutischen Beziehung behindern – ein Prozess, für den Zeit zur Verfügung stehen muss. In einem zweiten Schritt, der gelebten Interpersonalität, wird versucht, das Dilemma durch eine Modellerfahrung in Echtzeit abzumildern, wonach in einem dritten Schritt, der verstandenen Interpersonalität,

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die dilemmatischen Beziehungsmuster und die Vorgeschichte geklärt, benannt, interpretiert und rekonstruiert werden. Dadurch können schließlich für den Patienten ein Verständnis der psychologischen Faktoren, die seine Psychose wesentlich mit bedingen, und eine Integration des psychotischen Zustands in die Biografie möglich werden. Besonderes Augenmerk gilt während des gesamten therapeutischen Prozesses der Handhabung und der Reflexion der Gegenübertragung im Hinblick auf die Transformation dilemmatischer Beziehungsmuster, was als Voraussetzung dafür verstanden wird, eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Patient und Therapeut, in der sowohl konstruktive Nähe als auch konstruktive Distanz möglich werden, zu erreichen. Mentzos versus Klein – zwei inkompatible behandlungstechnische Methoden? Wenn wir den veröffentlichten (Mentzos, 2014, 2015a, 2015b) oder bei Tagungen vorgetragenen Behandlungsberichten Glauben schenken, kann bei schizophrenen Patientinnen und Patienten ein therapeutisches Vorgehen erfolgreich sein, das auf den ersten Blick anderen behandlungstechnischen Konzepten zuwiderläuft. Ein Kontrast besteht vor allem zu kleinianischen und neokleinianischen Konzepten, die wie etwa Rosenfeld (De Masi, 2001) die Aufgabe des Analytikers, der Analytikerin darin sehen, den Patienten die Worte zu geben, die sie nicht besitzen. Dem zugrunde liegt die Theorie, dass der Patient mangelnde Fähigkeiten besitzt, seine Gefühle zu verarbeiten. Diese werden mit psychotischen Mechanismen durch projektive Identifikation oder motorische Abfuhr evakuiert (Bion, 1962). Nach dieser Auffassung besteht die Aufgabe des Analytikers (wie in der Frühzeit die der Mutter) darin, für den Patienten (das Baby) die Verarbeitung dieser unerträglichen Emotionen zu übernehmen und sie dann dem Patienten durch eine Interpretation bewusst zu machen und ihm dadurch eine Integration der vorher abgewehrten Affekte zu ermöglichen. Sie werden verbalisiert und für den Patienten als seine Gefühle zugänglich. Es geht also um ein zweistufiges Vorgehen. Der Analytiker erhält (via projektiver Identifikation) in einem ersten Schritt die unerträglichen Gefühle, er hält sie aus und verarbeitet sie (Containing). Er verwandelt Unerträgliches (Beta-Elemente) in Denkbares und Verbalisierbares (Alpha-Elemente) und gibt sie dann in einem zweiten Schritt dem Patienten in jetzt für ihn verdaulicher Form zurück. Der Patient kann dadurch Zugang zu seiner Innenwelt erlangen, und eine psychotische Verarbeitung wird überflüssig. Wenn man einmal annimmt, dass diese Methode auch bei explizit schizophrenen Patienten funktioniert – Kleinianer sehen ja psychotische Mechanismen auch bei Patienten,

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die nach einer psychiatrischen Klassifikation eher Persönlichkeitsstörungen aufweisen –, so wäre die Methode, die sich aus dem Dilemmaprinzip ergibt, ein anderer Weg, ein alternatives behandlungstechnisches Vorgehen, das letztlich aber zum gleichen Ziel führt. Denn auch Kleinianer haben ja enorme Schwierigkeiten damit, dass der Patient ihre Deutungen nicht annimmt. Das zeigt die doch beträchtliche Anzahl der Konzepte, die entstanden sind, um zu erklären, warum der Patient dazu nicht ohne Weiteres bereit ist: Er ist voller Neid auf den Analytiker, er gönnt ihm seine Kreativität nicht oder er hasst ihn, weil er nicht von ihm abhängig sein will, weil bei ihm ein destruktiver Neid vorliegt oder er sozusagen in der Hand seiner Psychose ist, wie in der Hand einer feindlichen Organisation, einer Mafia (Rosenfeld, 1990), die ihm verbietet, mit dem Analytiker zusammenzuarbeiten. Kleinianer versuchen, dies dem Patienten aufzudecken und bewusst zu machen, um dadurch eine therapeutische Zusammenarbeit aufzubauen. Sie versuchen, einen konstruktiven Austausch zwischen Analytiker und Patient zu erreichen durch die Bearbeitung und Deutung der Widerstände des Patienten gegen eine solche Beziehung und der zugrunde liegenden Triebe und Affekte. Die Herstellung einer konstruktiven Beziehung zwischen Analytiker und Patient soll mit dem Vorgehen, das Mentzos vorgeschlagen hat, in einem ersten Schritt nicht durch Einsichten, sondern durch eine Modellerfahrung innerhalb der therapeutischen Beziehung bewirkt werden. Eine modellhafte Lockerung des Dilemmas, eine gemeinsame Kreation des Paares Analytiker–Patient in der Realbeziehung, schafft eine Kommunikationsfrequenz, eine Verbindung und Zusammenarbeit und vor allem ein belastbares Vertrauen. Erst danach kommen einsichtsorientierte Verfahren wie Interpretation und Rekonstruktion zum Einsatz. Insofern könnte man behaupten, dass (ungeachtet einiger Unterschiede, was das Bild des Schizophrenen und vor allem auch die Bedeutung der Aggression betrifft) die Behandlungstechniken sich mit dem gleichen Problem befassen, das sie mit unterschiedlichen Methoden, sozusagen von verschiedenen Seiten aus, angehen.

Die Wirkungsgeschichte der Konzepte von Mentzos Die Wirkung von Mentzos’ Theorien auf die Psychiatrie war, verglichen mit anderen psychoanalytischen Autoren, die sich mit Psychosen befassen, enorm. Einflussreiche Psychiater und Lehrstuhlinhaber hatten endlich das Gefühl, durch einen psychoanalytischen Ansatz anwendbare und praktikable Hilfe beim Verständnis und der Therapie ihrer Patienten zu erhalten. Dazu trug auch bei, dass

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sich Mentzos nicht scheute, Querverbindungen zur biologischen Psychiatrie herzustellen. Er bezeichnete schon früh die Psychosen als Psychosomatosen des Gehirns, und er entwickelte eine Hypothese, die das Dilemma bei Psychosen mit neurobiologischen Befunden, nämlich einer verminderten Aktivierung des ACC (anterior cingulate cortex), korreliert (Mentzos, 2008). Der ACC ist eine Gehirnstruktur, die für die Integration widersprüchlicher Informationen, für Konflikt-Monitoring und Entscheidungsprozesse spezialisiert ist. Dabei kann ein psychodynamisches Verständnis auch erklären, warum der gleiche Befund sowohl bei der Schizophrenie als auch bei der Depression auftritt, da in beiden Fällen zentrale Dilemmata und Konflikte, die nur inhaltlich verschieden sind, im Vordergrund stehen und sozusagen die Kapazitäten des ACC überfordern. Mentzos war aber auch ganz praktisch an der Förderung und Verbreitung der analytischen Psychosentherapie beteiligt. So unterstützte er mit Vorträgen und Fallseminaren über Jahrzehnte hinweg die im Jahr 1992 von Frank Schwarz und Helmut Remmler in München gegründete überregionale Weiterbildung in analytischer Psychosentherapie. Zu nennen wären unter vielem anderen weiterhin die Gründung des »Frankfurter Psychose-Projekts« und der Schriftenreihe »Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie«. Sehr wichtig war, dass durch Mentzos’ Konzepte das Vorgehen der Psychoanalytiker auch für Nichtanalytiker vermittelbar und anschlussfähig wurde. Dies war sicherlich ein nicht zu unterschätzender Faktor, der dazu beitrug, dass die Psychotherapierichtlinie im Dezember 2014 geändert und Psychosen explizit als eindeutige Indikation aufgenommen wurden, nachdem bisher nur seelische Behinderungen als Folge einer psychotischen Erkrankung als Behandlungsindikation anerkannt waren. Diese längst überfällige Gleichstellung von psychotischen Menschen mit Menschen mit Neurosen, Persönlichkeitsstörungen oder psychosomatischen Erkrankungen wurde nur möglich, weil Psychodynamiker, Verhaltenstherapeuten, Sozialtherapeuten und Psychiater dazu in der Lage waren, sich über die Paradigmengrenzen hinweg – wozu die Konzepte von Mentzos sehr hilfreich waren – zu verständigen und gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Zusammengefasst verdanken wir Stavros Mentzos mit dem Dilemmakonzept ein neues Werkzeug, das Analytikern – aber nicht nur ihnen – hilft, psychotische Patientinnen und Patienten besser zu verstehen, ihre extreme Problematik einfühlend wahrzunehmen und zu denken. Das Konzept erlaubt es ebenso, die Entstehung der Psychose anhand von ungünstigen Entwicklungsprozessen innerhalb der primären Beziehungen nachzuvollziehen, in denen keine Möglichkeiten bestanden, das sich ausbildende Dilemma durch Repräsentationsprozesse abzumildern. Psychotische Symptome lassen sich als dysfunktionale Versuche, das Dilemma zu bewältigen, verstehen. Schließlich begründete Stavros

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Mentzos eine neue Behandlungstechnik, die auf das Dilemma in der therapeutischen Beziehung fokussiert, es durch eine Modellerfahrung und schließlich auch durch Einsichtsprozesse lockert oder überwindet.

Literatur Abraham, K. (1908/1971). Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der Dementia praecox. In K. Abraham, Psychoanalytische Studien, Bd. II (S. 132–145). Frankfurt a. M.: Fischer. Balint, M. (1968, dt. 1970). Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grund­störung. Stuttgart: Klett-Cotta. Benedetti, G. (1992). Psychotherapie als existenzielle Herausforderung. Göttingen: Vanden­hoeck & Ruprecht. Bion, W. R. (1962/2013). Eine Theorie des Denkens. In W. R. Bion, Frühe Vorträge und Schriften mit einem kritischen Kommentar: »Second Thoughts« (S. 125–135). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Burnham, D. L. (1969). Schizophrenia and the need-fear dilemma. New York: Int. Universities Press. De Masi, F. (Hrsg.) (2001). Herbert Rosenfeld at work: The Italian Seminars. London: Karnac Books. Ferenczi, S. (1919/1982). Hysterische Materialisationsphänomene. In S. Ferenczi, Schriften zur Psychoanalyse, II (S. 11–32). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1894). Die Abwehr-Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der acquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser hallucinatorischer Psychosen. G. W. Bd. I (S. 59–74). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1917). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. G. W. Bd. XI. Frankfurt a. M.: Fischer. Jaspers, K. (1913). Psychopathologie. Berlin: Springer. Lempa, G. (2014). Kritische Überlegungen zu der von Emil Kraepelin begründeten psychiatrischen Krankheitslehre. In G. Lempa, E. Troje (Hrsg.), Psychosenkonzepte im historischen Kontext. (S. 10–38). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Lempa, G., von Haebler, D., Montag, C. (2016). Psychodynamische Psychotherapie der Schizophrenien. Ein Manual. Gießen: Psychosozial-Verlag. Mahler, M., Pine, F., Bergmann, A. (1975, dt. 1978). Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Frankfurt a. M.: Fischer. Mentzos, S. (1992). Psychose und Konflikt. Zur Theorie und Praxis der analytischen Psychotherapie psychotischer Störungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (1995). Depression und Manie. Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (2006). Psychodynamische Diagnostik und Therapie psychotischer prodromaler Syndrome. In G. Juckel, G. Lempa, E. Troje (Hrsg.), Psychodynamische Therapie von Patienten im schizophrenen Prodromalzustand (S. 42–53). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (2008). Die gestörte Balance: Parallelitäten zwischen Neurobiologie und Psycho­ dynamik der Psychosen. In T. Müller, N. Matejek (Hrsg.), Neurobiologie der Psychosen (S. 37–52). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (2009). Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (2013). Bemerkenswerte Unterbrechungen, aber auch unerwartete Anfänge psychoanalytisch inspirierter Therapien bei Schizophrenie. In T. Müller, N. Matejek (Hrsg.), Indikation zur analytischen Psychosentherapie (S. 13–24). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Mentzos, S. (2014). Zwei entgegengesetzte Strömungen in der heutigen Diagnostik und Therapie der Psychosen. In G. Lempa, E. Troje (Hrsg.), Zwischen Biologie und Biografie. Einflüsse auf die therapeutische Praxis (S. 13–34). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (2015a). Die Gründe einer Ablehnung des psychoanalytisch-psychodynamischen Verständnisses der Psychosen. In S. Mentzos, A. Münch (Hrsg.), Widerstände gegen ein psycho­ dynamisches Verständnis der Psychosen (S. 17–33). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, S. (2015b). Dilemmatische Gegensätze im Zentrum der Psychodynamik der Psychosen. Forum der Psychoanalyse, 31, 341–352. Racamier, P. C. (1980, dt. 1982). Die Schizophrenen. Eine psychoanalytische Interpretation. Berlin u. a.: Springer. Rosenfeld, H. (1990). Sackgassen und Deutungen: Therapeutische und antitherapeutische Faktoren bei der psychoanalytischen Behandlung von psychotischen, Borderline- und neurotischen Patienten. München u. Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse. Schneider, G. (2015). Identitäten: Verflüchtigt sich die Identität in der Postmoderne? In S. Walz Pawlitta, B. Janta (Hrsg.), Identitäten (S. 71–88). Gießen: Psychosozial-Verlag. Winnicott, D. W. (1963, dt. 1985). Die Frage des Mitteilens und des Nicht-Mitteilens führt zu einer Untersuchung bestimmter Gegensätze. In D. W. Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt (S. 234–253). München: Fischer.

Elisabeth Troje

Lesen Sie »Die Brüder Karamasow«!

»Meine Herren, ich möchte Ihnen hier, gerade an dieser Stelle, ein Wort sagen« (Dostojewski, 1994, Bd. 12, S. 703). So spricht Alexej Pawlowitsch Karamasow, genannt Aljoscha, der jüngste der Brüder, am Ende des Romans die Schuljungen an, die er zu Beginn des Romans kennengelernt hat. Ich schreibe hier nicht eine Arbeit über Dostojewski, ich schreibe auch nicht über Herrn Mentzos. Wir redeten ihn so an: Herr Mentzos. Er antwortete: Frau Troje, oder sprach von anderen Mitarbeitern: »Herr Dehe meint …« »Frau Ertel hat eine Patientin vorgestellt …« Ich versuche, diese Art der Beziehung zu beschreiben, die er mir und anderen ermöglichte, in der wechselseitige Achtung, wechselseitige Anregung und eine höfliche und freundliche Distanz über die vielen Jahre zu einer Wärme und Verlässlichkeit führten. Ich versuche, diese Beziehung über ein gemeinsames Drittes zu illustrieren, indem ich Auszüge aus Dostojewskis letztem Roman zitiere: »Die Brüder Karamasow«. Etwa ab 2010 war meine wichtigste Lektüre Dostojewski. Ich las zuerst »Der Jüngling«, Dostojewskis vorletzten Roman, der auch unter dem Titel »Der grüne Junge« erschienen ist. Mich faszinierte die neugierige und liebevolle Haltung, mit der Dostojewski die psychische Labilität der Hauptpersonen beschreibt. Es schien mir, dass ihn überhaupt nur diese Menschen interessieren, die sich an der Grenze zu einer psychischen Krankheit befinden. Ich kaufte eine Gesamtausgabe und begann mit der frühen Erzählung »Arme Leute«. Als ich bei Dostojewskis Beschreibung des Gefangenenlagers war, in dem er vier Jahre verbracht hat, faszinierte mich seine Fähigkeit, sein eigenes Leiden und das Leiden der anderen zu beschreiben und irgendwie zu überstehen, seine Kunst, die Verbrecher, die mit ihm im Lager waren, aber auch die Wärter in ihrer Menschlichkeit zu betrachten. Und doch konnte er eine Distanz zu ihnen wahren, die dort immer wieder bedroht war, schon allein deshalb, weil die Insassen des Lagers zu eng gedrängt in der Kälte nebeneinander schliefen. Ich erzählte Herrn Mentzos, wie beeindruckt ich von diesen Büchern war. Er sagte: »Lesen Sie ›Die Brüder Karamasow‹!« Ich sagte: »Bald werde ich sie lesen, aber sie sind dick, über tau-

Lesen Sie »Die Brüder Karamasow«!

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send Seiten. Ich warte damit bis zu den Sommerferien.« Er antwortete: »Ich habe die Brüder Karamasow in drei Tagen und Nächten gelesen, fast ohne Unter­ brechungen. Damals war ich 18 Jahre alt.« Selten hat Herr Mentzos etwas erzählt, das seine Kindheit oder Jugendzeit betraf. Deshalb hatte seine Mitteilung für mich ein großes Gewicht. Aber ich war nicht mehr 18. Mit 18 war ich im letzten Schuljahr im Gymnasium in Göttingen. Wir waren der erste Jahrgang, für den das 13. Schuljahr eingeführt wurde. Es gab für das 13. Schuljahr noch keinen Lehrplan, so dass wir die Themen für den Deutschunterricht selbst aussuchen durften. Eines der drei Themen, die wir behandelten, war auf meinen Vorschlag hin die russische Literatur. Damals beschäftigten wir uns mit Alexander Puschkin, Nikolai S. Leskow und Gogol und kamen am Ende der Zeit erst zu Tolstoi und dann zuletzt zu Dostojewski, so dass wir uns auf ein Kapitel beschränken mussten, das später Teil des Lehrplans wurde: »Der Großinquisitor«. Die Bemerkung von Herrn Mentzos hat mich zu meiner eigenen Zeit mit 18 Jahren zurückgeführt. In den Sommer­ ferien begann ich den Roman zu lesen und brauchte anschließend noch einige Wochen, bis ich ihn beendet hatte. Der Roman ist vor allem bekannt wegen der Beschreibung der Tötungswünsche zwischen Vater und Söhnen, des ausgeführten Vatermords und den Folgen. Ein wohlhabender ungebildeter, egoistischer, geiziger und sehr unsympathischer Vater hat von zwei Frauen drei legitime Söhne: Dmitri, Iwan und Alexej, der Aljoscha genannt wird. Er hat außerdem einen Diener, Smerdjakow, der vermutlich sein vierter, aber illegitimer Sohn ist. Er ist älter als A ­ ljoscha, aber jünger als Dmitri und Iwan. Er hat den Mord ausgeführt, aber die Schuld bleibt an den beiden älteren Brüdern hängen. Während des Lesens fiel mir manchmal ein: Herr Mentzos hat mit 18 Jahren gelesen, wie es dem 19-jährigen Aljoscha, dem jüngsten der drei Brüder, ergangen ist. ­Aljoscha war der Liebling von allen, einer, der viele Hoffnungen auf sich ruhen fühlte, einer, der mit den anderen Menschen litt und darunter litt, dass er ihnen manchmal helfen musste und manchmal nicht helfen konnte. In meiner Vorstellung hat sich Herr Mentzos als 18-Jähriger mit diesem Aljoscha identifiziert und dessen Stärken und dessen Grenzen am eigenen Leib gespürt, vielleicht ein Leben lang. Aljoscha hat einen väterlichen Lehrer gefunden, einen Ersatz für seinen Vater. Er liebte den Starez, den Priestermönch, den heiligen Mann, der in der Einsiedelei des Klosters seiner Stadt lebte. Aljoscha entwickelt sich im Verlauf einer kurzen Zeit, die den Leser auf über tausend Seiten viel länger beschäftigt. Er hängt mit 19 Jahren wie ein Kind an diesem guten Vater, dem Starez, der mit seinen 65 Jahren krank und schwach ist und davon spricht, dass er bald sterben wird. Sein Tod tritt am gleichen Tag ein, an dem der Roman beginnt. Und am Ende des Romans kann Aljoscha über den Tod des Kindes Iljuscha zu

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den Schuljungen sprechen, indem er ihnen etwas gibt, das er selbst vom Starez bekommen hat. Wie am Ende des Romans das Sterben und der Tod des Kindes stehen, so am Anfang das Sterben und der Tod des Starez. Aljoscha möchte bei ihm bleiben, er möchte nach dessen Tod im Kloster leben wie er. Er bittet: »›Geben Sie den Segen, daß ich hierbleiben darf‹, sagte mit flehender Stimme Aljoscha. ›Du wirst dort dringender gebraucht. Dort ist kein Frieden. Du wirst helfen und nützen. Regen sich die Teufel, so sprich du ein Gebet. Und, mein Junge‹ (der Starez nannte ihn gern so), ›du mußt wissen, auch künftig ist dein Platz nicht hier. Präg dir das ein, mein Sohn. Sobald es Gott gefällt, mich abzurufen, sollst du fortgehen aus dem Kloster. Ganz fort.‹ Aljoscha erbebte. ›Was hast du? Vorerst ist dein Platz nicht hier. Den Segen gebe ich dir zum großen Dienst, zur großen Prüfung in der Welt. Dir ist beschieden, noch viel zu durchwandern. Auch heiraten mußt du, du mußt. Alles mußt du durchmessen und erfahren haben, bevor du von neuem hierherkommst. Und viel wird zu tun sein. Aber ich zweifle nicht an dir, darum schicke ich dich fort. Mit dir ist Christus. Bewahre ihn, und er wird dich bewahren. Gewaltiges Leid wirst du erleben, und in diesem Leid wirst du glücklich sein. Dies gebe ich dir auf den Weg: Im Leid such das Glück. Mühe dich, mühe dich ohne Unterlaß. Meine Worte präg dir nun ein, denn obgleich ich noch mit dir sprechen werde, sind doch nicht nur meine Tage, sondern meine Stunden gezählt.‹ In Aljoschas Gesicht spiegelte sich abermals heftige Bewegung. Seine Mundwinkel zuckten. ›Was hast du wieder?‹ fragte sanft lächelnd der Starez. ›Mögen die Weltlichen ihre Toten mit Tränen geleiten, wir hier freuen uns für den scheidenden Vater. Wir freuen uns und beten für ihn. So verlaß mich nun. Was not tut, ist Beten. Geh, beeile dich. Bleib deinen Brüdern nahe. Nicht einem, sondern beiden.‹ Der Starez hob die Hand zum Segen. Aljoscha mußte sich fügen, obgleich es ihn mächtig drängte zu bleiben« (Bd. 11, S. 124 f.).

So verließ also Aljoscha den Starez, wie ihm befohlen war, aber auf dem Waldweg von der Einsiedelei zum Kloster wurde ihm der Verlust klar, der ihm bevorstand. »[…] da verkrampfte sich plötzlich schmerzhaft sein Herz, er hielt mit einem Ruck inne; von neuem vermeinte er die Worte des Starez zu hören, mit denen er sein so nahes Ende vorhersagte. Was der Starez vorhersagte, noch dazu mit solcher Bestimmtheit, das würde unbedingt geschehen – Aljoscha glaubte felsenfest daran. Was aber würde aus ihm, Aljoscha, werden – ohne ihn? Wie konnte es sein, daß er

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ihn nicht mehr sähe, nicht mehr hörte? Und wohin würde er, Aljoscha, gehen? Nicht weinen sollte er, fortgehen sollte er aus dem Kloster, o Gott! Seit langem schon hatte Aljoscha nicht solchen Schmerz empfunden. Er schritt wieder rasch aus auf dem Weg durch den Wald, zwischen der Einsiedelei und dem Kloster, und bedrängt von den Gedanken, die ihm unerträglich schienen, blickte er auf die hundertjährigen Kiefern zu beiden Seiten des Waldweges« (Bd. 11, S. 125).

Gegen Abend, nach vielen Ereignissen und Begegnungen, zu denen auch die erste Erfahrung mit den Schuljungen und mit Iljuscha gehört, kehrt Aljoscha in die Einsiedelei zurück, wo der sterbende Starez mit seinen Freunden und ihm im Gespräch die Zeit verbringt, die ihm noch geblieben ist. Es ist wichtig, dass der Starez seine besondere Liebe zu Aljoscha ausdrückt und erklärt. »›Und dich, Alexej, habe ich in Gedanken viele Male in meinem Leben gesegnet für dein Angesicht, das sollst du wissen‹, sprach der Starez mit stillem Lächeln. ›Über dich denke ich so: Du wirst fortgehen aus diesen Mauern, aber draußen wirst du leben als Mönch. Viele Gegner wirst du haben, aber deine Feinde selbst werden dich lieben. Viel Unglück wird dir das Leben bringen, doch eben darum wirst du glücklich sein und das Leben segnen – was das wichtigste ist. So also steht es um dich.‹ Gerührt lächelnd, wandte er sich seinen Gästen zu: ›Meine Väter und Lehrer, niemals bis zum heutigen Tag habe ich davon gesprochen – nicht einmal zu ihm –, warum meiner Seele das Angesicht dieses Jünglings so lieb war. Erst jetzt sage ich es: Sein Angesicht war mir etwas wie Mahnung und Verheißung. Am Morgen meines Lebens, als ich noch ein kleines Kind war, hatte ich einen größeren Bruder, er ist als Jüngling gestorben, mit siebzehn Jahren, vor meinen Augen. Später, wie ich durch mein Leben ging, überzeugte ich mich allmählich, dass dieser mein Bruder in meinem Schicksal gleichsam ein Fingerzeig von oben auf meine Bestimmung war, denn wäre nicht seine Erscheinung in meinem Leben gewesen, hätte es ihn nicht gegeben, so hätte ich vielleicht, meine ich, niemals das Mönchsamt angenommen, nicht diesen kostbaren Weg beschritten. Die erste Erscheinung war noch Teil meiner Kindheit gewesen, und nun, schon an der Neige meiner Tage, hat sie sich vor mir augenfällig wiederholt. Wundersam ist dies, meine Väter und Lehrer, dass Alexej, dessen Gesicht dem meines Bruders nur in manchen Zügen und sonst gar nicht sehr gleicht, ihm geistig doch so ähnlich scheint, daß ich ihn viele Male gleichsam ganz für den Jüngling von damals nahm, für meinen Bruder, so als wäre der am Ende meines Weges auf geheimnisvolle Weise zu mir gekommen, mich an etwas zu erinnern und ausdrücklich zu mahnen; ich mußte mich wahrlich wundern über mich selber und über meinen so seltsamen Traum‹« (Bd. 11, S. 456 f.).

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Dieses Gespräch, das der Starez Sossima mit seinen Freunden und Aljoscha am letzten Tag geführt hat, vor allem die Mitteilung von Erinnerungen an seinen acht Jahre älteren Bruder Markel, wird von Aljoscha später aufgeschrieben. Einen Teil dieser Aufzeichnungen lernt der Leser 325 Seiten später kennen und erfährt so, wer Markel war. Der Starez liebte den viel jüngeren Aljoscha, wie er als Kind den älteren Bruder geliebt hatte, der ihm den früh gestorbenen Vater ersetzte. Und dieser Bruder Markel war bis kurz vor seinem frühen Tod mit 17 Jahren Schüler und Anhänger eines Philosophen gewesen, der wegen »Freidenkerei« die Universität in Moskau verlassen musste und in das Städtchen verbannt worden war, in dem die Mutter des Starez mit ihren beiden Söhnen wohnte. Aljoscha wird also vom Starez mit seinem älteren Bruder verglichen, der eine Zeit lang ein Atheist war und erst einen Weg zum christlichen Glauben fand, als wegen der sogenannten galoppierenden Schwindsucht sein naher Tod zu erwarten war. Nach Aljoschas Aufzeichnungen sagte der Starez über ihn: »Er war acht Jahre älter als ich, von hitzigem und reizbarem Gemüt, aber gut, ganz frei von Bosheit und – besonders zu Hause, gegenüber mir und der Mutter und den Dienstboten – bis zur Wunderlichkeit wortkarg. Er war ein guter Schüler des Gymnasiums, aber mit seinen Kameraden pflegte er keinen Umgang, lebte mit ihnen freilich auch nicht in Zwietracht, so wenigstens erinnerte sich unsere Mutter. Ungefähr ein halbes Jahr vor seinem Tod, als er gerade siebzehn war, fing er an, einen Mann aufzusuchen, der ohne Angehörige in unserer Stadt wohnte; das war wohl einer, der aus politischen Gründen, wegen Freidenkerei, von Moskau hierher in unsere Stadt verbannt worden war. Dieser Verbannte war ein recht gelehrter Mann, ein namhafter Philosoph von der Universität. Irgendwie gewann er Markel lieb und lud ihn zu sich ein« (Bd. 11, S. 460).

Der geliebte Bruder Markel glaubte nicht an Gott und ging nicht in die Kirche. »Es begannen die Großen Fasten, aber Markel wollte nicht fasten, er spottete nur und lachte. ›Nichts als Hirngespinste‹, sagte er, ›es gibt ja überhaupt keinen Gott.‹ Großen Schrecken jagte er damit der Mutter und den Dienstboten ein und auch mir, dem Kind; obschon ich erst neun war, entsetzte es auch mich sehr, als ich solche Worte hörte« (Bd. 11, S. 460).

Durch diesen Vergleich mit dem älteren Bruder wird die etwas schwärmerische und jugendliche Verehrung, die Aljoscha seinem Starez entgegenbringt, beantwortet durch einen ähnlichen Wunsch des Starez, in ihm den geliebten älteren Bruder wiederzufinden. Psychoanalytisch könnten wir von einer analogen Gegen-

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übertragung sprechen; der Starez Sossima erinnert, wie er sich mit neun Jahren so ähnlich gefühlt hat wie Aljoscha mit 19 Jahren ihm gegenüber. Wichtiger ist das Angebot einer neuen Beziehung: Nicht ich, der Ältere, der Therapeut, der Lehrer, kann dir etwas geben, sondern du bist der, der geben und verstehen kann. Die Beziehung wird durch eine komplizierte Verflechtung von Identifikationen wechselseitig, und noch etwas wird durch die Erinnerung an den Bruder aufgedeckt: Der christliche Glaube, diese etwas schwärmerische christliche Liebe, ist nicht die einzige Lebensform. Der Bruder war vor seinem Tod ein Atheist, ein Zweifler, ein Sozialist, ein Revolutionär, beeinflusst von einem verbannten Philosophen, ein Spötter und Ungläubiger, ähnlich wie im Roman Aljoschas Bruder Iwan, ähnlich wie Dostojewski vor seiner Verurteilung. Auch in seiner wieder erlangten Gläubigkeit hat der Bruder Markel nicht die neuen Ideen aufgegeben: »Wenn Dienstboten zu ihm ins Zimmer traten, sagte er oft: ›Ihr Lieben, Teuren, warum bedient ihr mich, bin ich’s denn wert, daß man mich bedient? Wenn Gott mir gnädig wäre und mich am Leben ließe, würde ich euch dienen; denn alle müssen einander dienen.‹ Wenn unsere Mutter das hörte, schüttelte sie den Kopf. ›Mein Junge, das macht die Krankheit, daß du so sprichst.‹ Doch er entgegnete: ›Mama, du mein Licht, es kann nicht sein, daß es nicht Herren und Diener gäbe, doch da es so ist, werde auch ich Diener meiner Diener sein, gerade so, wie sie es mir sind. Und noch dies sag ich dir, liebe Mutter: Jeder von uns ist vor jedem in allem schuldig, und ich am meisten‹« (Bd. 11, S. 462).

Markel sprach oft über seine Schuld, obwohl die Mutter versuchte, ihm die Schuldgefühle auszureden, und der Arzt meinte, die Krankheit habe seinen Geist verwirrt. »›Mütterchen, du mein Licht, wenn ich weine, dann vor Wonne, nicht vor Kummer; mich selbst verlangt es doch, vor allen schuldig zu sein. Ich kann dir das nur nicht erklären, weil ich nicht einmal weiß, wie ich sie lieben soll. Gewiß, ich bin vor allen schuldig, dafür werden mir auch alle verzeihen, und das ist das Paradies‹« (Bd. 11, S. 464).

Das ist eines von Dostojewskis wichtigsten Themen: die Schuld. Vielleicht gibt Markel sie vor seinem Tod weiter an den Starez, der sie wiederum an Aljoscha weitergibt. Die Schuld bleibt Grundlage der Freude am Leben. Der Starez erinnert: »Ich weiß noch, einmal trat ich allein zu ihm ins Zimmer, als niemand sonst bei ihm war. Das geschah gegen Abend, die Luft war klar, die Sonne ging unter und erhellte den ganzen Raum mit ihren schrägen Strahlen. Als er mich erblickt hatte, winkte er

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mich heran, ich trat zu ihm, er umfaßte mit beiden Händen meine Schultern, schaute mir gerührt und liebevoll ins Gesicht; lange blieb er stumm, schaute mich nur an, und dann sagte er: ›Geh nun, spiel, lebe für mich!‹ Ich verließ das Zimmer und ging spielen. Danach, viele Male in meinem Leben, erinnerte ich mich mit Tränen daran, wie er mich geheißen hatte, für ihn zu leben« (Bd. 11, S. 464).

Der Roman beginnt mit dem Tag, der der letzte im Leben des Starez Sossima ist, er endet mit Aljoschas Rede zu den Schuljungen, eine Grabrede auf ein Kind aus einer armen Familie, Iljuscha, der mit etwa neun Jahren an der Schwindsucht gestorben ist. Während der auf zwei Bände und auf über tausend Seiten verteilten Geschichte, der äußerst spannenden Geschichte der Brüder Karamasow und der Ermordung ihres Vaters Fjodor Pawlowitsch, zieht sich die Geschichte hin, die sich zwischen Aljoscha und dem Starez und Aljoscha und den Schuljungen abspielt. Ihnen gegenüber entwickelt Aljoscha Liebe, Verantwortung und Einfluss, wie er selbst sie von seinem Starez erfahren hat. Am ersten Tag trifft er auf der Straße diese Zehn- oder Elfjährigen, als er von seinem Vater kommt. Er spricht sie an und merkt, dass sie alle mit Steinen bewaffnet gegen einen einzelnen, eher jüngeren Schüler kämpfen wollen, der auf der anderen Straßenseite steht, Iljuscha. Wir erfahren später, dass Iljuschas Vater von einem der Karamasows gedemütigt worden war und die Gruppe der Schuljungen sich darüber lustig machte. Deshalb hat Iljuscha die Schultasche voller Steine, um sie zu bestrafen. Als er Aljoscha als einen aus der Familie Karamasow erkennt, wendet er sich zornig gegen ihn, trifft ihn mit zwei Steinen und rennt weg. Da Aljoscha ihm folgt und ihm nahe kommt, beißt er ihn in den Daumen und verschwindet. Aber Aljoscha besucht ihn zu Hause, lernt den Vater, die psychisch kranke Mutter, das Mamachen, und die lahme Schwester kennen. Ihre Wohnung besteht aus einem Zimmer. Iljuscha liegt dort schwer krank. In dieses Zuhause kommen die anderen Jungen, da sie allmählich verstehen, was Aljoscha verstanden hat. Sie haben einen Anführer, Kolja, der schon 13 Jahre alt ist und betont, dass er bald 14 sein wird. Kolja ist intelligent, hochmütig, ehrgeizig, ein Angeber, der Erfolg hat und von den Jüngeren bewundert wird. Ich werde der Leserin und dem Leser ein längeres Stück Dostojewski zumuten, es ist das Gespräch zwischen Kolja und Aljoscha, das den Charakter einer therapeutischen Sitzung hat. Diese Zeit, die sie miteinander verbringen, ist begrenzt durch die Zeit, die der fremde Arzt bei dem kranken Kind Iljuscha im einzigen Zimmer der Familie verbringt. Es ist insofern eine Art Therapiesitzung, als Kolja diese Gelegenheit nutzt. Er spricht. Aber zugleich geht ihm durch den Kopf, was Aljoscha darüber denken könnte. Er projiziert sein strenges Über-Ich, das immer bereit ist, ihn selbst und seine Reden zu kritisieren.

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Aljoscha muss nichts sagen, könnte man meinen. So verlaufen oft therapeutische oder analytische Gespräche. Sie verlaufen zwischen Ich und Über-Ich des Patienten. Wenn dem Therapeuten die Analyse seiner Gegenübertragung gelingt, kann er die Projektion deuten. Aber so verläuft die gemeinsame Arbeit nicht bei Dostojewski. »›Was meinen Sie, was wird ihm der Arzt sagen?‹ stieß Kolja hervor. ›Der hat eine widerliche Visage, nicht wahr? Ich kann die Medizin nicht ausstehen!‹ ›Iljuscha wird sterben. Ich glaube, das ist sicher‹, antwortete Aljoscha traurig. ›Gauner sind das! Die Medizin ist eine gaunerische Sache! Jedenfalls bin ich froh, daß ich Sie kennengelernt habe, Karamasow. Das wollte ich schon lange. Nur schade, daß die Gelegenheit so traurig ist …‹ Kolja hätte sehr gern noch etwas gesagt mit mehr Schwung, mit mehr Inbrunst, aber es wollte ihm nicht über die Lippen. Aljoscha bemerkte das, er lächelte und drückte ihm die Hand. ›Seit langem habe ich in Ihnen ein ungewöhnliches Wesen schätzen gelernt‹, murmelte Kolja wieder und geriet durcheinander. ›Ich habe gehört, Sie sind Mystiker und waren im Kloster. Ich weiß, daß Sie Mystiker sind, aber … das hat mich keineswegs zurückgehalten. Die Berührung mit der Wirklichkeit wird Sie davon heilen … Mit Naturen, wie Sie eine sind, kann es gar nicht anders sein.‹ ›Was nennen Sie einen Mystiker? Und wovon heilen?‹ Aljoscha wunderte sich einigermaßen. ›Na ja – Gott und so weiter.‹ ›Wie, glauben Sie nicht an Gott?‹ ›Im Gegenteil, ich habe nichts gegen Gott. Natürlich ist Gott nur eine Hypothese … aber … ich gestehe, daß er nötig ist, um der Ordnung willen … um der Weltordnung willen und so weiter … und wenn es ihn nicht gäbe, so müßte man ihn erfinden‹ fuhr Kolja fort und errötete. Er hatte plötzlich das Gefühl, Aljoscha denke jetzt, er, Kolja, wolle hervorkehren, was er alles wisse und wie ›erwachsen‹ er sei. Ich will aber überhaupt nicht hervorkehren, was ich alles weiß, dachte Kolja verärgert. Und auf einmal war ihm das alles furchtbar zuwider. ›Ich muß zugeben, es ist mir zuwider, solche Dispute zu führen‹, sprach er abweisend weiter. ›Man kann doch auch die Menschheit lieben, ohne an Gott zu glauben, was meinen Sie? Nehmen wir Voltaire – er hat nicht an Gott geglaubt, und hat er nicht doch die Menschheit geliebt?‹ (Schon wieder, schon wieder! dachte er bei sich.) ›Voltaire hat an Gott geglaubt, aber anscheinend zuwenig, und anscheinend hat er auch die Menschheit zuwenig geliebt‹, entgegnete Aljoscha leise, zurückhaltend und ganz natürlich, so als unterhielte er sich mit einem Menschen seines Alters oder gar mit einem Älteren.

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Daß Aljoscha sich seiner eigenen Meinung über Voltaire anscheinend gar nicht sicher war, verblüffte Kolja, und es verblüffte ihn auch, daß Aljoscha es anscheinend gerade ihm, dem kleinen Kolja, überließ, diese Frage zu lösen. ›Haben Sie denn Voltaire gelesen?‹ fragte Aljoscha. ›Nein, gelesen eigentlich nicht … Nun ja, den ›Candide‹ schon, in russischer Übersetzung … in einer alten, lächerlich entstellenden Übersetzung …‹ (Schon wieder, schon wieder!) ›Und Sie haben es begriffen?‹ ›Oh ja, alles … das heißt … warum denken Sie, ich könnte es nicht begriffen haben? Nun ja, es stehen etliche Schweinereien drin … Natürlich bin ich imstande, zu begreifen, daß es ein philosophischer Roman ist, geschrieben, um eine Idee zu demonstrieren …‹ Kolja verhaspelte sich vollends, und dann, mir nichts, dir nichts, platzte er heraus: ›Ich bin Sozialist, Karamasow, unverbesserlicher Sozialist.‹ ›Sozialist?‹ Aljoscha lachte. ›Wann haben Sie das geschafft? Sie sind doch, glaub ich, erst dreizehn?‹ Es traf Kolja wie ein Schlag. ›Erstens nicht dreizehn, sondern vierzehn, in zwei Wochen vierzehn‹ – er flammte gleichsam auf –, ›zweitens will mir einfach nicht in den Kopf, was meine Jahre damit zu tun haben. Es geht doch um meine Überzeugungen, nicht um mein Alter – oder?‹ ›Wenn Sie ein paar Jahre mehr haben, werden Sie einsehen, welche Bedeutung das Alter für die Überzeugung hat. Mir schien es auch, als sprächen Sie da Fremdes nach‹, erwiderte Aljoscha bescheiden und ruhig, doch Kolja fiel ihm hitzig ins Wort. ›Ich bitte Sie, Sie wollen auf Gehorsam und Mystik hinaus. Sie müssen aber doch zugeben, daß beispielsweise der christliche Glaube nur den Reichen, den Herrschenden gedient hat, er hat ihnen geholfen, die untere Klasse in Sklaverei zu halten. Oder nicht?‹ ›Ach, ich weiß, wo Sie das gelesen haben, und ganz gewiß hat Ihnen das jemand beigebracht!‹ rief Aljoscha aus. ›Ich bitte Sie, weshalb unbedingt lesen? Und keineswegs hat mir jemand das beigebracht. Das kann ich auch selber … Und wenn Sie so wollen, ich bin ja nicht gegen Christus. Das war eine höchst humane Persönlichkeit, und lebte er heute, so würde er sich rückhaltlos den Revolutionären anschließen und vielleicht eine bedeutende Rolle spielen … Unbedingt sogar.‹ ›Wo haben Sie das nur aufgeschnappt! Wo, wo! Auf welchen Dummkopf sind Sie da gestoßen?‹ rief Aljoscha. ›Ich bitte Sie, die Wahrheit läßt sich nicht verbergen. Nun gewiß, es hat sich so ergeben, daß ich auch oft mit Herrn Rakitin spreche, aber … Es heißt, der alte Belinski habe sich schon ebenso geäußert.‹ ›Belinski? Ich wüßte nicht, wo. So etwas hat er nirgends geschrieben.‹

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›Mag sein, nicht geschrieben, aber doch, so heißt es, gesagt. Das hab ich gehört von einem … ist ja ganz gleich.‹ ›Und Belinski haben Sie gelesen?‹ ›Sehen Sie … eigentlich nicht … das heißt wenig, aber … die Stelle über Tatjana, warum sie nicht mit Onegin geht, das hab ich gelesen.‹ ›Wie: nicht mit Onegin geht? Können Sie denn das schon … recht verstehen?‹ ›Ich bitte Sie, Sie scheinen mich für den Knaben Smurow zu halten‹ erwiderte Kolja gereizt und bissig. ›Übrigens, bitte, glauben Sie nicht, ich folgte als Revolutionär blindlings einer bestimmten Richtung. Sehr oft weicht meine Auffassung von Herrn Rakitins Auffassung ab. Wenn ich Tatjana erwähnt habe, so keineswegs, weil ich etwa für die Emanzipation der Frau wäre. Für mich gilt, daß die Frau ein untergeordnetes Wesen ist und gehorchen muß. ›Les femmes tricotent‹, wie Napoleon sagte‹ – Kolja lächelte, wer weiß warum, ironisch –, ›und wenigstens darin teile ich völlig die Überzeugung dieses pseudogroßen Mannes. Ich halte es beispielsweise auch für eine Gemeinheit, aus dem Vaterland nach Amerika zu fliehen; es ist schlimmer als eine Gemeinheit, es ist eine Dummheit. Warum nach Amerika, wenn man auch bei uns der Menschheit Nutzen bringen kann? Gerade jetzt. Ein gewaltiges Feld für fruchtbare Tätigkeit. Dies war auch immer meine Antwort.‹ ›Wie: immer Ihre Antwort? Wem? Hat schon jemand versucht, Sie nach Amerika zu locken?‹ ›Ich gestehe, man ist in mich gedrungen, aber ich habe es abgelehnt. Das muß unter uns bleiben, Karamasow, versteht sich, bitte, zu niemand ein Wort. Das sag ich nur Ihnen. Ich habe gar keine Lust, in die Fänge der Dritten Abteilung zu geraten und in jenem Haus an der Kettenbrücke Erfahrungen zu sammeln. Nie wirst du das Haus vergessen An der Kettenbrücke! Erinnern Sie sich? Großartig! Worüber lachen Sie, Sie glauben doch nicht etwa, ich schwindle Ihnen da alles mögliche vor?‹ (Wenn er bloß nicht erfährt, daß zu Hause, im Bücherschrank des Vaters, nur diese einzige Nummer des ›Kolokol‹ zu finden ist und daß ich somit nichts weiter von der Zeitschrift kenne! fuhr es Kolja durch den Kopf, blitzschnell, aber so, daß er erbebte.) ›O nein, ich lache keineswegs, und ich glaube nicht, daß Sie mir etwas vorlügen. Das ist es ja, daß ich das nicht glaube, denn das alles ist leider die reine Wahrheit! Aber sagen Sie, haben Sie Puschkin gelesen, den ›Onegin‹? Sie sprachen doch gerade über Tatjana?‹ ›Nein, ich habe ihn noch nicht gelesen, aber ich will’s tun. Ich bin frei von Vorurteilen, Karamasow. Ich will die eine Seite ebenso wie die andere hören. Warum haben Sie gefragt?‹ ›Nur so.‹

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›Sagen Sie, Karamasow, Sie verachten mich wohl furchtbar?‹ stieß Kolja plötzlich hervor, und er reckte sich vor Aljoscha, machte sich gleichsam in der Körperhaltung auf die Frage gefaßt. ›Bitte, ohne Umschweife!‹ ›Ich Sie verachten?‹ Aljoscha blickte erstaunt auf ihn. ›Wofür denn? Es betrübt mich nur, daß eine so vorzügliche Natur wie die Ihre, noch ganz am Anfang Ihres Lebens, schon verdreht ist von all diesem schlimmen Unsinn.‹ ›Sorgen Sie sich nicht um meine Natur‹ unterbrach ihn Kolja nicht ohne Selbstgefälligkeit, ›aber ich bin nun mal zweifelsüchtig. Auf dumme, auf schlimme Art zweifelsüchtig. Sie haben eben so merkwürdig gelächelt, da schien mir, als ob Sie …‹ ›Ach, gelächelt habe ich über etwas ganz anderes. Gelächelt habe ich über dies: Ich habe kürzlich gelesen, was ein Ausländer, ein Deutscher, der in Rußland gelebt hat, über unsere heutige lernende Jugend schreibt. – ›Zeigt‹, schreibt er, ›einem russischen Schüler eine Karte des Sternenhimmels, etwas, wovon er bisher überhaupt keine Ahnung hatte, und schon morgen wird er Ihnen diese Karte mit seinen Korrekturen zurückgeben.‹ Keinerlei Kenntnis, dafür grenzenloses Selbstvertrauen – dies hat der Deutsche über den russischen Schüler sagen wollen.‹ Kolja lachte auf. ›Jaja, das stimmt genau! Genauestens, aufs Tüpfelchen! Gut, der Deutsche! Aber dieser Mensch von draußen hat übersehen, daß es auch seine gute Seite hat – oder was meinen Sie? Das Selbstvertrauen – laßt es doch, das kommt von der Jugend, das korrigiert sich, wenn’s schon nötig wird; aber dafür haben wir hier auch den unabhängigen Geist, beinahe von Kindheit an, dafür haben wir die Kühnheit des Gedankens und der Überzeugung, während bei denen dort, den Wurstspießern, der Geist der Kriecherei vor den Autoritäten herrscht …Trotzdem hat das der Deutsche gut gesagt! Bravo, Deutscher! Wenngleich man die Deutschen allesamt abmurksen sollte. Mögen sie in den Wissenschaften glänzen, trotzdem müßte man sie abmurksen …‹ ›Wofür abmurksen?‹ Aljoscha lächelte. ›Ich gebe zu, mit dem Abmurksen, das ist Blödsinn. Manchmal bin ich schrecklich kindisch, und wenn ich mich über etwas freue, dann kann ich mich nicht beherrschen und schwatze und schwindle was zusammen. Aber, hören Sie, wir beide, wir dreschen hier leeres Stroh, während der Doktor drin sich merkwürdig lange aufhält. Na ja, kann sein, er untersucht auch das ›Mamachen‹ und diese Ninotschka, die nicht gehen kann. Wissen Sie, die Ninotschka hat mir gefallen. Als ich eingetreten bin, flüsterte sie mir rasch zu: ›Warum sind Sie nicht früher gekommen?‹ Was für eine Stimme, mit solchem Vorwurf. Ich glaube, sie ist schrecklich gut und sehr zu bedauern.‹ ›Jaja, wenn Sie öfter kommen, werden Sie sehen, was das für ein Wesen ist. Es tut Ihnen gut, solche Wesen kennenzulernen, damit Sie auch noch vieles andere schätzen; das wird sich Ihnen gerade durch die Bekanntschaft mit diesen Wesen erschließen‹, rief Aljoscha begeistert. ›Besser als alles andere wird das Sie bilden.‹

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›Oh, wie leid es mir tut, wie böse ich auf mich bin, daß ich nicht früher hierherkam!‹ gestand Kolja zerknirscht. ›Ja, es ist sehr schade. Sie haben selbst gesehen, wie sich der arme Junge über Sie gefreut hat! Und wie sehnlich hat er auf Sie gewartet!‹ ›Hören Sie auf! Sie wühlen in meinen Wunden. Aber es geschieht mir ganz recht; denn Eigenliebe war es, die mich zu kommen hinderte, es war reine Selbstgefälligkeit, gemeine Selbstgefälligkeit, von der ich mich mein Leben lang nicht werde frei machen können, obgleich ich mich mein Leben lang zu bezwingen trachte. Das sehe ich jetzt, ich bin in vielem ein Schuft, Karamasow!‹ ›Nein, Sie sind eine vortreffliche Natur, wenn auch verdreht, und ich begreife nur zu gut, warum Sie solchen Einfluß auf diesen anständigen, edlen und krankhaft sensiblen Jungen haben konnten!‹ erklärte Aljoscha aus tiefem Herzen. Kolja schrie geradezu auf: ›Und das sagen Sie mir! Und ich, stellen Sie sich vor, ich glaubte … schon etliche Male, seitdem ich hier bin, glaube ich, daß Sie mich verachten! Wenn Sie nur wüßten, wieviel mir an Ihrer Meinung liegt!‹ ›Sind Sie wahrhaftig so zweifelsüchtig? Bei solcher Jugend! Jetzt stellen Sie sich vor, was ich mir wiederum dachte, drin im Zimmer, während ich auf Sie blickte – ich dachte, als Sie erzählten, Sie müßten doch sehr zweifelsüchtig sein.‹ ›Das dachten Sie? Wie scharfsichtig Sie sind, sehen Sie, sehen Sie! Ich wette, der Gedanke kam Ihnen, als ich von der Gans erzählte. An dieser Stelle nämlich kam es mir so vor, als empfänden Sie tiefe Verachtung für mich, weil ich es so eilig hatte, eine Heldentat herauszustellen; einen Augenblick lang haßte ich Sie sogar deswegen, und darauf redete ich wirklich Unsinn. Später – erst vor wenigen Minuten, hier –, als ich sagte: ›Gäbe es keinen Gott, so müßte man ihn erfinden‹, da kam es mir vor, als hätte ich’s gar zu eilig, meine Bildung ins Licht zu rücken, um so mehr, als ich den Satz in einem Buch gelesen hatte. Aber ich schwöre Ihnen, wenn ich mich beeilte, etwas ans Licht zu rücken, so nicht aus Ruhmsucht, sondern einfach, ich weiß nicht, warum, aus Freude, ja, wahrhaftig, ich glaube, aus Freude … obgleich das ein schmählicher Charakterzug ist, wenn der Mensch mit seiner Freude allen anderen auf den Leib rückt. Das weiß ich. Dafür aber bin ich jetzt überzeugt, daß Sie mich nicht verachten und daß ich mir das alles nur ausgedacht habe. Oh, Karamasow, ich bin tief unglücklich. Ich male mir manchmal Gott weiß was aus, mir scheint dann, alle lachen über mich, alle Welt, und dann, dann wäre ich wahrhaftig bereit, die ganze Ordnung der Dinge zu vernichten.‹ ›Und Sie quälen Ihre Nächsten.‹ Aljoscha lächelte. ›Und ich quäle meine Nächsten, besonders die Mutter. Karamasow, sagen Sie, bin ich jetzt sehr lächerlich?‹ ›Denken Sie doch nicht daran, denken Sie überhaupt nicht daran!‹ rief Aljoscha. ›Was heißt auch: lächerlich? Geschieht es nicht immerzu, daß ein Mensch

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lächerlich ist oder einem anderen lächerlich scheint? Dabei haben heute fast alle Menschen von Geiste eine schreckliche Angst, lächerlich zu sein, und das macht sie unglücklich. Mich wundert nur, daß Sie dies so früh empfinden, aber nun ja, mir fällt es längst auch an anderen in Ihrem Alter auf. Heutzutage leiden beinahe schon die Kinder daran. Das ist geradezu Wahnsinn. Aus dieser Eitelkeit schaut der Teufel hervor, in die ganze Generation ist er geschlüpft, ja, der Teufel‹, bekräftigte Aljoscha, und er lächelte keineswegs, wie Kolja, der ihn anstarrte, anfangs geglaubt hatte. ›Sie sind wie alle‹, schloß Aljoscha, ›das heißt, wie sehr viele, dabei sollte man nicht so sein wie alle, nein, das sollte man nicht.‹ ›Obwohl alle so sind?‹ ›Ja, obwohl alle so sind. Dann seien Sie als einziger nicht so. Im Grunde sind Sie auch nicht so wie alle – gerade jetzt: Sie haben sich nicht gescheut, zu bekennen, daß Sie sich häßlich, sogar lächerlich benommen zu haben glauben. Wer gesteht heutzutage so etwas ein? Niemand, man spürt nicht einmal mehr das Bedürfnis, Gericht über sich selbst zu halten. Seien Sie nicht so wie alle; sollten Sie auch ganz allein auf weitem Felde stehen – seien Sie trotzdem nicht so wie alle.‹ ›Wunderbar! Ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht. Sie verstehen es, Mut zu machen. Oh, wie hat es mich zu Ihnen gedrängt, Karamasow, wie lange schon suche ich die Begegnung mit Ihnen! Und Sie, Sie haben wirklich auch an mich gedacht? Vorhin haben Sie doch gesagt, daß Sie an mich gedacht haben?‹ ›Ja, ich hatte von Ihnen gehört und dachte auch an Sie … und wenn es jetzt zum Teil auch die Eigenliebe ist, die Sie veranlaßt, das zu fragen, so macht das nichts.‹ ›Wissen Sie, Karamasow, was wir hier einander sagen, gleicht einer Liebeserklärung.‹ Das sagte Kolja mit seltsam schwacher und verschämter Stimme. ›Das ist doch nicht lächerlich, nicht lächerlich?‹ ›Überhaupt nicht lächerlich, und wär’s auch lächerlich, so machte das nichts, denn es ist gut‹, erwiderte Aljoscha mit hellem Lächeln. ›Und wissen Sie, Karamasow, geben Sie zu, Sie selber schämen sich jetzt auch ein bißchen vor mir … Ich seh’s an Ihren Augen.‹ Kolja lächelte listig und zugleich beinahe glücklich. ›Warum wollte ich mich schämen?‹ ›Weshalb sind Sie rot geworden?‹ ›Das haben Sie zustande gebracht, daß ich rot werde!‹ Aljoscha lachte und wurde tatsächlich über und über rot. ›Na gut, ich schäme mich ein bißchen, Gott weiß warum, ich weiß es nicht …‹ murmelte Aljoscha, nun doch geradezu verwirrt. ›Oh, wie lieb ich Sie habe und wie teuer mir dieser Augenblick ist, gerade deshalb, weil auch Sie sich ein wenig vor mir schämen! Weil es Ihnen so ergeht wir mir!‹ rief Kolja in heller Begeisterung. Seine Wangen brannten, die Augen blitzten.

