Protexte: Interaktionen von literarischen Schreibprozessen und politischer Opposition um 1968 9783839432839

How and where did literary writing processes and acts of political opposition interact around the movements of 1968? In

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German Pages 310 Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kulturpoetik und Friktionen: Zur methodischen Anlage
Grundannahmen der Methode
Reflexion der Methode in Bezug auf die Fragestellung
Schreibende Oppositionelle und oppositionelles Schreiben: Inhaltliche Vorstudien
Die »68er« und der Text: Schreiben, Lesen und politische Opposition
Die ausgewählten literarischen Texte im Kontext der »68er« und des Schreibens
Annäherung an die politische Oppositionskultur – Protest, Widerstand und Bewegung
Deaf, dumb and blind boys und paperfighting men: Der (männliche) Weg von Passivität zu Aktivität
Das Ausbrechen aus der Passivität
Identitäts- und Schreibprobleme nach dem Ausbruch
Schreiben, Aktivität und Passivität – eine »Männergeschichte«?
Fiktive und faktische Zeugungsakte – die Kinderfiguren und das Schreiben
Fazit
Langhaarige Ersatzjuden und das Wunderwesen Arbeiter: Verschiebungen von Opfererfahrung und Täterschuld
Oppositionelle Täter und Opfer
Übertragene Täter- und Opferschaft, Widerstand und das Schreiben
Arbeiter, Schreiben und Widerstand
Fazit
On the road: Bewegungsdrang, Ströme und Zieloffenheit
Bewegungsdrang und Unzufriedenheit
Situationisten und Drifter
Schreibprozess und Bewegung, Schreibprozess in Bewegung
Fazit
Weiße, leere und stille Räume: Das oppositionelle und kreative Potential von Abwesenheit, Auslöschung und Verweigerung
Der leere Raum – Abwesenheit und Auslöschung als kreative Impulse
Das weiße Zimmer, das leere Deutschland und das Stille-Virus – Rolf Dieter Brinkmanns Auseinandersetzung mit Auslöschung, Leere und Sprache
Der beinahe leere Raum und der beinahe fehlende Pegasus – Abwesenheit, Widerstand und Sprache in der Ästhetik des Widerstands
Fazit
Individuelle und kollektive Schreibprozesse: Eine kulturpoetologische Schlussreflexion
Die drei untersuchten Texte: Zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer (Kultur-)Poetiken
Zur Funktion und Repräsentativität der Ergebnisse
Literaturverzeichnis
Danksagung
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Protexte: Interaktionen von literarischen Schreibprozessen und politischer Opposition um 1968
 9783839432839

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Jennifer Clare Protexte

Lettre

Jennifer Clare (Dr. phil.), geb. 1986, Kulturwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim im Bereich der neueren deutschen Literaturwissenschaft. 2012 war sie Junior Visiting Fellow am Institute of Modern Languages Research, University of London. Sie forscht vor allem im Bereich der Literatursoziologie, mit den Interessenschwerpunkten Literatur und (politische) Gewalt, Schreibprozesse und Schreibumgebungen, New Historicism und Gender Studies.

Jennifer Clare

Protexte Interaktionen von literarischen Schreibprozessen und politischer Opposition um 1968

Bibliothekssigel Hil 2 Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld Zugleich: Diss., Univ. Hildesheim, 2015

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Fritz Teufel, 1967. Foto: picture alliance Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3283-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3283-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Einleitung | 7 Kulturpoetik und Friktionen: Zur methodischen Anlage | 9

Grundannahmen der Methode | 10 Reflexion der Methode in Bezug auf die Fragestellung | 23 Schreibende Oppositionelle und oppositionelles Schreiben: Inhaltliche Vorstudien | 37

Die »68er« und der Text: Schreiben, Lesen und politische Opposition | 37 Die ausgewählten literarischen Texte im Kontext der »68er« und des Schreibens | 57 Annäherung an die politische Oppositionskultur – Protest, Widerstand und Bewegung | 65 Deaf, dumb and blind boys und paperfighting men: Der (männliche) Weg von Passivität zu Aktivität | 85

Das Ausbrechen aus der Passivität | 85 Identitäts- und Schreibprobleme nach dem Ausbruch | 94 Schreiben, Aktivität und Passivität – eine »Männergeschichte«? | 103 Fiktive und faktische Zeugungsakte – die Kinderfiguren und das Schreiben | 113 Fazit | 128 Langhaarige Ersatzjuden und das Wunderwesen Arbeiter: Verschiebungen von Opfererfahrung und Täterschuld | 133

Oppositionelle Täter und Opfer | 133 Übertragene Täter- und Opferschaft, Widerstand und das Schreiben | 151 Arbeiter, Schreiben und Widerstand | 164 Fazit | 174 On the road: Bewegungsdrang, Ströme und Zieloffenheit | 177

Bewegungsdrang und Unzufriedenheit | 177 Situationisten und Drifter | 189 Schreibprozess und Bewegung, Schreibprozess in Bewegung | 195 Fazit | 209

Weiße, leere und stille Räume: Das oppositionelle und kreative Potential von Abwesenheit, Auslöschung und Verweigerung | 213

Der leere Raum – Abwesenheit und Auslöschung als kreative Impulse | 213 Das weiße Zimmer, das leere Deutschland und das Stille-Virus – Rolf Dieter Brinkmanns Auseinandersetzung mit Auslöschung, Leere und Sprache | 225 Der beinahe leere Raum und der beinahe fehlende Pegasus – Abwesenheit, Widerstand und Sprache in der Ästhetik des Widerstands | 248 Fazit | 266 Individuelle und kollektive Schreibprozesse: Eine kulturpoetologische Schlussreflexion | 269

Die drei untersuchten Texte: Zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer (Kultur-)Poetiken | 270 Zur Funktion und Repräsentativität der Ergebnisse | 280 Literaturverzeichnis | 285 Danksagung | 305

Einleitung

Cailloux bringt zu jedem Treffen Notizzettel mit, gibt Literaturhinweise, hat die Fußnoten immer am Mann. Es ist die Seminarmentalität seiner Generation. Manisches Lesen und Schreiben. Und dann eben: Weiterschreiben. Weitermachen. Weitergehen.1

So beginnt die Journalistin Andrea Hanna Hünniger (*1984) den Bericht über ihr Treffen mit dem Schriftsteller Bernd Cailloux (*1945) im Jahr 2011. Cailloux erweckt den Eindruck, das Leben selbst über Notizzettel und Fußnoten zu organisieren, den Literaturhinweis als wichtigste Problemlösestrategie zu betrachten. Sein »manisches Lesen und Schreiben« deutet damit auf mehr als nur auf eine umfangreiche Beschäftigung mit Texten (wie sie für einen Schriftsteller nicht weiter verwunderlich wäre) – es deutet auf ein ganz besonderes Verhältnis zur Literatur und zum Schreiben, das weit in außerliterarische gesellschaftliche Abläufe hineinragt und von einer Mischung aus Begeisterung und einer gewissen Verzweiflung geprägt ist. Dieses Verhältnis wiederum ist, aus der Perspektive der Angehörigen einer jüngeren Generation, ein generationales Mentalitätsmerkmal. »Leben« besteht dort aus den drei Komponenten »Schreiben«, »Machen« und »Gehen«. Wer diese Spur verfolgt, stellt schnell fest, dass diese drei Komponenten häufig aufs Engste zusammenlaufen – die Überschneidungsbereiche von »Schreiben« und »Machen«, von »Schreiben« und »Gehen« sowie von »Machen« und »Gehen« im kulturellen Text der »68er« sind alle relativ groß. An diesen Überschneidungsbereichen setzt die vorliegende Arbeit an: Untersucht werden soll das komplexe wechselseitige Verhältnis, das literarisches Schreiben und die von politischer Opposition geprägte Schreibumgebung um 1968 einge-

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Hünniger, Andrea Hanna: Jener Sommer. Gespräch mit Bernd Cailloux, in: Die Zeit vom 22.06.2011, S. 15.

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hen. Was auf den ersten Blick recht klar und monodirektional anmutet, erweist sich bei näherem Hinsehen als geprägt von Brüchen, Unsicherheiten, Friktionen und Experimenten, die sich etwa im Konfrontationsbereich von Schreiben und anderen politischen Aktionen (»Machen«) sowie Schreiben und Bewegung (»Gehen«) aufhalten. Literarische Texte, die im Umfeld politischer Oppositionshandlungen entstehen, werden plötzlich Teil von ihnen – nicht nur in Gestalt einer bewussten politischen Funktionalisierung, sondern auch, auf subtilere Weise, in Gestalt einer Plattform für alles, was ungeklärt, umstritten und Gegenstand von Aushandlungen ist. Die Poetiken solcher Texte werden zum Austragungs-, Dokumentations- und manchmal auch Lösungsort für Konflikte, die außerhalb der Literatur schwelen, aber oft gerade durch die Reibung am Schreibakt greifbar werden und daher im literarischen Schreiben unter Umständen in all ihren Widersprüchlichkeiten und in maximal möglicher Komplexität konserviert sind. Mit Hilfe von Stephen Greenblatts Konzept der Kulturpoetik soll unter den genannten Aspekten ein Blick auf die Kulturpoetiken dreier recht bekannter Prosatexte fallen: Rolf Dieter Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr (1968), Bernward Vespers Romanessay Die Reise (1969-71) und Peter Weissʼ Romantrilogie Die Ästhetik des Widerstands (1975-81). Wo werden in den Texten und ihren Poetiken Berührungs- und Konfliktpunkte zwischen (literarischem) Schreiben und politischer Opposition sichtbar? Wo treten die Texte in Interaktion mit anderen Diskursen, Bildern und Textspuren der politischen Opposition? Wo halten in Reflexionen über das Schreiben Elemente aus Protest, Widerstand und Bewegung Einzug, und wo greift die politische Opposition wiederum auf den Bereich des Schreibens, Lesens und Textens zurück? Ein erstes Kapitel umreißt die methodischen Grundlagen der Arbeit und setzt die Fragestellung und ihre Aspekte zu Stephen Greenblatts Begriffen ins Verhältnis. In einem weiteren Kapitel werden die zentralen Begriffe des Schreibens und der politischen Opposition beleuchtet sowie erste Annäherungen an die drei ausgewählten literarischen Texte unternommen. Vier folgende Kapitel nähern sich dann schlaglichtartig der Kulturpoetik der drei Texte unter verschiedenen Aspekten der Interaktion zwischen Schreiben und politischer Opposition. Ziel ist es dabei, ein möglichst breites Panorama von Berührungs- und Interaktionspunkten zu zeigen und damit an den Texten Analyseergebnisse zu erzielen, die sowohl in Bezug auf deren Poetik als auch in Bezug auf deren Entstehungsumgebung aufschlussreich sind.

Kulturpoetik und Friktionen: Zur methodischen Anlage

Und wenn die Erkundung einer bestimmten Kultur zum besseren Verständnis eines literarischen Werkes führt, das in dieser Kultur hergestellt wurde, so wird die sorgfältige Lektüre eines literarischen Werkes auch zum besseren Verständnis der Kultur führen, in der es hergestellt wurde.1

Das Eingangszitat stammt aus Stephen Greenblatts 1992 erschienenem literatursoziologischen Aufsatz Kultur. Das erstere dort genannte Vorgehen – literarische Texte an ihr Entstehungsumfeld analytisch rückzubinden – ist seit den frühesten literatursoziologischen Ansätzen bekannt. Seine Verbindung mit einer gegenläufigen Fragestellung – der Frage, was der literarische Text in jenes Entstehungsumfeld zurückzuspielen vermag – hat Greenblatts analytischen Ansatz bekannt gemacht. Greenblatt fragt nach wechselseitigen Interaktionen, die zwischen literarischem Text und Phänomenen seiner Entstehungskultur stattfinden. Durch diese Ausrichtung eignen sich Greenblatts Methode und Begrifflichkeiten sehr gut, die Fragestellung dieser Arbeit zu bearbeiten. Schließlich ist es ein Hauptanliegen der Arbeit, komplexe Interaktionen von literarischen Texten aus dem Umfeld der deutschen Studentenbewegung mit zeitspezifischen außerliterarischen Phänomenen eben jenes Umfelds zu erfassen. Darüber hinaus liegt der analytische Fokus mit dem »Schreiben« auf einem Thema, das literarische und außerliterarische Bereiche gleichermaßen berührt. 2 Eine solche Arbeit erfordert eine 1

Greenblatt, Stephen: Kultur [1990], in: Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt/M. 1995, S. 48-59, hier S. 51.

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Insofern das Schreiben auch eine Art von Handlung in einem Handlungszusammenhang ist, berührt seine Betrachtung sehr schnell außerliterarische Bereiche. Martin Stingelins Aufzählung denkbarer Bedingungsfaktoren für einen Schreibakt geben eine

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Methode, die zunächst zu zwei Dingen in der Lage ist: Sie muss erstens die literarischen und außerliterarischen Analyseobjekte gleichberechtigt betrachten können und genau für die Berührungspunkte, Zwischenräume, Übergänge und wechselseitigen Einflüsse sensibel sein, die sich zwischen ihnen ergeben. Sie muss zweitens die Möglichkeit bieten, komplexe Phänomene etwa der »politischen Opposition« einzufangen und eine analytische Ebene zwischen ihnen und den literarischen Texten herzustellen. Greenblatts »New Historicism« und besonders sein Konzept der Kulturpoetik leisten beides. Auf den folgenden Seiten soll skizziert werden, wie sie in ihren Grundzügen aufgebaut sind und welche methodischen und begrifflichen Voraussetzungen sie für die Arbeit mit sich bringen. Daran anschließend werden diese Voraussetzungen auf die konkrete Fragestellung bezogen und, in einem letzten Abschnitt, kurz in Bezug auf die bekanntesten Kritikpunkte an ihnen reflektiert und zur Arbeit ins Verhältnis gesetzt.

G RUNDANNAHMEN DER M ETHODE Wie funktioniert also genau die Betrachtung von literarischen und außerliterarischen Analyseobjekten in Greenblatts methodischem Ansatz? 3 Die vielleicht erste Idee: »Von den zu Gebote stehenden Schreibwerkzeugen […], den Schreibgewohnheiten (Anlaß, Ort, Zeitpunkt, Dauer), den Stimulantien und Surrogaten der Inspiration zur Überwindung der oft beklagten Schreibblockaden bis hin zur sozialen Situation, zur biographischen Lebenslage und zum ästhetischen und politischen Selbstverständnis umfaßt das Schreiben eine Reihe von Begleitumständen […].« (Stingelin, Martin: ›Schreiben‹. Einleitung, in: Ders. (Hg.): ›Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‹. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004 (= Zur Genealogie des Schreibens 1), S. 7-21, hier S. 16; Hervorhebung im Original). 3

Für das Verständnis des »New Historicism« ist wichtig, dass es sich bei ihm nicht um eine Methode oder Interpretationsschule im strengen Sinne handelt, sondern eher um eine gewachsene und nachträglich theoretisierte Arbeitspraxis (vgl. u.a. Greenblatt, Stephen: Grundzüge einer Poetik der Kultur, in: Ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Berlin 1990, S. 107-122, bes. S. 107, sowie Gallagher, Catherine/Greenblatt, Stephen: Practicing New Historicism. Chicago 2000, S. 1-19). Von daher können sich New Historicism-Ansätze verschiedener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durchaus unterscheiden. An dieser Stelle sollen nur die wichtigsten Annahmen und Begrifflichkeiten zusammengefasst werden, die allen Ansätzen gemeinsam sind, mit besonderem Fokus auf Vorgehen und Terminologie von Begrün-

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wichtigste Voraussetzung ist, dass Greenblatt das Verhältnis zwischen literarischem Text und Entstehungsumgebung als intertextuelles Verhältnis auffasst. Nicht nur der literarische Text, sondern auch der gesamte kulturelle Zusammenhang, dem er entstammt, nehmen bei Greenblatt Textstatus ein. Dieser Annahme zugrunde liegt ein Kulturbegriff, den Greenblatt der Anthropologie, genauer den Arbeiten von Clifford Geertz, entlehnt.4 Geertz’ in der ethnologischen Studie Interpretation of Culture (1973) entwickelter Kulturbegriff ist semiotisch orientiert: Kultur erscheint bei ihm als ein dynamisches Netzwerk aus Zeichen und Bedeutungen, das eine Gesellschaft hervorbringt und durch Handlungen, Kommunikation und Reproduktion am Leben erhält. Kultur kann nach Geertz in jedem Akt der sozialen Interaktion entstehen: Sobald Mitglieder einer Gesellschaft ihre Erfahrungen austauschen und ihr Umfeld durch Handlungen mit Bedeutung versehen bzw. diese Bedeutung z.B. in Benennungen, Kunstwerken, Institutionen, Ritualen und Normen abbilden, entstehen kulturelle Zeichen. Als isolierte Einzelelemente sind diese oft nicht verständlich, sondern erhalten ihren Sinn erst im Zusammenhang des Netzwerks Kultur. »Kultur in diesem Sinne beruht auf Sinnstiftung und Selbstrepräsentation«5, resümiert der amerikanische Literaturwissenschaftler Anton Kaes – und legt dem Geertz’schen Kulturbegriff mit »Sinn« und »Repräsentation« zwei Elemente zugrunde, die beide »lesbar« sind. Auf diese Lesbarkeit geht die Idee einer »Kultur in Textform« zurück, die Greenblatt für seine Analysen von Entstehungskulturen adaptiert: Die Bedeutungen und deren zeichenhafte Repräsentationen, die eine Kultur hervorbringt, werden unter Umständen über die Zeit hinweg gespeichert oder reproduziert und sind somit als »kultureller Text«6 offen für Lektüre und Interpretation. Oft sind der Stephen Greenblatt. Der Oberbegriff »New Historicism« geht zurück auf eine Formulierung in Greenblatts frühem Text Die Formen der Macht und die Macht der Formen in der englischen Renaissance: Einleitung [1982], in: Baßler (Hg.): New Historicism, S. 29-34, hier S. 33. 4

Greenblatts Entlehnungen aus Geertzʼ Theorie werden besonders deutlich in Gallagher/Greenblatt: Practicing New Historicism, S. 20-31; in Anklängen auch schon früher in Renaissance self-fashioning: from More to Shakespeare. Chicago 1980 sowie in den Verhandlungen mit Shakespeare. Berlin 1990.

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Kaes, Anton: New Historicism – Literaturgeschichte im Zeitalter der Postmoderne?, in: Baßler (Hg.): New Historicism, S. 251-268, hier S. 256.

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In der Sekundärliteratur findet man sowohl die Verwendung »der kulturelle Text« (Singular) als auch »kulturelle Texte« (Plural). Hintergrund ist, dass einerseits von abgegrenzten Repräsentationen und Textspuren die Rede ist (z.B. von einzelnen Kunstwerken), andererseits aber auch, da sich die Einzeltexte durchdringen und Kul-

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sie im engeren Sinne sprachlicher Natur, was aber keine Bedingung ist. Auch Bilder oder rituelle Handlungen können z.B. zum kulturellen Text gezählt werden. Im Rahmen einer vorsichtigen Theoretisierung hat Moritz Baßler versucht, die Reichweite eines solchen Kulturbegriffs zu umreißen: Idealerweise gehört eigentlich alles, was sich an Schrifttum in einem Synchronschnitt durch eine Kultur finden läßt, zu jenem umfassenderen kulturellen Text […]. In einem weiteren Sinne – die Praxis der New Historicists jedenfalls zeugt davon – zählen auch kulturelle representations wie Bilder, Karten, Musik, Architektur, Fotografien und andere überlieferte Zeugnisse dazu. Alles, was sowohl gespeichert als auch lesbar, d.h. semiotisierbar ist, kann in einem weiteren Sinne als Text bezeichnet werden.7

Auch ein literarischer Text, der in einer bestimmten Kultur entsteht, wäre ein solcher »kultureller Text«, der Zeichen und Bedeutungen dieser Kultur speichert, reproduziert, selbst hervorbringt, und der gemeinsam mit anderen kulturellen Texten in einem umfassenden, dynamischen Netzwerk steht.8 Hier setzt Greenblatts analytischer Zugang an: Er betrachtet, wo genau sich der literarische Text innerhalb des Netzwerks mit anderen kulturellen Texten berührt, was sich ähnelt, was er aus ihnen übernimmt, was er unterläuft – und wie er dadurch neue Bedeutungen generiert und in das Netzwerk der Kultur einspeist, die wiederum andere kulturelle Texte verändern und so fort. Dabei überträgt er Geertz’ Kulturbegriff, den dieser vor allem für gegenwärtige fremde Kulturen verwendet, auf historische (Zeit-)Räume und Umgebungen – er nähert sich dem historischen Entstehungsumfeld eines literarischen Textes wie einer fremden Kultur. Greenblatts Herangehensweise hat zur Folge, dass literarische Texte in der Dimension ihrer Interaktion mit einem kulturellen Kollektiv betrachtet werden, während der inditur auch über ihre Beziehungen zueinander hergestellt wird, von der Gesamtheit »des kulturellen Textes« einer Kultur. In dieser Weise werden die Begriffe auch in dieser Arbeit verwendet. 7

Baßler, Moritz: New Historicism und Textualität der Kultur, in: Musner, Lutz (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Wien 2002, S. 292-312, hier S. 299. Auch in dieser Argumentation ist deutlich zu sehen, dass sich Theorie und Methode des New Historicism aus einer Interpretationspraxis herleiten.

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Vgl. hierzu auch Catherine Belseys pointierte Formulierung, dass »Kunstwerke dazu bei[tragen], die Kultur, die sie hervorgebracht hat, erst einmal selbst zu bilden« (Belsey, Catherine: Von den Widersprüchen der Sprache. Eine Entgegnung auf Stephen Greenblatt, in: Greenblatt, Stephen: Was ist Literaturgeschichte? Frankfurt/M. 2000, S. 51-72, hier S. 52).

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viduelle Autor oder die individuelle Autorin in den Hintergrund rückt. In der Einleitung der Verhandlungen mit Shakespeare zeigt Greenblatt ausführlich, wie wir etwa Ideen, Zeichen, Metaphern, die anderen kulturellen Texten oder der Reibung an ihnen entstammen, als Schöpfungen einzelner Autorinnen und Autoren wahrnehmen – und wie uns damit eine elementare, kollektive Dimension des literarischen Textes entgeht. Kunst, schreibt Greenblatt dort, ist nicht einfach von sich aus in den Kulturen vorhanden; sie wird zusammen mit den anderen Erzeugnissen, Praktiken und Diskursen einer gegebenen Kultur geschaffen. (›Geschaffen‹ bedeutet in der Praxis nicht so sehr erfunden, als vielmehr ererbt, übermittelt, verändert, modifiziert, reproduziert: in der Kultur gibt es grundsätzlich nur sehr wenig reine Erfindung oder Erdichtung).9

Damit wäre auch ein literarischer Text zu einem großen Teil in seiner Entstehung bedingt durch bereits vorhandene andere kulturelle Texte, mit denen er verflochten ist. Ein so verstandener Text ist notwendigerweise dynamisch und instabil – er ändert sich mit jeder Veränderung der kulturellen Texte um ihn herum, löst selbst Veränderungen in ihnen aus und ändert sich daran wiederum selbst. Diese Dimension eines literarischen Textes – seine Interaktion mit anderen kulturellen Texten seiner Kultur – bezeichnet Greenblatt als die »Kulturpoetik« des Textes. Was diesen Begriff schwierig macht, ist seine Doppeldeutigkeit, die bereits in den frühen Arbeiten Greenblatts angelegt ist und die sich im Anschluss an Greenblatt in zwei nicht ganz deckungsgleiche Verwendungstraditionen entwickelt hat: Zum einen bezeichnet Kulturpoetik, wie ausgeführt, die Dimension eines literarischen Textes, in der sich dessen Interaktionen mit anderem kulturellen Text beobachten lassen. In ihr treffen sich die Qualitäten von »cultural« und »poetics«, wie Marc Robson pointiert festgestellt hat: »The cultural aspect of cultural poetics allows for a recognition of the specific location of a given artwork in space and time; the poetic element opens up the possibility of seeing what the artwork makes happen in that location.«10 Der »Poetik«11 eines literarischen Texts wird also zugerechnet, welche Elemente aus einem anderen Bereich der Entstehungskultur in ihn eingedrungen sind und welche neuen Bedeutungen er seinerseits wieder in den kulturellen Text einspeist. 9

Greenblatt: Verhandlungen, S. 17.

10 Robson, Marc: Stephen Greenblatt. London 2008, S. 32. 11 Hier gemeint als Lehre und Theorie der Herstellung von Texten; vgl. zum Begriff etwa Wiegmann, Hermann: Poetik, in: Ricklefs, Ulfert (Hg.): Fischer-Lexikon Literatur, Bd. 2. Frankfurt/M. 1997, S. 1504-1537.

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Zum anderen produzieren die Interpretierenden eines literarischen Textes selbst auch eine Art von Kulturpoetik, indem sie ihn aus einer bestimmten Gegenwart und Kultur heraus deuten und reflektieren. Schließlich ist auch eine Interpretation kultureller Text und generiert neue Bedeutungsdimensionen um den literarischen Text herum.12 Wer New Historicism betreibt, untersucht Kulturpoetik und stellt sie gleichzeitig her.13 Um diesem begrifflichen Dilemma zu entgehen, bezeichnet der Begriff der Kulturpoetik im Rahmen dieser Arbeit den Untersuchungsgegenstand (im Sinne der ersten Verwendungstradition), während meine Interpretationsarbeit als »kulturpoetologisch« bezeichnet wird – in dem Bewusstsein, dass eine kulturpoetologische Studie auch immer zugleich eine kulturpoetische ist. Mit einem kulturpoetologischen Vorgehen sind die für die Fragestellung relevanten Elemente – literarischer Text und Außerliterarisches – zumindest in der Theorie auf eine Ebene (die der Textualität) gebracht. Auf die Konsequenzen dieser Entscheidung für die wissenschaftliche Arbeitspraxis werde ich noch zurückkommen. Die zweite eingangs formulierte Anforderung der Fragestellung an ihre Methode betrifft die gleichberechtigte Untersuchung von literarischen Texten und ihrer Entstehungskultur. Es ist in den Ausführungen zur Kulturpoetik bereits deutlich geworden, dass ein kulturpoetologisches Vorgehen nicht nur mit dem literarischen Text selbst arbeitet, sondern potentiell mit allen kulturellen Texten arbeiten kann, die ihn umgeben. Wichtig ist dabei, dass Greenblatt in mehreren seiner Texte dafür plädiert, allen Analyseobjekten gleichermaßen offen gegenüberzutreten und ihnen gleichermaßen das Potential zur Erkenntnis zuzutrauen. Greenblatt grenzt sich damit zum einen von älteren literatursoziologischen Ansätzen ab, die dazu neigen, die Entstehungsumgebung eines Textes als feststehende, statische Kulisse zu betrachten. Zum anderen, damit eng verbunden, richtet sich sein Plädoyer generell gegen seiner Ansicht nach veraltete Betrachtungen von Geschichte, die er unter dem Begriff »Old Historicism« zusammenfasst. Greenblatts »Old Historicism« ist streng genommen keine existierende Theorie, 12 Vgl. Moritz Baßler: »Der Interpret steht nicht außerhalb einer abgeschlossenen Aussage, die es zu verstehen gilt, sondern ist aktiver Teil der allgemeinen Vernetzung.« (Baßler, Moritz: Einleitung, in: Ders. (Hg.): New Historicism, S. 7-28, hier S. 17). 13 Vor diesem Hintergrund wird der Begriff »Kulturpoetik« auch manchmal synonym mit »New Historicism« verwendet. Ein weiterer Grund dafür mag sein, dass Stephen Greenblatt selbst den Begriff »Kulturpoetik« als Oberbegriff für seine Einzelarbeiten bevorzugt (vgl. Greenblatt: Verhandlungen, S. 11 sowie Resonanz und Staunen, in: Ders.: Schmutzige Riten, S. 7-29, hier S. 10).

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sondern ein Sammelbegriff, der sich als Abgrenzungsbegriff zum New Historicism durchgesetzt hat. Man findet ihn nicht ganz einheitlich verwendet, entweder für eine Ansammlung von zumeist älteren Ansätzen der Geschichtswissenschaft14 oder bereits übertragen auf die Literaturgeschichte für den Spezialfall des historischen Kontexts eines literarischen Textes, wie hier bei Anton Kaes: Auch der Old Historicism hatte sich um die Rekonstruktion des historischen Kontexts gekümmert, doch das Verhältnis zwischen Literatur und Geschichte stellte sich da als simple Gegenüberstellung von Text und Hintergrund dar, wobei der sogenannte Hintergrund als fixiertes, kohärentes, nicht hinterfragbares Faktum fungierte, auf das sich der literarische Text wie auf einen Fixpunkt beziehen konnte.15

Problematisiert und für veraltet erklärt wird in beiden Verwendungszusammenhängen vor allem das zugrunde gelegte Geschichtsverständnis. Die Kritik am »Old Historicism« zielt vor allem auf sein Bestreben, Geschichte als lineare, monologische Erzählung zu ordnen – sie also in eine diachrone Kausalitätskette zu bringen, ohne ihrer synchronen textuellen Komplexität Rechnung zu tragen.16 Durch diese Beschneidung von Komplexität zugunsten von Linearität entstehen Greenblatt zufolge vorgefasste Entitäten (»der Mensch im Mittelalter«, »das Großbürgertum des 19. Jahrhundert«), die bereits einen festen Platz in der Linearität einnehmen, mit berechenbaren, festgeschriebenen Funktionen und Handlungen (»In der Romantik dachte man…«).17 Alan Liu nennt diese vorgefassten Entitäten »Über-Subjekte«18. Im Gegensatz dazu bemüht sich Greenblatt um eine Differenzierung seiner historischen Subjekte. Er versucht, nur auf Basis der betrachteten Texte Rückschlüsse auf dessen Akteurinnen und Akteure zu ziehen, ohne sie in einen größeren Komplex einordnen zu wollen. Dieses Vorgehen und die Kritik am »Old Historicism« werden in der Forschung meist mit der postmo-

14 Vgl. z.B. Greenblatt/Gallagher: Practicing New Historicism, bes. S. 49-54. 15 Kaes: New Historicism, S. 255. 16 Diese Kritik fußt, wie Moritz Baßler gezeigt hat, auf den narrativen Geschichtsbegriffen etwa Hayden Whites und Reinhard Koselleks (vgl. Baßler: Einleitung, bes. S. 10). 17 Vgl. das Einleitungskapitel der Verhandlungen mit Shakespeare, in dem Greenblatt die Grenzen und Problematiken eines traditionellen Geschichtsverständnisses ausführlich darlegt (Greenblatt, Stephen: Einleitung, in: Ders.: Verhandlungen, S. 7-24). 18 Liu, Alan: Die Macht des Formalismus: Der New Historicism [1989], in: Baßler (Hg.): New Historicism, S. 94-163, hier S. 108.

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dernen Kritik an den historischen »Metaerzählungen«19 bzw. generell unhinterfragten Totalitäten in Verbindung gebracht und erklärt, wie etwa hier bei Moritz Baßler: Die postmoderne Skepsis gegenüber den großen Erzählungen bezeichnet vor allem einen Vertrauensschwund gegenüber der historischen Erklärungskraft überkommener Techniken der Komplexitätsreduktion: von Kollektivsubjekten und makrologischen Zusammenhängen.20

»Old Historicism« erscheint in der Literaturwissenschaft zum einen in älteren literatursoziologischen Entwürfen zur Erforschung des Zusammenhangs zwischen Literatur und Gesellschaft (Widerspiegelungstheorien, Einflussforschung). Diese Ansätze arbeiten, so Greenblatt, mit einem »stabilen Satz von Widerspiegelungen historischer Fakten« 21 , der es verhindert, sich auch mit den als »Hintergrund« angenommenen kulturellen Texten kritisch und unvoreingenommen auseinanderzusetzen. Zum anderen ist es auch die Wertung des literarischen Textes gegenüber anderen kulturellen Texten, die Greenblatt in ein »Old« und ein »New« unterteilt – sehr explizit etwa in seinem Essay Shakespeare und die Exorzisten: Zwischen einem freischwebenden, autonomen, ungebundenen und von einem einsamen Genie erschaffenen Kunstwerk wie König Lear und seinen Quellen besteht diesem [alten, JC] Modell zufolge eine rein akzidentielle Beziehung: Die Quellen gestatten uns einen Blick auf das ›Rohmaterial‹, das der Künstler zu gestalten wußte. Insoweit dieses ›Material‹ überhaupt ernst genommen wird, betrachtet man es als Bestandteil des ›historischen Hintergrunds‹, eine Wendung, die die Geschichte zu einem dekorativen Schauplatz oder zu einer handlichen, gut ausgeleuchteten Schublade degradiert.22 19 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht [1979]. Wien 1986, S. 14. 20 Baßler, Moritz: Historismus, literarische Moderne und Literaturwissenschaft. Überlegungen zu einem Projekt, in: Kamzelak, Roland (Hg.): ›Historische Gedächtnisse sind Palimpseste‹: Hermeneutik – Historismus – new historicism – cultural studies. Paderborn 2001, S. 127-136, hier S. 133. Diese These wird auch in Moritz Baßlers Sammelband immer wieder aufgegriffen, unter anderem in den Beiträgen von Alan Liu und Anton Kaes. 21 Greenblatt: Die Formen der Macht, S. 33. 22 Greenblatt, Stephen: Shakespeare und die Exorzisten, in: Ders.: Verhandlungen, S. 92-122, hier S. 92f.

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Greenblatt beschreibt hier einen Umgang mit kulturellen Texten, der diese zwar als Quellen benennt und zur Kenntnis nimmt, ihr Potential zur Erkenntnis aber ansonsten verschenkt: Sie werden der Illustration eines vorkonstruierten »Hintergrunds« zugeschlagen. Ein solches Verfahren nährt nach Greenblatt nicht nur das Bild des »freischwebenden« Autors (der kein wirklicher Teil seiner Gesellschaft ist, sondern über genügend Distanz verfügt, um den ihn umgebenden kulturellen Text ganz bewusst und zielgerichtet als »Material« zu verwenden), sondern schreibt die anderen Texte von vornherein in ihrer Bedeutung fest – ohne Möglichkeit, neue Informationen zur Textinterpretation aus ihnen zu gewinnen. Das »neue« Verfahren, das Greenblatt als Alternative vorschlägt, betont die wechselseitige Interaktion und Durchdringung (und damit interpretatorische Gleichrangigkeit) von literarischem Text und den ihn umgebenden Texten: »[D]ie ängstliche Isolierung dieser [literarischen, JC] Texte muß einem Sinn für deren Interaktion mit anderen Texten und für die Durchlässigkeit ihrer Grenzen weichen.« 23 Anstatt also den literarischen Text als Monolithen zu betrachten, dessen Interpretation sich bei Bedarf mit einigen zweitrangigen Quellen flankieren lässt, werden beide gemeinsam als Bestandteile einer Kulturpoetik untersucht. Vermieden wird so die Affirmation von etablierten literatur- oder geschichtswissenschaftlichen Metaerzählungen. Wichtig ist noch, wie genau sich die Interaktionen zwischen den literarischen Texten und anderen kulturellen Texten beschreiben lassen: Wie und an welchen Stellen werden Berührungspunkte und Übergänge beobachtbar? Was genau bewegt sich zwischen den Texten? Für diese Fragen sind vor allem Greenblatts methodische Einleitungen in Verhandlungen mit Shakespeare und später Practicing New Historicism aufschlussreich. In seinem Shakespeare-Band erklärt er die Art seiner Beobachtungen am Beispiel elisabethanischer Dramentexte: Er spricht von einer »komplexe[n], dynamische[n] Zirkulation von Lüsten, Ängsten und Interessen« 24 , die zwischen den Dramentexten Shakespeares und der sie umgebenden Kultur ablaufen. Nichts davon muss in dem literarischen Text explizit ausgesprochen oder thematisiert sein. Greenblatt führt z.B. die Geschlechtertauschgeschichte aus Shakespeares Twelfth Night mit zeitgleich entstandenen medizinischen Gutachten über transsexuelle und intersexuelle Personen zusammen und zeigt daran, wie bestimmte Vorstellungen von Geschlechtlichkeit unterschwellig Shakespeares Text bedingen. 25 Dabei spielt es keine Rolle, ob Shakespeare als individueller Autor genau diese Texte gekannt hat – es geht um 23 Ebd., S. 93. 24 Greenblatt: Einleitung, S. 17. 25 Vgl. Greenblatt, Stephen: Dichtung und Reibung, in: Ders.: Verhandlungen, S. 66-91.

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zeittypische Vorstellungen, Ängste und vielleicht auch Machtinteressen, die sich erst erkennen lassen, wenn beide Texte nebeneinander gelegt werden. Greenblatt spricht von der »Freilegung latenter Homologien, Ähnlichkeiten oder systematischer Korrespondenzen«26 zwischen verschiedenen kulturellen Texten. Sein Begriff der »Zirkulation« verweist wiederum darauf, dass die Bewegung eine in zwei Richtungen ist: Der literarische Text nimmt etwas aus anderen kulturellen Texten auf, gibt aber auch etwas in seine Entstehungskultur zurück – sodass Twelfth Night unter Umständen seinerseits das Denken über Geschlechtlichkeit im kulturellen Netzwerk beeinflusst und Elemente in andere kulturelle Texte einspeist. Dabei betont Greenblatt, dass solche Zirkulationen weitgehend unberechenbar und unsystematisch vor sich gehen. Die Zirkulationen, die er in der elisabethanischen Kultur beobachtet, bezeichnet er als »partiell, fragmentarisch, widersprüchlich; einzelne Elemente wurden ausgewechselt, auseinandergerissen, neu zusammengefügt, einander gegenübergestellt; bestimmte soziale Praktiken wurden durch die Bühne hervorgehoben, andere zurückgestuft, übertrieben oder entleert.«27 Das, was zwischen den verschiedenen kulturellen Texten hin und her wandert, bezeichnet Greenblatt mit dem Oberbegriff »soziale Energie«. Da alles, was zu einer Kultur gehört, in Greenblatts Modell kultureller Text ist, kann jeder beliebige kulturelle Text soziale Energie in einen anderen ausstrahlen: Worin aber besteht die soziale Energie, die hier in Umlauf gesetzt wird? Es handelt sich um Macht, Charisma, sexuelle Erregung, kollektive Träume, Staunen, Begehren, Angst, religiöse Ehrfurcht, zufällige intensive Erlebnisse. In gewissem Sinn ist die Frage absurd, denn alles, was von der Gesellschaft produziert wird, kann auch zirkulieren, es sei denn, es wird absichtlich vom Kreislauf ausgeschlossen.28

Nach Greenblatt entsteht kein kultureller Text ohne die Verschiebung bestimmter Dinge – vor allem der normalen Sprache, aber auch von Metaphern, Zeremonien, Tänzen, Emblemen, Kleidungsstücken, abgegriffenen Geschichten und so weiter – aus einer kulturell abgegrenzten Zone in eine andere.29 26 Greenblatt: Einleitung, S. 16. 27 Ebd., S. 23. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 13. Mit den »kulturell abgegrenzten Zonen« ist hier gemeint, dass eine Gesellschaft in der Regel verschiedene Bereiche kennt, die kulturelle Texte produzieren (Kunst, Religion, Staatswesen…).

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Im Falle eines literarischen Texts wäre eine solche Verschiebung von etwas, das normalerweise außerhalb der Literatur seinen Ort hat und verhandelt wird, Teil der Kulturpoetik dieses Textes. So kann ein Text weitgehend unbemerkt Spuren einer sozialen Energie aufnehmen, die z.B. aus einem stark emotional aufgeladenen religiösen Konflikt der Entstehungszeit herrührt. Die späteren Rezipienten verspüren nur diffus, dass hier etwas Relevantes aus der Entstehungszeit konserviert ist – und könnten sich ggf. mit einer kulturpoetologischen Analyse und der Konfrontation des Textes mit einem anderen kulturellen Text nähern (wobei dieser Text von einem zeitgenössischen Kirchenlied bis zu einer Gerichtsakte reichen kann). Es wurde bereits angedeutet, dass die gemeinsame Ebene der Textualität, die der New Historicism zwischen Literarischem und Außerliterarischem herstellt, gewisse Konsequenzen für das literaturwissenschaftliche Arbeiten hat: Was in der Theorie die Kultur (in Textform) auf eine Ebene mit dem literarischen Text hebt, bedeutet in der Praxis eine »umfassende Verbreiterung der Materialbasis«30. Sucht man das Konzept der Kulturpoetik konsequent auf einen literarischen Text anzuwenden, sieht man sich zunächst mit einer ungeheuren textuellen Komplexität konfrontiert, die den literarischen Text umgibt: Wenn es sich dabei um eine Station, ein Kapitel in einer linearen historischen Narration handelt, dann sind die Bezugspunkte einigermaßen überschaubar; wenn die historische Situation dagegen in einem synchronen Diskursgefüge textanalog als Knoten unzähliger Mikrologien betrachtet wird, dann geht ihre Komplexität gegen unendlich.31

Moritz Baßler spricht hier eine zentrale Problematik an: Mit der Verabschiedung von der Linearität eines »Old Historicism« funktionieren viele der traditionellen Verfahrensweisen und Fragestellungen nicht mehr. Es ist nicht möglich, diese Masse an Material in eine Interpretation oder auch nur Darstellung mit dem Ziel der »Übersicht«, »erschöpfenden Erfassung« oder »Vollständigkeit« zu überführen. Baßler resümiert: »Vollständigkeit anzustreben wäre absurd, es muss ausgewählt werden.«32 Für diese Auswahl haben Greenblatt und andere New Historicists in ihrer Arbeitspraxis im Wesentlichen zwei Verfahren ausgebildet, die auch häufig ineinander greifen: die Repräsentation des Großen durch das Kleine sowie die Suche nach Brüchen und Auffälligkeiten. 30 Baßler: Einleitung, S. 12. 31 Baßler: Historismus, S. 135. 32 Ebd.

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Kernannahme des ersten Zugriffswegs ist, dass es grundsätzlich keine objektive Priorität historisch oder kulturpoetisch »bedeutsamer« Textstellen oder Aspekte vor »weniger bedeutsamen« Textstellen und Aspekten gibt. Vielmehr kann jeder kleine Textauszug, jeder Nebenaspekt theoretisch zum zentralen Aspekt erhoben werden, dessen Analyse Aussagen über einen weit größeren Ausschnitt des Textes (und letzten Endes der Kultur) ermöglicht.33 Durch dieses Verfahren wird ein sehr kleines, aus einer großen Komplexität entnommenes Element zur Repräsentation eines größeren Teils dieser Komplexität. In einem sehr griffigen Beispiel zeigen Greenblatt und Gallagher, wie klein ein Element sein kann, das etwas sehr Großes, Komplexes repräsentiert: »The power of these historical forces is manifested equally in a tulle bonnet and in a revolution, in a particular style of petticoat and in a stock market crash.«34 In Greenblatts Interpretationen ist es also eher der Regelfall, dass nur ein sehr kleiner Teil des literarischen Textes herangezogen wird, dieser aber einen weit größeren Horizont aufmacht: »Ein so und in dieser Absicht präsentierter Text soll damit einen für wesentlich erachteten Ausschnitt des Archivs repräsentieren.«35 Mit der Formulierung des für wesentlich »erachteten« Ausschnitts führt Moritz Baßler zur Ausgangsüberlegung des zweiten Zugriffswegs: Welches Element des Archivs bzw. des untersuchten Textgefüges zum Ausgangspunkt der Interpretation ausgewählt wird, kann nur von der individuell interpretierenden Person mit ihren individuellen Erkenntnisinteressen und kulturellen Prägungen entschieden werden. Auffälligkeit ist hier das Kriterium – während der Lektüre ent33 Auch dieses Verfahren ist keine Erfindung des New Historicism. Über seinen theoretischen Ursprung besteht jedoch Uneinigkeit. Stephen Greenblatt bezieht sich in diesem Punkt wieder auf die Kulturanthropologie und speziell auf Joel Fineman (vgl. Gallagher/Greenblatt: Practicing New Historicism, bes. S. 49-52) sowie in Ansätzen auf Ezra Pounds Konzept des »luminous detail« und Erich Auerbachs Interpretationsverfahren in Mimesis (vgl. ebd., bes. S. 15 und S. 40). Anton Kaes hat jedoch darauf hingewiesen, dass sich die Idee, »in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken« bereits im Geschichtsmodell von Walter Benjamin findet (vgl. Kaes: New Historicism, S. 261 (zit. nach Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Bd. 1 [1928/1929], hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1983, S. 575)). 34 Gallagher/Greenblatt: Practicing New Historicism, S. 40. 35 Baßler: Einleitung, S. 19. Baßler macht in seinen New Historicism-Arbeiten den Bezug von Greenblatts Modell zu Michel Foucaults Archivbegriff stark. Dieser Begriff wird aus Gründen, die im Kritik-Kapitel näher ausgeführt werden, für diese Arbeit nicht übernommen.

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scheidet der/die Interpretierende, welches Element besonders ungewöhnlich, untersuchenswert, hinterfragungswürdig und damit aufschlussreich für einen bestimmten Aspekt der Kulturpoetik erscheint.36 Neben dieser ersten, sehr persönlichen Leitlinie der Themenfindung schlägt Stephen Greenblatt außerdem vor, von Brüchen und Auffälligkeiten auszugehen, die sich in der Konfrontation eines literarischen Textes mit traditionellen linearen Geschichtsbildern ergeben: Accordingly, we mine what are sometimes called counterhistories that make apparent the slippages, cracks, fault lines, and surprising absences in the monumental structures that dominated a more traditional historicism.37

Eine solche Interpretation setzt also dort an, wo sich ein Element des literarischen Texts der traditionellen Geschichtsschreibung »widersetzt«, also entweder etwas Unerwartetes anwesend oder etwas eigentlich Erwartetes abwesend ist. Greenblatt hat dieses Vorgehen bereits vorher in seinem Essay Resonanz und Staunen umschrieben: [Die New Historicists] interessieren sich mehr für ungelöste Konflikte und Widersprüche als für Integration, sie befassen sich ebensosehr mit der Peripherie wie mit dem Zentrum, und an Stelle der Verherrlichung der im Kunstwerk erreichten ästhetischen Ordnung wenden sie sich der ideologischen und materiellen Produktionsgrundlage dieser Ordnung zu.38

Das Interesse an der »ideologischen und materiellen Produktionsgrundlage« eines Textes zeigt die partielle Berührung von New Historicism mit marxistischen Ansätzen der Literatursoziologie. In weiten Teilen geht die Untersuchung der 36 Mit dem Status des interpretierenden Subjekts hat sich der Anglist Alan Liu sehr ausführlich beschäftigt. Er bezeichnet den New Historicism als »ungemein narzißtische Methode«, insofern die Beobachtung an den Texten auch immer die Selbstbeobachtung der/des Interpretierenden impliziert. Die eigenen Erkenntnisinteressen, Sehnsüchte und Ängste, die die Analyse bedingen und die der Interpretationsgegenwart entstammen, werden selbst Gegenstände der Analyse (Liu: Die Macht des Formalismus, S. 126). 37 Gallagher/Greenblatt: Practicing New Historicism, S. 16f. Der »counterhistory«Begriff stammt aus der amerikanischen Geschichts- und Sozialwissenschaft und meint die Untersuchung von marginalisierten oder unterdrückten Elementen der Geschichtsschreibung (»history«) bzw. deren Konfrontation mit den »Big Stories«, den Metaerzählungen. 38 Greenblatt: Resonanz und Staunen, S. 13.

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Produktionsgrundlage in der Untersuchung der Kulturpoetik auf, kommt aber ohne Konzepte wie »Basis«, »Überbau«, »Klassen« und »klassentypische Literatur« aus, die bei Greenblatt, ähnlich dem »Old Historicism«, in Verdacht stehen, als feststehende Entitäten behandelt und damit zu Metaerzählungen zu werden. Greenblatt eröffnet seine Interpretationen meist mit der direkten Konfrontation seines zu untersuchenden literarischen Texts mit einem anderen kulturellen Text. Besonders gern arbeitet er mit Anekdoten – ein Verfahren, das er von dem Renaissanceforscher Joel Fineman übernimmt und das er in Practicing New Historicism näher ausführt. Die Bindung von literaturwissenschaftlichen Überlegungen an eine Anekdote39 vereint dabei den Anspruch des Kleinen, das einen größeren Horizont eröffnet, mit dem einer Anknüpfung an etwas Auffälliges, Ungewöhnliches. Anekdoten sind nach Greenblatt Textspuren aus der Vergangenheit, die eine besonders starke Nähe zur historischen Erfahrung herstellen. Greenblatt erläutert: »We wanted also to use the anecdote to show in compressed form the ways in which elements of lived experience enter into literature, the ways in which everyday institutions and bodies get recorded.«40 Die Idee eines solchen Verfahrens ist also, mit der Anekdote einen kulturellen Text zu finden, der möglichst authentische Evidenz von historischen Personen, Körpern, Institutionen liefert – nicht, wie Greenblatt argumentiert, weil sein Inhalt notwendigerweise der Realität entsprechen muss, sondern weil er eigens gebildet und aufgezeichnet wurde, um etwas in dieser Kultur Bemerkens- und Erzählenswertes festzuhalten.41 Moritz Baßler hat versucht, diese besondere Art von historischer Authentizität und ihr Potential zu skizzieren: Nicht auf den Realitätseffekt kommt es an, der Text der Anekdote ist vielmehr selbst die Realie – darin, dass sie zu ihrer Zeit erzählt wurde, liegt ihre Authentizität. Das bloße Faktum der exzentrischen Anekdote macht die Andersartigkeit des historischen Archivs sichtbar und gibt dem Forscher den Auftrag, die diskursive Konstellation zu rekonstruieren, in der solches denkbar, sagbar und möglich war.42 39 Die Anekdote als Textsorte wird bei Greenblatt an keiner Stelle explizit definiert. Von seiner praktischen Verwendung des Begriffs ist auf die Aufzeichnung einer kurzen, alltäglichen Erzählung zu schließen, die in ihrer Form ansonsten nicht festgelegt ist. 40 Gallagher/Greenblatt: Practicing New Historicism, S. 30. 41 Vgl. ebd., bes. S. 49-54. 42 Baßler, Moritz: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies, in: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart 2008, S. 132-155, hier S. 144f.

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Zum einen ist die Anekdote also ein Text, der besonders nahe an eine historische Gesellschaft und ihre spezifischen Diskurse heranzuführen vermag. Zum anderen ist die Anekdote auch ein Text, der ganz besonders reich an den Brüchen und Auffälligkeiten ist, an denen der New Historicism interessiert ist. Anekdoten entstehen schließlich, um außergewöhnliche, bemerkenswerte Ereignisse festzuhalten. Sie zeichnen oft Dinge und Themen auf, für die sich ihre Ausgangsgesellschaft besonders interessiert hat oder die in ihr mit Konflikten besetzt waren. Greenblatt und Gallagher sehen als Grundlage der meisten Anekdoten ein Aufeinanderprallen von Individuum und machthabender Institution im weitesten Sinne – eine These, die wiederum Joel Finemans The History of the Anecdote entlehnt ist. 43 Die Betrachtung von Anekdoten und ihre Verbindung mit zeitgleich entstandenen literarischen Texten kann also sowohl Aufschlüsse über Individuen, Minderheiten und marginalisierte Meinungen liefern als auch über dominante Positionen und Machtstrukturen.44 Wichtige Fundstellen für Anekdoten stellen Texte im literarisch-nichtliterarischen Grenzbereich dar, etwa zeitgenössische Tagebücher, Briefe und Zeitungsbeiträge. Ein Verfahren, das Moritz Baßler vorschlägt und das ebenfalls in dieser Untersuchung an einigen Stellen Anwendung findet, arbeitet darüber hinaus mit Begriffen und Bildern, die entweder in einer unerwarteten Nachbarschaft auftreten (Baßler nennt das Beispiel einer Parfumwerbung der 1950er Jahre, die mit einer Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg wirbt) oder unabhängig an verschiedenen, auf den ersten Blick voneinander fernliegenden Stellen des kulturellen Texts auftauchen und analytisch miteinander konfrontiert werden.45

R EFLEXION DER M ETHODE DIE F RAGESTELLUNG

IN

B EZUG

AUF

Im Rahmen dieser Arbeit werden drei literarische Texte schwerpunktmäßig untersucht: Keiner weiß mehr (Rolf Dieter Brinkmann), Die Reise (Bernward Vesper) und Die Ästhetik des Widerstands (Peter Weiss). Neben diesen drei Texten gilt grundsätzlich erst einmal die Gesamtheit aller sie umgebenden kulturellen 43 Vgl. Fineman, Joel: The History of the Anecdote, in: Veeser, Aram (Hg.): The New Historicism. New York 1989, S. 49-76, hier S. 61. 44 »The anecdote binds structures and what exceeds them, history and counterhistory, into a knot of conflicted interdependence.« (Gallagher/Greenblatt: Practicing New Historicism, S. 68). 45 Vgl. Baßler: Textualität der Kultur.

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Texte als potentiell zu analysierendes Material. Allerdings lässt sich der Bereich der außerliterarischen kulturellen Texte bereits vorsichtig eingrenzen, denn obwohl ein kulturpoetologisches Verfahren kein Material von vornherein ausschließt, können einige erste Markierungen unternommen werden, welche Art von Berührungen, Brüchen und Auffälligkeiten im Fokus sein werden. Zunächst einmal geht es vor allem um die Berührung der untersuchten Texte mit Phänomenen gesellschaftlicher bzw. politischer Opposition. Alle drei Texte entstehen (auf je unterschiedliche Weise) in einer historischen Umgebung, die die Schlagworte »Studentenbewegung«, »68er«, »Gegenkultur« und »APO« grob umreißen. Hierbei seien bewusst Schlagworte genannt, die zwar deutliche Überschneidungspunkte haben (z.B. insofern sie alle oppositionell eingestellte Personenkreise bezeichnen), sich aber nicht notwendigerweise in dem decken, was sie bezeichnen. Sie sauber definitorisch voneinander abgrenzen zu wollen und die Texte unter diesen Abgrenzungen zu lesen, wäre »Old Historicism«. Entscheidend für diese Arbeit ist, dass sich sowohl die untersuchten literarischen Texte als auch die weiteren kulturellen Texte, die eine Rolle spielen werden, sich in der grob skizzierten oppositionellen Umgebung aufhalten. Diese oppositionelle Umgebung und ihre Akteurinnen und Akteure im weiteren Sinne sind im Folgenden gemeint, wenn von »1968« als Entstehungsumgebung oder den »68ern« als Personengruppe die Rede ist. Weitere Eingrenzungen in Bezug auf den genauen Zeitraum46 oder verschiedene beteiligte soziale Gruppen47 sollen an dieser Stelle nicht unternommen werden. Da die Arbeit schlaglichtartig sowohl auf »1968« als auch die »68er« schaut, muss sie keine Antwort auf die schwierige Frage geben, wer definitiv zu den »68ern« gehört oder wie weit die »Chiffre 1968«48 tatsächlich räumlich und zeitlich reicht. Alle kulturellen Texte, die in Interaktion mit einem der literarischen Texte stehen und sich als fruchtbar im Sinne der Fra46 Unter diesem Aspekt aufschlussreich sind etwa Claussen, Detlev: Chiffre 68, in: Assmann, Jan/Harth, Dietrich (Hg.): Revolution und Mythos. Frankfurt/M. 1992, S. 219228 und Etzemüller, Thomas: 1968 – ein Riss in der Geschichte? Gesellschaftlicher Umbruch und 68er-Bewegungen in Westdeutschland und Schweden. Konstanz 2005. 47 Vgl. exemplarisch zur Differenzierung beteiligter Personen und Gruppen Siegfried, Detlef: Sound der Revolte. Studien zur Kulturrevolution um 1968. Weinheim 2008 sowie Hodenberg, Christina von/Siegfried, Detlef: Reform und Revolte. 1968 und die langen 60er Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Dies. (Hg.): Wo ›1968‹ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik. Göttingen 2006, S. 7-14. 48 Vgl. zu diesem Terminus Claussen: Chiffre 68 sowie später ausführlicher Wolfgang Kraushaar: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur. Hamburg 2000.

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gestellung erweisen, haben ihr Recht innerhalb von dem, was ich als »Entstehungsumgebung 1968« annehme. Inwiefern ist aber diese Entstehungsumgebung eine »historische Kultur« nach Greenblatts Verständnis? Es lässt sich, auch in der Gegenwart, nicht übersehen, dass sie durch kulturelle Texte ausgedrückt wird, sobald von ihr die Rede ist. Wer sich auf »1968« beziehen will, bezieht sich z.B. auf Bilder von Rudi Dutschke, vom erschossenen Benno Ohnesorg und von demonstrierenden Menschen, auf bestimmte Sprechchöre und Parolen, auf Flugblätter und Transparente, auf bestimmte Sprach- und Kommunikationsmuster 49 (Spontisprache, »adornisiertes Marcusisch« 50 , Gesprächsformen wie das Teach-In), auf Filme wie Easy Rider oder Viva Maria, auf das Tragen von langen Haaren oder Miniröcken, oder bestimmte Songs von Bob Dylan, den Rolling Stones oder aus der deutschen Liedermacher-Szene. Tatsächlich erweist es sich als schwierig, »1968« ohne Zuhilfenahme eines kulturellen Texts aufzurufen. An dieser Stelle kommt auch die titelgebende »politische Opposition« ins Spiel, die – wie noch zu sehen sein wird – in ihren verschiedenen Ausprägungsformen jeweils unterschiedliche Friktionen51 mit dem literarischen Schreiben eingeht. Politische Opposition bzw. mit ihr verbundene Akte wie Protest, Widerstand und Verweigerung sind komplexte und erst einmal relativ abstrakte Phänomene. Es lassen sich ihnen jedoch, speziell im Kontext von »1968«, recht konkrete kulturelle Texte zuordnen, die sie konstituieren und auch transportieren. Im Falle 49 Zu spezifischen Kommunikationsmustern um 1968 siehe die umfassende linguistische Studie von Joachim Scharloth: 1968: Eine Kommunikationsgeschichte. München 2011. 50 Ich will aufklären. Michael »Bommi« Baumann im Interview mit Timo van Treeck (29.04.2008); online unter: https://www.rp-online.de/region-duesseldorf/duesseldorf/ nachrichten/ich-will-aufklaeren-1.1126190 (abgerufen am 27.07.2015). 51 Der Begriff »friction« wird von Greenblatt an keiner Stelle erläutert oder definiert. Er gebraucht ihn – z.B. in Fiction and Friction – im Sinne einer ganz besonderen Interaktion: Friktionen ergeben sich aus konfliktgeladenen Konstellationen im kulturellen Text, wobei eine künstlerische Repräsentation die »Reibung« von Positionen in sich vereint und zutage treten lässt. Im Fall von Fiction and Friction liegt die Friktion z.B. in der Repräsentation der Geschlechter durch Shakespeare, die den Reiz homosexueller Beziehungen in ständiger Schwebe hält mit der »Richtigstellung« durch die Natur (vgl. Greenblatt: Dichtung und Reibung). Shakespeares Text nimmt keine Partei innerhalb des Konflikts, er erfasst und konserviert ein Spannungsfeld in seiner damaligen Emotionalität und diskursiven Aufladung. Im Sinne einer solchen »Reibung« von Positionen, die durch eine künstlerische Repräsentation erfasst und wahrnehmbar wird, werde ich ihn im Folgenden gebrauchen.

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des Protests wird dies z.B. deutlich, schaut man die Studien der Medienwissenschaftlerin Kathrin Fahlenbrach an. Fahlenbrach fragt am Beispiel von »1968« danach, was »Protest« ist und wie er zustande kommt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um Akte der politisch-oppositionellen Kommunikation handelt, die einmal außerhalb der Gruppe der Protestierenden ablaufen, einmal innerhalb der Gruppe. Protest als oppositioneller Akt entsteht demnach durch die »öffentliche Repräsentation der eigenen Werte und Ziele« nach außen sowie die »kollektive Selbstvergewisserung«52, die Ausbildung von Codes53 und habituellen Erkennungszeichen nach innen. Eine Gruppe, die protestiert, generiert also auf verschiedenen Ebenen kulturelle Texte: durch Aussagen, Positionierungen und Forderungen nach außen, aber auch durch die Schaffung bestimmter Erkennungscodes, sei es durch das Tragen bestimmter Kleidung, die Rezeption bestimmter Kunstwerke oder die Verwendung bestimmter sprachlicher Merkmale oder Bildsymbole. In einer späteren Studie zeigt Fahlenbrach darüber hinaus, wie speziell die Protestkultur der »68er« von der Störung bzw. Modifikation von gesellschaftlichen Ritualen sowie von der Schaffung eigener, neuer Rituale geprägt ist.54 Der Protest besteht also auch darin, bestehende Rituale anzugreifen (z.B. die Störung des konventionellen Ablaufs von Gerichtsverhandlungen), außer Gefecht zu setzen (z.B. die Übertönung von Politikerreden durch Pfiffe o. ä.) oder satirisch zu adaptieren (z.B. das fingierte Löbe-Begräbnis der Kommune 1). Zusätzlich bringt er neue Formen der sozialen Ritualisierung hervor, wie das SitIn oder die politische Gedenkminute. Fahlenbrach gibt dabei den wichtigen Hinweis, dass sich die Proteste um 1968 nicht nur gegen bestimmte Personen oder Personengruppen richten, sondern auch und prominent »gegen deren sym52 Fahlenbrach, Kathrin: Protest als politische Kommunikation in der Medienöffentlichkeit, in: Kreyher, Volker (Hg.): Handbuch politisches Marketing: Impulse und Strategien für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Baden-Baden 2004, S. 129-140, hier S. 130. 53 Vgl. zu den spezifischen Protestcodes der »68er« Dorothee Liehr: Ereignisinszenierung im Medienformat: Proteststrategien und Öffentlichkeit – eine Typologie, in: Klimke, Martin/Scharloth, Joachim (Hg.): 1968: Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung. Stuttgart 2007, S. 23-36. 54 Vgl. Fahlenbrach, Kathrin/Klimke, Martin/Scharloth, Joachim: Anti-Ritual, Medieninszenierungen und Transnationalität. Kulturwissenschaftliche Aspekte von ʼ68, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 21 (2008), H. 3, S. 106-118; im Anschluss an Soeffner, Hans-Georg: Rituale des Antiritualismus – Materialien für Außeralltägliches, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeifer, Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1998, S. 519-546.

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bolische Praktiken.« 55 Wichtig ist dieser Hinweis deshalb, weil er zeigt, dass Protest nicht nur kulturelle Texte hervorbringt, sondern auch aus welchen hervorgeht, auf die er antwortet, reagiert oder die er unterläuft. Auch Widerstandshandlungen funktionieren in diesem Sinne, denn auch sie sind »lesbar« als Alternativhandlungen zu bestehenden, ihrerseits »lesbaren« kulturellen Texten (z.B. Normen, Gesetzen, Ideologien). Als Text gedacht können sie dominanten kulturellen Texten widersprechen oder sie unterlaufen. Damit haben sie Anteil am gesellschaftlichen Machtgefüge, sind mitunter notwendiger Bestandteil von ihm.56 Die meisten Akte politischer Opposition – Protestmärsche, öffentliche Verweigerungshandlungen, Stören etablierter Veranstaltungen, künstlerische Interventionen, Sitzblockaden, aber auch offene oder verdeckte Erkennungscodes der Beteiligten untereinander – erweisen sich damit als sinntragend, lesbar und als Teil eines komplexen Netzwerks, ohne das viele von ihnen nahezu unverständlich wären. Z.B. ist die Störung des CDU-Parteitags 1968 durch Beate Klarsfelds Ohrfeige gegen Kurt Georg Kiesinger einerseits in sich ein lesbarer Akt, andererseits aber ohne Kenntnis seiner Umgebung von anderen kulturellen Texten nicht selbsterklärend. Hinzu tritt nun das Thema des Schreibens, das sich um 1968 als besonders eng und komplex mit dem politischen Geschehen verknüpft erweist. Dabei ist nicht nur die naheliegende Verknüpfung gemeint, dass Texte in eine politische Funktion gesetzt werden, sondern vielmehr, dass weitgehend unbemerkt Funktionen, Ideen, Lösungen, Metaphern aus dem politisch-gesellschaftlichen Bereich in sie hineinzirkulieren und andere Dinge wieder herauszirkulieren. Das Thema Schreiben und die Handlung des Schreibens scheinen in den literarischen Texten besonders häufig Friktionen mit ihrer Entstehungsumgebung zu provozieren. Neben ihrer Sensibilität für Friktionen und Zwischenräume birgt die Übertragung von Greenblatts Methode von der Shakespeare-Forschung auf die Erforschung der Literatur um 1968 noch einen weiteren Vorteil: Greenblatt begründet seine ungewöhnliche Hinwendung zu Shakespeare unter anderem damit, dass sich die bislang gestellten Fragen und gebildeten Thesen zu dessen Werk ausgereizt anfühlten, während die Texte selbst weiterhin großes Potential zu bergen schienen: »It was not the canonical authors then that had begun to seem exhausted but the approach to them and the notion of the boundaries of their achie55 Fahlenbrach/Klimke/Scharloth: Anti-Ritual, S. 107. 56 Greenblatts Arbeiten weisen unterschiedliche Beispiele auf, in denen machtvolle Institutionen ihre Gegner und widerständigen Strömungen indirekt selbst erzeugen oder befördern (vgl. z.B. zum Verhältnis zwischen Atheismus und Institution Kirche: Unsichtbare Kugeln, in: Ders.: Verhandlungen, S. 25-65).

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vement.«57 Greenblatt stellt sich, in den Worten Doris Bachmann-Medicks, der »Herausforderung, auch vertraut gewordene bzw. kanonische Texte wieder fremd zu machen«58, d.h. sie völlig ohne die vertrauten Bezüge und Thesen anzugehen. Er praktiziert New Historicism, um neue Zugänge zu Texten zu schaffen, die eigentlich durch und durch interpretiert zu sein scheinen und besonders gefangen sind in Metaerzählungen und interpretatorischen Klischees. Dies ist bei den hier untersuchten Texten weniger der Fall – auch wenn es sich um drei noch eher bekannte und noch am besten erforschte Titel des relevanten Zeitraums handelt, ist die Forschung zur Literatur der »68er« bzw. der Studentenbewegung grundsätzlich noch eher übersichtlich.59 Hingegen ist die Entstehungskultur der Texte zumindest in Deutschland ausgesprochen ausführlich erforscht. Hinzu kommt, dass »1968« ein Zeitraum ist, für den – anders als für Greenblatts elisabethanische Zeit – noch ein sehr aktives kommunikatives Gedächtnis besteht und der bis heute ein präsentes und hochgradig emotional aufgeladenes Thema ist. »1968« und das Sprechen über diese Zeit haben, wiederum anders als die elisabethanische Zeit, in aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen noch sehr direkte Funktionen und (positive wie negative) Bedeutungstraditionen, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen unterschiedlicher politischer Ausrichtung mit aktuellen politischen Interessen sind noch am Leben, lebenskulturelle Merkmale der Zeit werden zuweilen als Fundus für aktuelle Trends genutzt. All diese Faktoren machen »1968« als historische Kultur anfällig für Metaerzählungen, Simplifizierungen, Romantisierungen und die Konstruktion von Über-Subjekten. Eine kulturpoetologische Herangehensweise, die vorausgehende Festschreibungen des Entstehungsumfelds vermeidet, scheint geeignet, diesen Problemen nicht oder zumindest weniger anheim zu fallen. Die Konfrontation der literarischen Texte mit anderen – bekannten und weniger bekannten – kulturellen Texten ihrer Entstehungsumgebung, mit möglichst wenigen vorausgehenden Annahmen, lediglich mit dem Fokus auf auffälligen Brüchen, Friktionen und Parallelen, vermag 57 Greenblatt/Gallagher: Practicing New Historicism, S. 47. 58 Bachmann-Medick, Doris: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Tübingen 2004, S. 7-67, hier S. 23. 59 Als zentrale Studien seien hier genannt: Thomas, Richard Hinton/Bullivant, Keith: Westdeutsche Literatur der sechziger Jahre. München 1975; Briegleb, Klaus: 1968 – Literatur in der antiautoritären Bewegung. Frankfurt/M. 1993; Komfort-Hein, Susanne: Flaschenposten und kein Ende des Endes. 1968: kritische Korrespondenzen um den Nullpunkt von Geschichte und Literatur. Freiburg/Br. 2001 und Luckscheiter, Roman: Der postmoderne Impuls. Die Krise der Literatur um 1968 und ihre Überwindung. Berlin 2001.

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sowohl in der Literatur als auch in ihrer Entstehungsumgebung am ehesten bislang unbeachtete Bedeutungen und Verbindungen freizusetzen. Eine solche voraussetzungslose Konfrontation und damit auch Enthierarchisierung von literarischem Text und anderem kulturellen Text haben aber auch zu einem der frühesten Vorwürfe an Greenblatt und andere New Historicists geführt. Literarische Kunstwerke vom Range Shakespeares mit bis dato völlig unbedeutenden Textfragmenten »gleichzustellen« provozierte den Einwand, »daß Poesie ein autonomes Sinnuniversum sei und daß eine Betonung ihrer Verstrickung in eine historische Situation sie dagegen zum Epiphänomen gesellschaftlicher Bedingungen degradieren könnte.«60 Die »Degradierung« hochklassiger poetischer Werke zu einem kulturellen Text unter vielen und der Verzicht auf die Einräumung eines Sonderstatus für literarische Texte sind Vorwürfe vor allem an die frühen Arbeiten Greenblatts. In seinem späteren Text Practicing New Historicism nimmt er explizit dazu Stellung: But the new historicist project is not about ›demonting‹ art of discrediting aesthetic pleasure; rather it is concerned with finding the creative power that shapes literary works outside the narrow boundaries in which it had hitherto been located, as well as within those boundaries. […] Rather, it is to imagine that the writers we love did not spring up from nowhere and that their achievements must draw upon a whole life-world and that this lifeworld has undoubtedly left other traces of itself.61

Die Textauswahl einer kulturpoetologischen Arbeit bedeutet nur eine Erweiterung des Blickes, niemals eine Bewertung der kulturellen Bedeutsamkeit oder sprachlichen oder intellektuellen Qualität der Texte. 62 So ist es auch in dieser 60 Sittig, Claudius: ›Was ernst an ihm ist, kann sie schon‹. Die deutsche Literaturwissenschaft und der New Historicism aus der Neuen Welt, in: Habermas, Rebekka/Mallinckrodt, Rebekka von (Hg.): Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften. Göttingen 2004, S. 87-106, hier S. 92. 61 Greenblatt/Gallagher: Practicing New Historicism, S. 12. 62 Greenblatts Postulat der Gleichrangigkeit von kulturellen Texten darf darüber hinaus nicht verwechselt werden mit einer unkritischen Annahme von Gleichartigkeit. Sein Modell der Kulturpoetik unterscheidet deutlich zwischen unterschiedlichen Arten kultureller Texte und ihren spezifischen Eigenschaften: »[A]s soon as you collapse everything into something called textuality, you discover that it makes all the difference what kind of text you are talking about.« (Greenblatt/Gallagher: Practicing New Historicism, S. 23). Das bedeutet, dass eine kulturpoetologische Analyse etwa die spezi-

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Arbeit zu verstehen, wenn die bekanntesten literarischen Texte der »68er« mit Schülerflugblättern, polemischen Wendungen oder Schlagertexten eben nicht verglichen werden, sondern durch sie vielleicht überraschende Bedeutungen freigeben.63 Die Forderung, eine autonome Textsphäre »Poesie« trennscharf von anderen kulturellen Texten abzugrenzen, scheint darüber hinaus im Rahmen einer Arbeit hinfällig zu sein, die wie diese literarische Texte untersucht, die sich selbst anderen gesellschaftlichen Erzeugnissen bewusst öffnen und zu allen Seiten Textgrenzen einzureißen bemüht sind. Ein weiterer, noch häufiger vorkommender Vorwurf gegen den New Historicism bezieht sich auf die methodischen und begrifflichen Anleihen, die Greenblatt bei anderen Theorien macht. Es ist schon an einigen Stellen zu sehen gewesen, dass Greenblatt einzelne theoretische Bausteine, Begriffe und Herangehensweisen aus verschiedenen früheren Theorien entlehnt. 64 Gleichzeitig verzichtet er, vor allem in seinen frühen Texten, dabei weitgehend auf eine umfassende theoretische Einbettung jener Elemente. Dieses Verfahren hat ihm mehrfach den Vorwurf eines unsauberen Methoden- und Begriffs-Eklektizismus eingetragen.65 Für den deutschsprachigen Raum ist die Kritik Hannelore Schlaffers am bekanntesten und soll hier kurz stellvertretend im Rahmen der Fragestellung diskutiert werden. Schlaffer kritisiert nach dem Erscheinen von Marvelous Possessions in Deutschland, dass Greenblatt mit Clifford Geertz’ ethnologischem fisch ästhetische Dimension von literarischen Texten und anderen Kunstwerken durchaus im Blick hat und ernst nimmt. 63 Anton Kaes entgegnet auf den Vorwurf, der New Historicism beschäftige sich mit abwegigen, banalen bzw. qualitativ minderwertigen kulturellen Texten, dass solche Texte, in ihrer Zeit gesehen, »etwa für Shakespeare weder obskur noch irrelevant [waren]. […] Die nichtliterarischen Dokumente sind selbst komplexe materielle und symbolische Artikulationen der imaginativen und ideologischen Strukturen der Gesellschaft, die sie produziert hat.« (Kaes: New Historicism, S. 260). 64 Die einzelnen Theorieeinflüsse auf Greenblatts verschiedene Studien können in diesem Rahmen nicht detailliert ausgeführt werden; vgl. zu ihnen ausführlich Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005 sowie die Beiträge des von Jürg Glauser und Annegret Heitmann herausgegebenen Sammelbandes zum New Historicism (Verhandlungen mit dem New Historicism. Würzburg 1999). 65 Vgl. etwa Dominick LaCapra, der die theoretischen Bausteine, die New HistoricismArbeiten verwenden, als »nebulous or random if not at times irresponsibly assembled« bezeichnet (LaCapra, Dominick: Soundings in Critical Theory. Ithaca/London 1989, S. 193).

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Kulturbegriff und Michel Foucaults Geschichtsbegriff zwei Theoriebausteine kombiniere, deren Herkunftstheorien nicht überein zu bringen seien: Während Geertz’ analytischer Ansatz als Synchronschnitt durch eine noch bestehende, lebende Kultur (»culture in action«) angelegt sei, sei Foucaults Modell der Archäologie eine klar diachrone Herangehensweise, die rückblickend Fundamente, diskursive Prägungen und unterschwellige Machtverhältnisse freilege, die ein späteres Phänomen bedingen.66 Greenblatt könne also nur entweder die Ahnenschaft von Foucault oder von Geertz beanspruchen. Tatsächlich kann es als wunder Punkt von Greenblatts Arbeiten angesehen werden, dass die Theorien, aus denen er Elemente entlehnt, nicht als Ganze in eine stimmige Theorie zu überführen sind. Schlaffers Versuch, dies zu tun, führt in der Tat sehr schnell zu einem Widerspruch. Vollends in Schwierigkeiten geriete man, wollte man auch die in Greenblatts späterer Studie Practicing New Historicism berührten Theorien und Verfahren einbinden – man hätte hier unter anderem das Verfahren aus Erich Auerbachs Mimesis und Amos Funkensteins »counterhistory«-Konzept zu integrieren. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Greenblatt eine solche Gesamttheorie an keiner Stelle intendiert oder beansprucht. Seine Arbeiten sind von ihm explizit als Beiträge zur literaturwissenschaftlichen Praxis, nicht zur Literaturtheorie, ausgewiesen. Von daher sind sämtliche Begriffsverwendungen rein mit ihrem praktischen Nutzen für die aktuelle Fragestellung begründet. Greenblatt erhält sich eine größtmögliche Offenheit über seine literaturtheoretische Zugehörigkeit und schließt nur sehr wenige Optionen (Old Historicism, Werkimmanenz) definitiv aus. Von daher würde er vermutlich selbst jegliche Vorstellung einer definierten Ahnenschaft weit von sich weisen. Es ist eine Grundsatzfrage, ob diese offene, uneingeschränkte Arbeit mit Theoriebausteinen als Stärke seines Verfahrens ausgelegt wird (insofern er damit valide Ergebnisse erzielt, die andere Verfahren nicht hergeben würden) oder als Schwäche seines Verfahrens (insofern sich aus seinen Arbeiten keine stimmige, kontinuierliche literaturtheoretische Position ableiten lässt).67 Diese Grundsatzfrage lässt sich im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit nicht klären. Sie begleitet sie aber insofern, dass ein Bewusstsein darüber besteht, dass die von Greenblatt adaptierten 66 Vgl. Schlaffer, Hannelore: Ethnographie der Literatur. Über Stephen Greenblatt und den New Historicism, in: Freibeuter 92 (1994), S. 11-22, hier S. 12ff. 67 Louis Montrose, ein weiterer einflussreicher New Historicist, argumentiert in diesem Zusammenhang darüber hinaus, dass jede Theorie selbst eine Art von kulturellem Text ist und von daher nicht anders sein kann als dynamisch, ideologisch und instabil (vgl. Montrose, Louis A.: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur [1989], in: Baßler (Hg.): New Historicism, S. 60-93).

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Begriffe nicht notwendigerweise bedeuten, dass weitere Begriffe aus ihrer Herkunftstheorie bedenkenlos übernommen werden können, sondern einer umfassenden literaturtheoretischen Prüfung bedürfen. Weiterhin besteht ein Bewusstsein darüber, dass Greenblatts einzelne Arbeiten nicht in allen Punkten widerspruchsfrei kombinierbar sind (beispielsweise wurden bei der Anlage dieser Arbeit Greenblatts Bezüge zur Archäologie des Wissens weitgehend ausgeklammert, weil für die Fragestellung vor allem der Geertz’sche Synchronschnitt von Relevanz ist). Der zweite große Kritikpunkt Schlaffers kreist im Kern darum, dass Greenblatts Erkenntnisse über historische Kulturen abgelöst von der Gegenwart erscheinen bzw. in einem isolierten, künstlichen Erkenntnisraum verbleiben, über den sich Greenblatt als Interpret Illusionen macht: Die europäische Geschichte erscheint dem Amerikaner Greenblatt als Traumzeit, als exotische Prähistorie, die seine eigene Gegenwart kaum tangiert, die Anekdote ist das Notat im Tagebuch des Geschichts-Ethnographen, der eine unbekannte Vergangenheit bereist.68

Schlaffers Kritik lässt sich in mehrere Aspekte trennen: Zunächst wirft sie Greenblatt als Amerikaner vor, er benutze die europäische Geschichte als exotischen Sehnsuchtsort, der nichts mit seiner eigenen Gegenwart zu tun haben müsse. Diese Problematik betrifft diese Arbeit nicht, weshalb sie hier zu vernachlässigen ist. Weiterhin spricht sie das Problem der Künstlichkeit von Greenblatts selbstgewählter Rolle als »Ethnograph einer historischen Gesellschaft« an: Greenblatt unterläge demnach der Täuschung, historische Geschehnisse genau wie ein Ethnologe beobachten zu können, der bei einer lebendigen Kultur zu Gast ist. Er tue so, als folge er einer »Einladung ins exotische Ambiente der Geschichte« und beobachte »fremdes Leben«, während er in Wirklichkeit nur »zitiertes Leben« 69 in Form von Texten beobachte. Dieser Einwand ist ernst zu nehmen, denn tatsächlich kann Greenblatts Annahme einer historischen Kultur, die man als Ethnologe »besuchen« könne, lediglich den Status einer Metapher beanspruchen. Sie ist ein Kunstgriff des interpretatorischen Selbstbildes und muss zu jeder Zeit als solcher behandelt werden. Allerdings macht Greenblatt in seinen Texten mehrfach deutlich, dass sie einer ist.70 Greenblatt geht, wie er in 68 Schlaffer: Ethnographie der Literatur, S. 16. 69 Ebd., S. 15. 70 Beispielsweise in Resonanz und Staunen spricht er explizit von einer »imaginären ethnographischen Dichte« (Greenblatt, S. 21; Hervorhebung von JC), die er untersucht.

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Practicing New Historicism ausführt, von Texten als Speichermedien für gelebtes Leben und lebende Körper aus: We wanted also […] to show in compressed form the ways in which elements of lived experience enter into literature, the ways in which everyday institutions and bodies get recorded. […] We sought something beyond this: we wanted to find in the past real bodies and living voices, and if we knew that we could not find these – the bodies having long moldered away and the voices fallen silent – we could at least seize upon those traces that seemed to be close to actual experience.71

Greenblatts Herangehensweise sieht also bewusst vor, sich mit etwas zu beschäftigen, das »close to actual experience« ist – und das in Auswahl und Bewertung von der individuellen Person, die interpretiert, mitgeprägt wird. Eine New Historicism-Arbeit muss dies berücksichtigen und entsprechend vorsichtig mit der Übertragbarkeit von Ergebnissen und mit Rückschlüssen auf größere gesellschaftliche Bereiche sein. Als letzter Aspekt der Kritik Schlaffers lässt sich isolieren, dass Greenblatts punktuelle und willkürlich gewählte Schlaglichter selten umfassend kontextualisiert würden und daher Gefahr liefen, neue Metaerzählungen und Konstruktionen zu werden. Greenblatt, so Schlaffer, hält die historische Zeit an einem beliebigen Punkt an und tut so, als sei dieser endgültig. Auch wenn die temporalen Stops wechseln – allerdings liegen sie bei Greenblatt fast immer in der Renaissance –, so gibt es doch keine Entwicklung zu ihnen hin und von ihnen weg. Remythisierung stellt Geschichte still, ja Geschichtlichkeit selbst gerät so erst zur Idee, dann zur Fiktion und schließlich zum Mythos.72

Tatsächlich weckt Greenblatts metaphorische Sprache von »Magie« und »Stimmen der Toten«, die wieder punktuell beschworen und aus den Texten freigesetzt werden können, zum Teil problematische Assoziationen in Richtung (Re-) Mythisierung und Reduzierung von Komplexität. Nicht umsonst habe ich diese Begriffe, ebenso wie die problematische Tausch-Metapher73 aus den Verhand71 Greenblatt/Gallagher: Practicing New Historicism, S. 30. Vgl. auch: »Das ›Leben‹, das literarischen Werken noch lange nach dem Tod sowohl des Autors wie der Kultur, für die er schrieb, zu eigen scheint, ist – wie verwandelt und umgestaltet auch immer – eine historische Folge der sozialen Energie, die ursprünglich in diesen Werken codiert wurde.« (Greenblatt: Einleitung, S. 11f.). 72 Schlaffer: Ethnographie der Literatur, S. 21. 73 Greenblatt: Einleitung, S. 13ff.

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lungen mit Shakespeare, im Aufbau meines Verfahrens vermieden. Greenblatts praktische Arbeiten bestätigen diese Befürchtungen Schlaffers übrigens nicht – seine schlaglichtartigen Betrachtungen sind überdeutlich als solche gekennzeichnet und neigen nicht dazu, in unterkomplexe oder generalisierende Aussagen zu münden. Die spezifisch deutschen Einwände, dass der New Historicism auf die deutsche Literaturwissenschaft nicht übertragen werden könne bzw. nicht mehr übertragen werden müsse, weil die Abkehr von werkimmanenter Interpretation bereits in den 1960er und 1970er Jahren stattgefunden habe, sind von Claudius Sittig überzeugend entkräftet worden.74 Zusätzlich sprechen auch die praktischen Anwendungen von New Historicism-Adaptionen in Deutschland an deutschsprachigen Texten, etwa durch Moritz Baßler, dafür, dass kulturpoetologische Fragestellungen durchaus Ergebnisse zutage fördern, die anders wahrscheinlich verborgen bleiben würden.75 Letzten Endes sollten die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, dass für die Fragestellung dieser Arbeit die Vorzüge des gewählten Vorgehens klar vor seinen Nachteilen überwiegen. Es gibt an Greenblatts Verfahren berechtigte Kritikpunkte bzw. feststellbare Problemlagen, die aber nicht dazu führen sollten, es mitsamt seinem (weitaus größeren) innovativen Potential zu verwerfen, sondern eher, es mit besonderer Bedachtsamkeit und kritischer Reflexion zu adaptieren. Darüber hinaus kann sich diese Arbeit in ihrem Textbegriff und ihrer Herangehensweise an den spezifischen Zeitraum um 1968 durchaus auf partielle Vorläufer in der Forschung berufen. Eine der frühesten Studien zur deutschen Literatur der Studentenbewegung, Klaus Brieglebs 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung, legt bereits Wert darauf, dass es sich bei den vielbeschworenen »Berührungen zwischen Gesellschaft und Text« um 1968 um »sozialliterarische Spannungszustände«76 handelt. Die Spannungsmetapher deutet indirekt darauf, dass die Berührungen erstens nicht einseitig verlaufen und zweitens von Uneinigkeiten, Widersprüchen und Reibungen geprägt sind. Briegleb verlangt nach einem analytischen Zugriff, der sich »nicht ins Innere und Tiefe der Texte zurück[zieht]«77, sondern die Texte im Kontext zeitgenössischer Literaturvermarktung und Literaturvermittlung betrachtet – wobei nicht immer die pro74 Vgl. Sittig: Was ernst an ihm ist, S. 99f. 75 Als gelungenes Beispiel für eine methodische Übertragung sei hier exemplarisch genannt: Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman: die neuen Archivisten. München 2002. 76 Briegleb: 1968, S. 170. 77 Ebd.