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›Hören Sie, Kolja, Sie werden, unter anderem, im Leben auch sehr unglücklich sein‹, sagte Aljoscha unvermittelt, ohne ersichtlichen Grund. ›Ich weiß, ich weiß. Wie Sie das alles im voraus wissen!‹ bestätigte Kolja sogleich. ›Im ganzen werden Sie dennoch das Leben segnen.‹ ›So ist es! Hurra! Sie sind ein Prophet! Oh, wir werden uns zusammenfinden, Karamasow. Wissen Sie, mich entzückt am meisten, daß Sie mit mir sprechen, als stünden wir auf gleichem Fuße. Aber so ist das nicht, wir stehen nicht auf gleichem Fuße, Sie stehen höher! Dennoch werden wir uns finden. Wissen Sie, den ganzen letzten Monat habe ich mir gesagt: Entweder werden wir uns sofort als Freunde für alle Zeit finden, oder wir werden nach der ersten Begegnung auseinandergehen als Feinde bis zum Grabe!‹ ›Und als Sie sich dies sagten, hatten Sie mich natürlich schon lieb!‹ erwiderte Aljoscha, fröhlich lachend. ›O ja, schrecklich lieb, ich mochte Sie und träumte von Ihnen! Wie kommt es, daß Sie das alles schon wissen? Aber Schluß, da kommt der Arzt. Lieber Gott, was wird er sagen, schauen Sie nur, was er für ein Gesicht macht!‹« (Bd. 12, S. 356 ff.).

Bei Kolja meldet sich Aljoscha zu Wort: Er fragt nach, um besser zu verstehen, was Kolja meint. Er äußert sich selbst, ernsthaft und leise, als spräche er zu einem Älteren, nicht zu einem 13-jährigen Jungen. »Voltaire hat an Gott geglaubt, aber anscheinend zuwenig […]« Und fragt dann Kolja: »Haben Sie denn Voltaire gelesen?« Und immer wieder, wenn Kolja seine Urteile über Literatur abgibt, fragt ihn Aljoscha erstaunt: »Haben Sie Belinski gelesen? Haben Sie verstanden, was zwischen Onegin und Tatjana gewesen ist?« Und Kolja fragt gekränkt, aber in seiner etwas überheblichen Art, Nähe zu suchen: »Sagen Sie, Karamasow, Sie verachten mich wohl furchtbar?« Das ist ein erstaunlicher Schritt, dass er zugibt, was er selbst in den Älteren projiziert hat. Und Aljoscha deutet nicht, sondern sagt, was er über Kolja denkt. Er lächelt, ohne den Jungen auszulachen, denn seine Zuneigung und Achtung sind für beide wichtiger als die Kritik, die auch Aljoscha empfindet und in Worte fasst. Aber rechtzeitig vor dem Ende der Sitzung können beide ihre liebevollen Gefühle äußern. Die Veränderung, die mit Kolja vorgegangen ist, wird deutlich, als er sich von Iljuscha verabschiedet und dann das Zimmer verlässt, er rennt hinaus auf den Flur und weint. »Er rannte hinaus auf den Flur. Er wollte um jeden Preis die Tränen zurückhalten, draußen auf dem Flur weinte er dann doch. In diesem Zustand fand ihn Aljoscha. ›Kolja, Sie müssen unbedingt Ihr Wort halten und kommen, sonst wird er sich furchtbar grämen‹ bat Aljoscha eindringlich.

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›Unbedingt! Oh, wie ich mich verwünsche, daß ich nicht früher gekommen bin‹, stammelte Kolja – er weinte, und es verwirrte ihn nicht mehr, daß er weinte« (Bd. 12, S. 369).

Wir nehmen, während wir lesen, an einem Prozess teil, in dem sich Kolja verändert. Er selbst hört sich zu und merkt, wie er mit seinen Kenntnissen angeben will, und vermutet, dass Aljoscha das nicht gut findet. Er selbst ertappt sich mehrmals dabei, dass er Kenntnisse vortäuscht, die er gar nicht hat. Während Aljoscha erstaunt nachfragt, projiziert Kolja auf ihn seine strenge Selbstkritik und wagt es schließlich, seinen Verdacht zu äußern, dass Aljoscha ihn verachtet. Auch jetzt kommt von Aljoscha keine Deutung. Es beginnt die wechsel­seitige Beziehung, die Zuneigung, schließlich Liebe enthält, Liebe, die Kolja abzuwehren gewohnt war, die er aber jetzt am Ende des Gesprächs zugeben kann. Er kann sie fühlen und in Worte fassen, weil Aljoscha sie zulassen kann, ohne die notwendige Distanz zu verlieren. So hat er es selbst vom Starez erfahren, der es wiederum bei seinem Bruder kennengelernt hat. Es ist, als ob Aljoscha etwas weitergibt, ohne es zu verlieren. Die Liebe in der Begegnung ermöglicht es auch, Kritik zu äußern, ohne den anderen, den Jüngeren oder Patienten, zu demütigen. Denn Schuld tragen – nach Dostojewski – alle gemeinsam. Mentzos, dessen Aufmerksamkeit und Neugier vor allem Menschen mit Psychosen galt, hat mir von einem seiner letzten Patienten erzählt, einem jungen Studenten, der über Monate im Bett liegen und bei den Eltern wohnen blieb und der zu nichts mehr Lust hatte. Nachdem die Eltern ihn zu Herrn Mentzos gebracht hatten, war er mit einigen Sitzungen einverstanden, kam und schwieg. Schließlich unterbrach Herr Mentzos das Schweigen, indem er von sich selbst erzählte, dass er wegen einer Augenkrankheit nicht mehr lesen könne und deshalb Vorleser brauche. Der Student meinte: Ich kann Ihnen vorlesen. Herr Mentzos gab ihm einen Artikel, den er veröffentlicht hatte, und der Student las vor. Sie verbrachten so mehrere Sitzungen, der Student las, was Herr Mentzos ihm zu lesen gab. Eines Tages sagte der Student: »Ich brauche das Vorlesen nicht mehr, ich kann jetzt reden.« Und dann begann eine Therapie – wie mit einem neurotischen Patienten. Diese Art der Anwesenheit, die Verlässlichkeit des Rahmens, das Aufzeigen der eigenen Existenz, die nicht bedrohlich ist, sondern autonom und in sicherer Entfernung bleibt, ist meiner Meinung nach ein wichtiger Faktor, der bei den Erfolgen in Behandlungen und in der Arbeit mit uns Mitarbeitern eine Rolle spielte. Herr Mentzos kam jede Woche zur Konferenz der psychotherapeutischen Beratungsstelle für Studierende in Bockenheim, er fuhr mit dem Auto von den Universitätskliniken, wo seine Abteilung in der Psychiatrie untergebracht war, zur Universität nach Bockenheim. Er kam pünktlich und sagte selten ab. Wir,

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Beke Petersen und ich, und die Mitarbeiter/-innen, die befristete Stellen hatten und deshalb nach drei Jahren gehen mussten, hatten den Eindruck, dass er gern kam. Die Konferenzen hatten eine erste Phase mit Kaffee und Keksen. Dann stellte jemand vor. Die erste Phase nahm oft viel Zeit in Anspruch – ich wurde ungeduldig, wenn die Zeit für einen Fallvortrag immer kürzer wurde. Ich war viel strenger als Herr Mentzos. Er genoss es, wenn die Stimmung entspannt war. Er fand es weniger wichtig, dass wir die Arbeitszeit für unsere Aufgaben nutzten, sehr viel mehr lag ihm daran, dass wir uns gut weiterbildeten. Er selbst musste seine psychoanalytische Ausbildung in Hamburg anfangs verheimlichen und dann belächeln lassen, denn die Psychiater konnten Freud damals nicht ernst nehmen. Hier in Frankfurt machte fast jeder seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Lehranalyse, oft in der Arbeitszeit. Er erkundigte sich nicht nach dem, was er offiziell nicht erlauben durfte, aber er wusste davon. Da ich zur psychoanalytischen Ausbildung in Frankfurt nicht zugelassen worden war, ermöglichte er mir einen Studienaufenthalt in Paris und danach eine lange Psychoanalyse, zu der ich alle 14 Tage nach Paris fahren konnte. Er fand dies wichtiger als die Einhaltung der Arbeitszeiten. Er sagte in der Konferenz ganz offen, alle hätten Zeit für ihre Ausbildung bekommen, jetzt dürfe ich auch etwas für meine Ausbildung tun. Entsprechend reagierten wir, indem wir uns abends und am Wochenende häufig mit dem Schreiben von Protokollen und Berichten, dem Lesen, auch gemeinsamen Diskussionen der psychoanalytischen Literatur, die uns interessierte, beschäftigten. Maud Mannoni war wichtig, Piera Aulagnier, Racamier – und es gab die Kolleginnen und Kollegen, welche die kleinianische Richtung wichtiger als die Franzosen fanden und Bion studierten. Was Herr Mentzos in uns wachsen ließ, bestärkte und beschützte, war nicht eine preußische Arbeitsmoral, sondern Interesse, Hingabe an Aufgaben, Lust am Lernen, am Erfahren und Diskutieren. Er fand das wichtiger als die Einhaltung der Arbeitszeiten. Er wollte keine Bettenstation haben, er hielt die ambulante Therapie für erfolgversprechender. In den Konferenzen über die Theorien und unsere eigenen Gedanken über das Wesen der Psychosen, vor allem der Schizophrenie, ebenso wie in den Fallkonferenzen über schizophrene Patienten entwickelte sich eine Kultur der freien Diskussion, die ich später so nicht mehr erlebt habe. Unsere Kollegen, die in der Psychiatrie arbeiteten, waren neidisch. Anstatt jetzt noch zusammenfassend ein Lob auf Herrn Mentzos oder auch Kritik auszusprechen – beides würde nicht passen, denn solche Urteile sind ihm fremd und unangemessen –, will ich mit zwei kurzen Stellen aus der Grabrede, die Aljoscha vor den Schuljungen hält, diesen Beitrag abschließen. Es ist nicht eine Grabrede auf den Starez, sondern die Grabrede auf den neunjährigen Iljuscha, der gestorben und beerdigt ist. Mit ihr schließt auch der Roman ab.

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»›Meine Herren, wir werden uns bald trennen. Jetzt bleibe ich noch eine Weile bei meinen beiden Brüdern, von denen der eine in die Verbannung gehen wird und der andere todkrank darniederliegt. Aber bald werde ich diese Stadt verlassen, vielleicht auf sehr lange. So werden wir uns trennen, meine Herren. Verabreden wir denn hier, an Iljuschas Stein, daß wir erstens Iljuschetschka und, zweitens, einander niemals vergessen werden. Was mit uns auch später im Leben geschehen mag, sollten wir einander auch zwanzig Jahre lang nicht begegnen, wollen wir uns trotzdem allezeit erinnern, wie wir einen armen Jungen begruben, auf den wir mit Steinen geworfen hatten – wissen Sie noch, an der Brücke? – und den wir nachher alle so liebgewannen. Er war ein wunderbarer Junge, ein guter und tapferer Junge, er hatte Gefühl für Ehre und für die bittere Kränkung seines Vaters, und gegen sie ist er aufgestanden. Darum wollen wir vor allem seiner gedenken, meine Herren, unser Leben lang‹« (Bd. 12, S. 703 f.). »›[…] dennoch: behaltet meine Worte im Gedächtnis, und später einmal werdet ihr ihnen zustimmen. So wisset denn, es gibt nichts Höheres, Stärkeres, Gesünderes, Nützlicheres für das Leben, das vor uns liegt, als eine gute Erinnerung, besonders wenn sie von der Kindheit herrührt, aus dem Elternhaus. Man spricht zu euch viel über eure Erziehung, doch irgendeine solche herrliche, heilige Erinnerung, bewahrt aus der Kindheit, ist vielleicht schon die allerbeste Erziehung. Wenn ein Mensch viele solcher Erinnerungen mit sich ins Lebens nimmt, ist er schon für sein ganzes Leben gerettet‹« (Bd. 12, S. 704).

Literatur Dostojewski, F. (1994). Gesamtausgabe. Berlin: Aufbau-Verlag. (Im Text zitiert: Die Brüder Karamasow, Bd. 11 und Bd. 12 der Gesamtausgabe.)

Mentzos im Kreise der Kolleginnen und Kollegen beim Abschied aus dem Frankfurter Universitätsklinikum 1995 (D. M.)

Friedrich Markert

Philosophie der Lebenskunst und Psychoanalyse. Stavros Mentzos – ein Stoiker und Epikureer?

Gödde geht davon aus, dass Lebenskunstphilosophien in der Psychotherapie eine wichtige Rolle spielen und als Konzepte, Wertungen und Weltbilder, oft unreflektiert oder sogar verleugnet, in die Beziehungsgestaltung zwischen Thera­peut und Patient hineinwirken. Seiner Meinung nach sei schon viel gewonnen, wenn solche »Hintergrundannahmen« reflektiert und transparent gemacht werden könnten (Gödde, 2007, S. 11 f.), denn die Psychoanalyse/Psychotherapie sei seit ihren Anfängen in der antiken Lebens- und Heilkunst verankert. Diese habe eine Reihe psychologischer Konzepte entwickelt, die in das moderne psycho­ therapeutische Instrumentarium eingegangen seien, zum Beispiel die Erkenntnis, dass der Vorgang der Katharsis im psychotherapeutischen Prozess eine wichtige Rolle spiele, aber auch das Konzept der »Parrhesia«, des Mutes zur Wahrheit und zur freien Rede, das dem der freien Assoziation entspreche (Gödde, 2007, S. 5 f.). Im Jahre 1904 schrieb Freud in seiner Arbeit »Über Psychotherapie«, die Psychotherapie sei kein modernes Heilverfahren, sondern die älteste Therapie, derer sich die Medizin bediene (Freud, 1904/1990, S. 38). Und wenig später: »Es gibt viele Arten und Wege der Psychotherapie. Alle sind gut, die zum Ziel der Heilung führen […]. Wir haben die Technik der hypnotischen Suggestion, der Psychotherapie durch Ablenkung, durch Übung, durch Hervorrufung zweckdienlicher Affekte entwickelt. Ich verachte keine derselben und würde sie alle unter geeigneten Bedingungen ausüben« (Freud, 1904/1990, S. 39). Freud ist offen für die verschiedensten psychotherapeutischen Techniken und Methoden, auch für die der Lebensphilosophie.

Meine persönliche Beziehung zu Stavros Mentzos In meiner Gymnasialzeit war Altgriechisch sowie die damit verbundene Beschäftigung mit der griechischen bzw. antiken Philosophie ein Mittelpunkt meines Lebens. Die griechische Philosophie hatte mich so sehr beeindruckt, dass ich

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nach dem Abitur Altphilologie studieren wollte. Es kam anders. Ich wurde Psychiater und Psychoanalytiker. Ich war sehr erfreut, dass ich meine psychiatrische Ausbildung bei einem griechischen Oberarzt in der Universitätsklinik Frankfurt am Main absolvieren und anschließend auch bei Professor Mentzos in der psychosomatischen Abteilung tätig sein konnte. In dieser Zeit schrieb ich auch meine Doktorarbeit bei ihm. Insgesamt waren es zwölf Jahre (von 1969 bis 1981), die ich mit Stavros Mentzos eng zusammenarbeitete. Zwölf Jahre führen natürlich zu einer immer mehr sich vertiefenden Beziehung mit vielen Gesprächen. Ich könnte so manches anekdotische Erlebnis erzählen, doch möchte ich unmittelbar in medias res gehen und den für mich wichtigsten Aspekt meiner Beziehung zu Stavros Mentzos beschreiben. Er war sehr aufgeschlossen für Neues und alles ihm Unbekannte, er war kein orthodoxer Analytiker bzw. Psychotherapeut. Er interessierte sich für jede Richtung der Psychotherapie, für die »Kinder« der Psychoanalyse, zum Beispiel die Gestalt­ therapie oder die Gruppenanalyse, aber auch für die Verhaltenstherapie. In Stavros Mentzos fand ich immer wieder einen Gesprächspartner, mit dem ich über antike Philosophie, die als Philosophie der Lebenskunst zu einem wichtigen therapeutischen Instrument werden kann, reden konnte. Seine Wertschätzung ermutigte mich sehr. Schließlich hielt ich im Frankfurter Psychoanalytischen Institut einen Vortrag über Philosophie der Lebenskunst und Psychoanalyse. Diesen Vortrag möchte ich posthum mit großer Dankbarkeit Stavros Mentzos widmen, denn er hat mich immer wieder angeregt, einen von der orthodoxen Analyse abweichenden Weg zu gehen. In den langen Jahren meiner Zusammenarbeit mit ihm habe ich ihn als Menschen kennengelernt, der stoische und epikureische Lebenseinstellungen in sich vereinte. Dies werde ich in meiner Zusammen­fassung, die ich dem Text meines Vortrages anfüge, näher beschreiben.

Was versteht man unter Philosophie der Lebenskunst? In seinen Dissertationen schreibt der Stoiker Epiktet, dass so, wie das Material des Zimmermanns das Holz und das des Bildhauers das Erz sei, so sei der Gegenstand der Lebenskunst das Leben jedes einzelnen Menschen selbst (Epiktet, 2004, Dissertationen, 1, 15). Die Philosophie der Lebenskunst behandelt die Frage: Wie kann ich mein Leben zu einem gelingenden und erfüllten Leben machen? Philosophie wird nicht als abstrakter Diskurs, sondern als Liebe zur Weisheit verstanden. Jeder Mensch hat in sich ein Ziel, eine Bestimmung und die Möglichkeit, sich gemäß dieser Bestimmung zu entfalten, also sich selbst zu verwirklichen (Entelechie). So lautet die Maxime der Philosophie der Lebenskunst nicht nur:

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»Erkenne dich selbst«, sondern auch: »Werde du selbst. Achte auf dich selbst. Sorge dich um dich.« Die Lebenskunst empfiehlt jedem Menschen, sich seiner existenziellen Einmaligkeit bewusst zu sein und aus diesem Wissen heraus sein Leben zu gestalten. Lebenskunst bedeutet Arbeit an sich selbst, und diese geschieht oft mithilfe von meditativen Selbsttechniken. Dichter, Religionen und Philosophen lehren uns die Philosophie der Lebenskunst. Ihre Weisheiten sind oft in Aphorismen gefasst, die besagen, dass es klug sei, die Dinge aus vielen Perspektiven zu betrachten, oder dass die Menschen gar nicht so böse seien, von denen man sich verletzt fühle, sondern dass sie nur zu sehr mit sich beschäftigt seien. Könnte man die Theorie und Praxis der Psychoanalyse nicht auch als eine Philosophie der Lebenskunst verstehen, die dem Menschen ein Handwerkszeug zur Verfügung stellt, mit dem er an sich arbeiten kann, um aus seinem Leben ein erfülltes Leben zu machen? Auffallend ist, dass man sich in der gängigen Lebenskunstliteratur kaum auf die Psychoanalyse bezieht, obgleich diese zur Philosophie der Lebenskunst, wie sie in unserer heutigen Zeit verstanden wird, einen beträchtlichen Beitrag liefern könnte. Die Philosophie der Lebenskunst zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Philosophiegeschichte. Obwohl ich mich auf die jüngere Stoa, nämlich Epiktet, Seneca, Marc Aurel und den Epikureismus beschränken werde, möchte ich dennoch einige Lebenskunstphilosophen, die ich für bedeutsam halte, erwähnen. Bei jedem würde es sich lohnen, länger zu verweilen: Heraklit, ­Sokrates, Plato, Aristoteles, Montaigne, Schopenhauer, Nietzsche und Foucault. Die gesamte griechische und römische Philosophie kann als Liebe zur Weisheit interpretiert werden. Aristoteles hat als einer der Ersten auf das Prinzip der Mitte aufmerksam gemacht: Es komme immer auf das richtige Maß an. Mit dem Prinzip der Mitte hat Aristoteles eine Grundbedingung gelingenden Lebens formuliert. Montaigne und die französischen Moralisten sind ebenso wie Schopenhauer und Nietzsche eng mit den Lebenskunstlehren der Antike verbunden. Montaigne (1533–1592) empfiehlt als Lebenskunst: Man solle höflich mit seiner Krankheit umgehen, denn sie sei ein Bestandteil des Lebens, habe Bürgerrecht im Selbst und sei daher respektvoll zu behandeln. Auch sein berühmtes Motto »Leben lernen heißt sterben lernen« kann als Lebensweisheit betrachtet werden (vgl. Montaigne, 1580/1980, S. 52–62). Schopenhauer (1788–1860) leitet seine »Aphorismen zur Lebensweisheit« mit einem Zitat von Chamfort ein: »Das Glück ist ein schwierig Ding. In uns finden wir es nur schwer und gar nicht außer uns« (Schopenhauer, 1851/1987, Titelblatt). Schopenhauer hat fünfzig Lebensregeln der Lebenskunst herausgearbeitet, deren Befolgung befähigen soll, ein zufriedenes Leben zu führen. Nietzsche verstand sich als philosophischer Arzt. Selbstsorge spielt bei ihm eine große Rolle. Ein Philosoph ist für ihn ein Künstler, sein Leben ein Kunstwerk.

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In neuerer Zeit folgen als Philosophen der Lebenskunst ab den 1980er Jahren Foucault und seit den 1990ern Wilhelm Schmid. Aber nicht nur die abend­ ländische Philosophie vermittelt uns Prinzipien zur Lebenskunst, sondern in jedem kulturellen Lebenskontext gibt es fundamentale Weisheiten über gelungenes Leben, die wertvolle Orientierung bieten können. Die Bibliothek der Lebenskunstliteratur gibt darüber vielfach Auskunft.

Freuds philosophischer Standort und seine Einstellung zur Lebenskunst Freuds Denken wurzelt nicht nur in der Aufklärung, sondern vor allem auch in der Antike. Er war ein aufgeklärter Rationalist des Irrationalen. Als solcher möchte er mit der Vernunft das Irrationale meistern und glaubt, die Wahrheit mit der Vernunft erkennen zu können. Freud will die Leidenschaften sublimieren, mit der Vernunft die Triebe, das Böse und das Unheimliche zähmen. In diesem Sinne kann Freud als Stoiker bezeichnet werden. Freud war aber auch ein leidenschaftlicher Empirist und Determinist. Seine Philosophie ist antiteleologisch, antispiritualistisch und antireligiös. Ludwig Marcuse bezeichnete Freud als einen verspäteten Schopenhauerianer und Schopenhauer als einen verfrühten Freudianer. Als verspäteter Schopenhauerianer glaubt Freud an den unbewussten Willen und dessen Manifestation als Sexualität. Die Sexualität ist nach Freud der Grundbass allen menschlichen Geschehens. In seiner Arbeit »Das Unbehagen in der Kultur« beschreibt Freud seine Sicht eines erfüllten und gelingenden Lebens durch Liebe und Arbeit: »Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben« (Freud, 1930/1982, S. 211). Und weiter: »Wer für den Einfluss der Kunst empfänglich ist, weiß ihn als Lustquelle und Lebenströstung nicht hoch genug einzuschätzen« (Freud, 1930/1982, S. 212). Schließlich wendet sich Freud der »Technik der Lebenskunst«, der Liebe, zu, »welche alle Befriedigung aus dem Lieben und Geliebtwerden erwartet« (Freud, 1930/1982, S. 213). Insgesamt vertritt Freud die Ansicht, dass es im Plan der Schöpfung nicht enthalten sei, dass der Mensch glücklich werde. In seinem Werk »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« betrachtet Freud es als das höchste Ziel des Menschen, seine Leidenschaften und Triebe zu sublimieren und in den Dienst einer höheren Aufgabe zu stellen. Es ist dann diese Fähigkeit zur Sublimierung, die zu einem erfüllten Leben beiträgt (vgl. Freud, 1939/1982, S. 561–567).

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Stoizismus und die Philosophien der Lebenskunst der jüngeren Stoa Die stoische Philosophie entstand in der Epoche des Hellenismus nach dem Tod Alexander des Großen. Sie entfaltete in der Zeit von 300 v. Chr. bis 300 n. Chr. als alte, mittlere und jüngere Stoa ihre Wirkung und hatte großen Einfluss auf die abendländische Geisteswelt. Spinoza, Pascal, Friedrich der Große, Kant und Goethe schätzten sie sehr. Als der eigentliche Begründer der Stoa gilt Zenon aus Kition auf Zypern, der um 300 v. Chr. die stoische Bewegung ins Leben rief. Zenon war ein reicher Kaufmann, der durch einen Schiffbruch an der Küste Attikas sein gesamtes Vermögen verloren hatte. Diesen Verlust beklagend, irrte er verzweifelt durch die Straßen Athens, bis er eines Tages in einem Buchladen ein Buch fand, darin las und begeistert rief: »Wo sind die Männer, die dieses lehren?« »Die Philosophen«, antwortete der Buchhändler und zeigte auf Krates, der gerade vorbeiging. Zenon eilte diesem nach, machte seine Bekanntschaft und wurde sein Schüler. So wurde eine traumatische Lebenserfahrung der Beginn der stoischen Bewegung. Stoische Ideale sind Apathie, Ataraxie und Autarkie, das heißt Leidenschaftslosigkeit, Unerschütterlichkeit und Unabhängigkeit. Diese Ideale erreicht man, indem man natur- und vernunftgemäß sowie tugendhaft lebt. Der Natur gemäß zu leben heißt erkennen, dass jeder Einzelne Teil des Kosmos, des großen Ganzen ist, das von der Weltvernunft durchdrungen ist. »Von allen Dingen lass dich nicht beunruhigen; alles geht ja doch so, wie es der Natur des Ganzen gemäß ist. Noch eine kurze Zeit – und du wirst nicht mehr sein, so wenig wie Hadrian und Augustus« (Marc Aurel, 2012, VIII/5). Die Vernunft betrachteten die Stoiker als den göttlichen Bestandteil des Menschen, der allein das Leben gestalten soll. Die Vernunftseele soll herrschen, eben darum nennt man sie Hegemonikon, die führende Seele. Das höchste Ideal sehen die Stoiker in dem Weisen, der sich selbst genug ist. Der Stoiker ist Pflichtmensch und Fatalist. Es ist für ihn sehr wichtig, zu unterscheiden, was in seiner Macht steht und was nicht. Die tägliche Beschäftigung mit dem Tod ist typisch für die stoische Lebenseinstellung. So meditiert der Stoiker täglich: Nah ist die Zeit, dass du alle vergisst, nah ist die Zeit, dass alle dich vergessen. Eine kleine Seele bist du, die einen Leichnam trägt. Sei nicht die Marionette deiner Triebe. In den nun folgenden Ausführungen möchte ich anhand der philoso­phischen Ideen der jüngeren Stoa, also denen Epiktets, Senecas und Marc Aurels, näher auf deren Lebenskunstlehren eingehen. Sie stellen alle die Liebe zur Weisheit in den Mittelpunkt ihrer Philosophie. Auch für Psychoanalytiker erscheint es mir

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sinnvoll, sich immer wieder von diesen Stoikern anregen zu lassen und darüber nachzudenken, was Weisheit ist. Ich beginne mit dem meines Erachtens wichtigsten Vertreter der jüngeren Stoa, nämlich Epiktet. Er wurde um 50 n. Chr. in Hierapolis in Phrygien geboren. Als Sklave des Epaphroditos kam er nach Rom. Unerschüttert nahm er es hin, als sein Herr ihm willentlich ein Bein brach, wodurch er zum Krüppel wurde. Er starb um 120 n. Chr. Im § 5 seines »Handbüchleins der Moral« ist zu lesen: »Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen« (Epiktet, 2004, S. 5). Mit § 8 rät er zu folgender Einstellung: »Verlange nicht, dass alles so geschieht, wie du es willst, sondern wolle, dass alles so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Frieden leben« (S. 8) und mit § 17, das Leben wie ein Schauspiel zu verstehen: »Merke: du hast eine Rolle zu spielen, die der Direktor bestimmt. Du musst sie spielen, ob das Stück lang oder kurz ist« (S. 17). Die Auseinandersetzung mit dem Tod spielt bei Epiktet, wie bei allen antiken Philosophen, eine zentrale Rolle: »Tod, Verbannung, überhaupt alles, was furchtbar erscheint, halte dir täglich vor Augen. Vor allem den Tod. Das wird dich vor kleinlichen Gedanken bewahren und vor übermäßigen Begierden« (Epiktet, 2004, S. 21). Nach Epiktet ist das Werturteil entscheidend, das im Zusammenhang mit den eigenen Vorstellungen und der inneren Rede entsteht. Alle Vorstellungen kommen vor die Instanz des Logos, der sie annimmt oder ablehnt. Epiktets Ziel war es, die innere Rede seiner Zuhörer zu verändern. Seine Therapeutik des Wortes erfolgte mithilfe einprägsamer Formulierungen, zum Beispiel mit der psychoanalytisch anmutenden Maxime: Verwechsele nicht die Dinge mit deinen Vorstellungen. Für Epiktet ist es zentral, zwischen den Dingen zu unterscheiden, die in unserer Macht stehen, und denen, welche nicht in unserer Macht stehen. Wer nur begehrt, was in seiner Macht ist, erlangt innere Freiheit und Gelassenheit. Epiktet fordert zu dauernder Selbstbeobachtung und Selbsterziehung auf. Die falschen inneren Vorstellungen, die zur falschen inneren Rede und zu falschen Werturteilen führen, sollen durch eine beständige Disziplinierung der Vorstellungen, des Begehrens und der Handlung korrigiert werden (Hadot, 1996, S. 108). Ich bin der Meinung, dass Epiktet dem psychoanalytischen Denken sehr nahekommt, wenn er sagt, dass nicht die Dinge uns erregen, sondern unsere Vorstellungen von den Dingen sowie die dadurch ausgelösten Emotionen. Ich vermute, als Sklave erlitt er traumatische Erfahrungen und entwickelte daraus seine stoische Grundeinstellung zum Leben. Die stoische Unterscheidung zwischen wirklicher und vermeintlicher Ohnmacht kann als eine psychoanalytische Übung aufgefasst werden. Wenn ich mit Trauer wirkliche Ohnmacht anerkenne, führt dies zu innerer Freiheit.

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Seneca, der von 4 v. Chr. bis 65 n. Chr. lebte, war ein wohlhabender Kaufmann, später Minister und Erzieher sowie Berater Kaiser Neros, der ihn zum Suizid zwang. Das höchste Glück sah Seneca in der Gelassenheit. In seinem Essay »Von der Gemütsruhe« schreibt er: »Nichts ist so herb, daß nicht ein gelassenes Gemüt einen Trost fände« (Seneca, 2015a, S. 50). In dem Traktat »Von der Kürze des Lebens«, um das Jahr 55 n. Chr. geschrieben, behandelt Seneca (2015b) die Frage nach dem gelingenden Leben aus der Perspektive subjektiven Zeiterlebens. Hieraus möchte ich einige Gedankengänge als unmittelbare Kostprobe stoischer Philosophie vorstellen. Seneca beginnt damit, dass die meisten Menschen über die Bosheit der Natur klagen, darüber, dass unsere Lebenszeit zu kurz bemessen sei. Doch fährt er fort: »Nicht gering ist die Zeit, die uns zu Gebote steht: wir lassen nur viel davon verloren gehen. Das Leben, das uns gegeben ist, ist lang genug […]. Nicht das Leben, das wir empfangen, ist kurz, nein, wir machen es dazu; wir sind nicht zu kurz gekommen; wir sind vielmehr zu verschwenderisch« (Seneca, 2015b, S. 6). Durch unseren zerstreuten Geist würden wir viel Zeit verschwenden. Wer aber jeden Tag so betrachte, als sei er der letzte, wisse den Wert jedes Tages zu schätzen, denn ein Leben lang müsse man sterben lernen. Einem zerstreuten Geist fehle die Muße, die Seneca als ein hohes Gut betrachtet. Viele Menschen erfassen nicht das Wesen der Zeit – so Seneca. Mit dem allerkostbarsten Besitz gehe man lieblos um. Die Täuschung komme daher, dass die Zeit etwas Unkörperliches sei und nicht mit den Augen wahrgenommen werden könne; daher die geringe Achtung, in der sie steht, ja ihre völlige Wertlosigkeit. Sähe man sein gesamtes Zeitkontingent, würde man seine Zeit viel mehr zu schätzen wissen. Auch sei die Gegenwart so kurz, dass sie manchen wie ein Nichts erscheine, sie eile immer weiter, fließe dahin und komme nicht zur Ruhe, so dass sie infolge des zerstreuten Vielerlei nicht zu fassen sei. Dem geschäftigen Müßiggang und der Zeitverschwendung stellt Seneca die Muße gegenüber, die die Zeit als Kostbarkeit wahrnimmt. Der Muße ergeben seien nur Menschen, die ihre Zeit der Weisheit widmen.

Der Weg Marc Aurels zu sich selbst in seinen »Selbstbetrachtungen« Marc Aurel (120–181 n. Chr.), der »Philosophenkaiser«, ist der letzte herausragende Vertreter der stoischen Bewegung, die für Jahrhunderte die geistige Welt der Antike prägte. Sein Leben war reich an Wechselfällen und Schicksalsschlä-

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gen. In Rom geboren, wurde er nach dem frühen Tode seines Vaters im Hause seines Großvaters erzogen. Herrschendes Prinzip der stoischen Weltsicht ist auch bei Marc Aurel der Logos, die Weltvernunft, an welcher auch die menschliche Vernunft teilhabe. Im Aphorismus IV/49 schreibt Marc Aurel: »Du musst sein wie ein Fels, an dem alle Wogen sich brechen. Er steht, die Brandung aber wird müde« (Mark Aurel, 2012, IV/49). »Arbeite an deinem Inneren. Da ist die Quelle des Guten, eine unversiegbare Quelle, wenn du nur immer nachgräbst« (VII/59). Die »Selbstbetrachtungen« Marc Aurels sind auch heute noch aktuell. Als einer der Ersten in der abendländischen Kulturgeschichte ist er den Weg in seine innere Welt gegangen. Montaigne, Schopenhauer, Nietzsche, Goethe stehen in seiner Tradition. Im Gegensatz zur Psychoanalyse kann der Stoiker Marc Aurel jedoch in den Gefühlen von Zorn und Trauer keinen Sinn finden, denn er schreibt: »Jammere nicht mit anderen und gerate auch sonst nicht in heftige Erregung« (Mark Aurel, 2012, VII/43) oder »Der Außenwelt zu zürnen, wäre töricht, sie kümmert sich nicht darum« (VII/38). Im Buch III der »Ermahnungen an sich selbst« beschreibt Marc Aurel die drei stoischen Lebensregeln, nämlich die Disziplinierung des Urteils, des Wollens und des Handelns. Diese Lebensregeln ermöglichen nach stoischer Sicht die Abgrenzung unserer Freiheitssphäre, dieser kleinen unbezwingbaren Insel der Autonomie inmitten des unermesslich großen Flusses der Ereignisse und des Schicksals. Die Disziplinierung des Handelns erreicht ihren Höhepunkt in der Nächstenliebe, denn es ist für die vernünftige Seele natürlich, den Nächsten zu lieben: »Bring dich mit den Dingen in Einklang, mit denen du durch das Schicksal verbunden bist, und liebe die Menschen, mit denen du durch das Schicksal verbunden bist, aber tue es von ganzem Herzen« (Mark Aurel, 2012, VI/39). So ist der Stoizismus eine Lehre der Liebe (vgl. Hadot, 1996).

Die Philosophie der Lebenskunst der Epikureer, die epikureische Lebensweise In seinem Brief an Menoikeus schreibt Epikur (340–270 v. Chr.): »Darum behaupte ich, dass die Freude das A und O des glückselig gestalteten Lebens ist« (Epikur, 1973, S. 128). Und er führt weiter aus: »Wenn wir also sagen, dass Freude unser Lebensziel ist, so meinen wir nicht die Freuden der Prasser, denen es ums Genießen schlechthin zu tun ist. […]. Für uns bedeutet Freude: keine Schmerzen haben im körperlichen Bereich und im seelischen

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Bereich keine Unruhe verspüren« (Epikur, 1973, S. 131). Unter einem glückselig gestalteten Leben versteht Epikur also vor allem Schmerzlosigkeit und Ruhe des Geistes. Die Vernunft ist für Epikur ein hohes Gut, ebenso die Selbstgenügsamkeit. Er schreibt: »An allem Anfang aber steht die Vernunft, unser größtes Gut. […] Aus ihr ergeben sich alle übrigen Tugenden von selbst« (Epikur, 1973, S. 132). Als schönste Frucht der Selbstgenügsamkeit galt ihm die Freiheit, wohingegen der in Unfreiheit lebe, dem genug zu wenig sei, denn dem sei nichts genug. Bei allen Begierden empfiehlt Epikur, sich zu fragen, was geschehe, wenn das eigene Begehren befriedigt sei, und was, wenn es nicht befriedigt werde. Charakteristisch für die Epikureer ist auch die Hochschätzung der Freundschaft. Unter allem, was die Weisheit zum Glück des Lebens beitrage, sei nichts größer, nichts fruchtbarer und freudvoller als die Freundschaft. Freundschaften zu pflegen gehört zur epikureischen Lebenskunst. Das epikureische »Lebe im Verborgenen« und »Die Natur hat uns zur Gemeinschaft geschaffen« sind weitere wichtige epikureische Tugenden. Die Beschäftigung mit dem Tod spielt eine wichtige Rolle: »Der Tod ist für uns ein Nichts, denn was der Auflösung verfiel, besitzt keine Empfindung mehr. Was aber keine Empfindung mehr hat, das kümmert uns nicht« (Epikur, 1973, S. 125). Die Erkenntnis, dass das Leben vergänglich und der Tod kein Übel ist, macht das Leben für den Epikureer erst köstlich. Die epikureische Lebensweise fasst Epikur in seinem vierfachen Heilmittel zusammen: Die Götter brauchen wir nicht zu fürchten, auch den Tod nicht, das Schwere ist zu ertragen, das Gute leicht zu beschaffen. »Dies also […] übe Tag und Nacht allein und mit einem Gesinnungsgenossen, und du wirst leben wie ein Gott unter Menschen« (Epikur, 1973, S. 135). Die Philosophie der Lebenskunst Epikurs, aber auch diejenige der Stoiker wird als Anleitung zu meditativen geistigen Übungen verstanden.

Die Philosophie der Stoa und des Epikur als Grundlage geistiger, meditativer Übungen In seinem Buch »Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike« entwickelt Hadot (2002) die These, dass antike Philosophie nicht abstrakte Theorien vermittele, sondern dass sie die Seelen der Menschen formen möchte. Philosophie ist Liebe zur Weisheit und Lebenskunst. Nicht die Diskussion über abstrakte Theorien ist das philosophische Ziel. Die antike Philosophie wird vielmehr als Anleitung zur geistigen Übung verstanden. Unter geistiger Übung ver-

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steht Hadot ein stetiges meditatives Sichvergegenwärtigen bestimmter Lebensweisheiten und Lebensregeln, die täglich mehrmals meditiert und memoriert werden, um auf diese Weise Gewohnheiten zu schaffen. Foucault beschreibt in seiner »Hermeneutik des Subjekts« (2004) diese Form der Meditation als einen Aneignungsprozess, dessen Sinn es sei, wichtige Wahrheiten und Erkenntnisse unmittelbar abrufbar zu halten, um sie bei Bedarf handlungsorientierend nutzen zu können. So wird verständlich, warum kurze aphoristische Sätze von Epiktet, Marc Aurel, Epikur und weiterer antiker Philosophen zur Meditation verwendet werden – getreu dem Satz Epiktets: »Haltet diese Gedanken Tag und Nacht griffbereit.« In den meditativen Techniken (Kunstfertigkeiten) liegt nach meiner Ansicht ein Universum psychotherapeutischer Möglichkeiten verborgen. Die stoische Bewegung ist im Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen entstanden und hat in der stoischen Position, wie ich sie nenne, eine innere Haltung entwickelt, die als Lebensmöglichkeit, aber auch bei der Behandlung traumatisierter Patienten sehr hilfreich sein kann. Ich werde nun diese stoische Position beschreiben. Ich betrachte sie als eine menschliche Fähigkeit, die, täglich geübt, innere Freiheit ermöglicht. In meiner Arbeit mit Patientinnen und Patienten spielt sie eine wichtige Rolle.

Die stoische Position in der psychoanalytischen Arbeit Die Freiheit des denkenden Subjekts nennt Hegel Stoizismus (Hegel, 1845/1986, S. 157). Der Stoizismus ist eine menschliche Grundmöglichkeit. Aus dieser Position der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit kann der Stoiker sich freiwillig in Abhängigkeit begeben. Richard Sterba prägte den Begriff der therapeutischen Ich-Spaltung, das heißt, jedes »Ich« kann als ein erlebendes und ein beobachtendes Ich betrachtet werden. Mit dem beobachtenden Ich kann man jederzeit das erlebende beobachten und erforschen. Mit der stoischen Position als beobachtendem Ich können alle erlebenden Persönlichkeitsteile, auch die traumatischen, beobachtet und studiert werden. Die stoische Position des inneren Beobachters kann – als Ort der Vernunft, der Leidenschaftslosigkeit (Apathie), der Unerschütterlichkeit (Ataraxie) und der Autarkie – geschult und geübt werden. Von diesem Ort aus betrachtet der Stoiker das Leben wie ein Schauspiel. In der stoischen Position ist man also Beobachter und Forscher. Man übt den Blick aus der Vogelperspektive. Man nimmt die Dinge der Welt nicht persönlich.

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Wesentlich ist, zu unterscheiden zwischen dem, was in meiner Macht liegt und was nicht. Epiktets Aphorismus »Nicht die Dinge selbst beunruhigen mich, sondern meine Meinungen und Urteile über die Dinge« ist der Kompass. Der Stoiker betrachtet die ganze Wirklichkeit aus der Perspektive der »AllNatur« im Strom der ewigen Verwandlung, in dem unser eigenes Leben und unser eigener Tod nichts als eine winzige Woge sind. So wird sich das stoische Ich seiner selbst als einer kleinen Insel der Freiheit inmitten einer unermesslichen Notwendigkeit bewusst. Selbst während einer akuten psychotischen Erkrankung gibt es Freud zufolge in jedem Psychotiker eine Instanz, die den psychotischen Spuk mit Abstand und Gelassenheit betrachtet und darauf wartet, bis er vorbei ist. Vor allem bei der analytischen Arbeit mit traumatisierten Patienten ist es sinnvoll, einen gelassenen, stoischen Ort aufzubauen, um von da aus auf schlimme Erlebnisse, auf bedrohliche innere Bilder und Erinnerungen zu blicken mit dem Ziel, zu dem traumatisch-emotionalen Gehalt der Katastrophenereignisse Abstand zu finden. Eine sehr bekannte stoische Übung ist die sogenannte Praemeditatio malo­ rum, also das Sichvorstellen zukünftigen Unglücks und Leids. Die Therapie der Affekte besteht dabei darin, sich gedanklich auf mögliche Unglücksfälle des Lebens vorzubereiten, denn nichts trifft schlimmer als ein unvorhergesehener Schicksalsschlag. Foucault (2007, S. 133) zufolge geht es bei dieser Meditation darum, sich darüber klar zu werden, dass die Übel oft gar keine wirklichen Übel sind, dass nur unsere Vorstellung von den Übeln sie uns als solche erscheinen lässt. Wenn ich mir das schlimmste Übel vorstellen und damit leben kann, ist ein erster Schritt in Richtung Angstbewältigung erreicht.

Der Umgang mit Emotionen, die Stoa und die Trauer Ich möchte nun die These aufstellen, dass die Stoiker bereits eine Methode anwandten, die als Affektregulierung und Mentalisierung verstanden werden könnte, da sie ermöglicht, mit Abstand auf die Bedeutung der Affekte zu schauen. Heidegger kritisiert aus einer etymologischen Perspektive den Begriff »Affekt«: Schon der Begriff »Affekt« sei »verheerend«. Af-ficere gleich antun. Freude werde mir nicht »angetan«, sondern diese Gestimmtheit gehöre »zu […] meinem In-der-Welt-Sein« (Heidegger, 1994, S. 211). Doch hat der Begriff »Affekt« auch seine Berechtigung, denn Gefühle entstehen auch dann, wenn einem etwas angetan wird, wenn einem Leid zustößt. Aus realem Leid in Kindheit und Jugend kann neurotisches Leid entstehen, das in den verschiedensten Emotionen Ausdruck findet.

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In der psychoanalytischen Theorie und Praxis werden Gefühle als wichtige Signale, die wesentliche Informationen kommunizieren, verstanden. So verweist Angst auf eine phantasierte oder reale Gefahr. Gefühle entstehen stets eingebettet in einen Beziehungskontext. Sie sind meist mit weiteren Empfindungen und Gestimmtheiten sowie Körperempfindungen, aber auch Vorstellungen, Phantasien, Gedanken und Bildern, also Kognitionen, verbunden. Wo Es der Rohstoff der Emotion ist, da soll Ich, also Vernunft, werden. Dieser Vorgang ist nach Freud Kulturarbeit, etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee. Das Ich hat eine schwierige Aufgabe, denn es soll, ähnlich einem Deich, vor der Überflutung durch Leidenschaften schützen, zugleich aber die bedrohlichen Triebe psychoökonomisch fruchtbringend nutzen. Wie versteht nun die stoische Philosophie der Lebenskunst die Affekte? Zenon definiert Affekte zwar als unvernünftige Regungen der Seele, die durch fehlerhafte Vernunfturteile zustande kommen, also von der rechten Vernunft abweichen, doch sind sie nicht gänzlich von dem vernünftigen Teil der Seele getrennt. Sie gehören nur dann nicht mehr der Vernunft an, wenn sie infolge eines verfehlten Urteils zügellos geworden sind. Das heißt, abwegig sind Affekte nur dann, wenn sie vernunftlos, also unangemessen, sind. Die Stoiker beschäftigten sich insbesondere mit den unangemessenen, also neurotischen Gefühlen, die durch falsche Vorstellungen sowie Urteile infolge falscher innerer Rede entstehen und zu falschen Handlungen führen können. Diese falschen Urteile kommen vor die Instanz des Logos, der sie dann als falsch ablehnt und durch die Vernunft berichtigt. Für den Stoiker gibt es einen Primat der Kognition über den Affekt. Fonagy, Gergely, Jurist und Target entwickelten das Konzept der »mentalisierten Affektivität« (2004, S. 100), das heißt, Affekte bzw. Affektzustände werden »kognitiv prozessiert«. Es geht um die Fähigkeit, sich seine Affekte bewusst zu machen und ihre Bedeutungen zu verstehen. Wenn der Stoiker Epiktet sagt: »Nicht die Dinge erregen dich, sondern deine falschen Vorstellungen und Urteile infolge der falschen Rede über die Dinge«, will er sich die Bedeutungen der Emotionen bewusst machen. Dies kann als Mentalisierung der Affektivität verstanden werden. Das Betrachten der Affekte aus der stoischen Position ermöglicht Mentalisierung und ist mit dem Abstandnehmen im Zusammenhang mit der psychoanalytischen Methode der therapeutischen Ich-Spaltung vergleichbar. In seinen »Selbstbetrachtungen« schreibt Marc Aurel: »Es ist sinnlos, dem Schicksal zu grollen; denn es nimmt keine Klagen an. Klage nicht mit den Klagenden« (2012, VII/38). Epiktet sagt: »Sag nie von einer Sache: Ich habe sie verloren, sondern: Ich habe sie zurückgegeben. Dein Kind ist gestorben? Es wurde zurückgegeben. Deine Frau ist gestorben? Sie wurde zurückgegeben« (2004, S. 11).

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Die Stoiker betrachten die Trauer als Krankheit der Seele und haben wenig Verständnis für die Bedeutung des Trauervorgangs (vgl. Ritter, 1974). Vielleicht verwechselten sie die Trauer mit der Melancholie. So sehr ich die stoische Philosophie schätze, so kritisch betrachte ich ihre Einstellung zur Trauer. Die psychoanalytische Perspektive verändert die Betrachtung des Trauerprozesses grundlegend. Wurde die Trauer in der stoischen Philosophie als ein Phänomen verstanden, dem man besser nicht nachgebe, so wird sie in der psychoanalytischen Theorie zu einer Fähigkeit, die ein zentrales Reifekriterium darstellt. Das Nicht-trauern-Können wird als Kern des melancholischen Erlebens und Leidens betrachtet. Nach Schopenhauer stellen Hindus sich den Tod wie einen Januskopf vor, vorne Angst und Schrecken, hinten ewiger Friede.

Die Psychoanalyse – eine Philosophie der Lebenskunst Könnte die psychoanalytische Theorie und Praxis als eine Philosophie der Lebenskunst verstanden werden, die auf ihre Weise das »Erkenne dich selbst« (»Achte auf dich selbst«, »Werde, der du bist«, »Sorge dich um dich«) ähnlich wie die verschiedenen Philosophien der Lebenskunst behandelt? Der Leitspruch des delphischen Orakels »Erkenne dich selbst« kann als die Ausgangsmaxime der Psychoanalyse betrachtet werden. Wie aber verläuft der Weg zur Selbsterkenntnis? Freud geht einen Weg, der in der Antike durch Sokrates vorgezeichnet ist, nämlich den des Dialoges mit sich und mit dem Anderen. Der Aphorismus des Stoikers Epiktet, »Nicht die Dinge erregen dich, sondern deine Meinungen und Werturteile über die Dinge«, entspricht einer psychoanalytischen Grundeinsicht, die überzeitliche Bedeutung hat. Psychoanalytische Identität ergibt sich aus dem Wissen und der gekonnten Anwendung der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Dabei spielen langjährige berufliche Erfahrung, vor allem aber auch Lebenserfahrung und nicht zuletzt das Wissen um die Philosophie der Lebenskunst, auch das Wissen, das uns die Dichter vermitteln, eine wichtige Rolle. Die Freud’sche Psychoanalyse ist nach meiner These nicht nur eine Behandlungsmethode, sondern auch eine Lebenspraxis, eine Lebenskunstlehre, denn sie stellt uns ein Instrumentarium zur Verfügung, mit welchem wir neurotisches Leid meistern und mit realem Leid leben lernen können, aber auch ein Handwerkszeug, um Konflikte zu lösen oder mit nicht lösbaren Konflikten zu leben. Auffallend ist, dass in der gängigen Lebenskunstliteratur der Gegenwart kaum oder gar nicht auf die Psychoanalyse als Lebenskunst Bezug genommen wird.