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minentesten Orte und Namen die aufschlussreichsten Ergebnisse liefern. Allerdings trennt Briegleb die (lesbaren) literarischen Texte eindeutig von der Sphäre ihres Gebrauchs, »wo Textlektüre Fehlanzeige ist«.78 Einen Schritt weiter geht Susanne Komfort-Hein, wenn sie 2001 in ihrer diskursanalytischen Studie zur »Denkfigur des Nullpunkts« an »1968 als Textraum«79 herantritt. Bei ihr werden erstmalig die komplexen Interaktionen zwischen verschiedenen lesbaren Elementen sichtbar. Den »Textraum 68« stellen bei ihr »(geschichts-)philosophische, ästhetische, kultur- und medienkritische Diskurse und literarische Praktiken«80. Ihre Analyse zielt also auf Interaktionen und Parallelen in Literatur und Kulturtheorie: Bestimmte Textformen, Schreibverfahren und Vorstellungen von Literatur, die um 1968 aufkommen, korrespondieren nach ihr mit bestimmten kulturtheoretischen Diskursen und damit verbundenen Vorstellungen von z.B. Subjekten, sozialem Setting und Zeit. Einige ihrer Themen und Denkansätze lassen sich mit dieser Arbeit verbinden – etwa die Bindung von Bewegung an Lesebewegung oder die Vorstellung einer künstlerischen wie gesellschaftlichen Neuen Sensibilität nach einem radikalen oppositionellen Zerstörungs- oder Verweigerungsakt. Diese Arbeit vermag damit Komfort-Heins theoretische Überlegungen an mehreren Stellen im Konkreten zu flankieren, insofern sie sich in einem noch weiter gefassten Textraum der direkten Konfrontation von literarischen Texten mit kulturellen Erzeugnissen aller Art annähert. Sie erprobt mit Greenblatts Konzept der Kulturpoetik ein Verfahren, das Susanne Komfort-Hein für ihre Fragestellung ebenfalls diskutiert, dann aber wegen seiner Ausschnitthaftigkeit bewusst verwirft.81 Die Fragestellung dieser Arbeit lebt hingegen von genau dieser Ausschnitthaftigkeit, insofern sie Verbindungen in einem sehr umfangreichen Textmaterial sucht. Betrachtet werden – anders als bei Komfort-Hein, die einen sehr klaren Schwerpunkt auf kulturtheoretische Texte legt – Interaktionen und Friktionen zwischen heterogenen Texten und in Form von Schlaglichtern. Die Spuren, die verfolgt werden, erscheinen nicht als »given set of objects«, sondern entwickeln sich aus auffälligen Einzelausschnitten, isolierten und ungewöhnlich kombinierten Details:

78 Ebd. 79 Komfort-Hein: Flaschenposten, S. 15. 80 Ebd., S. 14. 81 Vgl. ebd., S. 22. Komfort-Hein problematisiert die Ausschnitthaftigkeit des Vorgehens deshalb, weil es die präzise Abgrenzung verschiedener Diskurse schwierig macht.

36 | P ROTEXTE Because of this very lack of a given set of objects, new historicism becomes a history of possibilities: while deeply interested in the collective, it remains committed to the value of the single voice, the isolated scandal, the idiosyncratic vision, the transient sketch. 82

82 Gallagher/Greenblatt: Practicing New Historicism, S. 16.

Schreibende Oppositionelle und oppositionelles Schreiben: Inhaltliche Vorstudien

D IE »68 ER « POLITISCHE

UND DER T EXT : S CHREIBEN , L ESEN UND O PPOSITION

Zwei Aufgaben kann man sich für die Literatur in der kulturrevolutionären Phase vorstellen: Ich nenne sie die agitatorische und die propagandistische Funktion der Kunst. 1. Wenn der totalen Entfaltung der Produktivkräfte die völlige Verstümmelung der Wünsche im Spätkapitalismus entspricht, dann muß die Kunst die völlige Mobilisierung der Wünsche gegen die Wirklichkeit sein. Dazu gehört aber beides: daß sie die Wünsche darstellt, daß sie die konkreten Bilder der Wirklichkeit gegen die konkreten Bilder der Möglichkeiten hält, die darin stecken und ersticken. […] Führen wir in den Fabriken, den Schulen, den Universitäten die große Wehklage1 durch. Kultivieren wir die Fähigkeit der Arbeiter, Schüler und Studenten, Unterdrückungen nicht ertragen zu können und sie schon von weitem zu riechen. Die Künstler, falls es sich da um Leute handelt, die ihre Phantasie vom Kapital noch nicht haben zerrütten lassen, haben dabei die Aufgabe, den Arbeitern,

1

»Auf dem Langen Marsch organisierte die Rote Armee in den Dörfern, durch die sie kam, Versammlungen der Bauern auf dem Dorfplatz. Einer oder mehrere Bauern wurden aufgefordert, ihre persönlichen Wünsche, Bedrückungen, Nöte zu schildern. Die zuhörenden Bauern griffen kritisch in diese Selbstdarstellung ein, ergänzten sie, wenn sie ihnen zu persönlich, korrigierten sie, wenn sie ihnen zu allgemein war, machten daraus eine kollektive Darstellung. Sie nannten das ›Die große Wehklage‹.« (Schneider, Peter: Rede an die deutschen Schriftsteller und ihre Leser, in: Kursbuch 16 (1969), Kursbogen).

38 | P ROTEXTE Schülern, Studenten bei der Artikulation ihrer Wünsche zu helfen und ihnen den Weg zu ihrer politischen Organisation zu zeigen. 2. In dem Maße, wie der Spätkapitalismus die Fähigkeit, menschliche Wünsche zu haben, buchstäblich vernichtet und die Wünsche auf dem infantilen Standpunkt festhält, entsteht für die Literatur neben dieser agitatorischen Funktion die Aufgabe, die alten, in den Kunstwerken aufbewahrten Wünsche und Sehnsüchte der Menschheit wieder hervorzuholen, um sie endlich der Verwirklichung zugänglich zu machen. Dies ist die propagandistische Funktion der Kunst. […] Jagen wir die gemalten Wünsche aus den Museen hinaus auf die Straßen. Holen wir die geschriebenen Träume von den brechenden Bücherborden der Bibliotheken herunter und drücken wir ihnen einen Stein in die Hand. An ihrer Fähigkeit, sich zu wehren, wird sich zeigen, welche von ihnen in der neuen Gesellschaft zu brauchen sind und welche verstauben müssen.2

Peter Schneiders Bestandsaufnahme, welche Rollen dem literarischen Schreiben im Rahmen der aktuellen politischen Oppositionshandlungen zufallen könnten, erscheint im März 1969 als Kursbogen zum Kursbuch 16. Sie vereinigt auf kleinem Raum Hinweise auf verschiedene Varianten, wie das Interaktionsverhältnis von Literatur und politischer Opposition zeitgenössisch gedacht wird. Der offensichtlichste Hinweis liegt in der geforderten gezielten Einbettung von neu entstehender Literatur in ein politisches Programm. Schneider definiert die Aufgaben literarischen Schreibens von dessen politischer Funktion her. Literarisches Schreiben und die daraus resultierenden Texte sollen, so seine normative Forderung an ihre Poetik, konkrete Beiträge leisten zu Handlungszusammenhängen des außerliterarischen Raumes: zur Bekämpfung des Kapitalismus, zur Politisierung größerer Massen und zur Erfassung der politischen Situation durch Schreibende und Lesende. Eine wichtige Rolle nehmen dabei die von Schneider mehrfach erwähnten »Wünsche« ein: Literatur wird die Aufgabe zugewiesen, ihren Lesenden und Schreibenden a) klar werden zu lassen, dass sie Wünsche haben, denen der Kapitalismus entgegensteht, und b) eine Plattform für die Erfassung, Artikulation und damit schrittweise Verwirklichung dieser Wünsche zu stellen. Dabei geht es sowohl um das Schreiben neuer Texte als auch um das Lesen von Texten. Beides soll einerseits zur Erkenntnis beitragen, dass opponiert werden muss, andererseits zur aktiven Umsetzung dieser Opposition anstiften. Dieser Aspekt – die starke und unmittelbare Integration des Schreibens und Lesens von literarischen Texten in politische Oppositionshandlungen sowie die Betrachtung der Literatur als Medium zu entweder politischer Erkenntnis oder Aussage – ist praktisch seit Beginn der literaturwissenschaftlichen Erfassung des 2

Ebd.

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Zeitraums um 1968 als prägend für den Umgang der »68er« mit Literatur herausgestellt worden. Durchgesetzt hat sich in diesem Rahmen das literaturhistorische Stichwort der »Politisierung der Literatur«.3 Schneiders Text lässt aber auch weitere Aspekte der gedachten Berührung von literarischem Schreiben und politischer Opposition erkennen. Es fällt auf, dass beide Seiten in einem Entwurf wie dem von Schneider gleichermaßen Bewegung stiften und selbst in Bewegung geraten sollen. Literarisches Schreiben transportiert die Wünsche der Schreibenden aus der Unterdrückung in die Literatur und macht sie damit einem kommunikativen Zusammenhang zugänglich. Schriftstellerinnen und Schriftsteller verlassen ihren Schreibtisch und bewegen sich zu politischen Zielgruppen (»Arbeiter, Schüler und Studenten«) hin, diese wiederum werden in die Sphäre der Rezipierenden und Produzierenden von Literatur aufgenommen. Politische Anforderungen holen Wissen und Erkenntnisse aus bestehenden literarischen Texten hervor »auf die Straße«, wo diese die Grenze zwischen »Möglichkeit« und »Wirklichkeit« überwinden helfen sollen, also Impulse zur aktiven Veränderung stiften sollen. Nicht nur Literaturproduktion und -rezeption sollen also Zielsetzungen aus dem Bereich der oppositionellen Politik integrieren (wie die Bekämpfung des Kapitalismus), sondern umgekehrt die Politik auch Erkenntnisse, Ressourcen und Verfahrensweisen des literarischen Schreibens und Lesens. Elemente beider Bereiche werden mobil, die Grenzen von Literatur und politischer Opposition öffnen sich in beide Richtungen. Auch diese Beobachtung wird früh in der Szene selbst gemacht – unter anderem in Karl Markus Michels berühmtem Essay Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These im Kursbuch 15 von 1968. Michel spricht dort einerseits davon, dass Protest notwendigerweise »Ansteckung durch sinnlichen

3

Beispielsweise konstatieren Richard Hinton Thomas und Keith Bullivant bereits 1975, dass ab der Mitte der 1960er Jahre »die laute Forderung in den Vordergrund getreten war, die Literatur müsse ›politisiert‹ werden.« (Thomas/Bullivant: Westdeutsche Literatur, S. 51). Hans Christoph Buch nennt ebenfalls 1975 den ersten deutschen Sammelband zum Thema Bilanz der Politisierung (Buch, Hans Christoph (Hg.): Die Literatur nach dem Tod der Literatur. Bilanz der Politisierung. Hamburg 1975 (= Literaturmagazin 4)). Vgl. außerdem später Schnell, Ralf: Politisierung der Literatur, in: Ders.: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart 1993, S. 310-391 und Hubert, Martin: Politisierung der Literatur – Ästhetisierung der Politik. Eine Studie zur literaturgeschichtlichen Bedeutung der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M. 1992.

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Reiz«4 brauche, aber auch über »sinnliche« und »ästhetische« Varianten des Protests. Im ersteren Fall gelänge es also durch die sinnlichen Qualitäten eines literarischen Texts, im Bereich der politischen Opposition eine Handlung anzuregen – es ist also nicht unbedingt nur der politische Inhalt eines literarischen Textes, der ihn zum Teil einer politischen Handlung macht, sondern seine Eigenschaften als ästhetisches Produkt. Im zweiten Fall hätten die Oppositionellen bereits Verfahrensweisen der Kunst adaptiert – ihre politischen Handlungen befänden sich also selbst in der Nähe eines ästhetischen Produkts. Michel geht in seinen Überlegungen, wie oppositionelle Politik und literarisches Schreiben interagieren können, einen Schritt weiter als Schneider: In seiner Betrachtung des Verhältnisses kann und soll das literarische Schreiben nicht nur seine Motivation und Funktion aus dem politischen Protestgeschehen beziehen und die Politik ihre Sacherkenntnisse aus literarischen Texten, sondern Protest und Literatur können auch auf der Ebene des ästhetischen Ausdrucks voneinander lernen: Daß es anders ist, hat der Protest der jungen Generation nur offenkundig werden lassen – nicht durch eine neue Literatur, aber durch neue Ausdrucksformen, die den literarischen Avantgardismus senil erscheinen lassen und die progressive westliche Literatur insgesamt an ihre Ohnmacht gemahnen, die aus ihrer Privilegiertheit folgt.5

Michel macht die wichtige Beobachtung, dass politische Situationen und Verfahren neben Zielen und Funktionsrahmen auch explizit ästhetische Impulse stiften können – und zwar ggf. bessere als die sich als oppositionell verstehenden professionellen Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Sein Beispiel sind die bunten, expressiven, als sinnlich und »schön« erlebten Straßendemonstrationen. Er hält dabei diese wechselseitigen Einflüsse und Verwischungen für literarisch und politisch zukunftsweisend, insofern er sie selbst zum oppositionellen Akt erklärt: Sie rütteln grundsätzlich an überholten, bürgerlichen Abgrenzungen und starren Dichotomien (Arbeit/Freizeit, Politik/Kunst, Kunst/Alltag…). 6 Der zukünftige Weg wird hier in einer Entgrenzung von Literatur und Politik, von Schreibhandlung und Protesthandlung gesehen. Insofern hat Simon Kießling recht, wenn er in der Retrospektive davon spricht, dass Entwürfe wie der Michels mit Schlag-

4

Michel, Karl Markus: Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These [1968], in: Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Kursbuch 11-15 (Sonderausgabe des Suhrkamp Verlags). Frankfurt/M. 2008, S. 169-186, hier S. 183.

5

Ebd., S. 179.

6

Vgl. ebd., S. 180f.

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wörtern wie »Politisierung der Literatur« und »Ästhetisierung der Politik« unzureichend umschrieben sind, da sie beide Kategorien eigentlich auflösen wollen: In letzter Instanz handelte es sich weder um eine Politisierung der Kunst noch um eine Ästhetisierung des Politischen, sondern um die Aufhebung sowohl des Politischen wie des Ästhetischen in eine neue, politisierte und ästhetisierte Form kollektiver Bedürfnisbefriedigung (alltäglichen Lebens).7

Literarisches Schreiben und politisches Handeln sollen aufgehen in einer neuen, dritten Form, die diese Abgrenzungen gar nicht mehr denkt und vornimmt – »ein neues Stadium, das seine Sprache erst noch finden muss«8, wie Michel es bezeichnet. Fortschrittliche und zukunftsweisende Produkte entstehen in einem neu zu erschließenden Zwischenraum. Die von Kießling erwähnte, an die Literatur gestellte Anforderung einer Bedürfnisbefriedigung betrifft übrigens – in unterschiedlicher Gestalt – die Modelle von Michel und von Schneider gleichermaßen: Bei Schneider soll die Kunst Wünschen und Bedürfnissen Ausdruck verleihen, indem sie »die konkreten Bilder der Wirklichkeit gegen die konkreten Bilder der Möglichkeiten hält, die darin stecken und ersticken«. Der künstlerischen und vor allem literarischen Darstellung kommt es also zu, unerfüllte Bedürfnisse erst einmal spürbar zu machen, indem »Wirklichkeit« und »Möglichkeiten« des gesellschaftlichen Zusammenlebens möglichst »konkret« inhaltlich benannt werden. Bedürfnisbefriedigung auf literarischer Ebene ist dort der Katalysator für politische Opposition und in letzter Konsequenz Bedürfnisbefriedigung auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene. Bei Michel dienen politische Opposition und literarisches Schreiben beide der Befriedigung derselben Bedürfnisse. Damit sowohl Literatur und Politik wieder Bedürfnisse erfüllen können, müssen sie ihre Grenzen öffnen und sich unter gemeinsamen Zielen und Verfahren vereinigen und durchmischen. Die beiden Texte von Schneider und Michel zeigen exemplarisch, dass die Interaktion von literarischem Schreiben/Lesen und politischer Handlung zeitgenössisch höchst bewusst geplant, theoretisiert und in Szene gesetzt wird. Zu sehen sind auf kleinem Raum zwei zentrale, wenn auch nicht immer trennscharf voneinander abgrenzbare Entwürfe für diese Interaktion: Entweder soll das literarische Schreiben aktiven Einfluss auf das politische Geschehen nehmen, indem es ein Medium dafür stellt, politische Ziele zu erkennen und zu artikulieren oder 7

Kießling, Simon: Die antiautoritäre Revolte der 68er. Postindustrielle Konsumgesellschaft und säkulare Religionsgeschichte der Moderne. Köln 2006, S. 133.

8

Michel: Ein Kranz für die Literatur, S. 185.

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politische Interessensgruppen zu integrieren (Schneider). Oder die Konzepte von Kunst (und damit Literatur) und Politik weichen einer verschmolzenen Form, die schon in ihrer Existenz politisch ist, insofern sie Autoritätsstrukturen auf einer tiefergehenden Ebene angreifen kann (Michel).9 Im kulturellen Text der »68er« mangelt es nicht an Beispielen, in denen beide Varianten praktisch erprobt werden. In den ersten Bereich fallen etwa um 1968 beliebte Formate wie Protestsongs, Straßentheater10 und Agitprop-Lyrik.11 Für den zweiten Fall denke man etwa an Joseph Beuys’ Konzept der »sozialen Plastik«12, die politisch-sinnlichen 9

Dies ist einer der Aspekte, in dem viele um 1968 verfolgte künstlerische Konzepte Ähnlichkeiten mit denen der Avantgarden der 1920er Jahre aufweisen. Susanne Komfort-Hein hat diese Verbindung der »surrealistische[n] Entwürfe zwischen Kunst und Leben« zum »Textraum 1968« auf der Ebene kulturtheoretischer Positionen ausführlich nachgezeichnet und Spuren, Weiterentwicklungen sowie Widerlegungen u.a. bei Adorno, Marcuse und Enzensberger aufgezeigt (Komfort-Hein: Flaschenposten, S. 191 sowie S. 204-238). Eine weitere Parallele liegt im ähnlichen Umgang mit symbolischer Gewalt. Diese Verbindung ist schon zeitgenössisch bemerkt worden – unter anderem bringen Peter Wapnewski und Eberhard Lämmert in ihren Gerichtsgutachten das Burn, warehouse, burn-Flugblatt der Kommune 1 mit surrealistischen und futuristischen Konzepten in Verbindung (Gutachten abgedruckt in: Sprache im technischen Zeitalter 28 (1968), H. 4, S. 321-329 sowie S. 338-342). Systematisch aufgearbeitet wird dieser Zusammenhang von Thomas Hecken: Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF. Bielefeld 2006, bes. S. 63-73.

10

Zum Konzept des Straßentheaters und seiner deutlichen Priorisierung der politischen »Analyse, Agitation und Aktivierung« durch »aufklärend-aktivierende« Texte vor der szenischen Gestaltung durch ästhetische Mittel vgl. Kraus, Dorothea: Straßentheater als politische Protestform, in: Klimke/Scharloth (Hg.): Handbuch, S. 89-100, hier S. 91.

11

Ulla Hahn hat diese Art von Texten unter dem Begriff »operative Literatur« subsummiert. Kennzeichnend ist für sie, »daß sie unmittelbar durch die politischgesellschaftliche Realität veranlaßt und mit der Intention geschrieben und verbreitet worden ist, auf diese Realität unmittelbar einzuwirken« (Hahn, Ulla: Literatur in der Aktion: zur Entwicklung operativer Literaturformen in der Bundesrepublik. Wiesbaden 1978, S. 9). Entscheidend ist also, dass ein Text in einem konkreten politischen Zusammenhang explizit verortet wird sowie dass seine politische Funktion eindeutig definiert wird und auch Priorität vor Fragen der ästhetischen Darstellung erhält.

12

Beuys betrachtet jede Form des kreativen Schaffens als eine Form der Ausübung von Demokratie, wobei auch das gesellschaftliche Zusammenleben eine »lebende

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Aktionen der Kommune 1 (u.a. unter dem Begriff der »Spaßguerilla«) 13 und Günter Wallraffs Sozialreportagen 14 : Jede dieser Erscheinungen bezieht einen Substanz« ist, die der Einzelne gleich einem Kunstwerk plastisch gestalten kann: »Es bleibt im Grunde dabei, daß es sehr wichtig ist, diesen Kunstbegriff zu entwickeln, wo jeder lebende Mensch ein Gestalter einer lebendigen Substanz werden kann. Das ist der soziale Organismus. […] Man braucht dann gar nicht mehr unbedingt dieses Wort ›Kunst‹. Das Wort ›Kunst‹ bezieht sich dann auf etwas viel Größeres, und das andere ist einfach eine Darstellung in Material, in Ton, in Holz […].« (Rappmann, Rainer: Interview mit Joseph Beuys [1976], in: Harlan, Volker/ders./Schata, Peter: Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys. Achberg 1984, S. 10-25, hier S. 20f.). Auch in diesem Modell der Interaktion von Kunst und politischer Opposition wird eine Verwischung der Grenzen angestrebt, zugunsten einer Schaffensform, die mit Mitteln der ästhetischen Gestaltung das gesellschaftliche Zusammenleben modifiziert und weiterentwickelt. 13

Die öffentliche Selbstinszenierung und Kommunikation der Kommune 1 arbeitet stark mit symbolischen Handlungen und aus der Kunst bekannten Mitteln und Verfahren (Satire, Verfremdung, Parodie). Aktionen wie das »Pudding-Attentat« und spätestens der als »Moabiter Seifenoper« inszenierte Prozess gegen Fritz Teufel und Rainer Langhans befinden sich in einem Zwischenraum von politischer Aktion und künstlerischer Performativität (vgl. dazu auch Holmig, Alexander: Die aktionistischen Wurzeln der Studentenbewegung. Subversive Aktion, Kommune 1 und die Neudefinition des Politischen, in: Klimke/Scharloth (Hg.): Handbuch, S. 107-118, bes. S. 113-117).

14

Ein wichtiger Aspekt der Entgrenzung von Politik und literarischem Schreiben in Wallraffs Schreiben ist, dass es sehr direkte Störungen hervorruft: Beispielsweise werden Großkonzerne gezwungen, auf etwas zu reagieren, das empfindlich in ihre realen Abläufe und auch ihr politisch-gesellschaftliches Image eingreift, aber gleichzeitig ein literarischer Text ist. Die Ambivalenz von Wallraffs Reportagen zwischen direkter politischer Aktion und literarischem Text und auch seine Selbstinszenierung zwischen Aktivist und Schriftsteller werden u.a. im Autorenbuch 14 deutlich: Wallraff selbst zieht die Bezeichnung »als Journalist, als Reporter oder Dokumentarist« der des Schriftstellers oder Literaten vor. Gleichzeitig weisen vor allem seine Reportagen der 1960er Jahren eindeutig literarisierte Elemente auf, er tritt in literarischen Kreisen auf und wird auch klar als Vertreter einer neuen Literatur rezipiert (u.a. von Hans Magnus Enzensberger im Kursbuch 15). »Sein Erfolg – nicht die Verkaufszahlen, sondern die öffentliche Resonanz – ist im literarischen Kontext zu sehen.« (Hahn, Ulla/Töteberg, Michael: Günter Wallraff. München 1975 (= Autorenbücher 14), S. 15 und 19f.).

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Teil ihres Potentials zur Provokation daraus, dass sie verweigert, sich zweifelsfrei einem der beiden Bereiche Kunstschaffen oder politische Aktion zuzuordnen. Mit den bisherigen Ausführungen sind zwei dominante theoretische Konzepte oder Ausrichtungen der Zeit umrissen, die auch in der Retrospektive gern herangezogen werden, um das Verhältnis der »68er« zum literarischen Schreiben abzubilden. Was sie nicht abbilden, sind jedoch die komplizierten Verbindungen, die sich zwischen der gelebten politischen Oppositionskultur und der zeitgenössischen Schreib- und Lesepraxis ergeben. Im Prozess des Schreibens, Lesens und politischen Agierens sind, schaut man sich kulturelle Texte an, in der Regel weder die Zuständigkeiten und Funktionen so klar definiert noch die Grenzen und ihre Überwindung so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint und wie auch zeitgenössisch oft angenommen und geplant wurde. Vielmehr bedürfen, so meine These, viele Funktionen, Grenzen und Öffnungen umfangreicher Aushandlungen, Experimente und Verwerfungen – während sich andererseits signifikante Verwischungen und Transfers ergeben, die nicht unmittelbar bemerkt werden. Die literarischen Texte sträuben sich Schreibenden und Lesenden gegenüber an unerwarteten Stellen gegen den Einsatz als Handwerkszeug der politischen Opposition, gegen Be- und Entgrenzungen und erweisen sich an anderen Stellen überraschenderweise als längst offen für Impulse der politischen Oppositionskultur, oder als Lösungsträger für Fragen, die außerhalb der Literatur gestellt worden sind. Dies hat zur Konsequenz, dass das Interaktionsverhältnis von Schreib- und Lesekultur und politischer Oppositionskultur auf der Textebene häufig in Form von Widersprüchen, Unklarheiten und mehr oder weniger expliziten Friktionen in Erscheinung tritt. Ein einzelner kultureller Text (egal ob literarisch oder nicht) kann eine Vielzahl möglicher und auch konkurrierender Positionen und Verfahren enthalten und auch praktisch umsetzen. Die Texte von Peter Schneider und Karl Markus Michel stellen zwei explizite und gezielte Annäherungen an das Interaktionsverhältnis dar, die einem sehr literaturnahen Bereich der historischen Kultur entstammen und deren Autoren den professionellen Literaturbetrieb sehr genau kennen. Öffnet man den Blick auf den kulturellen Text der historischen Kultur etwas weiter, sieht man jedoch, dass derlei Interaktionen auch in anderen Bereichen der politischen Oppositionskultur eine Rolle spielen. Bücher und literarische Texte sowie Lese- und Schreibakte sind auffällig oft Thema im Kontext von politischen Handlungen und treten an den unterschiedlichsten Stellen in Erscheinung. Bevor ich zu einigen solcher Beispiele komme, stellt sich die Frage, wie das in dieser Arbeit angenommene Gegenüber der politischen Oppositionshandlungen beschaffen ist: Was steht auf der Seite des »literarischen Schreibens« im

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analytischen Fokus, was interagiert genau mit anderen kulturellen Texten der politisch-oppositionellen Entstehungsumgebung? Grundsätzlich fasst die Arbeit den Begriff des »literarischen Schreibens« sehr weit: Er umfasst Interaktionen von historischen wie fiktiven literarischen Schreibprozessen und Schreibsituationen mit solchen politischer Opposition ebenso wie das Denken und Schreiben über literarisches Schreiben und politische Oppositionshandlungen, Lektüreakte im Rahmen von Politik, den Status von geschriebenen, gelesenen und kanonisierten Büchern in der politischen Kultur. Aus mehreren Gründen scheint mir der Oberbegriff des »literarischen Schreibens« diese Auswahl besser zu umfassen als der der »Literatur«. Die gezeigte Auswahl umfasst sowohl den Produktionswie Rezeptionsprozess von literarischen Texten sowie zusätzlich deren Ergebnis, das Geschriebene und Lesbare, die »Prozeßspur« 15 . Dass Produktionsprozess und Produkt unter den gemeinsamen Begriff des »Schreibens« gefasst werden, lässt sich mit Blick auf die untersuchten Texte ebenso wie auf die gewählte Methode begründen: Zunächst zeichnen sich alle drei untersuchten literarischen Texte dadurch aus, dass sie die Prozesse und Umstände ihres eigenen Geschrieben-Werdens in den Vordergrund stellen.16 Sie zeichnen aktiv die Spuren des Arbeitsprozesses an sich auf, planen also selbst Verwischungen zwischen Ent15

Zanetti, Sandro: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Frankfurt/M. 2012, S. 7-34, hier S. 15.

16

Mit Rüdiger Campe ausgedrückt liegt allen drei Texten eine »Schreib-Szene« zugrunde: In einer »Schreib-Szene« wird Schreiben betrachtet als Komplex, der von unterschiedlichen Faktoren (Schreibwerkzeuge, Schreibumgebung, Zeichensysteme, Sprachkonventionen, Ideen etc.) bedingt wird, und zwar anhand von Texten, in denen diese Faktoren mit ihren Problematiken und Eigenheiten explizit textkonstitutiv sind. Martin Stingelin definiert die »Schreib-Szene« in Anschluss an Campe wie folgt: »Wo sich dieses Ensemble [= aus verschiedenen Faktoren des Schreibens, JC] in seiner Heterogenität und Nicht-Stabilität an sich selbst aufzuhalten beginnt, thematisiert, problematisiert und reflektiert, sprechen wir von ›Schreib-Szene‹.« (Stingelin: ›Schreiben‹, S. 15). Solche »Schreib-Szenen« lassen sich auf Basis verschiedenen Materials untersuchen: Häufig werden Skizzen, Entwürfe und anderes Archivmaterial, das Anhaltspunkte über die Materialität des historischen Schreibprozesses liefert, herangezogen. Doch auch das Kommentieren und Erzählen von Schreibprozessen innerhalb des publizierten Textes, worauf in dieser Arbeit der Schwerpunkt liegt, bietet wertvolle Aufschlüsse. Vgl. zur »Schreib-Szene« auch Campe, Rüdiger: ›Die Schreibszene, Schreiben‹, in: Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/M. 1991, S. 759-772).

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stehungsprozess und Endprodukt ein. Beide sollen gleichzeitig lesbar und sichtbar sein – und beide können mit dem Bereich der politischen Opposition interagieren.17 »Literarisches Schreiben« schließt bei allen drei Texten Handlungen des Schreibens und des Lesens, des Zitierens und Dokumentierens, das Nachdenken über die zukünftige Beschaffenheit und Rezeption des Endprodukts ein – und es bringt nicht nur den Text, sondern auch das jeweilige Subjekt »Schriftsteller« hervor.18 Nicht zuletzt inszenieren vor allem die Texte von Brinkmann und Vesper auch in ihrem äußeren Aufbau, dass ihre Entstehung vom Prozess des Schreibens mit seinen verschiedenen Bedingungsfaktoren stärker geleitet und dominiert wird als z.B. von einem klassisch konstruierten Plot mit Spannungsbogen und definiertem Anfang und Ende. Zusätzlich passt es zu dem der Arbeit zugrunde liegenden Literaturbegriff von Stephen Greenblatt, dass Prozess und Produkt zusammengefasst werden: Greenblatt geht, wie bereits eingangs erläutert, davon aus, dass der »Schreibprozess« an einem literarischen Text zeitlich offen ist, d.h. sich weit vor der Niederschrift des ersten Wortes ebenso wie über den Abschluss der Niederschrift hinaus erstreckt. Jene beiden Zeitpunkte, die 17

Die Bezugnahme von Schriftstellerinnen und Schriftstellern auf ihren eigenen Schreibprozess und die aktive Dokumentation desselben im Text kommen als Verfahren literaturhistorisch natürlich schon früher vor. Die von Martin Stingelin herausgegebene Reihe Zur Genealogie des Schreibens zeigt eindrucksvoll, dass die Schreib-Szene ein epochenübergreifendes Phänomen ist. Jedoch tritt es in Texten der 1960er und 1970er Jahre besonders häufig auf – in operativen Textformaten ebenso wie später in Texten der Neuen Subjektivität und der beginnenden Postmoderne. Auch die Literaturwissenschaft entdeckt in dieser Zeit den Schreibprozess als gleichrangiges Forschungsobjekt zum abgeschlossenen Text (etwa im Rahmen der critique génétique, die sich für Spuren des historischen Schreibprozesses, der Textgenese, im literarischen Text interessiert).

18

Die vom Almuth Grésillon in Anschluss an Roland Barthes formulierte These, dass der Schreibprozess der »Geburtsort des Schriftstellers« als Schriftsteller ist, ist für die zu untersuchenden Texte von besonderer Wichtigkeit, insofern viele schriftstellerische und auch politisch-gesellschaftliche Positionierungen und Inszenierungen in ihnen explizit durch Entscheidungen und Strategien in ihrem Entstehungsprozess zum Ausdruck gebracht werden, nicht erst durch den fertigen Text (Grésillon, Almuth: Was ist Textgenetik?, in: Baurmann, Jürgen/Weingarten, Rüdiger (Hg.): Schreiben. Prozesse, Prozeduren und Produkte. Opladen 1995, S. 288-319, hier S. 308. Vgl. ebenfalls: Hoffmann, Thorsten/Langer, Daniela: Autor, in: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart 2007, S. 131-170, bes. S. 149ff.).

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gemeinhin als Eckdaten für das Produkt literarischen Schreibens gelten19, sind bei Greenblatt relativ unerheblich, da sein Modell von »literarischem Schreiben« vorausgehende Lektüreakte an kulturellen Texten ebenso gleichwertig einschließt wie an das Geschriebene anknüpfende kulturelle Texte. Greenblatts »representation«, als die ein literarischer Text in Erscheinung tritt, ist immer nur ein grob umreißbares, im Prozess befindliches kulturelles Produkt. Unter dieser Voraussetzung ist es auch legitim, Lektüreakte und Schreibakte unter dem Oberbegriff »literarisches Schreiben« zu subsummieren: Wer auf einen gelesenen Text reagiert, trägt damit zur Kulturpoetik dieses Textes bei. Als Herausforderung erscheint auf den ersten Blick der unterschiedliche Grad an Literarizität, den die unter dem Stichwort »literarisches Schreiben« aufgezählten Aspekte besitzen: Das »Literarische« an Stichworten wie »Bücher«, »Kanon« und »Dichtung« ist unbestritten und einem sehr engen, normativen Literaturbegriff verpflichtet. Doch auch das Lesen von Marx-Texten, das Schreiben von politischen Essays und der Brief aus dem Gefängnis werden unter dem Oberbegriff des »literarischen Schreibens« erscheinen – in erster Linie, weil sie zeitgenössisch in die Nähe des literarischen Schreibens gerückt werden. Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller weiten, oft im Kontext politischer Argumentation, ihre Schreibprojekte in die Randbereiche eines konservativen Literaturbegriffs aus und bemühen sich aktiv um die Vermischung von literarischem Schreiben und »anderem« Schreiben. Genau in dieser Zeit geschieht also ein Großteil der praktischen Ausweitung von Literatur und Literarizität (die wissenschaftliche folgt etwas zeitversetzt), die den weiten Literaturbegriff vieler heutiger Forschungsansätze vorbereitet. Betrachten wir also einige Beispiele, wie ein solchermaßen umfassend verstandenes »literarisches Schreiben« im direkten Umfeld der politischen Opposition in Erscheinung tritt: Dadurch, dass viele Akteurinnen und Akteure der politischen Opposition aus dem akademischen Milieu stammen, scheint auch bei solchen, die nicht im Literaturbetrieb aktiv sind, immer wieder eine gewisse Kanonkenntnis durch. Elemente aus dem bildungsbürgerlichen Leserepertoire werden als gezielte Provokation zitiert, modifiziert oder umgedeutet. So ist etwa ein Transparent einzuordnen, das nach den Ereignissen des 2. Juni 1967 den amtierenden Bürgermeister Heinrich Albertz, in Anspielung auf Goethes Faust I, mit 19

Vgl. z.B. im RLW: »Bei der Produktion von Texten ist diese Technik [= das Schreiben, JC] eingebettet in einen größeren Handlungszusammenhang, der von der Konzeption bis zur Publikation reicht.« (Stingelin, Martin: Schreiben, in: Müller, JanDirk (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3. Berlin 2003, S. 387-389, hier S. 387).

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der Parole »Heinrich, mir graut vor dir« empfängt.20 Eine ganz besondere Beziehung gehen im kulturellen Text auch Revolutionäre und das Medium Buch ein. So ist »1968« eine historische Kultur, die ein Minihandbuch des Stadtguerilleros (Carlos Marighella 1967; dt. 1970), ein Revolutions-Lexikon: Taschenbuch der außerparlamentarischen Opposition (Peter Weigt 1968) sowie ein Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen (Raoul Vaneigem 1967; dt. 1973) kennt. Untergrundkämpfer, Revolutionär und Lebenskünstler zu sein scheint sehr kompatibel mit einer Selbst- oder Fremdinszenierung als lesendes oder schreibendes Subjekt zu sein. Dies wird bestätigt, schaut man sich bekannte revolutionäre Leitfiguren der »68er« an. Es fällt auf, dass sie in der Öffentlichkeit relativ häufig mit dem Lesen und Schreiben von Texten in Verbindung gebracht werden. Beispielsweise erscheinen im Kursbuch Gedichte, Prosatexte und Reden z.B. von Mao Zedong21, Fidel Castro22 und Stokeley Carmichael23; Ernesto Che Guevaras Bolivianisches Tagebuch (1967; dt. 1968) und Eldridge Cleavers politisch-autobiographische Textsammlung Seele auf Eis (1967; dt. 1969) werden zu Verkaufsschlagern in oppositionellen Kreisen. Offensichtlich ist es »1968« nicht nur von Interesse, was die wichtigen Handlungsträger tun, sondern auch, was und wie sie schreiben. Darüber hinaus sei an das bekannte Bild von Che Guevara erinnert, auf dem er, Goethe lesend, mit Zigarre auf einem Feldbett liegt. 24 Schreiben und Lesen von Texten gehört, das suggerieren all diese Beispiele, auch in Extremsituationen fest zum revolutionären Handeln und (das suggerieren sie implizit) bereichert es und macht es erfolgreich. Dass Revolutionärinnen und Revolutionäre mit Büchern als ein vertrauter Anblick angenommen werden, zeigt auch ein Auszug aus der anarchistischen Berliner Zeitschrift Fizz 25 von 1971: Hier wird in satirischem Ton im Rahmen eines »Heimwerkertipp[s] […]

20

So dokumentiert im Zeitungsartikel 50 ›Ordner‹ pro Demonstrant, in: Die Welt vom 14.06.1967 (abgedruckt in: Baumann, Michael: Wie alles anfing [1975]. Hamburg 1998, S. 33).

21

Mao Zedong: Ein unveröffentlichtes Gedicht, in: Kursbuch 15 (1968), S. 127f.

22

Castro, Fidel: Rede vom 13. März 1967, in: Kursbuch 11 (1968), S. 103-117.

23

Carmichael, Stokeley: Black Power, in: Kursbuch 16 (1969), S. 111-130.

24

Abgedruckt u.a. in: Siepmann, Eckhard (Hg.): CheSchahShit. Die sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow. Hamburg 1986, S. 120.

25

Fizz erschien nur 1971 in insgesamt zehn Ausgaben. Der zitierte Auszug stammt aus der dritten Ausgabe; alle zehn Ausgaben sind online verfügbar in der Datenbank Materialien zur Analyse von Opposition (MAO) (http://www.mao-projekt.de/BRD/ BER/ANA/Berlin_Fizz.shtml (abgerufen am 27.07.2015)).

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von unserem Leser Eldridge C., Algier«26 erklärt, wie man einen kleinen Brandsatz bauen und tarnen kann. Das als unauffällig empfundene Attribut, das der/die Ausführende des politischen Gewaltakts zur Tarnung des Brandsatzes mit sich führen soll, ist ein Buch – und der empfohlene Anschlagsort die Bibliothek des ideologischen Feindes. Bücher als revolutionäre Attribute erscheinen auch auf dem Flugblatt Wer Beat macht stiehlt der Kommune 1 von 1967: Dort wird angeführt, im besetzten Germanistischen Seminar der FU Berlin ein Plakat gesehen zu haben mit der Aufschrift »Bücherklauen ist konterrevolutionär«.27 Auch dieses Plakat attestiert dem Buch eine enge Verbindung zur politischen Opposition, denn es geht nicht um das Stehlen an sich als verwerflichen Akt, sondern genau um das Stehlen von Büchern. Wer Bücher stiehlt, schadet der Revolution – offensichtlich indem er revolutionären Seminaristen die Möglichkeit nimmt, sie zu lesen. Dass Bücher für den revolutionären Erfolg als notwendig erachtet werden, zeigt sich auch an Briefen, die um 1968 an Gefängnisinsassen aus der APO geschrieben werden. Ein zentrales Thema ist fast immer die aktuelle Lektüre: Was hat der/die Inhaftierte gerade gelesen? Was soll an Büchern geschickt werden?28 Selbst von der gewalttätigen Minderheit der »68er«, der RAF, sind uns lange Bestelllisten von Büchern sowie unablässige literarische und semi-literarische Textproduktion aus den Zellen von Stammheim geläufig. Wer im Gefängnis sitzt, übt seine politische Aktivität weiter über das Mittel des Lesens und Schreibens aus.29 Auch Mi26

Angespielt wird auf den Black Panther-Aktivisten Eldridge Cleaver (1935-1998), der sich 1971 im algerischen Exil befindet.

27

Kommune 1: Wer Beat macht, stiehlt (Flugblatt vom 08.06.1968), abgedruckt in: Miermeister, Jürgen/Staadt, Jochen (Hg.): Provokationen – die Studenten- und Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1965-1971. Darmstadt 1980, S. 35. Das Plakat selbst ist meines Wissens nicht erhalten.

28

Sehr gut zu sehen z.B. im Briefwechsel zwischen Gudrun Ensslin und Bernward Vesper während Ensslins Untersuchungshaft (vgl. Ensslin, Gudrun/Vesper, Bernward: ›Notstandsgesetze von deiner Hand‹. Briefe 1968/1969, hg. von Caroline Harmsen, Ulrike Seyer und Johannes Ullmaier. Frankfurt/M. 2009. Im Folgenden im Text zitiert mit »NG« und Seitenzahl).

29

Die kulturelle Codierung »Haftzeit = Literaturzeit« kommt auch in Bernward Vespers Die Reise zum Tragen: Der in die geschlossene Psychiatrie eingewiesene Protagonist vergleicht seinen neuen sozialen Status mit dem eines Häftlings und setzt seine politische Aktivität fort, indem er schreibend »demonstriert«: »Heute ist der 1. Mai seit sechs Jahren, an dem ich nicht an der Maidemonstration teilnehme – ich nehme Anteil, auf die mir jetzt vorgeschriebene Weise – schreibend!« (Vesper,

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chael »Bommi« Baumann (Bewegung 2. Juni) schreibt in seinen Memoiren darüber, wie er durch das Schreiben seine politische Tätigkeit aus dem Gefängnis heraus weiterführen konnte: »Aus dem Knast habe ich Briefe geschrieben, an Leute draußen, die wurden veröffentlicht. Das war dann noch so meine Rolle, die ich spielen konnte.« 30 Außerdem wird an mehreren Stellen deutlich, dass Baumann seinen Gefängnisaufenthalt nutzt, sich lesend politisch zu bilden und auch »Knastagitation« zu betreiben, indem er andere Gefangene mit politischer Lektüre versorgt.31 Lesen und Schreiben gelten als Mittel, im Gefängnis mit der politischen Szene in Kontakt zu bleiben und auch, die Zeit der Inhaftierung politisch sinnvoll zu nutzen. Der spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann schreibt sogar 1964 an seinen Mitstreiter in der Subversiven Aktion, Frank Böckelmann, über eine riskante politische Aktion: »In dem Moment, wo wir viel Leute zählen, können wir auf ein paar immer verzichten, die eben dann im Gefängnis die Bücher lesen müssen, die sie bis jetzt zu faul waren zu lesen.«32 Der Aufenthalt im Gefängnis ist sozusagen eingeplante »Lektürezeit« – wer gerade nicht am Straßenkampf teilnehmen kann, macht sich politisch schlagkräftiger durch die Lektüre von Büchern. Bücher sowie lesende und schreibende Menschen scheinen also erst einmal ein geläufiges und auch erwünschtes Phänomen innerhalb der politischen Oppositionskultur zu sein, auch außerhalb der Literaturszene im engeren Sinne.33 Wie oft im Rahmen von politischen Oppositionshandlungen an LeBernward: Die Reise [1977], hg. von Jörg Schröder. Hamburg 2009, S.576f. Im Folgenden im Text zitiert mit »DR« und Seitenzahl.) 30 31

Baumann: Wie alles anfing, S. 95. »Ich habe den Leuten, die so in den Zellen um mich rum lagen, auch politische Bücher gegeben. Das sind ja alles normale Kriminelle. Ich habe einfach Knastagitation gemacht.« (ebd., S. 101).

32

Brief von Dieter Kunzelmann an Frank Böckelmann vom 04.01.1964, abgedruckt in: Böckelmann, Frank/Nagel, Herbert (Hg.): Subversive Aktion: Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern. Frankfurt/M. 2002, S. 129.

33

Auch wenn retrospektiv auf APO und »68er« eingegangen wird, klingen häufig ihr »Schriftvertrauen und die projektive Lesefreudigkeit« (Scherpe, Klaus: Belles lettres/Graffiti. Einleitung, in: Ott, Ulrich/Luckscheiter, Roman (Hg.): Belles lettres/Graffiti: soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger. Marbach/N. 1998, S. 9-16, hier S. 9) als typische Merkmale an. Thomas Hecken hat z.B. darauf aufmerksam gemacht, dass »1968« eine auffällig große Anzahl an schriftlichen Äußerungsorganen (Zeitschriften, Zeitungen, Manifeste…) neu entstanden ist (vgl. Hecken, Thomas: Gegenkultur und Avantgarde 1950-1970: Situationisten, Beatniks, 68er. Tübingen 2006, S. 16f.). Betrachtet man die Quellenlage, die der

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se- und Schreibakte gedacht wird, zeigt sich auch in ihrer metaphorischen Austauschbarkeit: Nicht nur können Texte im öffentlichen Diskurs metaphorisch zu Akten politischer Opposition oder sogar politischer Gewalt werden (erinnert sei an Rolf Dieter Brinkmanns »Maschinengewehr«-Drohung gegenüber Marcel Reich-Ranicki34), sondern politische Handlungen können auch über Termini des Lesens und Schreibens ausgedrückt werden. Hans Magnus Enzensbergers be-

Forschung heute aus dem Umfeld der »68er« zur Verfügung steht, so lässt sich darüber hinaus sagen, dass es wahrscheinlich kaum eine andere historische Kultur gibt, deren Mitglieder noch zu Lebzeiten so akribisch und umfangreich ihre Textbestände in zahlreichen Quellenbänden erschlossen, kategorisiert und kommentiert haben wie die »68er«. Als einschlägige Beispiele seien exemplarisch die Bände von Jürgen Miermeister/Jochen Staadt (1980), Lutz Schulenburg (1998) und Wolfgang Kraushaar (1998) genannt. Die Quellenbände zeigen zum einen, dass dieser Zeitraum einen enormen Bestand an Text hervorgebracht hat, und zum anderen, dass seine generationalen Vertreterinnen und Vertreter sich ihm bis heute aufmerksam widmen. 34

Brinkmanns Verbalangriff auf Marcel Reich-Ranicki während einer Diskussionsrunde mit Kritikern in der Westberliner Akademie der Künste im November 1968 ist nicht im genauen Wortlaut dokumentiert. Am häufigsten wird er wie folgt zitiert: »Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie über den Haufen schießen!« (etwa in Bentz, Ralf et al. (Hg.): Protest! Literatur um 1968. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Marbach/N. 1998 (= Marbacher Kataloge 51), S. 248). Diese Variante wird von Brinkmanns damaligem Verleger Dieter Wellershoff bestätigt (vgl. Rüger, Wolfgang: Direkt aus der Mitte vom Nirgendwo. Bruchstücke zu Leben und Werk von Rolf Dieter Brinkmann, in: Geduldig, Gunter/Sagurna, Marco (Hg.): too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Vechta 2000, S. 67-88, hier S. 72). Reich-Ranicki selbst rekapituliert ihn wie folgt: »Kaum daß wir begonnen hatten, brüllte mich Brinkmann an – er sollte überhaupt nicht mit mir reden, sondern hier ein Maschinengewehr haben und mich über den Haufen schießen.« (Reich-Ranicki, Marcel: Gibt es eine Rolf-Dieter-BrinkmannRenaissance?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.05.2005, S. 36). Letztlich lässt sich nicht zweifelsfrei rekonstruieren, ob Brinkmann die Buch-Metapher tatsächlich verwendet hat. In diesem Zusammenhang wichtig ist jedoch vor allem, dass sie die dominanteste Überlieferungsvariante geworden ist – dass sie in der Retrospektive auf die Zeit als wahrscheinlich gilt.

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rühmte Forderung nach einer »politische[n] Alphabetisierung Deutschlands«35 in den Gemeinplätzen, die Neueste Literatur betreffend (1968) ist z.B. eine Metapher aus dem Bereich der Textproduktion und -rezeption, die für ein politisches Phänomen gewählt wird. Einige der zuvor genannten Beispiele lassen jedoch bereits eine andere Facette des Denkens und Sprechens über literarisches Schreiben und politische Opposition erkennen: Das Lesen im Gefängnis ist nur die dem Straßenkampf nachgeordnete Notlösung, im Flugblatt der Kommune 1 schwingt ein gewisser Spott über die Beschäftigung mit geklauten Büchern mit und Brinkmanns Maschinengewehr erfordert den Konjunktiv. Lesen und Schreiben sind auch Gegenstand eines ständigen unterschwelligen Misstrauens – oft wird unterstellt, dass ihr hoher Stellenwert ihren eigentlichen Einflussmöglichkeiten unangemessen sei. Eine zeitgenössisch sehr beliebte, in diesem Zusammenhang häufig verwendete Metapher ist der »zhǐ lǎohǔ« aus der Mao-Bibel, der »Papiertiger«. Beispielsweise greift Rudi Dutschke sie in seinen einleitenden Worten zur Diskussion auf dem Vietnamkongress 1968 auf. Dutschke spricht über seine Einschätzung der Lage in Vietnam und die Handlungsmöglichkeiten, die die Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer von Deutschland aus haben: Es gilt eigentlich, über Schwierigkeiten unserer Bewegung zu reden und nicht papierne Resolutionen, große Siegesmanifeste zu verkünden, es gilt zu problematisieren. Was ist erreicht, was ist nicht erreicht. […] Strategisch ist der Imperialismus [der US-Amerikaner in Vietnam, JC] ein Papiertiger, aber taktisch […] ist diese Situation miserabel, und taktisch ist diese Situation von uns als eine ungeheuer schwierige zu begreifen; sie hat nicht mit papiernen Resolutionen, sondern in der Tat mit einer Problematisierung der Situation und mit einer klaren Bestimmung unserer Solidarität und Aktionssolidarität zu beginnen.36

Dutschke lenkt den Blick der deutschen Bewegung in Bezug auf Vietnam weg von »papiernen Resolutionen« und Manifesten hin zu einer Bestandsaufnahme von Handlungen. Die Aggressoren in Vietnam können durch die Texte nicht wirksam bekämpft oder gestoppt werden, weil sie, zumindest nicht auf allen 35

Enzensberger, Hans Magnus: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend [1968], in: Ders. (Hg): Kursbuch 11-15, S. 187-197, hier S. 197.

36

Plogstedt, Sibylle (Hg.): Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus: Internationaler Vietnam-Kongreß 17./18. Februar 1968, Westberlin. Berlin 1968, S. 71f. In Reaktion auf Dutschkes Ausführungen greift Kurt Steinhaus in seinem Beitrag die Metapher auf und kritisiert Dutschkes »Papiertigertheorie« über die amerikanischen Streitkräfte als unstimmig (ebd., S. 84).

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Ebenen, selbst kein Papiertiger sind. Einem Papiertiger, lässt sich schließen, könnte man mit papiernen Resolutionen begegnen, einer echten Bedrohung aber nicht. Kämpfe auf Textebene sind Kämpfe zwischen Papiertigern. Sie haben mit der Fragestellung »was ist erreicht, was ist nicht erreicht« nichts zu tun und haben einem praktischen Problem weder eine Lösung entgegenzusetzen noch eignen sie sich als wirksame solidarische Handlung. In diesem Beispiel werden Resolutionen, Pläne und Strategien als »Papiertiger« bezeichnet, deren Interaktion harmlos ist und am eigentlichen Konflikt vorbeigeht. In anderen Beispielen wird die Metapher auf Personen übertragen – auch wer auf Texte vertraut und ihnen Bedeutung beimisst, kann selbst zum »Papiertiger« werden. So müssen sich z.B. die Mitglieder der Gruppe 47 bei ihrer letzten Tagung 1967 von Erlanger Studenten als »Papiertiger« bezeichnen lassen. 37 Auch in dem Protestbrief der Kommune 2 an die Verfasser des burn warehouse burn-Flugblatts aus der Kommune 1 wird diesen vorgeworfen, »Papiertiger« zu sein. Auslöser des Protestbriefs ist, dass die Verfasser des Flugblatts im Prozess ausgesagt hatten, nur satirisch und symbolisch zur Brandstiftung aufgefordert zu haben: »Auf einmal wollt Ihr gar nicht zur Brandstiftung aufgefordert haben; wer soll Euch glauben, daß Ihr nur unschuldig Satire gespielt habt? […] Wie alle Papiertiger werdet Ihr die gerechte Strafe erleiden!«38 »Papiertiger« wird als vorwurfsvolle Bezeichnung sowohl gegen politische Gegner als auch gegen Vertreterinnen und Vertreter der eigenen Reihen verwendet. Gemeinsam ist den Vorwürfen erstens, dass sie darauf zielen, dass jemand eine Bedrohung ausstrahlt, diese aber nicht ernst meint bzw. nicht über die Möglichkeiten verfügt, sie praktisch umzusetzen. Zweitens richten sie sich immer gegen eine Art von Schriftvertrauen. Das Papier bzw. der geschriebene Text stehen also auch im stetigen Verdacht, ihr Potential zur Gefährlichkeit und zur Veränderung nur vorzugeben und in Wirklichkeit machtlos zu sein. Wie wackelig und auch widersprüchlich der Status des literarischen Schreibens ist, zeigt sich nicht zuletzt in der Metaphorik, die Peter Schneider zum Schluss seines bereits zitierten Kursbogen-Beitrags wählt:

37

»›Die Gruppe ist ein Papiertiger‹ skandieren im Oktober 1967 Studenten der Universität Erlangen vor der Tagungsstätte der Gruppe 47, während sie Exemplare der BILD-Zeitung verbrennen.« (Gilcher-Holtey, Ingrid: Was kann Literatur und wozu schreiben? Das Ende der Gruppe 47, in: Berliner Journal für Soziologie 14 (2004), H. 2, S. 207-232, hier S. 207).

38

Kommune 2: Gegen Kommune 1 (Flugblatt vom 05.07.1967), abgedruckt in: Sprache im technischen Zeitalter 28 (1968), S. 316-317, hier S. 317.

54 | P ROTEXTE Jagen wir die gemalten Wünsche aus den Museen hinaus auf die Straßen. Holen wir die geschriebenen Träume von den brechenden Bücherborden der Bibliotheken herunter und drücken wir ihnen einen Stein in die Hand. An ihrer Fähigkeit, sich zu wehren, wird sich zeigen, welche von ihnen in der neuen Gesellschaft zu brauchen sind und welche verstauben müssen.39

Die Bücher, »geschriebene Träume« der Literaturgeschichte, finden sich plötzlich nicht mehr an ihrem angestammten Ort, der Bibliothek, wieder, sondern durch politische Anforderungen auf die Straße getrieben. Dort – hier liegt der zentrale Punkt – wird ihnen »ein […] Stein in die Hand [gedrückt]«. Sie werden also nicht mehr nur als Gegenstand oder als Waffe im Rahmen des politischen Konflikts gedacht, sondern als eigenverantwortliche Akteure im Konflikt. Nicht nur die Lesenden nehmen das Buch und seinen Inhalt zur Unterstützung ihres politischen Handelns, sondern das Buch selbst ist gezwungen, in die politischen Zusammenhänge einzugreifen, indem es sich »wehrt«. Dieser Akt des Wehrens ist doppeldeutig: Einerseits wehren sich die »möglichen« Träume in Buchform gegen die »Wirklichkeit«, die es zu verändern gilt – als Mitkämpfende neben denen, die diese Träume haben, aufschreiben oder rezipieren. Gleichzeitig scheinen sich die Bücher aber auch gegen ihre Mitkämpfenden wehren zu müssen. Diese drohen schließlich damit, sie dem Verstauben anheimfallen zu lassen, sollten sie sich als für eine politische Funktion unbrauchbar erweisen. Die Bücher müssen auch als »Akteure« aktiv werden, um ihren Status innerhalb der politischen Handlungen erst einmal zu beweisen und zu verteidigen. Das etwas schräg geratene Bild vom am Straßenkampf beteiligten Buch mit einem Pflasterstein in der Hand, das in zwei Richtungen kämpfen muss, ist ein erstes Beispiel für eine unmittelbar sichtbare Friktion zwischen politischer Opposition und literarischem Schreiben: Es verleiht gleich zwei konträren Positionen parallel Ausdruck und illustriert auf dem kompakten Raum eines einzelnen Textes, wie unmittelbar umstritten die Interaktionen von Literatur und politischer Opposition und deren Bewertung unter Umständen sind. Das Buch in zwei Richtungen kämpfen zu lassen nimmt Text und Schriftsteller die Entscheidung für die eine oder andere Position ab. Ob und in welcher Form Texte wichtiger Bestandteil politischer Opposition sind, ob sie politischen Handlungen im engeren Sinne gleichwertig sind und ob sie etwas leisten können, was außerhalb der Textebene nicht möglich ist, erweist sich als außerordentlich unklar. Lesen und Schreiben sind im kulturellen Text von »1968« so präsent wie umstritten – und sie sorgen in den Texten für reizvolle Spannungsfelder. Heftige, 39

Schneider: Rede an die deutschen Schriftsteller.

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ja absolute Positionierungen für und gegen sie werden ausgesprochen, die aber in literarischen wie außerliterarischen Texten stetig begleitet sind von Widersprüchen, Rhetoriken des Zweifelns oder Zurückruderns und einer unterschwelligen Verunsicherung. Der Schriftsteller Yaak Karsunke bezieht sich in der Retrospektive auf diese zeittypische Stimmung: Als dieses eine, ich glaube, es war das Lateinamerika-Kursbuch herauskam – zu irgendeinem politischen Kursbuch jedenfalls hat Herburger eine Hymne geschrieben »Und wozu noch Belletristik?«, im nächsten Kursbuch hat er Gedichte veröffentlicht. Nicht? Also ich nenne den Herburger jetzt nur, weil er mir einfällt, nicht um ihn etwa besonders anschwärzen zu wollen. Da ging sehr vieles durcheinander. Und jeder von uns ist da partiell auch, vielleicht nicht zerrissen, aber doch angerissen worden.40

Es ist diese Beobachtung der Zerrissenheit bzw. Angerissenheit auf verschiedenen Ebenen, die zum zentralen Erkenntnisinteresse dieser Arbeit geführt hat: Wo finden Friktionen zwischen Konzepten und Handlungen des Schreibens und der politischen Opposition statt? Wo verdichten sich im kulturellen Text die Positionen, wo gibt es Lösungen, Kompromisse oder auch Risse, Widersprüche und Sackgassen? Wie sehen verschiedene »Zerrissenheiten« aus und wie äußern sie sich auf der Textebene? Wie und wo werden sie vielleicht sogar literarisch und/oder politisch produktiv gemacht? Mit Karsunkes Zitat gerät auch ein für diese Fragen zentrales Subjekt41 in den Fokus: der Schriftsteller.42 Der »angerissene« Schriftsteller interessiert als zu 40

Karsunke, Yaak: Pulvermühle 1967, in: Sprache im technischen Zeitalter 26 (1988), S. 110-112, hier S. 112.

41

»Subjekt« verstehe ich im Folgenden, im Anschluss an Klaus-Michael Bogdal, als »konkret-historisch zu rekonstruierende Position […], die Individuen zu sich selbst, zur Natur, zum Wissen, zur Macht usw. eingenommen haben.« (Bogdal, KlausMichael: Riskante Subjektwerdung oder Wissen wir noch, wer wir waren?, in: Ott/Luckscheiter (Hg.): Belles lettres/Graffiti, S. 17-32, hier S. 18).

42

Da ich in dieser Arbeit drei männliche Schriftsteller und auch drei männliche Schriftstellerfiguren in den Texten untersuche (was dem folgenden Kapitel den zentralen Untersuchungsgegenstand der Friktion zwischen spezifisch männlichem Schreiben und politscher Opposition liefert), spreche ich hier bewusst nur von »Schriftstellern«. Natürlich gibt es auch eine Reihe von Schriftstellerinnen, die der außerparlamentarischen Opposition um 1968 nah stehen (zu denken wäre etwa an Gisela Elsner, Karin Struck oder Erika Runge). Ob meine Ergebnisse auch auf sie bzw. auch auf weibliche schreibende Figuren übertragbar sind oder ob hier ge-

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analysierendes Subjekt auf zwei verschiedenen Ebenen: Zum einen lässt sich auf der inhaltlichen Ebene der kulturellen Texte untersuchen, wie in ihnen Schriftsteller und politische Opposition darstellerisch in Erscheinung treten. Zum anderen lassen sich die drei näher untersuchten Schriftsteller als schreibende politische Subjekte untersuchen, die in bestimmter Weise mit eigenen und fremden Texten und Schreibprozessen umgehen. Aspekte einer solchen Untersuchung können etwa spezifische Konfliktkonstellationen sein, in denen sie sich befinden bzw. inszenieren. Es wird zu analysieren sein, welche Strategien verfolgt werden, um z.B. Brücken zu schlagen zwischen politischer Arbeit und der Arbeit an Texten oder um sich eine bestimmte Rolle im Rahmen der eigenen Poetik zu geben. schlechtliche Spezifika zu berücksichtigen sind, wäre ein wünschenswerter Anknüpfungspunkt für weitere Forschung. Studien zu politisch aktiven Frauen um 1968 wie die von Kristina Schulz geben erste Hinweise, dass das Verhältnis von Frauen (und damit vermutlich auch schreibenden Frauen) zur politischen Oppositionskultur in einigen Aspekten von dem der Männer abweicht und deshalb separat thematisiert werden muss: Zum einen werden Geschlecht und politischer Subjektstatus von politisch aktiven Frauen bewusster zusammengedacht als von vergleichbaren Männern. Geschlecht ist bei ihnen eine viel wichtigere Kategorie in Bezug auf Wahrnehmung und Bewertung der Gesellschaft. Darüber hinaus suchen viele politisch aktive Frauen vor allem in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren nicht nur die Abgrenzung von gesellschaftlich etablierten Strukturen und Institutionen, sondern auch von Strukturen und Institutionen innerhalb der politisch-oppositionellen Szene und ihren männlichen Vertretern – wodurch sich unter Umständen Feindbilder, Ziele von Protest und Widerstand und die Selbstwahrnehmung in der Gesellschaft grundlegend unterscheiden könnten. Kristina Schulz weist darauf hin, dass viele Elemente weiblicher politischer Arbeit um 1968 »developed not from but against the spirit of 1968« (Schulz, Kristina: The Women’s Movement, in: Klimke, Martin/Scharloth, Joachim (Hg.): 1968 in Europe. A history of Protest and Activism, 1956-1977. Basingstoke 2008, S. 281-293, hier S. 290). Zum anderen legt die Betrachtungstradition von Texten von Schriftstellerinnen nahe, dass auch die sprachlichen Ausdrucksformen von denen männlicher Schriftsteller abweichen: Es ist zu berücksichtigen, dass gerade um 1968 verschiedene feministische Konzepte entstehen, die die eigene Sprache explizit von der der Männer abgrenzen (bekannt ist etwa Hélène Cixousʼ Entwurf einer »écriture feminine«). Literaturhistorisch wird den Texten schreibender Frauen aus dem Umfeld der »68er« mit dem Begriff »Frauenliteratur« sogar ein eigenes Genre zugewiesen. Es wäre an den Texten zu klären, wie stark sich diese Unterschiede auswirken und ob auch ihre Kulturpoetiken dadurch anders aussehen.

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Unter diesen Voraussetzungen erklärt sich auch die Auswahl der drei zu untersuchenden Texte: Keiner weiß mehr (Rolf Dieter Brinkmann), Die Reise (Bernward Vesper) und Die Ästhetik des Widerstands (Peter Weiss). Auf den ersten Blick handelt es sich um drei westdeutsche Prosatexte, die mehr trennt als verbindet: Sowohl in Bezug auf ihre Handlung als auch auf ihre stilistischen Merkmale unterscheiden sie sich stark, ihr Entstehungszeitraum streut über insgesamt gut zehn Jahre (Keiner weiß mehr erscheint 1968, der letzte Band der Ästhetik des Widerstands 1981). In Bezug auf die Forschungsfrage dieser Arbeit weisen sie jedoch einige Parallelen auf, die eine gemeinsame Betrachtung 43 attraktiv machen: Erstens gibt es in allen drei Texten einen männlichen Protagonisten, der schreibt (Weiss, Vesper) oder zumindest schreiben möchte (Brinkmann) und sich explizit mit eigenem und fremdem Schreiben auseinandersetzt. Damit sind alle drei Protagonisten unter den Aspekten ihrer Einschätzung des Schreibens, ihrer und fremder Schreibsituationen und ihres Daseins als Schriftsteller innerhalb einer Gesellschaft analysierbar. Zweitens äußert in allen drei Texten der jeweilige Protagonist mehr oder weniger direkt Unmut an der bestehenden Gesellschaft und setzt sich mit seinen individuellen Möglichkeiten und Grenzen der Opposition und Veränderung auseinander. Drittens besteht eine wichtige Parallele in der Ebene des Eigenkommentars: Alle drei Texte dokumentieren und re43

Gelegentlich sind die Texte bereits vorher unter Einzelaspekten in Verbindung gebracht worden. So hält z.B. Anil Bhatti in seiner Analyse der Reise fest, dass der Text »Momente der Rekonstruktion, Bedingungen der schriftstellerischen Arbeit, Sinn und Funktion des Schreibens« reflektiere und darin Peter Weissʼ Ästhetik des Widerstands ähnele (Bhatti, Anil: Wozu Schreiben? Bemerkungen anläßlich der Lektüre von Bernward Vespers ›Die Reise‹, in: Kloepfer, Rolf (Hg.): Erzählung und Erzählforschung im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1981, S. 309-317, hier S. 312). Gerrit-Jan Berendse untersucht die Reise gemeinsam mit Keiner weiß mehr unter dem Aspekt von literarisierten Gewaltakten und Körperbildern (vgl. Berendse, GerritJan: Schreiben im Terrordrom. Gewaltcodierung, kulturelle Erinnerung und das Bedingungsverhältnis zwischen Literatur und RAF-Terrorismus. München 2005). Reinhard Baumgart betrachtet die drei Texte neben anderen literarischen Texten der 1960er und 1970er Jahre unter dem Aspekt verschiedener »Variationen zum Thema Authentizität« (Baumgart, Reinhard: Authentisch schreiben. Deutsche Literatur der 70er Jahre, in: Grimminger, Rolf (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburg 1995, S. 608-636, hier S. 609).

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flektieren, auf jeweils unterschiedliche Art, ihre Entstehungsstationen und ihren Entstehungsprozess und begründen, zumindest implizit, innerhalb ihrer Kulturpoetik, warum es sie gibt und wie sie sich gesellschaftlich einfügen. Schließlich und viertens stehen alle drei Protagonisten und die Poetiken aller drei Texte in einem komplexen, spannungsreichen und viel diskutierten Verhältnis zum (politischen) Leben und Schreiben ihrer Urheber Brinkmann, Vesper und Weiss – drei Schriftsteller, die in engem Kontakt mit der Studentenbewegung stehen, sie aber auch jeweils, in sehr unterschiedlicher Form, kritisch reflektieren. Der letzte Punkt mag angesichts der gewählten Methode überraschen, insofern kulturpoetologische Analysen ja für gewöhnlich den Fokus auf individuelle Personen zurückstellen zugunsten des Fokus auf die Zirkulationen der Textspuren, die der Text aus dem Kollektiv der Gesellschaft bezieht und wieder hineinspielt. Nun ist es in allen drei Texten so, dass sie dem individuellen Schriftsteller auf sehr auffällige Weise eine Plattform einräumen: Historische Orte, Ereignisse und Personen tauchen relativ unverschlüsselt in den Texten auf und in den Protagonisten werden überdeutliche Verweise auf das Leben ihres jeweiligen Urhebers angelegt (z.B. leben die Protagonisten Brinkmanns und Vespers jeweils in exakt identischen Familienkonstellationen wie Brinkmann und Vesper zur Entstehungszeit, Weiss’ Protagonist teilt mit Weiss etwa den Geburtstag und die dänische Exilerfahrung). Es wäre allerdings, wie Reinhard Baumgart gezeigt hat, in allen drei Fällen zu kurz gegriffen, von einem klassischen autobiographischen Format auszugehen. Vielmehr handelt es sich jeweils um ein provokantes Spiel mit den Grenzen zwischen der Figur in der erzählten Welt und der eigenen öffentlichen Inszenierung als politisches und schreibendes Subjekt. Baumgart hat den schreibenden Umgang von Vesper und Brinkmann mit sich selbst wie folgt charakterisiert: »Sie werden sich selber fremd, operieren wie ihre eigenen Ethnologen. Sie erforschen, sammeln, protokollieren und interpretieren sich, werden sich zum Material und Repertoire.« 44 Ein solches Verfahren – die Arbeit mit dem eigenen Leben als Material und Gegenstand der Interpretation – schließt etwa fiktionale Verschiebungen mit ein, die Einnahme von Rollen und die Vermischung mit fremdem Material. 45 Es wird zum poetischen Experiment, Text und eigenes Leben möglichst undurchdringlich und komplex zu verwischen, 44 45

Baumgart: Authentisch schreiben, S. 617. Vespers Schriftstellerfigur dazu: »Mit 13 bin ich in den Ententeich hinter dem Pfarrhaus von Wahrenholz gefallen, war ›ganz grün‹ und habe ›mich furchtbar geärgert‹. Reaktion: ich nehme das zur Kenntnis, erinnere mich überhaupt nicht. Der Leser aber kann nicht kontrollieren, ob das, was ich schreibe, Erinnerung ist, Wiedergabe, Phantasie […].« (DR: 99f.)

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Schreiben und Leben maximal miteinander kurzzuschließen – was für die Beobachtung von Interaktionen zwischen literarischem Schreiben und politischer Oppositionskultur ausgesprochen aufschlussreich ist. Wenn im Zusammenhang dieser Arbeit nach den historischen Schriftstellern gefragt wird, geht es also weniger um ein biographisches Abgleichen als darum, die komplizierten literarischen und außerliterarischen Prozesse zu beobachten, mit denen Unschärfen erzeugt werden zwischen Text und Leben, Figur und Mensch oder Konflikten, Handlungen und Gegenständen in der erzählten Welt und der materiellen Welt. Auch Peter Weiss’ viel kritisierte und später von ihm revidierte Äußerung, die Ästhetik des Widerstands sei »auch eine Wunschautobiographie«46, fällt in diesen Analysebereich – nicht als inhaltliche Deutungsfolie für den Text, sondern als Anknüpfungspunkt an seine Kulturpoetik: Es lohnt sich nachzuspüren, welche Wünsche genau Einzug in das Figurenleben halten, zu wem sie gehören, was sie im kulturellen Text an potentiellen Verbindungen haben und warum sie zu einer Kritik am Schriftsteller als politisch-öffentliches Subjekt führen. Ein an dieser Stelle bereits bemerkenswerter Aspekt ist, dass es sich bei allen drei Schriftstellern wie Protagonisten um schreibende Männer handelt. Aus diesem Grund wird, vor allem in Kapitel 4, auch nach geschlechtlichen Spezifika des Schreibens, des Opponierens und des Spiels mit Identitäten gefragt. In zwei Texten, bei Brinkmann und Vesper, rückt dabei auch das Thema Vaterschaft in den Fokus, da es, wie bereits angedeutet, zentraler Aspekt der Verwischung von Schriftsteller- und Protagonistenidentität ist und in beiden Texten in enger Verbindung zu Vorstellungen des Schreibens und auch des politischgesellschaftlichen Engagements steht. Peter Weiss’ dreibändiger Roman47 fällt, bei allen genannten Ähnlichkeiten zu den anderen beiden Texten, äußerlich am stärksten aus dem Rahmen: Er ent46

Michaelis, Rolf: Es ist eine Wunschautobiographie. Peter Weiss im Gespräch mit Rolf Michaelis über seinen politischen Gleichnisroman, in: Die Zeit vom 10.10.1975.

47

Weissʼ Text erscheint, vom ersten Band an, mit der Gattungsbezeichnung Roman im Titel. Es zeigt sich schnell, dass der Romanbegriff von Weiss im modernsten und weitesten Sinne verwendet wird – das klassische Erzählen wird u.a. flankiert von Verfahren der Montage, der Ekphrasis, des Perspektivwechsels (vgl. dazu auch: Claßen, Lutger/Vogt, Jochen: Kein Roman überhaupt. Beobachtungen zur Prosaform der Ästhetik des Widerstands, in: Stephan, Alexander (Hg.): Die Ästhetik des Widerstands. Frankfurt/M. 1983, S. 134-163). Alfred Andersch hat in seiner Rezension des ersten Bandes die Gattungsbezeichnung »roman d’essai« (Andersch, Alfred: Wie man widersteht. Reichtum und Tiefe von Peter Weiss [1975], in: Gesammel-

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steht Mitte bis Ende der 1970er Jahre, deutlich nach dem Höhepunkt von »1968«, und Peter Weiss ist etwa 20 Jahre älter als die anderen beiden Schriftsteller und auch die durchschnittlichen »68er«. Was jedoch gesagt werden kann ist, dass wir es bei ihm mit einem Schriftsteller zu tun haben, der trotz seines Alters die historische Kultur »1968« sehr genau kennt und an ihr partizipiert. Martin Rector hat sogar die (etwas autorzentriert argumentierende, aber dennoch bedenkenswerte) These aufgestellt, dass gerade Peter Weiss’ ganz spezielles und ambivalentes Verhältnis zur APO den Roman zu einem wichtigen Dokument der »68er« macht: Peter Weiss’ ›Ästhetik des Widerstands‹ ist ein Nach-68-Roman – nicht nur, weil der Roman ziemlich bald nach 1968 begonnen wurde, sondern vor allem, weil seine politischästhetische Konzeption auch Resultat der Erfahrungen ist, die der Autor mit jenen Gruppierungen der Studentenbewegung, der außerparlamentarischen Opposition (APO) und der Neuen Linken machte […].48

Rector berührt implizit das in dieser Arbeit untersuchte Spannungsfeld, indem er die Ästhetik des Widerstands als Dokument liest, mit dessen Schreibkonzept sich te Werke, Bd. 10: Essayistische Schriften 3, hg. von Dieter Lamping. Zürich 2004, S. 455-463, hier S. 457) vorgeschlagen, Roman-Essay. Diese Gattungsbezeichnung ist eher ungewöhnlich. Zwar ist das Verfahren, Roman und Essay in ihren Gattungseigenschaften zu koppeln, geläufig (etwa in den Texten Robert Musils und Hermann Brochs), aber die explizite (Selbst)Bezeichnung eines Textes mit diesem Begriff taucht ausschließlich kurz vorher bei Jean Améry (Lefeu oder Der Abbruch. RomanEssay, 1974) auf. Neben diesen beiden Texten gibt es interessanterweise im Wesentlichen einen einzigen Text, auf den der Begriff noch übertragen wurde: Bernward Vespers Text Die Reise. Romanessay, der 1977 von Jörg Schröder mit diesem Untertitel herausgegeben wird, nachdem Vesper selbst ihn in einem Brief an den März Verlag vom 23.08.1969 so bezeichnet hat (vgl. DR: 603 (Anhang)). Dieser gattungspoetologische Zusammenhang zwischen den Texten von Weiss und Vesper ist bislang nirgendwo thematisiert worden und bildet eine weiterführende Forschungsfrage. 48

Rector, Martin: Zur Kritik der einfachen Politisierung. Die ›Ästhetik des Widerstands‹ als Nach-68-Roman, in: Hofmann, Michael (Hg.): Literatur, Ästhetik, Geschichte: neue Zugänge zu Peter Weiss. St. Ingbert 1992, S. 364-383, hier S. 364. Rector zeichnet sehr ausführlich die verschiedenen Kontakte Weissʼ zu dem engeren Kreis der Studentenbewegung nach und dokumentiert auch Weissʼ Äußerungen zu ihr.

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ein politisches Problem aus der gegenwärtigen Lebenswelt des Schriftstellers verquickt hat. Dass die Ästhetik des Widerstands in Gestalt einer Erzählung über den Widerstand gegen das NS-Regime auch Ausläufer von Fragen, Themen und Diskursen von »1968« verarbeitet 49 und darin von ähnlichen Friktionen, Aushandlungen und Schreibvorstellungen geprägt ist wie die anderen beiden Texte, ist eine These dieser Arbeit, der in den folgenden Kapiteln anhand mehrerer Beispiele nachgegangen wird. Nicht nur Peter Weiss, sondern auch Rolf Dieter Brinkmann erweist sich in einer Arbeit über »68er« als Exot. Zwar stammt er aus der in der Regel mit »1968« assoziierten Generation, wird aber in den meisten literaturwissenschaftlichen Studien von den »68ern« abgekoppelt betrachtet.50 Tatsächlich ist Brinkmann alles andere als eindeutig positioniert: Es gibt Fotos von ihm auf Demonstrationen, mit Megaphon51, er liest auf Sit-Ins des SDS und erweist sich in allen seinen Texten als ausgesprochen bewandert in den Codes der Studentenbewegung, zitiert einschlägige Texte, Filme und Songs. Er inszeniert sich aber in der literarischen Szene auch konsequent als Einzelgänger, schreibt vom »Gerede, das sofort immer schon am Ziel war, von vornherein«52, kritisiert »die mit Ab-

49

Schon in einer sehr frühen Untersuchung des Textes wird diese Beobachtung gemacht. Burkhardt Lindner thematisiert die »doppelte Beleuchtung« der Figuren im Roman: »[S]ie sind zum einen Zeugen und Handelnde einer definitiv abgeschlossenen Epoche und zugleich Zeitgenossen, indem sich an ihnen Prozesse vollzogen, die erst heute verständlich werden.« (Lindner, Burkhardt: Halluzinatorischer Realismus. Die ›Ästhetik des Widerstands‹, die ›Notizbücher‹ und die Todeszonen der Kunst, in: Stephan (Hg.): Die Ästhetik des Widerstands, S. 164-204, hier S. 175).

50

Die Brinkmann-Forschung ist bislang generell wenig auf die politische Dimension seines Schaffens eingegangen. Andere Aspekte sind dagegen sehr gut erforscht – vor allem die intermedialen und postmodernen Aspekte seiner Texte (vgl. z.B. Luckscheiter: Der postmoderne Impuls) oder seine Rolle als früher Popliterat (vgl. z.B. Schäfer, Jörgen: ›Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen‹. Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Pop-Literatur. München 2003 (= Edition text+kritik), S. 6980).

51

Abgedruckt in: Carius, Karl-Eckhard (Hg.): Brinkmann: Schnitte im Atemschutz. München 2008, S. 89.

52

Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr [1968]. Hamburg 2005, S. 152. Im Folgenden im Text zitiert mit »Kwm« und Seitenzahl.

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straktionen vollgestopfte jüngere Generation«53 und schnauzt in seinem poetologischen Essay Der Film in Worten die deutsche Schriftstellerschaft an: »Haben Sie eine Botschaft, schicken Sie ein Telegramm!«54 Gerrit-Jan Berendse hat sich in Aufsätzen und in seiner 2005 erschienenen Dissertation als erster Brinkmanns ambivalenter Beziehung zur Studentenbewegung angenähert. Brinkmann, so ein Fazit Berendses, »hatte sehr wohl eine (kultur-)politische Botschaft. Allerdings ließ sich diese nur schwer mit dem dominanten Diskurs der Neuen Linken vereinbaren.«55 Was macht Brinkmanns Position so schwer integrierbar? Am stärksten von allen drei untersuchten Schriftstellern ist Brinkmanns oppositionelle Position von ihrem Ansatz her eine sprachkritische. Dies wird nicht nur in seinen literarischen Texten selbst, sondern vor allem in seinen poetologischprogrammatischen Essays wie Der Film in Worten deutlich. Mit seiner Kritik greift er die deutsche Gesellschaft, bevorzugt aber seine oppositionell eingestellten Schriftstellerkolleginnen und -kollegen an: Der Unterschied [der Texte amerikanischer Autorinnen und Autoren, JC] zu den europäischen Literaturprodukten der Gegenwart besteht darin, daß sich diese Autoren nicht haben besetzen lassen von der allzu billigen (und primitiven) Ansicht, das wäre schon ›fortschrittlich‹ und damit wäre schon etwas ›gewonnen‹, wenn sie ihre Arbeiten mit politischen Inhalten füllen. Sie gehen davon aus, daß eine literarische Arbeit selber ein Politikum darzustellen hat, indem sie Übereinkünfte des Geschmacks, des Denkens und der Vorstellungen sowie hinsichtlich des Gattungsgebrauchs und der inhaltlichen Momente bricht…56

Hier wird deutlich, dass Brinkmann ebenfalls eine »Politisierung der Literatur« ins Auge fasst, die aber grundlegend anders ausfällt als bei Vesper, Weiss und gar Schneider. Brinkmann fordert, die Radikalität auf Sprache und Literatur zu konzentrieren. Seine Vorstellung von Veränderung setzt rein auf der ästhetisch53

Brinkmann, Rolf Dieter: Einübung einer neuen Sensibilität [1969], in: Brinkmann, Maleen (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Hamburg 1998 (= Literaturmagazin 36), S. 147-155, hier S. 147.

54

Brinkmann, Rolf Dieter: Der Film in Worten [1969], in: Ders.: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965-1974. Hamburg 1982, S. 223-247, hier S. 234.

55

Berendse, Gerrit-Jan: Grauzone Gewalt. Rolf Dieter Brinkmann und die Achtundsechziger (2001; online unter http://www2.dickinson.edu/glossen/heft13/grauzonegewalt.html, abgerufen am 27.07.2015)

56

Brinkmann: Der Film in Worten, S. 228.

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sinnlichen Ebene des Textes an. Veränderungen im außerliterarischen Denken und Handeln passieren ausschließlich in Folge dessen, sie dürfen gerade nicht auf literarischer Ebene explizit gefordert oder inszeniert werden. Politische Inhalte in literarischen Texten und auch den marxistischen Sprachduktus bezeichnet Brinkmann als wenig fortschrittliches »revolutionäre[s] Gerede«, das »hoffnungslos verklammert ist mit dem Zustand, gegen den vorgegangen werden soll«57. Brinkmanns spezieller Zugang zu einer politisch-oppositionellen Literatur bzw. zu der Rolle von Literatur innerhalb politischer Opposition ist für den Rahmen dieser Arbeit von großem Belang: Wenn man Keiner weiß mehr als »Roman des Protests«58 liest, so kann sich diese Zuschreibung sowohl auf außerliterarischen Protest, aber vor allem auch auf innerliterarischen Protest beziehen. Brinkmann entwirft, wie noch zu sehen sein wird, weniger eine politisch als sprachlich und literarisch maximal radikalisierte Figur. Vespers Text gilt unumstritten als eines der zentralen literarischen Dokumente aus den engsten Kreisen der deutschen Studentenbewegung.59 Kaum eine Studie, die sich mit der Literatur der Studentenbewegung befasst, thematisiert ihn nicht zumindest kurz. Ein klarer Schwerpunkt der Vesper-Forschung liegt dabei auf dem Verhältnis des Protagonisten zu seinem NS-nahen Elternhaus und dem literarisch verarbeiteten Konflikt zwischen Eltern- und Kindergeneration.60 Ein zweiter recht gut erforschter Bereich sind die literarischen und außerliterarischen 57 58

Ebd., S. 232. Vormweg, Heinrich: Die strahlende Finsternis unserer Städte. Ein Porträt, in: Brinkmann, M. (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann, S. 14-27, hier S. 19.

59

Wie Andrew Plowman hervorgehoben hat, ist Die Reise eines der umfassendsten und vielseitigsten literarischen Dokumente sowohl der Politik- als auch der Theorielandschaft der Studentenbewegung: »[Die Reise] indeed provides an impressive intellectual record of theoretical and political debates within the movement.« (Plowman, Andrew: Bernward Vesper’s Die Reise: Politics and Autobiography between the Student Movement and the Act of Self-Invention German Autumn: The Critical Reception of Die Reise, in: German Studies Review 21 (1998), H. 3, S. 507-524, hier S. 507).

60

Ausführliche Analysen vor allem des Vater-Sohn-Verhältnisses finden sich z.B. bei Marina Karlheim: Schreiben über die Väter: Erinnerungstopographien – eine Analyse. Marburg 2010; Mathias Brandstädter: Folgeschäden. Kontexte, narrative Strukturen und Verlaufsformen der Väterliteratur 1960-2008. Würzburg 2010 sowie, in kritischer Beleuchtung des Genres »Väterliteratur«, Julian Reidy: Vergessen, was Eltern sind. Relektüre und literaturgeschichtliche Neusituierung der angeblichen Väterliteratur. Göttingen 2012.

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Selbstfindungsexperimente von Schriftsteller und Figur, der Drogenkonsum, die Verfahren der Selbstdokumentation, -analyse und schlussendlich -zerstörung 61 (der Text lässt sich mit diesem Fokus auch als frühes Beispiel für die Neue Subjektivität lesen). Wenig untersucht sind dagegen die ebenfalls sehr präsenten Themenbereiche Schreiben und politische Oppositionskultur. Zwar kommen sie in allen Studien vor, sie sind jedoch noch nicht systematisch erfasst und umfassend mit dem sie umgebenden kulturellen Text konfrontiert worden. Vespers Text zum Thema Literatur, Schreiben und Lesen liest sich u.a. folgendermaßen: Wände Mauern Wandzeitungen Flugblätter hunderttausendfach abgeworfen, bekritzelt, bezeichnet; ›schreibt, schreibt überall hin, das ist unsere geheime Waffe!‹ (DR: 285) Jeder Zeile, die wir schreiben, geht die Entscheidung voran, eben das zu tun und nichts anderes. (DR: 495) Der Plan: diese Woche als Wagneroper darzustellen […]. Aber das wäre wirklich ein Stück Literatur geworden [– typischerweise! Und Literatur interessiert mich nicht]. (DR: 288) Es hat keinen Sinn, mir zu sagen, es wäre gescheiter [als zu schreiben, JC], die ERFAHRUNG, diesen HASS, diese ENERGIE unverzüglich einzusetzen, um die Mine an die ganze Scheiße zu legen und die Kiste in die Luft zu jagen. Derartige Ratschläge selbsternannter Anführer gehen mir auf den Wecker. (DR: 15) Immer im Hinterkopf, daß der ›Schriftsteller‹ doch ›irgendwie stellvertretend‹ ist. Paperfighting men. (DR: 115)

Was hier (zugegebenermaßen in sehr selektierter Form) auf kleinem Raum zu sehen ist, durchzieht den gesamten Text: Literatur wird funktionalisiert, dann wieder entfunktionalisiert, der bürgerliche Kanon wird verworfen, dann wieder herangezogen, der Literaturbegriff wird geweitet und wieder verengt, Schreiben wird heftig abgelehnt und heftig befürwortet. Bei kaum einem anderen Schriftsteller wechseln sich die Positionen zu Schreiben und Literatur so direkt und in solchen Extremen ab wie bei Vesper. Ähnliches passiert mit dem Thema politi61

Vgl. z.B. Schalk, Axel: Nach dem Aufstand ist vor dem Aufstand. Autobiographische Prosa im Kontext der Achtundsechziger: Urs Jaeggi, Uwe Timm, Bernward Vesper, in: literatur für leser 32 (2009), S. 211-220 sowie Tauss, Martin: Rausch, Kultur, Geschichte: Drogen in literarischen Texten nach 1945. Innsbruck 2005.