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Die Psychoanalyse ist eine Lebenskunst, die das Wesen des Analysanden erkennen möchte, auch dessen dunkle Seite, das Böse, die Leidenschaften und die Triebe. Emotionen spielen in der psychoanalytischen Theorie und Praxis eine herausragende Rolle, ebenso das unbewusste Seelenleben mit seinem kreativen Potenzial, die Bedeutung der internalisierten Beziehungserfahrungen und die Konflikthaftigkeit der menschlichen Existenz. Die Psychoanalyse möchte dem Analysanden behilflich sein, sein Leid kreativ zu nutzen. Diese Lebenskunst erlernt der Analysand im Laufe seiner Analyse.

Das Wesen der psychoanalytischen Lebenskunst ist, zu lieben und sich lieben zu lassen Nach Freud ist das Ziel der psychoanalytischen Therapie, liebes- und arbeitsfähig zu werden. Aber auch die psychoanalytische Behandlung selbst, so äußerte Freud sich seinem Freund Binswanger gegenüber, wirke durch die Liebe. Er meint damit wohl die neue Beziehungserfahrung, die für den Analysanden im Laufe der analytischen Beziehung zu seinem Therapeuten entsteht. Was ist nun Liebe? Liebe ist eine kreative, alles verbindende und durchdringende Kraft, die das Wesen des Du erkennen und diesem Du Gutes tun will. Adam erkannte Eva und Eva erkannte Adam. Damit ist nicht nur gemeint, dass sie sich im Begehren erkannten, sondern auch in ihrem Wesen. Dieses Sich-im-Wesen-Erkennen ist ein entscheidendes Kriterium des Liebesvorgangs. Wie die jüdisch-christliche, so stellt auch die antike Kultur das Erkennen des Wesens, des eigenen Wesens, aber auch das des anderen in den Mittelpunkt des Liebens. Diese Aufforderung zur Selbsterkenntnis und zur Erkenntnis des Anderen verstehe ich als ein Essential der Psychoanalyse, ebenso das »Achte auf dich selbst« und das »Werde du selbst«. In seiner »Kunst des Liebens« hat Erich Fromm verschiedene Formen der Liebe unterschieden, so die Liebe zum Gatten, die Liebe zum Freund, die Liebe zu einer Sache, die Liebe zur Tochter, die Liebe zum Sohn. Es gibt die aktive Liebe, das Lieben, und die passive, also das Geliebtwerden. Wir können auch fragen: Worin besteht die Liebe des Analytikers und worin diejenige des Analysanden? Ich denke, wesentlich ist, dass Liebe aus der Ich-Verhaftung, aus der IchZentrierung befreit. Liebe ist stets damit verbunden, dass ich auch verzichten und ein Opfer bringen kann. Wie Hegel dies sieht, hat Weischedel in seinem Buch »Die philosophische Hintertreppe« (2011) sehr schön beschrieben: Die

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Liebe beginne damit, dass es erst einmal ein Ich geben müsse und dann ein Du, eine These und eine Antithese. Dieses Ich verliere sich im Du, gebe sich dem Du hin. Daraus entstehe etwas ganz Neues, die Synthese. Das Ich gewinne etwas dadurch hinzu, dass es sich im Du verliere. Ich und Du seien in der Synthese in dreifachem Sinn aufgehoben, aufgehoben im Sinne von auf eine höhere Ebene gehoben zu sein, aufgehoben im Sinne von aufbewahrt sein und aufgehoben im Sinne von beseitigt werden, wie ein Gesetz aufgehoben wird. Denn, so Hegel, die These und die Antithese seien nun in der Synthese aufgehoben. Dieser hingebungsvolle Anteil des Liebesvorgangs, der vor allem in der elterlichen Liebe zum Tragen kommt, bildet aber auch in der partnerschaftlichen Beziehung einen wesentlichen Aspekt. Da Liebe eine kreative, alles verbindende, alles durchdringende Urkraft ist, kann sie auch Hass in Gefühle des Verzeihens und des Versöhnens verwandeln, können doch Einfühlung, Güte, Mitgefühl und Sorge als der Liebe sehr verwandt bezeichnet werden. Wir sehen, dass trotz der Vieldeutigkeit, mit welcher der Begriff »Liebe« gebraucht wird, die Definition und Beschreibung, was Liebe sei, letztlich doch auf wesentliche Phänomene des Liebesvorgangs hinauslaufen. Dichter und Philosophen haben immer wieder Wesentliches im Liebesvorgang erkannt. Ein wichtiges Phänomen der Liebe hat Goethe in die Worte gekleidet: »Lieben heißt, freiwillig sich in Abhängigkeit zu begeben.« Damit zeigt Goethe, dass Liebe immer eine freiwillige Gabe ist, aber auch, dass ich mich beim Lieben immer in Abhängigkeit begebe und dass beim Lieben alte missglückte Abhängigkeitssituationen wieder lebendig werden können. Adorno prägte den Satz: »Geliebt bist einzig du da, wo schwach du dich zeigen kannst, ohne Stärke zu produzieren.« Ich glaube, in diesem Satz ist etwas Wesentliches zum Ausdruck gebracht, nämlich, dass Liebe Schwäche erträgt, dass Liebe Schwäche zulässt. Lieben heißt, wie schon gesagt, das Wesen des Anderen, und sei es auch seine Schwäche, zu erkennen und anzuerkennen, und diese Anerkennung spiegelt sich nicht nur in der inneren Haltung wider, sondern möchte auch im Liebestun sich zeigen. Bei der Beschäftigung mit dem Thema Liebe kann man nicht umhin, sich an das wunderbare Gleichnis, das sogenannte Aristophanes-Gleichnis von Plato, zu erinnern: Einst waren die Menschen selbstzufriedene, kugelförmige Wesen. Als sie aber gegen Zeus frevelten, teilte dieser die Menschen in zwei Hälften, und deshalb streben nun diese Teile, Mann-Mann, Mann-Frau, Frau-Frau, immer wieder zum anderen Teil, um wie früher ein Ganzes zu werden. Eine wichtige Frage ergibt sich aus der Überlegung, ob die Liebe mit der Selbstliebe beginne oder ob man erst einen anderen Menschen lieben müsse, um sich selbst lieben zu können. Ich glaube, die Liebe beginnt mit der Selbstliebe.

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Um erwachsen lieben zu können, bedarf der Mensch der Fähigkeit zur depressiven Position: der Fähigkeit zur Trauer, der Fähigkeit, ambivalente Gefühle zu ertragen, sowie der Fähigkeit, das Du als ganze Person wahrzunehmen. So ist die höchste Lebenskunst, als glücklicher Sisyphos täglich lieben zu lernen. Die Psychoanalyse als Lebenskunst kann dabei hilfreich sein.

Meine Sicht auf Stavros Mentzos In den zehn Jahren meiner Zusammenarbeit mit Stavros Mentzos habe ich ihn als einen Menschen kennengelernt, für den die stoischen und epikureischen Tugenden eine große Rolle spielten: vernünftig und gelassen zu sein sowie wirkliche Ohnmacht anzunehmen. Stavros Mentzos lebte nach meinem Eindruck in einer stoischen Grundhaltung, wie ich sie beschrieben habe: Er zeigte sich leidenschaftslos, unerschütterlich und autark. Er hatte die stoische Grundeinstellung der Apathie, Ataraxie und Autarkie tief verinnerlicht, er war ein Pflichtmensch. Ich habe Stavros Mentzos nie heftig in Gefühlen, nie zornig erregt, erlebt. Er war stets gelassen und ausgeglichen. Die Lateiner würden sagen: cum aequo animo. Zugleich spürte man, dass er – auch ein Rationalist des Irrationalen – ein großes Interesse daran hatte, das Irrationale und vor allem das Verrückte, das Psychotische im Menschen, mit Vernunft und Empathie zu begreifen. Dies ist eines der größten Verdienste von Mentzos. Ich erinnere mich an folgende Begebenheit: In einem Vortrag stellte ich im Mittwochseminar im Hörsaal der Psychiatrischen Universitätsklinik Frankfurt am Main einen psychotischen Patienten vor, der eine Vielzahl von bunten, verrückten Symptomen aufwies. Nach dem Vortrag kam der frühere Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Frankfurt, Prof. Zutt, ein Daseinsanalytiker, auf mich zu und sagte: »Lassen Sie diesen Menschen so, wie er ist.« Mentzos stand daneben und lächelte zustimmend und wohlwollend. Wie die Stoiker hielt Mentzos Zorn und Wut für keine angemessenen Affekte, so dass ich ihn nie zornig oder gar gehässig erlebt habe. Als junger psychiatrischer Assistent war ich damit konfrontiert, dass eine junge Patientin, die ich auch psychotherapeutisch betreute, Suizid beging. Ich ging tief erschüttert zu Mentzos und war sehr erstaunt über seine Reaktion. Er sagte nämlich ohne jeden vorwurfsvollen Ton: »Das ist mir auch schon passiert.« Im anschließenden Gespräch über Tod und den Sinn des Lebens wurde mir klar, dass Mentzos den Tod wie die Epikureer betrachtete. Der Tod ist kein Übel, er ist ein Nichts, denn wenn wir gestorben sind, besitzen wir keine Emp-

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findung mehr. Zugleich spürte ich die Trauer meines damaligen Oberarztes, die Trauer, dass eine so junge Frau so frühzeitig ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Auch im Rahmen meiner Gespräche im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit über die Primärpersönlichkeit endogen depressiver Patienten wurde mir deutlich, dass Mentzos die Trauer beim Entstehen der Depression als wesentlich betrachtete. Wir wussten beide, dass in der Depression die Trauer stecken geblieben ist. In diesem Sinne unterschied er sich deutlich von den Stoikern, die ja die Trauer nicht als einen sehr wichtigen Affekt betrachten konnten. Ich habe Mentzos nie als zerstreut wahrgenommen. Wenn ich seine Präsenz benötigte, war er präsent. So kann man sagen, dass er eine Beziehung zur Zeit hatte, die die Kostbarkeit der Zeit – siehe Seneca – erkannte. Mentzos glaubte an das Gute im Menschen. Er trat dafür ein, Leid kreativ zu nutzen. Er lehnte die Pathologisierung von Menschen und Patienten ab. In diesem Sinne lebte er wie ein Stoiker, der die Überzeugung vertritt, dass eine vernünftige Seele den Nächsten lieben sollte. Mentzos gehörte zu den Menschen, die viel Freude aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit gewinnen konnten. Er war ein Kliniker, der an manchen Tagen acht bis zehn Stunden mit Patienten arbeitete. Dies zeigt, wie sehr er seinen leidenden Patienten zugetan war. Nicht nur die Vernunft, sondern auch die Selbstgenügsamkeit war für ihn ein hohes Gut. In diesem Sinne war er sowohl stoisch als auch epikureisch. Wie stand Stavros Mentzos zum Thema Liebe? Wir Analytiker sprechen sehr wenig über dieses so wichtige Thema miteinander. Stavros Mentzos war als Psychoanalytiker stets auch Arzt und Psychiater, der seine Patienten im Wesen erkennen und anerkennen wollte. Dies bedeutet, dass er zu lieben vermochte. Er war ein Mensch, der Disziplin hochschätzte. Er war nie unpünktlich. Ich denke, dass er die von den Stoikern so hoch geschätzte Disziplinierung der Vorstellungen, des Begehrens und des Handelns schätzte, auch wenn er die spontane freie Assoziation als Grundmethode der Psychoanalyse ausübte. Durch seine Gelassenheit in den Beziehungen zu seinen Patientinnen und Patienten schuf er einen sicheren und geborgenen Ort. Die Lateiner sagten: »Nihil nisi bene de mortuis.« So könnte man auch meine Bemerkungen und Sichtweisen auf Mentzos verstehen: als wertschätzende Erinnerungen an einen verehrten Lehrer, der in mir als Vorbild weiter fortlebt. Wenn man sagt, dass selbst noch das kleinste Haar einen Schatten habe, und man demzufolge fragen könnte, wo denn der Schatten von Stavros Mentzos zu finden sei, so würde ich sagen: »Er konnte nicht hassen«, zumindest erweckte er bei mir diesen Eindruck. Ich glaube aber, dass hinter der Mentzos’schen Apathie, Ataraxie und Autarkie ein emotionaler und leidenschaftlicher Grieche verborgen war.

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Porträt aus dem Jahre 1993 (D. M.)

Jannis S. Kontos

Das Negative als Konsequenz der mütterlichen Psychose – der Fall Antigone1 Für Stavros Mentzos in Dankbarkeit

Prolog Mentzos definiert den psychotischen Konflikt als ein Dilemma zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen. Er spricht dabei von »defensiven Vorgängen« und von »archaische[n], primitive[n] und sich auf einer sehr niedrigen Organisationsstufe entwickelnde[n] Prozesse[n]« (2001, S. 402; ausführlich Mentzos, 2009). Ziel meines Beitrags ist es, die Auswirkung dieser Prozesse in der Eltern-Kind-Beziehung am Beispiel von Antigone, der Tochter einer psycho­tischen Mutter, zu verstehen. In meiner psychoanalytischen Praxis sind mir einige Patientinnen begegnet, die in einer solchen Konstellation aufgewachsen sind. Aus der Begleitung dieser schwer gestörten, aber nicht psychotischen Frauen heraus habe ich einen Behandlungsansatz entwickelt, den ich anhand des Falls Antigone darlegen möchte. Bevor wir uns aber in diesen Fall vertiefen, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, mich mit der Persönlichkeit Stavros Mentzos’ zu befassen, denn meine ihm gewidmete Arbeit ist, wenn nicht direkt, so doch indirekt sehr von ihm beeinflusst. Um dies darzustellen, muss ich weit ausholen. Die Studentenbewegung der 1968er Jahre hatte auch mich – zur damaligen Zeit mit einer Soziologie-­ Studentin und Adorno-Schülerin verheiratet – erfasst. Ich hatte gerade die Medizinalassistentenzeit beendet und meine Pläne, mich mit der Herzchirurgie zu beschäftigen, waren nicht mehr aktuell. Ich entdeckte, wie viele andere in dieser Zeit, die Psychoanalyse und war stark damit beschäftigt, mich in dieser fremden und neuen Wissenschaft zurechtzufinden. Für das tägliche Brot arbeitete ich als Assistent in einem Belegkrankenhaus in Frankfurt am Main. Als ich erfuhr, dass es das Sigmund-Freud-Institut (SFI) in Frankfurt gibt, bewarb ich mich und wurde zur Ausbildung zugelassen. 1 Diese Arbeit wurde bei der Hellenischen Psychoanalytischen Gesellschaft im Juni 2007 vorgetragen und im Rahmen der »Erinnerungen an Stavros Mentzos« überarbeitet und ergänzt.

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Was nun? Die entfremdete Arbeit im Belegkrankenhaus war nicht im Geringsten befriedigend, der einzige Ausweg war die Psychiatrische Klinik. Mir wurde zugetragen, dass es dort einen griechischen Oberarzt namens »Soundso« gebe, der sogar Psychoanalytiker sei. Es war der damalige Privatdozent Stavros Mentzos. Von Interesse ist das erste Gespräch mit ihm: Ich rief ihn eines Tages an, sagte, ich sei ein Mediziner aus Griechenland, und fragte am Telefon gleich, ob wir griechisch oder deutsch miteinander sprechen wollen. Mentzos sagte entschieden: »Deutsch!« Das war bedeutungsträchtig, denn als ich später sein Assistent geworden war, hat er niemals auch nur die geringste Unterscheidung zwischen seinen deutschen Assistenten und mir gemacht. Ganz selten, wenn wir allein waren, haben wir griechisch gesprochen. Ich wurde bald in der Psychiatrischen Klinik aufgenommen und begann meine neurologisch-psychiatrische Facharztausbildung Anfang 1970, zugleich fing ich mit der psychoanalytischen Ausbildung an. Zur Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik kam ich im Jahr 1973, erst im Rahmen meiner Facharztausbildung und bald danach als Assistent. Es waren noch die Anfänge dieser Abteilung auch für Mentzos als Abteilungsleiter – komplizierte Jahre, denn solche Abteilungen gab es bis dahin in Deutschland nicht. Wenn ich mich nicht irre, waren alle Assistentinnen und Assistenten der Abteilung zugleich Ausbildungsteilnehmende am SFI, also auf der Suche nach einer psychoanalytischen Identität. Dies wurde zu einem Hauptkonflikt in der Abteilung – zwischen der Zugehörigkeit zur Abteilung für Psychotherapie und zum SFI, das wie ein strenges Über-Ich über unsere Ausbildung wachte. Einige entschieden sich später für das SFI. Dieser Konflikt wurde kaum offen ausgetragen. Mentzos war nicht der Professor, der über seine Assistenten herrschen wollte, er ließ uns frei unseren Weg gehen. Vielleicht war auch er in dieser Zeit auf der Suche nach seiner Identität, aber auf einer ganz anderen Ebene. Ich erinnere mich, wie er morgens mit einer mit Büchern vollgestopften Aktentasche kam und wollte, dass wir Anfänger uns wie er mit allen möglichen theoretischen Richtungen befassten und auseinandersetzten. So schrieb er sich seinen eigenen Weg, ein Buch nach dem anderen. Erst in den 1980er Jahren hat er seinen Platz als Psychosenforscher gefunden. Eng mit dem Schreiben von Artikeln und Büchern hängt seine Tätigkeit als Obergutachter beim Gericht zusammen, die ich damals, wie ich meine, als Einziger in der Abteilung miterleben konnte. In einer ersten Phase überließ er mir das Studium der Gerichtsakten und die Interviews mit den Angeklagten, und danach habe ich ihm meine Ergebnisse mitgeteilt. Später haben wir Interview und Akte wie bei allen neu angekommenen Patienten in der Interview-Konferenz mit der ganzen Abteilung besprochen. Das Erstaunliche und Bewunderns-

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werte war die Fähigkeit von Mentzos, das Ergebnis aller Überlegungen sprachlich so gekonnt zusammenzufassen, dass er es einfach herunterdiktieren konnte. Diese Fähigkeit kann man beim Lesen seiner Bücher leicht feststellen, obwohl Deutsch nicht seine Muttersprache war! Als Letztes aus diesen Jahren möchte ich kurz seine schon in der Psychiatrischen Klinik ausgeübte Tätigkeit als zuständiger Psychiater für griechische »Gastarbeiter« erwähnen. Diese Tätigkeit hat er bald mir überlassen2 – und daraus ist eine für mich folgenreiche Konsequenz entstanden, nämlich in meiner Privatpraxis in Athen keine Patienten auszuwählen, sondern immer zu überlegen, was ich mit der psychoanalytischen Methode für sie tun könnte. Sicher hat dabei Mentzos’ Umgang mit psychotischen Patienten eine Rolle gespielt. Ich kann mich lebhaft erinnern, wie manche seiner Patienten frühmorgens gegen seine Tür donnerten, weil er noch nicht angekommen war. Aber Mentzos war nicht aus der Ruhe zu bringen – er verkörperte, was Bion mit dem Begriff der Negative Capability sagen wollte. Nach meiner Rückkehr nach Athen habe ich die Arbeit mit psychotischen Patienten nicht fortgesetzt, weil mir der notwendige Hintergrund an psychia­ trischer Betreuung fehlte, den ich in Frankfurt hatte. Ich kam jedoch reich an theoretischer wie praktischer Erfahrung mit sehr schwierigen Patienten zurück, so dass ich mir auch weiterhin die Behandlung schwer gestörter Patientinnen und Patienten zutraute. Im Laufe der Jahre, insbesondere in der psycho­ analytischen Behandlung von Töchtern (auch) psychotischer Mütter, konnte ich eine eigene Theorie über die »lebend-toten« Patientinnen entwickeln – diese Töchter waren manchmal mit offenen oder versteckten Todeswünschen ihrer Mütter konfrontiert. So erlebte etwa Antigone die Reaktion ihrer Mutter, als sie ankündigte, in den Urlaub zu fahren: »Wie kann eine Mutter ihrem Kind, das in Urlaub fährt, sagen: ›Du brauchst nicht anrufen – wenn etwas passiert, erfahre ich das sowieso von der Polizei!‹?«

Einführende Gedanken zum Fall Antigone Antigone war die Tochter einer psychotischen Mutter und wurde zeitweise von ihrer Großmutter aufgezogen. Ich möchte das umfangreiche klinische Material aus ihrer Analyse nutzen, um hier jene Elemente des Negativen aufzuzeigen, die meines Erachtens Folge der mütterlichen Psychose sind: erstens die psycho­tische Dimension negativer Halluzinationen (Green) und zweitens die 2 Ich glaube, diese Entlastung hat ihm wohlgetan.

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negative Dimension des intermediären Raums (Winnicott). Ich werde auch auf die psycho­analytische Technik des aktiven Schweigens eingehen, durch welches die Abwesenheit in der Übertragung aktuell werden und so das frühe Trauma in einer haltenden analytischen Beziehung durchgearbeitet werden kann. Fokus meiner Untersuchung ist der mütterliche Beitrag zur Psychisierung des Kindes in ihren physiologischen wie auch pathologischen Dimensionen (Kontos, 2003, 2004, 2010, 2011, 2012, 2014). Mein Ausgangspunkt ist Winnicotts Satz »So etwas wie ein Baby gibt es nicht« (Winnicott, 1960/1990, S. 39; eigene Übers.3). Der mütterliche Beitrag wird in der psychoanalytischen Theorie gewöhnlich als derjenige eines bedürfnisbefriedigenden und beschützenden Objekts bezogen auf den Säugling als Subjekt untersucht. Was aber geschieht, wenn wir die Mutter als Subjekt betrachten, als agierend und nicht nur als reagierend, als äußeres reales Objekt und nicht als innere Imago? Nicht als schützende, sondern als traumatisierende Instanz? Winnicott hat die Bedeutung der Mutter in der frühesten Entwicklung betont und sie die »Umweltmutter« genannt. In einem seiner letzten Artikel beschäftigte er sich eingehend mit dem Prozess, der notwendig ist, damit ein inneres subjektives Objekt zu einem »äußeren« objektiven Objekt und somit real werden kann. Der Prozess führt dazu, »dass das Subjekt das Objekt außerhalb des Bereichs seiner eigenen omnipotenten Kontrolle ansiedelt; es handelt sich also darum, dass das Subjekt das Objekt als ein äußeres Phänomen und nicht als etwas Projiziertes wahrnimmt, also letzten Endes um die Anerkennung des Objekts als ein Wesen mit eigenem Recht« (1969, S. 713). Weiterhin sagt Winnicott: »Es ist die Zerstörung des (subjektiven) Objekts, die das Objekt außerhalb des omnipotenten Kontrollbereichs des Subjekts ansiedelt. Dadurch entwickelt das Objekt seine Autonomie und ein eigenes Leben, und […] trägt zum Subjekt bei, entsprechend seinen eigenen Eigenschaften« (S. 713, Hervorh. von J. S. K.). Folgerichtig spricht Winnicott von der Bedeutung der »aktuellen elterlichen Präsenz« und stellt fest, dass »es einen Unterschied macht, ob die Eltern da sind oder nicht, eine Beziehung eingehen können oder nicht, psychisch gesund oder krank sind, eine freie oder rigide Persönlichkeit haben« (1989, S. 242). Im dritten Abschnitt seines Beitrags zur Aggression (1950/1992), der die »äußere Natur des Objekts« betrifft, geht Winnicott noch weiter und sagt: »In den sehr frühen Entwicklungsstadien ist es die Umwelt, die eindringt (impingement), und die Lebenskraft wird für die Reaktionen auf die Eingriffe verwandt.« Er fährt fort: »Im Extremfall werden Impulse kaum als Erfahrung von Sponta­ neität, sondern fast nur als Reaktionen erlebt, und das Ich (me) wird nicht 3 Alle Zitate wurden von der Übersetzerin ins Deutsche gebracht.

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etabliert. Stattdessen finden wir eine Entwicklung, die auf der Erfahrung von Reaktion auf Übergriffe basiert, und ein Individuum entsteht, das wir falsch nennen, weil die persönliche Impulsivität (d. h. Spontaneität) fehlt« (S. 216 f.; Hervorh. von J. S. K.). Wenn die Mutter psychotisch ist, wie im Fall von Antigone, treffen wir nun auf klinische Bilder, die viel pathologischer sind als ein falsches Selbst, mit Symptomen der Leere, Abwesenheit und Nicht-Existenz, die nach Green (1999) charakteristisch sind für die Domäne des Negativen. In diesem Fall ist es die fehlende Verfügbarkeit oder Erreichbarkeit des Objekts, die dazu führen kann, dass selbstbezogene Tendenzen verkümmern und es zu einer pathologischen Überbetonung objektbezogener Tendenzen kommt.

Die psychotische Dimension der negativen Halluzination Ich möchte mit einem englischen Märchen beginnen, das ich meinen Kindern oft vorgelesen habe: Der kleine Johny hatte den ganzen Tag gespielt und war abends sehr müde. Er aß sein Abendessen, und während er sich für das Bett fertig machte, spielte er mit einem Pflaumenkern in seinem Mund herum, den er einfach auf den Holzfußboden spuckte, als er ins Bett ging und sich unter die Decke kuschelte. Er traute seinen Augen nicht, als er kurz darauf sah, wie der Pflaumenkern Wurzeln zu schlagen begann, zu einem Baum wuchs, Blätter bekam, und die Wurzeln drangen durch den Fußboden und rankten sich durch das Zimmer darunter, bis sie den Erdboden erreichten. Der Baum wurde größer und größer, er füllte den ganzen Raum aus und seine Äste wurden so dick, dass man eine Schaukel daran aufhängen oder ein Baumhaus darin bauen konnte, in dem man mit seiner Schwester spielen konnte – und noch viele, viele andere Dinge –, bis Johny plötzlich spürte, dass seine Mutter ihn an der Schulter rüttelte. Sie sagte, es sei Zeit, aufzustehen und zum Kindergarten zu gehen. Der Bursche klettere aus dem Bett, schaute sich um und sah, dass sein Schlafzimmer wie immer aussah, dass kein Baum darin stand, und er begann zu schreien: »Wer hat mir keine Pflaume in den Mund gesteckt?!« Wir erkennen in diesem Märchen Elemente des Negativen. Das Erwachen konfrontiert das Kind mit der Realität der Abwesenheit. Das Kind reagiert mit der Ablehnung dieser Realität und greift das Objekt aus Frustrationsintoleranz an. In einer negierenden Wendung fragt das Kind: »Wo ist der ›Nicht-Baum?‹« Der Baum des Traumes wird zum »Nicht-Baum« der Realität. Es handelt sich um eine für die kindliche Psyche potenziell verfügbare Bewältigung der Abwesenheit im Sinne animistischen Denkens, wie Freud in einer Fußnote seiner

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»Traumdeutung« ausführt. Dort schildert er die Reaktion eines zehnjährigen Knaben auf den Tod seines Vaters, der sagt, »daß der Vater gestorben ist, verstehe ich, aber warum er nicht zum Nachtmahl nach Hause kommt, kann ich mir nicht erklären« (zit. nach Botella u. Botella, 2005, S. 23). Das Märchen fiel mir während einer Sitzung mit Antigone wieder ein, deren Fokus auf der »Abwesenheit« der (psychotischen) Mutter lag. In dieser Sitzung versuchte Antigone, die »Eigenarten« ihrer Mutter nicht als psychotisch, sondern als das, was Green den normalen Wahnsinn nennt (1999, S. 10), zu beschreiben, und sagte: »Meine Mutter findet, ich soll keinen Baum in meinen Garten pflanzen, um meinen Nachbarn nicht zu stören, aber der Nachbar kann natürlich einen Baum haben, dessen Äste in meinen Garten hängen.« Die eigenartige Begründung der Mutter, bei der sie zwei verschiedene Maßstäbe anlegte und zwei unterschiedliche Haltungen zum selben Thema einnahm, löste bei Antigone große Verwirrung aus. Wir erkannten, dass sie diese Verwirrung bisher dadurch gelöst hatte, dass sie die Präsenz des »Nicht-Baumes«, wie ich ihn nannte, durch Spaltung und Verleugnung akzeptierte, das heißt, sie akzeptierte das »Veto« der Mutter (auf diese Weise war die Mutter präsent) und pflanzte keine Bäume in ihrem Garten, gleichzeitig suchte sie Zuflucht in halluzinatorischer Wunscherfüllung (der Baum des Nachbarn), um das Fehlen des Baumes auszugleichen, den sie sich in ihrem eigenen Garten wünschte. Hier zeigt sich ihr Versuch, den Kontakt zur Mutter zu halten und sie zugleich halluzinatorisch als gutes Objekt zu retten. Antigone verleugnete lange Zeit die Psychose der Mutter; erst spät in der Analyse konnte sie die mütterliche Psychose akzeptieren. Erst dann konnte sie beispielsweise von einer wahnhaften Periode ihrer Mutter berichten, in der diese den Vater des Ehebruchs bezichtigt und sich Beweise dafür eingebildet hatte. Lassen Sie uns die Implikationen des »Nicht-Baumes« näher betrachten. In gewissem Sinn ist er »real«, weil Antigone, indem sie einen Substitutionsmechanismus anwandte, einen Baum im leeren Raum »sah« (sich vorstellte), wenn sie in ihren Garten blickte – wie Johny gemäß den Regeln der Darstellbarkeit im Traum einen Baum »sieht«, wodurch ein Wunsch, etwa nach Anwesenheit der Mutter, mit der man allerhand anstellen kann, symbolisiert wird: Der »Baum«, der nicht da war, der aber da sein sollte. Es war Antigones emotionale Reaktion, die mich an diesen Verleugnungsmechanismus denken ließ. Sie hatte die emotionale Abwesenheit der Mutter »wie eine Leere« in ihrer eigenen Psyche erlebt, anstatt einer depressiven Reaktion, die den Verlust des Objekts charakterisiert (Green, 1986, S. 167). Diese Formulierung ist eine Anspielung auf Bions Beschreibung des psychischen Raums als »ein Ort, an dem sich die Brust oder ein anderes verlorenes Objekt befand« (1970/1993, S. 10), also der

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Ort, an dem ein »Nicht-Ding« (no-thing) ist. Das »Nicht-Ding« hat den freien Platz des Dings oder des Raums eingenommen, von dem er besetzt sein sollte; der »Nicht-Baum« ist gleichsam »die Gegenwart einer Abwesenheit« (LopezCorvo, 2003, S. 55). Green definiert sie als die Repräsentanz der Abwesenheit der Repräsentanz (1999, S. 196). Wenn Antigone psychotisch gewesen wäre, hätten wir von einer visuellen Halluzination oder, nach Bion, einer unsichtbar-visuellen (invisible-visual) Halluzination (Lopez-Corvo, 2003, S. 153) gesprochen, weil, wie sie selbst sagte: »Man muss verrückt sein, um die Existenz eines ›Nicht-Baumes‹ zu akzeptieren.« Meines Erachtens handelt es sich hier jedoch um die psychotische Dimension der negativen Halluzination: Während bei der negativen Halluzination eine Leere vorherrscht, ist der nicht existierende (weil nicht von ihr gepflanzte) »Baum« in der psychotischen Dimension real – weil der »Baum« ihrer Halluzination womöglich die reale Nicht-Existenz von emotionaler Mütterlichkeit symbolisiert, die ihre psychotische Mutter nicht entwickeln konnte.4 Wer ist Antigone? Sie ist die zweite von drei Töchtern einer psychotischen Mutter, wobei die jüngere Schwester an einer schizophrenen Psychose litt und die ältere sich einbildete, eine Beziehung zu haben, die seit Jahren nicht mehr existierte – was ihr aber erlaubte, im Alltag gut zu funktionieren. Der Vater war eine gutmütige, liebende, der Wissenschaft hingegebene und in den frühen und entscheidenden Jahren für seine Kinder abwesende Person. Weil die Mutter nach Antigones Geburt schnell wieder schwanger wurde, bekam Antigone, als sie wenige Monate alt war, in ihrer Großmutter mütterlicherseits (eine Frau erst in ihren Vierzigern) eine Art zweite Mutter, die sie als ihre »Rettung« bezeichnete. In ihrer Großmutter hatte Antigone anscheinend eine Mutter gefunden, die »ausreichend gut« war. In ihrer frühen Kindheit lebte sie teilweise bei ihrer Großmutter, die in einer anderen Stadt wohnte, und teilweise bei ihrer Mutter, was zu einer Spaltung sowohl in ihrem Leben als auch in ihrer Struktur führte. »Es ist, als ob ich zwei verschiedene Leben lebte, als wenn in mir zwei Welten wären, zwei Antigones«, sagte sie in einer Sitzung. Auf der einen Seite hatte sie einen lebhaften, kreativen – wenn auch etwas hyperaktiven – Persönlichkeitsanteil als Konsequenz der Identifikation mit ihrer Großmutter, zum Teil auch mit ihrem Vater, der beruflich sehr engagiert war. Auf der Grundlage dieser positiven Identifikationen gelang es Antigone, ihre ambitionierten beruflichen Ziele zu erreichen, eine Familie zu gründen und eine Analyse zu erwägen. 4 Im Hinblick auf eine Patientin, deren Eltern in ihrer Kindheit abwesend waren und die in einer Sitzung von ihren negativen Erfahrungen berichtete, sagt Winnicott (1971, S. 22): »Die Decke (in einer nicht direkt erreichbaren Ecke des Zimmers), die nicht da ist (weil sie sie nicht holt), ist realer als die Decke, die der Analytiker bringen könnte.«

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Antigone hatte aber auch eine andere, archaische Seite. Wenn diese Seite zum Vorschein kam, sagte sie: »Ich fühle mich wie eine Außerirdische, wie jemand aus einer anderen Welt.« Zu Hause bei der Mutter fühlte sie sich wie eine Fremde; sie hatte das Gefühl, in der Beziehung zu ihrer Mutter »immer unter dem Tisch zu sitzen«. Sie erkannte, dass sie nicht die gleiche, scheinbar entspannte Haltung wie ihre Schwestern hatte; es war, als brauche sie jedes Mal die Erlaubnis ihrer Mutter, um sich ihren Alltagsdingen zuzuwenden. Eine Szene, in der sie sich als sehr kleines Kind bei ihrer älteren Schwester vergewissert hatte, dass die Dame, die sie gerade sah, ihre Mutter war, kam ihr während der ersten Phase ihrer Analyse oft in den Sinn. Sie sagte, über diese Entfremdung sprechend: »Wie kann man denn in einem Hotel sein und sich zu Hause fühlen?« Während der Schulzeit fühlte sie sich den anderen Kindern gegenüber fremd und verschieden. Sie ging lieber allein zu Fuß zur Schule, statt den Schulbus zu nehmen. »Stellen Sie sich vor, wie ich mich gefühlt haben muss, wenn ich all das auf mich genommen habe, um nicht mit den anderen Kindern zusammen zu sein!« Im Klassenraum saß sie, metaphorisch gesprochen, konstant »unter dem Tisch«. Sie beobachtete die anderen Kinder und versuchte, sie zu imitieren. Das Thema Imitation kam in der Analyse auch in Bezug auf ihre Sexualität auf. Man kann hier das Fehlen der verführenden Mutter und in der Folge das Fehlen der Erotisierung des kindlichen Körpers erkennen. Antigone sagte: »Mutter hat uns nie berührt, vielleicht gab es zu Weihnachten mal einen Kuss.« Ein typisches Beispiel für ihre Leere und ihr Gefühl, dass ihr »etwas« fehle, war ihre Überzeugung, dass ihre Genitalregion wie bei Schaufensterpuppen sei. Bis zu ihrer ersten sexuellen Erfahrung dachte sie, ihre Genitalregion sei »irgendwie durch eine Membran verschlossen« und der Mann würde mit seinem Penis in ihr Inneres stoßen – sie hatte jedoch kein Gefühl und keine Vorstellung von einem inneren Raum. Es bedurfte vieler Jahre sexueller Erfahrung und sie musste sich viel Mühe geben, bis sie sexuelle Lust und, mit Winnicott gesprochen, das Innewohnen der Psyche im Soma (»indwelling of the psyche in the body«) verspüren konnte (1989, S. 262). Die »Mühe« beinhaltete die Imitation der sexuellen Erfahrungen, die ihr Freundinnen beschrieben, bevor sie schließlich selbst einen Orgasmus erleben konnte. Später erkannte sie in der Analyse, dass sie keine eigenen Phantasien und Vorstellungen über den Sexualakt hatte, sondern dass sie im Wesentlichen versuchte, das zu erleben, was den Hinweisen anderer Frauen zufolge möglich war. In einer Sitzung erzählte sie mir Folgendes: Sie phantasierte während des Koitus, dass sie eine Beobachterin war und dass im Koitus eine andere Frau in ihrer Rolle war und sie – in ihrer Phantasie – versuchte, nach und nach an die Stelle der »anderen« Frau zu kommen und dadurch Lust und Orgasmus zu erleben. Ich muss kaum hinzufügen, dass

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Antigones sexuelles Leben mit der gleichzeitigen Beziehung zu zwei Männern begann, zwischen denen sie sich nicht entscheiden konnte. Antigone nannte die Leere in ihrem psychischen Raum (ihren leeren Garten) eine »leere Blase«. Sie sagte oft: »Ich bin eine Blase mit zwei Augen«, »Ich bin nur eine Hülle ohne Inhalt« oder »Eine ganze Welt um mich herum und ich bin nur Hülle und Augen«, und sie klagte: »Die Menschen in mir sind wie Schatten.« Green meint, dass man die negative Halluzination sekundär an den sie begleitenden intensiven Gefühlen erkennt. Demnach ist die »von Gefühlen leere Blase« Antigones ein Symbol für die nicht existente Beziehung zur (psychotischen) Mutter – wenn man Beziehung als ein Geflecht von gegenseitigen Gefühlen definiert (Kontos, 2014). Um diese Leere der negativen Halluzinationen zu füllen, suchte Antigone mitunter Zuflucht in pathologischen Verschmelzungsphantasien: In solchen Momenten hatte sie den übermächtigen Wunsch, vollständig in den anderen einzudringen – unbewusst wohl in den Körper der Mutter im Sinne einer Mutterleibsphantasie. Dieser Wunsch richtete sich auf ihren Mann und später auf ihr Kind und wurde von einem Gefühl von Ekstase begleitet.

Das Negative und die Abwesenheit des Objekts Nach Green gibt es zwei Möglichkeiten der »Abwesenheit« des Objekts. Die eine bezieht sich auf den Verlust des Objekts, der Trauer und Wut evoziert, die andere betrifft die Nicht-Präsenz des Objekts, die zu einer negativen Halluzination führt: »Als eine Folge unerträglicher Separation, jene, welche für gewöhnlich in Form von Aggression beschrieben wird, kann sich Wut, Zerstörung usw. in ganz anderer Weise manifestieren. Mit Winnicotts Worten kommt es zu einem Verblassen (fading) der inneren Repräsentanz, mit meinen Worten zu einer destruktiven negativen Halluzination des Objekts« (1997, S. 218). In Antigones Fall bestanden die Konsequenzen darin, dass es verschiedene »NichtSituationen« zu geben schien. Zum besseren Verständnis möchte ich auf Bion rekurrieren, der schreibt, dass manche Patienten »einen Schmerz empfinden, aber ihn nicht spüren (suffer) können«, und im Hinblick auf Lust, dass sie »Gefühle nicht fühlen, aber eine Vorstellung haben, eine Halluzination von etwas, das nicht da ist« (1970/1993, S. 9). Der Patient »weiß« auf halluzinatorische Art und ist gleichzeitig unfähig, irgendetwas zu fühlen – wie eine Blase. Das ist eine »Nicht-Beziehung«. In Antigones Analyse benutzte ich den Begriff »Nicht-Beziehung«, als sie mich ihren Retter und die wichtigste Person in ihrem Leben nannte und ich »leeren« Worten lauschte.

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Das war meine Gegenübertragungsreaktion auf die psychotische Dimension ihrer Beziehung zu ihrer Mutter, während die Patientin sich auf die gedankliche Konstruktion bezog, dass die Beziehung zu ihrer Großmutter ihre Rettung gewesen sei. Antigone sprach in der Übertragung über eine »lauwarme« Beziehung zu mir. In einer Sitzung rief sie: »Ja, ich mag es nicht, mit einem Foto zusammen zu sein. Das sind Sie für mich, ein Foto in meinem Kopf, wie das von meiner Mutter, als ich bei meiner Großmutter lebte. Wie um alles auf der Welt kann man eine Beziehung mit einem Foto haben?! Ich mag diese Beziehung nicht; später, wenn die Analyse vorbei ist und Sie real werden, kann ich vielleicht eine Beziehung zu Ihnen haben.« Ich hatte nicht das leiseste Gefühl, dass sie – aus welchem Grund auch immer – gern zur Analyse kam oder irgendeine Form von Sehnsucht danach hatte. Nicht nur, dass sie nie frühzeitig zur Analyse kam oder dass sie sehr selten pünktlich war, sie ließ die Sitzungen auch oft ausfallen. »Es ist mir unmöglich, mich auf eine Beziehung einzulassen, warum nur?«, sagte sie. Ich nahm an, dass der Terror, mit ihren archaischen Erfahrungen in Berührung zu kommen (Winnicott, 1974), sie fortwährend in Bewegung hielt  – »Herumrasen« nannten wir dies. Es bedurfte zwei Jahre gemeinsamer Arbeit, bevor sie meine Interpretation akzeptieren konnte, dass sie »herumraste«, um jeden Kontakt mit dem unerträglichen Schmerz über die Nicht-Existenz ihrer Mutter bzw. über die besonders erschreckende Existenz einer psychotischen Mutter (Potamianou, 1984) zu vermeiden. Die Nicht-Beziehung tauchte auch im Initialtraum dieser Patientin auf, der uns beide zeigte, nur dass ich schielte und unsere Blicke sich dadurch nicht begegnen konnten. Im nächsten Traum, in dem ich als Person vorkam, war ich ein »anziehender« Mann für sie, nur dass ich dieses Mal – leider – homosexuell war. Vergleichbar mit der Nicht-Beziehung war die »Nicht-Heirat«. Die Ankündigung ihrer Heirat kurz nach Beginn ihrer Analyse war für mich eine große Überraschung, weil ich keinerlei Information davon gehabt hatte, dass Antigone sich in einer so ernsthaften Beziehung befand. Es dauerte einige Zeit, bis ich erkennen konnte, dass diese Beziehung bereits lange Zeit bestand. Ich habe dann interpretiert, dass sie die Präsenz des Analytikers brauchte, um den Schritt in die Ehe gehen zu können (d. h., eine Beziehung eingehen zu können) und in ihrem Leben voranzukommen. Tatsächlich hatte das Grauen vor einer engen Beziehung mit ihrem späteren Ehemann sie in der Vergangenheit dazu gezwungen, die Beziehung zu ihm in einem frühen Stadium abzubrechen und eine andere Beziehung zu suchen, statt sich auf ihn festzulegen: »Der Gedanke, den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen, machte mich furchtbar depressiv – es war verrückt, ich konnte es nicht begreifen.« Die Folge war, dass sie manchmal nach einer am Samstag erlebten verschmelzenden sexuellen Vereinigung (d. h. der Nachbar-Ehe-

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mann ihren »Garten« »betretend«) am Sonntag Ausflüchte erfand und ihn verließ, obwohl sie ein gemeinsames Wochenende geplant hatten. Durch den Mechanismus, sich selbst zu »entleeren« (evacuating), versuchte sie, dem Grauen einer Beziehung zu entfliehen. Gleichzeitig aber »blutete ihr Herz« durch seine Abwesenheit. Wie man sieht, hatte sie auch während der Behandlung erreicht, dass sie zwei wichtige Beziehungen parallel unterhielt: zum Analytiker und zum Ehemann. Die Erfahrung des »Nicht-Kindes« hatte tragische Züge. Auch Antigone wurde sehr schnell nach der Geburt ihres ersten Kindes wieder schwanger, wie ihre Mutter, und sie fühlte sich nicht »verfügbar«, eine solch enge Beziehung noch einmal zu erleben, wie sie später in der Analyse erkannte. Sie kehrte sehr schnell an ihren Arbeitsplatz zurück und »vergaß« die Existenz des Kindes, wenn sie nach Hause kam, womöglich in der Identifikation mit ihrer Mutter. Sie hatte das Gefühl, bei den Umarmungen und Spielen nicht anwesend zu sein. »Ich war nicht bereit. Sogar während der Schwangerschaft dachte ich immer: Gott, wie soll ich das ertragen? Ich war erschöpft nach meinem ersten Kind.« Bei diesem hatte sie zwanghaft versucht, einen fusionalen Zustand herzustellen. Mit dem zweiten Kind erlebte sie all die Auswirkungen der Abwesenheit von Besetzung – das heißt, sie war schon während der Schwangerschaft nicht dazu in der Lage gewesen, einen psychischen Kontakt zu ihrem Baby zu finden. Sie hatte das Gefühl, es sei ihr fremd – sie versuchte, dieses Gefühl dadurch zu rationalisieren, dass sie bei dem notwendigen Kaiserschnitt ja nicht »anwesend« gewesen sei. Sie hielt manchmal das Kind in den Armen und versuchte, sich vorzustellen, wie es gewesen war, die Kleine in ihrem (Blasen-)Bauch zu haben, um sich selbst zu überzeugen, dass das Kind ihres war. Außerdem rief sie Gefühle in Erinnerung, die sie bei ihrem ersten Kind empfunden hatte. Sie wusste nicht, wie sie sich dem Baby gegenüber verhalten sollte, und versuchte, sich eine Mutter vorzustellen oder eher eine zu imitieren. Sie hatte ein »Nicht-Kind«. Es bedurfte großer Anstrengungen, zusammen mit dem interpretierenden Prozess in der Analyse, bevor sie ihr Kind psychisch containen konnte – eine Anstrengung ähnlich der, die für die Aneignung ihrer Sexualität notwendig gewesen war.5 5 Antigone erzählte später, dass die Tochter im Alter von vier oder fünf Jahren beim gemein­ samen Betrachten eines Fotoalbums über die Kleinkindzeit der Tochter, das Alltagssituationen zeigte, plötzlich gesagt hatte: »Lass uns weiterblättern – ich will diese Fotos nicht sehen, sie sind sehr traurig.« Im Alter von sieben Jahren klagte sie über Zustände der Depersonalisation: »Ich habe nicht immer das Gefühl, dass ich ich bin.« Im Alter von neun Jahren sagte sie zu Antigone: »Mami, streng dich nicht so an, es ist sinnlos. Wenn mein Herz diese Form hätte«, sie formte ein Herz mit ihren Händen, »dann würde deine Liebe es bis hier füllen« – und zeigte die Hälfte des Herzens. Das ältere Kind scheint auch ähnliche Erlebnisse gehabt zu haben, warum hätte es sonst gesagt: »Mami, ich bin froh, dass ich ich bin.«

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Die Erkenntnisse der »Nicht-Beziehung« sowie des Mangels an psychischem Kontakt mit ihrem zweiten Kind führten dazu, dass Antigone auch die gleichen Schwierigkeiten in der Übertragungsbeziehung erkennen und sich intensiver auf die Analyse einlassen konnte. Wir haben die Frequenz der wöchentlichen Sitzungen erhöht, denn bis dahin hatte sie sich stark dagegen gewehrt, ihre Kontrolle der analytischen Beziehung aufzugeben. Bis dahin – auch aufgrund ihres Fernbleibens – hatte der psychoanalytische Prozess gewissermaßen den Charakter einer »Psychotherapie« gehabt, das heißt, wir hatten uns eher mit aktuellen Ereignissen beschäftigt. Ich war überwiegend eine positive Übertragungsfigur, ähnlich der Großmutter, die sie auch später in ihrem Leben bei Bedarf nutzen konnte. Es war eine »Nicht-Analyse« in dem Sinn, dass sie die Regression vermied und damit auch jeden Kontakt mit dem ursprünglichen Trauma. Mit Mentzos könnte man von Psychotherapie in analytischer Haltung sprechen sowie von der Anpassung des Settings an die Möglichkeiten der Patientin, wodurch sich Schritt für Schritt ein tieferer analytischer Prozess entwickeln konnte.