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scher Handlungen, vor allem Gewalthandlungen: Hassausbrüche und fiktive Gewalttaten (»Diese Stadt muß eingeebnet werden, diese Häuser, kubische Parzellen, müssen dem Erdboden gleichgemacht, der Erdboden muß den Wäldern gleichgemacht, alles muß gleich gemacht werden.« (DR: 122)) werden abgelöst von Passagen wie den folgenden, die den bedingungslosen Hass revidieren und gewaltsam handelnde Aktivisten wie Andreas Baader ablehnen: [ich werde dieses buch nicht ›haß‹ nennen. haß wäre zu undifferenziert. aber ich weiß, daß wir und andere nur glücklich werden können, wenn wir unsere erfahrungen in haß und unsern haß in energie verwandeln. ich glaube an die nützliche funktion des hasses. er ist ausdruck dafür, daß wir uns nicht länger unterdrücken lassen wollen, weder durch uns noch durch andere. aber das ist noch nicht alles, erst die liebe und solidarität – das ist liebe + praxis – kann diesem notwendigen haß ein ende bereiten. ich dürste nicht danach. aber ich lüge mir auch nicht länger in die eigene tasche.] (DR: 634) Und Andreas neben mir am Steuer: ›Wir sind froh, daß die Linken in Zürich nicht so aktiv sind.‹ Das fiel ihm bei der Schönheit der Berge ein. Die könnte er sonst nicht in Ruhe genießen. Genau diese Arbeitsteilung: Politik – Privatleben, Naturgenuß. Diese Leute hören an einer bestimmten Stelle auf zu denken. (DR: 290)

Vespers Protagonist ist als Figur mit vielen Positionen, Diskursen und Reflexionen befrachtet, deren Widersprüche und Grenzen er immer wieder mehr oder weniger direkt zu spüren bekommt. Unter diesen Voraussetzungen versprechen die Texte von Vesper, Brinkmann und Weiss wichtige Aufschlüsse über den Schnittbereich und die Friktionen zwischen politischer Opposition und literarischem Schreiben in der Entstehungskultur »1968«. Alle drei Texte reagieren, wie ausgeführt, auf sehr eigene Weise auf diese Konstellation, integrieren sie und machen sie produktiv.

ANNÄHERUNG AN DIE POLITISCHE O PPOSITIONSKULTUR – P ROTEST , W IDERSTAND UND B EWEGUNG Nach einem detaillierten Blick auf die Seite des literarischen Schreibens und die Besonderheiten der zu untersuchenden Texte ist es die Seite der politischen Opposition, an die es sich anzunähern gilt. Hierzu sei zunächst etwas zur Begriffswahl gesagt: Der Begriff der politischen »Opposition« wird in dieser Arbeit – analog zum zeitgenössischen Sammelbegriff »außerparlamentarische Opposition« – für die Gesamtheit nicht-systemkonformer politischer Einstellungen und

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Handlungen verwendet und in unterschiedliche Bereiche ausdifferenziert. In konsequenter Orientierung am kulturpoetologischen Verfahren erfolgt diese Begriffsverwendung und Ausdifferenzierung textgeleitet entlang zeitgenössischen Kategorien und verschiedenen Reibungsbereichen von politischer Handlung und Schreibhandlung. Abstand genommen wird in diesem Rahmen dagegen von einer Bindung an eine bestimmte politologische Definition von politischer Opposition und ihren Ausprägungsformen.62 Die einschlägigen Studien in diesem Bereich stammen alle aus der Forschung entweder zur NS- oder SED-Diktatur, was bedeutet, dass ihre Begriffe und Abgrenzungen auf Basis grundsätzlich anderer politischer Ausgangssituationen entwickelt werden (z.B. wurden kollektive öffentliche Protestakte, wie sie für die »68er« besonders typisch sind, in den Diktaturen weitgehend unterdrückt). Die oppositionellen Handlungen und Einstellungen um 1968 treffen nicht nur auf eine andere Art von System und Rechtslage, sie unterliegen auch, wie noch zu sehen sein wird, eigenen Logiken und Diskursen, die am besten an zeitgenössischen kulturellen Texten und ihren Berührungen und Konflikten mit dem literarischen Schreiben sichtbar werden. Im vorausgehenden Kapitel war bereits die Rede davon, dass Handlungen politischer Opposition kulturelle Texte generieren – dass sie also in der Retrospektive fassbar werden durch jegliche Form von lesbarer Repräsentation. Zu schauen ist nun, wie diese kulturellen Texte selbst politische Opposition erfassen und verstehen, welche Abgrenzungen, Differenzierungen und Bezüge zeitgenössisch vorgenommen werden. Dieser Arbeitsschritt ist wichtig, weil er erste Anhaltspunkte liefert, welche Begriffe, Konflikte und Ausprägungsformen politischer Opposition in den untersuchten Texten auftauchen und potentielle Friktionen erzeugen könnten. Die häufigste zeitgenössische Differenzierung politischer Opposition verläuft zwischen »Protest« und »Widerstand«. Wenn es um eine oppositionelle politische Handlung geht, ist fast immer mindestens einer der beiden Begriffe im Spiel – häufig sogar beide in direkter Gegenüberstellung. Schaut man sich z.B. die Dokumentation des Internationalen Vietnam-Kongresses 1968 in Westberlin 62

Zu denken wäre etwa an Löwenthal, Richard von: Widerstand im totalen Staat, in: Ders./Mühlen, Patrik von zur: Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945. Berlin 1982, S. 11-24 oder Poppe, Ulrike/Eckert, Rainer/Kowalczuk, IlkoSascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR. Berlin 1995 (= Forschungen zur DDR-Geschichte 6) oder ganz aktuell Halbrock, Christian: ›Freiheit heißt, die Angst verlieren‹. Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostseebezirk Rostock. Göttingen 2014.

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an, so werden beide Begriffe in fast allen Beiträgen verwendet. Eine erste Auffälligkeit ist dabei, dass sich »Protest« in den meisten Fällen auf die eigenen Tätigkeiten in Deutschland bezieht. »Widerstand« wird dagegen als Begriff herangezogen, um die aktuellen Handlungen des Vietcongs zu benennen.63 Mehrere Beiträge und auch viele der im Anhang abgedruckten Zuschriften zum Kongress verwenden den Protestbegriff darüber hinaus im Sinne eines klar gekennzeichneten Sprechakts der Abgrenzung und Ablehnung: Sie benutzen den Protestbegriff, um sich, häufig in längeren Aufzählungen, explizit gegen gesellschaftliche Elemente zu positionieren (»Wir protestieren gegen…« / »Ich protestiere gegen…«).64 Das Sprechaktartige besteht vor allem darin, dass die Abgrenzung mit der einleitenden Protestfloskel inszeniert wird, auch wenn die Opposition bereits aus dem restlichen Text und vielleicht sogar dem Anlass des Beitrags ersichtlich wird. Es geht nicht nur darum, den Inhalt des Gesagten zu vermitteln, sondern darum, eine Präsenz dieser Inhalte in einem bestimmten öffentlichen Raum herzustellen. Protestieren erscheint als Einnahme einer oppositionellen Haltung, verbunden mit dem Akt ihrer öffentlichen Aussprache. Während die meisten Beiträge die Begriffe »Protest« und »Widerstand« unkommentiert verwenden, nimmt der Black Panther-Aktivist Dale A. Smith die beiden Begriffe zur Grundlage der Argumentation seines Kongressbeitrags: Vergleichen wir den Unterschied zwischen einer Protestbewegung und einer Widerstandsbewegung. Protestieren heißt, sich gegen etwas aussprechen, heißt bekanntmachen, daß man eine bestimmte Tat eines anderen nicht schätzt. […] Protestieren heißt spielen. Man nimmt an einer Demonstration teil, hört die Rede an, trägt Transparente und geht nach Hause, um sich im Fernsehen zu sehen.65

Smith bestätigt die zentrale Rolle, die das »Bekanntmachen« der eigenen Position beim Protest hat: An Demonstrationen teilzunehmen, Reden bestimmter Personen anzuhören und Transparente durch den öffentlichen Raum zu tragen heißt, die eigene Position gegen etwas in der Öffentlichkeit darstellen bzw. sich an einer kollektiven Aussprache gegen etwas zu beteiligen. Smiths Kritik zielt nun 63

Vgl. z.B. »nach neunjährigem heldenhaftem Widerstandskampf« bei Walter Rudert oder die Verwendung im Beitrag von Tariq Ali (Plogstedt (Hg.): Internationaler Vietnam-Kongreß, S. 22 u. S. 33).

64

Sehr gut zu sehen ist dies z.B. im Beitrag von Walter Rudert, der sich und seine Organisation durch eine Reihe solcher Protest-Sprechakte im politischen Raum »in Position bringt« (vgl. ebd., S. 29).

65

Smith, Dale A.: [Ohne Titel], in: ebd., S. 139-141, hier S. 139.

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darauf, dass dieser Protest die Berührung mit dem, wogegen er protestiert, in letzter Konsequenz scheut: Die Protestierenden sprechen ihre Position aus und »gehen nach Hause«, unabhängig von dem Effekt, den ihr Protest hat. Dadurch läuft der Protest unter Umständen Gefahr, selbstreferentiell zu werden (man protestiert, »um sich im Fernsehen zu sehen«66). Smith fordert in Bezug auf den Vietnamkrieg den Übergang von Protest zu »Widerstand«: Widerstand leisten heißt nicht nur sagen: ›Ich will nicht‹, es heißt: ›Ich werde sicherstellen, daß jeder andere auch nicht will.‹ […] Widerstand bedeutet verstehen, daß es um dein eigenes Leben geht und genau in diesem Moment. Widerstand leisten heißt leben, wirklich und zum erstenmal zu leben. Das heißt: Ich werde nicht nur nicht dulden, was sie tun, sondern ich werde sie hindern zu tun, was sie wollen. […] Protestieren bedeutet, die Unmenschlichkeit eines anderen zu verabscheuen. Widerstand leisten heißt, die Unmenschlichkeit zu unterdrücken, und die Menschlichkeit triumphieren zu lassen.67

Der Sprechakt Protest hat die Funktion, die Unterdrücker öffentlich als solche zu markieren und das Aussagesubjekt zu ihnen in Opposition zu setzen. Der Widerstandsakt würde dagegen nach Smith auf eine Schädigung und aktive Beseitigung der Unterdrücker zielen – er dreht den Spieß um, will »eine Unterdrückung der Unterdrücker«. Protest und Widerstand wären nach Smith Oppositionshandlungen mit ähnlichen Auslösern, aber unterschiedlichen Strategien. Wer schon bereit zum Protest ist, kann sich zum Widerstand steigern. Es ist dieser Kongressbeitrag, auf den sich wenig später Ulrike Meinhof in ihrer vielzitierten Kolumne Vom Protest zum Widerstand bezieht und die beiden Begriffe explizit zu den Geschehnissen auf der deutschen politischen Bühne ins Verhältnis setzt. Die Studenten […] üben Widerstand. Steine sind geflogen, die Fensterscheiben vom Springerhochhaus in Berlin sind zu Bruch gegangen […] – Gewalt, physische Gewalt 66

Ähnliche Kritik übt Uwe Johnson im Kursbuch 9: »Einige gute Leute werden nicht müde, öffentlich zu erklären, daß sie die Beteiligung ihres Landes am Krieg in Vietnam verabscheuen; was mögen sie da im Sinn haben? […] Die guten Leute wollen eine gute Welt; die guten Leute tun nichts dazu. Die guten Leute hindern nicht die Arbeiter, mit der Herstellung des Kriegswerkzeugs ihr Leben zu verdienen, sie halten nicht die Wehrpflichtigen auf, die in diesem Krieg ihr Leben riskieren, die guten Leute stehen auf dem Markt und weisen auf sich hin als die besseren.« (Johnson, Uwe: Über eine Haltung des Protestierens, in: Kursbuch 9 (1967), S. 177-178, hier S. 177).

67

Smith: [Ohne Titel], S. 140f.

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wurde angewendet. […] Die Grenze zwischen verbalem Protest und physischem Widerstand ist bei den Protesten gegen den Anschlag auf Rudi Dutschke in den Osterfeiertagen erstmalig massenhaft, von vielen, nicht nur einzelnen, über Tage hin, nicht nur einmalig, vielerorts, nicht nur in Berlin, tatsächlich, nicht nur symbolisch – überschritten worden. Nach dem 2. Juni wurden Springerzeitungen nur verbrannt, jetzt wurde die Blockierung ihrer Auslieferung versucht. Am 2. Juni flogen nur Tomaten und Eier, jetzt flogen Steine.68

Der Widerstand erscheint auch hier als Eskalationsstufe des Protests.69 Mit der Blockade des Springer-Verlags und der aktiven Schädigung des Gegners wird eine Grenze überschritten. Meinhof bringt den Aspekt des Körpereinsatzes (»physisch«) ins Spiel und setzt ihn in Kontrast zum Mittel der Sprache (»verbal«), dem sich der Protest bedient. Widerstand ist also ein körperlicher, ein »materieller« Eingriff in das politische Geschehen. Protest als öffentlicher Sprechakt kann theoretisch von einem Zeitungsartikel ausgehen. Er fordert nicht zwangsläufig den Einsatz des Körpers im Moment des Opponierens. Verfahren wie Demonstrieren, Flugblätter schreiben, Parolenrufen etc. würden so betrachtet eher dem »Protest« zufallen, Verfahren wie Streik, Blockade, Boykott, inszenierter Übertritt von Verboten und »Gewalt gegen Sachen« 70 eher dem »Widerstand«71 Ein Flugblatt im Vorlauf des Prozesses gegen Fritz Teufel am 27. No68

Meinhof, Ulrike: Vom Protest zum Widerstand [1968], in: Dies.: Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken. Berlin 1988, S. 138-141, hier S. 138f.

69

Im Bereich politischer Reden und Flugblätter werden die beiden Begriffe in Folge häufig auf diese Weise gebraucht; vgl. z.B.: »Mit der dritten Lesung [der Notstandsgesetze vor dem Bundestag, JC] ist das protestierende Einwirken auf das Parlament verabschiedet. […] ES GIBT NUR EINE PRAKTISCHE ANTWORT AUF DIE FASCHISIERUNG DER GESELLSCHAFT: DIE ORGANISATION DES WIDERSTANDES.« (Flugblatt zur Besetzung des Germanistischen Seminars der Ad hoc-Gruppe Notstand der Germanistik (Mai 1968, FU Berlin), abgedruckt in: Miermeister/Staadt (Hg.): Provokationen, S. 158f.).

70

Dieser häufig verwendete Terminus entstammt dem Flugblatt Gewalt der AStAs Westberlins vom 19.04.1968 (abgedruckt ebd., S. 132f.).

71

So werden die Begriffe auch meist in der Forschungsliteratur zu 1968 verwendet, vgl. z.B. Klimke, Martin/Scharloth, Joachim: Utopia in practice. The Discovery of Performativity in Sixtiesʼ Protest, Arts and Sciences, in: Historein 9 (2009), Sonderheft Historising 1968 and the Long Sixties, S. 46-56, hier S. 52 oder Kraushaar, Wolfgang: Achtundsechzig: Eine Bilanz. Berlin 2008, S. 86.

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vember 1967 ruft z.B. zur verschärften Maßnahme des Streiks ausdrücklich deshalb auf, weil »verbale Proteste bisher nichts erreicht«72 haben. Diese Unterteilung leuchtet auch auf Basis des allgemeinen Sprachgebrauchs bis heute ein: Ob jemand z.B. gegen seine Verhaftung protestiert oder Widerstand leistet, ist ein Unterschied, der genau auf der Ebene von verbaler und körperlicher Handlung angesiedelt ist. Allerdings verläuft die Grenze nicht immer so trennscharf, denn wenn Meinhof auch das Verbrennen von Zeitungen und das Werfen von Tomaten und Eiern den Protestverfahren zurechnet, handelt es sich hier eher um körperliche als um verbale Akte. Es handelt sich aber – das mag als Unterscheidung eher funktionieren – immer noch um zeichenhafte öffentliche Akte, die eher die Kommunikation als die Zerstörung im Blick haben: Wer öffentlich Springerzeitungen anzündet, tut dies weniger, um diese konkreten Exemplare zu beseitigen, sondern um eine öffentliche Kritik an derartigen Zeitungen zu üben. Ein wichtiges Stichwort Meinhofs ist »symbolisch« – symbolische Handlungen stehen, wie auch im Folgekapitel zu sehen sein wird, in diesem Diskurs in engem Bezug zum Verbalen. Dass Protest als eine Art von Kommunikation gedacht wird, zeigt auch deutlich das Flugblatt Liebe Ostermarschierer, Genossinnen und Genossen! des Frankfurter SDS anlässlich der Enteignet Springer-Kampagne, in dem konstatiert wird, dass man nach dem »bisherige[n]Protest« »keine Antwort auf unsere Forderungen erhalten« habe.73 Der Protestakt muss auch deshalb zeichenhaft und öffentlich sein, weil er vom Gegenüber eine Antwort erwartet.74 Was erwartet dagegen ein Widerstandsakt? Die Beispiele, die genannt worden sind, sprechen dafür, dass er letztlich die Entmachtung oder Auslöschung dessen, gegen das er sich richtet, bezweckt. Dies muss jedoch nicht öffentlich passieren, schaut 72

Schaffen wir zwei-, dreitausend Landfriedensbruchprozesse (Flugblatt, Berlin, 27.11.1967), abgedruckt in: Miermeister/Staadt (Hg.): Provokationen, S. 188. Der Titel des Flugblatts spielt auf den Che Guevara-Text Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnams an – zieht also als Referenzfigur einen Vertreter des gewaltsamen, bewaffneten Widerstands heran.

73

SDS-Gruppe Frankfurt: Liebe Ostermarschierer, Genossinnen und Genossen! (Flugblatt, Frankfurt, Ostern 1968), abgedruckt in: Otto, Karl A. (Hg.): Außerparlamentarische Opposition in Quellen und Dokumenten (1960-1970). Köln 1989, S. 266-268, hier S. 266.

74

Festzustellen ist hierbei, dass weder Protest noch Widerstand zwangsläufig ein konkretes Subjekt brauchen, von denen sie ausgehen. Protest braucht zwar Öffentlichkeit, aber keinen Urheber. Entscheidend ist die öffentliche Sichtbarkeit einer Position, der öffentliche kulturelle Text – der aber durch eine Rednerin ebenso in Erscheinung treten kann wie durch ein anonymes Graffiti.

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man sich »widerständische« Verfahren wie Arbeitsverweigerung, Sabotage etc. an. Heimlich zu protestieren ist nicht möglich, heimlich Widerstand zu leisten schon. Noch deutlicher wird dies, denkt man an eine der gängigsten Verwendungen des Widerstandsbegriffs im Deutschen bis heute: Wird von jemandem gesagt, er oder sie sei »im Widerstand gewesen«, ist in der Regel (auch schon in den 1960er Jahren) der Widerstand gegen die NS-Diktatur gemeint. 75 Diese Handlungen waren (notwendigerweise) weder öffentlich noch kommunikativ, vielfach sogar passiv.76 Sie besitzen jedoch klar einen zerstörerischen Impetus gegenüber dem System, sie intendieren, zu seiner Auslöschung beizutragen und sind auch in der Regel innerhalb von ihm illegal. Protesthandlungen funktionieren anders, da sie, wie gezeigt worden ist, in einem Kommunikationszusammenhang stehen und nicht an der vollständigen Auslöschung eines Gegenübers interessiert sein dürften, das noch reagieren soll. Dies heißt nicht, dass sie nicht genauso von Gewalt geprägt sein können – durch politisch motivierte Sprechakte kann, wie Judith Butler gezeigt hat, durchaus Gewalt ausgeübt werden. 77 Die Möglichkeit einer Gewalt durch Sprache wird um 1968 kaum thematisiert, wenn es um die Gegenüberstellung von Protest und Widerstand geht – wie in den angeführten Beispielen werden die Attribute verbal/friedlich und körperlich/gewalttätig enggeführt. Sie wird jedoch, wie noch zu sehen sein wird, häufig genutzt – gerade, wenn es um literarische Texte geht. Aufschlussreich in Bezug auf Protest und Widerstand ist, wie um 1968 im Rahmen politischer Opposition über eigene Gewaltanwendung gesprochen wird. Die AStAs der TU, der FU und der Kirchlichen Hochschule Berlins geben im April 1968 anlässlich der Ausschreitungen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke ein Flugblatt mit dem Titel Gewalt heraus, das sie in dieser Hinsicht positioniert: 75

Vgl. zu dieser speziellen Begriffstradition in Deutschland Peter Hüttenberger: Vorüberlegungen zum ›Widerstandsbegriff‹, in: Kocka, Jürgen (Hg.): Theorien in der Praxis des Historikers: Forschungsbeispiele und ihre Diskussion. Göttingen 1977 (= Sonderheft Geschichte und Gesellschaft 3), S. 117-139, hier S. 117.

76

Die Unterscheidung in aktiven und passiven Widerstand wird in der Regel darüber getroffen, ob der Widerstandsakt in einer aktiven, ggf. gewaltsamen Tat oder der Unterlassung/Verweigerung einer Tat besteht: »Passiver Widerstand, d.h. die gewaltlose Weigerung (z.B. Streik), ist von militantem Widerstand, d.h. den aktiven, mit Gewalt gegen Sachen oder Personen verbundenen Handlungen, zu unterscheiden.« ([Art.] Widerstand, in: Schubert, Klaus/Klein, Martina: Politiklexikon. Bonn 2006, S. 329).

77

Vgl. Butler, Judith: Hass spricht: zur Politik des Performativen. Frankfurt/M. 2006, bes. S. 13-21.

72 | P ROTEXTE Die Gewalt gegen Sachen, seit den Osterfeiertagen von uns als Mittel angewandt und bejaht, ist das Ergebnis eines Erkenntnisvorganges, der diesen Weg als einzig möglichen zur Artikulation offen läßt. Die außerparlamentarische Opposition versucht seit langer Zeit, in diesem Staat eine Möglichkeit zu gewinnen, ihre Vorstellungen von Ideen zu artikulieren. Wir haben erkannt, daß die Artikulation einer Meinung in diesem System einen technischen Apparat benötigt, der nur von durch Besitz von Kapital Privilegierten beschafft und unterhalten werden kann. […] Unsere Gewalt gegen Sachen […] ist Gegengewalt gegen die Unterdrückung, der alle ausgesetzt sind, und die sich gegen uns auf der Straße nur manifestiert. Die Unterdrückung selbst findet statt in den Redaktionen und Kanzleien und betrifft nicht nur uns.78

Wie gewohnt erscheint die körperliche Handlung der »Gewalt gegen Sachen« hier als Eskalationsstufe zum verbalen Protest. Wichtig ist aber, dass diese Eskalation damit begründet wird, dass nur noch auf diesem Weg »Vorstellungen von Ideen artikuliert« werden können. Das Mittel der Gewalt ist hier letztes Mittel der Kommunikation, die körperliche Gewalthandlung der verlängerte Arm des Wortes. Hat Widerstand als Eskalationsstufe den Raum der Kommunikation mit dem Gegenüber verlassen, heißt dies nicht zwangsläufig, dass die mit ihm verbundene Gewalt nicht trotzdem zeichenhaft gestaltet werden kann, der »Artikulation« dienen kann. Der kleine Ausschnitt wirft noch einen weiteren Aspekt auf, der in Bezug auf Protest und Widerstand häufig vorkommt: Er bezeichnet die eigenen Gewalthandlungen als »Gegengewalt« gegen eine Unterdrückung. Er legt sie damit klar auf eine reaktive, defensive Position fest. Das negative, kritikwürdige, bedrohliche Gegenüber von Protest und Widerstand beginnt und provoziert offensiv die Gewaltspirale, während Protest und Widerstand, so sie gewaltsam sind, aus der Defensive heraus Gegengewalt ausüben.79 Dieses defensive Selbstverständnis bzw. die Vorstellung, aus einer Opferrolle heraus zu handeln, haben Protest und Widerstand gemeinsam. Deutlich wird dieses Selbstverständnis vor allem dann, wenn es von den Akteurinnen und Akteuren des Protests und Widerstands erst diskursiv hergestellt werden muss: So sind die Zuschreibungen, Metaphern und Vergleiche für das, wogegen sich Protest und Widerstand richten, in 78

Gewalt. Flugblatt, S. 132f.

79

Die Unterscheidung zwischen Gewalt und Gegengewalt, also zwischen Gewalt aus der Offensive und Gewalt aus der Defensive, die die außerparlamentarische Opposition der 1960er Jahre aufbringt, spiegelt sich auch in der gesellschaftstheoretischen Reflexion der Zeit, etwa in Herbert Marcuses Repressiver Toleranz (1965) oder den Anfängen antikolonialer Theorie (z.B. Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde (1961; dt. 1966)). Vgl. dazu auch Hecken: Avantgarde und Terrorismus, S. 75-86.

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den meisten Fällen auffällig drastisch. Einige Beispiele (weitere folgen im Rahmen der Analysen): Wenn ein Protest-Telegramm gegen das Demonstrationsverbot im Rahmen des Vietnam-Kongresses dieses als »Attentat auf die Freiheit«80 bezeichnet und ein Teach-In der Universität Köln aus dem Jahr 1968 (auf dem übrigens Rolf Dieter Brinkmann gelesen hat) droht, »die Endlösung der Studentenfrage«81 stehe bevor, dann haben wir es mit Formulierungen zu tun, die die Offensive des Gegenübers und die eigene Defensive künstlich stärken. Auch Dale A. Smiths bereits zitierte Aussage, beim Widerstand gegen den Vietnamkrieg durch Europäer gehe es »um dein Leben«, zielt darauf, eine defensive Ausgangsposition für diese hervorzubringen: Auch europäischer Widerstand gegen den Vietnamkrieg soll sich so verstehen, dass er ein unmittelbarer defensiver Akt gegen eine unmittelbar bedrohliche Kriegsgewalt ist. Rudi Dutschke geht in seiner bekannten Rede auf dem Vietnam-Kongress in eine ähnliche Richtung: Genossen! Wir haben nicht mehr viel Zeit. In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und ist keine Phrase. […] Wir haben eine historisch offene Möglichkeit. Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte enden wird.82

Die oppositionellen Handlungen innerhalb Deutschlands werden auch hier als notwendige Reaktionen auf unmittelbar erfahrene Gewalt konzipiert. Bei Dutschke werden zwei Motive für die diskursive Stärkung der eigenen Defensive erkennbar: einmal die bereits erwähnte Legitimationsfunktion (Gegengewalt), einmal aber auch die Funktion, den eigenen Einfluss auf den Konflikt zu stärken. Wer selbst unmittelbar betroffen und involviert ist, hat auch unmittelbare Einflussmöglichkeiten. Rudi Dutschke konstruiert die unmittelbare Betroffenheit, aber auch die unmittelbare Handlungsmöglichkeit gleichermaßen – sodass ein erfolgreicher Widerstand in Südostasien von Deutschland aus zumindest diskursiv möglich wird. Zu den bislang im Kontext von Protest und Widerstand ausgemachten potentiellen Spannungsfeldern Aktivität/Passivität, Verbalität/Körperlichkeit und Gewalttätigkeit/Gewaltlosigkeit tritt noch das der Offensive/Defensive. Ein letztes, das ich anschauen möchte, ist das der Produktivität/Destruktivität. Widerstandsakte zielen, davon war bereits die Rede, eher auf die Destruktion ihres Objekts als auf die Produktion von etwas Neuem. Zwar kann ein Widerstandsakt in der Erschaffung einer Alternative zum Objekt beste80

Plogstedt (Hg.): Internationaler Vietnam-Kongreß, S. 172 (Hervorhebung von JC).

81

Zit. nach Kießling: Die antiautoritäre Revolte, S. 274.

82

Plogstedt (Hg.): Internationaler Vietnam-Kongreß, S. 123.

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hen (z.B. durch die Etablierung einer Gegenregierung), der Ausgangspunkt ist aber trotzdem zunächst die Verdrängung und Abschaffung des abgelehnten Objekts. Wie verhält es sich im Falle des Protests? Hans Magnus Enzensberger attestiert in seinen Berliner Gemeinplätzen den aktuellen Protesten genau ihre fehlende Produktivität als zentrales Problem: Solange es der Systemopposition nur darum geht, ihren eigenen Protest, nicht aber die gesellschaftlichen Möglichkeiten zu demonstrieren; solange sie es nicht versteht, die tiefsten Wünsche und Bedürfnisse der Massen zu wecken; solange sie die Massen jener Angst überläßt, die ihr die Bewußtseinsindustrie jeden Tag neu suggeriert, und das ist die Angst vor ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen – so lange wird die Revolution in Deutschland ein Gespenst bleiben.83

Protestieren erweist sich also als etwas deutlich anderes als das Aufzeigen von Alternativen oder »gesellschaftlichen Möglichkeiten«. Wie Widerstand auch lebt es als Phänomen in erster Linie von der Destruktion von etwas: Es gibt in beiden Fällen immer ein (beliebig abstraktes) Objekt, das nicht mehr da sein soll. Enzensberger führt weiter aus, warum die aktuellen Proteste »politisch im tiefsten Sinn unproduktiv«84 sind: Das einzige Ziel, dass die Akteurinnen und Akteure in ihrem Protest verbindet, ist der diffuse Wunsch, faschistische Tendenzen in der Gesellschaft aufzudecken bzw. zu bekämpfen. Damit liegt der Fokus des Protests rein darauf, etwas Bestehendes abzuschaffen. Die Formulierung, was stattdessen da sein soll, kann, muss aber nicht Teil des Protest- bzw. Widerstandsaktes sein. Diese Disposition von Protest und Widerstand wird vor allem dann interessant, wenn sie auf ein traditionell produktiv gedachtes Konzept wie das literarische Schreiben treffen. In Kapitel 7 wird davon noch ausführlicher die Rede sein. Bereits ein paar Mal am Rande der zitierten Texte gefallen ist der Bewegungsbegriff, der in Bezug auf politische Opposition einen weiteren prominenten Begriff im kulturellen Text um 1968 darstellt. Mit der Verwendung des Begriffs »Bewegung« klappt ein großes Panorama von Bedeutung auf, das von der simplen Positionsänderung eines Körpers im Raum innerhalb einer Zeitspanne (»Ich bewege mich zum Fenster«) bis hin zu gesellschaftlichen Gruppenphänomenen (»Studentenbewegung«) reicht. Im letzteren Sinne taucht der Bewegungsbegriff zeitgenössisch wie in der Retrospektive häufig im Verbund mit einem der ande83

Enzensberger, Hans Magnus: Berliner Gemeinplätze I [1968], in: Ders. (Hg): Kursbuch 11-15, S. 151-169, hier S. 169.

84

Ebd., S. 157.

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ren beiden Begriffe auf (»Protestbewegung« oder »Widerstandsbewegung«). Protest- und Widerstandsbewegungen werden soziologisch unter den Oberbegriff der »sozialen Bewegung« gefasst. Der Soziologe Dieter Rucht definiert eine soziale Bewegung als »ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen.«85 Eine soziale Bewegung ist nach dieser Definition an sozialem Wandel interessiert und daher immer ein oppositionelles Handlungssystem – sie gehört schon aus diesem Grund aufs Engste mit politischen Protest- und Widerstandshandlungen zusammen. Die Studentenbewegungen der verschiedenen Länder werden dabei fast immer als die wichtigsten sozialen Bewegungen der 1960er Jahre für die westlichen Länder und als Vorläufer der zahlreichen »Neuen sozialen Bewegungen« der 1970er Jahre genannt.86 »1968« ist also eine historische Kultur, die stark von einer sozialen Bewegung geprägt ist, die wiederum ein Gruppenphänomen politischer Opposition ist. Rucht streicht neben der Oppositionshaltung vor allem den Aspekt der »Mobilisierung« heraus. Eine soziale Bewegung mobilisiert, d.h. sie lädt ein zum Agieren in bislang unbekannten Räumen, zu Grenzüberschreitungen und zu Veränderungen des Verhaltens. Neben dem Bedeutungsstrang der Studentenbewegung als soziale Bewegung gibt es auch – medial wie wissenschaftlich – die Tendenz, die historische Kultur zu dieser Zeit mit Bewegungsmetaphern darzustellen. Dies kann sich sowohl auf die Studentenbewegung im engeren Sinne beziehen als auch auf eine komplette »Gesellschaft im Aufbruch«87 in »Dynamische[n] Zeiten«88. Winfried Mausbach 85

Rucht, Dieter: Öffentlichkeit als Mobilisierungsfaktor für soziale Bewegungen, in: Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. Opladen 1994 (= Sonderband Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34), S. 337-358, hier S. 338f. Vgl. zur Begriffsgeschichte und -verwendung auch Raschke, Joachim: Zum Begriff der sozialen Bewegung, in: Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M./New York 1987, S. 19-29 und Ahlemeyer, Heinrich: Soziale Bewegungen als Kommunikationssystem: Einheit, Umweltverhältnis und Funktion eines sozialen Phänomens. Opladen 1995.

86

Vgl. etwa Rucht, Dieter: Soziale Bewegungen, in: Nohlen, Dieter/Schultze, RainerOlaf (Hg.): Lexikon der Politik, Bd. 1: Politische Theorien. München 1995, S. 577581, hier S. 579.

87

Vgl. Korte, Herrmann: Eine Gesellschaft im Aufbruch: die Bundesrepublik Deutschland in den sechziger Jahren. Frankfurt/M. 1987.

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fasst die Eindrücke von Aufbruch und Dynamik, die die 1960er Jahre vermitteln, wie folgt zusammen: Bis heute verbinden wir mit ihnen [den 1960er Jahren, JC] die Vorstellung einer kräftigen Beschleunigung in jenem doppelten Sinne, in welchem einerseits die mit Krise und Unruhe verknüpfte Grundbedeutung von Geschwindigkeit aufbewahrt ist, andererseits aber auch der Wunschtraum eines schwungvollen Fortschritts in Richtung auf ein geschichtliches Endziel oder Ideal.89

Dass »1968« eine Zeit ist, in der vieles in Bewegung ist und in der Fortschritt und Geschwindigkeit zentral sind, klingt wie ein oft bemühter Allgemeinplatz. Es hat aber zeitgenössisch großes Konfliktpotential und damit beachtliche Konsequenzen für sämtliche in ihr entstehenden kulturellen Texte: »In-BewegungSein« lässt wenig Stabilität zu, weder auf der diachronen noch auf der synchronen Zeitachse. Fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sind betroffen von radikalen Infragestellungen von und Angriffen auf Regeln, Ordnungsmuster, Traditionen und eingespielte Verfahren. Immer wieder wird in kulturellen Texten darauf verwiesen, dass etwas »in Bewegung« ist oder sein sollte, sei es ein Individuum, eine Gruppe oder das gesamte Netzwerk kultureller Texte. Unabhängig davon, wie groß die Veränderungen sind, die diese Bewegungen, Hinterfragungen oder auch Angriffe über die 1960er Jahre hinaus bewirkt haben, schaffen sie zeitgenössisch eine Atmosphäre großer Unruhe und Offenheit in allen Lebensbereichen. Vieles wird mit der Anforderung konfrontiert, anders zu werden oder sich zu bewegen – oft von mehreren, sich widersprechenden Seiten. Gesellschaftlich wie literarisch ist wenig stabil oder berechenbar; es gibt kaum Bereiche, die sich nicht einschneidenden und grundlegenden Verschiebungen, Neuaushandlungen, Angriffen und Veränderungen ausgesetzt sehen (nicht einmal die Angriffe selbst). Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist, zunächst ganz allgemein formuliert, dass vertraute Bindungen jeglicher Art gelockert oder gelöst werden zugunsten einer maximalen Offenheit der Optionen. Die als Ankündigung einer neuen Zeitschrift überschriebene Annonce der KursbuchHerausgeber kurz vor Erscheinen der ersten Ausgabe definiert den Auftrag der neuen Zeitschrift wie folgt: »Absicht: Kursbücher schreiben keine Richtungen 88

Vgl. Schildt, Axel (Hg.): Dynamische Zeiten: die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000.

89

Mausbach, Wilfried: Wende um 360 Grad? Nationalsozialismus und Judenvernichtung in der ›zweiten Gründungsphase‹ der Bundesrepublik, in: Hodenberg/Siegfried (Hg.): Wo ›1968‹ liegt, S. 15-44, hier S. 15.

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vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen. So versteht die Zeitschrift ihre Aktualität.«90 Diese Zeitschrift hält sich alles offen, was Inhalt, Programm und »Richtung« betrifft. Sie löst sich programmatisch, schon vor ihrem ersten Erscheinen, aus sämtlichen Bindungen, die für eine Zeitschrift denkbar sind. Übrigens tut sie dies in Verbindung mit einem sehr »bewegungsaffinen« Titel – schließlich sammelt ein »Kursbuch« im ursprünglichen Sinne alle möglichen Bahnverbindungen für eine Region, zeichnet also alle fahrbaren Richtungen und Verbindungen nebeneinander auf. Einen ähnlich bewegungsaffinen Titel schlägt auch Bernward Vesper seinem Verleger für seinen entstehenden Text vor: »Übrigens, der endgültige Titel ist Logbuch« (DR: 618 (Anhang)), schreibt er Jörg Schröder am 6. März 1971 aus der Psychiatrie. Ein Logbuch ist, ähnlich wie ein Kursbuch, ein Format, welches Stationen im Raum sowie die Bewegung zwischen diesen in den Vordergrund stellt. Zusätzlich ist das Logbuch ein Format, welches in seiner Struktur hauptsächlich davon geleitet wird, was der Weg hergibt – der/die Schreibende ist in Bewegung und schreibt spontan das auf, was ihm/ihr begegnet. Dieser Aspekt führt zu einer weiteren Bedeutungsdimension von »Bewegung« im kulturellen Text der »68er«: Ein häufig zu findendes Ideal in mehreren Bereichen ist das der räumlichen Mobilität, des Verlassens gewohnter Orte und des authentischen Erlebens und Agierens an neuen Orten. In seinen Notizen zur Tagung Der Schriftsteller in der Wohlstandsgesellschaft zeichnet Peter Handke einen Wortbeitrag von Peter Weiss auf, der diesen Aspekt aufgreift: Peter Weiss sprach. Lange Zeit hatte er innerhalb der Tür gelebt, hatte sich nur um sich selber gekümmert, war sich selber genug gewesen, sometimes making love with someone. Dann aber war er vor die Tür getreten und hatte bemerkt, daß es außer ihm noch Menschen gab. […] While he was making love inside the door, starben draußen Tausende am Krieg, an Unterdrückung, Hunger, Armut: an gesellschaftlichen Verhältnissen. Da erkannte er, daß er etwas ›unternehmen‹ müßte.91

Der Schritt vor die Tür, aus dem gewohnten Raum und über die Haustür hinaus, verändert offenbar etwas in der Wahrnehmung von Unrecht. Die Tür steht als Bild für die Grenzüberschreitung zwischen den eigenen, gewohnten gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und denen anderer. Sie zu überschreiten ergeht, das 90

Ankündigung einer neuen Zeitschrift [1965], abgedruckt in: Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Kursbuch 1-10. [Reprint-Ausgabe]. Frankfurt/M. 1976, S. 1.

91

Handke, Peter: Die Literatur ist romantisch, in: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt/M. 1972, S. 35-50, hier S. 35.

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zeigt der Rahmen der Äußerung, als Auftrag speziell an Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die auch in Bezug auf ihr Schreiben ihre vertrauten Räume und Themen überwinden sollen. Programmatisch formuliert wird Weiss’ Impetus später bei Reinhard Lettau in dessen Essay Eitle Überlegungen zur literarischen Situation: Angefangen haben diese Schwierigkeiten damit, daß wir eines Tages, von der Revolution nach Hause kommend, wo der Schreibtisch noch immer freundlich stand, nicht wußten, wie das, was wir schrieben, mit dem zu tun hatte, was eben auf der Straße geschehen war.92

Reinhard Lettau problematisiert den »bürgerlichen« Schreibort des heimischen Schreibtisches, insofern der/die an ihm Sitzende von wichtigen Erfahrungen abgekoppelt ist, die zum erfolgreichen Schreiben gebraucht werden. Das Schreiben findet wie bei Weiss »hinter der Tür« und damit an einem anderen Ort statt als das »Geschehen«, was dem Schreiben jegliche Relevanz innerhalb des Geschehens nimmt. Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden also mit einer neuen Erwartung konfrontiert: Sie sollen mobil sein, sich als Erlebende und Schreibende in der Welt bewegen und das Schreiben mit Erfahrungen außerhalb der gewohnten Räume und sozialen Kontexte verbinden. Literarisches Schreiben soll nicht nur gesellschaftlich relevante Themen behandeln und zur gesellschaftlichen Veränderung beitragen, sondern auch von jemandem mit »Insiderwissen« ausgehen. Indirekt ist diese Anforderung an das literarische Schreiben bereits in Peter Schneiders Kursbogen-Beitrag angeklungen, insofern er sich dafür einsetzt, dass sich bestimmte neue Gruppen der Gesellschaft (Arbeiter, Schüler, Studenten) schreibend zu Wort melden, die über bislang unartikulierte, aber gesellschaftlich bedeutsame Erfahrungen und Bedürfnisse verfügen. Dass von Schriftstellerinnen und Schriftstellern erwartet wird, nicht nur über Ideen zur Veränderung gesellschaftlicher Bereiche, sondern auch über authentische Erfahrungen innerhalb dieser Bereiche zu verfügen, zeigt deutlich Hans Christoph Buchs Bestandsaufnahme der Gegenwartsliteratur Anfang der 1970er Jahre: »Die Person des Autors ist heute genauso öffentlich wie sein Werk, das Interesse an ihr mehr als nur voyeuristischer Natur. Es genügt nicht, in Büchern radikale Änderungen zu propagieren, wenn die Person, die hinter den Büchern steht, sich nicht selbst radikal ändert, neuen Erfahrungen aussetzt […].« 93 92

Lettau, Reinhard: Eitle Überlegungen zur literarischen Situation, in: Buch (Hg.): Bilanz der Politisierung, S. 19-23, hier S. 19.

93

Buch: Vorbericht, S. 17.

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Glaubhaftigkeit und Authentizität werden mit dem eigenen Erleben eines mobilen Schreibenden identifiziert. Die Mobilität des Schreibenden avanciert zur Norm, zum Qualitätskriterium: Wer sich selbst beweglich und veränderungswillig gezeigt hat und sich zu den wichtigen gesellschaftlichen Räumen hinbegeben hat, erweist sich erst als lesens- und zuhörenswert – wer nur »in Büchern« radikal ist, nicht. Diese Mobilität ist übrigens eine Anforderung, die nicht nur im Bereich des literarischen Schreibens gestellt wird, sondern sich durch die gesamte oppositionelle Kultur zieht. Auch politische Äußerungen und Positionierungen werden häufig daran gemessen, ob der/die Redende über authentische Erfahrungen »on site« verfügt. Dass dies vor allem konfliktgeladen ist, sobald es um Gewalterfahrungen geht, zeigt deutlich der aufgezeichnete Diskussionsbeitrag eines »Genossen Jansen« auf dem Vietnam-Kongress von 1968: Ich kann einfach nicht verstehen, weswegen dieses Blut nun weiterhin gefordert wird, und zwar überall. […][Ich finde] es, ehrlich gesagt, einfach toll, daß wir hier sitzen, und hier spricht einer aus Südamerika und fordert zu Blutvergießen auf, und wir klatschen dazu. Also, ich habe nicht geklatscht und bin vielleicht vorbelastet – ich bin Mediziner. Jedenfalls bin ich mir ganz klar, daß ich, bevor ich zu einem solchen Vorschlag klatschen würde, in dieses Krisengebiet gehen würde und kämpfen würde und nicht hier sitzen und klatschen würde. Das ist mir ganz klar.94

Wer sich nicht selbst ins ferne Krisengebiet bewegt und die gewaltsamen Erfahrungen selbst macht, so die Botschaft, hat auch nicht das Recht, diese Gewalt zu fordern oder auch nur zu kommentieren. Diese Kritik erweist sich im Übrigen als eng verbunden mit dem zuvor thematisierten Diskurs des zeichenhaften Protests ohne reale Konsequenzen: Auch »Genosse Jansen« kritisiert, dass diejenigen, die ihre Zustimmung zur Gewalt durch Beifall zum Ausdruck bringen, in der bequemen Position verharren, sich niemals in die Nähe dieser Gewalt zu begeben. Wer dem Gewaltaufruf verbal zustimme, müsse sich auch der Erfahrung und Verantwortung stellen, selbst in das Krisengebiet zu gehen und die Gewalt auszuüben, so die Forderung. Mit den Anforderungen von Mobilität und Authentizität, die an sie herangetragen werden, sind alle drei untersuchten Schriftsteller vertraut und machen sie produktiv, sei es Vesper mit seinen Reisenotizen und Drogenrausch-Protokollen, Weiss mit seinen dokumentarischen Vietnam-Texten, oder Brinkmann, der mit verschiedenen mobilitätsaffinen Schreibverfahren (Tonbänder, Collagegedichte) 94

Plogstedt (Hg.): Internationaler Vietnam-Kongreß, S. 81.