Der negative intermediäre Raum Nicht-Existenz – und somit »leerer« psychischer Raum – ist ein negativer Bereich, weil er keinerlei Inhalt, keinerlei Repräsentanz oder Phantasie oder irgendein Gefühl enthalten (containen) kann – wie die Blase in Antigones Fall. Bion betont die negative Dimension (Abwesenheit oder Verlust) in seiner Definition des psychischen Raums mit den Worten: »ein Gefühl von Depression [ist] der Ort, wo die Brust oder ein anderes verlorenes Objekt war«, und psychischer »Raum [ist], wo Depression oder ein anderes Gefühl war« (1970/1993, S. 10). Für Winnicott hat Raum als ein intermediärer potenzieller Bereich hingegen einen positiven Wert (Green, 1986; Ogden, 1985, 1989; Davoine, 1989). Gibt es einen negativen intermediären Raum? Mit dieser Frage möchte ich mich nun bezogen auf die Analyse von Antigone befassen. Winnicott beschreibt »einen intermediären Bereich der Erfahrung«, der zwischen zwei »Welten« liegt, jenen der inneren und der äußeren Realität, »wobei beide zu ihm [dem Zwischenbereich] beitragen« (1971, S. 2). Es ist der Raum von Spiel, Kreativität, kultureller Erfahrung und Religion. Winnicott beschreibt diesen Bereich auch »als einen Ruheplatz für das Individuum, das mit der lebenslangen Aufgabe befasst ist, die innere und äußere Realität auseinander, aber in Wechselbeziehung zu halten« (S. 2). Auf die Entwicklung des Kindes bezogen definiert Winnicott den intermediären Raum als den Raum zwischen Mutter und Kind (1971, S. 41). Über-

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gangsphänomene und Übergangsobjekte gehören in diesen Raum. Sie sind »ein Symbol der Einheit von Baby und Mutter […]. Dieses Symbol […] steht an der Stelle in Raum und Zeit, wo das Kind beginnt, sich die Mutter nicht länger als Teil seiner selbst vorzustellen, sondern sie als Objekt wahrzunehmen.« Er fährt fort: »Die Verwendung eines (Übergangs-)Objekts symbolisiert die Einheit der jetzt voneinander getrennt erlebten Kind und Mutter, an der Stelle in Raum und Zeit, wo sich ihre Trennung vollzieht« (1971, S. 96 f.). Was geschieht, wenn es wie in Antigones Fall mehrere mütterliche Objekte gibt? Und was passiert, wenn die Mutter psychotisch ist? Kann dieser Raum auch dann ein Raum positiver Erfahrungen sein, von Spiel und kulturellen Beschäftigungen? Oder ist er nur eine Blase? In Antigones Fall lautet die Antwort: beides. Wenn wir davon ausgehen, dass es in diesem Fall zwei »Mütter« gibt, hat Antigone den Übergang von der fusionären Einheit (subjektives Objekt) zum objektiven Objekt als Verdopplung des Objekts erlebt und konnte keine Integration erzielen. Daher sagte sie oft, sie fühle sich »doppelt« und lebe zwei Leben. Bei frühen Traumata, bei denen die fusionäre Einheit gestört oder nicht möglich ist, kann auch keine Separation stattfinden, und der psychische Raum des Säuglings kann nicht als Container für die mütterlichen Reverie-Produkte dienen, weil in bestimmten Fällen das Aufzunehmende, in diesem Fall das psychotische und das gesunde Objekt, das Fassungsvermögen des Containers überschreitet (Bion, 1970/1993, S. 95). Psychisch sind zwei eindeutige Repräsentanzen von zwei Primärobjekten in der Konstellation Antigones unmöglich. Antigone erinnerte sich daran, in ihrer späteren Kindheit, als die Großeltern nach Athen übersiedelten und in der Nähe der elterlichen Wohnung wohnten, fortwährend zwischen dem Haus ihrer Eltern und dem nahen Haus ihrer Großmutter »hin- und hergerast« zu sein. Das oben bereits bemerkte »Herumrasen« wurde zu einem Schlüsselbegriff in der Analyse. Es scheint, als habe sie durch das Rasen versucht, jedes konkrete mütterliche Objekt am Leben zu halten, um den Sturz in eine Leere ohne Repräsentanz zu vermeiden, da der Verlust der Objektrepräsentanz in frühen Lebensphasen gleichbedeutend mit dem Verlust der Selbstrepräsentanz ist (Botella u. Botella, 2005). In ihrem Beruf »raste« sie später herum, um allen zu helfen, die mütterlicher Fürsorge bedurften – Antigone arbeitete als Psychotherapeutin in der Betreuung psychisch kranker Kinder. Mit Mentzos könnte dies als ebenso leidvolle wie kreative Überlebensstrategie verstanden werden, mit Zügen einer altruistischen Kompensation der fehlenden Mütterlichkeit. Diese Überlebensstrategie anzuerkennen und zugleich tiefere Konflikte bearbeitbar zu machen, ist eine große Herausforderung. Deshalb scheint mir hier ein Exkurs über Behandlungstechnik sinnvoll. An anderer Stelle habe ich

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bereits über die Haltung des aktiven Schweigens in der Arbeit mit schwer gestörten Patientinnen gesprochen (Kontos, 2015). Ich glaube, dass der von der Patientin oder vom Patienten empfundene Terror, wenn er den Zustand des Zusammenbruchs in frühen Lebensphasen wieder erlebt (Winnicott, 1974), eine »einfache« Interpretation des Analytikers nutzlos macht. »Es [ist] mehr als eine Interpretation notwendig, um eine psychische Veränderung bei diesen Patienten zu bewirken« (Stewart, zit. nach Eshel, 1998, S. 1126). Es ist eine Technik nötig, die die Regression des Patienten fördert, so dass das Durcharbeiten des frühen Traumas möglich wird. Daher bestand meine Haltung in Antigones Fall darin, Interventionen zu vermeiden, welche ausschließlich die »stützende Psychotherapie« aufrechterhalten hätten. Ich wendete aktives Schweigen an. In der Analyse von Antigone bedeutete dies, dass ich soweit möglich Äußerungen unterließ, welche zur Aufrechterhaltung ihrer Vermeidungsposition beigetragen hätten. Über einen langen Zeitraum blieb ich still – außer bei jenen Interventionen, die die Psychose der Mutter betrafen. Natürlich intervenierte ich auch, wann immer die innere Anspannung der Patientin dies erforderte. Dabei ist zu betonen, dass die Patientin den therapeutischen Zweck meiner Haltung kannte – andernfalls hätte ich sie sadistischen Erfahrungen ausgesetzt. Das aktive Schweigen kann als Technik zur kontrollierten Regression auf das ursprüngliche Trauma verstanden werden. Das aktive Schweigen des Analytikers beweist, dass die Abwesenheit existiert. »Wenn es ein ›Nicht-Ding‹ gibt, dann muss das ›Ding‹ existieren«, führt Bion aus (1965/2002, S. 103; Hervorh. von J. S. K.). Wenn die Patientin meine »Abwesenheit« in der haltenden analytischen Beziehung als Mangel und nicht als den Terror der Vernichtung (annihilation) erlebt, dann kann es auch eine (potenzielle) Anwesenheit geben. Schließlich ist Abwesenheit und Nicht-Existenz des Objekts eine Möglichkeit der Beziehung zum Objekt. Die Abwesenheit ist die Realität der emotionalen Beziehung; das heißt, (emotionale) Abwesenheit ist kennzeichnend für eine spezifische und daher reale und valide Beziehung (vgl. Green, 1997). Bei Antigone führte diese meine Haltung zur graduellen Regression auf das archaische Trauma der frühen Trennung und des Verlusts der (psychotischen) Mutter und daraus folgend zu einem graduellen Auftauchen von Gefühlen der Verzweiflung und des Schreckens der Vernichtung, was Botella und Botella den Schrecken der Abwesenheit nennen (2005). Zunächst stellte sie sich dem Zustand der Leere und akzeptierte meine Interventionen bezüglich des »Herumrasens« und ihrer zahlreichen Abwesenheiten von der Analyse (sie hatte fast ein Drittel der jährlichen Sitzungen ausfallen lassen, ein Verhalten, das nur auf ihre Analyse beschränkt war, denn sonst war Antigone eine zuverlässige Person). In einer Sitzung dieser Zeit erzählte sie eine Szene, die im Bereich zwischen dem Haus der Mutter und demjenigen der Großmutter stattfand und welche

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wir als die Darstellung des Negativen im intermediären Raum verstanden: Ein Obdachloser lag bewegungslos auf einer Bank, jemand, der in ihrer Phantasie ganz allein auf der Welt war. Sie blieb versteinert stehen und wartete so lange, bis er sich bewegte und sie sich damit vergewisserte, dass er nicht tot sei. Sie erinnerte sich anschließend, dass sie als Kind die Männer beneidet hatte, weil sie einfach auf einer Bank schlafen konnten, während sie als Mädchen nicht diese Möglichkeit hatte. Sie hatte damals gedacht, wenn sie eines Tages so weit »herunterkommen« würde, würde sie sich vor einer Polizeistation hinlegen – vielleicht in der Hoffnung, nicht für tot gehalten zu werden, sondern Sicherheit und Hilfe bei einer unbekannten schützenden Instanz zu finden. Im Raum zwischen ihrer Großmutter und ihrer Mutter befand sich Antigone zwischen Leben und Tod, wie eine »Obdachlose«, eine Ausgestoßene. Im »Raum« der Mutter herrschte emotionale Abwesenheit, absolute Leere, Nicht-Existenz, vor. Dies wurde symbolisiert durch den »Nicht-Telefonanruf«: Ihre Mutter rief sie nie an, als gäbe es sie nicht, als wäre sie tot. Praktisch bedeutete dies, dass der Kontakt mit der Mutter entweder durch die Patientin selbst aufrechterhalten wurde oder dadurch, dass die Mutter sich vielleicht bereit erklärte, auch mit ihr zu sprechen, wenn der Vater sie anrief, was er erst später regelmäßig tat. Dazwischen gab es nichts. Antigone erlebte ihre Mutter als völlig gleichgültig: »Wie kann eine Mutter ihrem Kind, das in Urlaub fährt, sagen: ›Du brauchst nicht anrufen – wenn etwas passiert, erfahre ich das sowieso von der Polizei!‹?« »Dass du dann tot bist, wäre die Fortsetzung des Gedankens«, sagte sie manchmal verzweifelt und herzzerreißend schluchzend. Das Schluchzen verwies auf den Verlust der Mutter bei der ersten Trennung, als sie zur Großmutter gebracht wurde,6 aber auch auf das Fehlen der Mutter als liebendes Objekt, als der obligatorische Andere. Antigone wusste aus Erzählungen, dass sie über einen langen Zeitraum bitterlich geweint hatte und nicht schlafen konnte, nachdem sie im Alter von wenigen Monaten zum ersten Mal zu ihrer Großmutter gebracht worden war. Der Erzählung zufolge bekam der Großvater Rückenprobleme, weil er sie so viel herumtragen musste. Die Mutter besuchte sie nie, wenn sie sich bei der Großmutter aufhielt. Das ist durchaus glaubhaft, denn die Abwesenheit und Nicht-Existenz der Mutter war ein konstantes Thema in der Analyse. Ogden schreibt: »Dieser Raum [der inter­ mediäre] muss als potentieller bleiben, weil der wirkliche Raum (verfrühte, starke Bewusstheit des Getrenntseins) eine Auflösung interpersoneller und intraperso6 Winnicott schreibt, passend zum hier berichteten Fall, dass der Säugling die Repräsentanz der Mutter nur für einen kurzen Zeitraum aufrechterhalten kann, wenn sie abwesend ist. Nach diesem Zeitraum wird die Mutter für »tot« gehalten und wird das für gewöhnlich auch bleiben, weil die Repräsentanz der Mutter nun erloschen ist (1971, S. 22). Das erklärt, warum Antigone ihre Schwester darum bat, die Identität der »fremden Frau« zu bestätigen.

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neller Verbundenheit zur Folge hätte und das Individuum allein lassen würde ohne Zugang entweder zum anderen oder zu sich selbst« (1989, S. 256 f.). Ich interpretierte das Schluchzen über den »Nicht-Telefonanruf« als Hinweis auf die herzergreifende Frage: »Wo ist meine (psychotische) Mutter?« Und: »Wer wird die leere Blase füllen?« Die Leere in der Psyche des Kindes entspricht der emotionalen Leere in der Psyche der Mutter. Sie zeigt sich im Fehlen von auf das Kind bezogenen Wünschen und Phantasien, was ich als fehlende »subjektive Besetzung« des Kindes problematisiert habe (Kontos, 2003). Bions Aussage, dass »Raum« dort ist, »wo Depression oder ein anderes Gefühl immer war« (1970/1993, S. 10), lässt sich hier so formulieren, dass die Leere in Antigones Psyche der Raum war, in dem Depression sein sollte, das heißt eine intensive emotionale Reaktion. Antigone hat es in der Übertragung erlebt: In einer Sitzung zwei Jahre nach Einführung meiner Haltung des aktiven Schweigens kam sie aus dem Sommerurlaub zurück und sagte schmerzvoll, dem Erleben meiner Abwesenheit korrespondierend: »Jetzt kann ich die Abwesenheit meiner Mutter lebhaft spüren!« Im Hinblick auf den intermediären Raum möchte ich ein letztes Mal Antigone zitieren, um die Dimension der Negativität zu umreißen: Von der Mutter zur Großmutter zu gehen, war, »als risse ich mir das Herz auf der rechten Seite heraus, um es auf die linke zu pflanzen«. In der intermediären Leere versuchte Antigone alles, entweder durch »Herumrasen« zwischen den Personen oder, wenn ihr das nicht gelang, durch das Verfallen in die Nicht-Existenz einer »Obdachlosen«, um ihre Not zu bewältigen und womöglich Hilfe zu bekommen. Im Übergangsraum des analytischen Prozesses konnte sie diese Leere, die psychotische Dimension der Nicht-Existenz (das, was niemals existiert hat), durcharbeiten und eine mildere Form des Umgangs mit Abwesenheit entwickeln (das, was existierte, aber abwesend ist), die Repräsentanz, Gefühl und Phantasie ermöglichte (Green, 1999, S. 17).

Abschließende Gedanken zum Fall Antigone Die Patientinnen mit psychotischen Müttern, die ich behandelt habe, wiesen ähnliche Symptome auf: Panikzustände, quälende Angst vor dem Sterben, affektive Turbulenzen, Regression bis zur realen Abhängigkeit von der Mutter oder dem Partner, Überbetonung der intellektuellen Fähigkeiten, um die wichtigsten zu nennen. All diese Symptome hatten mit der Pathologie der Mütter zu tun. Es waren psychotische, extrem unreife, hochpathologische Mütter, welche nicht in der Lage waren, eine »genügend gute Mutter« (Winnicott) zu sein. Ich würde

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behaupten, dass auch Iokaste eine solche Mutter war, als sie sich einverstanden erklärte, ihren Sohn Ödipus als Säugling im Kithairon zum Sterben auszusetzen. Ähnlich destruktiv verstehe ich die Haltung von Antigones Mutter, als sie ihr Kind übergangslos bei der Großmutter abgab und verschwand. Ein solch destruktives, unmenschlich wirkendes Verhalten hat zur Folge, dass die Patientinnen die Mutter als völlig desinteressiert erleben – wobei ich klarstellen muss, dass das Desinteresse ein subjektives Erleben der Patientinnen darstellt und nicht das konkrete Verhalten der Mütter. Es handelt sich um Mütter, welche selbst so hochpathologisch sind, dass ihre eigene psychische Situation sie nahezu völlig absorbiert. Demnach sind sie nicht in der Lage, eine ausreichend gute Beziehung mit dem neugeborenen Kind einzugehen. Diese frühe Beziehung ist notwendig, weil Mutter und Kind dann eine Bindung im Sinne von kommunizierenden Röhren entwickeln, welche die Entwicklung von primären und später auch sekundären Identifikationen ermöglicht. Sonst können diese Kinder kein Ich mit den nötigen Funktionen und keine angemessene Differenzierung von Selbst und Objekt entwickeln. Antigone hatte das Glück, mit der Großmutter und später mit dem Vater zumindest teilweise solche Beziehungen aufbauen zu können. Im analytischen Prozess war es wichtig, die Funktion ihres konflikthaften Erlebens und Handelns zu erkennen und ihr Agieren rund um das Setting auszuhalten. Auf dieser haltenden Grundlage konnte das Negative in der traumatisierenden Unerreichbarkeit ihrer psychotischen Mutter durchgearbeitet und gesündere Formen des Umgangs mit Abwesenheit konnten entwickelt werden. Am Ende der vieljährigen Analyse hatte Antigone eine ausreichend ausgeglichene Beziehung zu sich selbst, zu ihrer eigenen Familie und zu den Menschen überhaupt. Beeindruckend war die gute Beziehung zu ihrem Vater, der sich voller Reue über sein der Wissenschaft gewidmetes früheres Leben um sie und ihre eigene Familie liebevoll kümmerte. Auch in ihrem Beruf hat sie sich weiterentwickelt und verantwortungsvolle Stellen innegehabt. Zu ihrem Analytiker hat sie eine stabile Beziehung aufrechterhalten – was ich bei gelegentlichen Treffen feststellen konnte. Auch für mich persönlich bleibt sowohl Antigone selbst als auch ihre Analyse eine Bereicherung.

Epilog Mentzos habe ich ab und zu in Athen als Mitglied eines Komitees für die Entwicklung der Hellenischen Psychoanalytischen Gesellschaft wiedergesehen. Was er damals nicht wusste, war Folgendes: Nach griechischem Brauch bekommen in der Regel die Enkelkinder den Vornamen der Großmutter oder des Großvaters,

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je nachdem, ob Mädchen oder Junge. Als wir 1982 einen Jungen bekamen – inzwischen war ich mit einer Griechin verheiratet –, habe ich daran gedacht, dem Kind den Namen des Schwiegervaters zu geben – er hieß Stavros. Insgeheim habe ich aber auch an Mentzos gedacht, vielleicht auch mit engen Freunden darüber gesprochen. Er, unser Sohn, bekam dann den Namen Stavros als zweiten Namen. Ich meine, es ist an der Zeit, dass Mentzos es erfährt. Übersetzung aus dem Englischen von Ute Boldt

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Vorlesung am Universitätsklinikum Frankfurt am Main (D. M.)

Waltraud Nagell

Von der unerbittlichen Nachgiebigkeit Persönliche Erfahrungen in der (Ausbildungs-)Supervision mit Stavros Mentzos

»Morgendliche Rede an den Baum Griehn 1 Griehn, ich muss Sie um Entschuldigung bitten. Ich konnte heute Nacht nicht einschlafen, weil der Sturm so laut war. Als ich hinaus sah, bemerke ich, dass Sie schwankten Wie ein besoffener Affe. Ich äußerte das. 2 Heute glänzt die Sonne in Ihren nackten Ästen. Sie schütteln immer noch einige Zäheren ab, Griehn. Aber Sie wissen jetzt, was Sie wert sind. Sie haben den bittersten Kampf Ihres Lebens gekämpft. Es interessierten sich Geier für Sie. Und ich weiß jetzt: einzig durch Ihre unerbittliche Nachgiebigkeit stehen Sie heute Morgen noch gerade. 3 Angesichts Ihres Erfolges meine ich heute: Es war wohl keine Kleinigkeit, so hoch heraufzukommen Zwischen den Mietskasernen, so hoch herauf, Griehn, dass Der Sturm so zu Ihnen kann wie heute Nacht.« Bert Brecht (1927/1999)

Der Beginn Zu Beginn meiner analytischen Ausbildung überlegte ich sehr sorgfältig, von wem ich lernen möchte, was »Analytikerin sein« bedeuten könnte, wer meine Ausbilder, meine Lehranalytiker und meine Supervisoren werden sollten. Ich suchte nach Persönlichkeiten, die ich als lebendig, suchend, zweifelnd, kurz: als »unterwegs« erlebte.

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Durch die Lektüre seines Buches »Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen« hatte Stavros Mentzos (2002), der einer anderen Fachgesellschaft angehörte als der meinigen, in mir erste bleibende Spuren hinterlassen. Diesen Spuren wollte ich folgen. Als ich schließlich allen Mut zusammennahm und ihn anrief, vernahm ich am anderen Ende der Leitung eine weiche, freundliche Stimme, die dennoch bestimmt vermittelte, auf absehbare Zeit keinen freien Platz für eine Ausbildungssupervision anbieten zu können. Damit wäre das Gespräch eigentlich beendet gewesen, noch bevor es richtig angefangen hatte. Wenn nicht mein Gegenüber trotz seines unzweideutigen Neins aus mir damals nicht bekannten Gründen begonnen hätte, sich zu interessieren. Er fragte, hörte zu, ließ sich auf meine Geschichte ein, er löste meine Zunge. Noch im Sprechen – und während er am anderen Ende der Telefonleitung schweigend zuhörte – spürte ich nahezu körperlich, wie ich ihn erreichte, eine Verbindung zwischen uns entstand, die sich zwischen den Worten ausspannte. Und zu meiner und vermutlich auch seiner Überraschung ließ er seinen eigenen, eben noch überzeugt vorgetragenen Entschluss genauso überzeugt fahren und nahm mich in Supervision. Damit entdeckte ich bereits im allerersten Kontakt etwas, was ihn auszeichnete und mich beeindruckte: Er war emotional berührbar und konnte sich revidieren ohne Bedenken oder Befürchtungen vor Gesichtsverlust. Ich begann, etwas von den Zwischenräumen und der Zusammengehörigkeit von scheinbar Widersprüchlichem zu erahnen, freilich ohne davon schon etwas verstanden zu haben. Beim ersten Betreten seiner Praxisräume staunte ich nicht schlecht: Noch gewohnt an weitgehend abstinente Behandlungszimmer, die an das Diktum der »weißen Wand« erinnerten, tatsächlich aber durch ihr scheinbar »nichtssagendes« Interieur sprachen, fand ich hier eine Umgebung vor, die Bände sprach. Die hellblau gestrichenen Tapeten an den Wänden – vielleicht Zeichen der Verbundenheit mit seiner griechischen Heimat – waren an manchen Stellen unübersehbar ramponiert. Auch die Teppiche hatten ihre besten Tage längst hinter sich. Der Schreibtisch quoll über mit Papieren, die überall in einem erkennbar kreativen Chaos verstreut herumlagen. Mentzos aber schien genauestens die Übersicht in diesem Durcheinander zu behalten. Das Unorthodoxe an seiner Person und seiner Umgebung inspirierte meine Phantasie weit mehr, als dies nüchterne Räume hätten bewirken können. Die Atmosphäre, die Raum und Person verbreiteten, war eine bedingungslos einladende; sie verwies auf einen Inhaber, der mir wenig Wert auf Renommee zu legen schien, aber von Beginn an auf etwas Wesentliches hinlenkte: auf die Begegnung zwischen uns im Hier und Jetzt, die das Unvollkommene, Unfertige, das Gebrochene und eben die »Schrammen« im Inneren und Äußeren wie selbstverständlich mit einschließt.

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Ich stieß sehr bald auf eine wichtige Eigenschaft von Stavros Mentzos: Die Rede ist von dem scheinbar Widersprüchlichen, den Gegensatzpaaren in ihm. Erst nach und nach verstand ich, dass Denken und Fühlen in dialektischen Bezügen, das Zusammengehören von konträren Bipolaritäten und seine vielfältigen Perspektivenwechsel tragende Grundpfeiler seiner persönlichen wie analytischen Identität waren. Anfangs bemerkte ich nur verwundert, dass ich es mit einem Analytiker zu tun hatte, der mir sich und seine Umgebung mit einer unaufdringlichen, großen Natürlichkeit zu erkennen gab und gleichzeitig doch immer zurückhaltend blieb. Seine Orte waren die Zwischenräume, die Dialektik zwischen Sichtbarkeit und relativer Unsichtbarkeit. Zu Beginn wie auch in den vielen Jahren unserer Zusammenarbeit gelang es ihm fast immer, sich vertraut, offen und persönlich zu verhalten, ohne dabei in unangemessene Selbstenthüllungen abzugleiten. Noch bevor ich mir profunde Kenntnisse von der »intersubjektiven Haltung« des Therapeuten erwarb, konnte ich sie in der Person Stavros Mentzos konkret erleben.

Der Wegbegleiter Die Haltung Was sich bereits im ersten Telefonat in seinem Umgang mit mir als analytischer Weiterbildungskandidatin abzeichnete, fand ich ebenso in seiner Haltung den Patientinnen und Patienten gegenüber wieder. Mentzos setzte im Anderen etwas Positives voraus, riskierte Vorschussvertrauen und förderte damit – gleichgültig, um wen es sich handelte – in seinem Gegenüber das Positive an die Oberfläche. Was ihn für mich prägend und glaubwürdig machte, war das einheitliche Erleben seiner Person als Ausbilder, Therapeut und Mensch. Er war als ein Ganzheitlicher für mich spürbar und stellte sich als ganze Person, emotional wie kognitiv, zur Verfügung. Man könnte etwas pathetisch vom »Primat des Mitmenschlichen« sprechen: sein unvoreingenommenes Suchen nach der Begegnung mit dem Menschen hinter den Worten, Masken und Symptomen. Menschsein und Mitmenschsein sind von Beginn an auch ein Gebrochensein – und zwar in jedem, in Patienten, Kandidaten, Therapeuten. Das verdichtete sich in ihm zu einem unantastbaren Respekt jedem Menschen gegenüber. So erscheinen mir die Erfahrungen, die ich mit ihm im Rahmen der Ausbildungssupervision (Kontrollanalyse wäre nicht passend für sein Verständnis von Lernprozessen) machen durfte, nicht spezifisch für eine supervisorische Begegnung. Lässt man die inhaltlichen Besonderheiten der Supervision einmal vorübergehend außer Acht, dann konzentrierte sich die Art

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und Weise seiner Präsenz darauf, dem anderen dabei behilflich zu sein, bei sich selbst anzukommen – egal, mit welchem Anliegen dieser vor ihm saß. So wie er mich in der Supervision wahr- und ernst nahm, wie er präsent war im Zuhören, Dösen und träumerischem Abschweifen, im Schweigen und Antworten und so, wie ich mich komplementär dazu gehört und verstanden fühlte, wird es wohl auch seinen Patienten ergangen sein. In beiden Prozessen – dem supervisorischen wie dem therapeutischen – waren seine Authentizität und Suche nach Verstehen und Verständigung die durchgehenden »roten Fäden« seiner Arbeit. Einer dieser »roten Fäden« Stavros Mentzos’ war, die Gegensätze zwischen Forschen und Heilen in sich zu versöhnen: Forschen und Erkenntnis standen dabei im Dienste des Heilens und seiner ärztlichen Identität, zuallererst menschliches Leiden lindern zu wollen. Letztlich suchte er hinter der Krankheit den Kranken; das Verstehen der individuellen Bedeutung der Symptome war bedeutsamer als die Symptome selbst. Kontextuelles Denken und Handeln ließen ihn schon mal eigene Wege abseits von allgemeingültigen Vorschriften gehen: etwa, wenn er einen psychotischen Patienten jahrzehntelang begleitete, über weite Strecken ohne finanzielle Honorierung seiner Arbeit – legitimiert jedoch durch das reflektierte eigene Konzept von dem, was diesem Patienten zu dieser Zeit in dieser individuellen Lebenssituation nützt und was er als Therapeut ihm jetzt zu geben gewillt war. Beim konkreten Menschen, mit dem er es zu tun hatte, ging Kontextuelles vor Prinzipiellem, Optionales vor Regelhaftem – ähnlich unerschrocken wie einst der Gründungsvater Freud. Donna Orange (Orange, Stolorow u. Atwood, 2006) schreibt, wie wichtig es für den traumatisierten Patienten ist, »einen Menschen zu finden, der ihm in seiner Welt begegnet und sie mit ihm bewohnt« (S. 165). Mentzos tat dies unter anderem mit dem Gebrauch einer für jedermann verständlichen Sprache, die offenlegt und Verbindung schafft, statt sie als intellektuelle Vorwärtsverteidigung zu Zwecken der narzisstischen Gratifikation und schützenden Distanzierung zu verwenden. Seine Sprache erinnerte mich oft an Aufsätze und Fallbeschreibungen von Freud und Winnicott, die durch Klarheit statt intellektueller und rhetorischer Überfrachtung bestechen. Das ist in der analytischen Community durchaus nicht selbstverständlich. Ich lernte von ihm, meiner eigenen Sprache zu vertrauen. Wissen wollen statt Wissen – und: Die Wahrheit ist immer auch die Wahrheit des Anderen Der Werkstattcharakter unseres gemeinsamen Unterfangens »Supervision« brachte es mit sich, dass wir im Unfertigen, Vorläufigen und immer unterwegs

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blieben. Antonio Ferro (vgl. 2005) beschrieb einmal in seiner lebendigen, phantasievollen Sprache die analytische/supervisorische Arbeit als ein gemeinschaftliches Projekt beider, das sich in der Küche abspielt: Es wird zusammen gekocht und kein fertiges Menü im Restaurant präsentiert. In der Küche als einem Ort der Zubereitung darf ausprobiert, verfeinert oder nachgebessert, auch verworfen werden. Manchmal geht auch etwas schief: Wo gehobelt wird, fallen Späne! Damit wird eine gemeinsame Beziehungserfahrung angeboten, die das prozessuale Entstehen mit all den immanenten Ängsten und Zweifeln erlebbar macht. Der Fokus liegt auf den Stationen des gemeinsamen Weges: wahrnehmen – reflektieren – handeln. Dass der Erfahrene die weniger Erfahrene (Lernende sind sie beide!) in praxi teilhaben lässt am Entwerfen, Ent- und Verwickeln, am Korrigieren, statt mit einer fertigen Deutung – also dem Servieren eines fertigen Menüs – zu glänzen, macht Mut, es selbst auszuprobieren. Es setzt die Bescheidenheit des suchenden Wissenwollens und ein Bewusstsein voraus, dass man sich irren kann, und weiter, dass der Erfahrene darauf verzichtet, den Lernenden zur Befriedigung eigener narzisstischer Bedürfnisse zu verwenden. Lange bevor ich etwas von der intersubjektiven Sicht der Ko-Konstruktion und der Bidirektionalität der analytischen wie supervisorischen Prozesse wusste und verstand, konnte ich bei und mit Stavros Mentzos erfahren, was damit gemeint war. Seine Bereitschaft, das eigene Suchen und Zweifeln, die eigenen Irrtümer nicht unter (einer missbräuchlichen) Verwendung des Abstinenzbegriffs zu verschweigen, sondern sie zum Gegenstand des Forschens und Verstehens zu machen, war mir zuvor in meiner bisherigen medizinischen Laufbahn kaum, in der analytischen Ausbildung hingegen so gut wie gar nicht begegnet. Mit ihm konnte ich mich im Laufe der Jahre dahin entwickeln, mutual, gleichberechtigt auf der reflexiven und kommunikativen Ebene, unterwegs zu sein, ohne dass die Asymmetrie unserer Rollen verloren ging; die natürliche Autorität Mentzos’ erwuchs aus seiner Persönlichkeit, nicht aus seiner Funktion. Das Ergebnis dieses Prozesses, die Deutung, war ein gemeinsames Produkt. Auf der Suche nach der »analytischen Wahrheit« waren in letzter Instanz der Patient, der Supervisand als behandelnder Therapeut der Fachmann, die Fachfrau: »Die Wahrheit ist immer auch die Wahrheit des Anderen.« Mentzos hatte die Fähigkeit und innere Bereitschaft, Perspektiven des Anderen einzunehmen, sie zu respektieren und anzuerkennen, ohne die eigene Überzeugung deshalb aufgeben zu müssen. Die Bereitschaft, Vielstimmigkeit und Divergenzen in Beziehungen und Ambivalenz im Inneren auszuhalten, erlebte ich in beeindruckender Weise als Grundlagen seiner tief gehenden Menschenfreundlichkeit, seiner affektiven Responsivität und seiner Friedfertigkeit. Es setzt voraus, das Eigene nicht festzuhalten, sondern transformierend in etwas Neues hinein-

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zugeben. Was sich letztlich als Ergebnis unserer gemeinsamen Reflexion, des Zusammenführens von übereinstimmenden und divergierenden Perspektiven der beiden Protagonisten kondensierte, entspricht dem »analytischen Dritten«, das Ogden (2006) als das gemeinsam neu geschaffene, erträumte Produkt bezeichnet, in dem sich beide wiederfinden und das gleichzeitig über sie hinausgeht. Wenn mit Bauriedl (1980) »Deutung [das] ist, was in der Beziehung Bedeutung gewinnt« (S. 55 ff.), dann fließen in die Deutung in der Supervision die analytisch-therapeutische wie die analytisch-supervisorische Beziehung mit ein. Die Suche nach Ressourcen – und: Widerstand als Resilienz Beispielhaft erinnere ich mich daran, was Stavros Mentzos mir einmal über die analytische Arbeit mit einem seiner Patienten erzählte. Der intelligente und zu konstruktiver Zusammenarbeit durchaus bereitwillige Analysand habe jedoch bis zum Ende der Therapie die Gewohnheit beibehalten, pünktlich fünf Minuten zu spät zur Stunde zu erscheinen – allen unzähligen Klärungsversuchen und Deutungen als Widerstand und ödipales Agieren zum Trotz. Bei der Verabschiedung konnte Mentzos dem Patienten in dessen widerständiger Geste auch seinen Willen zu selbstbestimmten Handeln im Sinne einer Ressource spiegeln und anerkennen, ohne damit die anderen psychodynamischen Aspekte zu verleugnen. Durch Stavros Mentzos erlebte ich wie selbstverständlich Psychoanalyse als »Beziehungsanalyse« (Bauriedl, 1980) und lernte somit eine neue Perspektive von Widerstand als »kreativer Kraft« kennen. In seinem interaktionellen Verständnis hat Widerstand eine beziehungsregulierende Funktion: Verstanden nicht als bloßes Nein-Sagen, sondern als ein Sichgegenüberstellen in separierter Position erlaubt gerade die Abgrenzung die Begegnung mit einem Du. Bauriedl (1980) spricht von »Abwehr- und Kontaktgrenzen« als Voraussetzung für lebendiges Beziehungserleben (S. 35 ff.). Ein zentraler Fokus in unserem Bemühen, gemeinsam zu verstehen, was ist, lag auf der Betrachtung der Beziehungs­bedeutung: Fragen wie »Was ist hier los?«, »Welcher Beziehungssinn liegt in der Szene, welche Signale gehen von ihr aus?« statt »Was war hier falsch?« erlaubten ergebnisoffenes Nachdenken über das, was sich im super­ vidierten analytischen ebenso wie im supervisorischen Prozess abbildete. Auf den Spuren Ferenczis (1930, 1933/2004), Gills (1982) und anderer Vordenker auf dem Weg zu einer intersubjektiven Ausrichtung unserer analytischen Arbeit verstand Mentzos Widerstand als kontextuell und in diesem Sinne als eine Interaktion. Im Widerstand liegt eine Mitteilung, ein dialogisches Angebot (Daser, 1997, S. 63 ff.): Der Patient bringt sich als ein Widerständiger ins

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Spiel – eben ins Spiel und verbleibt damit innerhalb der analytischen Kommunikation. Hier wirkt Widerstand nicht mehr nur als ein Hemmnis, sondern als eine notwendige Irritation, als Voraussetzung für Erkenntnis und Veränderung. Daser schreibt: »In der analytischen Therapie ist es für die Selbsterfahrung von Patient und Therapeut und die Beziehungsbildung zwischen ihnen wichtig, dass beide einander widerstehen können […]. Patient wie Therapeut brauchen den Widerstand des anderen, um ihre unbewussten Voraussetzungen zu erfahren und zu verändern […], um zu erkennen, wo sie stehen und wer sie sind« (1982, S. 55). Jedes Verhalten im analytischen Prozess kann widerständig benutzt werden: Was tatsächlich Widerstand im Jetzt und Hier ist, ist also nur aus dem aktuellen Beziehungserleben der analytischen Beziehung heraus zu verstehen. Auch Betty Joseph betont, dass psychische Veränderungen fortwährend in der Behandlung stattfinden und der Analytiker die auftauchenden Veränderungen wahrzunehmen hat, ohne sie zu bewerten: »Wir müssen sie als eigene, individuelle Methode des Patienten betrachten, seinen Ängsten und Beziehungen auf eigene, unverwechselbare Weise zu begegnen« (1994, S. 285). Damit verweist sie darauf, dass Widerstand auf Veränderung hinausläuft – und nach Anerkennung verlangt. Bei Mentzos erlebte ich die Umsetzung dieser Haltung in seiner konkreten Arbeit mit Patienten und mit mir als Supervisandin, in der Wider-sprechen, Wider-stehen in einem dialogischen Bezogensein mir ermöglichten, aktiv einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, statt passiv zu konsumieren (vgl. Kahl-Popp, 2007). Dazu gehört auch, in der Supervision die Bedeutung und den unvermeidlichen Einfluss meiner eigenen Subjektivität auf mein psychodynamisches Verstehen und nachfolgend meine Deutung (als Handlung verstanden) zu reflektieren. Am oben erwähnten Beispiel der Widerstandskonzeption lässt sich erkennen, wie sehr die eigene Theorieauswahl mit der eigenen Persönlichkeit zusammenhängt und stimmig sein muss, um authentisch zu sein. Diese personengebundene, subjektive Brille ist Begrenzung und Chance zugleich, wenn man sie kennt statt verleugnend zu tabuisieren. Mentzos’ »Stimmigkeit« war, sich an den Ressourcen des Patienten statt am Defizitären zu orientieren. Das Fließende, Prozessuale, das Nicht-Festgeschriebene ziehen sich wie ein roter Faden durch seine theoretischen Konzeptualisierungen, vor allem aber durch seinen Umgang mit dem konkreten Anderen. Maßgeblich für die Entwicklung meines eigenen analytischen Arbeitsmodells war sein Verzicht auf rigide Schemata und auf etikettierende, festschreibende Diagnosen: Vom »angstneurotischen Modus der Konfliktverarbeitung« statt von einem »Angstneurotiker« zu sprechen, prägte das Denken der angehenden Analytikerin und unterstreicht

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das Entwicklungspotenzial des Patienten bei dessen Suche nach funktionaleren Konfliktlösungsstrategien auf die Zukunft hin mit offenem Ende. Erkennen und annehmen, was ist: Mentzos lehrte mich auch, die eigenen Widerstände in mir als Therapeutin und Supervisandin wahr- und anzunehmen, um damit nutzbringend zu arbeiten. Die Überwindung der schambedingten Zurückhaltung wurde leichter, weil ich in ihm ein Modell fand, wie man mit den eigenen Widerständen umgehen kann, ohne allzu sehr in die narzisstischen Fallen von Allmacht oder Ohnmacht zu geraten – und wenn, wie man dann auch wieder herauszufinden vermag. Die Arbeit mit und am Gegenwiderstand ist die Arbeit an der Entwicklung und dem Bewusstwerden der eigenen analytischen Identität und ihrer Wirkung auf das eigene Arbeitsmodell. Ermann (1987) beschreibt eindrücklich, dass Gegenübertragungswiderstände im Analytiker natürliche Erscheinungen sind, zunächst als unbewusste Abwehr, die durch die Aktivierung latenter eigener Objektbeziehungen im Therapeuten geweckt wird. Sie haben im psychoanalytischen Prozess dieselbe zentrale Schlüsselfunktion wie die Widerstände des Analysanden. Ermann schreibt dazu: »Wenn sie bemerkt werden und wenn die in ihnen verborgene Beziehungsdynamik verstanden wird und ihr Erfahrungsgehalt in das Erleben und die Deutungsarbeit integriert werden kann, dann werden die Widerstände des Analytikers in der Behandlung zum Ausgangspunkt von Einsicht und Weiterentwicklung [Anm. W. N.: für beide]« (1987, S. 101; Hervorh. von W. N.). Die heilsame Veränderung vollzieht sich zunächst auf der intrapsychischen Ebene im Therapeuten/ Supervisanden selbst (Bauriedl, 1997), bevor sie sich innerhalb des Patienten realisieren kann. Weiter Ermann: »Die antwortende Emotionalität und die Widerstände des Analytikers bilden zwei aufeinander bezogene Teile eines Ganzen  – ebenso wie beim Patienten Übertragungsinhalte und Übertragungswiderstände« (1987, S. 105). Dadurch entsteht »ein Riss in der Pathologie ihrer Beziehungsrepräsentanzen« (S. 109) – ein Vorgang, in dem beide Beteiligte korrespondierende Ängste vor und Wünsche nach Veränderung ihrer Beziehungs­strukturen in sich erleben. Die Arbeit mit Zweifel, Misslingen, Fehlern und mit Verwundungen »Der richtige Fehler, einmal versäumt, kehrt nicht so leicht wieder!« (Enzensberger, 1999). Mentzos war in der Lage, in der Supervision einen geschützten Raum und eine vertrauensvolle Beziehung zwischen uns herzustellen, die es mir ermöglichten, mich zunehmend besser dem eigenen Nicht-Wissen und meinen Zweifeln zu stellen. Er machte es mir leicht, weil er es modellhaft vorlebte.

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»Meine Stärke ist meine Schwäche und umgekehrt« (Jaenicke, 2014, S. 99). Es war ein mühsames Ringen mit den internalisierten Über-Ich-lastigen Vorstellungen und Ängsten in mir, diese Einstellung nicht nur kognitiv zu bejahen, sondern affektiv anzunehmen. Es brachte mich in direkten Kontakt mit den eigenen Befürchtungen, phantasmatisch wie auch ganz real, nicht zu genügen, irgendwie »beschädigt« und »falsch« zu sein. Trotz der bewusst intersubjektiven Ausrichtung meiner Arbeit war ich anfangs mit dem Verorten von »Fehlerhaftem« nur allein in mir unbewusst noch ganz identifiziert mit einer unidirektionalen Ein-Personen-Psychologie, in der ich als Therapeutin einerseits die Lorbeeren im Fall einer erfolgreichen Behandlung beanspruchte, andererseits mich aber (ebenso allmächtig) für die Misserfolge allein verantwortlich sah. Um den damit einhergehenden schwer erträglichen Gefühlen von Scham und Schuld einerseits und befürchteter entwertender Kritik der Kollegen oder Ausbilder andererseits zu entgehen, ist die Versuchung groß, sie entweder mittels geschönter bzw. fehlerbereinigter Behandlungsberichte zu umgehen oder sie prophylaktisch selbstanklagend zu entschärfen. Das liegt nicht nur in individuellen Unzulänglichkeiten des (angehenden) Analytikers begründet, sondern auch an den institutionellen Gegebenheiten. Beispielhaft sei die Bewertung der Kandidaten und Kandidatinnen in der Supervision genannt, aber auch die transgenerationale Weitergabe von Ein- und Ausschlussmechanismen, die zu den bekannten Rivalitäten und Kämpfen um Macht und Deutungshoheit in den analytischen Instituten führen. Sätze wie »Das ist keine richtige Psychoanalyse« fallen noch immer und verfehlen ihre Wirkung keineswegs – nicht nur auf den zwangsläufig noch unsicheren und unerfahrenen angehenden Analytiker, die angehende Analytikerin. Oser und Spychiger (2005) beklagen die Fehlerfeindlichkeit und »Fehlervermeidungsdidaktik« anstatt den Mut zu fördern, Fehler zu machen, sie zu benennen, um konstruktiv und nutzbringend daraus zu lernen: »Man kann auf das Falsche nicht verzichten, will man das Richtige richtig erkennen« (S. 13). Was falsch oder richtig ist, kann oft erst im Nach-denken retrospektiv beurteilt werden. Ob richtig oder falsch, förderlich oder hinderlich, lässt sich stets nur kontextuell, prozessual und eingebunden im spezifischen, einzigartigen dialogischintersubjektiven Gewebe verstehen. Mentzos wurde nicht müde, mich immer wieder darin zu bestärken, Ungereimtheiten, Brüche, auch vermeintliches Scheitern als unverzichtbaren Teil meiner Arbeit anzunehmen und wertzuschätzen. Hilfreich war beispielsweise seine Unterstützung, eine zu meinem Arbeitsstil passende kontextuelle, den jeweils aktuellen Gegebenheiten angepasste Regelung im Umgang mit dem Ausfallhonorar zu finden, oder auch so manches Gegenübertragungsenactment

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bewertungsfrei zu untersuchen, ohne durch prophylaktisches Schuldeingestehen schnell die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema zu lenken. Mentor auf der Suche nach der eigenen Spur – und: Stellung beziehen Wenn ich die Jahre meiner analytischen Ausbildung gedanklich an mir vorüberziehen lasse, so habe ich darin eine Menge gewonnen und auch einiges verloren. Vor Beginn meiner Kandidatenzeit war ich über viele Jahre in einer selbstständigen und letztverantwortlichen Leitungsfunktion im akutmedizinischen Bereich tätig. Mit dieser geformten und sicherlich auch ge-/verfestigten Persönlichkeit noch einmal die analytische Schulbank zu drücken, war – für mich wie meine institutionellen Ausbilder – ein gewagtes und zwangsläufig ambivalent erlebtes Unternehmen. Sätze wie »Sie haben nicht zu wenig, sondern zu viel Authentizität«, mit denen institutionelle Funktionsträger mich klassifizierten, ließen mich ratlos und ärgerlich zurück. Die erkennbaren Widersprüche zwischen dem, was ich über das emanzipatorische Potenzial der Analyse (Bauriedl, 1980) gelesen hatte und was ich nun zu hören bekam, nahmen mir zunächst Vertrauen in die eigene Wahrnehmung; sie führten zu starker Verunsicherung und Selbstzweifeln und zeitweise zu einer sicherlich nicht unerwünschten Anpassung, um nicht »aus dem System zu fallen«. Die auf beiden Seiten vorhandenen Ängste und Kränkungen – hier die bisherige Lebensleistung nicht gewürdigt und anerkannt zu wissen und dort das Sichinfrage-gestellt-Fühlen meiner Ausbilder durch hartnäckiges Nachfragen und Suchen meinerseits – hatten das Potenzial, sich zu verfestigen. Schlimmer noch: Zeitweise erlebte ich die Infantilisierungen als zunehmende Entfremdung von mir selbst. Stavros Mentzos wirkte da als heilende Gegenkraft. Er kannte es sehr genau, wenn ich davon sprach, wie verletzend die institutionellen Kämpfe und Konflikte waren und wie sehr sie an den Kräften zehrten: »Es war wohl keine Kleinigkeit, so hoch heraufzukommen Zwischen den Mietskasernen, so hoch herauf, Griehn, dass Der Sturm so zu Ihnen kann wie heute Nacht.« Bert Brecht (1927/1999)

Durch Mentzos gelang es mir besser, aus den Kränkungen und verletzten Rückzügen eher wieder herauszufinden und die Kraft zum Wachsen gerade aus diesen

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Widersprüchen und kräftezehrenden Stürmen zu ziehen. Seine »unbeirrbare Nachgiebigkeit«, die ihn befähigte, beharrlich in der Sache und sanft, nachgiebig ein Umsetzen seiner Ziele auf dem kürzesten Umweg zu erreichen, riefen in mir Staunen und wohl auch Neid hervor. Er wurde mir damit zum Korrektiv, in den eigenen Verirrungen zumindest reflektierend innehalten zu können, auch wenn ich nicht immer gleich einen Ausweg fand. Die Arbeit an meinen inneren Widerständen und ödipalen Konflikten, an dem Spagat zwischen hier regressiver Ausbildungssituation (und realer Infantilisierung) und dort der Tätigkeit einer in voller Verantwortung stehenden lebenserfahrenen Ärztin und Therapeutin war die eine Seite der Medaille. Sie spiegelt gewissermaßen die generationalen Konflikte unserer Ausbildungs­institute vonseiten eines vatermörderischen Ödipus wider. Mentzos aber vergaß auch nicht ihre andere Seite, nämlich seine Kenntnis der Vorgeschichte von Ödipus’ Vatermord und Mutterinzest, die wir im Allgemeinen in unserer Bezugnahme auf das Drama gern ausblenden. »Um Ödipus zu verstehen, muss man Laios, seinen Vater, verstehen«, meint Jürgen Kind. Und: »Ödipus selbst war ein von den eigenen Eltern Beschädigter« (Kind, 2016, persönliche Mitteilungen). Vor dem Vatermord stand der versuchte Sohnesmord! Es ist die Geschichte eines Elternpaares, das sein Kind verstümmelte und dem Tode aussetzte, weil es dessen Aktivitäten, dessen Entwicklung fürchtete. Mit der Tötung von Ödipus sollte die befürchtete Destruktivität gebannt werden – die phantasmatische Destruktivität des hilflosen Kindes ebenso wie die reale, externalisierte Destruktivität seines Vaters Laios. Derartige Erfahrungen musste ich schmerzlich sammeln, als ich gemeinsam mit anderen Kandidatinnen und Kandidaten noch während der Ausbildung ein wissenschaftliches Forschungsprojekt »Zum Beziehungserleben in der Supervision« (Nagell, Steinmetzer, Fissabre u. Spilski, 2014) durchführte. Statt wissenschaftlichen Forschergeist des analytischen Nachwuchses aus der eigenen Institution zu begrüßen und zu fördern, kamen bei der Vorstellung unserer Ergebnisse im eigenen analytischen Ausbildungsinstitut zwar viele Kandidaten, aber nur zwei Ausbildungsanalytiker. Auch hier wurde der suchende, emanzipatorische Entwicklungsdrang der »jungen Generation« vermutlich als »zu viel Authentizität und Eigenständigkeit« eher skeptisch bewertet denn begrüßt. Mentzos bezog in diesen Konflikten klar und eindeutig Stellung, sowohl was die Reflexion meines persönlichen Anteils betraf als auch in der Benennung der »interpersonalen und institutionalisierten Abwehr« in den Instituten (Mentzos, 1996). Er stärkte mir den Rücken zum eigenverantwortlichen Denken und Handeln, auch da, wo es unbequem und ängstigend für mich wurde und die jahrzehntelang erprobten gruppalen sicherheitsspendenden Abwehrmanöver von Ausgrenzung und Sündenbockfunktion auf den Plan riefen. Um dabei

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nicht dauerhaft in fixierte Täter-Opfer-Zuschreibungen oder Omnipotenz- und Ohnmachtsfallen zu geraten, war seine ständige Bereitschaft zum probehaften Perspektivenwechsel für mich ungemein hilfreich – und unbequem.

Was offenblieb Was ich in der supervisorischen Arbeit mit Stavros Mentzos weniger gut lernen konnte, war eine unmittelbare, konfrontative Auseinandersetzung mit aggressiven Übertragungs- wie Gegenübertragungsimpulsen. Andere Supervisoren anderer Schulrichtungen machten dies aber zur Genüge wieder wett. Sein Naturell war friedliebend, stark auf Verständigung, Konsenssuche und ressourcenorientierte, aufbauende Ziele konzentriert. Bei aggressiven und destruktiven Impulsen, so schien mir, wollte er sich lieber nicht zu lange aufhalten – ich hatte den Eindruck, sie schmerzten ihn wie alte, schlecht verheilte Wunden. Das Freundliche an seinem Wesen machte es mir nicht gerade einfach, auch mal ärgerliche Gefühle ihm gegenüber zu empfinden.

Resümee: Was bleibt Was bleibt mir von dem jahrelangen Arbeiten mit Stavros Mentzos, womit hat er sich in mir dauerhaft eingeschrieben? Mehrere Aspekte fallen mir sofort ein: Da waren seine prinzipiell fragende Haltung und sein Mut zu eigenständigem Denken, auch gegen alle Widerstände. Das half mir, Verantwortung für die eigene Position und das eigene Handeln zu übernehmen. Durch seine Persönlichkeit lehrte er mich, dass Prinzipien niemals die eigene Entscheidungskraft ersetzen können. Und weiter: die Bereitschaft, die individuelle Motivation der eigenen Denk- und Deutungsweise verstehen zu lernen und permanent für eine Revision der eigenen vorläufigen Interpretationsentwürfe offen zu sein – Revisionen, die sich in einem ergebnisoffenen dialogischen (statt argumentativen) Sprechen mit einem Gegenüber vollziehen, aus dem bestenfalls beide verändert hervorgehen. Das Bedeutsamste und Prägendste an ihm aber war für mich seine Menschlichkeit, die weit mehr umfasste als die Empathie des Analytikers, der er war. Er war ein der Liebe und des Leidens fähiger, mitfühlender Mensch unter anderen Menschen, die lieben, leiden und leben. Alles, was ihn ausmachte, war in seiner Traueranzeige zu lesen: Das gute Leben ist von Liebe beseelt und von Wissen geleitet. Bertrand Russell

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Literatur Bauriedl, T. (1980). Beziehungsanalyse. Das dialektisch-emanzipatorische Prinzip der Psychoanalyse und seine Konsequenzen für die psychoanalytische Familientherapie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bauriedl, T. (1997). Die innere Welt des Psychoanalytikers. In F. Herberth, J. Maurer (Hrsg.), Die Veränderung beginnt im Therapeuten. Anwendungen der Beziehungsanalyse in der psychoanalytischen Theorie und Praxis (S. 11–40). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Brecht, B. (1927/1999). Morgendliche Rede an den Baum Griehn. Hauspostille. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Daser, E. (1997). Widerstand und Anerkennung. Forum der Psychoanalyse, 13, 54–67. Enzensberger, M. (1999). Leichter als Luft. Moralische Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ermann, M. (1987). Behandlungskrisen und die Widerstände des Psychoanalytikers. Bemerkungen zum Gegenübertragungswiderstand. Forum der Psychoanalyse, 3, 100–111. Ferenzci, S. (1930). Relaxationsprinzip und Neokartharsis. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 16, 149–164. Ferenczi, S. (1933/2004). Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Schriften zur Psychoanalyse, Bd. II (S. 303–313). Gießen: Psychosozial-Verlag. Gill, M. (1982). Die Übertragungsanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch-Verlag. Jaenicke, C. (2014). Die Suche nach Bezogenheit. Eine intersubjektiv-systemische Sicht. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Joseph, B. (1994). Psychisches Gleichgewicht und psychische Veränderung. Stuttgart: Klett-Cotta. Kahl-Popp, J. (2007). Lernen und Lehren psychotherapeutischer Kompetenz am Beispiel der psychoanalytischen Ausbildung. Würzburg: Ergon. Kind, J. (2016). Das Tabu. Was Psychoanalytiker nicht denken dürfen, sich aber trauen sollten. Zur Publikation angenommenes Manuskript: persönliche Mitteilung. Mentzos, S. (1996). Interpersonale und institutionalisierte Abwehr (4. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mentzos, S. (2002). Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen (3. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Nagell, W., Steinmetzer, L., Fissabre, U., Spilski, J. (2014). Research into the relationship experience in supervision and its influence on the psychoanalytical identity formation of candidate trainees. Psychoanalytic Inquiry, 34, 554–583. Ogden, T. (2006). Das analytische Dritte, das intersubjektive Subjekt der Analyse und das Konzept der projektiven Identifizierung. In M. Altmeyer, H. Kächele (Hrsg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse (S. 35–64). Stuttgart: Klett-Cotta. Orange, D., Stolorow, R., Atwood, G. E. (2006). Zugehörigkeit, Verbundenheit, Betroffenheit. Ein intersubjektiver Zugang zur traumatischen Erfahrung. In M. Altmeyer, H. Kächele (Hrsg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse (S. 160–177). Stuttgart: Klett-Cotta. Oser, F., Spychiger, M. (2005). Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur. Weinheim u. Basel: Beltz.

Porträt aus den späten 1970er Jahren (D. M.)

Anatoli Pimenidou

Das Bipolaritätsmodell und die hinreichend gute Therapeutin

Als Griechin muss ich Sophokles bemühen, nicht um zu zeigen, dass die Vorfahren von Stavros Mentzos sehr früh schon den ödipalen Konflikt künstlerisch zu verarbeiten versuchten. Ich möchte das Bipolaritätsmodell in der Tragödie »König Ödipus« nachzeichnen (man könnte den Originaltitel dieser antiken Tragödie auch als »Ödipus, der Tyrann« übersetzen, was den schmalen Grat zwischen rechtschaffenem König und tyrannischem Herrscher andeutet). Ein junger Mann hört bei einem Fest mit viel Alkohol, dass seine Eltern nicht seine Eltern sind, und macht sich auf, um die Wahrheit herauszufinden, und nach altgriechischer Manier fragt er das Orakel und bekommt die Prophezeiung, dass er seinen Vater umbringen und die Mutter heiraten wird. Also geht er weit, weit weg von den Eltern, damit sich diese Prophezeiung nicht bewahrheitet. Unterwegs drängt ihn ein älterer Mann vom Weg, der sein Vater hätte sein können, aber er fühlt sich im Recht und bringt ihn um und fast alle seine Begleiter. Weiterschreitend löst er ein Rätsel und rettet dadurch eine Stadt durch seine Klugheit, seinen Verstand, und bekommt als Belohnung den Thron des kürzlich ermordeten Königs und die Königin dazu. Mit ihr bekommt er Kinder und glaubt, alles richtig gemacht zu haben. Er ist, wie man im Deutschen sagen würde, ein »rechtschaffener Mann«. Vorausschauend, klug, überlässt er sein Schicksal nicht den Göttern, sondern versucht seinerseits, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um es richtig zu machen. Er glaubt, offenen Auges sehen zu können, was getan werden muss, und fühlt sich dementsprechend im Recht. Als der blinde Seher ihm sagt, dass er seinen Vater getötet hat und schandhaft mit seiner Mutter das Bett teilt, vermutet er ein Komplott gegen seine Macht. Es ist zwar verführerisch für Psychotherapeuten, zwanghafte, narzisstische und paranoide Züge zu vermuten, aber es geht mir nicht um die Psychopathologie von König Ödipus. Es geht mir darum, dass er versucht, Kontrolle über sein Leben zu haben, dass er glaubt, als guter Herrscher immer das Richtige für sein Volk zu tun, aber er ist blind und sieht nicht, dass sich die Prophezeiung längst erfüllt hat. Als er dann »sieht«, dass er nicht alles unter seiner Kontrolle

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hat, dass die Götter längst sein Schicksal besiegelt haben und dass er von der Gnade der anderen abhängt, nimmt er sich selbst das trügerische Augenlicht mit den Anstecknadeln der Gewänder seiner Frau und Mutter, die einen Moment früher alles verstanden hatte und sich erhängte. Und die Ältesten der Stadt Theben singen am Schluss: Schaut, welches Unheil dem mächtigen, beneideten und klugen Ödipus passiert ist. Preisen wir lieber keinen vor seinem Tod. Der universelle selbstbezogene Wunsch, nicht auf andere angewiesen zu sein, Kontrolle über das eigene Leben zu haben, treibt Ödipus um, und er versucht, die Objektabhängigkeit zu minimieren. Tragischerweise muss er fallen, damit die göttliche Ordnung wiederhergestellt wird. Die Zuschauer aber sind nicht schadenfroh, sondern leiden mit ihm, bangen um ihn. Und sehen auf der Bühne, dass ein so Großer wie Ödipus diesem Konflikt unterliegt, da er ihn einseitig zu lösen sucht, statt die universellen Bipolaritäten zu akzeptieren. Diese stellvertretende kathartische Erfahrung ist Sinn und Zweck der antiken Tragödie gewesen. Ganz nebenbei finde ich die Parallelen zur Psychotherapie verblüffend, wenn Aristoteles schreibt, das die tragödieneigentümliche Lust darin besteht, dass der Zuschauer durch den Protagonisten eine Reinigung erlebt. Diese Katharsis besteht darin, dass der Zuschauer von wuchtigen Affekten erschüttert wurde, um dann (laut Latacz’ Übersetzung) eine höhere Stufe rationaler Problemreflexion zu erleben. Sophokles wird manchmal als Pessimist interpretiert: Wir können nichts gegen die Götter ausrichten. Aber vielleicht wollte er ein Plädoyer für die goldene Mitte halten (πᾶν μέτρον ἄριστον) und raten, dass wir uns nicht zu weit aus dem Fenster lehnen sollten, sondern besser beraten sind, Kompromisse zwischen den Extremen zu suchen. Und vielleicht hat Mentzos die Weisheit der Antike in die Psychotherapie hineingetragen. Aber es ist nicht alles in der Antike begründet und den kreativen Gedanken von Mentzos hat die psychodynamische Psychotherapie viel zu verdanken. Als ich im Jahr 1998 zum ersten Mal die »Neurotische Konfliktverarbeitung« von Mentzos (1982) las, fing ich an, nach meiner Zeit in einer Suchtklinik als niedergelassene Therapeutin zu arbeiten, und träumte noch nicht mal davon, je einen persönlichen Kontakt zu diesem Landsmann zu haben. Als mich dann das Leben zur Niederlassung in den Rheingau-Taunus-Kreis führte und ich von Mentzos erfuhr, dass er krank sei und keine Supervisanden mehr aufnehme, war ich natürlich traurig. Seine Bücher halfen trotzdem. Umso größer war meine Freude, als er 2009 nachfragte, ob ich noch an Supervision interessiert sei, es gehe ihm besser. Zu diesem Zeitpunkt war ich Anfang vierzig, Psychodramatikerin, Psychodynamikerin, Traumatherapeutin und im Nachweis der Fachkunde zur Gruppenpsychotherapeutin. Mentzos fragte nicht nach meinen Heimaten (weder nach den kulturellen noch den psychotherapeutischen). Es folgten fünf

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Jahre in seiner Supervision, ca. einmal im Monat, zeitweise auch zwei Stunden am Stück – und ich bin dankbar für diese Zeit. Ein letztes Mal zurück zu dem Ödipus-Drama: Ein Mensch versucht, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, tut sein Bestes nach bestem Wissen und Gewissen und muss scheitern, weil die Götter stärker bleiben müssen. Der Zuschauer aber entwickelt Mitgefühl und Achtung vor diesem Versuch; eine künstlerische Akzeptanz des Scheiterns. Da wäre ich schon bei dem, was ich bei Mentzos gelernt habe. Und da Psychotherapie keine Tragödie ist, die zu Ende geht, und danach gehen wir gereinigt nach Hause, könnte ich unsere psychotherapeutische Aufgabe folgendermaßen zusammenfassen, wenn ich Mentzos richtig verstanden habe: Wir sind gefordert, eine tiefe Achtung zu entwickeln vor den Mustern, die jede Klientin in der prägenden Not entwickelt hat, um zu überleben. (Da meine Klientinnen in der Mehrheit Frauen sind und ich auch, wähle ich die weibliche Form, auch wenn ich über männliche Klienten schreibe.) Wir haben die unmögliche Aufgabe, unsere Klientinnen dabei zu begleiten, dass sie akzeptieren, dass man diese ersten Muster nie ganz loswerden kann. Jedoch kann man diese Muster verstehen und besser damit leben lernen, und dabei kann Psychotherapie helfen: Wir fördern das Wiedererkennen – wann das Muster wieder um die Ecke kommt bzw. immer dabei ist. Wir arbeiten wie sokratische Hebammen zusammen mit den Klientinnen den Sinn und Zweck dieser Muster in den prägenden Beziehungen heraus. Wir würdigen gemeinsam die Funktion der unliebsamen Dysfunktionalität. Die Therapeutin muss containen (manchmal harte Knochenarbeit), und die Klientin muss die »allergische Überreaktion« vor den dazugehörigen verdrängten Gefühlen oder Erkenntnissen abbauen (auch nicht so einfach). Und langfristig entwickelt die Klientin bestenfalls Mitgefühl für sich selbst, um schließlich reflektierende Distanz zu diesen tragischen Kunstwerken einnehmen zu können. Das ist, als wenn sie von der Bühne auf die Zuschauerränge wechselt, bereits im Vorspann die Tragik wiedererkennt und beschließt: Nein danke! Heute keine Wiederauflage des gesamten Dramas. (Hier nur einige Klassiker: »Die schreiende Ungerechtigkeit«, »Kränkung der Königin«, »Eifersucht pur«, »Verlassen in der Wüste«, »Ich kann ohne dich nicht leben«, »Allein gegen den Rest der Welt« usw.) Die dramatischen Zuspitzungen im Leben unserer Klientinnen versucht Mentzos zu verstehen, indem er sie in universelle Bipolaritäten einbettet. Die Symptome entstehen durch den tragischen Versuch, eine »gute«, »endgültig« funktionierende Lösung zu finden zwischen diametral entgegen­gesetzten Bedürfnissen. Meist ist ein solcher Lösungsversuch aber sehr einseitig und parteiisch für eines der beiden Bedürfnisse. Ich verstand Mentzos so, dass wir bestenfalls unsere Klientinnen dabei unterstützen können, eine toleran-

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tere, akzeptierende Haltung gegenüber beiden entgegengesetzten Bedürfnissen zu entwickeln. Denn wir werden uns nie endgültig ganz und gar geliebt fühlen, wir werden nie »richtig« gehalten oder »richtig« losgelassen werden, so dass wir nie wieder Angst oder Zweifel oder Verlassenheit fühlen müssen. Keines der entgegengesetzten Bedürfnisse ist endgültig befriedbar. Wenn wir als Therapeutinnen aber unsere Klientinnen dabei begleiten, dass sie diese perfekten Ziele loslassen und eine imperfekte Flexibilität, eine Balancefähigkeit zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Bedürfnissen entwickeln, dann haben wir hinreichend gute Arbeit geleistet. Dann sind unsere Klientinnen gereift und wir mit ihnen und die Therapie ist zu Ende. Mehr geht nicht, wenn wir nicht der Hybris unterliegen wollen, »tolle« statt nur »hinreichend gute« Therapeutinnen zu sein. So stellte ich 2010 eine Klientin in der Supervision vor, die mit Anfang vierzig in die Therapie kam, nachdem ihr Vater, ein rüstiger Rentner, plötzlich gestorben war. Die Mutter sei vor über zwanzig Jahren gestorben. In dieser Ablösungs­zeit des jungen Erwachsenenalters seien auch die Großmutter und drei weitere nahe weibliche Verwandte gestorben. Sie sei damals gut damit zurechtgekommen, denn sie sei ein »Papakind« gewesen. Der Vater sei der Fels in der Brandung für sie gewesen, bei ihm habe sie sich sicher gefühlt, sie habe sich immer auf ihn verlassen können. Der Bruder sei der Mutter näher gewesen; beide, Mutter wie Bruder, seien viel schwächer gewesen. Sie kam zur Psychotherapie, weil sie immer mehr zwanghafte Tendenzen entwickelte. Sie kontrollierte das Auto mehrmals, ob sie auch wirklich abgeschlossen habe, Briefe und Mails kontrolliere sie viel zu oft, bevor sie sie losschickte, ob sie auch alle Anhänge beigefügt habe, usw. Sie hatte Angst, so zu werden wie der Bruder, der unter einer massiven Zwangserkrankung litt. Die toughe Frau stabilisierte sich sehr schnell und dachte an Beendigung der Therapie. Sie hatte ihr Leben im Griff, organisierte kompetent den Alltag familiär und beruflich als Geschäftsführerin einer kleinen Einrichtung. Dann wurde das ältere Kind labil, interessierte sich für »Emos«, eine Bewegung im Internet, die Emotionalität idealisiert und tiefer Trauer gegenüber bis hin zum Selbstmord nicht abgeneigt ist. Sie bekam Angst um dieses Kind, stabilisierte sich wieder, dachte an Beendigung der Therapie. Sie bekam Angst um das zweitälteste Kind, weil dieses Kind Schwierigkeiten in der Schule bekam, stabilisierte sich wieder, dachte wieder an Beendigung. Sicherlich verstand sie jedes Mal etwas mehr von sich und ihren Beziehungsmustern zu den wichtigen Anderen. Sie lernte, ein Stück loszulassen, aber sie bemerkte immer wieder, dass es ihr ja gut gehe, weil sie alles im Griff habe, abwägen könne, gründlich Risiken und Nebenwirkungen eruiere, damit ihr und ihrer Familie keine Gefahren drohten.

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Ich stellte die Klientin bei einer ihrer »Stabilisierungsphasen« vor, als ich schon kommen sah, dass sie wieder an Beendigung denken würde. Die Therapie war wieder flacher geworden, sie hätte sich auch mit einer guten Freundin unterhalten können über diese »Für« und »Wider« von Versicherungen, Arbeitsverträgen, Urlaubsbuchungen. Hier meinte Mentzos, dass es darum gehe, den Verlust der Objekte zu ertragen. Dass die Verluste sie in Bedrängnis bringen, weil sie so ist, wie sie ist. Aber dass es darum gehe, dass sie selbst sieht, dass es nicht so gut ist, so starr zu sein. Dass es in früheren Jahren durchaus notwendig war, aber heute nicht mehr. Mentzos benutzte die Worte »soll« oder »muss« ganz selten, und fast in Anführungsstrichen war das Wort »sollte« aus seinem Munde zu hören. Er gab keine Richtung an, er bettete die Symptome in einen Zusammenhang. Er bot eine andere »Umrahmung«. Eingebettet in den Rahmen »Kontrolle vs. Hilflosigkeit/Verlustangst« hatte ich die Klientin besser im Blick, verstand auch das, was gefühlt »oberflächlich« wirkte, als ihre Selbststabilisierungsmaßnahmen, die weit weg von Verlustangst und Hilflosigkeit führen sollten. Diesen überdauernden Rahmen immer mitzusehen half nicht nur mir, sondern mit der Zeit auch der Klientin. So arbeiteten wir drei Jahre lang an der gemeinsamen Aufgabe, dass die Klientin ihre starre Haltung selbst wiedererkannte. Vier Jahre später, als sie in das Alter ihrer Mutter kam, als diese starb, und die Kinder immer mehr ein Ablösungsalter erreichten, kam sie zum zweiten Mal in die Therapie. Diese Behandlung hat Mentzos nicht mehr mitbekommen, aber sein überdauernder Rahmen hilft uns weiter, so dass die Klientin jetzt Mitgefühl für sich entwickeln kann, dass sie das sehr frühe emotionale Im-Stich-gelassen-Werden von der Mutter betrauert und auch die Wut und den Trotz des Mädchens spürt, das sie war, das nicht um Zuwendung bitten, sich auf keinen Fall hilflos und angewiesen fühlen wollte. Die Stabilisierung führt jetzt nicht zu einem Beendigungswunsch, sondern sie möchte diesen Trauerprozess weiterführen. Es steht ein Verlängerungsantrag an und sie sagt, obwohl es ihr besser geht: »Wir sind noch nicht fertig, Frau Pimenidou.« Die Tragik anzuerkennen, dass die Verluste der Objekte durch noch mehr Kontrolle nicht zu vermeiden und zu minimieren sind, ist für diese Frau eine Lebensaufgabe, nicht etwas, das sie ein für alle Mal bewältigen kann. In ihrem Modus und durch ihre Symptome wollte sie unbewusst Verluste vermeiden, Hilflosigkeit gegenüber den befürchteten Konsequenzen aus dem Weg gehen, und etwas betrauern wollte sie auch nicht. Nur von den Zuschauerrängen aus kann sie sehen lernen, dass es nicht immer um Leben und Tod geht und dass sie durch noch mehr Kontrollverhalten heute an den damaligen Verlusten nichts ändern, auch zukünftige Verluste nicht vorwegnehmend »weg-­ kontrollieren« kann. Sie kann sich letztendlich für den Umgang mit der Angst

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vor dem plötzlichen Tod nahestehender Menschen nur durch eine Trauer- und Wut-Toleranz rüsten. Eine manisch-depressive Klientin stellte ich zwei Mal vor in der S­ upervision. Sie war in einem leichteren depressiven Zustand, lebte in einer Beziehung zu einem jüngeren narzisstisch strukturierten Mann und meinte, dass ihre depressiven Zustände an dem nicht vollzogenen Abschiedsprozess von der vor zehn Jahren verstorbenen Mutter lagen. Sie war weder geschlagen noch missbraucht worden, aber es wurde in den sechs Jahren der Behandlung sichtbar, dass sie eine unbeschreibliche Beziehungsarmut in ihrer Kindheit erlebt hatte, ihr gesamtes Umfeld war entweder massiv süchtig oder massiv narzisstisch. Wenn sie als Kind nicht aufräumte, war die Wohnung chaotisch. Wenn sie einforderte, dass die zwei Brüder auch helfen sollten, beklagte sich die Mutter, dass die Streitereien der Kinder sie umbringen. Diese Beschuldigungen waren das »einzige Beziehungsangebot« der Mutter: »Du kannst durch Schuldgefühle mit mir verbunden sein.« Es gab im Leben der Klientin manische Phasen nach Todes­ fällen und Verlusten, in denen sie nicht selbstgefährdend war – sie habe sich zum Beispiel nicht verschuldet –, aber sie sei in solchen Phasen lebendig-aktiv. Sie habe dann geklagt, organisiert, gerettet. Nur wenn sie alles nach den Todes­ fällen erledigt hatte, geriet sie in quälende lange depressive Phasen. Wir arbeiteten an der Mutterbeziehung, aber die Emotionen blieben flach; die intelligente Frau verstand, dass sie mit der Mutter durch parentifizierte Verantwortungsübernahme durch Schuldgefühle verbunden geblieben war die ganzen Jahre. Dass eine »Schuldbindung« die einzige Bindungsmöglichkeit zu dieser Mutter war. Wir schauten uns auch die Beziehung zum Partner an; es zeigte sich, wie sehr sie diesen jüngeren Mann finanziell und emotional über Wasser hielt, wie sehr ihre Bedürfnisse in den Hintergrund geraten waren. Es blieb im Raum stehen, dass sie unzufrieden war, aber nicht bereit für eine Trennung, sondern für kleine fordernde Schritte in der Beziehung. Ich verstand nicht, wieso die Depressivität sich kaum veränderte, und stellte den Fall vor. Mentzos beschrieb die Macht der Manie, die vor Trauer und/oder Verlassenheitsangst schützt. Er riet, die biologischen Gründe dieses Krankheitsbildes nicht zu unterschätzen, er sprach von der Manie als einem hartnäckigen Reflex, einer suchtartigen Verlockung. Im traurigsten Moment entscheiden sich diese Menschen für die erfrischende und selbstwertstärkende Energie der Wut statt für die Trauer. Nun befand sich diese Frau nicht in einer Trennungsphase, und der Partner hatte kaum einen Grund, sie zu verlassen. Aber ich glaube, dass zur Depressivität geführt hatte, dass sie spürte, dass diese Beziehung den Elternbeziehungen immer ähnlicher wurde, dass sie emotional erloschen war und nur ihre Anpassung und Leistung sie aufrecht-

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erhielt (auch hier die parentifizierte Verantwortungsübernahme). Die kleinen selbst­fürsorglichen Schritte brachten die Beziehung ins Schwanken. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Es kam heraus, dass der Freund eine Affäre hatte. Es kam zur Trennung. Als der gemeinsame Hund starb, zeigte sich das Vollbild ihrer Erkrankung. Sie wurde erst aktiv, zog um, kämpfte um den sterbenden Hund, schützte sich, damit sie nicht mit in den finanziellen Ruin des Freundes geriet, schrieb Gedichte und fand eine wohlwollende Freundin. Sie nahm die »Abbiegung« zu einer Manie. Die Depression danach war sehr quälend, voller Leere und Angst. Ich sprach immer und immer wieder von der Notwendigkeit von Trauer und Trauertoleranz. Sie trauerte zunehmend, dies ging sogar verhältnismäßig schnell. Als wir dann aber an den Abgrund der noch viel früheren existenziellen Verlassenheit dieser Klientin kamen, meldeten sich die gleichen Symptome wie vor der Entwicklung der Trauertoleranz. Ich suchte wieder den Rat von Mentzos. Die gleichen Muster wurden aktiv, weil eine viel existenziellere Verteidigungslinie geschützt werden musste: die Angst vor der Verlassenheit ihrer Kindheit. Es ging um die Angst vor dem Nichts und der narzisstischen Kränkung, nichts wert zu sein für die anderen, die auch hätte zur Schizophrenie führen können. Die Klientin bog wieder vorher ab in eine manische Phase. Hier sprach Mentzos mit wertschätzenden Worten über manisch-depressive Patienten. Er sprach bewundernd und schmunzelnd von einem Patienten, der ganze finanzielle Imperien verloren hatte und dann wieder aufbaute, dass diesen Menschen in manischen Phasen tatsächlich so viel gelingt und ob diese Paradiesvögel nicht auch eine Bereicherung unserer Welt seien. Es half mir, zu hören, dass in der Nähe der Angst vor dem Nichts, Nichtskönnen, Nichtssein, nur ein geduldiges Erinnern an Sicherheit und verlässliche eigene Kompetenzen helfen kann. Wir sprachen in den Sitzungen darüber, welche Fähigkeiten sie heute tragen können, welche Sicherheiten in ihrem Leben existieren und dass es ja nicht um Sein oder Nichtsein gehe. Es brauchte lange Zeit. Die Gutachterin genehmigte mehr als hundert Sitzungen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, damit wir wieder und wieder die Angst und auch all das betrachten konnten, was sie kann und ist, damit eine innere Stabilität wachsen konnte. Wir beendeten die Therapie nach sechs Jahren. Sie hatte einen neuen Partner gefunden, wir waren durch sehr quälende Phasen gegangen und sie war wieder zufrieden und lebensfroh. Dass diese Entwicklung nachhaltig war, wurde vor Kurzem klar, als sie wegen eines Operationstermins zu Beratungsgesprächen kam und nebenbei erzählte, dass sie sich vom Partner getrennt habe, weil dieser zu viel gearbeitet habe und keine Zeit für die Partnerschaft fand, dass sie sich von einem Kunden getrennt

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habe, der seinen finanziellen Selbstruin nicht sehen wollte. Dabei habe sie sich selbst »gerettet«, sie sei wütend, aber danach nicht depressiv geworden. Bei einer konkreten Fragestellung wurde Mentzos auch konkret. Ich stellte eine Klientin vor, die seit vier Monaten in meiner Behandlung war. Die Klientin, Ende fünfzig, kam mit dem klaren Auftrag, die Mutter­beziehung zu bearbeiten, und informierte mich von ihrem Plan, noch ein Jahr die Mobbing­situation ihrer Arbeitsstelle auszuhalten und dann einen Rentenantrag wegen Depressionen und massiver psychosomatischer Reaktionen zu stellen. Der Psychiater, der sie schon länger begleitete, würde sie unterstützen. Es entwickelte sich eine etwas zu positive Übertragungsbeziehung und ich erklärte auch im Zusammenhang mit diagnostischen Fragen, dass diese Idealisierung ein Teil ihrer narzisstischen Struktur war. Ich stellte aber den Fall in der Supervision vor, weil ich zum Problem wurde: Ich wollte nicht von vornherein ausgeschlossen wissen, dass sich bei einer positiven Entwicklung die berufliche »Mobbingsituation« eventuell auch verändern konnte, und ich war innerlich nicht wirklich einverstanden, dass es sich diese Klientin so »leicht machte« und vorzeitig in Rente ging. Und obwohl sie mich ja nicht gebeten hatte, den Rentenantrag zu unterstützen, geriet ich innerlich unter Druck: Wie wollte ich reagieren, wenn der Rententräger und die Klientin mich trotzdem um eine Stellungnahme bitten würden? Hier benutzte Mentzos das Wort »sollte«. Ich hatte das Gefühl, er musste sich fast überwinden, um dieses Wort zu benutzen. »Der Rentenantrag sollte für die Therapie egal sein.« Ich sollte bei Nachfragen der Klientin sagen, dass wir in der Therapie eine andere Aufgabe, ein anderes Ziel haben. Für die Therapie sollte wichtig sein, die Muster bewusst zu machen, weshalb diese Klientin sich wünscht, dass ich auf ihrer Seite sei. Dass ich keine Stellung nehmen musste zu der Berentung, hat mich entlastet. Ich konnte schließlich wieder zu einer therapeutischen Neutralität finden und mir die Dynamik von außen anschauen, statt selbst durch meine Gefühle verwickelt zu sein. So konnten wir sehen, dass sich die Klientin immer wieder und sehr gern, nicht nur in der therapeutischen Beziehung, im narzisstischstärkenden Einklang bewegte, weil ihr sonst die Verlust- und Entwertungsangst der Kindheit drohten. Obwohl die Mutter eine angesehene alleinerziehende Akademikerin war, hatte sie die Klientin massiv vernachlässigt und war, wenn sie zu Hause war, mit Migräne im Bett verschwunden. Sie hat sogar die Klientin kränkenderweise in ein Internat geschickt und später andere Jugendliche beherbergt und verwöhnt. Diese Klientin war die letzte, die ich bei Mentzos vorstellte. Wir konnten über seinen Tod hinweg den idealisierten Einklang auch in der Partnerschaft der Klientin bearbeiten und verstehen. Dies wurde sehr wichtig, denn nach der Berentung entstand eine massive Krise in der Partner-

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schaft, die der Klientin den Boden unter den Füßen nahm. Durch ihre seelische Entwicklung konnte die Klientin Abstand nehmen von den Schwierigkeiten der Partnerschaft, statt sie mit aller Kraft auf die eigene Weise im Einklang lösen zu müssen. Indem ich aus der Falle, entweder ideale Mutter oder böse Mutter zu sein, ausgetreten bin, schafften wir (die Klientin und ich) es, diese Falle überhaupt zu mentalisieren. Ein Wort, das Mentzos übrigens nie benutzte. Er konnte mit Leichtigkeit abstinent bleiben, wie weiter unten zu lesen ist, er war aber nicht abstinent, als sich direkt nach der Probatorik eine meiner Klientinnen suizidierte und weder ich noch jemand aus ihrem Umfeld es vermutet hatten. Als die Bezugsperson nach einem Abschiedsbrief suchte, fand sie meine Rechnung und benachrichtigte mich zwei Tage vor der ersten genehmigten Sitzung. Mentzos erzählte mir von Fällen, bei denen er auch keinen Suizid vermutet hatte. Ich fand es tröstlich, auch wenn mir bewusst war, dass er mit viel mehr Menschen, die sich suizidieren wollten, im stationären Bereich gearbeitet hatte. Er hat mich leise getröstet und wir waren uns unausgesprochen einig, kein Drama daraus zu machen. Das kann jedem in unserem Beruf passieren. Als Supervisor hat Mentzos Raum gelassen. Mit seiner ruhigen, gelassenen Art lud er ein, sich die Patientin anzuschauen, Abstand zu nehmen. Als Psychodramatikerin würde ich sagen, er bot mir als Therapeutin an, auf die Zuschauerränge des Dramas der Klientin zu wechseln, damit ich später die Klientin auch dazu einladen könne. Seine Hypothesen und seine Einbettung der Symptome und der Schwierigkeiten in sein Bipolaritätsmodell halfen in stürmischen Sitzungen als Boje, oder wenn ich den Überblick verloren hatte, als roter Faden. Ich nahm bei jeder Stunde etwas mit, manchmal wurde es mir auf der Rückfahrt klar, manchmal erst viel später. Es war eine intensive Lernerfahrung. Die therapeutischen Prozesse bekamen durch die Supervisionsstunden eine theoretische Durchdringung, und durch die konkreten Patientinnen habe ich seine Bücher anders begreifen können. Und obwohl ich schon Mitte vierzig war, geschah das, was wahrscheinlich in allen Beziehungen zwischen Supervisor und Supervisandin passiert. Ich fragte mich: Wie findet Mentzos meine Arbeit? Hält er mich für kompetent? Und nachdem ich fragte, was ich seiner Meinung nach gut kann und wo meine Schwächen liegen, hat er nie geantwortet. Er ist dieser Versuchung mit Leichtig­keit entkommen, mir ein netter Supervisor zu sein. Er hatte mich ja schon vor dieser Falle gewarnt: »Seien Sie nicht zu nett.« Wenn Mentzos selbst dieser Versuchung erlegen wäre und mir im hohen Alter ein ideales griechischväterliches Gegenüber geboten hätte, hätte ich es verwechselt mit tatsächlicher Befriedigung. Er war nicht nett – zu meinem Glück. Ich war zwar etwas enttäuscht, aber ein Lob des Professors hätte mich auch nicht zu einer kompeten-

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teren Therapeutin gemacht und meine Macken wären dadurch nicht von der Bildfläche verschwunden. Stattdessen gab ich mir selbst Antworten auf meine Fragen und habe dadurch in diesem mittleren Alter meine Identität als hinreichend gute Therapeutin für ausreichend viele Menschen konsolidiert. Ich habe gleichzeitig ein wertvolles Vorbild bekommen, und obwohl mein Naturell eine so zurückhaltende Haltung wie seine nicht zulässt, bilde ich mir ein, »Mentzos-konform« zu sein, wenn Klientinnen oder Supervisandinnen nach einer Einschätzung ihrer Person oder ihrer Arbeit fragen. Dann stelle ich mein Trilemma dar: »Wenn ich Ihnen nicht sage, was ich von Ihnen halte, bin ich wie ein versagendes Elternteil; wenn ich es Ihnen sage und sie es befriedigend finden, könnten Sie es mit einer ›Lösung‹ ihres inneren Konflikts verwechseln; und wenn Ihnen meine Antwort nicht gefällt, könnte ich in Ihrem Erleben sogar zum kränkenden, verletzenden (usw.) Elternteil mutieren. Aber Sie würden nicht an den Punkt kommen, zu akzeptieren, dass nichts die alten Konflikte endgültig wiedergutmachen und wegmachen kann.« Ich möchte noch die kurzen Small Talks erwähnen, die wir am Anfang und am Ende der Stunden auf Griechisch führten. Wir schmunzelten beide, als ich sagte, dass ich das griechische psychotherapeutische Vokabular nicht kenne, weil ich in Deutschland beruflich sozialisiert sei, und er meinte, es gehe ihm auch so. Er wisse auch nicht, ob Widerstand auf Griechisch αντίσταση heißt. Und dann redeten wir einfach deutsch weiter. Ganz nebenbei haben wir damit gemeinsam die »Tragik« (wenn sie überhaupt eine ist), mit dem griechischen kulturellen Hintergrund psychotherapeutisch in Deutschland zu arbeiten, gelöst, dadurch dass wir auch hieraus kein Drama machten. Ich stellte nur eine griechische Klientin bei Mentzos vor. Ich habe es unbewusst vermieden, über Übertragungen und Gegenübertragungen in der Behandlung von Griechen als Griechin zu berichten, wie ich es vermieden habe, ihn zu fragen, was er in der Behandlung von unseren Landsleuten erlebt hat. Das wird mir im Schreiben dieser Zeilen bewusst und das bedauere ich sehr. Ich habe Mentzos auch nicht gefragt, wie er zu Gott steht und was er über den Tod denkt. Er hätte wahrscheinlich wieder nicht direkt geantwortet. Wir hatten einen letzten Termin ausgemacht, und wenn ich nicht zufällig erfahren hätte, dass er gestorben war, hätte ich wieder am Mittwoch um 11.00 Uhr vor der Eingangstür seiner Praxis gestanden. Nach seinem Tod fragte ich mich, ob er nicht bei jeder existenziellen Frage, die ich gestellt hätte, mit einem schmunzelnden und einem ehrfürchtigen Auge geschaut hätte. Wir kämpfen darum, geliebt, wertgeschätzt zu werden, Macht zu bekommen. Unser Kampf richtet sich gegen Eltern, Freunde, Partner, Kollegen, gegen ganze Gruppen, also gegen Gott und die Welt. Wir suchen endlich Lösungen und suchen

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nach dem Perfekten und leugnen dabei die universelle zutiefst menschliche Unzulänglichkeit, dass wir das, was wir uns wünschen, so wenig anderen geben können, weil wir bestenfalls nur hinreichend gut ausgestattet sind für Liebe und den Umgang mit Hass, Macht und Unterwerfung. Mentzos hatte Verständnis für unsere Unzulänglichkeiten. Er hätte in einer ruhigen, unaufgeregten Form diese Polarität im Raum stehen lassen. Dabei, so meine ich, war er kein Pessimist, er glaubte an die menschliche Fähigkeit, zwischen den Extremen zu balancieren. Vielleicht idealisiere ich ihn, aber ich stelle mir vor, dass er konsequent sein Bipolaritätsmodell gelebt hat, dass er sich nicht einfachen Lösungen hingegeben hat, nach dem Motto: »Das Beste, was wir schaffen können, ist gelassen zu akzeptieren, wie schwer es ist, zwischen den Gegensätzen eine Balance zu halten.« Vielleicht war er ja ein zurückhaltender Balancierer. Denn sich als gekonnter Balancierer hinzustellen, wäre eine Falle gewesen, die er klug erkannt und umgangen hätte.

Literatur Mentzos, S. (1982). Neurotische Konfliktverarbeitung. München: Kindler.

Mentzos am privaten Schreibtisch, Ende der 1950er Jahre

In Griechenland, Mitte der 1950er Jahre

Marianne Andrasch-Roth, Dieter Brockschmidt, Eva Fischer-Mertens, Renate Hausmann, Werner Menz, Gabriele Otto, Hildegard Wollenweber

Gruppensupervision bei Professor Mentzos – Erfahrungen einer Ärztegruppe1

Zugangswege und Anknüpfungspunkte Einige Jahre vor seiner Emeritierung erklärte sich Professor Mentzos auf Anfrage vieler Kolle­ginnen und Kollegen bereit, sein psychodynamisches Verständnis im Rahmen von Gruppensupervisionen in gemeinsamer Arbeit zu vertiefen. Es entstanden mehrere Gruppen, die sich zunächst noch im Zentrum der Psychiatrie der Universitätskliniken, dann in seiner eigenen Praxis in Frankfurt am Main und außerhalb Frankfurts trafen. Wann unsere Gruppe ursprünglich begann, weiß niemand mehr genau. Anfang der 1990er Jahre fand sich Mentzos mit anderen Psychoanalytikern seiner Generation zusammen, um sich über die therapeutische Arbeit mit Patienten, die an einer Psychose leiden, auszutauschen. Seine Weggefährten begleiteten die Anfänge dieser Gruppe, die sich dann rasch ausweitete. Nach und nach kamen jüngere Kolleginnen und Kollegen aus Kliniken und dem niedergelassenen Bereich, Fachärzte für Psychiatrie und Fachärzte für Psycho­ therapeutische Medizin zusammen. Zeitweise trugen auch Kollegen, die in der Forensik tätig waren, zur Gruppenarbeit bei. Die Gruppe blieb immer offen für neue Interessierte, es bestand aber ein stabiler Kern über viele Jahre bis zu seinem Tod. Auch wenn der große, medienwirksame Auftritt seine Sache nicht war, entfaltete Mentzos durchaus nachhaltige Wirkung in verschiedenen und breit gefächerten Feldern der psychoanalytischen und psychiatrischen Arbeit. Jede und jeder von uns Gruppenteilnehmenden fand – auf unterschiedliche Weise von der Persönlichkeit von Mentzos beeindruckt – in die Gruppe. Sein Buch »Neurotische Konfliktverarbeitung« (Mentzos, 1982) hatte einige von uns bereits durch das Studium begleitet. Andere hatten einen ersten Eindruck von 1

Dieser Text entstand auf der Grundlage eines gemeinsamen Vortrags, gehalten am 05.12.2015 bei der Jahrestagung des Frankfurter Psychose-Projekts.

Gruppensupervision bei Professor Mentzos

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ihm bei seinen Lindauer Vorträgen erhalten. Kaum jemand konnte so plastisch, lebendig und einfach, aber dennoch theoretisch fundiert, systematisch psychoa­nalytische Konzepte für Psychosen verstehbar machen. Seine Sprache war klar verständlich und wenig mit Fachtermini befrachtet, seine wunderbar eingängigen grafischen Schemata erklärten die komplizierten Zusammenhänge und Wechsel­wirkungen auf prägnante Weise. Unvergessen: das »DreiSäulen-­Modell« (Mentzos, 2009, S. 67 ff.). Ein Teilnehmer hatte Mentzos als interessierten und wohlwollenden Prüfer im Staatsexamen kennengelernt. Ein anderer fand über seine soziologische Diplomarbeit in die Abteilung von Mentzos. Hier wurden nicht nur die phänomenologischen Aspekte, sondern auch die sozio­strukturellen Bedingungen von psychischer Erkrankung in den Fokus gerückt. Eine weitere Teilnehmerin, Psychoanalytikerin, erinnert sich an den ersten Kontakt: »1994 kam eine Patientin in meine Praxis, die ich nicht wegschicken wollte, weil sie sich – als eine in den Medien bekannte Erscheinung – in dem Wahn einer Rufmordkampagne in archaischer Angst an mich gewendet hatte. Psychotische Patienten kannte ich aus der Psychiatrie, über psychoanalytische Psychosentherapie hatte ich zwar gelesen, aber dieser bedrängende Wahn mit der schwer einzuschätzenden Suizidalität beunruhigte mich sehr. Zu dieser Zeit hatte Herr Mentzos einen Vortrag über Psychosen gehalten. Ich fasste mir ein Herz, sprach ihn an und berichtete von dieser Patientin, erwähnte dabei auch meine Erfahrungen mit Patienten, die an einer Borderline-Persönlichkeits­ störung litten, und formulierte meine große Unsicherheit in Bezug auf diese so bedrängte psychotische Patientin. Herr Mentzos antwortete: ›Manchmal sind Psychotiker leichter zu behandeln als Borderline-Patienten. Wollen Sie vielleicht in meine Supervisionsgruppe kommen?‹« Ähnlich ermutigend hat ihn eine andere Teilnehmerin in ihrer Assistenzarztzeit in der psychiatrischen Nachbarabteilung der Uniklinik in den 1980er Jahren erlebt. Sie berichtet von ihren ersten Eindrücken: »Meist etwas später als die Psychiater kam die Abteilung von Herrn Mentzos in die Kantine, wo sich oft eine heitere, manchmal fast ein bisschen aufgekratzte Stimmung verbreitete. Herr Mentzos selbst war an den Gesprächen seiner jungen Kollegen zwar deutlich beteiligt, strahlte aber eher leichtes Amüsement aus. Er war kein Mensch der lauten Töne.« In der Psychiatrie war einiges in Bewegung zur damaligen Zeit, um Frankfurt herum etablierte sich gerade die Sozialpsychiatrie und gemeindenahe Psychiatrie. Überall wurden Ideen von Foucault und Basaglia breit diskutiert. Aber wie in vielen anderen Kliniken auch wurden im Zentrum der Psychiatrie der Uniklinik Frankfurt am Main immer noch Patienten unter furchtbaren

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Andrasch-Roth, Brockschmidt, Fischer-Mertens, Hausmann, Menz, Otto, Wollenweber

Umständen in Schlafsälen untergebracht und mit astronomisch hohen Dosen von Neuroleptika-­Cocktails »abgeschossen«. Zur gleichen Zeit erschien der grundlegende Artikel »Drei therapeutische Settings in der psychoanalytischen Psychotherapie psychotischer Patienten« (Mentzos, 1986). So blieb die Mentzos-Abteilung, bewundert von den einen, abfällig belächelt von den anderen, ein Haus im Haus, eine privilegierte Insel im wogenden Meer der psychiatrischen Alltagsarbeit. Eine Gruppenteilnehmerin erzählt: »Das gab mir den Mut, mich gelegentlich in besagter Kantine an Herrn Mentzos anzuschleichen, ihm von bestimmten Patienten zu berichten, zunächst in der Hoffnung, eine Übernahme in die ambulante Weiterbehandlung dort zu erwirken. Stattdessen ermutigte er mich, diesen Patienten selbst therapeutische Gespräche anzubieten, auf der Grundlage meiner analytischen Kenntnisse, die ich damals in der AGPT – Arbeitsgemeinschaft für den Erwerb des Zusatztitels Psycho­ therapie – erwarb, vielleicht noch begleitet von dem einen oder anderen Hinweis zur Psychodynamik.« Die AGPT war auch so eine Besonderheit! Mentzos gehörte neben Janos Paal, Helmut Luft und Dieter Becker zu den wenigen DPV-Analytikern (ein DPG-Institut gab es damals in Frankfurt noch nicht) (DPV: Deutsche Psychoanalytische Vereinigung, DPG: Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft), die sich für eine analytisch orientierte psychotherapeutische Ausbildung von Ärzten einsetzten. Gegen den Widerstand des Freud-Instituts hatte er 1976 gemeinsam mit wenigen Kollegen die AGPT gegründet, wo Tiefenpsychologie als eine Anwendung der Psychoanalyse gelehrt wurde und wird. In dieser dynamischen Zeit ist es ihm gelungen, den polarisierenden, auf Exklusivität ausgerichteten Strebungen seine offene, integrierende Haltung entgegenzusetzen. Dank dieser Haltung und seiner Kompetenz in Fragen der Strukturierung psychodynamischen Geschehens konnte er so einen Ort etablieren, der für Generationen von ärztlichen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten Grundlage der eigenen beruflichen Identität geworden ist. Erinnerungen einer Gruppenteilnehmerin: »Meine ersten analytisch inspirierten Behandlungsversuche von Patienten mit psychotischen Erkrankungen verliefen zwar nicht immer ganz glücklich, aber dennoch so hoffnungsvoll, dass ich mich gleich nach der Niederlassung mit der Bitte um kontinuier­ liche Supervision an Herrn Mentzos wandte, der mich ohne große Umstände in einer seiner Gruppen aufnahm, obwohl dort Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiteten, deren psychoanalytische Kompetenz und langjährige Berufserfahrung mich zunächst sehr beeindruckten – und ein wenig einschüchterten.«

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Wohlwollende Akzeptanz und wertschätzendes Interesse Auch andere Gruppenmitglieder kamen mit der Befürchtung, »etwas Dummes zu sagen«, in die Gruppe. Diese Verunsicherung legte sich aber bald. Jeder fühlte sich ernst genommen. Es war nicht so wichtig, auf welchem Wege die eigene psycho­analytische Sichtweise erworben worden war, wichtig war das gemeinsame Interesse am analytischen Verstehen der psychotischen Dynamik. In der wohlwollenden Atmosphäre der Gruppe und durch die aufgeschlossene Haltung von Mentzos löste sich bei allen, die neu dazukamen, die anfängliche Beklommenheit rasch auf. So konnten wir uns in Freiheit und Sicherheit auf den Prozess zwischen uns und den Patienten sowie der Gruppe und Mentzos einlassen. Viele von uns suchten in der Supervision Begleitung bei ihrer therapeutischen Arbeit mit psycho­tischen Patientinnen und Patienten, die es unter normalen klinischen Bedingungen nicht gab. Wir fanden in der Gruppe Unterstützung und Anleitung bei unserem Bemühen um ein theoretisches Gerüst. Mentzos half uns, das einzuordnen, was wir bisher intuitiv taten, was wir tun oder womöglich lassen sollten, und warum. Dabei verzichtete er in der Supervisionsarbeit weitgehend auf explizite metapsychologische Zuordnung, so wie er es im Vorwort zu seinem »Lehrbuch der Psychodynamik« formuliert hatte (Mentzos, 2009, S. 15). Es war dies Teil eines absichtsvollen Vorgehens zugunsten von Kreativität und Klarheit. Wie hat Mentzos die Gruppe geleitet? Es konnte passieren, dass wir während des Wartens auf verspätete Kollegen in ein angeregtes Gespräch gerieten über gerade in der Luft liegende Themen und Fragestellungen. Immer neugierig und interessiert ließ sich Mentzos von Neuigkeiten berichten und erzählte uns wiederum von seinen Erfahrungen und ihm bedeutungsvoll erscheinenden Publikationen. Die eigentliche Supervisionsarbeit begann er dann meist mit der Bemerkung: »Wer möchte … (vorstellen)?« Oder: »Hat jemand was?« Wenn eine kurze Pause entstand, fragte er gelegentlich nach dem Verlauf einer beim letzten Treffen vorgestellten Behandlung. So wurden oft Verbindungen zwischen den Sitzungen hergestellt, die identitätsbildend waren und förderlich für den Gruppen­ prozess. Wir waren eine Supervisionsgruppe und gleichzeitig profitierten wir sehr von den gegenseitigen Ideen und Beiträgen im Sinne einer Arbeitsgruppe von Gleich zu Gleich. Uns verband das gemeinsame Anliegen, herauszufinden, welche Bedeutung die individuelle vorgestellte Psychose haben könnte und wie der therapeutische Zugang aussehen könnte. Die Gruppe sammelte alle Assoziationen, Mentzos fragte gelegentlich nach, besonders nach der Gegenübertragung. Die Diskussion erfolgte orientiert am Konflikt oder Dilemma der vorgestellten Patienten und Behandlungen. Er räumte den spontanen Einfällen, sprunghaf-

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ten Eindrücken und ungefilterten Assoziationen ebenso viel Raum ein wie den eher theoretischen und strukturierenden Erwägungen, so dass sehr rasch eine Atmosphäre gegenseitiger Aufmerksamkeit und Akzeptanz in der Gruppe entstand. Und doch ließ er keine Beliebigkeit entstehen, indem er einige Voten nicht aufgriff und sich auf andere berief, die er unterstrich und weiter ausführte. Der hohe Wert der Beiträge von Mentzos speiste sich auch aus der Breite und der Tiefe seiner Interessen. Er konnte neugierig sein und staunen, er entwickelte in erster Linie Fragen, Antworten fand er im Suchen. Wohltuend war, dass weder der oder die Vorstellende noch die anderen sich wertend kritisiert fühlten. Mentzos ermutigte uns, es beim Bemühen um Verstehen zu belassen, statt aktive Empfehlungen für den Patienten oder die Patientin auszusprechen. Er vertraute darauf, dass sich allein dadurch ein innerer Raum für den Patienten eröffnen könne, der Wege aus der psychotischen Erstarrung und dem dilemmatischen Erleben ermöglicht. Er lehrte uns das Vertrauen in die wie auch immer gearteten konstruktiven Kräfte und Selbstheilungskapazitäten des Betroffenen, die durchaus auch von den Vorstellungen des Therapeuten abweichen können. Das konnte entlastend oder gar tröstend sein bei der Verwicklung in schwer aushaltbare Gegenübertragungsgefühle. Wir fanden Rückhalt bei dem Bemühen, nicht zu klärende Dinge gemeinsam mit dem Patienten auszuhalten. Gegen Ende der Sitzung gab Mentzos oft eine zusammenfassende Standortbestimmung über das, was wir verstanden hatten. Manchmal ermutigte er uns, noch mehr Geduld zu haben und den Patienten oder die Patientin vielleicht ein weiteres Mal vorzustellen. Meist gingen wir entlastet und mit Zuversicht für die weitere Arbeit auseinander.

Typische Fragen und besondere klinische Aspekte Einige Äußerungen und Erfahrungen, die uns besonders wichtig erscheinen in Bezug auf Mentzos’ Verständnis von Psychosekranken und deren Behandlung, möchten wir gern im Einzelnen wiedergeben. Immer wieder stellte Herr Mentzos fest, dass das Ertragen und Aushalten der intensiven aggressiven Gegenübertragungsgefühle die Behandlung von Psychose­kranken erschwert. Wir sind konfrontiert mit einer Fülle schwer erträglicher destruktiver Gefühle wie Neid, Hass, Wut. Hinzu kommt die Angst und Spannung eines unlösbaren Konflikts. »Es ist notwendig, das auszuhalten und den Betroffenen zu unterstützen, dass auch er es weiter aushalten kann«, sagte er uns. Wie viel Veränderungspotenzial im gemeinsamen Aushalten liegen kann, haben wir oft erst im weiteren Verlauf der Behandlungen erfahren.

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In der praktischen Anwendung seines Konzepts der »Funktion der Dysfunktionalität« (Mentzos, 2009, S. 14) konnten wir verstörende Situationen, lähmende Beklemmung und scheinbar ausweglose Konstellationen, die uns ohnmächtig, rat- und hilflos machten, als subjektiv bedeutungsvoll annehmen und uns auf den verborgenen Sinn fokussieren. Es erwies sich auch als brauchbares Kon­ strukt im Gespräch mit chronisch kranken, verzweifelt im Wahn verstrickten Patientinnen und Patienten. Mentzos als der Urheber des Begriffs »Psychosomatose des Gehirns« für psycho­tische Erkrankungen konnte auf den Furor der Neurobiologie seit Anfang des 21. Jahrhunderts mit Gelassenheit und freundlichem Interesse reagieren. Statt wie manch anderer reflexartig alles Neue abzuwehren, war er bereit, dazuzulernen. Er verstand es hervorragend, die neuen Erkenntnisse aus der neurobiologischen Forschung konstruktiv zu verwenden und in seine eigenen Konzepte zu integrieren. Auf den erbittert geführten Streit der Lager ließ er sich auch in diesem Feld nicht ein. Schon früh trat er dafür ein, in der Behandlung mit psychosekranken Patienten die Standards und Gewohnheiten der Psychoanalyse zu modifizieren. Bekannt sind die Variationen des klassischen Settings, die Behandlungen in unterschied­ licher und variabler Frequenz nicht nur erlauben, sondern für notwendig erachten. Ungewöhnliches, irritierendes Verhalten der Patienten wurde nicht als »Agieren« diffamiert, sondern es wurde versucht, es in seiner verborgenen Sinnhaftigkeit als »Handlungsdialog« zu verstehen. Das fordert uns heraus, auch in diesen Dialog einzutreten, was zeitweise bedeutet, gewohnte Sicherheiten aufzugeben und auch unsererseits Ungewöhnliches zu wagen. Durch die Wertung als hilfreiches Geschehen innerhalb des therapeutischen Prozesses wurde unser »Mitagieren« vom Verdikt des »Fehlverhaltens« befreit und schulte unsere Sensibilität für die verborgene Bedeutung auch nonverbaler Mitteilungen unserer Patienten. Durch die lange Zeitdauer der Zusammenarbeit in der Gruppe konnten wir miterleben, wie sich Patientinnen und Patienten entwickeln können, denen es gelingt, ihre psychotische Verarbeitungsweise aufzugeben. In einem Fall resultierte das Bild einer ausgeprägten Zwangsstörung. Dieses Behandlungsergebnis konnte durchaus als Erfolg gewertet werden, die Patientin war stabil und benötigte keine Medikation. Unter strukturellen Gesichtspunkten betrachtet funktionierte sie auf einem höheren Niveau als zuvor. Gleichzeitig ergab sich für uns die Frage, ob die strukturelle Verbesserung auch mit einer Verbesserung der Befindlichkeit und Lebensqualität der Patientin gleichzusetzen sei. Als eine Kollegin über die Zumutungen einer ehemals psychotischen Patientin klagte, die zunehmend schwer aushaltbare Verhaltensweisen an den Tag legte und auch in der Therapie kaum zu halten war, konnte Mentzos mit der Einschätzung, sie

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befinde sich nach jahrelanger Therapie halt jetzt auf Borderline-Niveau, mehr Verständnis für diese Frau erreichen. Häufiger kamen Patienten zur Sprache, die ihre Psychose zeitweise oder vollständig aufgeben konnten und die in psychose­ freien Zeiten unter psychosomatischen Beschwerden litten.

Abschied und Ausblick Mentzos’ unaufhörliches Bedürfnis, etwas zu betrachten, zu verstehen und zu vermitteln, drückte sich auch in der Frage aus, die ihn in der letzten Zeit beschäftigte: »Gibt es Patienten, die nicht dazu in der Lage sind, eine Psychose zu entwickeln? Und was würde das bedeuten?« Weitere Überlegungen dazu musste er uns schuldig bleiben. In einer der letzten Stunden erzählte er uns von einem neuen Buchprojekt mit dem Arbeitstitel »Kulturtheorie auf der Basis von soziologischem und psychoanalytischem Diskurs«. Es gehe um Fragen der Dynamik sozialer und wirtschaftlicher Prozesse und um die Dynamik von wirtschaftlichen Umbrüchen und der Entstehung von Kriegen: »Dazu muss noch mal etwas gesagt werden«, und – lächelnd: »Es wird noch eine Weile dauern, bis es fertig ist.« Wir waren sprachlos und in unser Verstummen hinein verwies er auf seinen vertrauten Schreibtisch mit den Büchern ringsherum und den Studenten, die ihm vorlasen. Mal mit Besorgnis, mal mit Bewunderung sahen wir Mentzos bis zuletzt, als er fast nichts mehr sehen konnte, nach der Gruppensitzung zur U-BahnStation gehen. Gelegentlich erzählte er von bemerkenswerten Veränderungen durch die schwindende Sehkraft, so zum Beispiel, dass er jetzt über die Stimme seiner Patienten vieles erfahre, was er früher in ihrer Mimik gesehen habe. Mit Humor beschrieb er die Halluzinationen, die seine Sehrinde ihm bescheren konnte: Wenn er sich zu Tisch setzte und einen leeren Teller vor sich hatte, sah er manchmal unerwartet köstliche Speisen ganz deutlich darauf liegen – und er fragte: »Ist das nicht interessant?« Indem Mentzos als Gruppenleiter uns zunehmend selbstständig arbeiten ließ, bereitete er den Boden dafür, dass wir nach seinem Tod als Intervisionsgruppe ohne ihn, aber doch mit ihm, weiterarbeiten können. Neue Mitglieder befruchten unsere Gruppengespräche. Wir hatten das Glück, für lange Zeit mit einem Gruppensupervisor arbeiten zu können, der ein kreativer, kenntnisreicher, neugieriger Forscher war und gleichzeitig ein empathischer, unaufdringlich humaner Therapeut. Herr Mentzos war ein freundlicher Mensch und ein mutiger, feiner Mann. Wir sind froh, dass wir ihn lange hatten. Wir vermissen ihn.