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experimentiert und als Herausgeber der Anthologie Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik einleitend schreibt: Was fasziniert, ist der Versuch, neue ›verkehrsformen‹ für Literatur zu entwickeln. Gedichte werden auf der Straße verteilt. Lesungen auf der Straße abgehalten. Das hat zwangsläufig Rückwirkungen auf die Gedichte, die verteilt und draußen vorgelesen werden.95

Auch in Bezug auf die drei Texte wird gern auf den Bewegungsbegriff zurückgegriffen. Dies passiert in jeweils unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen. So wird sich etwa bei Bernward Vesper häufig auf die handelnde Figur bezogen, die »in Bewegung« ist: Martin Tauss beschreibt die Europareise, die Vespers Protagonist unternimmt sowie dessen Aufenthalt in München unter Drogen als »geprägt von nahezu rastloser Bewegung.« 96 Übereinstimmend spricht Gerrit-Jan Berendse von »rastlosen Bewegungen eines Schreibenden ›on the road‹, der seinem Schicksal nicht entkommen kann.«97 Berendse stellt darüber hinaus einen Bezug her zwischen den häufigen Raum- und Zeitsprüngen, die den Text auf formaler Ebene auszeichnen, und der unberechenbaren, sprunghaften Reisetätigkeit der Figur. Neben den von Berendse erwähnten Sprüngen in Raum und Zeit finden sich weitere Passagen, die eine Art von Bewegung auch in ihrer Form abzubilden scheinen. Als Beispiel sei hier eine Beschreibung des Schreibprozesses durch den Protagonisten genannt, die sich wie das In-GangSetzen eines Fahrzeugs liest: Schreibprozeß: das Stottern der Sätze, dann der immer raschere Fluß der Assoziationen, das hektischer werdende Verstopfen aller Löcher im Gespinst der Totalität, das Ausgleiten auf den Szenen, der Türen, das Abfahren der Gedanken, das Abbrechen des Niederschreibens, der sich nach allen Seiten expandierende Ballon des Erinnerungsstromes, das grau verwischte ›Ende des Gedankens‹, Rauchschlund vor einer gelben Feuerwand. (DR: 263)

95

Brinkmann, Rolf Dieter: Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu der Anthologie ›Silverscreen‹ [1969], in: Ders.: Der Film in Worten, S. 248-269, hier S. 261.

96 97

Tauss: Rausch, Kultur, Geschichte, S. 132. Berendse, Gerrit-Jan: Schreiben als Körperverletzung. Zur Anthropologie des Terrors in Bernward Vespers ›Die Reise‹, in: Monatshefte 93 (2001), H. 3, S. 318-334, hier S. 325.

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Vesper wählt hier eine Aufzählungsstruktur, die das Gefühl zunehmender Geschwindigkeit erzeugt durch die schnell hintereinander folgenden Halbsätze und die immer schneller übersprungenen inhaltlichen Lücken. Der »immer raschere Fluß der Assoziationen« findet sich in der Textstelle selbst umgesetzt, die inhaltlichen Wege zwischen den aufgezählten Elementen werden immer länger und immer schneller überbrückt. Von einer ähnlichen Beobachtung gehen Johannes Schillo und Jan Thorn Prikker aus, wenn sie in Brinkmanns Prosa »das Gleitende und Bewegte seiner Beschreibungen«98 als charakteristisch ausmachen. Schillo und Prikker beziehen sich ebenfalls auf die Gestaltung von Übergängen und Brüchen, die analog zur Seh- und Denkgeschwindigkeit des Erzählers dargestellt werden: »Es wird nicht erzählt von den Erlebnissen eines Flaneurs, Beobachters undsoweiter, sondern wir werden gezwungen, diese Haltungen mitzumachen; und vor allem die Übergänge mitzumachen.«99 Auch Weiss’ Ästhetik des Widerstands wird in der Forschung gern mit Hilfe der Bewegungsmetapher betrachtet. Karen Hvidtfeldt Madsen etwa bezeichnet den Text in einem Kapiteltitel ihrer Dissertation als »[e]in Werk in Bewegung« 100 und macht mehrere Ebenen aus, auf denen jene Bewegung spürbar wird: Zunächst liest sie die Ästhetik des Widerstands als eine Abwandlung des klassischen Bildungsromans, in dem der Protagonist im Laufe der Handlung Deutschland verlässt, Erfahrungen macht und, verändert, wieder nach Deutschland zurückkehrt. Die Bewegung des Protagonisten findet also einmal, wie bei Vesper, zwischen geographischen Räumen statt und setzt ihn authentischen Erfahrungen wie dem spanischen Bürgerkrieg und dem Exilleben in Schweden aus. Gleichzeitig findet die Bewegung des Protagonisten aber auch zwischen »symbolischen Räumen«101 statt: Sie verläuft z.B. immer wieder abwechselnd zwischen Räumen der Vertrautheit (wie die verschiedenen proletarischen Küchen) und Räumen der Fremde (wie die Bahnhöfe und Häfen). Madsen deutet den gesamten Text als über die verschiedenen Bewegungen des Protagonisten durch Räume organisiert und vermerkt eine stetige »Dynamik […] zwischen Reisen und Bleiben, Heimatlosigkeit und Zugehörigkeit, Veränderung und Stabilität,

98

Schillo, Johannes/Prikker, Jan Thorn: Gleitende Prosa. Notizen zu Brinkmanns Schreibweise, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. München 1981 (= Edition text+kritik), S. 76-82, hier S. 78.

99

Ebd.

100 Hvidtfeldt Madsen, Karen: Widerstand als Ästhetik: Peter Weiss und Die Ästhetik des Widerstands. Wiesbaden 2003, S. 63. 101 Ebd., S. 107.

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›Fremde‹ und ›Heimat‹«.102 Gleichzeitig lassen sich, betrachtet man den Text auf der Ebene der Darstellung, auch Bewegungen innerhalb seiner Form feststellen, die den zuvor betrachteten Verfahren Brinkmanns und Vespers ähneln. Bereits der berühmte erste Satz des Textes lässt sich, wie hier von Jens Birkmeyer, unter diesem Aspekt betrachten: Mittels der partizipialen Satzkonstruktion wird ein Stakkato gebündelter Wahrnehmungen und Eindrücke mitgeteilt, deren Tempo zusehends beschleunigt wird. Der rasch entziffernde Blick tastet sich sprunghaft von ›Figur zu Figur, von einer Situation zur nächsten‹, selbst angetrieben von den verharrenden Bewegungsabläufen, die unmittelbar nach Entscheidungen drängen. […] Sprunghaft werden im Sehvorgang die martialisch kämpfenden Bewegungen der Götter und Giganten dynamisiert und abgetastet, es verwischen sich dadurch die scharfen Grenzen zwischen organischer Leiblichkeit und statuarischer Starre.103

Entscheidend sind neben der Thematisierung von Bewegung also vor allem ihre Inszenierung auf der formalen Ebene, z.B. über die nachgezeichnete Augen- und Denkbewegung der Erzählerfigur. Betrachtet man den Text selbst, so vermittelt er das Gefühl, beim Erzählen von Bewegung selbst in Bewegung zu sein: Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung.104

Inhaltlich spricht die Passage von einer »einzige[n] gemeinsame[n] Bewegung«, in der die Darstellung auf dem Pergamonaltar begriffen ist. Diese große Bewegung ist wiederum zusammengesetzt aus lauter kleinen, fragmentierten Körperbewegungen, die in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Formal greift auch Weiss die Fließbewegung auf, indem er die unterschiedlichen Fragmente ohne 102 Ebd., S. 109. 103 Birkmeyer, Jens: Bilder des Schreckens: Dantes Spuren und die Mythosrezeption in Peter Weissʼ Roman ›Die Ästhetik des Widerstands‹. Wiesbaden 1994, S. 222f. 104 Weiss, Peter: Die Ästhetik des Widerstands [1975/1978/1981]. Frankfurt/M. 1998, S. 9. Im Folgenden zitiert im Text mit »ÄdW« und Seitenzahl.

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größere Zäsuren in einer Aufzählung erfasst. Auch die von Birkmeyer erwähnten häufigen Partizip I-Konstruktionen unterstützen die Fließbewegung, indem sie großes Gewicht auf die Prozesshaftigkeit der Bewegungen legen. Abgebildet wird wiederum eine Augenbewegung: die des Protagonisten, der vor dem Pergamonaltar steht und der Reihe nach die vielen kleinen dargestellten Bewegungen erfasst, aber auch die kraftvolle Bewegung, die das Kunstwerk als Gesamtes ausstrahlt. In auffällig vielen Passagen der Ästhetik des Widerstands, in denen Kunstwerke rezipiert werden, liegt ein starker Fokus des Protagonisten darauf, die Bewegung in ihnen wahrzunehmen, zu kommentieren und zu analysieren. Gleichzeitig findet sich auch das oben gezeigte Darstellungsverfahren, das die Bewegung des Bildes wie auch die Augenbewegung des Betrachters auf der formalen Textebene nachzeichnet, immer wieder – unter anderem in der später noch wichtigen Passage, die den Protagonisten und seinen Freund Ayschmann bei der Betrachtung von Pablo Picassos Guernica zeigt (vgl. ÄdW: 411-423). Die Betrachtung der drei Texte unter dem Aspekt der Bewegung zeigt, dass Schreiben und Bewegung sich in ihnen auf vielgestaltige Weise verbinden: Sie schreiben über Bewegung, sie werden in Bewegung geschrieben, sie inszenieren schreibend Bewegung und sie werden geschrieben, um etwas zu bewegen. Als übergeordnete Themen oder auch Konfliktfelder kristallisieren sich im Bereich Bewegung – inner- und außerliterarisch – heraus: Mobilität und Grenzüberschreitungen, die Faszination für Prozesshaftigkeit und Geschwindigkeit sowie die Auflösung vertrauter Bindungen zugunsten von möglichst offenen Optionen. Dies markiert einen ersten Bereich, in dem literarisches Schreiben und politische Opposition interagieren, sich durchdringen und in Konflikte geraten. Weitere Bereiche werden durch die vorausgegangenen Überlegungen zu Protest und Widerstand gestiftet: Massive Reibungen und Konflikte in den kulturellen Texten sind etwa darin angelegt, wie aktiv bzw. passiv, wie verbal bzw. körperlich und wie gewalttätig Akte politischer Opposition sein sollen. Weiterhin liegt ein Konfliktfeld im Umgang mit Offensive und Defensive, ein weiteres im Umgang mit Produktivität und Destruktivität. Diese Auflistung soll in erster Linie zeigen, dass die politische Opposition, ebenso wie das literarische Schreiben, zeitgenössisch ein komplexes und von sehr verschiedenen Diskursen strukturiertes Phänomen ist. Sie stellt für die folgenden analytischen Schlaglicht-Kapitel eher eine Inspiration und vorsichtige Leitlinie als eine Beschränkung dar. Schließlich gehen die Kapitel selbst rein von Impulsen und Details aus den kulturellen Texten aus. Allerdings spielen die genannten Ausprägungsformen und Konfliktfelder alle in mindestens einem Kapitel eine Rolle. So befasst sich das 4. Kapitel mit inner- und außerliterarischen Anforderungen, aktiv zu werden bzw. Passivität abzulegen. Diese Anforderun-

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gen erweisen sich über die Metaphern Impotenz und Masturbation als zusammenhängend mit spezifisch männlichem Schreiben bzw. Reden über Schreiben. Auch das Konfliktfeld von Offensive und Defensive spielt hier bereits eine Rolle. Zentral wird dieses Konfliktfeld im 5. Kapitel, das sich der Verquickung von Opfer- und Täteridentitäten in der Vorstellung von (gewaltsamem) Widerstand zuwendet und dies in Zusammenhang mit dem literarischen Schreiben setzt. Die verschiedenen skizzierten Dimensionen von »Bewegung« in Interaktion mit dem Schreiben greift das 6. Kapitel auf. Im 7. Kapitel schließlich werden negativ gewendete Aspekte der politisch-oppositionellen Ausprägungsformen (Stille, Verweigerung, Stillstand, Abwesenheit, Auslöschung…) in den Blick genommen und in Bezug auf das Schreiben durch verschiedene kulturelle Texte verfolgt. Dabei wird das Konfliktfeld von Passivität und Aktivität ebenso gestreift wie die Faszination für Grenzüberschreitungen und offene Optionen; der wichtigste Anknüpfungspunkt liegt aber in den Unklarheiten um Produktivität und Destruktivität von Auslöschungs- und Verweigerungsakten.

Deaf, dumb and blind boys und paperfighting men: Der (männliche) Weg von Passivität zu Aktivität

D AS AUSBRECHEN

AUS DER

P ASSIVITÄT 1

Am 23. Mai 1969 erscheint in Deutschland das Konzeptalbum Tommy der britischen Band The Who. Das Album erzählt in 24 Songs folgende Geschichte: Tommy wird kurz vor Kriegsende geboren. Sein Vater gilt als vermisst, sodass er erst nur bei seiner Mutter, dann bei ihr und einem Stiefvater aufwächst. Nach Jahren kehrt der Vater jedoch aus Kriegsgefangenschaft zurück. Es kommt zum Streit um die Mutter, bei dem der Stiefvater getötet wird.2 Der kleine Tommy hat die Szene im Spiegel beobachtet und wird fortan deaf, dumb and blind (taub, stumm und blind) – ausgelöst durch seine Eltern, die ihm immer wieder einschärfen, er habe nichts gesehen, nichts gehört und dürfe niemals darüber sprechen. Es folgt eine harte Zeit für Tommy, in der er in seiner Wehrlosigkeit sexuellem Missbrauch, den Quälereien und dem Spott der anderen Kinder sowie Heilversuchen durch Drogen ausgesetzt ist. Eines Tages gerät der Jugendliche an

1

Der erste Teil dieses Kapitels basiert auf meinem Aufsatz Vom deaf, dumb and blind boy zum paperfighting man. Eine kulturpoetologische Analyse von Opferrollen, Sprachmacht und politischem Schreiben im Werk Bernward Vespers, erscheint 2016 in einen Sammelband zu Bernward Vesper, hg. von Julian Reidy und Thomas Richter.

2

In einer etwas anderen Variante erzählt der 1975 entstandene Musikfilm Tommy von Ken Russell die Geschichte: Hier ist es der heimgekehrte Vater, der ums Leben kommt. Ob die Tötung absichtlich oder unabsichtlich passiert, ist in der Albumversion nicht ganz klar; in der Filmversion wird sie als unreflektierte Kurzschlusshandlung des neuen Partners gezeigt.

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einen Arzt, der feststellt, dass seine Sinne normal funktionieren. Kein äußerer Einfluss könne ihn heilen, nur er selbst könne seinen »inner block« überwinden. Dies gelingt Tommy schließlich durch einen veritablen Befreiungsschlag, indem er den Spiegel zerschlägt, in dem er damals die schreckliche Szene beobachtete. Tommy wird geheilt und wird zu einer Berühmtheit, einem Messias für die Jugend. Zunächst mit großem Erfolg versucht er, seinen Anhängern den Weg zu seiner Befreiung nahezubringen, muss aber am Ende erkennen, dass er nur Gegenstand eines Trends war und seine eigentliche Botschaft nicht verstanden worden ist.3 Der Song »1921« lässt die Ursprungsidee der Band erkennen, die Handlung nach dem 1. Weltkrieg anzusiedeln. Jedoch verweisen etliche Themen und Motive des Albums, etwa die Heimkehrerproblematik nach langer Kriegsgefangenschaft, die angenommene Heilkraft von chemischen Drogen, das Flipperspiel, die Jugendbewegung und auch der »Rock Musician«, den Tommys Anhängerin Sally Simpson statt seiner heiratet, überdeutlich auf die Nachkriegszeit des 2. Weltkriegs. In der Filmfassung von 1975 ist die Handlung dann auch eindeutig dort angesiedelt, was vermuten lässt, dass die Albumfassung von 1969 eigentlich schon in weiten Teilen die 1950er und 1960er Jahre vor Augen hat. Interessant an dieser musikalischen Narration ist vor allem die Konstruktion der Figur des Jungen bzw. jungen Mannes Tommy. Tommy wird durch ein Schlüsselerlebnis zum deaf, dumb and blind boy. Charakteristisch für diesen Zustand ist, dass er in jeglicher Hinsicht passiv ist. Man könnte fast sagen, dass die Figur des kranken Tommy als Allegorie des Passiv-Seins entworfen wird: Durch seine fehlenden Sinne (Sehen/Hören) einerseits und seine fehlende Artikulationsmöglichkeit (Sprechen) andererseits ist Tommy jegliche Chance genommen, die Umgebung seiner Kindheit wahrzunehmen, zu verstehen und in sie einzugreifen.4 Damit hat er keine Möglichkeit zur Tat, ist immer nur den Taten anderer ausgesetzt. Unter diesen Voraussetzungen trifft er permanent auf Menschen, die seine mangelnden Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten ausnutzen und »mit ihm etwas tun«. Seine erste eigene Tat, das Zerschlagen des Spiegels, führt 3

Eine ausführliche Entstehungsgeschichte von Album und Film sowie alle Songtexte der Filmfassung bietet: Barnes, Richard/Townshend, Pete: The story of Tommy. Twickenham 1977.

4

Dass die Figur Tommy allegorisch konzipiert ist und eine weiter reichende Form der Passivität und Einschränkung verkörpert, bestätigt auch eine Aussage Pete Townshends im Interview: »So I decided that the hero had to be deaf, dumb and blind, so that, seen from our already limited point of view, his limitations would be symbolic of our own.« (ebd., S. 30).

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dann schließlich zu seiner Heilung, zu seiner Befreiung aus der lähmenden Passivität und zu einer Möglichkeit, aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen. Die Geschichte von Tommy ist deshalb von Bedeutung, weil sie das Thema des Protestierens und Aufbegehrens aufgreift und dabei auf kleinem Raum eine Vielzahl von Elementen in sich vereint, die um 1968 in Bezug auf (männliche) Passivität und Aktivität eine Rolle spielen. Männliche Passivität oder Aktivität sind wiederum, so eine erste These, in zwei der ausgewählten literarischen Texte zentral für die Aspekte des Schreibens und des schriftstellerischen Selbstentwurfs. Was geschieht also in Bezug auf Aktivität und Passivität im Fall von Tommy? Die Eltern entgehen der Verantwortung für die erste Tat (Töten) durch eine weitere Tat: Sie bringen Tommy zum Schweigen und versagen ihm damit fortan jegliche Teilhabe an der Gesellschaft.5 Diese erste fremde Tat »an ihm«, die er passiv erdulden muss, führt dazu, dass er langfristig zur passiven Erduldung fremder Handlungen verdammt wird. Durch seine Passivität wird er zu jemandem, der seine Umgebung nicht beeinflussen kann, sondern ihr schutzlos ausgeliefert ist. Tommy wird gewissermaßen vom Menschen zum Gegenstand, der zwar durch die Taten anderer bewegt werden kann, sich aber nicht selbst bewegt. In der Filmfassung ist diese Bewegungslosigkeit sogar visuell umgesetzt: Tommy wird vor seiner Heilung meist gezeigt, wie er von einem Erwachsenen mit sich gezerrt – also bewegt – wird, während seine wenigen eigenen Bewegungen als ziel- und fruchtlos dargestellt werden. Nach seiner Heilung ist er dann in der Lage, sich ohne Einschränkung zu bewegen. Auffällig ist nun, wie diese Heilung zustande kommt. Sie wird eingeleitet von einem Akt, in dem Tommy aktiv aufhört, »Gegenstand« zu sein: Er setzt seiner Umwelt mit dem Zerschlagen des Spiegels eine erste eigene Tat entgegen, er verlässt die Sphäre des PassivGegenständlichen und wird zu einer Person, die durch ihre Handlungen Veränderungen in ihrer Umwelt auslöst und verantwortet. So gelesen ist Tommy die Geschichte einer Selbstermächtigung, eines Weges zu aktivem und eigenständigem Handeln. Mit dem Schlag gegen den Spiegel entscheidet er sich, nicht mehr Objekt, sondern Subjekt in seiner Umwelt zu sein und deren Entwicklung nicht mehr passiv hinzunehmen, sondern aktiv zu gestalten. Betrachtet man unter dieser Voraussetzung die »Ur-Handlung«, das Zerschlagen des Spiegels, so zeigt 5

Die Schuld der Eltern wird in der Albumfassung kaum thematisiert, während sie in der Filmfassung stärker in den Fokus rückt. Unter anderem verfügt der Song Amazing Journey im Film über eine zusätzliche Strophe: »Now he is deaf / Now he is dumb / Now he is blind / The guilty are safe / but always accused by his empty eyes« (ebd., S. 20f.).

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sie sich als eine oppositionelle, aber dabei eher symbolische Handlung. Zwar ist sie klar aktiv und auch von einer gewissen Aggressivität und Wehrhaftigkeit des Ausführenden gekennzeichnet, doch ändert sie nichts Gravierendes an Tommys Umwelt. Tommy schlägt den Spiegel, nicht etwa seine Eltern oder diejenigen, die ihn in seiner Wehrlosigkeit gequält haben. Der Schlag gegen den Spiegel ist ein Protestakt, ein zeichenhafter Ausspruch gegen die Passivität, in der ihn seine Umwelt festgehalten hat. Symbolisch zerstört wird das Objekt, das für sein passives Leben steht. Die Folge ist, dass seine Befreiung aus dem Status der Passivität in einem Spagat geschieht: Einerseits schafft Tommy es, selbst aktiv zu werden – indem er etwas »tut« und den Zustand verlässt, in dem »etwas mit ihm getan« wird. Andererseits findet er im Zerschlagen des Spiegels eine Form von Aktivität – sogar eine, die Aggression und Wehrhaftigkeit auszudrücken in der Lage ist –, durch die er keine Schuld auf sich lädt durch die Schädigung anderer. Tommy schafft es, ein »Handelnder« zu werden, aber kein »Täter«. Er entscheidet sich für eine Form der Aktivität, die für ihn »etwas ändert« und auch seine Wut und Aggression ausdrückt, ihn aber nicht wie seine einstmaligen Aggressoren werden lässt und ihm dadurch auch in diesem Punkt eine Art von Opposition erlaubt. Dies ist ein Kernpunkt der Befreiung, die Tommy erfährt – und die er sucht, seinen Anhängern weiterzugeben. Etwa zur gleichen Zeit, in der Pete Townshend die »Erfolgsgeschichte« des jungen Mannes Tommy konzipiert, lässt der junge Schriftsteller Bernward Vesper in seinem einzigen Roman Die Reise seinen Protagonisten sagen: Ich habe nicht darum gebeten, Europäer werden zu dürfen, geboren als Deutscher im Jahre 1938 in einer Klinik in Frankfurt an der Oder, als Kind von Mittelklasseeltern, die einem vertrottelten Traum vom Tausendjährigen Reich anhingen. Ich werde mir die Freiheit nehmen, die man mir vorenthalten hat, ich werde mich verwandeln [...]. (DR: 238; Kursiv im Original)

Auch der Protagonist und Erzähler der Reise, Bernward, empfindet seine familiäre Herkunftssituation als passiv und unfrei. Bisher, so suggeriert er, hat er an der Gestaltung seiner Umwelt keinen Anteil gehabt; den Gestaltungsspielraum haben, ähnlich wie im Fall von Tommy, bislang seine Eltern ausgefüllt. Doch er möchte sich »die Freiheit nehmen«, sich selbst »verwandeln« – und wie Tommy überkommt ihn diese Entscheidung schlagartig: Plötzlich hörte ich eine Stimme einen kurzen Satz bestimmt aussprechen. Ich richtete mich auf, hörte dem Satz nach, der das ganze Innere des Autos ausfüllte. Und langsam begriff ich, daß ich selbst diesen Satz gesprochen hatte, ohne ihn zu formulieren, daß ich meine

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Stimme, die ich verloren hatte, […], wieder beherrschte. ›Jetzt werde ICH diese Sache einmal in die Hand nehmen.‹ [...] Ich fing an, meine Möglichkeiten zu überdenken und einen Plan zu machen. Ich war gestorben und wieder geboren worden. ICH war vorhanden, ein Subjekt, das der Welt nicht hilflos ausgeliefert war. (DR: 254; Kursiv im Original)

Auch Bernwards Erfahrung ist eine der Überwindung von gefühlter Sprachlosigkeit (»meine Stimme, die ich verloren hatte«) und Passivität sowie der Entdeckung der eigenen Handlungsfähigkeit und damit des eigenen Subjektstatus (»ICH war vorhanden, ein Subjekt, das der Welt nicht hilflos ausgeliefert war«).6 Seine titelgebende »Reise« gewinnt damit die Bedeutungsdimension eines Wegs zur Selbstermächtigung und Aktivität. 7 In ausführlichen Rückblenden in seine 6

Dass Bernward seine Subjektwerdung eng mit dem Hinterfragen von Autoritäten zusammendenkt, ist, folgt man den Ausführungen Klaus-Michael Bogdals, eine sehr zeittypische Form des Subjektentwurfs. Es ist die von Bogdal skizzierte »riskante Subjektwerdung«, äußere Einflüsse und Regeln radikal abzulehnen, um in reiner Selbstbestimmung das alleinige Risiko zu schultern, ein authentisches Subjekt zu werden: »Das empörte Selbstbewußtsein kündigt das Einverständnis mit der äußeren Macht auf, um die Risiken der Selbstverwirklichung zu übernehmen.« (Bogdal: Riskante Subjektwerdung, S. 20). Bogdal zeigt auch die bildungs- und kulturgeschichtlichen Vorläufer dieses Verständnisses von Subjektwerdung auf, was hier jedoch nicht näher berücksichtigt werden kann.

7

Die titelgebende »Reise« von Vespers Roman ist sehr unterschiedlich gedeutet worden: Zunächst verweist sie auf die konkreten, räumlichen Reisen, die ihr Protagonist unternimmt – der Roman handelt von einer Europareise und wird auf einer weiteren geschrieben. Doch auch der Drogentrip, den der Protagonist in München erlebt und für den Roman aufzeichnet, stellt eine Art von Reise dar. Weiterhin legt fast jeder Sekundärtext den Titel auch metaphorisch aus: Beispielsweise deutet Sven Glawion die Auseinandersetzung des Protagonisten mit seiner Kindheit und seinen Prägungen als Reise in die Vergangenheit und seine Emanzipationsbestrebungen als gegenläufige Reise davon weg (Glawion, Sven: Aufbruch in die Vergangenheit. Bernward Vespers ›Die Reise‹, in: Stephan, Inge/Tacke, Alexandra (Hg.): NachBilder der RAF. Köln 2003, S. 24-39, bes. S. 26f.). Frederik Lubich betont dagegen stärker die kollektive Dimension der Reise – sie geht für ihn nicht nur durch Bernwards Versuche einer Vergangenheitsbewältigung, sondern durch die einer ganzen Gesellschaft (vgl. Lubich, Frederik: Wendewelten. Paradigmenwechsel in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte nach 1945. Würzburg 2002, S. 66). Diese These lässt sich mit Susanne Komfort-Hein ausweiten zur Deutung der Reise als Reise durch das kulturelle Zeichensystem einer Generation (vgl. Komfort-Hein: Flaschenposten, S. 284). Eine

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Kindheit und Jugend, dem »EINFACHEN BERICHT«, schildert Bernward immer wieder seine passive, machtlose und nicht-erkennende Ausgangssituation, aus der er versucht, sich herauszuarbeiten. Die Gegenwart, in der er mit der Niederschrift des Romans beginnt, markiert dabei einen Umschlagpunkt: Bernward betrachtet sein gesamtes vorheriges Leben als fremdbestimmt und unter dem Zeichen einer ihm auferlegten Passivität. Dabei spielen vor allem seine Eltern, aber auch die Kultur, mit der sie sich identifizieren und die sie ihm vermittelt haben, eine Rolle: Dreißig Jahre hat die Bourgeoisie uns in den Ohren gelegen, hat uns beschwatzt, verseucht, bevormundet, entmündigt, nicht nur: Bild, Schrift, Ton: toute la ›réalité‹ ça veut dire: Produktionsformen, Kommunikationsformen, Produkte, Häuser, Straßen, Familien, Sprache – alles, um uns zu gut funktionierenden, weichen, gefügsamen Vegetables auszubilden. (DR: 264)

Zentral ist in diesem Kontext das Verhältnis zu seinem Vater, dem ehemaligen NS-Funktionär und ›Blut und Boden‹-Dichter Will Vesper. Will Vesper tritt im Roman als Figur auf, die einen besonders großen Anteil an Bernwards Passivität und Fremdbestimmung hat. Sein Umgang mit dem Sohn Bernward ist geprägt von autoritärem, dominantem und manipulativem Verhalten.8 Er ist es vor allem, der den jungen Bernward in dessen Augen deaf, dumb and blind macht, Handlungen vorgibt oder verbietet, Entscheidungen für ihn trifft und eine Umwelt schafft, die Bernward nicht gestalten kann, sondern passiv hinnehmen muss. eher poetologisch orientierte Deutung unternimmt Roman Luckscheiter, der die Reise vor dem Horizont der vielzitierten Krise der Literatur um 1968 und der aufkommenden Postmoderne als schreibenden Weg zu neuen Ausdrucksformen einordnet (vgl. Luckscheiter: Der postmoderne Impuls, S. 156ff.). Gerrit-Jan Berendse schließlich sieht in Vespers titelgebender Reisemetapher vor allem eine Todesmetapher am Werk, die dem späteren Freitod von Figur und Schriftsteller korrespondiert (Berendse: Schreiben als Körperverletzung, bes. S. 324). Zum Aspekt des »Reisens« bei Vesper vgl. auch meinen eigenen Aufsatz zur Reise- und Schreibkultur der »68er« (Clare, Jennifer: Amazing Journeys – Reisen, Trips und Bewegung in der Literatur der ›68er‹, in: Bernstorff, Wiebke von/Moennighoff, Burkhard/Tholen, Toni (Hg.): Literatur und Reise. Hildesheim 2013, S. 151-176). 8

Die Figur des Vaters und das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn sind in der Forschung zu Bernward Vesper, vor dem Horizont der sogenannten »Väterliteratur«, relativ gut untersucht (vgl. Fußnote 60 in Kapitel 3), weshalb ich hier ausschließlich im Rahmen der konkreten Fragestellung darauf eingehen werde.

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Dadurch, dass dieser übermächtige, alles entscheidende und gestaltende Vater ebenfalls schreibt, tritt im Falle Bernwards ein besonderer Aspekt seiner Passivität hinzu: Aktivität und Passivität, Macht und Ohnmacht, Täter- und Opferschaft, Selbst- und Fremdbestimmung sind in Bernwards Elternhaus sehr stark an die Dimensionen des Redens bzw. des Schreibens gebunden. Dem kindlichen Bernward erscheinen vor allem die Worte des Vaters als im höchsten Maße wirkungsmächtig, konsequenzenreich, ihn bestimmend und einschränkend. So bezeichnet er z.B. eine Ermahnung des Vaters als »einen neuen Sprachstoß« (DR: 395, Hervorhebung von JC) – er fühlt also die Worte des Vaters gleich einem körperlichen Gewaltakt. Des Weiteren erzählt er mehrfach von Situationen, in denen eine besonders gravierende Strafe des Vaters darin besteht, dass dieser nicht mehr mit ihm spricht.9 Sein Vater demonstriert seine Macht im Wesentlichen darüber, dass er allein darüber entscheidet, ob und wie kommuniziert wird. Oppositionelle Kommunikation von einem anderen Familienmitglied ist nicht vorgesehen und wird unterdrückt. Ein weiteres Symptom dieser Macht ist, dass der Vater häufig und vehement sein Recht betont, das Lese- und Schreibverhalten des Sohnes zu reglementieren (»Selbstverständlich haben wir das Recht, zu lesen, was in Deinem Zimmer liegt.« (DR: 480) / »›Solange Du in diesem Hause bist, bestimme ich, was Du liest und was Du nicht liest‹, sagte mein Vater.« (DR: 382)). Indem der Vater seinem Sohn den Zugang zu bestimmten Texten verwehrt und darüber hinaus den Anspruch geltend macht, dessen eigene Textproduktion zu kontrollieren, macht der angehende Schriftsteller Bernward eine Erfahrung, die der von Townshends Tommy ähnlich ist: Er darf bestimmte Elemente der (Text-)Welt nicht sehen, darf sich in dieser aber auch nicht frei artikulieren. Es sind die Eltern, bei Bernward vor allem der Vater, die genau regulieren, was der Sohn sehen, hören und sagen darf und ihn damit zu einer passiven, den Taten Anderer ausgelieferten Rolle verdammen. Besonders deutlich wird diese Ohnmachtserfahrung Bernwards in der folgenden Szene: ES WAR AN EINEM ABEND IM JULI, die Verandatür stand auf, ich saß in meinem Bett, die Nacht kam. Ich stand auf, ich teilte die Vorhänge und sah hinaus in die schwarzen Schatten des Parks. [...] Ich wollte etwas aufschreiben, ich wollte morgen, wenn ich es las, noch einmal diesen Augenblick erleben. Ich schrieb: ›Es handelt sich um eine Sternennacht.‹ Ich konnte das Heft kaum erkennen, ich schrieb es einfach blind hin. Ich sagte mir den Satz noch einmal laut vor. Ich merkte, wie erbärmlich er klang, nichts von diesem Sommer, der den Atem anhielt, nichts von meinem zitternden Körper unter dem dünnen 9

Auf diesen Aspekt hat Martin Tauss aufmerksam gemacht: Rausch, Kultur, Geschichte, S. 135.

92 | P ROTEXTE Nachthemd. Ich legte den Bleistift hin. Ich kroch in mein Bett zurück. [...] Am nächsten Tag sagte meine Mutter beim Mittagstisch: ›Unser Sohn ist unter die Dichter gegangen.‹ Sie holte unter dem blauweiß bedruckten Set das Heft hervor und las: ›Es handelt sich um eine Sternennacht. Aus. Weiter ist der Roman bisher nicht gediehen.‹ Ich erstarrte. Ich hörte ein unbändiges Gelächter. Ich fühlte, daß ich unter eine schäbige Bande geraten war, ich sprang auf, wollte hinausstürzen. ›Bei Tisch bleibt man sitzen, bis alle fertig sind!‹ sagte mein Vater. Später erstellte Herr Doktor Schmidt, der Sekretär meines Vaters gewesen war, ein ›Hausquartett‹, in dem alle geflügelten Worte des Hauses enthalten waren. ›Haben Sie vielleicht: Es handelt sich um eine Sternennacht? Bedaure, aber haben Sie vielleicht…‹ Ja, sie hatten keine Schwierigkeiten, das auszudrücken, was sie empfanden. Ich war eingekreist. (DR: 344f.)

Bernwards kindliche Unterlegenheit und Ohnmacht wird ihm offenbar durch seine mangelnde verbale Ausdruckskraft: Er kann nichts schreiben, was für die Gesellschaft bedeutsam ist, und das verbannt ihn an das unterste Ende der familiären Hierarchie, fordert implizit Stummheit und Passivität von ihm. Er soll besser schweigen, vermitteln ihm seine Eltern an dieser Stelle. Dieser Zwang zum Schweigen und der verwehrte Zugang zu Wissen, Erkenntnis und Ausdrucksvermögen sind Themen, die sich durch Bernwards Kindheitserzählungen hindurch ziehen. Es ist daher wenig überraschend, dass Bernwards Versuche, aus der passiven Rolle des deaf, dumb and blind boy auszubrechen, über das Reden und Schreiben laufen. Bernward wählt damit, ähnlich wie Tommy, einen Weg der Opposition, der nicht auf körperliche Gewalt setzt, sondern auf andere, zeichenhafte Formen der Aktivität und Aggression. Bernward schlägt nicht seinen autoritären Vater – er beginnt, gegen ihn anzuschreiben.10 Seine neuen Erfahrungen von Macht und Subjektstatus speisen sich daraus, dass auch er endlich Worte hat, die für die Gesellschaft relevant sind und mit denen er sich gegen Unrecht wehren kann, das ihm widerfährt. Er ist nicht 10 Passend dazu bezeichnet Axel Schalk Vesper als »literarischen Vatermörder« und spricht damit genau jenen von Vesper eingeschlagenen Weg an, die Konfrontation mit dem Vater und das Ausagieren der neu entdeckten Macht gegen ihn auf rein literarischer Ebene zu suchen (Schalk: Autobiographische Prosa, S. 220). Interessant in diesem Zusammenhang sind Mathias Brandstädters Überlegungen, inwiefern Die Reise auch als ein Aufgreifen und Dekonstruieren bekannter Texte des Vaters gelesen werden kann – mit anderen Worten, inwiefern Vesper das Werk des Vaters schreibend vereinnahmt und systematisch zerstört (vgl. Brandstädter, Mathias: Nationale Idyllik im Windschatten. Anmerkungen zu Bernward Vesper, in: Kultur und Gespenster 1 (2006), H. 2, S. 26-32, bes. S. 30).

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mehr den Worten und Taten Anderer ausgeliefert, sondern ist selbst einer Stimme, einer Sprache und damit letztlich einer Handlung mächtig. Als aktives Subjekt kann er sich gegenüber seiner Umwelt in Position bringen, sich hörbar machen und Unrecht als solches markieren.11 Bei Bernward steht dabei die Möglichkeit der alternativen Gewalthandlung, die bei Tommy nur angedeutet wird, stärker im Zentrum der Auseinandersetzung mit Aktivität und Passivität: Bei Tommy steht die Selbstermächtigung im Vordergrund, während in der Reise die Aktivität durch Schreiben auch ganz explizit Macht über andere verleiht. Schreiben erscheint damit einerseits als defensiver Akt (indem der Schreibende sich wehrt bzw. seine Positionen aktiv ausspricht und lebt), andererseits als alternative Möglichkeit der Offensive, des Angriffs und der Machtausübung. Dieser Einsatz von Sprache als explizites Macht- und Gewaltinstrument ist nicht nur typisch für Vespers Figur, sondern generell für seine Poetik. Immer wieder findet sich in der Reise die enge bildliche Verbindung von Schreibhandlungen und Gewalthandlungen sowie von Schreibhandlungen und Machtausübung. Das sieht man etwa, wenn Bernward es als seine Schreibmotivation betrachtet, »›der Welt‹ die ganze Geschichte in die Fresse zu schleudern« (DR: 282) oder seine Texte als »Tatzenhiebe«12 bezeichnet. Dass Vesper als schreibendes Subjekt auch den Literaturbetrieb im Wesentlichen als Kampfplatz betrachtet, zeigt sich u.a. in einer Anekdote, die sein Freund und Wegbegleiter Henner Voss aufgezeichnet hat: Die Studenten Vesper und Voss planen, eine eigene Literaturzeitschrift zu gründen. Vesper äußert sich über den geplanten Rezensionsteil wie folgt: »Dann werden wir den sinistren Literaturbetrieb hierzulande mit gnadenlosen Verrissen aufmischen und die Skalps der unterbelichteten Brettlbegabungen einsammeln, 11 Die Erfahrung des Machtgewinns durch Sprache schildert ebenfalls Franz Schneider und bezeichnet sie retrospektiv sogar als Kernerfahrung seiner Generation: »In keiner Hinsicht hat die achtundsechziger Generation mehr Grund, ein Dienstjubiläum zu feiern, als in dieser. [...] Die Jugend riß die Sprache an sich. Matthias Horx erinnert sich lebhaft: ›[...] Wir begriffen schnell, daß Sprache ein hervorragendes Mittel im Kampf gegen Eltern und Lehrer war; es ging in allererster Linie darum, so lange spitzfindig zu argumentieren, bis sie völlig sprachlos waren. [...] Wenn wir von ›Ausbeutung‹ und ›Unterdrückung‹, von ›Verdrängung‹ und ›Bedürfnis‹ sprachen, bekamen unsere Worte plötzlich einen Klang und ein Gewicht, als könnten sie die Verhältnisse in Bewegung bringen.‹« (Schneider, Franz (Hg.): Dienstjubiläum einer Revolte. München 1993, S. 77; zit. nach: Horx, Matthias: Aufstand im Schlaraffenland. München/Wien 1989, S. 18). 12 Voss, Henner: Vor der Reise: Erinnerungen an Bernward Vesper. Hamburg 2005, S. 54.

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die schreiben, weil sie nichts zu sagen haben. Ich spüre den Blutgeschmack bereits am Gaumen.«13 Vor allem die Blutmetapher spricht für die Vorstellung eines Schreibens, das das Blut des schreibenden Subjekts enthält und das durch einen »gnadenlosen Verriss«, ein feindseliges, dagegen gerichtetes Schreiben, »weggebissen« oder »gefressen« werden kann. Vesper als Kritiker oder Herausgeber inszeniert sich auch hier in einer Machtposition und sein VerrissSchreiben als Ausübung dieser Macht – in einem Machtkampf, der rein auf der Textebene ausgetragen wird. Die Aktivität durch Schreiben, die in der Reise gezeigt wird, besitzt also verschiedene Facetten: Zunächst ist sie ein Protestakt gegen eine Umwelt, die den Schreibenden manipuliert, seine Wahrnehmung einschränkt und gegen seinen Willen Handlungen an ihm vornimmt. Der Schreibende verlässt seine passive Rolle, indem er sich schreibend »wehrt«. Neben dieser defensiv ausgerichteten Facette entdeckt der Schreibende jedoch auch sein Schreiben als neue Form der Offensive: Durch Texte können Kämpfe ausgefochten und Macht ausgeübt werden. Schließlich fungiert das Schreiben noch als Schlüssel zur Selbstermächtigung – wer Worte hat, um sich zu positionieren, entdeckt sich auch selbst als Subjekt, das eigenverantwortlich in seine Umwelt eingreifen kann.

I DENTITÄTS - UND S CHREIBPROBLEME DEM AUSBRUCH

NACH

Es ist bereits deutlich geworden, dass die neuen Formate der Aktivität sowohl bei Tommy als auch bei Bernward nicht unbedingt versöhnlich, sondern von Ablehnung und Abgrenzung geprägt sind. Tommys Schlag gegen den Spiegel und vor allem Vespers Schreiben können nur als feindliche Frontstellung gegenüber der bestehenden Umwelt wie auch der Elterngeneration gedacht werden. Dies zeigen nicht nur viele Passagen der Reise, sondern auch ein Brief, den Vesper am 3. Mai 1968 an Gudrun Ensslins Vater Helmut schreibt: »Wir können uns nicht von der Generation, die dem Faschismus willig diente, die Formen unseres Kampfes gegen den Faschismus vorschreiben lassen; die Verletzungen, die wir dabei empfangen, gehen Euch nichts an.« (NG: 62)14 In dieser Aussage stecken zwei wichtige Aspekte, die die neu gefundene Aktivität charakterisieren: Zum einen wird der »Kampf«, die neue Aktivität und Opposition, explizit als generationales Projekt der Nachgeborenen gekennzeich13 Ebd., S. 48. 14 Der vorausgehende Brief von Helmut Ensslin ist nicht erhalten.