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Literatur Mentzos, S. (1982). Neurotische Konfliktverarbeitung. München: Kindler. Mentzos, S. (1986). Drei therapeutische Settings in der psychoanalytischen Psychotherapie psychotischer Patienten. Forum der Psychoanalyse 2, 134–151. Mentzos, S. (2009). Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Thilo Maria Naumann

Die universelle Bipolarität des Menschen – destruktive Tendenzen und schöpferische Potenziale im psychosozialen Feld

Prolog Stavros Mentzos hat nicht nur bedeutende Erkenntnisse zur Psychoanalyse, Psycho­dynamik und Psychosentherapie entwickelt, sondern auch zum Verständnis psychosozialer Prozesse. Persönlich hatte ich das Glück, mit ihm in fach­ lichen Begegnungen immer wieder über das Verhältnis von psycho­analytischem und gesellschaftstheoretischem Verstehen debattieren zu können, etwa rund um seinen Text »Die bemerkenswerte Korrespondenz zwischen der Selbst-­ Fragmentierung in der Psychose und der Dezentrierung und Inkonsistenz in der Postmoderne« (Mentzos, 2002a). Dies waren ungemein bereichernde Debatten, in denen Mentzos sich lebhaft für meine Positionen als psychoanalytisch orientierter Politologe, Pädagoge und Gruppenanalytiker interessierte und in denen ich viel von seiner psychoanalytischen Haltung lernen konnte. Auch in persönlichen Gesprächen ging es nicht selten um historische, gesellschaftliche und politische Themen. So sprachen wir wenige Wochen vor seinem Tod, es war der Höhepunkt der sogenannten »Schuldenkrise«, über die von den EU-­ Institutionen bewilligten »Hilfspakete« für Griechenland, die vor allem dazu dienten, Banken zu retten sowie Griechenland neoliberal zu restrukturieren. Wir sprachen dabei auch über die Frage, ob die autoritäre und sogar herabwürdigende Haltung besonders von Vertretern der deutschen Regierung unter anderem als Abwehr einer historischen Schuld für die deutsche Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg verstanden werden könne: Hunderttausende Hungertote, Massaker an der Zivilbevölkerung wie in Distomo oder Kalavryta, die Deportation der jüdischen Bevölkerung Thessalonikis, Plünderungen und ein Zwangskredit – nur eine Handvoll der Täter wurde je zur Rechenschaft gezogen, und bis heute wurde kaum Wiedergutmachung geleistet, weder materiell noch symbolisch (vgl. dazu Sfountouris, 2015; Glesos, 2006). Mentzos war ein politisch hoch aufmerksamer Mensch, der die menschengemachte gesellschaftliche Destruktivität sowie das dadurch erzeugte Leid bis

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in die innerpsychische Verfasstheit der Menschen hinein verstehen wollte, um Wege für glücklichere, schöpferische Lösungen menschlicher Konflikte zu erkennen und zu öffnen. Selbst in seinen subjektzentrierten Bestsellern »Neurotische Konfliktverarbeitung« und »Lehrbuch der Psychodynamik« (Mentzos, 2011, 2013) finden sich zahlreiche Hinweise auf die Wechselwirkung von psychischer Entwicklung und Psychopathologie mit ihren sozialen Kontexten. Die aus dieser Wechselwirkung entstehenden »psychosozialen Arrangements« hat er exemplarisch etwa in »Interpersonale und institutionalisierte Abwehr« (1988), in seinem Beitrag zum Sammelband »Gesellschaft und Psychose« des »Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie« (Lempa u. Troje, 2002) sowie insbesondere in seinem Werk »Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen« untersucht (Mentzos, 2002b). Zentrale Erkenntnis seiner psychoanalytischen und sozialpsychologischen Arbeiten ist die universelle Bipolarität des Menschen zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen, die zu einer dialektischen Integration von Individuation und Verbundenheit führt oder aber zu einer dilemmatischen Abspaltung eines Pols, zum Verzicht entweder auf Autonomie und Freiheit oder auf Liebe und Bindung. Sicherlich ist das Mentzos’sche Modell der Bipolarität gespeist durch die eigenen klinischen Erfahrungen und Diskussionen im »Frankfurter Psychose-Projekt«, die intersubjektive Wende der Psychoanalyse, die wachsende Akzeptanz der Bindungstheorie sowie die bahnbrechenden Erkenntnisse der Neurobiologie, und sicherlich hat nicht nur er dieses Modell als Neuerung innerhalb der analytischen Psychotherapie gesehen. Darüber hinaus war er der festen Überzeugung, dass dieses Modell auch beim Verstehen der Dynamiken in Gruppen, Institutionen und Gesellschaften von emanzipatorischem Nutzen sein kann. Gern hätte er wohl noch ein grundlegendes Projekt dazu verwirklicht. Im Interview, das Alois Münch mit Mentzos anlässlich seines 80. Geburtstags führte (S. 22 ff. in diesem Band), sagt er gegen Ende: »Das Modell der Bipolarität des Menschen mit seinen Implikationen, das sich fruchtbar im Bereich der Psychodynamik erwies, kann auch für psychosoziale Fragestellungen nützlich sein. Das Kriegsbuch entstand so als paradigmatischer Anwendungsfall einer in diesem Sinne erneuerten Psychoanalyse auf psychosoziale Probleme. Wenn mir das Schicksal noch genügend Lebenszeit schenkt, so möchte ich dieses Ziel noch überzeugender verwirklichen als im Kriegsbuch« (Mentzos u. Münch, 2010, S. 119). Bis zuletzt hat Mentzos an diesem Projekt gearbeitet. In einem Manuskript-Fragment, das er hinterlassen hat, finden sich dazu diverse Ideen und Skizzen unter dem Arbeitstitel »Die psychodynamische Dimension sozialer

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Prozesse« (Mentzos, 2015).1 Leider konnte er dieses Projekt nicht mehr fertigstellen. Seine Stimme, mit der er für die Prävention gesellschaftlicher Destruktivität und die Humanisierung der Welt eintrat, fehlt – ebenso wie seine integrierende Haltung und seine unnachahmlich klare Sprache. Aber wir können seine Haltung verinnerlichen und seine Erkenntnisse bewahren, um das Projekt der Humanisierung auf unsere je eigene Weise und nach eigenen Möglichkeiten fortzuführen. Für mich sind das Bipolaritätsmodell und seine Anwendung in psychosozialen Feldern stets eine wichtige Orientierung gewesen, und ich bin sicher, dass es vielen Kolleginnen und Kollegen in verschiedenen Arbeitsfeldern ähnlich geht. Deshalb möchte ich Mentzos’ sozialpsychologisches und sozialkritisches Schaffen in den Fokus meines Beitrags rücken. Zunächst werden bedeutsame Begriffe und Konzepte wie die Bipolarität, das Drei-Säulen-Modell, institutionalisierte Abwehr und Pseudo-Wir-Bildungen vorgestellt und im Hinblick auf ihre psychosoziale Dimension diskutiert. Dabei werde ich auch auf Passagen aus dem Manuskript-Fragment eingehen, insbesondere auf das innovative VierFelder-Modell. Im Folgenden zeichne ich die Anwendung des Bipolaritätskonzepts nach, mit der sich Mentzos in seiner breit rezipierten Analyse »Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen« beschäftigt hat. Mit den Themen »Neoliberalismus, Individualisierung und Rechtspopulismus« sowie »Geschlecht und Sexualität« möchte ich anschließend weitere Anwendungsfelder fokussieren. Auch dazu finden sich bei Mentzos differenzierte Überlegungen. Diese werde ich aufgreifen und exemplarisch aufzeigen, wie sozialwissenschaftliche Erkenntnisse mithilfe des Bipolaritätsmodells vertieft werden können. Der Auseinandersetzung mit den präventiven und schöpferischen Potenzialen des Bipolaritätskonzepts folgt abschließend ein Epilog zur Würdigung des sozialkritischen Wirkens von Stavros Mentzos.

1 Dieses Manuskript wurde mir von Ro Naumann-Mentzos und Dominik Mentzos vertrauensvoll zur Sichtung überlassen, um zu prüfen, ob eine posthume Publikation möglich sei. Ein sehr herzlicher Dank geht hier an Frau Liehr-Völker, die Mentzos viele Jahre lang als Sekretärin gewissenhaft begleitet hat und die auch die zahlreichen Tonbandaufnahmen mit Entwürfen zu diesem unvollendeten Buchprojekt höchst kompetent verschriftlicht und archiviert hat. Leider war nach intensiver Sichtung des Materials und in Absprache mit dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht bald klar, dass das Manuskript zu fragmentarisch für eine Veröffentlichung ist und dass der Versuch einer Vervollständigung ebenso anmaßend wie überfordernd wäre.

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Die universelle Bipolarität des Menschen Bipolarität und das »Kreuz des Südens« Das menschliche und notwendig zwischenmenschliche Leben ist durch vielfältige Bipolaritäten wie Aktivität und Passivität oder Nähe und Distanz gekennzeichnet. Die wichtigste, übergreifende und universelle Bipolarität besteht aus selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen, die sich auch als Egophilie und Allophilie, Autonomie und Bindung oder Freiheit und Liebe bezeichnen lassen (Mentzos, 2002b, S. 77; 2015). Gestützt auf die psychoanalytische Entwicklungspsychologie und differenziert durch die moderne Säuglingsforschung lässt sich diese Bipolarität besonders gut in der kindlichen Entwicklung zeigen. Das Selbst, seine Struktur, Funktion und Dynamik, entwickelt sich unweigerlich durch die Erfahrungen des Selbst in Beziehung zu den bedeutsamen Bezugspersonen bzw. den zunehmend verinnerlichten Objekten (Mentzos, 2015). Im gelingenden Fall kann das Kind Nähe, Sicherheit und Verbundenheit erleben, ohne dass die Entwicklung eines eigenen stabilen Selbst gefährdet wird. Gerade wenn die emotional haltende Beziehung ohne Besitzergreifung, Vernachlässigung oder intrusive Besetzung stattfindet, kann sich ein relativ autonomes Selbst gut entwickeln – Selbst und Bindung stärken sich wechselseitig (Mentzos, 2015). »Wenn aber die Bipolarität zwischen Autonomie- und Bindungsstreben aufgrund einer traumatisierenden Beziehung zu einem Konflikt erstarrt, so kann dies zwei extrem entgegengesetzte Formen annehmen: Das Kind kann entweder äußerst selbstbezogen und rebellisch werden und jede Objektbeziehung ablehnend in einem sogenannten Autoritätskonflikt verharren; oder es kann umgekehrt zwar die Liebe der Eltern durch übertriebene Anpassung und Gehorsamkeit gewinnen, muss dafür jedoch seine Autonomie und sein Selbstwertgefühl aufgeben« (Mentzos, 2002b, S. 78). Die Bipolarität bleibt auch über die Kindheit hinaus, in der Adoleszenz, im Erwachsenenleben sowie im Alter, der zentrale Konflikt menschlicher Existenz. Grundsätzlich ist das bipolare Feld von zahlreichen Ambivalenzen und potenziellen Konflikten durchzogen. So sind bereits innerhalb der beiden Pole Ambivalenzen angelegt, »z. B. innerhalb des Selbstpols: Sehe ich mich mehr als Frau oder als Mann an? Oder innerhalb des Objektpols: Liebe ich mehr männliche oder weibliche Objekte?« (Mentzos, 2013, S. 30). Entscheidend für mehr oder minder gelingende Bipolarität ist aber das Schicksal der selbst- und objektbezogenen Tendenzen. Wie eingangs schon angedeutet, kann es unter günstigen inneren und äußeren Bedingungen zu einer interdependenten Verbindung von Selbst- und Objektpol kommen, zu einer Balance von Autonomie und Bin-

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dung – nicht als fixer Zustand, sondern als dynamisches Gebilde, das dialektischschöpferische Lösungen des Grundkonflikts ermöglicht. Unter ungünstigen Bedingungen aber, besonders bei immer wieder frustrierenden und kränkenden Objektbeziehungen, entstehen unhaltbare Ambitendenzen, Dysbalancen und Dilemmata, die zur antagonistischen Polarisierung zwischen dem Selbstund Objektpol führen können (Mentzos, 1995, S. 68; 2015). Diese scheiternde Integration der Bipolarität geht mit Gefühlen der Zerrissenheit einher, die als höchst unlustvoll und gefährlich erlebt werden, so dass die Dilemmata durch Abwehrmechanismen der Verdrängung, Abspaltung und Dissoziation überdeckt werden, um zumindest eine innerpsychische Pseudokohärenz herzustellen (Mentzos, 2015). »Daraus resultieren Verhaltensweisen, Einstellungen und Haltungen, die wir im Alltag als egoistisch, uneinfühlsam, aggressiv, sadistisch, eigennützig oder aber unterwürfig, überangepaßt, aggressionsgehemmt und unsicher bezeichnen« (Mentzos, 2002b, S. 78 f.). Weil der Mensch nun gerade bei der Abspaltung entweder des selbst- oder des objektbezogenen Pols scheinbar einheitlich wirkt, ist die leidvolle Dysbalance der Bipolarität meist nicht direkt sichtbar. Um hier einen ersten Überblick zu schaffen, hat Mentzos ein Schaubild entwickelt, das aus zwei sich kreuzenden Achsen besteht, die senkrecht die negativen und positiven Seiten des egophilen Selbstpols und waagerecht die negativen und positiven Ausprägungen des allophilen Objektpols repräsentieren: das Vier-Felder-Modell (Mentzos, 2015; siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Das Vier-Felder-Modell (rekonstruiert von T. M. N.)

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Mentzos schreibt: »Das Vier-Felder-Modell bietet eine Orientierung, die mich aufgrund der äußeren Ähnlichkeit mit einem Kreuz an das Kreuz des Südens erinnert, also an jene kreuzartige Sternenformation, die wenigstens früher in der Seefahrt für Seeleute der südlichen Hemisphäre einen sicheren Orientierungspunkt in der unendlichen Weite der Meere darstellte. Damit vergleichbar soll auch unser Vier-Felder-Modell eine leicht erkennbare, erste Orientierung innerhalb der unendlichen Variationen menschlichen Erlebens und Verhaltens ermöglichen, ohne freilich den Anspruch auf eine genaue Lokalisierung des einzelnen Individuums zu erheben« (Mentzos, 2015). Die zwei Achsen lassen das Kreuz bzw. die vier Felder entstehen. Die senkrechte Achse repräsentiert das Selbsterleben, während die horizontale Achse die objektbezogenen Emotionen des Selbst repräsentiert, die die Grundlage der dann real entstehenden Beziehungen bilden, sie sind gleichsam der Selbstbeitrag bei der Entstehung dieser Beziehungen (Mentzos, 2015). Im oberen rechten Feld A ist das innere Erleben sowohl des Selbst als auch der Objekte positiv besetzt, hier gelingen die Balance der Bipolarität und dialektisch-­schöpferische Lösungen des Grundkonflikts (siehe Abbildung 2). Im linken oberen Feld B hingegen sind infolge von negativen Beziehungserfahrungen objektfeindliche Tendenzen zu verorten, die von Antipathie, Konkurrenz, Neid und Intoleranz bis zum malignen Narzissmus reichen können. Bei diesem paaren sich intensive Aggressivität mit der Entwertung oder gar Entwürdigung des Objekts, so dass das Objekt zur Herstellung dialektischer Lösungen letztlich gänzlich unbrauchbar gemacht oder gar zum Verschwinden gebracht wird. Von dieser Form der Aggression zu unterscheiden ist die Aggression im linken unteren Feld C. Hier treffen negatives Objekt- und Selbsterleben zusammen und erzeugen ein massives Minderwertigkeitsgefühl, eine Selbstwertproblematik, die im Extremfall durch Aggression gegen das Objekt im Sinne einer gereizten, anklagenden und aggressivierten Depression kompensiert werden muss. Im rechten unteren Feld D schließlich tauchen zwar positiv erscheinende allophile Tendenzen auf, die von jenen in Feld A aber unterschieden werden müssen. In Feld D haben diese Tendenzen eine neurotische Herkunft, sie stammen aus einer Schwächung des Selbst, das sich durch die neuerliche Unterwerfung unter ein überhöhtes Objekt zu retten gezwungen sieht. Hier lässt sich im Extremfall eine masochistische Depression lokalisieren (Mentzos, 2015).

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Abbildung 2: Das Vier-Felder-Modell als Kreuz des Südens psychodynamischer Bipolarität (rekon­struiert von T. M. N.)

Feld A zeigt also eine gelingende Entwicklung der Bipolarität an, während in den Feldern B, C und D mehr oder minder neurotische Lösungen des bipolaren Grundkonflikts vorliegen. Allerdings sind in diesen drei Feldern, trotz der Verzerrungen im Erleben von Selbst und Objekt, elementare Bezüge zur Realität erhalten. Wenn aber diese neurotischen Lösungen nicht mehr ausreichen, kann ein Abrutschen in einen psychotischen Modus ebenso funktional wie notwendig sein. Wenn es etwa im Fall des malignen Narzissmus nicht mehr gelingt, ein wenigstens prekäres Gleichgewicht dem Objekt gegenüber zu erreichen, wenn Ängste vor dem völligen Objektverlust aufkeimen und zugleich davor, vom Objekt verschluckt zu werden und die eigene Autonomie zu verlieren, können unbewusst psychotische Abwehrmechanismen mobilisiert werden, um das akute Dilemma eines Objektdefizits zu bewältigen. So repräsentiert etwa ein Verfolgungswahn negativ besetzte Objektanteile bzw. das vom frühen Objekt eingepflanzte innere Böse, das auf einen äußeren Verfolger projiziert wird. Dieser Vorgang dient der Abwehr allzu großer Nähe zum Objekt, während in bestimmten Halluzinationen positiv besetzte Objektanteile zum Ausdruck kommen können, die die drohende totale Objektlosigkeit und das Gefühl völliger Leere verhindern helfen. Die Dynamik der Bipolarität zwischen Angst vor zu großer Nähe und der Angst vor dem Alleinsein ist ebenso auf der neurotischen wie auf der

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psychotischen Ebene wirksam. Allerdings unterscheiden sie sich im Bezug zur Realität. Während etwa ein Mensch mit einer Agoraphobie vielleicht nicht weiß, woher seine Angst stammt, wohl aber, dass sie im Hinblick auf den Auslöser irreal ist, ist ein Mensch mit Verfolgungswahn und Halluzinationen davon überzeugt, dass er real verfolgt wird oder dass die gehörten Stimmen von realen äußeren Personen stammen. Der psychotische Modus kann somit nicht ohne Weiteres im zwei­dimensionalen Vier-Felder-Modell abgebildet werden, »es sei denn, wir stellen uns vor, dass sich unter den Feldern Prozesse abspielen, die von der Realität im üblichen Sinne abgekoppelt sind« (Mentzos, 2015). In jedem Fall ist das Vier-Felder-Modell, so Mentzos, keine intellektuelle Spielerei, sondern von großer theoretischer und praktischer Relevanz, weil es auf höchst anschauliche Weise sonst schwer zu fassende Dynamiken der Bipolarität zu beschreiben vermag – und dies gilt nicht nur für die Psychopathologie und Psychologie, sondern auch für psychosoziale Prozesse in Gruppen, Institutionen und Gesellschaften. Im Hinblick auf den Menschen zeigt das Konzept der Bipolarität, dass der einzelne Mensch kein Homo clausus ist, sondern ein zutiefst soziales Wesen, das seine Beziehungserfahrungen als Beziehungsrepräsentanzen verinnerlicht und in die mehr oder minder gelingende Gestaltung neuer Beziehungen einbringt. Darüber hinaus kann es zum tieferen Verständnis psychosozialer Prozesse beitragen, weil soziale Systeme unweigerlich von Menschen belebt werden, es muss also Homologien, Gestaltähnlichkeiten zwischen subjektiven und sozialen Prozessen geben (Mentzos, 2002a, S. 59). Mentzos betont dabei, dass er die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften keinesfalls psychologisieren möchte, da er um die Eigenlogik ökonomischer, politischer und sozialer Prozesse wisse. Aber er ist überzeugt, dass die Berücksichtigung der Bipolarität vertiefte Erkenntnisse über psychosoziale Prozesse ermögliche. Es geht ihm darum, die Dynamik destruktiver Tendenzen hin zu rigiden Entweder-oder-Lösungen etwa im Nationalismus oder Egozentrismus zu verstehen, um den Blick für dialektische Sowohl-als-auch-Lösungen, für die Integration von Selbst- und Objektbezogenheit auch im psychosozialen Feld zu öffnen (Mentzos, 2002c, S. 161). Für eine erste Orientierung kann auch hier das Vier-Felder-Modell sorgen (siehe Abbildung 3).

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Abbildung 3: Bipolarität im psychosozialen Feld (Rekonstruktion von T. M. N.)

Wichtig ist dabei, dass es hier nicht um die widerstreitenden egophilen Interessen zwischen Gruppen, Institutionen und Gesellschaften geht, sondern zunächst um deren je eigene innere Bewältigung der Bipolarität, die dann den eher destruktiven oder integrierenden Umgang mit anderen Gruppen, Institutionen oder Gesellschaften konstelliert (Mentzos, 2015). Für eine differenzierte Analyse solcher Prozesse sollen weitere wegweisende Konzepte von Mentzos für das Verstehen der Bipolarität im psychosozialen Feld rekapituliert werden. Selbstwertregulation im Drei-Säulen-Modell Mit dem Bipolaritätsmodell distanziert sich Mentzos behutsam von der zweiten Triebtheorie Freuds wie von »harten« Objektbeziehungstheoretikern wie Klein oder Kernberg insofern, als diese vom Gegensatz zweier primärer Triebe, Lebensund Aggressionstrieb, als Grundkonflikt menschlicher Entwicklung ausgehen (Mentzos, 2013, S. 55). Mentzos macht hingegen plausibel, dass es narzisstische und libidinöse, selbst- und objektbezogene Strebungen sind, die als primär gelten müssen und zu deren Befriedigung mitunter sekundär Aggression mobilisiert wird (Mentzos, 2002b, S. 247). Um dabei den Aspekt der mehr oder minder gelingenden Entwicklung und Regulation von Selbstwertgefühlen im Wechselspiel mit benignen oder malignen Beziehungserfahrungen herauszuarbeiten, hat er das Drei-Säulen-Modell entwickelt. Dabei integriert Mentzos Erkenntnisse

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der klassischen Psychoanalyse ebenso wie objektbeziehungstheoretische und selbstpsychologische Erkenntnisse. Ganz im Sinne seines Bipolaritätsmodells hat Mentzos auch in seiner eigenen Arbeit integrative, schöpferische Sowohl-alsauch-­Lösungen den rigiden, spaltenden Entweder-oder-Lösungen vorgezogen.

Abbildung 4: Das Drei-Säulen-Modell (Mentzos, 2013, S. 69)

Die Abbildung »zeigt eine runde, robuste waagerechte Plattform, die auf drei Säulen steht. Die Plattform repräsentiert, sofern sie horizontal und stabil bleibt, die adäquate Selbstwertgefühlregulation, also eine relativ ausgeglichene narzisstische Homöostase« (Mentzos, 2013, S. 68). In der ersten Säule finden sich die noch nicht realitätsgerecht transformierten kindlichen Vorstellungen eigener Grandiosität, das Größen-Selbst. Etwas darüber »sind die bei allen Menschen mehr oder weniger lebenslang vorhandenen halbbewussten Größenphantasien positioniert. Schließlich, zur Spitze hin, findet man das reife Ideal-Selbst, also die realistisch korrigierte positive Vorstellung von sich selbst, das uns trotz unvermeidlicher Fehler, Mängel, negativer Kritik etc. ein gewisses Maß an konstantem Selbstvertrauen und einen Puffer gegen Erschütterungen (durch Miss-

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erfolge und Kränkungen) garantiert« (Mentzos, 2013, S. 68). Entscheidend für die Stabilität dieser Säule ist nicht etwa Anerkennung für erbrachte Leistungen, sondern die Bewunderung und positive Spiegelung, zunächst durch die primäre Bezugsperson und später auch in anderen bedeutsamen Beziehungen (Mentzos, 2013, S. 69). Die zweite Säule basiert, nach der frühesten symbiotischen Bindung, auf der identifikatorischen Partizipation an den idealisierten Eltern-Imagines. »Im mittleren Abschnitt dieser Säule wird die Identifikation mit anderen Leitbildern repräsentiert, die zum Teil die Eltern in ihrer Funktion ergänzen und/oder ablösen. Im oberen Abschnitt stellt die Säule das reife (assimilierte und nicht nur introjizierte) Ideal-Objekt – wonach man sich orientiert – dar« (Mentzos, 2013, S. 70). Hier ist es demnach die Bewunderung des Ideal-Objekts, die Identifizierung mit den idealisierten Eltern und später mit anderen Leitfiguren, die die Entwicklung vorantreibt (S. 70). »Die dritte, linke Säule entspricht in der Basis dem archaischen, unreifen, vorwiegend auf der Zweierbeziehung basierenden Über-Ich, im mittleren Abschnitt dem sogenannten ödipalen Über-Ich (also die während der ödipalen, triadischen Konflikte und ihrer Verarbeitung übernommenen Verbote und Gebote). Im oberen Drittel findet sich das reife Gewissen. Dies umfasst zwar zum Teil die früher übernommenen Verbote und Gebote, welche jedoch nunmehr bewusst akzeptiert und bewusst bejaht werden. Zum anderen Teil aber besteht dieses reife Gewissen auch aus eigenen, neu entstandenen Maßstäben und Werten« (S. 70). Diese Säule beruht demnach auf der Anerkennung erbrachter Leistungen und dient eben dadurch der Stärkung des Selbstwertgefühls. Sicherlich ist das Drei-Säulen-Modell vor allem im klinischen Bereich außerordentlich hilfreich, nämlich beim differenzierten Verstehen von Störungen der narzisstischen Homöostase. Es macht nachvollziehbar, dass das Selbstwertgefühl zwangsläufig brüchig wird, wenn eine oder mehrere Säulen sich nur schwach ausbilden konnten. Zur notdürftigen Restabilisierung kann es dann einerseits zu überkompensierenden Reaktionen kommen, indem etwa bei Brüchigkeit der ersten Säule regressiv archaische Größenphantasien mobilisiert werden, bei der zweiten in einer Pseudounabhängigkeit die Bedeutung bewunderter Leitfiguren verleugnet wird oder bei Brüchigkeit der dritten Säule die Unfähigkeit, Über-Ich-Anforderungen zu erfüllen, durch eine »Leistungswut« verdeckt wird – diese Überkompensationen sind freilich kaum von Dauer und überspielen bloß eine depressive Dynamik (Mentzos, 2013, S. 72). Andererseits kann die Brüchigkeit einer oder mehrerer Säulen durch Hypertrophie einer genügend stabilen Säule ausgeglichen werden. Mentzos veranschaulicht das am Beispiel eines Menschen, der als Kind kaum positive Spiegelungen erfahren hat und

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dem zudem keine geeigneten Identifikationsfiguren zur Verfügung standen, bei dem also die ersten beiden Säulen brüchig geblieben sind. Über lange Zeit konnte er diesen narzisstischen Mangel durch die Hypertrophie der Über-IchSäule ausgleichen, durch eine intensive Leistungsbereitschaft, die ihm zugleich die nötige soziale Anerkennung und Verbundenheit verschaffte, auch als Ersatz für die versagte narzisstische Versorgung beim Ideal-Objekt und Ideal-Selbst (Mentzos, 2013, S. 71). Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die Regulation des Selbstwertgefühls von sozialen Beziehungen im Privat- oder Arbeitsleben abhängt, und daraus folgt, dass das Drei-Säulen-Modell auch für die Analyse psychosozialer Prozesse außerordentlich nützlich sein kann. Es erlaubt, neben frühen konfliktbedingten Störungen auch zusätzliche Erschütterungen der Homöostase wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Arbeitsbelastung sowie Selbstwertprobleme im Rahmen gesellschaftlicher Desorientierung und Verunsicherung zu berücksichtigen (Mentzos, 2013, S. 72). Es hat überdies eine große sozialpsychologische Bedeutung, weil es verstehen hilft, wie Menschen ihre narzisstische Homöostase im Hinblick auf Ideal-Selbst, Ideal-Objekt und Über-Ich, ihre narzisstische Bedürftigkeit und Wünsche nach Verbundenheit durch gesellschaftliche Einflussnahme, ideologische Zugehörigkeit oder eine vermeintlich überlegene Moral zu sichern trachten (Mentzos, 2013, S. 70). Nicht zuletzt macht es nachvollziehbar, wie diese narzisstische Bedürftigkeit und der Wunsch nach Verbundenheit in den Dienst ökonomischer, politischer und ideologischer Interessen genommen werden können. Affekte, Bipolarität und Konflikt Eine wesentliche Rolle bei der gelingenden Balancierung der Bipolarität spielt die Dynamik der Affekte. Affekte bringen menschliche Bedürfnisse zum Ausdruck. Sie sind ausgesprochen körpernah und unweigerlich in ein zwischenmenschliches Beziehungsgeschehen eingebettet (vgl. Krause, 1998, S. 28 ff.). Zu unterscheiden ist zwischen primären und strukturellen Affekten. Primäre Affekte sind insbesondere Freude, Angst, Wut, Ekel und Trauer. Strukturelle Affekte sind etwa Neid, Stolz, Scham und Schuld oder auch Empathie – sie kommen erst mit der Bildung von Beziehungsrepräsentanzen mit ihrem Selbst- und Objektpol in der psychischen Struktur auf und sind wesentlich stärker sozialisationsbedingt (Mittelsten Scheid, 2012, S. 166 f.). Zu Beginn des Lebens ist das Kind zur Affektregulierung auf die markierten Spiegelungen des Affektausdrucks sowie Befriedigung stiftende Handlungen der primären Bezugs­personen angewiesen. In der weiteren Entwicklung kann das

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Kind zunehmend selbst durch sinnlich-symbolisches und sprachsymbolisches Handeln zur Affektregulierung beitragen. Bei genügend guter Affektregulierung entsteht mit etwa vier bis fünf Jahren die Fähigkeit zur Mentalisierung, also das Vermögen, die mentalen Zustände anderer Menschen wahrzunehmen und sie von den eigenen mentalen Zuständen zu unterscheiden (Fonagy u. Target, 2006, S. 365 ff.). Wenn die Affektregulierung scheitert, können die Affekte nicht integriert werden und müssen sich unbewusst andere Abfuhrbahnen suchen. Auch die Fähigkeit zur Mentalisierung kann massiv eingeschränkt sein: Das Kind vermag die Getrenntheit und gleichzeitige Verbundenheit im Hinblick auf andere Menschen weder zu fühlen noch zu denken (Fonagy u. Target, 2006, S. 375 ff.). Mit Mentzos könnte man sagen, dass es bei scheiternder Affektregulierung zur Dysbalance von selbst- und objektbezogenen Tendenzen kommt – bis hin zur Unfähigkeit, zwischen innen und außen, zwischen Selbst und Objekt zu unterscheiden. Die Affektdynamik ist also hoch bedeutsam bei der mehr oder minder gelingenden Bewältigung des Grundkonflikts. Deshalb möchte ich nun den Zusammenhang von Affekt und Konflikt anhand der Affekte Angst, Aggression, Scham und Schuld darstellen. »Die Angst ist einer der primär vorgegebenen und für das Überleben eminent wichtigen Affekte. Sie wird als Angstreaktion bei äußeren und inneren Gefahren mobilisiert und erfüllt die Funktion eines Signals, welches das Ich zu entsprechenden Maßnahmen zwecks Begegnung der Gefahr (Kampf, Flucht usw.) veranlasst« (Mentzos, 2013, S. 34). Im bipolaren Konflikt sind nun die entgegengesetzten selbst- und objektbezogenen Tendenzen strukturell mit intrapsychischen Spannungen, Gefahren und dadurch mobilisierten Ängsten verbunden. So droht beispielsweise beim Konflikt zwischen autistischem Rückzug und der Fusion mit dem Objekt entweder die Angst vor völliger Objektlosigkeit oder vor Selbstverlust durch die Verschmelzung mit dem Objekt; beim Konflikt zwischen Autonomie und Unselbstständigkeit droht entweder die Angst, abgelehnt und getrennt zu sein, oder diejenige, in einer demütigenden Abhängigkeit verharren zu müssen (Mentzos, 2013, S. 31). Wenn dann aufgrund von ungünstigen inneren und äußeren Bedingungen keine dialektischen Lösungen des Konflikts gelingen, entstehen Symptome, die zwar als kreative Leistungen gelten können und das psychische Überleben sichern, die aber auch mit Dysbalancen und erheblichem Leid einhergehen. Mit Freud lässt sich hier sagen: »Die Symptome werden geschaffen, um die Gefahrsituation zu vermeiden, die durch die Angstentwicklung signalisiert wird« (1926, S. 70). Aggression versteht Mentzos, ähnlich wie die Angst, nicht als Trieb oder Triebderivat, sondern als sinnvolles Reaktionsmuster zur Bewältigung äußerer

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und intrapsychischer Konflikte (Mentzos, 2013, S. 42; siehe Abbildung 5). Primär ist dabei die konstruktive Aggression, die der Verwirklichung der Balance von Autonomie und Bindung dient (Mentzos, 2002b, S. 93). Dies zeigt sich schon im Kindesalter, wenn ein Kind in der Wiederannäherungskrise seinen Eltern ein trotziges »Nein« erwidert, um seine Autonomie zu verteidigen; oder wenn Aggression mobilisiert werden muss, um sich aus einer zu eng gewordenen dyadischen Beziehung herauszuentwickeln. Aggression ist mitunter erforderlich, weil sie zur Befriedigung narzisstischer und libidinöser Bedürfnisse beiträgt (vgl. Naumann, 2010, S. 134 f.). Destruktive Aggression entsteht psychodynamisch erst sekundär, wenn dauerhafte unlösbare Konflikte verinnerlicht werden. Die Verinnerlichung von wiederkehrenden Zurückweisungen, Kränkungen, Intrusionen oder Gewalterfahrungen führt entweder zur erzwungenen Aufgabe von Autonomie und Freiheit oder zum tragischen Verzicht auf Bindung und Liebe (Mentzos, 2013, S. 42).

Abbildung 5: Funktionale Aggression nach Mentzos

Wenn der unbewältigte Konflikt dann in der psychischen Struktur verankert ist, entsteht eine nicht versiegende Quelle innerer Aggression. Im Fall der Überbetonung des Selbstpols zeigt sich die Aggression eher nach außen, um sich das ebenso ersehnte wie bedrohliche Objekt vom Leib zu halten oder um die eigene Pseudoautonomie durch die gewaltvolle Unterwerfung anderer zu retten. Bei der Überbetonung des Bindungspols richtet sich die Aggression eher nach innen auf das eigene Selbst, um das dringend benötigte Objekt nicht zu verlieren (Mentzos, 2002b, S. 96; 2013, S. 43). Zusätzlich kompliziert wird dieses Geschehen dadurch, dass der intrapsychische Konflikt unweigerlich in einem äußeren Beziehungsrahmen stattfindet – hier kann es zu Reinszenierungen des inneren Konflikts kommen, zu zusätzlichen mehr oder minder unterdrückten Frustrationsaggressionen infolge realer Anpassungszwänge oder auch zu korrigierenden benignen Beziehungserfahrungen. Mit einem Beispiel aus dem pädagogischen Umgang mit Kindern und ihren Eltern möchte ich dies illustrieren:

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Tim ist als Frühchen im siebten Schwangerschaftsmonat zur Welt gekommen, die ersten Tage waren durch eine existenzielle Bedrohung geprägt. Die Eltern sind sehr liebevoll, aber auch überängstlich, was wegen der tiefen Sorge um das Überleben Tims nicht verwunderlich ist. Sie behüten Tim, soweit sie nur können. Als Tim mit drei Jahren in die Kita kommt, fallen sofort sein sonniges Gemüt und seine einnehmende, freundliche Art auf. Zugleich wirkt Tim etwas tapsig, vor allem zeigt er massive Ängste. Einerseits hat er Angst vor Höhe, vor Aufzügen und U-Bahnschächten, andererseits hat er Angst, am Essen zu ersticken. Sicherlich keimen dabei tief ins Körpergedächtnis eingegrabene Erinnerungen an die Maßnahmen zur Rettung seines Lebens auf. Zudem aber hat die Überängstlichkeit der Eltern zu einer Überbetonung der Bindung beigetragen, während Tim keine autonome Handlungsfähigkeit entwickeln durfte. Die folgende Aggression bleibt unsagbar und zeigt sich nur verdreht als Angst und immer weitere Selbstbeschränkung. So kommt in den tapsigen Bewegungen die fehlende Erfahrung zum Ausdruck, sich selbst und den eigenen Körper zu erproben, weil die Eltern etwa auf dem Spielplatz jede ansatzweise gefährliche Situation unterbinden. Die Ängste signalisieren, in der Beziehung zu den überbehütenden Eltern verschlungen zu werden, daran gleichsam zu ersticken. Die Eltern reagieren zunächst darauf, indem sie Tim nur noch Brei zubereiten und alle ängstigenden Situationen vermeiden. Doch damit müssen Tim seine Ängste vollkommen real erscheinen und die Bindung an die Eltern als einzige Rettung. Als die Eltern in Kooperation mit den Pädagogen über ihre Ängste und auch über die Wut, dass Tim ihnen so viele Sorgen bereitet, sprechen können, kommen sie in Kontakt mit dem Wunsch, selbst ein Stück unabhängiger von der permanenten Sorge zu werden, und vor allem auch mit Tims Autonomiewünschen. In der Folge werden Tim sowohl in der Familie als auch in der Kita behutsam Herausforderungen zugemutet, die er erst in Begleitung und dann immer selbstständiger bewältigt. Der Erfolg dieser nachholenden Entwicklung zeigt sich deutlich, als Tim, inzwischen fünfjährig, voller Stolz strahlend von der Toilette kommt und den pädagogischen Bezugspersonen zuruft: »Ich habe einen Haifisch gekackt!« Nun traut sich Tim endlich zu, sogar ein so starkes, unabhängiges, gefährliches Tier hervorzubringen (Naumann, 2011, S. 138).

Auch sozialpsychologisch ist dieser Aggressionsbegriff von großem Nutzen, weil er Aggression in sozialen Konflikten tiefer verstehbar macht. Sicherlich gibt es manifeste soziale Konflikte, in denen es um Macht, Ressourcen, Einflussnahme etc. geht, die Aggression erzeugen. Häufig wird diese Aggression zunächst projektiv abgewehrt, in der gegnerischen oder konkurrierenden Gruppe deponiert, um dann das eigene aggressive Handeln als notwendige Reaktion auf die Aggression

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dieser Gruppe zu rechtfertigen. Daneben aber, das macht Mentzos deutlich, gibt es innerhalb von Gruppen, Institutionen oder Gesellschaften selbst produzierte Frustrationsaggressionen aufgrund der Struktur gewordenen Pseudolösung des bipolaren Konflikts – Aggressionen, die dann freilich auch projiziert werden können (Mentzos, 2002b, S. 102). So entsteht etwa in einer Gruppe, die den Selbstpol überbetont, Angst vor der Gefährdung der Gruppenidentität und potenziell Aggression als Abwehr dieser Angst, weil strukturell ein spiegelndes und regulierendes Gegenüber fehlt. Die Aggression kann sich dann als Zunahme psychosomatischer oder psychischer Erkrankungen zeigen und/oder als entwertender und destruktiver Umgang mit anderen Gruppen. Die Affekte Scham und Schuld haben wie die Angst zunächst eine sinnvolle Signalfunktion. Schamgefühle signalisieren auf oft sehr unlustvolle Weise die Herabsetzung oder Bedrohung des Selbstwertgefühls besonders in Situationen, in denen das eigene Fühlen, Denken und Handeln in den Augen von anderen lächerlich, selbstsüchtig, schwach oder kleinlich wirken könnte. Das Schamgefühl trägt dann dazu bei, »den Umstand, der unsere Wertigkeit oder Selbstachtung gefährdet, zu vermeiden oder rückgängig zu machen« (Mentzos, 2013, S. 36). Schuldgefühle signalisieren hingegen »eine stattgefundene oder bevorstehende Verletzung der Rechte und Bedürfnisse der Anderen« (S. 36). Im Sinne eines reifen Über-Ich motivieren Schuldgefühle dazu, das schädigende Verhalten zu korrigieren oder eine Wiedergutmachung zu initiieren. Scham- und Schuld­ gefühle dienen also der Regulation des zwischenmenschlichen Zusammenlebens entlang dem Selbstpol der Scham und dem Objektpol der Schuld. Unter ungünstigen inneren und äußeren Bedingungen können Scham- und Schuldgefühle aber auch so unangemessen aufgebläht und unerträglich werden, dass sie abgewehrt werden müssen. So kann das Aufwachsen unter Bedingungen persistierender Beschämung dazu führen, dass sich die Angst vor Beschämung zu einer sozialen Phobie wandelt, zur grundsätzlichen Furcht und Vermeidung, sich dem beschämenden Blick anderer auszusetzen – der bipolare Konflikt wird hier einseitig pseudogelöst, »der Selbstschutz wird auf Kosten der Bindungs- und Kontaktbedürfnisse, die geopfert werden, gesichert« (Mentzos, 2013, S. 36). Schuldgefühle wiederum können unter dem Druck eines überstrengen Über-Ich so unerträglich werden, dass sie entweder verdrängt werden und sich andere Abfuhrbahnen suchen müssen oder durch Gegenaktionen »wie etwa durch Selbstschädigung gleichsam ausgeglichen werden« (Mentzos, 2013, S. 37). Über diese Not individueller Abwehr hinaus zeigt Mentzos, wie sehr gerade Scham- und Schuldgefühle einerseits von den sozialen Kontexten ihrer Entstehung, von herrschenden Konventionen und Normen abhängen, andererseits aber mit der universellen Bipolarität des Menschen verquickt sind. Er differen-

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ziert dabei zwischen autonomen Scham- und Schuldgefühlen und heteronomen Scham- und Schuldgefühlen, die zwar verinnerlicht, aber nicht reif integriert sind, die also ein äußeres, nicht hinterfragtes Gesetz repräsentieren. Ein autonomes Schamgefühl signalisiert die Gefährdung des Selbstwertgefühls, wenn man verbirgt, wer man ist, wenn man sich sozialen Zumutungen einfach unterwirft und sich nicht wehrt, wenn es also zu einem Selbstverrat kommt (Mentzos, 2002b, S. 117). Heteronome Schamgefühle keimen hingegen auf, wenn äußeren und verinnerlichten Konventionen nicht Genüge getan wird. Bei den Schuldgefühlen verhält es sich ähnlich. Autonome Schuldgefühle zeigen sich bei der Verletzung wirklicher prosozialer Impulse, die zur Schädigung anderer führt, während heteronome Schuldgefühle durch die Nichterfüllung herrschender Normen entstehen (Mentzos, 2002b, S. 116). Ein plakatives Beispiel dazu ist der Umgang mit Verfolgten unter einem diktatorischen Regime. Autonome Schamund Schuldgefühle müssten hier unweigerlich aufkommen, wenn Verfolgten nicht geholfen würde. Dagegen stehen aber heteronome Scham- und Schuldgefühle, weil durch die Hilfe einerseits der Selbstwert im Spiegel der Mehrheitsgesellschaft bedroht wäre und andererseits eben diese Mehrheitsgesellschaft vermeintlich geschädigt würde. So wird bei heteronomen Schamgefühlen der autonome Selbstpol verleugnet und bei heteronomen Schuldgefühlen der autonom-zugewandte Objektpol – an die Stelle beider treten die Konventionen der herrschenden Moral. Insgesamt ist festzuhalten, dass Affekte wesentlich an der mehr oder minder gelingenden Balancierung der Bipolarität beteiligt sind und dass dabei unweigerlich innere und äußere Konflikte ineinandergreifen. Neben den hier problematisierten Aspekten und ihren destruktiven Tendenzen in den Einzelnen oder sozialen Gemeinschaften ist immer auch zu fragen, in welchen psychosozialen Feldern schöpferische Begegnungen und Prozesse möglich sind, in denen Individuation und Verbundenheit balanciert sind und sich lustvolle Affekte wie Freude über das Dasein und Stolz auf die eigene und gemeinsame Kreativität zeigen und entfalten können. Institutionalisierte Abwehr und Pseudo-Wir-Bildungen Heftige Affekte, die infolge einer verinnerlichten Konfliktdynamik nicht bewältigt werden konnten, müssen unbewusst bleiben oder unbewusst gemacht werden (Mentzos, 2011, S. 60). Sie sind damit aber nicht verschwunden, sondern suchen sich andere Abfuhrbahnen, vor allem in Form einer sich zwangsläufig wiederholenden und manchmal verdreht erscheinenden Inszenierung, die zwar dem psychischen Überleben dient, aber die Wahrnehmungs- und Handlungs-

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fähigkeit des Menschen mehr oder minder leidvoll einschränkt. Eben diese Abwehr bedrohlicher Affekte und die verschiedenen Abwehrmechanismen hat Mentzos konsequent aus der Perspektive der Bipolarität systematisiert. Im Folgenden sollen deshalb zunächst kurz intrapsychische Abwehrmechanismen vorgestellt werden, um dann etwas ausführlicher auf das Konzept der psychosozialen, insbesondere der institutionalisierten Abwehr einzugehen, da dieses für das Verständnis psychosozialer Prozesse höchst bedeutsam ist. Mentzos unterscheidet zunächst drei Ebenen der Abwehr: die Abwehr auf eher psychotischem, narzisstischem oder neurotischem Niveau. Diese Einteilung bemisst sich nach den psychosozialen Kosten, etwa der Tiefe der Einschränkung in der Wahrnehmung innerer und äußerer Realität, die mit der Abwehr von Angst, Wut, Scham oder Schuld einhergehen (Mentzos, 2013, S. 45). In der psychotischen Abwehr ist die Fähigkeit zur Unterscheidung von Phantasie und Realität ernsthaft außer Kraft gesetzt. So kann sich etwa eine psychotische Verleugnung als Liebeswahn einer schicksalhaften Verbindung mit dem Objekt der Begierde zeigen – ein Wahn, der zwar eine ersehnte Beziehung zum Objekt zum Ausdruck bringt, doch dabei die äußere Realität, die konkrete Verfasstheit des Objekts, dessen Bedürfnisse und Ablehnung, völlig verleugnet (Mentzos, 2013, S. 46). Bei der eher narzisstischen Abwehr fehlt das psychotisch Wahnhafte, allerdings ist das Erleben recht global durch eine besondere narzisstische Bedürftigkeit und Kränkbarkeit geprägt. So kommt es in der nicht psychotischen Projektion zur Spaltung und Verleugnung von negativen, schambesetzten Selbstanteilen, die dann auf andere Menschen oder Gruppen projiziert werden. Auf diese Weise ist die in Beziehungen erlebte und verinnerlichte Ambivalenz als einfaches Schema von Gut und Schlecht entsorgt (Mentzos, 2013, S. 46). Die klassischen neurotischen Abwehrmechanismen, wie Rationalisierung, Intellektualisierung, Affektualisierung, Reaktionsbildung oder Verschiebung, resultieren aus eher eingegrenzten Beziehungskonflikten und dienen der Abwehr von einzelnen Affekten oder Affektbereichen. So kann etwa die Verschiebung von Ängsten, die sich um das gefährdete Selbst oder Objekt drehen, zu Phobien führen. Quer zu dieser Logik unterschiedlicher Reifegrade ist noch die psycho­ somatische Abwehr zu erwähnen. Dabei kommt es zu einer Passung zwischen Körper und Konflikt, die unbewusst zur Konfliktbewältigung eingesetzt wird (Mentzos, 2013, S. 191). Der Körper gerät zu einem Beziehungsobjekt, das stets zur Verfügung steht, um durch Internalisierung oder Externalisierung, wie bei den Fress- und Brechanfällen im Kontext einer Bulimie, einen ungelösten Konflikt zu inszenieren und gleichzeitig loszuwerden (S. 197). Schließlich sind Humor und Coping als reife Bewältigungsmuster zu nennen, die Spielräume für affektive Ambivalenzen öffnen und damit Reflexion, Symbolisierung und ein

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erweitertes Erleben und Handeln trotz der Konflikthaftigkeit der menschlichen Bipolarität ermöglichen. Der häufigste Abwehrmodus ist laut Mentzos die psychosoziale Abwehr. Dabei werden internalisierte Konflikte, die eine starke Tendenz zur Externalisierung haben, in verfügbaren sozialen Beziehungen untergebracht. Durch das alltägliche Mitagieren der beteiligten Menschen entstehen »Kollusionen« (J. Willi), psychosoziale Arrangements, die meist der Kompensation narzisstischer Defizite oder der Ersatzbefriedigung libidinöser Bedürfnisse dienen (Mentzos, 2011, S. 256 ff.). So spricht Mentzos von interpersonaler Abwehr, wenn die Beteiligten in einer realen Beziehung unbewusst miteinander verhakt sind, so dass ihr wechselseitiges Agieren die Abwehr unbewältigter Affekte aufrechterhält. Besonders häufig sind hier projektive Identifizierungen, bei denen der Andere, auf den unbewältigte negative Selbstanteile oder auch unerreichbare ideale Selbstbilder projiziert werden, tatsächlich im Sinne dieser Zuschreibung zu fühlen und zu handeln beginnt. In Gruppen lässt sich dies sehr gut beobachten. So erleben wir in Gruppen manchmal die Idealisierung eines Teilnehmers, der dann ebenso stolz wie angestrengt dieser Anrufung gerecht zu werden versucht, oder wir begegnen dem leidvoll bekannten Phänomen des »Sündenbocks«, an dem nicht nur Aggression entladen wird, sondern der überdies die ihm auferlegte Rolle des »negativen Selbst« zu agieren beginnt (Mentzos, 1988, S. 93; Naumann, 2014, S. 49). Der für die Analyse psychosozialer Felder wichtigste Modus ist die institutionalisierte Abwehr. Institutionalisierung ist als dynamischer sozialer Prozess zu verstehen, in dem Regelungen produziert werden, die Komplexität reduzieren und soziale Handlungs- und Beziehungsmuster auf eine Weise formen und regulieren, die für die Beteiligten eines Interaktionsprozesses erwartbar sind, somit Sicherheit spenden und bestenfalls der Befriedigung berechtigter Bedürfnisse dienen (vgl. Mentzos, 2011, S. 259). Die so entstehenden Institutionen sind unweigerlich eingebettet in historisch-gesellschaftlich entstandene ökonomische, politische und ideologische Verhältnisse, und sie haben, kritisch betrachtet, die Funktion, diese Verhältnisse zu reproduzieren. Eine besonders wichtige Spielart der Institutionen sind Organisationen wie etwa Unternehmen, Verwaltungsapparate oder Einrichtungen des Bildungs- und Gesundheitswesens. Diese haben eine primäre Aufgabe, verfolgen also einen bestimmten Zweck, wie die Produktion von Waren, Bildung oder Gesundheit (vgl. Busch, 2007a, S. 23). Entscheidend ist nun, dass Institutionen nicht nur soziale, sondern auch psychische Funktionen haben, schließlich sind sie von Menschen für Menschen geschaffen. Dabei erzeugen die institutionellen Handlungsabläufe, Interaktionsmuster und Sprachnormen ein institutionelles Unbewusstes

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und verkoppeln sich mit der Abwehrbereitschaft der Einzelnen (Busch, 2007a, S. 25). Einerseits entsteht institutionalisierte Abwehr dadurch, dass die Einzelnen ihre Abwehr unbewältigter Affekte in den institutionellen Mustern unterbringen können. Dies entlastet zunächst von Angst und sichert gleichzeitig den Fortbestand der Institution. Denn »die von der Institution garantierte Sicherung der neurotischen Abwehr wirkt beim einzelnen als eine Art Prämie, die seine Motivation zur Unterstützung der Institution erhöht und somit zu ihrer Stabilisierung beiträgt« (Mentzos, 1988, S. 111). Beispielhaft schreibt Mentzos: »Der patriarchalische Chef mag wegen seiner systemimmanenten autoritären Haltung und der damit einhergehenden Unterdrückung unangenehm, sogar verhaßt sein, andererseits übernimmt er eine quasi väterliche Funktion, er schützt vor äußeren Gefahren, er garantiert (tatsächlich oder angeblich) eine sichere Zukunft, er übernimmt Verantwortung im Hinblick auf wichtige Entscheidungen etc. Auf einer tieferen, unbewußten Ebene mag er auch als geeignete Vaterübertragungsfigur wahrgenommen werden, an der die ödipale Problematik weitab von der eigenen Familie heftig agiert werden kann. Umgekehrt wiederum dient diese Konstellation dem ›Chef‹ selbst bei der Überwindung von Minderwertigkeitsgefühlen und bei der Festigung von Größenphantasien. Sie hilft ihm beim Verleugnen, Rationalisieren und Verschieben. Seine Angst vor Verantwortung, seine Zweifel an seiner eigenen Potenz und seinen Fähigkeiten kann er dadurch besser kompensieren. Aber auch bei der Verdrängung von Schuldgefühlen, die infolge seines aggressiven Verhaltens entstehen, ist sie ihm nützlich – er handelt ja im Rahmen seiner Aufgabe und Funktion. So hat er die Gelegenheit, in legaler Weise aggressive Affekte auf die Untergebenen zu verlagern und dort abzureagieren. Auf einer tieferen, unbewußten Ebene schließlich hilft ihm womöglich diese aktive, eingreifende, herrschende Rolle bei der Festigung seiner individuellen Abwehr gegen eigene Passivitäts- und Geborgenheitswünsche« (Mentzos, 1988, S. 82). Andererseits können Institutionen selbst Ängste erzeugen und institutionell begründete Abwehrformen und Pseudolösungen des Grundkonflikts erforderlich machen (Mentzos, 2002b, S. 79). Besonders in Organisationen »erzeugt das aufgabenorientierte interne organisationsspezifische Handeln bei den beteiligten Organisationsmitgliedern Ängste, gegen die Abwehrformationen gebildet werden« (Busch, 2007a, S. 24). Dazu ein weiteres Beispiel aus dem pädagogischen Feld: Wenn sich in einer Kindertageseinrichtung unter wachsendem Optimierungsdruck ein »Förderwahn« (Wolfgang Bergmann) etabliert, der den Kindern Kompetenzen antrainieren und abweichendes Verhalten austreiben will, verfestigt sich eine Kultur der Affektarmut und des Wegfühlens, in der Wünsche nach Nähe und Verbundenheit verworfen werden müssen. Die durch diese Interaktionspraxis der

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Organisation erzeugten Ängste vor fehlendem Halt und davor, in der Konkurrenz nicht zu bestehen, müssen dann im Sinne institu­tionalisierter Abwehr dem Erleben ferngehalten werden. So lässt sich etwa die wenig einfühlsame Förderpraxis, und selbst die darin versteckte Aggression infolge der Zumutungen für Pädagogen, Eltern und Kinder, als notwendige Maßnahme rationalisieren, die den Kindern erst ein erfolgreiches Bestehen in der Welt sichere. Freilich ist zu befürchten, dass sich die abgewehrten Affekte früher oder später als psychosomatisches Symptom oder als destruktive Aggression zeigen (Naumann, 2014, S. 49). In jedem Fall erzeugt die institutionalisierte Abwehr mit ihren Pseudolösungen der intrapsychischen, interpersonalen und institutionellen Konflikte erhebliche psychosoziale Kosten. Im Hinblick auf Organisationen macht Christian Kinzel deutlich, dass die von ihm so genannten »Angstabwehr­systeme« die Erledigung der Primäraufgabe beeinträchtigen, weil sie Demoralisierung auslösen können, notwendige Weiterentwicklungen stocken lassen, da dies mit Veränderungen und weiteren Ängsten verbunden wäre, oder auch durch Spaltungen und projektive Identifizierungen destruktive Entwertungen und Sünden­bockbildungen erzeugen (zit. nach Busch, 2007a, S. 26 f.). Besonders in Krisenzeiten, wenn Institutionen oder gar ganze Gesellschaften vor massiven Umwälzungsprozessen stehen, wird die institutionalisierte Abwehr womöglich zunächst noch intensiviert, löst sich dann aber unter Veränderungsdruck auf, so dass die bislang institutionell gebundenen Affekte freigesetzt werden, was mit erheblichen Verunsicherungen und gar Dekompensationen einhergehen kann (Busch, 2007a, S. 23; Mentzos, 2011, S. 265). So ist es sicherlich kein Zufall, dass die rasanten Veränderungen der Arbeitswelt, die sich kurz als Deregulierung, Flexibilisierung, Subjektivierung und Entgrenzung beschreiben lassen, mit einem dramatischen Anstieg reaktiver Erkrankungen wie Sucht und Depression einhergehen (Morgenroth, 2015). Daraus sollte freilich nicht folgen, Veränderungen abzublocken, und zwar nicht nur, weil manche Institution dann existenziell bedroht wäre, sondern auch, weil die institutionalisierte Abwehr zwar temporär Sicherheit spendet, aber dennoch Destruktivität und Leid perpetuiert. Sinnvoller ist es, »sich die Frage zu stellen, ob und welche Bedeutung die beabsichtigte institutionelle Veränderung für das psychoökonomische Gleichgewicht der beteiligten Individuen haben wird. Dabei zeigt sich in der Praxis, daß eine solche psychosoziale Diagnostik, inklusive Einschätzung der neurotischen Bedürfnisse und Ich-Kapazitäten der einzelnen, meistens nicht etwa dazu führt, daß man die Innovation zurückstellen müßte, sondern umgekehrt dazu, daß man sie besser, d. h. der psychosozialen Realität adäquater, durchführen kann« (Mentzos, 1988, S. 105). Ganz praktisch ist das Aufspüren von institutionalisierter Abwehr und die Integration der abgespaltenen Affekte

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im Sinne einer gelingenden Erfüllung der Primäraufgabe eine wichtige Aufgabe für psychodynamische Forschung, Supervision und Organisationsberatung. Über diese innerinstitutionellen Dysbalancen der Bipolarität in der institutionalisierten Abwehr hinaus thematisiert Mentzos das wichtige Verhältnis zwischen Gruppen, Gemeinschaften oder Gesellschaften. Dieses Verhältnis kann zunächst im Sinne einer »Kaskade der Wir-Bildungen« als Abfolge immer umfassenderer, mehr oder minder gelingender Wir-Bildungen betrachtet werden: von der primären dyadischen Beziehung über die triadische Beziehung bis zum Wir der Gesamtfamilie, von kleineren zu größeren sekundären Gruppen, von sozialen, kulturellen und geschlechtlichen Zugehörigkeiten über nationale und kontinentale Orientierungen bis hin zur Weltgemeinschaft (Mentzos, 1995; 2002b; 2002c). Daneben ist es ebenso lohnend für die Analyse psychosozialer Prozesse, die Verhältnisse zwischen unterschiedlichen Wir-Bildungen im Hinblick auf übergeordnete Wir-Bildungen zu untersuchen, etwa das Verhältnis zwischen Jugendkulturen, zwischen Geschlechtern oder zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten im Hinblick auf die nationalstaatlich verfasste Gesamtgesellschaft. Aus einer kritisch-sozialwissenschaftlichen Perspektive sind solche Wir-Bildungen nicht einfach von Vielfalt geprägt, sondern eingebettet in eine »Dominanzkultur«, die das Verhältnis von Mehrheit und Minderheiten zum Ausdruck bringt. Dies bedeutet, »dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind« (Rommelspacher, 1998, S. 22). Diese Über- und Unterordnungen verlaufen entlang der Bewertung von sozialer und kultureller Herkunft, Geschlecht und sexueller Orientierung. Sie erteilen oder verweigern Staatsbürgerschaft, Zugänge zum Arbeitsmarkt oder zu Ressourcen und gesellschaftlicher Teilhabe und schaffen so ein Verhältnis von Bemächtigung und Entmachtung (vgl. Jantz u. Reinert, 2003, S. 20). Solche dominanzkulturell strukturierten Wir-Bildungen lassen sich nun mithilfe des Bipolaritätsmodells tiefer verstehen. Jede Wir-Bildung steht sowohl horizontal als auch vertikal anderen Wir-Bildungen gegenüber, und sie verfügt über einen Selbstpol, der die Autonomie und Differenz betont, aber auch über einen Objektpol, der Tendenzen zu Bindung und Gemeinschaftsbildung repräsentiert (Mentzos, 2002b, S. 128). Wenn es zu erweiterten Wir-Bildungen kommt, entstehen auch ein erweiterter Selbstpol sowie ein neu orientierter Objektpol, der sich wiederum horizontal und vertikal anderen Wir-­Bildungen gegenübersieht. Prinzipiell sind dabei progressive Potenziale angelegt: »Obwohl es auf der jeweiligen Stufe zu einer Betonung der objektbezogenen, der prosozialen Tendenzen und somit zur Einigung kommt, entsteht wundersamerweise auch eine Stärkung und Stabilisierung des Selbst, allerdings des jetzt erweiterten

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Selbst (und dies gilt für alle Beteiligten). Dies ist ein gutes Beispiel für die schöpferische Aufhebung von Gegensätzen und beiderseitige Stärkung und Stabilisierung der beteiligten Personen« (Mentzos, 2002b, S. 129). Allzu häufig misslingen aber solche integrativen Prozesse in der Verquickung von gesellschaftlicher Destruktivität, politischem oder ökonomischem Druck und der Abwehr der Bipolarität. So entstehen Pseudo-Wir-Bildungen, die den bipolaren Gegensatz nicht dialektisch integrieren, sondern durch Spaltung, Projektion und Real-Externalisierung abwehren. Das bedeutet, dass die Selbststabilisierung, innere Kohärenz und Homogenie nur durch projektive Abwehr innerer Konflikte behauptet werden können und dabei auf real verfügbare, fremde oder verfremdete Gruppen angewiesen sind. Denn in solchen Gruppen kann das Abgespaltene deponiert werden, diese sind es, die minderwertig und schwach oder gefährlich sind, und deshalb müssen sie mit gehöriger Aggression bekämpft werden (Mentzos, 2002b, S. 130; 2002c, S. 73). Zum Schluss dieses Abschnitts möchte ich noch einen Gedanken von Mentzos aufgreifen, der auf eine hoffnungsstiftende Weise zum Thema der psychosozialen Abwehr und Pseudo-Wir-Bildungen passt: die »Verschüttung des Guten«. Nach Mentzos fußt die menschliche Destruktivität nicht nur auf Angstabwehr und der Projektion von Minderwertigkeitsgefühlen oder Aggression, sondern auch auf der Blockierung prosozialer Impulse, die sowohl durch lebensgeschichtlich frühe Beschädigungen als auch durch maligne gesellschaftliche Einflüsse ausgelöst werden kann (Mentzos, 2002b, S. 124 ff.). Um dies am Beispiel männlicher Identität zu verdeutlichen, rekurriert Mentzos auf Jessica Benjamins Buch »Die Fesseln der Liebe« (1990), in dem sie herausarbeitet, dass strikte Männlichkeit die eigene überbetonte Autonomie nur behaupten kann, indem sie Fürsorglichkeit, Nähe und Empathie mit Weiblichkeit assoziiert und diese prosozialen Fähigkeiten eben als weiblich abspaltet (Mentzos, 2002b, S. 123). Ein anderes Beispiel ist die selektive Eliminierung prosozialer Gefühle bestimmten Gruppen gegenüber, die als anders, fremd, gefährlich oder minderwertig gelten und die deshalb schikaniert, diffamiert und ausgeschlossen werden dürfen. Umgekehrt gelten all jene, die ihre Zuwendung, ihr Interesse und ihre Empathie nicht vollständig ausschalten können, schnell als schwach, naiv und weltfremd (Mentzos, 2002b, S. 127). Dass diese prosozialen Tendenzen mit ihrer Verschüttung nicht vollständig verschwinden, lässt sich sogar am berühmten Milgram-Experiment zeigen. Dabei ging es um die Untersuchung, inwiefern sich Menschen unter der Ägide einer akademischen Autorität dazu bringen lassen, anderen Schmerzen zuzufügen. Die Probanden sollten einem Menschen, der in Wahrheit Schauspieler war, immer höhere Stromstöße verpassen, sobald dieser eine ihm gestellte Frage falsch beantwortete. Die Stromstöße waren natürlich fingiert, doch davon

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wussten die Probanden nichts, ebenso wenig davon, dass die folgenden Schmerzensschreie nur gespielt waren. Ähnlich wie Erich Fromm in der »Anatomie der menschlichen Destruktivität« konstatiert, ist für Mentzos nicht nur bemerkenswert, wie wenige Probanden sich der Weiterführung des Experiments verweigerten – sie hatten offenbar autonome Schuldgefühle, die stärker waren als die heteronomen Schuldgefühle der Autorität gegenüber. Bemerkenswert ist ebenso, dass diejenigen, die das Experiment bis zum Ende mitmachten, zumindest auf der Körperebene massive Schuldgefühle zum Ausdruck brachten: als Stottern, Schwitzen, Zittern, Auf-die-Lippen-Beißen, Fingernägel-ins-FleischGraben oder als bizarres Lachen (Mentzos, 2002b, S. 116; Fromm, 1977, S. 67 ff.). Ein weiterer Aspekt, der Mentzos in seinem Glauben an die Wiederkehr des Guten bestärkt, sind Erkenntnisse der modernen Hirnforschung, die nahelegen, dass das Prosoziale gleichsam im evolutionären Erbe der Menschheit verankert ist. So kommt Mentzos sowohl im Lehrbuch als auch im Manuskript-Fragment auf die Arbeiten von Joachim Bauer zu sprechen: Die neuronalen Vernetzungen, die Bildung oder der Verfall von Synapsen, die Wirksamkeit von Botenstoffen wie Dopamin oder die Ausschüttung von Hormonen und selbst epigenetische Prozesse – immer sind es soziale Erfahrungen und deren psychische Erlebniseindrücke, die das Gehirn in biologische Signale verwandelt. Und: »Was die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns aktiviert, ist die Beachtung, das Interesse, die Zuwendung und die Sympathie anderer Menschen, was sie inaktiviert, ist soziale Ausgrenzung und Isolation« (Bauer, 2009, S. 196 f.). Insgesamt ist, so hoffe ich, deutlich geworden, dass das von Mentzos entwickelte Konzept der Bipolarität unter besonderer Berücksichtigung der Selbstwertregulation, der Affektdynamik, der institutionalisierten Abwehr und der Pseudo-Wir-Bildungen ein außerordentlich wertvolles Instrument bereitstellt, um destruktive Tendenzen im psychosozialen Feld zu erkennen und schöpferische Potenziale aufzuspüren.

Destruktive Tendenzen und schöpferische Potenziale im psychosozialen Feld Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen Den Krieg und seine psychosozialen Funktionen hat Mentzos intensiv untersucht. Diese Untersuchungen bilden einen wesentlichen Schwerpunkt seiner Anwendung des Bipolaritätsmodells im psychosozialen Feld. Die zentrale Erkenntnis seiner Arbeit ist, dass Kriege selbstverständlich durch ökonomische

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und politische Interessen und Interessenkonflikte entstehen, dass sie aber ohne die Berücksichtigung der psychosozialen Arrangements zwischen Kriegstreibern und der Bevölkerung nicht hinreichend verstanden werden können (Mentzos, 1995, S. 78). Der megalomane Narzissmus der kriegstreibenden Führerfiguren oder Eliten verkoppelt sich mit den mehr oder minder neurotischen Bedürfnissen bedeutsamer Bevölkerungsteile nach Bindung, Orientierung und Selbstwertstabilisierung, so dass ein nationalistisch oder kollektivistisch aufgeladenes, jedenfalls pathologisches, archaisches Größen-Selbst hervortritt. Der bipolare Grundkonflikt findet freilich nur eine Pseudolösung, und deshalb müssen die abgespaltenen bösen Anteile in den Feind projiziert werden, meist begleitet von dessen zunehmender Dehumanisierung – so erscheint es als notwendig, diesen zu bekämpfen und zu vernichten (Mentzos, 2002c, S. 158 f.). Mentzos hat zahlreiche Texte zum Thema veröffentlicht (z. B. 1995, 2002b, 2002c, 2003) und auch im privaten Kreis intensiv über den Krieg gesprochen. Er hat viele Vorträge zu Krieg und Kriegsprophylaxe gehalten. Offenbar lag ihm das Thema sehr am Herzen. Eine Begebenheit dazu, die mich bis heute besonders berührt, möchte ich etwas ausführlicher schildern. Am 10. Juni 1994 jährte sich das Massaker, das Soldaten einer SS-Division im griechischen Dorf Distomo 1944 begangen hatten, zum fünfzigsten Mal. Argyris Sfountouris, der das Massaker als einer der wenigen im Alter von knapp vier Jahren überlebt hatte, organisierte zu diesem Anlass mit der Gemeinde Distomo die »Tagung für den Frieden. Gedenken – Trauer – Hoffnung« vom 17. bis 20. August 1994 im nahe gelegenen Delphi. Als er im Frühjahr 1994, also recht kurzfristig, einen Brief mit der Anfrage für einen Vortrag zum Themengebiet »Soziopolitische Entwicklungen und deren psychologische Ursachen, die derart unmensch­ liche Handlungen ermöglichen« an Mentzos schickte, setzte dieser alle Hebel in Bewegung, um an der Tagung teilnehmen zu können. Ich möchte einige Sätze der Eröffnungsrede von Argyris Sfountouris zitieren, die den Geist dieser Veranstaltung erkennen lassen: »Welches sind die Mechanismen des Hasses, welches die Mittel zu dessen Verarbeitung oder sogar Überwindung? Ist die Geschichte eine unbekannte Funktion des Schicksals – oder kann der Mensch, kann die Menschheit Zusammenhänge entdecken, die es ermöglichen, Wiederholungen vorzubeugen? […] Wir trauern um die Toten, die keine Stimme mehr haben, um uns von ihrem schwer nachfühlbaren Schrecken zu erzählen. Aber wir trauern auch um die Lebenden, um jene, die am 10. Juni 1944 in Distomo zum Überleben verurteilt worden sind. Sie müssen seit fünfzig Jahren mit einem schrecklichen Trauma leben. Nichts kann sie davon befreien, und wenig ist unternommen worden, um es ihnen erträglicher zu machen. […] Wir trauern um den Hass, der in unseren Seelen seit fünfzig

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Jahren wuchert. Es ist gewiss ein berechtigter Hass, aber er zermürbt, wie alle negativen Gefühle, in erster Linie uns selbst. […] Hoffnung […] Es sind mehrere Fälle bekannt, wo deutsche Soldaten bewusst Menschen vor dem Tod retteten und vor ihren mordenden Kameraden versteckten, sicherlich auch im Bewusstsein der Gefahr für das eigene Leben, wenn ihre Taten entdeckt und sie vors Kriegsgericht gestellt würden. Es ist kaum zu glauben, dass es im fünften Kriegsjahr noch junge deutsche Soldaten gab, die nach zwölfjährigem Drill zum Übermenschentum noch zu solchen urmenschlichen Handlungsweisen fähig geblieben waren. Aber ich stünde jetzt nicht hier vor Ihnen, wenn nicht auch dies eine geschichtliche Tatsache wäre. Unsere Hoffnung besteht darin, dass es sehr viele solche Menschen gibt und dass es uns gelingt, noch mehr Menschen dazu zu befähigen, rassistischer Propaganda zu widerstehen. […] Lasst uns mit der Arbeit beginnen, in der Hoffnung, wie Ingeborg Bachmann schrieb, dass ›die Wahrheit den Menschen zumutbar‹ sei« (Sfountouris, 2015, S. 25 ff.). Am 17. August 1994 hielt Mentzos seinen Vortrag mit dem Titel »Analyse der psychosozialen Faktorenkonstellation von Krieg und Grausamkeit – Überlegungen zur Prophylaxe« in Delphi. Argyris Sfountouris setzt sich bis heute für die juristische, moralische und materielle Anerkennung des Unrechts ein, das nicht nur Distomo widerfahren ist (dazu ausführlich Seibel, 2016). Schon lebensgeschichtlich hatte der Krieg für Mentzos eine große Präsenz. Sein Vater erzählte ihm vom Ersten Weltkrieg und von den Schrecken der »kleinasiatischen Katastrophe« 1922, als Griechenland von der Entente, die zuvor zur Verwirklichung der großgriechischen Megali Idea in Kleinasien ermuntert hatte, fallen gelassen und die griechische Bevölkerung Kleinasiens der Rache der Truppen Kemal Atatürks überlassen wurde. Im Interview, das Alois Münch mit Mentzos anlässlich seines 80. Geburtstags führte (S. 22 ff. in diesem Band), berichtet er von der Diktatur Metaxas ab 1936, von der deutschen Besatzung Griechenlands ab 1941, von den unzähligen Hungertoten und Massakern; vom Bürgerkrieg im Nachkriegsgriechenland, der zu Verfolgung, Flucht und Folter von Kommunisten führte, die zuvor den Widerstand gegen die faschistischen Besatzer maßgeblich organisiert hatten; von seiner Zeit als Sanitätsoffizier in der griechischen Armee in den Jahren 1953 bis 1957 (Mentzos u. Münch, 2010, S. 98 f.). Über diese biografischen Erfahrungen hinaus war Mentzos auch als politisch informierter Humanist am Krieg interessiert. Im Vorwort zur ersten Ausgabe des Kriegsbuchs nennt er das Erschrecken über den Falkland-Krieg 1982, den ersten Golfkrieg zwischen Iran und Irak in den 1980er Jahren sowie den zweiten Golfkrieg 1991 als Motive für die Publikation (Mentzos, 2002b, S. 15). Anlass für die zweite aktualisierte Ausgabe waren der Al-Qaida-Terror

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des 11. September 2001 sowie der folgende »Krieg gegen den Terror« (Mentzos, 2002b, S. 12 f.). Bei meinen Recherchen bin ich auf einen Artikel gestoßen, den Mentzos für die Wochenzeitung »der Freitag« verfasst hat. Er basiert auf dem Vortrag »Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen«, den Mentzos am 14. Februar 2003 im Psychotherapeutischen Institut Berlin gehalten hatte, und erschien in einer gekürzten Fassung am 28. März 2003, während des dritten Golfkriegs. Der Artikel ist von einer Klarheit und Prägnanz, die eine Zusammenfassung seiner Argumente nicht leisten könnte, und deshalb möchte ich diesen Beitrag hier im Wortlaut zitieren: »Obwohl Kriege gewaltsame Lösungsversuche von realen, machtpolitischen und ökonomischen Interessenkonflikten darstellen, die per se nicht wegpsychologisiert werden können, besteht das Bedingungsgefüge des Krieges und insbesondere der Kriegsbereitschaft keineswegs nur aus diesen Konflikten oder aus den herrschenden Machtverhältnissen. Vielmehr wird die Bereitschaft, einen Konflikt kriegerisch und somit nicht auf dem Verhandlungsweg zu lösen, im gleichen Maß auch durch psychosoziale Prozesse erzeugt, die aus dem hervorgehen, was ich im Titel meines kürzlich in aktualisierter Auflage neu erschienenen Buches provokativ die ›psychosozialen Funktionen des Krieges‹ nenne. Die Existenz konkurrierender ökonomischer und machtpolitischer Interessen reicht für sich allein noch nicht aus, um den Krieg verständlich zu machen. Diese These, die gelegentlich nicht nur von hartgesottenen Politikern und Militärs, sondern auch von manchen Soziologen, Ökonomen und Politologen bis jetzt als zu hypothetisch kritisiert wurde, bekommt angesichts der heutigen Situation bedeutend bessere Chancen, ernsthaft angehört zu werden, weil man ohne sie die erschütternden Erscheinungen und Entwicklungen unserer Zeit nicht erklären kann. Was gehört zum Bedingungsgefüge des jetzt laufenden Irak-Krieges? In unzähligen Diskussionen, unter dem Einfluss von Informationen, aber auch reichlich vielen Desinformationen und wiederum Korrekturen dieser Desinformationen gewann man den Eindruck, dass es sich nicht um das hehre Ideal der Abschaffung einer Diktatur, nicht nur um eine sinnvolle Bekämpfung des Terrorismus und wahrscheinlich nicht einmal um die Abwendung einer angeblich der Menschheit drohenden akuten Gefahr handelt, die man mit einem Präventivkrieg abwehren müsse. Wahrscheinlich haben wir es mit einer Einzelheit innerhalb eines größeren Planes zur Sicherung von ökonomischen Vorteilen bei der Ölförderung, um die Errichtung von militärisch und geopolitisch wichtigen Stützpunkten, um die zusätzliche Stärkung labil und unsicher gewordenen Einflusszonen zu tun. Dies alles nicht nur oder nicht an erster Stelle aufgrund

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nackter ökonomischer Interessen von Machteliten, sondern auch aus Gründen einer Staatsräson der einzig gebliebenen Supermacht, welche nolens volens die Züge eines weltweiten Imperiums annimmt. Dabei werden selbstverständlich viele persönliche ökonomische Interessen und auch persönliche Karrieren und Ambitionen mitbedient. Ich gehe davon aus, dass es Kriegsprofiteure und Kriegsnarzissten, aber auch gewissenhafte Diener dieser Staatsräson gibt, die konsequent eine pax americana herbeiführen wollen. Nun behaupte ich aber, dass dies alles noch nicht hinreicht, um zu erklären, auf welche Weise es möglich wird, das schwere Schwungrad des Krieges in Bewegung zu setzen, Millionen von Menschen zum Töten Anderer zu motivieren und dazu, sich selbst in Lebensgefahr bringen. Das war auch der Grund, weshalb Albert Einstein 1933 in einem berühmten Brief Sigmund Freud die Frage gestellt hat: ›Warum Krieg?‹. Freud antwortete: Zwar spielten gewisse Interessen der Machthaber eine große Rolle; was jedoch die Mobilisierung der Massen betreffe, so handele es sich im wesentlichen um eine Entfesselung und Ausnutzung des biologisch vorgegebenen Aggressionstriebes. Diese Antwort befriedigt uns heute nicht mehr. Die narzisstische Kränkung der amerikanischen Machtelite und des amerikanischen Volkes, die Erschütterung der Großartigkeit, Unversehrtheit und Unbesiegbarkeit ihrer idealisierten Nation am 11. September 2001 wird sicher auch von Aggression begleitet. Das ist aber erstens eine reaktive Aggression, eine, die im Dienst der Ich-Erhaltung aktualisiert wird, und nicht eine, die triebhaft sinnlos fließt, wie die alte Triebtheorie annahm. Zweitens ist sie bestimmt nicht das einzige oder gar das vorherrschende Motiv. Es sind vielmehr andere, zum Teil normale, zum Teil pathologische psychische Bedürfnisse und Nöte, welche vorwiegend die Identität von Individuen und großen Gruppen bedrohen. Die Selbststabilisierung, das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Aufrechterhaltung von Loyalitäts- und anderen Bindungen bei den Vielen einerseits und die megalomane Stabilisierung des Selbstwertgefühls bei den Angehörigen der Machteliten andererseits müssen hier vorrangig berücksichtigt werden. Wichtig ist dabei, dass meistens eine Komplementarität, ein ›zu pass-kommen‹ [sic] dieser beiden Gruppen – der Vielen und der Machteliten – besteht, die sich sozusagen im Sinne einer Kollusion ergänzen und besonders dadurch die Kriegsbereitschaft erhöhen können. Unter einer Kollusion – lateinisch ›geheimes Einverständnis‹ – versteht man ein unerlaubtes Zusammenwirken Mehrerer zum Nachteil eines Dritten, besonders die Zusammenarbeit eines Vertreters und seines Geschäftspartners, um den Vertretenen zu schädigen. Psychologen interpretieren den Begriff als ›unbewusste Abmachung‹ zweier Partner hinsichtlich ihrer neurotischen Bedürfnisse und Mechanismen; er spielt etwa in der Paartherapie eine Rolle.

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Das kollusive Zusammentreffen der Vielen und der Machteliten lässt sich differenzierter beschreiben, wenn man die Beziehungen untersucht, die jeder Teilnehmer des Krieges eingeht: die Beziehung zur kleinen Gruppe, die Beziehung zum Führer und zu den Machteliten, die Beziehung zur Nation und nicht zuletzt die Beziehung zum Feind. Für den einzelnen ist es zum Beispiel wichtig, dass es in der Beziehung zur Nation und zum Vaterland möglich wird, eine nationale Selbstdefinition und Selbststabilisierung zu finden, eine Partizipation am kollektiven archaischen Größen-Selbst bis hin zur Apotheose der Nation, die zur Entdifferenzierung und Primitivierung des Einzelnen führt. In der Beziehung zum Feind bietet sich nicht nur die Möglichkeit der Projektion eigener aggressiver Impulse – das war der Gesichtspunkt, den man früher hervorgehoben hat –, sondern es kann auch durch die Erniedrigung und Dehumanisierung des Gegners die Regulation des Selbstwertgefühls gestützt und gestärkt werden. Die Selbstdefinition per Kontrast erleichtert die Abgrenzung. In dieser Aufzählung unbewusster und halbbewusster psychischer Zustände und Tendenzen, die die Kriegsbereitschaft erhöhen, habe ich bisher die Angst nicht erwähnt, obwohl sie selbstverständlich von zentraler Bedeutung ist, und zwar aus folgendem Grund. Zwar treibt die Angst sehr oft in den Krieg. So die offene, offensichtliche und berechtigte Angst vor dem Terrorismus oder auch, wie Emanuel Todd in seinem Buch Weltmacht USA. Ein Nachruf meint, die Angst der Machteliten der USA vor einem baldigen Verlust der imperialen Herrschaft, ja sogar vor dem Niedergang des Imperiums. Aber wenn wir Angst als wichtiges Movens des Krieges feststellen, muss unsere Analyse einen Schritt weitergehen und versuchen, die eigentlichen Angstquellen aufzudecken. Oft handelt es sich um eine diffuse, nicht näher definierbare Angst, die tiefer gehende, noch nicht richtig bewusste Gründe hat. Die Angst ist eigentlich zunächst eine normale Reaktion auf innerseelische und äußere reale Gefahren. Oft handelt es sich zwar tatsächlich um konkrete reale Gefahren. Häufiger jedoch werden diese realen Gefahren nicht nur gewollt übertrieben und für politisch-strategische Zielsetzungen instrumentalisiert, sondern auch zur Konkretisierung der sonst schwer fassbaren Angst unbewusst benutzt. So ist zu vermuten, dass der Abbau alter überholter Institutionen in der Postmoderne zu immer mehr Verunsicherung und Desorientiertheit führt und die Selbstidentität von Individuen und Gruppen bedroht, ja als eine zentrale Existenzbedrohung empfunden wird. Sie wird zum Teil verdrängt, zum anderen Teil jedoch – wenn sie nicht mehr verdrängt werden kann – auf eine äußere Gefahr, auf den äußeren Feind, auf die ›Bösen‹ dieser Welt verschoben, projiziert und dort bekämpft, eventuell mit Hilfe des Krieges. Dass die dadurch erreichbare Stabilisierung nur künstlich und kurzlebig ist, dass sie zuletzt zur noch größe-

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ren Verunsicherung oder sogar in die Katastrophe führen kann, versteht sich von selbst« (Mentzos, 2003). Mein Eindruck ist, dass Mentzos sogar und gerade in einer aus den Fugen geratenen Welt noch das Menschliche aufspüren wollte. Was gesellschaftskritisch für die Entfremdung und Destruktivität des Krieges gilt, gilt subjektzentriert vielleicht ebenso für das Einsame und Wahnhafte der Psychose: Beide Gebiete haben sein Schaffen in den letzten Jahren bestimmt. Ohnmacht, Angst und Aggression auszuhalten, ihnen ein Verstehen zur Seite zu stellen, das womöglich heilende und befriedende Handlungen anzustoßen vermag, ist ein herausforderndes und zutiefst humanistisches Projekt. Auch und gerade heute sind die Analysen von Mentzos von dringlicher Bedeutung. Neoliberalismus, Individualisierung und Rechtspopulismus Obwohl Krieg und Nationalismus die zentralen gesellschaftlichen Themen waren, mit denen sich Mentzos aus psychodynamischer Perspektive kritisch auseinandergesetzt hat, finden sich in seinem Werk immer wieder auch kapitalismus­ kritische Aufsätze und Passagen, die er auf die »postmoderne Gesellschaft«, den »Turbokapitalismus« oder gar einen »malignen liberalen Kapitalismus« bezieht (Mentzos, 2002a, 2015). Grob zusammengefasst konstatiert er, dass im Neoliberalismus das Profitstreben zu wachsendem Egozentrismus führt, während prosoziale Strebungen nur noch in Nischen oder als kurzlebige Momente des Mitleids für Hilfebedürftige sichtbar werden (2002a, S. 56). Und er befürchtet infolge der zunehmenden Fragmentierung, Vereinzelung und Integrationsdefizite in der Gesellschaft, dass der bipolare Konflikt auf gesellschaftlicher Ebene wieder vermehrt durch nationalistische Selbstdefinitionen einer destruktiven Pseudolösung zugeführt wird (Mentzos, 2002a, S. 63; 1995, S. 83 f.). Diesen Zugang möchte ich aufgreifen und auf ein aktuelles, besorgniserregendes Thema beziehen, auf das Verhältnis von Neoliberalismus und Rechtspopulismus. Ich werde zunächst einige gesellschaftstheoretische Analysen voranstellen, um diese dann mithilfe des Bipolaritätsmodells zu ergänzen und zu vertiefen. Wir leben in einer ökonomisch und medial entgrenzten Welt (Morgenroth, 2015, S. 198). Technologische Grundlage der globalisierten Ökonomie ist die rasant fortschreitende Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien, die in erster Linie der Rationalisierung, Vernetzung und Kostensenkung dienen. Einerseits können innerbetriebliche Abläufe besser flexibilisiert und überwacht werden, verbunden mit der raumzeitlichen Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse. Andererseits ermöglichen diese Technologien die raumzeitliche Zerlegung des Produktionsprozesses. Diese zeigt sich beispielsweise

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in der Just-in-time-Produktion, bei der bestimmte Produktionsschritte an Orte ausgelagert werden, an denen bei kurzfristiger Nachfrage kostengünstig und meist unter schlechten Arbeitsbedingungen produziert wird (Naumann, 2010, S. 60). Ökonomisches Ziel ist dabei unter anderem, unterschiedliche Standorte in globalem Maßstab zu nutzen, die die besonders profitträchtige Produktion von Waren erwarten lassen. Zugleich haben sich die Arbeitsverhältnisse selbst in privilegierten Ländern dramatisch verändert. Zunächst existiert weiterhin die Gruppe der sogenannten Kernbelegschaftsangehörigen. Diese sind in der Regel recht gut qualifiziert, sozial relativ abgesichert, zugleich aber einer beschleunigten und entgrenzten Arbeit ausgesetzt. Daneben wächst die Gruppe der prekär Beschäftigten immer weiter an. Darunter fallen Zeit- und Leiharbeiter, neue Selbstständige in der Industrie, im Dienstleistungsgewerbe oder in der Landwirtschaft, sozial kaum abgesichert und fortwährend auf der Suche nach neuen Jobs, um ihr Auskommen irgendwie zu gewährleisten. Nicht zu vergessen ist die Gruppe derjenigen, die in sogenannten Bad Jobs arbeiten müssen. Vor allem in der Gastronomie, in der Pflege und in privaten Haushalten verdingen sich Menschen, die schlecht bezahlt, der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgeliefert und häufig illegalisiert sind. Schließlich gibt es noch die in Millionen zu zählenden Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind (Naumann, 2010, S. 60 f.). Die staatliche Politik hat nun die schwierige Aufgabe, sowohl die Folgen der Globalisierung als auch die wachsenden gesellschaftlichen Spaltungen im Rahmen des Nationalstaats zu regulieren – denn der Globalisierung wirtschaftlicher Macht steht keine Globalisierung der Politik entgegen (Bauman, 2016, S. 62). Im Zuge dieser Entwicklung haben sich »nationale Wettbewerbsstaaten« herausgebildet (Hirsch, 1998). Diese sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie in eine Standortkonkurrenz zu anderen Staaten geraten. Nur wenn genügend Unternehmen an einem Standort verbleiben oder neu investieren, entstehen Arbeitsplätze und fließen Steuereinnahmen, die der Staat zur Bewältigung seiner hoheitlichen Aufgaben benötigt. Somit zielt die Politik des nationalen Wettbewerbsstaats insbesondere darauf, durch rechtliche Rahmenbedingungen, Infrastrukturpolitik, Technologieförderung, Steuerpolitik, Bildungspolitik bis hin zu städtebaulichen Maßnahmen die Attraktivität des Standorts zu erhöhen (Naumann, 2010, S. 61). Damit aber entsteht ein strukturelles politisches Dilemma. Einerseits bindet und erfordert die Standortpolitik erhebliche finanzielle Mittel, andererseits steigen infolge der wachsenden sozialen Verwerfungen die Kosten des Wohlfahrtsstaats immens an. Zur Bewältigung dieses Dilemmas reagiert der Staat mit drei Strategien: Erstens kommt es zu staatlicher Neuformierung des Arbeits-

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markts in Form der Deregulierung von Arbeitsverhältnissen, der Lockerung des Kündigungs­schutzes sowie der Förderung von prekären Beschäftigungsverhältnissen. In Verbindung mit der ökonomischen und informationstechnologischen Entgrenzung arbeiten immer mehr Menschen als »Arbeitskraftunternehmer« (Voß u. Pongratz) – ob fest angestellt oder prekär beschäftigt (vgl. Haubl, 2012, S. 368; Funk, 2011, S. 57). Zweitens wird der Sicherheitsstaat ausgebaut, um diejenigen unter Kontrolle zu halten, die innerhalb und außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen weder als Arbeitskräfte noch als Konsumenten zu gebrauchen sind. Die Frage der Produktion »überflüssiger Menschen«, und zwar im Weltmaßstab, wird durch diese »Versicherheitlichung« einer Pseudolösung zugeführt (Bauman, 2016, S. 9, 33). Drittens müssen wir einen dramatischen Umbau des Sozialstaats konstatieren, der die Verwandlung des sorgenden in einen gewährleistenden Sozialstaat mit sich bringt (Bude, 2008, S. 31). Die Transferleistungen werden zurückgefahren, um Kosten zu senken, und dienen nicht länger dem Erhalt eines erreichten sozialen und materiellen Status, sondern bestenfalls der Vermeidung eines vollständigen sozialen Ausschlusses – alle weitere Sicherung muss privat organisiert und bezahlt werden. Auf diese Weise treibt der individualisierende politische Diskurs der Eigenverantwortung die Privatisierung von Risiken sowie den Abbau von Solidargemeinschaften voran und erlegt den Benachteiligten und Marginalisierten die Schuld für ihr etwaiges Scheitern auf (Bauman, 2016, S. 60). Wie deuten, erleben und verarbeiten die Menschen ihr Leben unter den Bedingungen der Ökonomisierung und Entgrenzung in einer »zunehmend deregulierten, polyzentrischen, aus den Fugen geratenen Welt« (Bauman, 2016, S. 15)? Das heute vorherrschende Deutungsmuster ist das der Individualisierung. Individualisierung meint zunächst die Möglichkeit, das eigene Leben jenseits tradierter Vorgaben und Zwänge, etwa durch Geschlecht oder soziale Herkunft, selbst gestalten zu können. Diese Diskurse der Individualisierung gründen durchaus in neuen sozialen Entfaltungsmöglichkeiten, denn zweifellos sind die Spielräume für Selbstbestimmung und vielfältige Lebensentwürfe, für die Ausbalancierung von Individualität und Bezogenheit, für selbst­konstituierte Gemeinschaften bis hin zu politisch-emanzipatorischen und kommunikationstechnologisch organisierten Netzwerken gewachsen (vgl. schon Keupp, 1999, S. 23 ff.). Es gibt aber auch eine ideologische Kehrseite. Der neoliberale Abbau von schutzspendenden, solidarischen Institutionen, die Erosion sozialer Gemeinschaften wird gekontert durch die Verlagerung der Verantwortung für ein gelingendes Leben in die einzelnen Menschen hinein. Die Rede ist dann zwar von Freiheit, von neuen Möglichkeiten, den eigenen Neigungen und Leidenschaften nachzugehen (Bauman, 2016, S. 58). Doch ist diese Freiheit nicht nur von

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diffusen Ängsten gezeichnet, gesellschaftlichen Prozessen ausgesetzt zu sein, ohne diese selbst beeinflussen zu können, sondern weitgehend auf die Freiheit von Arbeitskraftunternehmern reduziert, sich selbst möglichst erfolgreich zu vermarkten und den eigenen Egoismen in permanenter Konkurrenz zu den Mitbewerbern zu folgen (Gebauer, 2016, S. 18). Individualisierung dient dann, in einer spitzen Formulierung von Zygmunt Bauman, als »Tarnname für die Entschlossenheit der etablierten Mächte, welche für die imaginierte Totalität der ›Gesellschaft‹ stehen, bei der Aufgabe, mit den aus der existenziellen Unsicher­heit erwachsenden Problemen fertigzuwerden, nach dem Subsidiaritätsprinzip zu verfahren und sie in die Verantwortung des Einzelnen mit seinen äußerst unzureichenden Ressourcen zu geben (oder genauer gesagt: sie dort abzuladen und auf diese Weise zu entsorgen)« (2016, S. 57). Die neo­liberal getrimmte Individualisierung erzeugt eine ubiquitäre Verunsicherung sowie vereinzelte, permanent leistungsbereite Arbeitskraftunternehmer und individuell Gescheiterte. Hier deutet sich bereits an, dass der Grundkonflikt der Bipolarität in der neoliberalen Individualisierung auf eine Weise pseudogelöst wird, die Egozentrismus überbetont, während prosoziale Tendenzen verkümmern. Sehen wir uns diese Dynamik am Beispiel des entgrenzten Erwerbslebens genauer an. Wie schon bemerkt, befördern die rasanten Veränderungen und neuen Zwänge rund um die Erwerbsarbeit existenzielle Ängste, während das Gefühl, selbst über soziale Gestaltungsfähigkeit zu verfügen, auf arg fragmentierte Alltagsbereiche beschränkt bleibt (vgl. Bartsch, 2012, S. 108). Auf der anderen Seite versuchen viele Betroffene, Ängste, Ohnmachtsgefühle und Sehnsüchte zu verleugnen, indem sie sich die vorherrschenden Diskurse über neue Freiheit und Autonomie zu eigen machen (Naumann, 2014, S. 14). Damit aber müssen sich Gefühle wie Wut, Angst und Ohnmacht, Bedürftigkeit und Haltlosigkeit sowie Wünsche nach verlässlichen Bindungen, die in diesem Alltag nicht integriert werden können, andere Abfuhrbahnen suchen. So sehen wir im Erwerbsleben die zunehmende Verinnerlichung von Projektorientierung, Rationalisierung, Subjektivierung und Entgrenzung, jenen Prinzipien also, die mit gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen einhergehen (Haubl, 2012, S. 368). Mit dieser schädlichen »Selbst-Ökonomisierung« und »Selbst-Rationalisierung« (Manning u. Wolf) wird eine Aggressivität gegen das eigene Selbst agiert (Funk, 2011, S. 58), die im Kern den alltäglichen Zumutungen gelten dürfte. Nun aber zeigt sie sich als pseudorationales Handeln in der Exekution von Betriebsinteressen oder gar im Sinne einer arbeitswütigen »interessierten Selbstgefährdung« (Krause), die sich letztlich auch gesundheitsgefährdend gegen das eigene Selbst richten kann (Haubl, 2012, S. 369). Es ist somit kein Zufall, dass das entgrenzte Erwerbsleben

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zur massiven Ausbreitung von reaktiven Erkrankungen wie Sucht und Depression führt, es erzeugt massenhaft nicht nur Verlierer, Unfähige und Ausgegrenzte, sondern auch Kranke (Morgenroth, 2015, S. 207 f.). Eine weitere Differenzierung dieses Befundes eröffnet das von Vera King, Hartmut Rosa und Benigna Gerisch geleitete Forschungsprojekt »Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne« (APAS). Dieses zielt darauf, das Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Anforderungen der Selbstoptimierung und biografisch-psychodynamischen Dispositionen herauszuarbeiten (Salfeld-Nebgen et al., 2016, S. 11). Dabei lassen sich drei Typen der Lebensführung unterscheiden: Einigen »Individuen gelingt die Abgrenzung von den von außen angetragenen Perfektionierungsansprüchen recht gut, Selbst- und Fremdfürsorge können angemessen aufrechterhalten werden« (S. 10). Doch bei den anderen beiden Typen des Affirmierens und des Resignierens besteht ein ernstes Risiko, psychisch oder psychosomatisch zu erkranken. Sowohl bei jenen, die die Optimierungsansprüche recht erfolgreich erfüllen, als auch bei jenen, die immer wieder daran scheitern, zeigen sich unterschiedliche Erschöpfungssymptome sowie die Abwehr von Nähebedürfnissen und Beziehungswünschen (Uhlendorf et al., 2016, S. 33). Die bislang publizierten Erkenntnisse dieses Projekts können hier nicht detailliert referiert werden. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass sie sich mithilfe des Drei-Säulen-Modells sehr gut einordnen lassen. In der Verquickung von biografischen Erfahrungen mit Herausforderungen der Arbeitswelt vermag eine Minderheit offenbar Selbst- und Fremdfürsorge, Autonomie und Bindung genügend gut zu balancieren – Ideal-Selbst, Ideal-Objekt und Gewissen können als relativ reif und gleichermaßen stabil gelten. Eine Mehrheit aber muss zur Selbstwertregulation auf Notlösungen zurückgreifen. So werden bei manchen unangemessene Größenphantasien mobilisiert, um sich das bedrohliche Gefühl der Abhängigkeit von äußeren Mächten ebenso wie ängstigende Bindungswünsche vom Leib zu halten; bei anderen verknüpft sich das Fehlen früher, glanzvoller Spiegelungen mit dem Gefühl, im Arbeitsleben nie gut genug zu sein, zu einer demoralisierten Haltung mit unbestimmter Aggression; und wieder andere versuchen durch eine maßlose Leistungsbereitschaft, gleichsam durch die Hypertrophie der Über-Ich-Säule, endlich jene Anerkennung und Zuwendung zu erfahren, die lebensgeschichtlich weitgehend versagt geblieben ist (vgl. Mentzos, 2013, S. 69). Im Sinne eines psychosozialen Arrangements sind diese Lösungen sicherlich zunächst funktional, sowohl für das psychische Überleben als auch für die Arbeitsprozesse, doch sind sie letztlich destruktiv, da sich die unbewältigten Affekte und Konflikte andere Abfuhrbahnen suchen müssen und damit ein erhebliches psychosoziales Leid erzeugen, das jedenfalls Glück und früher oder später auch die Arbeitsfähigkeit kassiert.

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Diese funktionale Destruktivität richtet sich allerdings nicht nur gegen das Selbst, sondern wirkt auch konstituierend in die Bildung gesellschaftlicher Gruppen hinein. Dabei ist es kein Zufall, dass besonders in Gesellschaften, die ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit aufweisen, nicht nur Suizide und psychische Erkrankungen häufiger zu verzeichnen sind, sondern auch Rassismus und Gewalt, wie etwa die Studien von Wilkinson und Pickett zeigen (Gebauer, 2016, S. 24). Mit Mentzos gesprochen werden die alltäglichen Zumutungen, Vereinzelung und Entsolidarisierung sowie die Verleugnung von Bindungswünschen durch die besagten Pseudo-Wir-Bildungen kompensiert. Durch die Abwehr der Bipolarität entstehen scheinbar kohärente Gemeinschaften, deren Kohärenz aber nur behauptet wird, indem die abgewehrten Gefühle der eigenen Bedürftigkeit, Angst oder Wut auf diskursiv verfügbare Gruppen projiziert werden, um sie dann verächtlich machen und bekämpfen zu können (vgl. Mentzos, 2002b, S. 130). Dies kann sich etwa bei denjenigen, die sich zur Gruppe der leistungsfähigen und selbstoptimierenden Menschen zählen, als Coolness zeigen, die der Bedürftigkeit anderer jede Empathie verweigert, oder als Zynismus, der in Bedürftigkeit nur selbstverschuldete Schwäche zu erkennen vermag – obgleich es um die eigene Abwehr der neoliberal virulenten Angst geht, persönlich zu versagen oder selbst nutzlos zu sein (Haubl, 2007, S. 119 ff.). Es kann aber auch als kulturell-rassistische Pseudo-Wir-Bildung zum Ausdruck kommen, die bestimmte Menschengruppen als inkompatibel mit dem vermeintlich Eigenen identifiziert, um ihnen dann eine essenzielle Fremdheit und Bedrohlichkeit zuzuschreiben (Naumann, 2010, S. 66, 103). Ein besonders dramatisches und aktuelles Beispiel ist die sogenannte »Flüchtlingskrise« – ein Beispiel, das zugleich zum Thema Rechtspopulismus überleitet. Nicht nur aus rechtspopulistischer Sicht sind mit der Flüchtlingskrise weniger die Herkunftsgesellschaften der Flüchtenden gemeint, in denen Bürgerkrieg, Armut, Hunger oder Folter herrschen; auch nicht die Groß- und Hegemonialmächte, die im Sinne geopolitischer und ökonomischer Interessen in Ländern Einfluss nehmen, aus denen Menschen fliehen; selbst die Flüchtenden und Geflüchteten sind kaum gemeint. Gemeint ist die Krise in den potenziellen Aufnahmeländern, die vorgeblich durch die Zahl und Gefährlichkeit der Geflüchteten ausgelöst wird. Ähnlich wie Mentzos, nur aus soziologischer Perspektive, spricht Stephan Lessenich hier von der »Externalisierungsgesellschaft«. Die Inseln des Wohlstands und der relativen Sicherheit im globalen Kapitalismus externalisieren den Umstand, dass ihr Wohlstand und ihre Sicherheit zumindest auch auf globalen Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnissen beruhen, indem sie den Ländern des globalen Südens samt den Bürgerkriegen, dem Terror oder Hunger eine kulturell, biologistisch oder religiös konstruierte Inferiorität

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zuschreiben (vgl. Lessenich, 2016, S. 75 f.). Nun kommt es aber mit den Fluchtbewegungen gleichsam zu einer Wiederkehr des Verdrängten, die weitere reaktionäre Abwehrmuster verlangt. Gerade weil die Geflüchteten auf drastische Weise die eigene Verunsicherung der Inselbewohner aufstören, gerade weil sie das externalisierte Elend ebenso wie die menschliche Verwundbarkeit und die Zerbrechlichkeit des Wohlstands widerspiegeln, evozieren sie nicht nur ethische Reflexion und Hilfe, sondern auch Hass und Aggression. Nicht die Geflüchteten sind Opfer, sondern die Inselbewohner, die ihre Sicherheit und ihren Wohlstand verteidigen müssen (Lessenich, 2016, S. 75 f.; Bauman, 2016, S. 83 f.). Vor diesem Hintergrund ist erklärbar, warum der Rechtspopulismus durch die Instrumentalisierung der »Flüchtlingskrise« in Verbindung mit einer ebenso nationalistischen wie chauvinistischen Rhetorik so bedrohlich erfolgreich zu sein scheint. Einerseits kann er an real verfügbare nationale Symbole, an nationalstaatliche Regelungen in der Asyl- und Standortpolitik, an dominanzkulturelle Vergemeinschaftungen wie der »deutschen Leitkultur« und an den immer wieder messbaren »Extremismus der Mitte« (Brähler u. Decker) anschließen, um diese Phänomene dann nationalistisch und autoritär zuzuspitzen (Gebauer, 2016, S. 13; Decker, 2017, S. 3). Andererseits kann der Rechtspopulismus potenziell die Verunsicherungen, Versagensängste und Ohnmachtsgefühle aufgreifen, die angesichts der entgrenzten ökonomischen Verhältnisse nicht nur marginalisierte, sondern auch vom Scheitern bedrohte sowie durchaus ökonomisch erfolgreiche Menschen umtreiben. Im Sinne eines »nationalen Containments« (Lohl) können sich die unerledigten Selbstwertprobleme und unerfüllten Bindungswünsche dann ersatzweise an die verfügbaren, nationalistisch gewendeten Symbole heften (Brunner, Burgermeister, Lohl, Schwietring u. Winter, 2012, S. 41; Mentzos, 1995, S. 70 f.). Das darin Abgespaltene, etwa regressive Versorgungswünsche oder Aggression, wird projektiv in Flüchtlingen oder anderen verfremdeten Gruppen untergebracht – diese sind es, die es sich im sozialen Netz der Aufnahmeländer bequem machen und die zugleich als gefährlich gelten müssen. Nicht zuletzt trägt die zur Schau gestellte Tatkraft rechtspopulistischer Akteure gegen den liberalen Rechtsstaat, gegen Verfechter von Vielfalt und vor allem gegen verfremdete Gruppen zur Kompensierung von Ohnmachtserfahrungen bei (Gebauer, 2016, S. 21). Mit Mentzos gesprochen misslingt hier wieder und auf besondere Weise die dialektisch-schöpferische Integration von Egophilie und Allophilie, stattdessen kommt es im schlechtesten Sinne zu einer Pseudolösung des bipolaren Grundkonflikts. Der Rechtspopulismus samt seiner Destruktivität ist dabei unweigerlich und eigentümlich auf den Neoliberalismus bezogen. Er repräsentiert eine »konformistische Rebellion«, die trotzig eine Wiedererrichtung nationaler Autorität phantasiert, dazu die ungelösten Konflikte an Schwächeren auslässt, aber die

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globale und anonymisierte Autorität der neoliberalen Ökonomie reproduzieren hilft (Brunner et al., 2015; Decker, 2017, S. 3). Dabei sind zunächst bemerkenswerte Gestaltähnlichkeiten festzustellen: Neoliberalismus und Rechts­populismus attackieren beide den Staat, weil dieser vorgeblich noch immer zu viel reguliere oder die autochthone Bevölkerung benachteilige; beide rationalisieren und verleugnen die ihnen inhärente Destruktivität, nämlich von neoliberaler Ökonomisierung wie von rassistischem und sexistischem Hass; und beide folgen einem Nützlichkeitsdenken, das Menschen utilitaristisch entweder nach ihrem individuellen Leistungsvermögen oder nach ihrem Nutzen für die autochthone Bevölkerung taxiert. Ganz praktisch zeigt sich, dass immer dann, wenn Rechtspopulisten eine Regierung stellen, die Deregulierung des Arbeitsmarkts, der Abbau des Sozialstaats sowie die Standortpolitik fortgesetzt wird – als Variante des Neoliberalismus mit rassistischer und protektionistischer Note. Die Integrationsdefizite der neoliberalen Gesellschaften werden dann, wie schon bemerkt, nationalistisch pseudokompensiert (Mentzos, 2002a, S. 63). Neoliberale Ökonomie und rechtspopulistische Praxis sind also kein Widerspruch. Widersprüchlich erscheinen allerdings ihre Ideologien, also hier die Individualisierung, dort die Bildung eines nationalistischen Kollektivs. Möglicherweise liegt hier ein weiteres psychosoziales Arrangement vor, das als »ideologische Kollusion« zwischen zwei ideologisch konstituierten Pseudo-Wir-Bildungen bezeichnet werden könnte. Auf der einen Seite findet sich eine neoliberale Selbsterzählung von Freiheit und Toleranz, deren Freiheitsversprechen weitgehend durch Optimierungszwänge ökonomisch gekapert und durch soziale Exklusionen konterkariert wird. Um die Selbsterzählung aufrechterhalten zu können, müssen die psychosoziale Destruktivität, die damit verbundenen Ängste und Aggressionen sowie die liegen gebliebenen Bindungswünsche verleugnet werden – was der Selbsterzählung jedoch eine eigentümliche Oberflächlichkeit und Leere verleiht. Auf der anderen Seite findet sich eine rechtspopulistische Erzählung, die mit ihrer Aggressivität, ihrem Schüren von Ängsten, ihrer vermeintlichen Authentizität und ihrem Pochen auf Ungleichheit eben diese Leere aufspürt und provoziert. Ideologiekritisch betrachtet sind beide Erzählungen überdeterminiert durch die politökomischen Verhältnisse. Die Menschen werden im Sinne Althussers als eigenverantwortliche oder nationalistisch kollektivierte Subjekte angerufen (Naumann, 2000, S. 30). Die neoliberale Verwertung der einzelnen Arbeitskraft bis in ihre inneren Motivationssysteme hinein erscheint dann als eigenverantwortliche, flexible und autonome Subjektivität, rückseitig ist somit auch das eigene Scheitern selbst verschuldet. Und die auch politökonomisch begründeten sozialen Ungleichheiten erscheinen so als national, kulturell oder ethnisch verfasste Differenzen. Die ideologische Funktion dieser Anrufungen besteht zwar

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darin, die Destruktivität des neoliberalen Kapitalismus unsichtbar zu machen, doch sind sie kein bloßer ideologischer Schein, sondern alltägliche, institutionell und diskursiv gelebte Praxis mit sozialpsychologischer Bedeutung. Sozialpsychologisch ist dieses psychosoziale Arrangement vor allem durch wechselseitige projektive Identifizierungen gekennzeichnet: Einerseits werden die verleugneten Bindungswünsche und die abgespaltene Affektivität auf den Rechtspopulismus projiziert und dort verächtlich gemacht, andererseits wird die Hoffnung auf wirkliche Autonomie und Anerkennung auf das neoliberal verkürzte Freiheits-, Vielfalts- und Toleranzgerede projiziert, um es dann als leeres Versprechen oder auch als schädliche Integration von gefährlichem Fremden zu entlarven – ein malignes Spiegeln und Verkennen im jeweiligen Gegenüber. Auch dieses psychosoziale Arrangement dient der Abwehr unbewältigter Konflikte in der jeweiligen Bezugsgruppe und ist ebenso funktional wie destruktiv. Es ist nicht auszuschließen, dass bei gesellschaftlichen Krisen, äußeren Bedrohungen, provozierten Eskalationen oder infolge der inneren Dynamik der PseudoWir-Bildung selbst dieses Abwehrarrangement nicht mehr ausreicht und noch leidvollere, autoritärere und rassistischere Pseudo-Wir-Bildungen entstehen. In Rekurs auf das eingangs vorgestellte Vier-Felder-Modell könnten sich dabei Menschen und Gruppen, die sich den Feldern B, C und D zuordnen lassen, in einem hypernationalistischen Wir verbinden: jene, die ihren extremen Narzissmus durch die Entwertung anderer aufrechterhalten, jene, die ihre Selbstwertproblematik durch Anklage und Aggression kompensieren, und jene, die auf die Identifizierung mit einem übergeordneten, idealisierten Objekt angewiesen sind. Um diesen destruktiven Tendenzen emanzipatorisch zu begegnen, ist zunächst die Kritik der neoliberalen Ökonomie notwendig. Ebenso wichtig ist ein politisches Handeln, das sich gegen soziale Ungleichheit, Vereinzelung, Entsolidarisierung und den zunehmenden kulturellen Rassismus wendet. Von entscheidender Bedeutung ist aber auch, die Dynamik der Bipolarität zu berücksichtigen, da diese die existenziellen Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens und mithin die psychosozialen Dimensionen von Leid, Destruktivität und Glück zu berücksichtigen erlaubt. Auf diese Weise können einerseits Pseudo-Wir-­ Bildungen mit ihren bipolaren Dilemmata tiefer verstanden werden, weil nicht nur die Destruktivität, die die Projektion von Sehnsüchten und Aggression erzeugt, sichtbar wird, sondern auch das Leid und die affektive Verarmung innerhalb solcher Pseudo-Wir-Bildungen. Andererseits bietet das Bipolaritätsmodell eine klare Orientierung beim Versuch, auf allen gesellschaftlichen Ebenen dialektisch-schöpferische Lösungen des Grundkonflikts zu verwirklichen. Bevor aber diese präventiven Aspekte weiter erörtert werden, möchte ich zunächst auf ein weiteres beispielhaftes Anwendungsfeld des Bipolaritätsmodells eingehen.