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net, von dem die faschistisch geprägte »Tätergeneration« in jedem Fall ausgeschlossen bleiben muss und das sie nicht unterstützen kann – sicherlich auch, weil sie als Hauptschuldige für die vorherige Passivität und Fremdbestimmung gesehen wird. Vesper verbannt auch grundsätzlich entgegenkommende und gesprächsbereite Vertreter der Elterngeneration durch seine Aussage auf die »andere Seite«. Unterstützung und Rat von ihnen anzunehmen bleibt für ihn undenkbar – die Frontstellung zwischen den Schuldigen an der Passivität und den neuen, aktiven Subjekten wird rigide aufrechterhalten. 15 Zum anderen kommt im Briefzitat deutlich zum Ausdruck, dass jene Aktivität »Verletzungen« nach sich ziehen kann; dass also überhaupt Hilfe und Unterstützung notwendig sein könnte. Diese Erkenntnis Vespers ist nicht unwichtig: Der als erstrebenswert präsentierte Weg zum schreibenden bzw. aktiven Subjekt wird sowohl bei Tommy als auch in der Reise ausdrücklich als ambivalenter und schwerer Weg gezeigt, hat er doch in beiden Fällen auch mit der Aufgabe von etwas zu tun. Tommys Schlag gegen den Spiegel ist, wie bereits erwähnt, nicht nur eine Aneignung von Aktivität, sondern entlädt auch eine gewisse Aggression. Diese Aggression richtet sich einmal direkt gegen den Spiegel, gegen das Objekt, das symbolisch für Tommys Verbannung in die Passivität steht. Sie richtet sich aber gleichzeitig gegen sein eigenes Spiegelbild. Dieses Spiegelbild zeigt ihn zwar in seiner alten, passiven Identität, die er ablegen möchte – was aber nichts daran ändert, dass es eben ihn zeigt, dass sich der Befreiungsschlag gegen ihn richten muss. Eine Parallelstelle findet sich auch in der Reise: ›Ich habe alles geopfert‹, stieß ich plötzlich unter Tränen raus. Burton sah mich erstaunt an. ›So? – Was?‹ Meine Kindheitshölle; meine Freunde-Schweine; meine Eltern-Nazis. Lächerlich: ›opfern‹. Aber: ich opferte. Es war mir lieb, wert, teuer, ich litt, heulte. (DR: 114)

Das Ablegen der Passivität ist nicht möglich ohne eine gewaltsame Aktivität gegen sich selbst, ohne die gewaltsame Bekämpfung von Elementen, die zutiefst in der eigenen Persönlichkeit verankert sind. Es bedeutet nicht weniger als sich ra15 Anders als bei Tommy spielt sowohl in der Reise als auch in den Briefen Vespers bei der Frontstellung zwischen Eltern- und Kindergeneration die Distanzierung vom Faschismus eine wichtige Rolle. Dass Vesper seinen Vater, den NS-Funktionär, und den politisch gemäßigten und gesprächsbereiten Helmut Ensslin, gleichermaßen als zu schuldbeladen betrachtet, um ihm bei seinem Kampf um Aktivität und Selbstbestimmung zu helfen, ist typisch für seine Sicht auf die Elterngeneration, die kaum Abstufungen kennt.

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dikal von seiner alten Identität zu trennen, was schmerzhaft und ein »Opfer« ist. Die Selbstermächtigung erweist sich nicht nur als Zugewinn, sondern an einigen Stellen auch als einschneidender Verlust. Die Verzweiflung darüber ist im Laufe der Reise immer wieder Thema: »Ich weiß nicht mehr weiter, ich weiß, daß ich das, was ich war, nicht mehr sein will; ich weiß, daß ich es nicht einfach aufgeben kann, ohne mich aufzugeben, ich will mich nicht verlieren.« (DR: 530) Die alte Identität ist hinfällig, als passiv und fremdbestimmt erkannt und abgelehnt, aber eine neue Identität ist nicht nur schwer zu finden, sondern fühlt sich vielleicht auch nicht mehr wie »ich« an. Die Opposition durch Sprechen und Schreiben wirft damit die Fragen auf, was genau als alte Identität abgelegt werden muss, und, noch unklarer, was als neue Identität an deren Stelle treten könnte. In diesem Punkt, den Konsequenzen des Schlags gegen die eigene Passivität, unterscheiden sich die Geschichten von Tommy und Bernward: Tommy wird frei in dem Moment, in dem er den Mut aufbringt, einmalig einen symbolischen Schlag gegen seine alte Identität auszuführen. Sein passives Ich zerspringt gemeinsam mit dem Spiegelbild in Scherben und vor dem zerbrochenen Spiegel steht ein fertiges, aktives Subjekt mit neuer Identität.16 Bernward erkennt dagegen, dass viele weitere Schläge gegen sich selbst notwendig sein werden und dass eine neue, aktive Identität mühsam erarbeitet und gesucht werden muss. Mit dieser Erkenntnis macht das Schreiben und Sprechen für Bernward einen Funktionswandel durch: Vom Auslöser bzw. Medium seiner Emanzipation und seiner Bekämpfung der alten Identität wird es zu einem Folgeprojekt, das der Findung einer neuen, nicht mehr passiven Identität dient. Diese Identitätssuche ist bis zum Ende einer der zentralen Schreibmotoren Bernwards. 17 Das entstehende Buch Die Reise nimmt dabei einen komplexen Zwischenstatus zwischen Dokumentation und Ziel seiner Identitätssuche ein: Es verzeichnet ihre Stationen, die Maßnahmen und Strategien Bernwards sowie seine Reflexionen und Gefühle zu diesem Thema. Gleichzeitig lassen vor allem die spätesten Passagen der Reise, die der Schriftsteller Vesper kurz vor seinem Freitod in der Psychiatrie auf Karteikarten schreibt, Bernward das fast fertige Buch wie seine neue Identität, wie das 16 An dieser Stelle ist noch einmal deutlich die allegorische Konzeption der Figur Tommy – im Kontrast zu der realistischer konzipierten Figur Bernward – zu sehen. 17 Mit den Zielen der Selbstanalyse und Selbstveränderung berührt Die Reise einen Bereich, der auch außerhalb der Literatur immer wieder mit der Studentenbewegung in Verbindung gebracht wird. Detlef Siegfried hält dieses Ziel sogar als eins von zwei zentralen Themen und Zielen innerhalb der gesamten außerparlamentarischen Opposition fest (vgl. Siegfried: Sound der Revolte, S. 19). Vgl. zur Selbstveränderung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive auch Schalk: Autobiographische Prosa, S. 211.

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Ergebnis seiner Suche anschauen (»du hältst kein buch, du hältst einen menschen« (DR: 630)). Er liest seinen Text »als wäre es das leben eines [fremden] anderen« und spricht auch von seiner Angst, mit der Veröffentlichung des Textes »einen fehler zu begehen: indem ich in diesem buch ein ›ich‹ in die welt setze, von dem ›ich‹ mich nie mehr befreien kann« (DR: 631) sowie von dem »selbstgepflanzte[n] Irrgarten, der mir über den Kopf wächst« (DR: 500f.).18 An dieser Stelle deutet sich das Scheitern der schreibenden Identitätsfindung bereits an, auf das ich noch zurückkommen werde. In der Reise wird das Schreiben also markiert als Medium des Ausbruchs aus der Passivität und gleichzeitig als Medium, Aktivität zu leben. Solchermaßen Aktivität schreibend zu leben erweist sich dabei als ein anstrengender, schmerzhafter und mitunter hochgradig verstörender Prozess. In diesem Prozess trifft die Figur Bernward noch auf ein weiteres, grundlegendes Problem, welches sein Ringen um eine neue, aktive Identität zusätzlich verkompliziert: Wie aktiv oder passiv ist eigentlich die Handlung des Schreibens? Sind Schreiben und das Herausbilden einer eigenen Stimme überhaupt wichtige Vehikel auf dem Weg von der Passivität zu Aktivität und Handlungsmacht? Oder sind sie gar keine »echten« Taten mit realen Konsequenzen und bilden eher einen dem Handeln vorgelagerten Schonraum, der seinerseits überwunden werden muss? Schreiben und 18 Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird die für den Text charakteristische Verwischung von Urheber- und Figurenidentität deutlich sichtbar: Ist die Figur Bernward die neue Identität, die sich der Schriftsteller Vesper als politisches Subjekt erschrieben hat? Oder schafft die Figur Bernward ihrerseits ein »Ich«, zeigt Die Reise einen fiktionalisierten Prozess der Identitätsfindung? Wessen »neues Ich« ist der Text Die Reise? Sein historischer Schriftsteller reflektiert und kommentiert den Text auf Karteikarten, fügt diese Karteikarten dann aber dem Manuskript hinzu. Durch Entscheidungen wie diese wird konsequent verwischt, ob der Text die Geschichte einer Suche nach einer neuen, aktiven Identität erzählt oder den Prozess der Identitätssuche eines historischen politischen Subjekts dokumentiert. Mathias Brandstädter, der Vespers Roman u.a. unter dem Aspekt seiner Faktualität untersucht, kommt zu dem Ergebnis, dass der »Wechsel von dezidiert fiktionalen Passagen und den fortwährenden erzählerischen Beteuerungen des realen Gehalts Methode [hat]« – dass also die im Text als realistisch ausgewiesenen Elemente ebenfalls einer starken Inszenierung im Rahmen des gesamten Romans unterliegen (Brandstädter: Folgeschäden, S. 161). Dieser These ist auch vor dem Hintergrund zuzustimmen, dass die »authentisch-subjektiven Bekenntnisprotokolle« (ebd., S. 160) selten spontan entstehen, sondern sorgsam in den Text eingebettet und, wie die Briefe Vespers an den Verleger zeigen, auch immer wieder überarbeitet werden.

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Sprechen befinden sich in der Reise – auf der Folie von Aktivität und Passivität betrachtet – in einem Zwischenraum: Einmal werden sie in einen (positiv bewerteten) Gegensatz zu Stummheit und Passivität gesetzt, einmal aber auch in einen (negativ bewerteten) Gegensatz zu »echten« Taten. So steht das Schreiben in der Reise, wie gezeigt, auf der einen Seite dafür, eine Stimme zu erlangen, sich zu äußern, sich hörbar zu machen, vielleicht sogar anzugreifen und damit aktives Subjekt der Gesellschaft zu werden. Auf der anderen Seite schleichen sich immer wieder Zweifel daran ein, dass mit dem Schreiben der Sprung in die Aktivität tatsächlich geschafft ist: Immer im Hinterkopf, daß der ›Schriftsteller‹ doch ›irgendwie stellvertretend‹ ist. Paperfighting men. (DR: 115) lese, in der akademie (800 leute, ein autor, 50% hören zu, 50% sagen ja, 5% erinnern sich morgen noch daran, und keiner tut was, der autor hat das gefühl, was getan zu haben) (DR: 681)

Schreiben ist nur ein »Papierkampf«, ein »Gefühl, etwas getan zu haben« – in jedem Fall etwas, das die eigentlich nötige Tat nur »stellvertretend« abbildet oder andeutet, aber nicht den gleichen Wert hat wie sie. Damit befindet sich das Schreiben in der Reise in einem ähnlichen Konflikt wie er im vorherigen Kapitel bereits für den politischen Protest skizziert wurde: Wird es einerseits zum notwendigen und wichtigen Mittel des Ausdrucks von Opposition erklärt, so besteht andererseits auch ein gewisses Misstrauen gegenüber einer Opposition, die »nur« verbal und/oder symbolisch ist. Bernward fragt sich, ob er mit seinem Schreiben in seiner Umwelt tatsächlich eine Veränderung oder nur bei sich »das Gefühl, etwas getan zu haben«, erreicht hat. Er stellt sich damit dieselbe kritische Nachfrage, die Dale A. Smith und Uwe Johnson jeweils in Bezug auf den politischen Protest stellen: Dient die Opposition einer greifbaren Veränderung oder hauptsächlich einer selbstreferentiellen Entlastung des eigenen Gewissens, dem »Gefühl, etwas zu tun«? Diese kritische Nachfrage an das eigene Schreiben ist zeittypisch. Sie steht im größeren Kontext der für den Zeitraum um 1968 häufig konstatierten »Politisierung der Literatur«19, von der bereits im vorherigen Kapitel in ihren verschiedenen Varianten die Rede war. Mit 19 Klaus Brieglebs Studie, die die Entwicklung der »Politisierung« literaturhistorisch nachzeichnet, zeigt, dass diese bereits deutlich vor 1968 ihre Anfänge nimmt (vgl. Briegleb: 1968, bes. S. 11). Sie kulminiert aber etwa in der Hochphase der politischen Bewegung, weshalb sie als literaturhistorisch typisch für »1968« gilt.

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ihr kommen neue Erwartungen an das literarische Schreiben und den Literaturbetrieb20 auf, wie die Definition von Martin Hubert deutlich macht: Dementsprechend ist eine politisierte Literatur immer darauf bezogen, Veränderungen oder zumindest Wirkungen im Feld von Macht und Herrschaft hervorzurufen: sie steht dem politischen Raum der Gesellschaft nicht ›gegenüber‹, sie steht nicht ›über‹, ›außerhalb‹ oder ›jenseits‹ von ihm, sondern ›in‹ ihm und ist an seiner Ausgestaltung, Beeinflussung oder gar Veränderung interessiert.21

Allen Varianten der »Politisierung« gemeinsam ist die Erkenntnis, dass Literatur Teil und Einflussgröße des politischen Raumes ist und damit aktiv an der Gestaltung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen beteiligt ist. Mit dieser Erkenntnis verbindet sich in bewegungsnahen Schriftstellerkreisen der – bereits im vorherigen Kapitel in Bezug auf Peter Schneider deutlich gewordene – Auftrag, dieses politische Gestaltungspotential auszuschöpfen und Schreiben als politische Handlung zu betreiben. Der Erfolg einer solchen Schreibhandlung wird dabei, wie bei anderen politischen Handlungen, an ihren direkten Konsequenzen für die Umwelt gemessen, an den sichtbaren Änderungen, die der/die Schreibende durch sie verantwortet. Der politische Effekt eines Textes wird zu einem wichtigen Kriterium für seine Bewertung – was einen umfangreichen Legitimationsdiskurs in Schriftstellerkreisen lostritt, den auch Klaus Briegleb thematisiert: »Um 1968 haben Schriftsteller permanent, aufgefordert oder nicht, sich veranlaßt gesehen zu beteuern, daß ihre Arbeit nicht unpolitisch zu verstehen sei.«22 Im Kontext dieses Diskurses, der um die Frage kreist, was literarisches Schreiben im gesellschaftlichen Machtgefüge bewirken kann, kommt auch grundsätzliche Kritik am Schreiben auf. Es wird hinterfragt, ob literarisches Schreiben, auch politisiertes Schreiben, überhaupt eine sinnvolle politische Handlung sei oder ob nicht konkrete, körperliche Handlungen in jedem Fall vorzuziehen seien.23 Diese Position, die in dieser Extremform hauptsächlich in au20 Auf die Konsequenzen der Politisierung für den Literaturbetrieb und Literaturmarkt gehen Richard Hinton Thomas und Keith Bullivant ein: Kapitel Literatur und Politisierung, in: Thomas/Bullivant: Westdeutsche Literatur, S. 44-86. 21 Hubert: Politisierung der Literatur, S. 40. 22 Briegleb: 1968, S. 167. 23 Darüber, dass auch das Schreiben selbst eine körperliche Handlungsdimension mit konkreten, materiellen Effekten besitzt, besteht in der Schreibforschung heute weitgehende Einigkeit (vgl. Zanetti: Einleitung, S. 16-20). Diese Dimension ist um 1968 jedoch kaum Thema (wenngleich schon vereinzelt wissenschaftlich thematisiert, etwa

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ßerliterarischen Kreisen vertreten wurde, ist unter den Stichworten »Krise« 24 , »Ende«25, »Geringschätzung«26, und, im Rahmen der wohl bekanntesten Austragungsplattform der Debatte, dem 1968 erschienenen Kursbuch 15. Kultur Revolution Literatur, »Tod«27 der Literatur gefasst worden. Vor genau diesem Hintergrund steht Bernwards kritische Selbstbezeichnung als »paperfighting man«, der nur »stellvertretend« für eine eigentlich nötige konkrete Handlung agiert.28 Die Position, literarisches Schreiben als Handlung sei anderen politischen Handlungen klar unterlegen, findet sich übrigens bis weit in die 1970er Jahre, also noch über den Entstehungszeitraum der Reise hinaus. Sie äußert sich etwa, wenn Thorwald Proll noch 1973 als Rezensent im Langen Marsch Protagonisten wie »Lenz« aus Peter Schneiders gleichnamigem Erfolgsroman kritisiert, die »aus dem DABLEIBEN kapital schlagen und nicht das kapital mitschlagen helfen, daß es abhaut, wenn auch nur MIT WORTEN.«29 Lenz’ Passivität, die er aus dessen finaler Aussage im Roman, er werde »DABLEIBEN«, schließt, ist für ihn inakzeptabel. Er fordert (übrigens in einer sehr literarisierten Form) eine Figur, die »das Kapital schlägt«, ihre politische Aktivität mit Gewalthandlungen durchsetzt. Wenn dies nicht möglich ist, soll sie, in Form einer akzeptierten, aber minderwertigen Tat, wenigstens »nur MIT WORTEN« protestieren. Ausgerechnet 1966 in Roland Barthes’ Schreiben, ein intransitives Verb?). Vielmehr wird Schreiben hauptsächlich in seiner geistigen Dimension gedacht, die sich zur konkreten politischen Handlung in Gegensatz setzen lässt. 24 Luckscheiter: Der postmoderne Impuls, S. 121. 25 Thomas/Bullivant: Westdeutsche Literatur, S. 89. 26 Hubert: Politisierung der Literatur, S. 9. 27 Vgl. Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Kursbuch 15. Kultur Revolution Literatur, in: Ders. (Hg.): Kursbuch 11-15. Dabei sind Enzensberger und Karl Markus Michel insofern schlechte Beispiele für eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Literatur, als dass sie selbst in ihren berühmten Kursbuch-Artikeln die Debatte auf deutlich differenzierterem Niveau betrieben haben als in Folge meistens geschehen. Das Kursbuch 15 wird hier also eher angeführt, weil es die Legitimitätsfrage erstmalig in größerem Stil aufwirft, nicht, weil es sie ausschließlich zu Ungunsten des literarischen Schreibens beantwortet. 28 Vgl. auch folgende Passage der Reise: »Je länger wir schreiben, desto mehr entfernen wir uns, je mehr wir teilnehmen an den täglichen Kämpfen, um so weniger drängt es uns, zu schreiben. So ist jedes Buch narzisstischer Ausdruck unseres Unvermögens.« (DR: 495) 29 Proll, Thorwald: Peter Schneider oder das Vorbild als Abziehbild der kleinen Seele, in: Der lange Marsch 7 (1973), S. 19.

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jener Thorwald Proll, APO-Aktivist, später Mitglied der ersten RAF-Generation, nach Haftentlassung Schriftsteller, kommt auch als Figur in Vespers Reise zu Wort und konstatiert die Inferiorität von Bernwards Tun gegenüber seinen »echten Taten«: Sommer 1967: Ich nehme die Tasse vom Tisch und schleudere sie, laß’ sie aber nicht los, setze sie ab und sage: ›Am liebsten hätte ich die Tasse an die Wand geschmissen.‹ Antwortet Thorwald: ›Uns wäre es lieber, Du hättest sie wirklich geworfen!‹ (DR: 588)

Bernwards symbolische Geste und verbale Andeutung einer oppositionellen Handlung vermag den künftigen Kaufhausbrandstifter nicht zu überzeugen: Sie ist nicht »wirklich«, weil sie keine sichtbaren Spuren in der Umgebung hinterlässt. Der Komplex von literarischem Schreiben, verbalem Protest und symbolischer Handlung wird also um 1968 einerseits mit dem Auftrag ausgestattet, politische Verhältnisse merkbar zu verändern, während andererseits seine Legitimität und Wirkungsmacht grundsätzlich in Frage steht. Mit anderen Worten werden die besonderen Leistungsmöglichkeiten der Worte und Zeichen für die politische Opposition im selben Atemzug entdeckt und zelebriert wie ihr Veränderungspotential an dem materiell-körperlicher Handlungen gemessen wird und als scheinhaft und selbstreferentiell abgetan wird. Mit dieser Gegenüberstellung ist eine erste Friktion in der Interaktion von Schreiben und politischer Opposition skizziert. Diese Friktion kommt in der Reise zum Ausdruck, indem die schreibende Figur Bernward verschiedene Positionen gegenüber dem Schreiben vertritt und erprobt. Diese Positionen schwanken, wie gezeigt, zwischen dem Schreiben als erstrebenswertem und notwendigem Weg zu einer aktiven Haltung und einem Subjektstatus, dem Schreiben als alternativem Machtmittel zur körperlichen Gewalt, der Messung des Schreibens an seinen politischen Effekten und der Erklärung des Schreibakts als vollständig politisch irrelevant, ganz im Sinne der »Krise der Literatur«.30 Bemerkenswert ist dabei, dass diese Positionen im Text selten explizit und systematisch verglichen oder vermittelt werden. Vielmehr stehen sie häufig unkommentiert nebeneinander oder werden von Bernward aus einer bestimmten Emotionslage oder einer bestimmten aktuellen Erfahrung heraus eingenommen. Mit Yaak Karsunkes Worten konserviert der Text Die Reise die 30 Axel Schalks Beobachtungen gehen in eine ähnliche Richtung: »Dennoch schreibt der Autor Literatur, nach dem von den APO-Apologeten propagierten vermeintlichen Tod der Literatur, seine Attitüde transportiert aber den Hass auf die Literatur.« (Schalk: Autobiographische Prosa, S. 219).

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»Angerissenheit« sowohl der Schriftstellerfigur als auch des Schriftstellers Vesper, die sich darin äußert, widersprüchliche Anforderungen an das literarische Schreiben im selben Text nicht nur zu äußern und zu dokumentieren, sondern auch erfüllen zu wollen. Der Text fängt die begeisterte Entdeckung des Schreibens und seines oppositionellen Potentials ebenso ein wie eine fundamentale Verunsicherung gegenüber dem Schreiben und seinen politischen Möglichkeiten. 31 Möglicherweise werden Schriftsteller und Figur sogar, wenn man ihre Freitode als Scheitern der Suche nach einer neuen, aktiven Identität lesen möchte, zerrissen zwischen den wechselseitigen Erfahrungen von Macht und Ohnmacht des eigenen Schreibens und damit des Schreibenden.32 Die Reise erfasst mit der Frage nach dem konkreten Wert von verbalen/ zeichenhaften Handlungen für politische Opposition eine der Grundsatzfragen der politischen Oppositionskultur und dokumentiert, wie komplex und wie wenig auflösbar sie ist. In dieser Hinsicht ist die Geschichte des scheiternden Bernward das realistische Pendant zu Tommys Geschichte: In der allegorischen Figur von Tommy wird die Frage in idealisierter Form aufgegriffen und gelöst. Die neue, aktive Identität durch symbolisches oder verbales Handeln entsteht sofort, Tommys Übergang von der Passivität in die Aktivität ist eindeutig und steht nicht in Frage. Wenn Tommy am Ende darin scheitert, auch im Leben anderer Menschen etwas zu bewirken, liegt dies an deren Dummheit und Verblendung – er muss sich nicht, wie Bernward, fragen, ob seine Aktivität »richtig« oder hinreichend ist bzw. ob er sich selbst bereits genügend verändert hat. Pointiert for31 Roman Luckscheiter, der verschiedene Auflösungsansätze der »Krise der Literatur« untersucht hat und die postmodernen Schreib- und Kulturkonzepte der 1970er Jahre in diesem Kontext deutet, betrachtet Die Reise als in diesem Zusammenhang zentralen Text, weil in ihm beobachtet werden kann, »wie die Literaturkrise überwunden wird und wo diese Überwindung an ihre Grenzen stößt.« (Luckscheiter: Der postmoderne Impuls, S. 121). Die Reise wird von ihm als Schwellentext gesehen, dessen Autor »trotzdem weiterschreibt«, zukunftsweisende Wege des Schreibens betritt, andererseits aber auch noch mit den widersprüchlichen Erwartungen an Literatur und drohenden Legitimitätsentzügen durch sich selbst und sein Umfeld kämpft. 32 Simon Kießling deutet die Freitode sogar als erfolgreiches Ende der Auseinandersetzung mit sich selbst, indem er den selbst gewählten Tod als ultimative Selbstermächtigung liest, die durch die zahlreichen vorherigen Anspielungen auf den Freitod vorbereitet wird (vgl. Kießling: Die antiautoritäre Revolte, S. 272f.). Dieses Element gibt es in der Reise, allerdings zeugt der Text gleichzeitig bis zum Schluss von Versuchen der Selbstermächtigung als lebendes Subjekt der Gesellschaft und auch des Schreibens, sodass Kießlings These zumindest in ihrer Absolutheit widersprochen werden muss.

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muliert reagieren beide kulturellen Texte in unterschiedlicher Form auf den selben Diskurs: Die Geschichte von Tommy bildet eher einen aus ihm resultierenden Wunsch oder ein Ideal ab, während sich Die Reise seinen Komplexitäten und Widersprüchen stellt.

S CHREIBEN , AKTIVITÄT UND P ASSIVITÄT – »M ÄNNERGESCHICHTE «?

EINE

Ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang von Schreiben, Aktivität und Passivität ist bisher unberührt geblieben: der, dass es sich sowohl bei Tommy als auch bei Bernward um junge Männer handelt. Für Tommy ist seine Geschlechtszugehörigkeit alles andere als unerheblich. Mit dem »school bully« Kevin und dem aufdringlichen »Uncle Ernie« tauchen in der Zeit seiner Passivität zwei Aggressoren auf, die ganz stark männlich codierte Täterschaften aufweisen: Schikane durch physische Gewalt sowie sexuelle Gewalt. Tommy wird als jemand gezeigt, der durch seine Passivität speziell anderen Männern unterlegen ist bzw. keine Handlungsmacht gegenüber anderen Männern hat. Dies ändert sich mit seinem Befreiungsschlag: Durch seinen Eintritt in das aktive Handeln wird Tommy auch plötzlich als begehrenswerter Mann wahrgenommen, wie im Song Sally Simpson erzählt wird. Erst als Handelnder wird Tommy von der Gesellschaft als vollwertiger Mann erkannt – das Handeln macht ihn nicht nur zum Subjekt, sondern auch zum Mann. Aspekte der Männlichkeit und des Mannwerdens spielen auch in Vespers Reise eine große Rolle. In seinen Kindheitserzählungen entwirft er sich mit Zuschreibungen wie Blässe, körperlicher Kleinheit, Unsportlichkeit und Brillentragen als eher schwachen Jungen; Schikane durch stärkere Klassenkameraden und Unterliegen in Prügeleien sind mehrfach Thema. Auch hier korrespondiert der passive Zustand einem schwächlichen, unzureichenden, anderen Männern unterlegenen Männerbild. Eine besondere Übermacht geht wiederum vom Vater aus, vor dem sich Bernward auch als Mann minderwertig fühlt.33 Erkennbar wird dies etwa in einer Szene, in der der Vater Bernward nach einem Zeckenbiss im Genitalbereich den Zeckenkopf mit einer Pinzette entfernt. Diese Stelle ist überdeutlich als Entmannungsszene, als symbolische Kastration gezeichnet: 33 Sven Glawion liest sogar sämtliche Emanzipationsbestrebungen Bernwards – die »vom Vater« und die »von ›Vater Staat‹« – hauptsächlich als Geschichte der Mannwerdung (Glawion, Sven: Heterogenesis. Männlichkeit in deutschen Erzähltexten 1968-2000. Darmstadt 2012, S. 206).

104 | P ROTEXTE Er stand auf. Er ging um den Schreibtisch herum und holte die Pinzette, die hinter einer ledernen Schreibunterlage in einer Glasschale lag, er kam mit der Pinzette in der Hand auf mich zu und sagte: ›Zieh die Hosen runter.‹ Er setzte die Brille auf, er beugte sich vor, er näherte seine dickgeäderte Rechte mit der Pinzette, er griff nach dem kleinen, schwarzen Punkt, er schloß die Pinzette langsam, ihre Arme näherten sich einander, er faßte zu, er riß die Pinzette zurück, er hielt sie sich vors Auge. ›Hier ist er!‹ rief er, ich griff mit beiden Händen nach dem Hosenbund und zog die Hose hoch. (DR: 404)

Solange der Vater gegenwärtig ist, obliegt es ihm, über die Männlichkeit des Sohnes zu gebieten und zu entscheiden. Bernward erscheint auch in dieser Kindheits-Szene wieder als passiv, als jemand, mit dem »etwas getan« wird – und zwar etwas, was ihn in seiner Männlichkeit betrifft. Wie bereits ausgeführt, sind es vor allem Schreiben und Wortgewalt, die Bernwards Vater mächtig machen. Der Vater ist bereits angesehener Schriftsteller, er ist eloquent, kann durch seine Worte verbieten und sanktionieren, über Reden und Schweigen der Kinder gebieten.34 Damit wird die Macht, durch verbalen Ausdruck etwas verändern zu können, in Bernwards Kindheit explizit an Männlichkeit gebunden. 35 Dies hat zur Konsequenz, dass schriftstellerisches Versagen in der Reise stets enggeführt wird mit dem Versagen als Mann. Bernwards Erfahrung, dass ein zuvor geschriebener Text bedeutungslos für die politische Praxis ist, kommentiert er mit den Worten »ein typischer ›hänger‹!« (DR: 692)36 Keine wirkungsvollen Worte für etwas zu haben, ist für ihn gleichbedeutend mit Unfruchtbarkeit und Impotenz. Ein zentrales Bild in diesem Zusammenhang ist das der männlichen Masturbation. Dieses taucht in der Reise immer wieder in verschiedenen Kontexten auf. Eine seiner wesentlichen Funktionen be34 Vgl. dazu auch die Karteikartennotizen zum Vater (DR: 637). 35 Im Sinne des Lacanschen »Gesetz des Vaters« kann die Vaterfigur bei Vesper auch abstrakt gedeutet werden als etwas, das die Sprach-, Ausdrucks- und Schreibfähigkeit des passiven Bernward in einer phallogozentristischen Struktur festhält, gegen die er mit seinem Schreiben aufbegehrt. 36 Der Begriff des »Hängers« für eine passive, ineffektive Haltung findet sich in ähnlicher Form in Rolf Dieter Brinkmanns Briefen an Hartmut verwendet: »das Rumlungern, das manche Typen zeigen, sieht grau und häßlich aus, eine doofe Passivität, ein Rumhocken und Rumglotzen, das sind die Kiffermentalitäten, und sie hängt mit Sprache zusammen, diese passive graue Atmosphäre, und die Blöden Hängertypen sehen das nicht und so können sies auch nicht benutzen« (Brief vom 03.06.1974, in: Brinkmann, Rolf Dieter: Briefe an Hartmut, hg. von Maleen Brinkmann. Hamburg 1999, S. 7).

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steht, so meine These, darin, eine Zwischenposition in der Dichotomie von Impotenz und Zeugung einzunehmen. Diese Trias (Impotenz – Onanie – Zeugung) kann als Spielart der bereits betrachteten Dichotomie von Nichtstun/Stummheit/Passivität versus Handeln/Aktivität mit der Zwischenstufe des Schreibens/Redens/symbolischen Handelns betrachtet werden. Deutlich wird dies etwa, schaut man sich die Verwendung des Bildes der männlichen Onanie in der folgenden Passage über den gegenwärtigen Literaturbetrieb an: [D]ie heutige Literatur ist eine einzige chronique scandaleuse. Das alles sind keine Anleitungen zum Handeln. Man ist stolz darauf, die Wirklichkeit zu verleugnen, Destillate zu Papier zu bringen, die Ort, Zeit, unten, oben, nur noch ahnen lassen. Das ist die ganze Moderne. Und natürlich lehnen sie dann die Literaturpreise des Systems ab, um ihrer papiernen Onanie wenigstens einen Hauch von Protest zu verleihen, nonsens. [...] Aber, verflucht, im Grunde möchte ich wirklich lieber ganz was andres machen, da mit der Veränderung der Wirklichkeit fortfahren, wo ich aufgehört habe, statt diese Wirklichkeit in das Hintereinander der Buchstaben zu zwängen, wo sie getrost veröden kann [...]. [W]enn du’s fertigbringst, deinen Platz nicht nur zu sehn, sondern auszufüllen, dann hörst du auf, individuelle Scheiße zwischen zwei Pappdeckel zu spritzen! (DR: 298)

Der Schreibende »sieht seinen Platz«, ist also vielleicht nicht mehr deaf und blind, was aber nicht zwangsläufig dazu führt, dass er beginnt, zu handeln. Vielmehr verharrt er auf einer Zwischenstufe, die zwar nicht mehr passiv ist, aber deren Handlungen konsequenzlos, unfruchtbar sind. Diese Zwischenstufe wird hier mit dem Bild der männlichen Onanie ausgedrückt und in ihrer politischen Wirkmächtigkeit angezweifelt. Ist Schreiben wirklich »fruchtbar« für die Gesellschaft? Oder korrespondiert es eher jenen pubertären ersten Versuchen der Befreiung, die aber letztendlich unfruchtbar bleiben, keine Nachkommen erzeugen? Ist Schreiben selbstreferentiell, eine Selbst-Befriedigung des eigenen Gewissens? Die Diskussion um die Legitimität von Schreiben als politischer Handlung bzw. um die Möglichkeit, durch Schreiben oder andere nicht unmittelbar gewalttätige Akte aus der Passivität herauszukommen, wird damit in ein explizit ›männliches‹ Bild gekleidet: Wer passiv ist, bleibt impotent, unfruchtbar. Erst das aktive Handeln macht einen zum »richtigen«, zeugungsfähigen Mann – mit allen Konsequenzen und Verantwortlichkeiten, die ein Zeugungsakt mit sich bringen kann. Wer hingegen die Handlung nur vorgibt, »stellvertretend« handelt oder nur für sich selbst, simuliert den Zeugungsakt nur, indem er onaniert.

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Verfolgt man diese Impotenz-, Onanie- und Zeugungs-Metaphorik durch den kulturellen Text um 1968, so scheint sie ausgesprochen typisch für männliche Sprache über das Verhältnis von Schreiben/Reden und politischer Aktivität zu sein. Genderhistorisch ist bemerkenswert, dass es sich um eine Metaphorik handelt, die implizit nur männliche Akteure auf der Bühne von Schreiben, Reden und politischer Aktivität vorsieht – schließlich werden Erfolg und Misserfolg über Begriffe kommentiert, die klar dem Bereich männlicher Sexualität entlehnt sind. Auffällig ist weiterhin, dass sich diese Metaphorik immer darauf bezieht, wie viel etwas Geschriebenes oder Gesprochenes verändern kann. Einige Beispiele: Der junge Protagonist in Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands wählt für den politisch erstarkenden Adolf Hitler die kritische Bezeichnung des »Großen Masturbators« (ÄdW: 1006).37 Sein Vorwurf der Onanie bezieht sich hier auf große Versprechen und Ankündigungen, die aber nicht eingehalten werden (also, um im Bild zu bleiben, keine Nachkommen haben). Ebenfalls im Kontext von öffentlicher Rede und daraus folgender Handlung nutzt Hans Magnus Enzensberger in den Berliner Gemeinplätzen die Zuschreibung »politische Impotenz« für das Verhalten zeitgenössischer Politiker: »Die herrschende Clique schiebt überall strebsame, aussichtslose Masken vor, die Schütz oder so ähnlich heißen: Herren, die sich schwitzend die Lippen lecken, wenn sie vor der Kamera ihre politische Impotenz darstellen.« 38 Die kritisierten Politiker sind deshalb »impotent«, weil sie aus Sicht Enzensbergers weder in der Lage sind, gesellschaftlich etwas zu verändern noch etwas Relevantes zu sagen haben. Ihre Kommunikation mit der Öffentlichkeit (»vor der Kamera«) beschränkt sich auf leere Verlegenheitsgesten (»schwitzend«, »die Lippen lecken«). Damit haben sie keinerlei Effekt auf das gesellschaftliche Geschehen. Sie sind passiv und »aussichtslos« und, um im Bild zu bleiben, zeugen nichts Neues. Am häufigsten trifft die Zuschreibung von »Impotenz« aber entweder den Schreibenden selbst oder andere Schreibende. Dabei ist bemerkenswert, dass sie in unterschiedlichen Kontexten auch unterschiedliche Vorwürfe verkörpert: Im Falle Vespers wurde bereits die Variante thematisiert, sich selbst oder anderen 37 Das Bild des »Großen Masturbators« ist dem Titel eines Gemäldes von Salvador Dalí (El gran masturbador, 1929) entlehnt. Das Gemälde selbst unternimmt jedoch eher sexuelle als politische Anspielungen. 38 Enzensberger, Hans Magnus: Berliner Gemeinplätze II, in: Ders. (Hg.): Kursbuch 1115, S. 190-197, hier S. 192. Klaus Schütz (1926-2012) war von 1967 bis 1977 Berliner Oberbürgermeister (SPD). Wenige Monate vor dem Erscheinen der Berliner Gemeinplätze hatte er Heinrich Albertz im Amt abgelöst, der nach den Ereignissen bei der Schah-Demonstration und heftiger Kritik seitens der APO zurückgetreten war.

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vorzuwerfen, politisch passiv zu sein und nichts zur Veränderung der Gesellschaft beizutragen. »Impotenz« kann einem Schriftsteller aber nicht nur als politisches Subjekt, sondern auch als ästhetisch gestaltendes Subjekt vorgeworfen werden, also mangelndes Veränderungspotential innerhalb der Literatur kritisieren. Der bekannteste Impotenz-Vorwurf dieser Variante stammt sicherlich aus Peter Handkes Wortbeitrag auf dem Treffen der Gruppe 47 in Princeton 1966.39 Handke kritisiert die gegenwärtigen Entwicklungen in der Literaturszene, im Anschluss an eine Lesung Hermann Peter Piwitts. 40 Dabei fasst Handke seine Kriterien für gutes und schlechtes literarisches Schreiben unter die Begriffe »schöpferische Potenz« bzw. »Impotenz«: Ich bemerke, daß in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht. Man sucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur aus schon das billigste ist, womit man überhaupt nur Literatur machen kann. Wenn man nichts mehr weiß, dann kann man immer noch Einzelheiten beschreiben. Es ist eine ganz, ganz unschöpferische Periode in der deutschen Literatur doch hier angebrochen und dieses komische Schlagwort vom »Neuen Realismus« wird von allerlei Leuten ausgenützt, um doch da irgendwie ins Gespräch zu kommen, obwohl sie keinerlei Fähigkeiten und keinerlei schöpferische Potenz zu irgendeiner Literatur haben. (Gemurmel) Es wird überhaupt keinerlei Reflexion gemacht.41

Handkes »Impotenz«-Vorwurf trifft Schriftsteller (möglicherweise als verunglückte Ansprache auch Schriftstellerinnen), die aus ihrer Umgebung Rohmaterial beziehen und es in ihr Schreiben aufnehmen, ohne das Material zu verändern und daraus etwas Neues zu erzeugen. Damit wendet er sich gegen die Tendenz vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller der 1960er Jahre zum realistischen oder sogar dokumentarischen Schreiben, zu Strategien also des genauen Be39 Im Wortlaut zu finden in: Peter Handkes ›Auftritt‹ in Princeton und Hans Mayers Entgegnung, transkribiert und kommentiert von Heinz Ludwig Arnold, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Peter Handke. München 1989 (= Edition text+kritik), S. 17-21. 40 Vgl. zu dieser Rede Gilcher-Holtey: Das Ende der Gruppe 47. Übrigens reagiert Handke nicht, wie Gilcher-Holtey anführt, auf die Lesung Walter Höllerers mit seiner Kritik. Die 2012 von der Princeton University veröffentlichten Tonaufnahmen des Treffens zeigen, dass Handke zwar nach Höllerer liest, seine Kritik aber nach der Lesung Piwitts vorbringt (http://german.princeton.edu/ landmarks/gruppe-47/recordingsagreement/recordings/, abgerufen am 27.07.2015). Für den Hinweis auf die Tonaufnahmen danke ich herzlich Dana Krätzsch. 41 Arnold: Peter Handke, S. 17 (Hervorhebungen von JC).

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schreibens, des möglichst authentischen Aufzeichnens und der unveränderten Integration von externem Material in den Text.42 Während in den vorausgegangenen Beispielen jedes Mitglied der Gesellschaft, unter anderem der oppositionelle Schriftsteller, die Wahl zwischen Potenz und Impotenz hat, wird hier die Sphäre des oppositionellen Schreibens in sich aufgeteilt in potent und impotent. Handke kritisiert immerhin ein Schreiben als impotent, das bereits auf die Anforderung von gesellschaftlicher Relevanz reagiert hat. Schließlich gehen die meisten realistischen und dokumentarischen Schreibansätze der 1960er Jahre auf den Versuch zurück, den Schreibprozess näher an die gesellschaftlichen Realitäten zu rücken und weitestmöglich vom »bürgerlichen Relikt« der Fiktionalisierung zu befreien. In Vespers Blick auf das literarische Schreiben würden sich die von Handke kritisierten Schriftsteller zwar vielleicht der »papiernen Onanie«, der Vorstufe der »richtigen« Potenz, schuldig machen, aber nicht der Impotenz im Sinne von Passivität gegenüber der Gesellschaft. Handkes Impotenz-Vorwurf zielt dagegen weniger auf die politische als auf die literarische Qualität des Schreibens. Er attestiert den kritisierten Texten den Mangel an literarischer Veränderung des Materials. Ihre Schriftsteller zeigen sich literarisch nicht potent, sie zeugen oder »schaffen« nichts, was nicht vorher schon da war. Die von Handke eingeforderte »Reflexion« des Materials soll dagegen dazu führen, es durch das eigene Schreiben zu modifizieren und weiterzuentwickeln. In einem ähnlichen Sinne wie Handke verwendet Rolf Dieter Brinkmann die Metapher der Impotenz in seinem Text Angriff aufs Monopol: Ich hasse alte Dichter, der als direkte Reaktion auf Leslie Fiedlers berühmten Aufsatz Cross the border, close the gap entstanden ist. Fiedlers Text war in der Ausgabe der Wochenzeitung Christ und Welt vom 13.09.1968 erstmalig in deutscher Sprache erschienen; Brinkmanns Antwort erschien – nach anderen Antworten u.a. von Reinhard Baumgart und Martin Walser – in der Ausgabe vom 15.11.1968. Brinkmann gehört zu den wenigen bedingungslosen Befürwortern von Fiedlers Plädoyer für die Auflösung der Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur. Viele der vorausgegangenen Antworten kritisieren das Unpolitische in Fiedlers Kultur- und Literaturentwurf, das faschistische Potential einer Re-Mythisierung der Literatur sowie die Öffnung der Literatur für Elemente ei-

42 Zu dieser Tendenz, die »einen Großteil der westdeutschen Literatur der sechziger Jahre« betrifft, vgl. das Kapitel Literatur und Dokumentation in Thomas/Bullivant: Westdeutsche Literatur, S. 116-156, hier S. 116.