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Geschlecht und Sexualität Die psychosozialen Dimensionen des Themas Geschlecht und Sexualität standen zwar nicht im Fokus des Werks von Mentzos, aber an vielen Stellen finden sich dazu differenzierte Überlegungen (2002b, 2011, 2013, 2015). Konsequent wendet er das Bipolaritätsmodell auf das Verhältnis von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie von Homo- und Heterosexualität an – und ebenso konsequent überschreitet er dabei die sexistischen und homophoben Tendenzen, die in der Geschichte der Psychoanalyse immer wieder zu konstatieren sind (vgl. Hutfless, 2014). Freud selbst war hier durchaus ambivalent. Einerseits hat er den Geschlechterdualismus mit der Annahme der ursprünglichen Bisexualität des Menschen dekonstruiert und überwunden, andererseits hat er ihn essenzialisiert, etwa im Hinblick auf die psychosexuelle Entwicklung von Jungen und Mädchen, den Phallozentrismus oder die besondere Bedeutung des Vaters für die Kulturentwicklung (vgl. Brunner et al., 2012, S. 48; Mentzos, 2013, S. 34). In der Folge neigte sich die psychoanalytische Theoriebildung häufig eher in Richtung einer weiteren Essenzialisierung: »Mit dem normativen Festhalten an der traditionellen Familie, an der heterosexuellen Verteilung der Elternfunktion, den Geschlechtsstereotypen, mit der Verachtung für Forderungen nach Gleichheit, mit den abstrakten, apolitischen und archaischen Bezügen auf ein höheres Gesetz ist die Psychoanalyse lange jeder kritischen Analyse mit Hochmut begegnet« (Tessier, zit. nach Heenen-Wolff, 2015, S. 600). Die Überwindung dieser Haltung wurde in den vergangenen rund 25 Jahren nicht nur, aber besonders aus der Perspektive einer feministisch, intersubjektiv und sozialkritisch orientierten Psychoanalyse ermöglicht. Beispielhaft seien hier »Die Fesseln der Liebe: Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht« von Jessica Benjamin (1990) sowie »Expedition in den dunklen Kontinent: Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse« von Christa Rohde-Dachser erwähnt (1992). Mentzos hat nun, in ausgesprochener Nähe zur Argumentation der genannten Autorinnen, das Thema Geschlecht und Sexualität untersucht. Seine Positionen möchte ich aufgreifen und mit anschlussfähigen sozialwissenschaftlichen und psychoanalytischen Ansätzen verbinden. Zunächst einige sozialwissenschaftliche Einschätzungen. Den Ausgangspunkt meiner Analyse bildet die Kritik der Heteronormativität, die auf der binären Entgegensetzung von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie von Hetero- und Homosexualität gründet. Heteronormativität koppelt die Geschlechtszugehörigkeit an sexuelle Aktivitäten, sie naturalisiert damit ein männliches und ein weibliches Geschlecht mit heterosexueller Orientierung, während rückseitig die Vielzahl anderer sozialer Geschlechter und Begehrensweisen verleugnet, pathologisiert

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oder ausgegrenzt wird (Quindeau, 2014, S. 85). Die Heteronormativität ist demnach ein sozialer Faktor, der integrative Lösungen der Bipolarität erschwert und stattdessen die Spaltung der Pole begünstigt – mit destruktiven psychosozialen Folgen. So ist schon ökonomisch die Fortdauer geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung zu konstatieren. Trotz der gegenwärtigen Individualisierung, trotz der formalen Gleichheit von Frauen und Männern in demokratischen Gesellschaften scheinen Männer eher einen Platz in der öffentlichen Sphäre der Erwerbsarbeit, der Politik und Verwaltung zu erhalten, während Frauen noch immer eher für die private Sphäre der Haus- und Erziehungsarbeit zuständig zu sein scheinen. Hier steigt männliche Beteiligung nur in geringem Maße, und eine Umschichtung findet eher zwischen Frauen statt, etwa durch die Anstellung von weiblichen Haushaltshilfen oder Kindermädchen in bessergestellten Haushalten (Lange u. Lüscher, 2006, S. 37). Darüber hinaus finden Frauen besonders in feminisierten Berufen selbstverständlichen Zugang, in denen weiblich codierte Fähigkeiten der Pflege und Kommunikation gefragt sind; weiterhin erhalten Frauen seit Jahren hartnäckig mehr als 20 Prozent weniger Lohn als Männer; sie arbeiten weitaus häufiger in Teilzeit; und sie sind es zumeist, die die Doppelbelastung von Familie und Beruf bewältigen müssen. Nicht zuletzt muss an dieser Stelle daran erinnert werden, dass das Recht auf eigenständige Erwerbsarbeit von Ehefrauen in der BRD erst 1977 eingeführt wurde (Naumann, 2017). Mit dieser Arbeitsteilung ist zugleich ein zweigeschlechtliches Symbolsystem verwoben, in dem Weiblichkeit und Männlichkeit als bipolares Gegensatzpaar konstruiert ist. Auf sprachlicher Ebene ist das Wort »Männlichkeit« verknüpft mit Zeichen der Autonomie, der Rationalität und Aktivität, während »Weiblichkeit« im Zeichen von Abhängigkeit, Emotionalität und Passivität zu stehen scheint (Naumann, 2000, S. 163). Allerdings wirkt das binäre Symbolsystem nicht nur auf der sprachsymbolischen, sondern auch auf der sinnlich-­ symbolischen Ebene des »Doing Gender«: Auf diese Weise bildet sich ein geschlechtlicher »Habitus« (Bourdieu) heraus, eine »verleiblichte, in den Körper eingeschriebene Ordnung«, die »die Zuordnung der Geschlechter zueinander, das Verhältnis von Unterordnung und Durchsetzung, von Nähe und Distanz, von Ordnung und Unordnung oder von Aktivität und Passivität« reguliert und damit geschlechterhabituelle Zugehörigkeiten und Hierarchiebildungen inszeniert (Brandes, 2005, S. 158 ff.). Erst das Einfügen in dieses zweigeschlechtliche Symbolsystem verschafft den Menschen sichere soziale Anerkennung und Teilhabe (Bilden, 1998, S. 294), zugleich begünstigt es, wie noch zu zeigen sein wird, die Entstehung von geschlechtlichen Pseudo-Wir-Bildungen. Die geschlechtlich polarisierten Erfahrungen in der alltäglichen Arbeits- und Beziehungswelt wirken performativ auch in die innere Struktur und Psycho-

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dynamik sowie in Körperwahrnehmung, Lust und Befriedigungsmodalitäten hinein (Quindeau, 2014, S. 86). Im Hinblick auf die bipolare Psychodynamik der Geschlechter erzeugt die heteronormative Praxis eine Spaltung von Autonomie und Bindung. Zugespitzt formuliert beruht Männlichkeit auf der unangemessenen Größenphantasie, prinzipiell unabhängig und rational handlungsfähig zu sein. Die zweifellos vorhandene Abhängigkeit von anderen Menschen und all die Wünsche nach Geborgenheit und Nähe, die in diesem Selbstbild nicht integriert sind, müssen sich dann andere Abfuhrbahnen suchen. Im Kontext der hegemonialen Männlichkeit ist die naheliegende Abfuhrbahn die Projektion der Ängste und Wünsche auf Weiblichkeit, die als Symbol der Abhängigkeit verachtet und als Symbol der Nähe und Sinnlichkeit idealisiert werden kann. Weiblichkeit gerät so zu einem Behälter, in dem die männlich verleugneten Gefühle deponiert und aufgesucht werden können (Rohde-Dachser, 1992, S. 97 ff.). Weil umgekehrt in der Geschlechterpolarisierung für Weiblichkeit keine selbstverständliche Autonomie vorgesehen ist, da diese männlich codiert ist, entsteht die Tendenz, unerfüllte Autonomiewünsche auf Männlichkeit zu projizieren, um so am vermeintlichen Glanz idealisierter männlicher Unabhängigkeit teilhaben zu können (Benjamin, 1990, S. 155 f.). Auf diese Weise wird das Verhältnis von Autonomie und Bindung, von egophilen und allophilen Tendenzen, geschlechtlich polarisiert, es kommt zur männlichen Überbetonung der Autonomie und zur weiblichen Überbetonung der Bindung (Mentzos, 2002b, S. 122). Durch diese Polarisierung entsteht eine Pseudokohärenz von Männlichkeit und Weiblichkeit, die sich zwar durch Spaltung und Projektion stabilisiert, in der aber bedrohliche Affekte, wie Neid und Angst, virulent bleiben und das Selbst­erleben, Fühlen und Handeln in Beziehungen einschränken: etwa die Angst vor den eigenen gegengeschlechtlichen Anteilen oder die Angst vor Selbst­verlust in der Begegnung mit dem je anderen Geschlecht (Mentzos, 2013, S. 271). Schlimmsten­falls werden solche Ängste dann durch destruktive Aggression kompensiert, die sich gegen das Selbst oder gegen das Objekt richten können. Auch die Sexualität kann unter heteronormativen Bedingungen starre und destruktive Formen annehmen. Grundsätzlich konstituiert sich Sexualität durch konkrete Erfahrungen in einem sozialen Kontext, also durch eine Körper-, Bedürfnis-, Beziehungs- und Geschlechtsgeschichte (Schmidt, 2014, S. 68), im Zusammenspiel von anatomischen Strukturen, physiologischen Prozessen, Beziehungserfahrungen und Phantasien (Quindeau, 2014, S. 87). Damit ist sie eine mögliche Quelle von großer Nähe, Bindung und intensiver Lust, zugleich löst sie gerade deshalb auch Ängste vor Kontroll- und Selbstverlust aus (Mentzos, 2013, S. 271). Jedwede Begehrensform, ob hetero-, homo-, bi- oder asexuell, ist dabei kein Ausdruck bloßer Natur, sondern ebenso kontingent wie kulturell

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überformt und im Sinne von »Umschriften« lebenslang veränderbar (Quindeau, 2014, S. 98). Diese relative Offenheit und potenzielle Vielfalt ist allerdings in der Heteronormativität strukturell eingeschränkt, weil sie zur Verwerfung der Homosexualität und zur Verbreitung eher starrer Formen der Heterosexualität beiträgt. So führt die Kopplung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität meist dazu, dass sich die anfänglich bisexuelle Orientierung der Menschen über die Verdrängung homosexuellen Begehrens hin zum heterosexuellen Begehren wandelt (Quindeau, 2014, S. 88). Sicherlich eröffnet die heterosexuelle Objektwahl auch lustspendende Erfahrungen und Beziehungen. Doch eine strikte Aufgabe der gleichgeschlechtlichen Objektwahl unterlegt die Geschlechtsidentität und das heterosexuelle Begehren potenziell mit einer Melancholie, mit einer verleugneten Trauer über all das, was in der geschlechtlichen und sexuellen Vereindeutigung verloren gegangen ist. Mit Judith Butler gesprochen wird der starr heterosexuelle Mann in der Melancholie gleichsam zu dem Mann, den er nie lieben oder dessen Verlust er nie betrauern konnte, zugleich begehrt er die Frau, die er niemals sein würde. Umgekehrt wird die starr heterosexuelle Frau zu der Frau, die sie nie lieben oder betrauern konnte, und sie begehrt den Mann, der sie niemals sein durfte (Butler, 2001, S. 129 ff.). Diese Melancholie verschwindet dann aber unter der heteronormativen Naturalisierung der starren Heterosexualität mit ihren homophoben Begleiterscheinungen, sie beruht gleichsam auf der Abwehr und Pathologisierung homo­sexueller Tendenzen. Darüber hinaus zeigt sich die heteronormative Destruktivität aber auch als Gewalt innerhalb heterosexueller Beziehungen. Mentzos nennt hier das Beispiel einer aggressivierten Sexualität, die meist von Männern agiert wird und die als Pseudolösung des bipolaren Konflikts zwischen Autonomie und Bindung verstanden werden kann (2013, S. 271). In solchen Fällen repräsentiert das Sexualobjekt, also die Partnerin, eine ersehnte Attraktion, Lust und Nähe, die aber zugleich die mühsam errichtete männliche Autonomie bedroht, so dass Lust und Nähe nur durch die gewaltvolle Unterwerfung der Anderen realisierbar erscheinen. Im Manuskript-Fragment schreibt Mentzos ebenso kritisch im Hinblick auf destruktive Tendenzen wie hoffnungsvoll, dass die Destruktivität prinzipiell überwindbar ist: »Wir sind also wieder im Mittel­ punkt der menschlichen Bipolarität angekommen, die gerade durch diese potenziell gegensätz­liche Motivation zu einem Problem, zu einem Dilemma, zu einem Konflikt führen kann, aber umgekehrt eine schöpferische Dynamik, Anregung der Fantasie, Bereicherung und Glück verspricht« (2015). Nun drängt sich die Frage auf, ob die Heteronormativität tatsächlich so wirkmächtig ist. Leben wir denn nicht in einer Welt der sexuellen und geschlecht­ lichen Vielfalt? Heute existieren in den Queer- und Genderstudies, in der Psycho­

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analyse und Sexualwissenschaft vielfältige transgressive, emanzipatorische und gesellschaftskritische Ansätze. Zudem sind diese theoretischen Bemühungen flankiert von sozialen Bewegungen, die sich besonders in Großstädten etwa als feministische, lesbische, schwule und queere Communitys zeigen und überdies immer wieder politische und rechtliche Fortschritte anstoßen. In den Medien kursieren vielfältige Bilder von Hetero- und Homosexualität, zudem werden Themen wie Transgender und Intersexualität sichtbarer – eine Entwicklung, die ein breiteres Spektrum von Geschlechteridentitäten und Begehrensweisen zur Identifizierung anbietet. Im Bereich der Erwerbsarbeit werden »weibliche« Fähigkeiten der Kommunikation und Kooperation aufgrund der zunehmend vernetzten Arbeitswelt immer gefragter. Auch eröffnen flexible Arbeitszeitmodelle zumindest die Möglichkeit, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren. Unterstützt werden diese Prozesse durch Gender-Mainstreaming, um Geschlechtergerechtigkeit zu verwirklichen. Zudem existieren heute vielfältige Familienformen und erweiterte Spielräume für die Gestaltung eines durch Kooperation und Empathie getragenen Familienalltags (vgl. Naumann, 2010, S. 93). Nicht zuletzt weiten sich Potenziale einer »Verhandlungsmoral« in sexuellen Beziehungen, die wechselseitige Lust fördern und Destruktivität eindämmen können (Schmidt, 2014, S. 8). Insgesamt ist, mit Volkmar Sigusch gesprochen, für die letzten Jahre bis heute eine »neosexuelle Revolution« zu konstatieren, die sich zunächst durch die Vervielfältigung von Geschlechtern, Begehrens- und Lebensformen kennzeichnen lässt (Sigusch, 2014, S. 34 ff.). Sigusch, den Mentzos meines Wissens sehr schätzte, macht allerdings auch deutlich, dass der nicht zu leugnende Autonomiezuwachs und die neuen Freiheiten auch mit neuen Zwängen einhergehen (2014, S. 28). In Zeiten eines globalisierten Neoliberalismus, der ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit immer weiter kassiert, können den Menschen ohne Weiteres größere geschlechtliche und sexuelle Freiheiten zugestanden werden. Darüber hinaus ist die Rede von sexuellen und geschlechtlichen Freiheiten geradezu gesellschaftlich funktional, wenn die neoliberalen Tendenzen zur technischen Machbarkeit, Flexibilisierung und Selbstoptimierung bis in sexuelle Regungen und Körperverhältnisse hineinreichen (Sigusch, 2014, S. 37; Schmidt, 2014, S. 31). Für die einzelnen Menschen sind die Konflikte rund um Sexualität und Geschlecht damit aber nicht gelöst (Heenen-Wolff, 2015, S. 587). So wird etwa mit einer selbstoptimierten, technisierten Sexualität zwar die Angst vor dem Rauschhaften der Sexualität, auch vor Nähe und Abhängigkeit kontraphobisch durch einen neuerlichen Leistungsbeweis abgewehrt, die Angst vor Beziehungslosigkeit und die Sehnsucht nach Verbundenheit bleiben aber virulent (Böllinger, 2015, S. 612, 615).

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Insgesamt ist eine widersprüchliche Situation zu konstatieren. Zwar wird die Heteronormativität durch die mehr oder minder gelingenden, jedenfalls vielfältigen Gestalten der neosexuellen Revolution herausgefordert, doch bleibt sie ökonomisch, symbolisch und psychosozial vorherrschend mit der institutionalisierten Heterosexualität, der hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit und hegemonialen Männlichkeit (Böllinger, 2015, S. 626). Auf diese Weise entstehen heteronormative, männliche und weibliche Pseudo-Wir-Bildungen, die ihre ungelösten Dilemmata der Bipolarität klischeehaft und projektiv an der gegengeschlechtlichen Gruppe bearbeiten und die sich zudem als übergeordnete heterosexuelle Pseudo-Wir-Bildung in der Abgrenzung zur Homosexualität vereinen und stabilisieren. Verschärft wird diese Dynamik durch die Verunsicherung, die die Sichtbarkeit von nonkonformen Geschlechterentwürfen und Begehrensformen auslöst – eine Verunsicherung, die das Unbehagen in der neoliberalisierten Welt weiter vertieft. Um die Verunsicherung zu bewältigen, müssen dann alle Tendenzen, bislang naturalisierte Geschlechter- und Sexualitätsgrenzen zu überschreiten, mit Hass verfolgt werden. Besonders rechtspopulistische Pseudo-Wir-Bildungen scheinen sich verzweifelt ihrer selbst vergewissern zu müssen, indem sie ihre Not durch antifeministische, homo- und transphobe Wut kompensieren (Naumann, 2017). Neben dieser heteronormativen Hegemonie existieren Diskurse von geschlechtlicher und sexueller Freiheit, von Machbarkeit und Selbstoptimierung – eine erzwungene Freiheit, die die Menschen letztlich auf ihre Funktion in einer individualisierten und entgrenzten Welt einschwört. Subjektiv dienen diese Diskurse und daraus folgende Praktiken der Abwehr virulenter Ohnmachtsgefühle und unerfüllter Bindungswünsche, sie hinterlassen aber auch eine einsame Beziehungslosigkeit. Diese den Selbstpol überbetonende Pseudolösung des bipolaren Konflikts birgt letztlich auch die Gefahr, dass das ohnehin schon brüchige Abwehrarrangement bei krisenhaften Prozessen nicht mehr genügt und durch den Rückgriff auf die real verfügbare Heteronormativität restabilisiert werden muss. Möglich scheint hier einerseits die Wiederbelebung der destruktiven Dynamik von Über- und Unterordnung in zwischenmenschlichen Beziehungen, andererseits das Wiedereinfügen in heteronormative Pseudo-­Wir-Bildungen, die wenigstens irgendeine Form der Verbundenheit versprechen (Naumann, 2017). Nicht zuletzt bestehen gerade heute im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität auch erweiterte Spielräume für dialektisch-schöpferische Lösungen der Bipolarität. Diese überschreiten die Logik sich strikt ausschließender Gegensätze, also entweder männlich oder weiblich, entweder hetero- oder homosexuell, entweder autonom oder verbunden zu sein. Auf diese Weise können beweg-

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lichere geschlechtliche und sexuelle Identitäten entstehen, die die Bipolarität integrieren, die um ihre unweigerliche Begrenztheit und Kontingenz wissen und die sich der destruktiven Dynamik von Spaltung, Dissoziation und Projektion, von Über- und Unterordnung entziehen, weil sie keine verächtlich gemachten anderen Identitäten benötigen, um sich selbst zu stabilisieren. Im Hinblick auf den Grundkonflikt ist entscheidend, dass Männer, Frauen, intersexuelle und transidente Menschen mit ihren unterschiedlichen Begehrensformen Erfahrungen machen können, die ihnen die Balance von Autonomie und Bindung ermöglichen – sowohl im inneren Erleben als auch in zwischenmenschlichen und intergruppalen Beziehungen. In diesem emanzipatorischen Sinn müssen die heteronormativen ebenso wie die neoliberalen Verhältnisse immer wieder kritisch hinterfragt werden. Darüber hinaus geht es darum, die Entpathologisierung von Homosexualität voranzutreiben, ohne freilich Hetero- und Homosexualität gegeneinander auszuspielen. Ergänzend zu ihrer Kritik an einer strikten Heterosexualität weist Judith Butler darauf hin, dass natürlich auch homosexuelles Begehren, besonders in der Behauptung einer strikten homosexuellen Identität, melancholisch unterlegt sein kann, nämlich als Verwerfung heterosexuellen Begehrens (Butler, 2001, S. 140). In Worten, die sehr an das Bipolaritätsmodell erinnern, macht sie deutlich, dass erst die Akzeptanz der »Spur des Anderen« im Inneren, erst die Trauer um die Phantasie absoluter Autonomie die Versöhnung mit der existenziellen Ambivalenz und Begrenztheit jedweder Identität eröffnen – gleich ob eher homo- oder heterosexuell orientiert (S. 182; Naumann, 2017). Vor diesem Hintergrund muss betont werden, dass Homo- wie Heterosexualität dazu dienen, im Rahmen einer konkreten Lebensgeschichte und innerhalb gegebener gesellschaftlicher Kontexte Lust zu erzeugen und möglichst angstfreie, befriedigende Beziehungen zu leben (Rohde-Dachser, 1994, S. 835 ff.; Mentzos, 2011, S. 233). In seinem Werk »Neurotische Konfliktverarbeitung« hat Mentzos bereits in den 1980er Jahren darauf hingewiesen, dass es ebenso glückende Homo- wie Heterosexualität gibt und dass beide natürlich auch Abwehr- und Kompensationscharakter haben können. Wenn aber die sexuelle Orientierung schlichtweg nichts über psychische Gesundheit sagt, müssten in einem Buch über Neurosenlehre, so Mentzos, entweder beide oder keine der Varianten thematisiert werden (Mentzos, 2011, S. 234). Insgesamt geht es, mit Ilka Quindeau gesprochen, um die Schaffung eines »generativen Raums«, in dem sowohl die Beziehung zu anderen, ebenso benötigten wie eigenständigen Personen gelingt als auch die Symbolisierung des Fremden im Eigenen (Quindeau, 2008, S. 204 f.). Sie sieht den generativen Raum als Ort, »an dem bisexuelle, gleich- und andersgeschlechtliche Repräsentanzen

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sowie verschiedenste Lust- und Befriedigungsmodalitäten und -phantasmen Platz haben und nebeneinander bestehen bleiben können, ohne dass Fremdes und Anderes im Sinne einer eindeutigen dichotomen Geschlechtsidentität sowie sexuellen Identität ausgegrenzt und verworfen wird. Der generative Raum steht für die Anerkennung des Fremden im Eigenen. Das macht es möglich, mit den fremden Anteilen sowohl in der eigenen Person als auch bei anderen Personen gelassener umzugehen und sie nicht zu entwerten oder zu bekämpfen« (Quindeau, 2008, S. 205). Schließlich schlägt Quindeau vor, Weiblichkeit und Männlichkeit, Passivität und Aktivität sowie Hetero- und Homosexualität nicht als Gegensatzpaare, sondern als Pole zu verstehen, die Kontinuen mit unterschiedlichsten Zwischenstufen und Ausprägungen umschließen (Quindeau, 2014, S. 84). Ich kann mir gut vorstellen, dass Mentzos hier zugestimmt hätte – vielleicht unter Erwähnung des Grundkonflikts, mit seinem ebenso neugierigen wie feinen Lächeln und mit dem Interesse an gemeinsamer Verständigung. Prävention Im Fokus der letzten Abschnitte standen destruktive Tendenzen im psychosozialen Feld am Beispiel des Krieges, der neoliberalen Individualisierung und des Rechtspopulismus sowie des Verhältnisses von Geschlecht und Sexualität unter den Bedingungen der Heteronormativität. Es wurde deutlich, dass diese destruktiven Tendenzen auch Folge einer gesellschaftlichen Destruktivität sind, die in die Alltage der Menschen in Familie oder Arbeitswelt hineinwirkt, die durch Pseudo-Wir-Bildungen In- und Exklusionen erzwingt und letztlich zu Angst und reaktiver destruktiver Aggression führt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Prävention solch destruktiver Tendenzen, wie die Entfaltung dialektisch-schöpferischer Potenziale gelingen könnte. Mentzos selbst war in diesem Punkt durchaus pessimistisch: »Meine schweren Bedenken beziehen sich auf den ungebrochenen Lauf eines ungebremsten Kapitalismus, der das mühsam im Laufe der Zeit gewonnene Potential an kooperativen Bindungsmotivationen und überhaupt an integrativ-dialektischen Lösungen (durch die Verherrlichung und Hervorhebung der Profitmaximierung und der Konkurrenz als der höchsten Werte) wettmacht und eliminiert. Die berühmte Globalisierung, auch wenn sie als nicht nur ökonomische, sondern auch kulturelle Globalisierung verstanden werden sollte, gewinnt mehr und mehr den Charakter einer erzwungenen Wir-Bildung, welche letztlich den eigennützigen Vorteil der Mächtigen auf Kosten der Schwächeren zum Ziel hat, während sie in der Lage gewesen wäre, eine exzellente Möglichkeit zur Entwicklung von echten Wir-Bildungen abzugeben. Was wir also durch eine verbesserte Sozialisation

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in der Kindheit und durch eine Demokratisierung unserer politischen Systeme und durch eine trotz allem bessere Informationsvermittlung an Humanisierung gewonnen haben, laufen wir Gefahr, unter dem Einfluss dieses alles beherrschenden wirtschaftlichen Systems zu verlieren« (Mentzos, 2002c, S. 162 f.). Dagegen gründete seine Hoffnung darauf, dass ein tieferes Verstehen der Destruktivität auch andere, förderliche Handlungsmöglichkeiten eröffnen könnte. Notwendig ist dabei, die psychosozialen Funktionen, die unbewussten Wünsche, Ängste und affektiven Erfahrungen zu berücksichtigen, weil diese in psychosozialen Prozessen eine maßgebliche Rolle spielen, und zwar als Widerstände oder als dynamische Antriebskräfte (Moré, 2015, S. 190; Mentzos, 2015). Mentzos selbst hat seine Überlegungen zur Entfaltung dialektisch-schöpferischer Potenziale vor allem am Beispiel der Kriegsprävention festgemacht. Er unterscheidet drei Dimensionen der Prävention: Die erste zielt auf politische Interventionen, wie Aufklärung und Protest; die zweite umfasst das Bewusstmachen der psychosozialen Arrangements, die mit der Abwehr der Bipolarität immer wieder Destruktivität reproduzieren; und die dritte Dimension meint das stetige Arbeiten daran, zwischenmenschliche, institutionelle und gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die eine balancierte Bipolarität und schöpferische Lösungen des Grundkonflikts ermöglichen (Mentzos, 2002b, S. 225 ff.). Ich möchte diese Überlegungen aufgreifen und ihre Bedeutung für die allgemeine Prävention destruktiver Tendenzen im psychosozialen Feld zumindest andeuten. Die politischen Interventionen sollten sich zunächst auf die Transformation der kapitalistischen Lebensform und ihrer Prinzipien der Verwertbarkeit und Konkurrenz richten (Gebauer, 2016, S. 24). So könnte an die Stelle von schädlicher Selbstoptimierung und Entgrenzung eine Arbeitsutopie treten, die nicht nur technologisch längst möglich ist, sondern vor allem Erfahrungen der Befriedigung, Selbstwirksamkeit, Verbundenheit und Rekreation mit sich brächte (Morgenroth, 2015, S. 210); an die Stelle systematischer Exklusion könnte eine soziale Infrastruktur treten, die allen Menschen den Zugang zu Daseinsvorsorge und sozialer Absicherung eröffnet und die damit das ubiquitäre Gefühl existenzieller Verunsicherung auffängt. So könnte sich statt Egoismus und regressiver Versorgungs­wünsche ein Klima ausbreiten, das durch soziales Engagement und Kreativität bestimmt ist und das im Sinne eines emphatischen Bildungsbegriffs in möglichst allen gesellschaftlichen Bereichen Platz greift (Gebauer, 2016, S. 25 f.). Nicht zuletzt sollten sich die politischen Interventionen gegen Unterordnung und Exklusion entlang rassistisch, sexistisch oder sozial konstruierten Hierarchisierungen wenden und stattdessen auf die dialogische Verwirklichung von Vielfalt, Menschenrechten und Gerechtigkeit im Sinne »einer friedlichen und für alle Seiten vorteilhaften, kooperativen und solidarischen Koexistenz« hin-

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arbeiten (Bauman, 2016, S. 114). Solche Interventionen können, wie ich meine, sehr viel Schwung aus der kulturtheoretischen Überzeugung von Mentzos ziehen, dass nicht Selbstzwang, Konkurrenz und nationalistische Bindung kulturellen Fortschritt bedeuten, sondern zuallererst die dialektisch-schöpferische Lösung des Grundkonflikts, also das Denken, Fühlen und Handeln von und zwischen Menschen, die um die Relativität ihrer Autonomie wissen und sie integrativ mit prosozialen Tendenzen zu verknüpfen vermögen (Mentzos, 2002b, S. 134 f.). Im Hinblick auf die zweite präventive Dimension, in der der Fokus auf dem Bewusstmachen der destruktiven psychosozialen Arrangements liegt, möchte ich hier nicht die schon dargelegten Erkenntnisse wiederholen, sondern die allgemeine emanzipatorische Bedeutung der Analyse von institutionalisierter Abwehr und Pseudo-Wir-Bildungen hervorheben. Ähnlich wie in der psycho­analytischen Therapie geht es in der psychoanalytischen Sozialforschung zunächst darum, durch die Bearbeitung der Pseudolösung des Grundkonflikts zur dialektischen Aufhebung des Konflikts und somit zur Befreiung der bislang konflikthaft blockierten psychischen Kräfte beizutragen (Mentzos, 2002b, S. 228). Dabei steht weniger das emanzipatorische Potenzial zur Überwindung individuellen, lebensgeschichtlichen Leidens im Mittelpunkt als die Aufklärung und Aufhebung jener psychosozialen Zwänge, »die das Leben der Menschen beeinträchtigen und sie daran hindern, es gemäß den eigenen Bedürfnissen zu gestalten« (Volmerg, zit. nach Brunner et al., 2012, S. 54). Gerade weil psychoanalytische Sozialforschung (bzw. analytische Sozialpsychologie) die psychosozialen Kosten gesellschaftlicher Destruktivität zu taxieren erlaubt, gerade weil sie verdeutlicht, welche Potenziale zur Balance von Individuation und Verbundenheit bestehen und brachliegen, bildet sie einen Gegendiskurs zur marktideologischen Vereinzelung ebenso wie zur nationalistischen Vergemeinschaftung (vgl. Busch, 2012, S. 43). Angesichts der herrschenden gesellschaftlichen Verwerfungen muss es hartnäckig darum gehen, die Erkenntnisse psychoanalytischer Sozialforschung ins psychosoziale Feld zurückzuspielen, um auf diese Weise immer wieder emanzipatorische Prozesse anzustoßen (vgl. Brunner et al., 2012, S. 54). Die dritte präventive Dimension schließlich umfasst die Überwindung von psychosozialen Bedingungen in Gruppen und Institutionen, die die Balancierung der Bipolarität durch institutionalisierte Abwehr blockieren, sowie insbesondere die Herstellung von Bedingungen, die die grundlegende oder nachholende Erfahrung und Verinnerlichung integrativ-schöpferischer Lösungen des Grund­konflikts erlauben (Mentzos, 2002b, S. 226; 1995, S. 76). Von entscheidender Bedeutung sind dabei die Bedingungen der kindlichen Sozialisation, Entwicklung und Bildung, weil sich hier die basalen psychischen Strukturen, die mehr oder minder gelingende Integration und Balance von selbst- und objektbezogenen Tendenzen

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herausbilden (Mentzos, 2002b, S. 226). Aber auch darüber hinaus, im Hinblick etwa auf das gesamte Bildungs- und Gesundheitswesen, auf Kultur, Verwaltung, Politik, Arbeitswelt und Gesamtgesellschaft gilt es, solch förderliche Bedingungen zu schaffen. Am Beispiel psychodynamischer Supervision in einer zunehmend entgrenzten Arbeitswelt möchte ich diese emanzipatorischen Potenziale wenigstens andeuten. Gerade angesichts der gegenwärtigen Umwälzung der Arbeitsverhältnisse kommt der Erfahrung von Halt, Bindung und Gemeinschaft eine außerordentliche Bedeutung zu (Bartsch, 2012, S. 121). Dabei muss sich psychodynamische Supervision schon fachlich und ethisch gegen die Verheerungen der neoliberalen Ökonomisierung positionieren (Haubl, 2012, S. 375). Im geschützten Raum der Supervisionsgruppe können interne und externe Konflikte besprochen werden, heftige Affekte wie Angst und Wut, Scham und Schuld werden bearbeitbar, so dass sich Reflexionsfähigkeit und solidarische Handlungsalternativen weiten (vgl. Busch, 2012, S. 47). Christine Morgenroth schreibt dazu: »Entgrenzung geht auch mit Individualisierung, Vereinzelung und Isolation einher. Das verletzt ein menschliches Grundbedürfnis nach Begegnung, Kontakt und Ich-Werdung in der Auseinandersetzung mit dem anderen. Erfahrungen im geschützten Raum einer Gruppe, Erfahrungen von Vertrauen und Halt, ja von Containment […] stellen alternative Erfahrungsräume bereit, in denen unter Bedingungen schutzbietender, verlässlicher Grenzen Menschen sich selbst im anderen, in den Reaktionen der anderen buchstäblich wiederfinden können, in denen die in der Simultanität auseinandergebrochenen Ich-Anteile wieder zusammenfinden können und der Sinn für das Mögliche eine Entwicklungschance bekommt. Darin liegt eine subversive und letztlich systemsprengende Kraft, die das Subjekt stärkt« (Morgenroth, 2015, S. 209). Insgesamt müssten, mit Winnicott gesprochen, auf allen gesellschaftlichen Ebenen Übergangsräume hergestellt und institutionalisiert werden, in denen auch die schweren, dilemmatischen Konflikte der Bipolarität genügend angstfrei gezeigt und bearbeitet werden können, um letztlich glücklichere Lösungen, Erfahrungen von Individuation und Verbundenheit, wachsender Kreativität und Symbolisierungs­ fähigkeit zu ermöglichen (vgl. Winnicott, 2006, S. 25).

Epilog Stavros Mentzos hat im Laufe von rund vierzig Jahren zahlreiche Beiträge zu psychosozialen Themen publiziert und unermüdlich Vorträge gehalten. Seine Positionen und Erkenntnisse zur Bedeutung des Bipolaritätsmodells in psycho-

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sozialen Feldern werden bis heute breit rezipiert, die Werke »Interpersonale und institutionalisierte Abwehr« (1988) und »Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen« (2002b) sind moderne Klassiker. In seinen Arbeiten vertritt Mentzos eine gesellschaftlich engagierte Psychoanalyse, die insbesondere mithilfe des Bipolaritätsmodells destruktive Tendenzen aufspüren möchte, um zu deren Überwindung und damit zur Humanisierung der Welt beizutragen. Weniger im Fokus seines Erkenntnisinteresses stand die epistemologische Frage der interdisziplinären Kooperation von Psychoanalyse und Sozialwissenschaften – die Frage also, wie das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft mithilfe psychoanalytischer und sozialwissenschaftlicher Methoden untersucht werden kann, ohne psychologistische oder soziologistische Verkürzungen zu produzieren (dazu etwa Busch, 2007b, 2012; Haubl u. Schülein, 2016; Naumann, 2000). Gleichwohl hat Mentzos die Bedeutung politischer, ökonomischer und sozialer Verhältnisse nie unterschätzt, sondern die Notwendigkeit betont, diesen Verhältnissen sozialwissenschaftlich beizukommen. Er selbst war sozialwissenschaftlich sehr gut informiert, immer wieder rekurriert er in seinen Texten beispielsweise auf Norbert Elias, Theodor W. Adorno oder auch auf Judith Butler, doch in der ihm eigenen Bescheidenheit weist er öfter darauf hin, dass er ja kein Sozialwissenschaftler sei. Sein Zugang zum psychosozialen Feld zeichnet sich dadurch aus, dass er sozialwissenschaftliche Analysen durch seine psychodynamische Expertise ergänzen möchte, um auch die Tiefendimension sozialer Prozesse, die affektiven Dynamiken, Abwehrarrangements und psychosozialen Dilemmata der Bipolarität in den kritisch-emanzipatorischen Blick zu rücken. Hans-­Joachim Busch verortet Mentzos mit dieser Form angewandter Psychoanalyse in einem Kreis mit Alexander und Margarete Mitscherlich, Horst-Eberhard Richter, Michael Lukas Moeller und Christa Rohde-Dachser, die allesamt auf ihre je unterschiedliche Weise virtuos, höchst produktiv und mit breiter Resonanz für eine gesellschaftlich engagierte Psychoanalyse stehen (Busch, 2007b, S. 35 f.). Persönlich fühle ich mich als Politologe, Pädagoge und Gruppenanalytiker durch das Werk und Wirken von Stavros Mentzos reich beschenkt, inspiriert und gehalten. Die Vorstellung der universellen Bipolarität des Menschen bietet eine außerordentlich hilfreiche Orientierung sowohl in zwischenmenschlichen Begegnungen als auch beim Zugang zum psychosozialen Feld. Seine unnachahmlich, ja beneidenswert klare Sprache ebenso wie seine originellen und einleuchtenden Schaubilder wirken niemals belehrend, sondern erzeugen schon bei der Rezeption das Gefühl, zu einem gemeinsamen Verständigungsprozess eingeladen zu sein. Nicht zuletzt beeindruckt seine empathische Haltung, neugierig und offen selbst heftigste Affekte und Konflikte als zutiefst mensch­ liche Themen aufzunehmen, sie verstehend durchzuarbeiten, um so potenziell

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feinere Wahrnehmungen und glücklichere Handlungen zu ermöglichen. Die Inspiration, die sein Werk, seine Haltung und sein Bipolaritätsmodell für mich bedeutet, möchte ich abschließend anhand einer kleinen Anekdote schildern. Als ich im Rahmen eines gruppenanalytischen Buchprojekts über das Verhältnis von Individuation und Verbundenheit nachdachte, fiel mir ein Diktum Adornos aus der »Minima Moralia« ein. Adorno schreibt – 1944 im amerikanischen Exil und angesichts einer konformistischen Gleichheit, die alles Abweichende auszuschließen drohte –, dass es um die Schaffung eines Zustandes gehen müsse, »in dem man ohne Angst verschieden sein kann« (Adorno, 1969, S. 131). Im Kontext unserer gegenwärtigen, eher vereinzelnden Gesellschaft schien mir dies zwar noch immer richtig, aber nicht mehr zureichend. Dann kam mir das Bipolaritätsmodell in den Sinn, und die Frage klärte sich: Es geht nicht nur darum, ohne Angst verschieden sein zu können, sondern es muss zugleich darum gehen, ohne Angst verbunden sein zu können (Naumann, 2014, S. 29). Weit über die Inspiration hinaus bin ich Stavros Mentzos zutiefst und von Herzen dankbar. Meinen Beitrag zur Rekonstruktion des Bipolaritätsmodells, zu dessen Anwendung in psychosozialen Feldern und zur Verbindung mit meinem Erkenntnisinteresse verstehe ich im Sinne dieser dankbaren Erinnerung. Ich hoffe sehr, dass sich möglichst viele Menschen, ob in psychotherapeutischen, psychologischen, medizinischen, pädagogischen oder soziologischen Arbeitsbereichen, mit der Haltung und dem Werk von Mentzos auseinandersetzen, um seinen Beitrag zur Humanisierung der Welt fortzuführen. Literatur Adorno, T. W. (1969). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bartsch, E. (2012). Containment. In W. Dinger (Hrsg.), Gruppenanalytisch denken – supervisorisch handeln. Gruppenkompetenz in Supervision und Arbeitswelt (S. 108–129). Kassel: University Press. Bauer, J. (2009). Spiegelung: Der Kern der pädagogischen Beziehung. In R. Haubl, H. Krebs (Hrsg.), Riskante Kindheit. Psychoanalyse und Bildungsprozesse (S. 196–203). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bauman, Z. (2016). Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Benjamin, J. (1990). Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt a. M.: Stroemfeld. Bilden, H. (1998). Geschlechtsspezifische Sozialisation. In K. Hurrelmann, D. Ulich (Hrsg.), Handbuch der Sozialisationsforschung (5. Aufl., S. 777–812). Weinheim: Beltz. Böllinger, L. (2015). Zur gesellschaftlichen Konstruktion von Sexualität und neuen Beziehungsformen. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 7, 603–631. Brandes, H. (2005). Gruppenmatrix und Theorie des Unbewussten. Über Bewegungen und Perspektiven in der gruppenanalytischen Theorie und Praxis. Gruppenanalyse, 2, 151–169.

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Philopappou, Hügel der Musen, Athen (D. M.)

Die Autorinnen und Autoren

Dr. med. Marianne Andrasch-Roth ist Ärztin für Neurologie und Psychiatrie mit Zusatzausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Sie war in eigener Praxis mit Schwerpunkt in der psychiatrischen und psycho­ therapeutischen Behandlung von Psychosen tätig und arbeitet derzeit noch in kleinem Umfang psychotherapeutisch. Sie war Teilnehmerin der Supervisionsgruppe bei Stavros Mentzos. Dieter Brockschmidt ist Arzt für Psychotherapeutische Medizin/Psychiatrie und war in eigener Praxis tätig. Er war Teilnehmer der Supervisionsgruppe bei Stavros Mentzos. Dr. med. Eva Fischer-Mertens, Facharztausbildung zur Neurologin, Psychiaterin und Psychotherapeutin in Solingen und Aachen, ist niedergelassen in Mainz. Teilnahme an der Weiterbildung für psychoanalytische Psychotherapie in München und an der Supervisionsgruppe bei Stavros Mentzos. Dr. med. Renate Hausmann ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und niedergelassen in eigener Praxis in Frankfurt am Main. Sie hat vielfältig mit psychisch, psychosomatisch und neurologisch Erkrankten aller Altersgruppen klinisch gearbeitet und ist Supervisorin im psychosozialen Bereich. Sie war Teilnehmerin der Supervisionsgruppe bei Stavros Mentzos. Jannis S. Kontos, 1939 in Athen geboren, Studium der Medizin in Athen und Kiel, Facharzt für Psychiatrie/Neurologie und psychoanalytische Ausbildung am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt am Main; seit 1981 Mitglied der DPV. Er war Assistent und Oberarzt an der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik des Psychiatrie-Zentrums Frankfurt am Main unter der Leitung von Stavros Mentzos. Seit Ende 1983 ist er niedergelassen in eigener Praxis in Athen und Mitglied der Hellenischen Psychoanalytischen Gesellschaft.

Die Autorinnen und Autoren

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Prof. Dr. med. Cornelia Krause-Girth, Diplom-Psychologin, ist Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse (DPV), Gruppenlehranalytikerin, Supervisorin und Organisationsberaterin (D3G). Sie war bis 2015 Hochschullehrerin für Klinische Psychologie am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Dr. med. Günter Lempa, Jahrgang 1953, ist Arzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker in eigener Praxis in München. Er war Mitarbeiter von Stavros Mentzos in der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum der Universität Frankfurt am Main. Dr. med. Friedrich Markert ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychoanalytiker (DPV, IPA), Gruppenanalytiker (SGAZ, Zürich) und niedergelassen in eigener Praxis. Er ist Gastwissenschaftler am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt am Main. Dr. Werner Menz, Diplom-Soziologe mit dem Schwerpunkt Sozialisationstheorie und Medizinsoziologie, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Dozent am Mainzer Institut für Psychotherapie, Psychoanalytiker (DPV), Supervisor für Weiterbildungsteilnehmer und Berufskollegen. Seine psychotherapeutische Arbeit fokussiert er auf psychotisch erkrankte Menschen. Er war Teilnehmer der Supervisionsgruppe bei Stavros Mentzos. Dominik Mentzos, Jahrgang 1964, studierte Architektur an der TH Darmstadt und anschließend Fotodesign an der FH Dortmund. Als Fotograf mit eigenem Studio in Frankfurt am Main ist er in den Bereichen Tanz, Werbung und Mode tätig. Seit 1989 und bis zum heutigen Zeitpunkt besteht die Zusammenarbeit mit dem Choreographen William Forsythe. Seit vielen Jahren hat er auch Porträts seines Vaters Stavros Mentzos fotografiert. Arbeiten von Dominik Mentzos waren in diversen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland zu sehen. Dr. rer. med. Alois Münch, Diplom-Psychologe, Studium der Neueren deutschen Philologie, Philosophie, Mittleren und Neueren Geschichte, M. A.; Studium der Psychologie. Er ist Lehranalytiker am Anna-Freud-Institut in Frankfurt am Main sowie Dozent und Supervisor am Frankfurter Psychoanalytischen Institut. Er ist Mitbegründer des »Frankfurter Psychose-Projekts e. V.«

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. med. Waltraud Nagell, Jahrgang 1959, ist Fachärztin für Innere Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse (DPG, DGPT, IPV) und niedergelassen in eigener Praxis als Psychoanalytikerin und Gruppenanalytikerin. Sie ist Dozentin an der Akademie für Psychoanalyse München, dem IPOM München sowie dem DPG-Institut Bad Berleburg. Prof. Dr. phil. Thilo Maria Naumann, Diplom-Politologe, ist ­Hochschullehrer für Pädagogik am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt, Gruppen­analytiker, stellvertretender Vorsitzender des Instituts für Gruppenanalyse Heidelberg (IGA), Mitglied im Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik (FAPP) und der Deutschen Gesellschaft für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie (D3G). Dr. med. Gabriele Otto, ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psycho­ therapie, Fachärztin für Psychiatrie und niedergelassen in eigener Praxis in Frankfurt am Main. Sie ist Gruppenleiterin der Deutschen Balint-Gesellschaft sowie Lehrtherapeutin, Supervisorin und Dozentin an verschiedenen psychodynamisch-psychotherapeutischen Ausbildungsstätten. Sie war Teilnehmerin der Supervisionsgruppe bei Stavros Mentzos. Anatoli Pimenidou, Jahrgang 1968, Studium der Psychologie, Ausbildung zur Psychodramatherapeutin. Sie ist niedergelassen als tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin für Einzel- und Gruppenpsychotherapie und tätig als Dozentin, Selbsterfahrungsleiterin und Supervisorin. Weiterbildung zur Traumatherapeutin bei Luise Reddemann. Elisabeth Troje, Jahrgang 1935, Diplom-Psychologin, ist Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis in Frankfurt am Main. Sie war von 1974 bis 1995 Mitarbeiterin von Stavros Mentzos in der Beratungsstelle für Studierende in Frankfurt am Main. 1985 bis 1995 hat sie im »Frankfurter PsychoseProjekt« mitgearbeitet. Dr. med. Hildegard Wollenweber, ist Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse, Psychotherapie, Lehranalytikerin (DPG, DGPT, IPA) und niedergelassen in eigener Praxis in Wiesbaden. Sie war Teilnehmerin an der Supervisionsgruppe bei Stavros Mentzos.