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ner kapitalistisch orientierten Massenkultur wie der US-amerikanischen. 43 Brinkmann reagiert auf die Kritik Martin Walsers an Fiedler wie folgt: Die Abwehr Fiedlerscher Ausführungen geht jedoch zuerst nicht auf das objektive Moment, sondern meint die ganz private Rechtfertigung vor den Augen der Lesergemeinde, wiewohl man im Namen einer Objektivität spricht (siehe: Walser, der feststellt, die Welt benötige mehr Milch! Er denkt gewiß an Vietnam, auch so eine schöne Konvention unter Literaten mit schlechtem Gewissen, die ihre eigene Impotenz umstilisieren zur Impotenz allgemeiner Art!)44

Brinkmann wirft Walser vor, Fiedlers Grenzauflösung nur deshalb abzulehnen, weil er mit dem Festhalten an seiner bisherigen Position sein »schlechtes Gewissen« beruhigen kann. Wenn Walser ein konkretes weltpolitisches Problem (»Vietnam«) in die Debatte einbringt und die Literatur weiterhin als zuständig für dieses zeichnet, passiert dies für Brinkmann hauptsächlich, weil er sich vor seiner Leserschaft seiner eigenen »Impotenz«, seiner mangelnden realen Handlungsmacht in dieser Sache schämt. Damit steht Brinkmanns Impotenz-Vorwurf – wenn auch mit anderen Vorzeichen – ebenfalls im Kontext des Verhältnisses von Schreiben und politischer Wirkungsmacht. Der Schriftsteller, der weiterhin auf die unbedingte und konkrete Politisierung von Literatur pocht (ob dieser Vorwurf an Walser berechtigt ist, sei dahingestellt), tut dies, um seine persönliche politische Passivität und Handlungsunfähigkeit (»eigene Impotenz«) wenigstens zum öffentlichen Problem zu machen, indem er darüber schreibt und die Leserschaft daran Anteil nehmen lässt. Der daraus resultierende Text wäre nach Brinkmann eine »Impotenz allgemeiner Art«: Der Text erschöpft sich darin, eine politische Passivität in Werkform zu konservieren und ist damit auch literarisch impotent – er ist nicht offen für Weiterentwicklungen und neue Impulse des Schreibens. Brinkmann selbst sieht sich dagegen übrigens als Vertreter einer jungen, offeneren Schriftstellerschaft, die aber ihrerseits nicht »potent« sein 43 Ausführlich nachgezeichnet findet sich die Debatte um Fiedlers Text bei Jörgen Schäfer: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998, S. 29-47 (mit Fokus auf ihrer Bedeutung für das Werk Brinkmanns) sowie bei Luckscheiter: Der postmoderne Impuls, S. 31-47 (mit Fokus auf ihrer Bedeutung für die Herausbildung einer postmodernen Literatur in Deutschland). 44 Brinkmann, Rolf Dieter: Angriff aufs Monopol: Ich hasse alte Dichter [Christ und Welt vom 15.11.1968], abgedruckt in: Wittstock, Uwe (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig 1994, S. 65-77, hier S. 69.

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kann, denn »[das] Bewußtsein der auf jene arrivierten Autoren folgenden Generation wird ja andauernd kastriert.«45 Er würde also – um im Bild zu bleiben – gern etwas Neues zeugen, wird aber von den etablierten impotenten Autoren und deren Positionen ebenfalls gewaltsam zur literarischen Impotenz verdammt. Literarisches Schreiben, das die explizite Funktion hat, politische Impotenz und Passivität zu überwinden, produziert paradoxerweise nach Handke und Brinkmann literarisch impotente und passive Texte. Der Schriftsteller, der versucht, mit seinem Schreiben direkte politische Veränderung zu erreichen, vernachlässigt demnach seine wahre »Potenz«: seine Sprachmacht und die Möglichkeit, innerhalb der Literatur Neues hervorzubringen. In allen genannten Fällen wecken »Potenz« und »Impotenz« als Metaphern die doppelte Assoziation einmal zu männlicher Sexualität und einmal, unterstützt durch ihre Etymologie, zu Macht und Ohnmacht. Trägt man die Konsequenzen der Verwendung dieser Metaphorik zusammen, so werden Männer, und vor allem schreibende Männer, zwischen mehreren Positionen zerrieben, die sich in weiten Teilen ausschließen: Einerseits werden Potenz und »richtige« Männlichkeit in Entwürfen wie dem Vespers an Aktivität und konkrete Taten gebunden. Wer »männlich« und potent sein möchte, muss handeln, und zwar so, dass Konsequenzen dieser Handlung bleibend zu sehen sind. Reden und Schreiben, auch wenn sie als politische Handlungen konzipiert werden, geraten dagegen schnell in den Verdacht der Unfruchtbarkeit – entweder, weil sie gänzlich dem bestehenden System verhaftet sind und gar nicht erst versuchen, eine Handlung mit externen Konsequenzen zu sein (»Impotenz«) oder weil sie nur den Eindruck erwecken, Konsequenzen zu haben, aber letztlich selbstreferentiell sind und keine bleibende Veränderung an der Umwelt auszulösen vermögen (»Onanie«). Andererseits werden innerliterarisch, z.B. von Handke und Brinkmann, gerade die Texte als impotent bezeichnet, die möglichst nah an einer gesellschaftspolitisch relevanten Handlung konzipiert sind. Der Versuch, schreibend dem Impotenz-Vorwurf in Vespers Variante zu entgehen, wird paradoxerweise als Verlust literarischer Aktivität und Zeugungskraft ausgelegt. Ein schreibender, oppositionell eingestellter Mann steht also, pointiert formuliert, vor dem Dilemma, dass ihn entweder der Vorwurf des »Impotenten« oder sinnlos »Onanierenden« im Sinne mangelnder politischer Aktivität trifft, oder der des »literarisch Impotenten« im Sinne nicht-innovativer Literatur (so er konsequent versucht, Schreiben und politische Aktivität einander anzunähern). Um beidem zu entgehen, bleibt lediglich die Option, das Schreiben zugunsten von »echten« Taten ganz aufzugeben – und so zum »Täter« zu werden, der die autoritären Strukturen und die an 45 Ebd., S. 70.

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ihm verübte Gewalt nur umdreht und weiterträgt. Vespers Protagonist ist der Inbegriff eines solchermaßen »Zerriebenen«: Sein Text zeigt ihn als verunsichert schwankend unter allen drei Vorwurfsvarianten und damit zwischen unvereinbaren Anforderungen an sein Schreiben, seine Aktivität und seine Männlichkeit. Der Komplex aus Männlichkeit, Schreiben und aktiver Veränderung der Umwelt spielt auch im zweiten in dieser Arbeit untersuchten Text eine wichtige Rolle: Auch der Protagonist in Rolf Dieter Brinkmanns 1968 erschienenen Roman Keiner weiß mehr ist eine Schriftstellerfigur und kreist stetig um die Themen männliche Sexualität und Aktivität/Passivität. Er bewertet sie jedoch grundsätzlich anders als der Protagonist der Reise: Mit Gerald hatte er sich unterhalten, wie lästig das doch eigentlich sei, daß es jedesmal so glibbrig kam als schleimige Flüssigkeit, etwas wolkig trüb, wie sie auf der Hand lag, in der hohlen Hand, die Finger steif abgespreizt, oder verklebt im Haar hing, auf der Haut, auf dem Bauch [...]. Statt dieser Flüssigkeit hätte es doch auch bloß ein scharfer, durchdringender Geruch sein können, der am Ende dabei jedesmal entstünde und schnell in der Luft wieder verschwinden würde. Mehr nicht, meinte Gerald. Wie einfach das dann wäre, gefahrlos und auch angenehmer, so ein kleiner kurzer Geruch, unsichtbar in der Luft. (Kwm: 20f.)

Diese Männer empfinden es als »störend« und abstoßend, mit ihrem Sperma eine sichtbare Marke in ihrer Umwelt zu hinterlassen – je weniger Konsequenzen ihre sexuellen Handlungen haben, desto besser. Passend dazu wird der Protagonist in jeder Hinsicht als passive, um sich kreisende Figur gezeigt. Von dieser Person, und speziell von diesem Mann, suggeriert der Roman, ist keine produktive Handlung zu erwarten. Statt der wechselnd erfolgreichen und ernüchternden Schreiberfahrungen Bernwards sieht man hier den gesamten Roman über einem namenlosen Protagonisten zu, der schreiben möchte, aber taten- und einfallslos an seinem Schreibtisch vor der »längst schon aufgegebenen Arbeit« (Kwm: 45) sitzt. Er möchte Künstler werden, verliert sich aber in der exzessiven Suche nach Material, das er nie verwertet und dem Anhäufen von Büchern, die er »irgendwann in der nächsten Zeit« (Kwm: 66) lesen möchte. Eng verbunden mit seinem passiven, unproduktiven Zustand ist das Gefühl, ein sexuell unattraktiver Mann zu sein. Selbstbilder wie dieses finden sich immer wieder: »Still, ohne eine Bewegung, blieb er am Tisch sitzen, in sich zusammengezogen, eine schäbige Figur, klein, schlapp, zurückgefallen in sich selbst, krümelig, ein in sich zerfallener Rest [...].« (Kwm: 111) Dieses Selbstbild ist von den verwendeten Adjektiven her zugleich ein Impotenz-Bild. Auch in anderen Passagen des Romans beschreibt er sich selbst und

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seine Situation mit Attributen, die in Verbindung mit mangelnder Zeugungskraft stehen. So umschreibt er einen seiner vielen unproduktiven Arbeitstage mit »[d]ie Schlaffheit war da« (Kwm: 178) und konstatiert, dass er eigentlich weniger durch seine Familie als »durch sich selbst belastet [sei], seinen eigenen Schwanz, seine eigenen Eier, die Schlaffheit.« (Kwm: 177) An der Seite seiner Frau imaginiert er sich wenig später wie folgt: »Und er hing daran, baumelte an der Seite, lächerlich schlaff, lächerlich schlaff.« (Kwm: 180) Auch in diesem Roman werden Stagnation, Passivität und Schweigen klar mit männlicher Zeugungsunfähigkeit assoziiert. Im Gegensatz zu Bernward in der Reise haben wir es hier jedoch mit einem Mann zu tun, der zwar ebenfalls unter diesem Zustand leidet, sich ihm aber fügt bzw. bei der Konstatierung seiner passiven Rolle stehen bleibt. Er zieht explizit das Nicht-Zeugen dem Zeugen, die Onanie dem Geschlechtsverkehr vor; möglichst wenig Konsequenzen soll sein Handeln haben (»Man brauchte es ja schließlich hinterher nur abzuwischen, ohne sich dabei etwas zu denken.« (Kwm: 22)). Wesentlich häufiger als der Geschlechtsakt wird im Laufe des Romans entsprechend auch dargestellt, wie er auf den Körper seiner Frau onaniert. Dass er mit dem gemeinsamen Kind tatsächlich einmal etwas »erzeugt« hat, betrachtet er als Unfall (vgl. Kwm: 13), der ihn mit Unbehagen erfüllt. Parallel dazu wird auch alles andere, was mit Veränderung oder Schaffen zu tun hat, von ihm abgelehnt oder zumindest mit Argwohn betrachtet. Vielleicht erklärt sich in diesem Kontext auch der merkwürdige Ausdruck des »Zusammenfickens«, den der Protagonist in einer recht berühmten Szene, seinem Wutausbruch während einer Zugfahrt, verwendet: Die Bilder sind alle verreckt. Die Stimmen. Das kulturelle Wort. Verreckt. Aus. Auch du, Hans-Jürgen Bäumler. Und du, Marika Kilius. Und du, Pepsi-Mädchen Gitte. Und du, Palmolive-Frau. Und du, Luxor-Schönheit Nadja Tiller. Kölscher Willy. Unser Mann in Bonn. Onkel Tchibo auf Reisen. [...] Doornkaart aus Kornsaat. Bauer Muff auf dem grünen Plan. Undwassonstnochalles, undwassonstnochalles, wassonstnochalles, wassonstnoch. Argumentieren lohnt sich schon gar nicht mehr. Zusammenficken sollte man alles, zusammenficken. (Kwm: 186f.)

Der Protagonist begegnet dem Argumentieren mit dem Gegenvorschlag des »Zusammenfickens« (also nicht, was inhaltlich wesentlich näher läge, Zusammenschlagens o. ä.). Die nächste Stufe nach dem Reden kleidet er damit in das Bild eines konsequent und aggressiv durchgeführten männlichen Geschlechtsakts. Damit assoziiert auch er die »echte« Tat mit männlicher Potenz. Sich selbst auf diesen Geschlechts-, und damit vielleicht Zeugungsakt einlassen will er jedoch nicht: »Die mußten ohne ihn fertig werden und würden auch ohne ihn fertig

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werden müssen, wenn es mal losging. Er packte sich lieber selbst an die Eier und schüttelte sie allein für sich.« (Kwm: 185) Er bleibt bei der vagen Feststellung stehen, dass »man« »es« tun »sollte« – und geht in sein Hotelzimmer, um zu onanieren.46 Sowohl Brinkmanns Text als auch Vespers Text werden maßgeblich befeuert durch die intensive Reflexion und detailreiche Darstellung eines passiven, »impotenten« Ausgangszustands und der Schwierigkeiten, diesen schreibend zu überwinden. Beide Erzählungen sind letztlich Protokolle eines erfolglosen Schreibakts und auch einer damit verbundenen Krise der männlichen Selbstwahrnehmung. Während Vespers Protagonist sich aber dadurch auszeichnet, verzweifelt alle möglichen Varianten der aktiven, »potenten« Handlung an seiner Poetik zu erproben und wieder zu verwerfen, scheitert Brinkmanns Protagonist daran, sich seiner eigenen »Potenz« zu stellen. Er leidet an der »Schlaffheit«, sowohl in Bezug auf seine männliche Identität als auch in Bezug auf seine schriftstellerische Produktivität – aber weicht, verbildlicht durch die Onanie, gleichzeitig jedem »echten« Zeugungsakt im künstlerischen wie im biologischen Sinne aus.

F IKTIVE UND FAKTISCHE Z EUGUNGSAKTE – DIE K INDERFIGUREN UND DAS S CHREIBEN Vor dem Hintergrund, dass die zuvor gezeigte Metaphorik von Zeugungskraft und Impotenz wichtiges Ausdrucksmittel männlichen Schreibens ist, um das Verhältnis von Schreiben und Aktivität auszuloten, ist es bemerkenswert, dass beide schreibenden Männer auch schreibende Väter sind und dass in beiden untersuchten Texten auch die Kinder der schreibenden Figuren thematisiert werden. Mit der Darstellung dieser tatsächlich »erzeugten« Nachfolgegeneration in Bezug auf Schreiben und politische Aktivität möchte ich mich im nächsten Schritt auseinandersetzen. Wie bewerten die Väter das Ergebnis ihres realen Zeugungsaktes – vor allem in Bezug auf ihr Schreiben? Wie wird ihr Schreiben mit der Vaterschaft in Verbindung gebracht? Wie werden die Kinder im Hinblick auf politische Aktivität als Subjekte konstruiert bzw. wie wird diese Kon-

46 Vgl. zur Einordnung der Onanierszene im Hotel in den Romankontext eindrücklich Sibylle Schönborn: Vivisektionen des Gehirns. Die Prosatexte Rolf Dieter Brinkmanns, in: Delabar, Walter/Schütz, Erhard (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre. Darmstadt 1997, S. 344-360, bes. S. 349f.

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struktion vermieden? Zunächst ist zu bemerken, dass Brinkmann und Vesper zur Entstehungszeit ihrer Romane jeweils selbst ein Kind im ungefähren Alter der Kinderfiguren haben: Brinkmanns Sohn Robert ist 1968 drei Jahre alt, Vespers Sohn Felix 1969 zwei Jahre. Besonders Vesper inszeniert in der Reise die Engführung der Vater- und Sohn-Figuren mit seiner Biographie – am deutlichsten durch die Übernahme der realen Vornamen. Auch nimmt sein Protagonist immer wieder Bezug auf seinen Streit mit Felix’ Mutter um das Sorgerecht – einen Streit, den Vesper mit seiner inhaftierten Ex-Freundin Gudrun Ensslin während der Arbeit am Roman ebenfalls austrägt.47 Dadurch, dass Ensslin zwischen April 1968 und Juni 1969 wegen Brandstiftung im Gefängnis Frankfurt-Preungesheim sitzt und nach ihrer Haftentlassung in den politischen Untergrund geht, macht Vesper eine für seine Generation eher untypische Erfahrung: die des alleinerziehenden Vaters.48 Nach Gerd Koenens Rekonstruktionen hält sich Felix zwischen 1968 und 1969 über weite Zeiträume bei seinem Vater auf. Ab Mitte 1969 teilt Vesper sich die Versorgung mit einer Pflegefamilie, die Felix dann im Zuge der fortschreitenden psychischen Erkrankung des Vaters immer länger und häufiger betreut.49 In den Briefen, die Bernward Vesper Gudrun Ensslin zwischen 1968 und 1969 ins Gefängnis schickt, geht es neben dem Sorgerechtsstreit auch viel um die Organisation seines Alltags mit Felix sowie Reflexionen seiner eigenen Rolle: »Ich akzeptiere alles. Ich bin nicht nervös. Aber es ist für mich so ungeheuer merkwürdig, ganz allein mit einem Kind zu sein.« (NG: 152) Vesper stellt seine Situation als zwar ungewöhnlich und herausfordernd, aber grundsätzlich angenehm dar. Die Merkwürdigkeit seiner Situation resultiert für ihn, wie an mehreren Stellen sowohl des Briefwechsels als auch der Reise deutlich wird, explizit aus seiner Geschlechterzugehörigkeit. Er gibt seiner Situation die Funktion einer Horizonterweiterung für ihn als Mann: »Jeder Mann sollte die Arbeiten der Frauen einmal längere Zeit hindurch verrichten, – er würde sie dann eher verstehen.« (NG: 27) Vesper betrachtet die Rolle des alleinerziehenden Vaters als Lernprozess in Bezug auf seine Geschlechterrolle und scheint redlich bemüht, 47 Ausführlich rekonstruiert finden sich der Sorgerechtsstreit und Vespers Positionierung in ihm bei Gerd Koenen: Vesper – Ensslin – Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Frankfurt/M. 2005, S. 195-210. 48 Zwar ist um 1968 die Zahl der Männer, die sich zur Erziehung von Kindern im Vorschulalter äußern oder sich in deren Betreuung (Kinderläden etc.) engagieren, verhältnismäßig hoch. Selten sind jedoch Haushalte, in denen ausschließlich ein männlicher Erwachsener mit Kind(ern) lebt. Für diesen Hinweis danke ich herzlich Frau Prof. Dr. Meike Sophia Baader. 49 Vgl. Koenen: Vesper – Ensslin – Baader, S. 195-210.

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sich ihm zu stellen. Aus den von Gerd Koenen zitierten Briefen Vespers an die Pflegefamilie geht hervor, dass Vesper zumindest 1969 den Tagesablauf und die Vorlieben seines Sohnes genau kennt und seine soziale und kognitive Entwicklung reflektiert.50 Aus einer ähnlichen Zeit stammt das im Frankfurter Nachlass erhaltene Begleitschreiben, das er dem allein reisenden Zweijährigen mit ins Flugzeug gibt: Werte Stewardeß, dies ist Felix. Er hört auf diesen Namen. Er versteht alles, auch das, was er selbst noch nicht sprechen kann… Er ist schon häufig geflogen… Bitte in keinem Fall Gewalt gebrauchen, da er antiautoritär erzogen und sehr sensibel ist. Sollte es wider Erwarten Schwierigkeiten geben, hört er auf einen Ihrer männlichen Kollegen am besten (weil er ganz von seinem Vater erzogen wird…). Vielen Dank! Der »Papa«51

Aus diesem Zitat geht nicht nur die bereits erwähnte starke gedankliche Auseinandersetzung des Vaters mit seinem Sohn und dessen Entwicklungsstand hervor, sondern auch ein gewisser Stolz auf die eigene Rolle. Immerhin erwähnt er extra, dass er als Vater die hauptsächliche Erziehungsperson sei und zieht daraus den Schluss, dass Felix mit männlichen Erziehungspersonen besser zurechtkomme. Offensichtlich schätzt er seinen eigenen erzieherischen Einfluss auf Felix sehr positiv und sehr hoch ein und seine Männlichkeit als für Felix wichtigen Faktor. Neben seinen neuen und interessanten Geschlechterrollen-Erfahrungen, die er durch Felix macht, erwähnt Vesper noch eine weitere Funktion, die Felix in seinem Leben hat: FELIXFELIX hat da auch für mich die Funktion, mir zu sagen (›AbuAbu‹) ›Mach weiter, ich bin hier!!‹ Ich bin überhaupt nicht verzweifelt, (ich halte alles durch), aber ohne FELIXFELIX sähe ich nicht mehr ein, warum ich noch irgendwie ›weiter‹ machen sollte, innerhalb und gegen das System, was es mich noch angeht. (NG: 75)

Felix ist für Vesper auch der sinnstiftende Antrieb, »weiter« zu machen. Seine Anwesenheit erweckt in Vesper ein Verantwortungsgefühl, für ihn handeln zu müssen. Die Art der Handlung wird dabei nicht näher spezifiziert, außer, dass sie 50 Vgl. ebd., S. 220. 51 Begleitbrief Felix Ensslin vom 30.06.1969, Frankfurter Nachlass, zit. nach ebd. Wie stolz der Vater auf seinen Sohn ist, zeigt sich auch darin, dass er Felix in dem kurzen Text mehrfach als ganz besonderes Kind markiert, das nicht nur »sensibel« ist, sondern auch schon im Kleinkindalter »alles versteht« und reichlich Reiseerfahrung hat.

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»innerhalb und gegen das System« stattfindet. Vespers Aktivitäten für (»innerhalb«) und »gegen« die Gesellschaft gleichermaßen werden dadurch motiviert, dass etwas von ihm dort Fortbestand haben wird. Doch nicht nur für seine politisch-soziale Aktivität, sondern auch für sein Schreiben misst Vesper der Anwesenheit von Felix große Bedeutung bei. So lässt er seine Figur zu Beginn der Reise, offenbar in direkter Reaktion auf eine aktuelle Schreibsituation, konstatieren: »Das Laufen von Felix um den Tisch könnte vom Störfaktor zur Bedingung meiner Arbeit werden. Es ist wirklich eine Frage der Konditionierung!« (DR: 41) Bernward stellt fest, dass er beginnt, das Verhältnis zwischen seiner Vaterrolle und seinem Schreiben anders zu bewerten. Felix’ Anwesenheit und auch seine kindliche Aktivität, die er anfänglich als seiner Schreibarbeit entgegenstehend bewertet hat, wandelt sich zögernd (»könnte«) zum gewohnten Bestandteil und schließlich zur Inspiration seiner Textproduktion.52 Darüber, worin diese Inspiration genau bestehen könnte, gibt bereits ein Brief Vespers an Ensslin vom 07.04.1968 Auskunft. Vesper berichtet, wie er Felix direkt nach der Verhaftung Ensslins aus der Obhut einer befreundeten Familie wieder zu sich holt, »auch meinetwegen; er vermittelt das unmittelbare Erlebnis des Konkreten« (NG: 26). Dieses nicht näher spezifizierte »Konkrete« und »Unmittelbare«, was der kleine Sohn mitbringt, steht im Kontrast zu Vespers Schreiben und der damit verbundenen Abstraktion und Intellektualität. Bemerkenswert ist, dass er Felix meistens dabei beschreibt, wie er läuft oder sich sonstwie bewegt, während er selbst schreibt. Felix verkörpert also auch das Aktive und die konkrete Tat, die er selbst immer wieder im Schreibakt vermisst. Er hat also einmal die Funktion, seinem schreibenden Vater Aktivität vorzuleben und einmal, sie von ihm einzufordern. Dass dieser reizvolle Kontrast und die nötige Aktivität, die die konkreten Aufgaben der Kindererziehung mit sich bringen, aber auch Schattenseiten haben, zeigt sich in einem Brief, den Vesper am 11.09.1969 an seinen Verleger Karl Dietrich Wolff schreibt. Vesper ist gezwungen, sich für die zeitliche Verzögerung seiner Arbeit an der Reise zu rechtfertigen: Ich habe die ca. Seiten 1-25 bereits in jener Montagetechnik geschrieben. Später musste ich das aufgeben, weil ich hier ständig gestört werde (Felix!) und deshalb nur Materialsammlung machen kann [...]. Ich lebe hier in der Hölle (die, ähnlich wie bei Dante, das 52 Wie genau der schreibende Vater seinen Sohn beobachtet und seine Bewegungen mitverfolgt, zeigt sich auch in einer weiteren Passage: »Während ich tippe, versucht Felix meine Aufmerksamkeit dadurch zu erwecken, daß er dutzendmal in einem Trippellaufschritt um den Tisch läuft, an dem ich sitze, kurz pausiert, sich umdreht, weiterläuft, den Kopf mal links, mal rechts neigt.« (DR: 35)

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Aussehen der Lüneburger Heide hat), kann nicht weg, nicht rückwärts und vorwärts, weil ich an Felix gebunden [bin] und ohne Geld [...]. (DR: 606f. (Anhang))

Hier wird deutlich, inwiefern das Leben mit Felix den Schreibenden auch einengt, weniger mobil macht und ablenkt – also seine Produktivität eher mindert. Natürlich ist es fast unmöglich zu klären, ob die Vaterpflichten Vesper tatsächlich stark vom Arbeiten abgehalten haben oder ob sie hier hauptsächlich gegenüber dem Verleger als willkommene Ausrede dienen. In jedem Fall finden sich in Vespers Texten ambivalente Positionen zum Zusammenspiel von Vaterschaft und Schreiben. Die schriftstellerische Arbeit wird einerseits mit neuen Impulsen befeuert, die sich aus neuen Anforderungen im Leben Vespers ergeben. Andererseits verändert sich durch die erzieherische Verantwortung auch der räumliche und zeitliche Rahmen für das Schreiben, was dazu führt, dass Vesper z.B. auf Ruhe und Mobilität verzichten muss. Vespers Text erweist sich damit übrigens als einer der frühesten literarischen Texte, in dem Vaterschaft und literarisches Schreiben als etwas dargestellt werden, das es zu vermitteln gilt und das sich gegenseitig anregen und beflügeln kann. Wie Toni Tholen gezeigt hat, werden die Sphären von Vaterschaft/Privatleben und Schreiben/Arbeitsleben bis in die 1980er Jahre hinein in der Regel strikt getrennt gedacht und im jeweiligen Text inszeniert. Die Reise zeichnet also ein für ihre Entstehungszeit eher ungewöhnliches Bild eines schreibenden Vaters. Sie kann unter diesem Aspekt durchaus als Vorläufertext für Texte wie Peter Handkes Kindergeschichte (1981) gesehen werden, in denen erzählt wird »von der Realisierung einer – keineswegs nur idyllischen – Lebensform, in der der literarisch arbeitende Künstler viele Jahre seines Lebens seinen Raum und seine Zeit mit dem eigenen Kind teilt und sich dabei auch die Art seines Arbeitens, die Formen seines Schreibens verändern.«53 Neben dem Einfluss von Felix’ Anwesenheit auf seinen Schreibprozess thematisiert Vesper durch seine Figur auch mehrfach, wie sich durch Felix die inhaltliche Gestaltung des Romans ändert. Bernward beobachtet, wie er durch Felix seine Umgebung anders wahrnimmt und versteht, vor allem, was seine eigene Kindheit und generell das Phänomen der Kindheit betrifft: »Felix ist bei mir, 2 ½ Jahre alt, ich habe erst hier bemerkt, daß er, indem er sich in diesen Räumen, unter diesen Menschen bewegt, ein Instrument ist, das mir meine eigene Geschichte erschließt.« (DR: 18) Weiterhin einflussreich für die inhaltliche Gestaltung des Romans ist es, dass der schreibende Vater den kleinen Sohn mehrfach als seinen zukünftigen Leser 53 Tholen, Toni: Familienmännlichkeit und künstlerisch-literarische Arbeit, in: Weimarer Beiträge 57 (2011), S. 253-268, hier S. 258.

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imaginiert – einmal sogar als ausschließlichen Leser, für den der gesamte Text entsteht: »Es gibt einen Leser dieses Buches. Felix. Sein Tod würde bedeuten, daß es keinen Leser mehr hätte.« (DR: 100) Auch die erste einer Reihe von Widmungen im Paratext des Romans ist »Für Felix [(den ›kleinen Menschen‹)]«. An einigen Stellen im Roman finden sich darüber hinaus einmontierte kleine Botschaften und Briefe, die sich aus dem Handlungskontext ergeben und sich offenbar direkt an einen älter gewordenen Felix richten (z.B. »Lieber Felix, scher Dich den Teufel um blaue Briefe pp.« (DR: 422)). Damit macht der schreibende Vater den Roman auch zum Kommunikationsmittel zwischen sich und seinem Sohn. Insofern er einen Roman für und an seinen Sohn schreibt, der noch weit davon entfernt ist, lesen zu können, liegt der Schreibkonstellation die implizite Annahme Vespers zugrunde, dass im kommunikativen Dreieck Vater-SohnRoman zwei Elemente in der Zukunft Bestand haben werden: der Sohn und der Roman. Er selbst leistet seinen kommunikativen Beitrag quasi im Voraus: Passagen wie die Ansage zu den blauen Briefen gehen implizit davon aus, dass er selbst nicht anwesend sein wird, um sie zu Felix’ Schulzeiten auszusprechen. Damit sind sie Teil der unterschwelligen Andeutungen auf seinen frühen und freiwilligen Tod, von denen der Roman durchzogen ist54 und die, folgt man den anekdotischen Aufzeichnungen von Henner Voss, bereits vor der Niederschrift der Reise zum Teil seiner Poetik werden: War er richtig zugedröhnt, kam unweigerlich sein Evergreen: ›Keine Ahnung, ob ich’s schon mal vom Stapel gelassen habe: Ich lege mich irgendwann um.‹ ›Ja, Bernward.‹ ›Spätestens mit fünfunddreißig.‹ ›Ja-ha. Hör ich jetzt zum yten Mal.‹ ›Mit fünfunddreißig‹, sagte er, ›will ich zwei, drei Tatzenhiebe veröffentlicht haben, die mir einen unkündbaren Platz in der Literaturgeschichte sichern.55

Vesper stilisiert sich – hier und auch als Figur in der Reise56 – als jemand, dessen einzige Bestimmung es ist, ein literarisches Werk von gesellschaftlicher Bedeutung und mit sichtbaren Konsequenzen zu schaffen. Interessant ist im Kontext der Fragestellung, wie hier durch die Entscheidung, das Buch an den Sohn zu adressieren, die beiden »Nachkommen« des Schriftstellers Vesper enggeführt werden. Vesper »zeugt« ein Buch und ein Kind und bezieht sie in einer Weise aufei54 Vgl. z.B. auch DR: 18 und DR: 21. 55 Voss: Vor der Reise, S. 54. 56 Z.B. »Und wir werden Ihnen [sic] (vor allem im anstehenden Teil) eine Melodie vorsingen, die ihnen hundert Jahre in den Ohren klingen soll – an mir soll’s nicht liegen.« (DR: 620 (Anhang))

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nander, die ihn als lebenden Menschen in der Zukunft entbehrlich macht – sie werden für ihn »weiterhandeln«. Ein Aspekt der Vesperschen Sprache über sein Kind verdient noch einen näheren Blick: die auffällig häufige Verwendung von Begriffen, die das Kind in einer gewissen Funktionalität erscheinen lassen. Vesper bezeichnet Felix als »Instrument«, als »Angelegenheit des öffentlichen Lebens« (NG: 73f.) und betont, was er selbst aus Felix’ Anwesenheit in Bezug auf seine politische Arbeit und seine Geschlechterrolle bezieht. Auch die liebevolle Anerkennung von Felix als Inspirationsquelle des Schreibens und zukünftigen Leser hat den Beigeschmack einer Instrumentalisierung des Sohns für Interessen des Vaters. In einem Brief muss sich dieser von Gudrun Ensslin dann auch ermahnen lassen: »Und, sei nicht gleich böse, ich sag’s, weil ich davor ein bißchen Furcht habe: mach(t) kein Spielzeug, keinen Hippie und so, aus ihm. ER sieht wahrscheinlich viel mehr und genauer, wenn er nicht besehen wird.« (NG: 81) Die Befürchtung der Mutter zielt in die Richtung, dass der Vater vor lauter begeisterter und inspirierender Beobachtung im Sinne seines eigenen Lern- und Schreibprozesses vergisst, das eigenständige »Sehen« des Kindes zu fördern. Dass Vesper im Rahmen der Erziehung seines Kindes so großen Wert darauf legt, dass nicht nur das Kind, sondern auch er lernt und sich entwickelt, ist zum einen der Funktion Felix’ für seine Poetik geschuldet, zum anderen aber auch einem umfangreicheren zeitgenössischen Diskurs, an dem er teilhat: dem der Kinderladen-Bewegung und den mit ihr verbundenen Erziehungsvorstellungen. Sowohl aus den Briefen an Gudrun Ensslin als auch aus Gerd Koenens VesperBiographie wird deutlich, dass Vesper über Felix enge Kontakte zur aufkommenden Kinderladen-Bewegung hatte und zeitweise in einem KinderladenProjekt mitgearbeitet hat. Ein wichtiges Prinzip der Kinderladen-Bewegung war, wie Meike Baader in ihrer erziehungswissenschaftlichen Studie zur Erziehung um 1968 zeigt, »die Selbstreflexion der Erzieher/innen bzw. die ›Erziehung der Erzieher‹«.57 Das bedeutet, dass die Erziehenden, die sich in den Kinderläden engagierten – ausgehend von der Erkenntnis, dass sie selbst durch autoritäre Erziehungsstrukturen geprägt waren – , mit der Erziehung der Kinder einen eigenen Reflexions-, Lern- und Veränderungsprozess verbanden. Ergebnis sollte idealerweise ein Eltern-Kind-Verhältnis sein, in dem beide Parteien etwas lernten

57 Baader, Meike Sophia/Sager, Christin: Die pädagogische Konstitution des Kindes als Akteur im Zuge der 68er-Bewegung, in: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 5 (2010), H. 3, S. 255-267, hier S. 262.

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und sich entwickelten. 58 Vor diesem Hintergrund – und sicherlich auch in Kenntnis von Karl Marx’ These, dass der Erzieher selbst erzogen werden muss – erlegt sich Vesper die Aufgabe auf, den Einfluss seiner eigenen Sozialisation auf seinen Umgang mit Felix umfassend zu reflektieren. Diese Reflexionen thematisiert er in seinen Texten an mehreren Stellen. Sie zentrieren sich um die Erkenntnis, dass er Felix durch seine Erziehung eine andere Kindheit ermöglichen müsse als seine eigene. Beispielsweise begründet er seine Entscheidung, Felix selbst zu erziehen und nicht in die Obhut seiner Verwandten in der Lüneburger Heide zu geben, damit, dass »gegenüber dem Start, den wir hatten, ein Fortschritt erzielt wird, er nicht später, aus der Provinz, ihrer Atmosphäre, ihrer Isolation kommend, die gleiche Misere wieder beginnt.« (NG: 70) Auch dem Vorschlag Ensslins, ihn bei ihrer Familie unterzubringen, widerspricht er mit einem ähnlichen Argument: »Wir können Felix nicht dahin bringen, woher Du kamst, ich kam – IHN alles durchlaufen lassen, was wir durchliefen.« (NG: 73)59 Dieser Ansatzpunkt – die Nachteile der eigenen Sozialisation zu reflektieren und nach Alternativen zu suchen, sodass »sich Eltern mit ihren Kindern verändern«60 – ist, wie die Studie von Meike Baader gezeigt hat, typisch für die Kinderladenbewegung: »Die nächste Generation anders aufwachsen zu lassen, als man selbst und als die eigenen Eltern erzogen worden waren, steht am Beginn der pädagogischen Initiativen von 1968, insbesondere der Kinderladenbewegung.«61 Dieser Ansatzpunkt hat zwei Implikationen, was das Rollenverständnis von Kindern durch ihre Eltern angeht: Einerseits wertet er Kinder als Subjekte der Gesellschaft auf und integriert die (bereits bei Vesper thematisierte) Erkenntnis, dass die heutige Arbeit an einer besseren Gesellschaft den eigenen Kindern zugute kommt. 62 Andererseits erlegt er den Kindern unter Umständen auch die 58 Vgl. auch Rudi Dutschkes Bezeichnung der Beschäftigung mit seinem Sohn Hosea als »Lehr- und Lernarbeit« (Dutschke, Rudi: Jeder hat sein Leben ganz zu leben: die Tagebücher 1963-1979. München 2005, S. 122). 59 Vgl. zum selben Thema in der Reise: »Der Gedanke, daß er genauso durch die Scheiße waten muß wie ich, [...] ist mir unerträglich.« (DR: 165) 60 Werder, Lutz von (Hg.): Was kommt nach den Kinderläden? Erlebnis-Protokolle. Berlin 1977, S. 22. 61 Baader, Meike Sophia: Von der sozialistischen Erziehung bis zum buddhistischen Om. Kinderläden zwischen Gegen- und Elitekulturen, in: Dies. (Hg.): ›Seid realistisch, verlangt das Unmögliche‹: wie 1968 die Pädagogik bewegte. Weinheim 2008, S. 16-35, hier S. 21. 62 »Alle unsere Anstrengungen sind umsonst, wenn wir unsre Kinder dort anfangen lassen, wo auch wir begannen.« (DR: 165)

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Funktion auf, als Stichwortgeber und Anschauungsobjekte für Problemlösungen zu dienen, die in der Hauptsache die Eltern betreffen.63 Die Rolle, die Vesper seinem Kind für seine Poetik einräumt, fügt sich auch damit in den größeren Kontext der Kinderladen-Erziehung ein. Hier wie dort besitzt die Einstellung zum Kind zwei Dimensionen – die liebevolle Widmung der eigenen Arbeit an die Zukunft der Kinder einerseits und die Funktionalisierung des Kindes für die eigene Erkenntnis, Bewältigung und Entwicklung andererseits. Sowohl in den Briefen als auch in der Reise wird das, was Felix durch seine Erziehung genau erspart bleiben soll, eher vage mit »alles«, »die gleiche Misere« und »die Scheiße« umschrieben. Aufschlussreich sind hier die Ergebnisse aus dem ersten Teil des Kapitels, die zeigen, was Vesper selbst an seiner eigenen Kindheit als besonders schädlich und als hauptverantwortlich für seine damalige Passivität wertet – denn immerhin sehen wir seine Figur in der Reise sowohl in der Rolle des Vaters als auch in der des Sohnes. Aus der Sohn-Perspektive stellt er hauptsächlich das Kommunikationsverhältnis zwischen ihm und seinem Vater – die verordnete Schweigsamkeit und die unhinterfragbare hierarchische Unterwerfung durch Sprachmacht – als problematisch heraus. 64 Diese Erkenntnis schlägt sich auf seine Vater-Perspektive und seinen Blick auf Felix nieder. Das Kommunikationsverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern war auch in der Kinderladenbewegung wichtiges Thema und möglicher Ansatzpunkt einer »anderen« Erziehung: Kinder sollten nicht nur uneingeschränkt alles sehen und hören dürfen, sondern auch als gleichwertige Kommunikationspartner der Erwachsenen gelten und ermutigt werden, zu sprechen und ihre Meinung zu äußern.65 Sie sollten somit nicht mehr Opfer irgendeiner Art von Sprachmacht sein, sondern möglichst früh an Strategien herangeführt werden, sich selbst sprachlich durchzusetzen, Autoritäten zu hinterfragen und sich innerhalb der Gesellschaft hörbar zu machen.66 Wie eine solche Heranführung an Sprach- und Artikulati63 Vgl. zu diesem Aspekt Baader/Sager: Die pädagogische Konstitution, S. 264: »Dass bei den zeitintensiven elterlichen Diskussionen tatsächlich eher die Erwachsenen als die Kinder im Mittelpunkt standen, gehörte gleichfalls zum Szenario der Kinderläden.« 64 Bernward beschreibt das kommunikative Ideal seines Vater so: »Kinder antworten, wenn sie gefragt werden, freundlich, in klaren Sätzen.« (DR: 131) 65 Vgl. zu diesem Aspekt etwa Baader/Sager: Die pädagogische Konstitution, S. 263 (Kapitel »Kinder als sich artikulierende statt als schweigende Akteure«) sowie eine frühe Auswertung der Bewegung durch Lutz von Werder: Erlebnis-Protokolle, S. 30. 66 Vgl. die erste Beobachtung des NDR-Journalisten Gerhard Bott (Erziehung zum Ungehorsam, 1969) beim Betreten eines Kinderladens in Berlin: »Die Kinder sagen

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onsstrategien aussehen kann, liest sich in einem Brief Vespers an Gudrun Ensslin: Heute morgen sagte ich ihm, daß heut eine Demonstration ist (Solidarität mit den Ingenieurstudenten) und er zieht hier herum und sagt immer ›Ho ho Hodscha‹ (Und ich hab für den Kinderladen einen Abzählreim gemacht: Ho ho Hodscha / der Papst spielt gerne Boccia / Hoho Ho-shi-Minh / der Papst hat einen sechsten Sinn.) (NG: 249)

In dieser kleinen Passage ist wiederum – auf der Ebene von Sprechen und Sprachmacht – zu sehen, wie sich beim Vater wohlmeinende Erziehung und Funktionalisierung des Kindes für seine eigenen Interessen überkreuzen: Einerseits lässt er Felix von frühester Kindheit an an politischen Aktivitäten wie Demonstrationen teilhaben, bringt ihm Codes und Schlachtrufe bei, mit denen er sich dort artikulieren kann, und überlegt sich Strategien einer spielerischen, »kindgerechten« Vermittlung. Andererseits macht er ihn und die anderen Kinder des Kinderladens dadurch auch zum Medium seiner eigenen Sprache und seiner eigenen Begriffe. Es ist davon auszugehen, dass Kinder im Kinderladen-Alter weder wissen, wer Ho Chi Minh ist noch mit dem Papst als Instanz etwas verbinden können. Ihre Aussagen führen damit nicht zu einer größeren eigenen Sprachmacht, sondern vergrößern die Sprachmacht der Eltern, indem sie deren Begriffe und Positionen reproduzieren. Das Ergebnis sind damit paradoxerweise wieder Kinder, die sich fremdbestimmt äußern und deren Kommunikation in den Dienst einer elterlichen Sprachmacht gestellt wird. Die Aktivität durch Sprachmacht, die sich Vesper mühsam aneignet und seinem Sohn weiter vermitteln möchte, bleibt Aktivität und Sprachmacht des Vaters, während der Sohn ihr passiver, fremdbestimmter Verstärker wird. Dieses Phänomen ist häufiger zu sehen, schaut man sich Bilder von Eltern mit Kindern auf Demonstrationen um 1968 an. Einschlägig sind etwa die Bilder einer Anti-Vietnamkriegs-Demonstration 1967 in Berlin-Tempelhof, die Michael Ruetz in seinem Bildband 1968. Ein Zeitalter wird besichtigt zeigt: Wir sehen unter den Demonstrierenden eine Mutter mit einem Mädchen im Grundschulalter. Beide tragen Transparente; auf dem des Mädchens steht »LBJ, LBJ! HOW MANY KIDS HAVE YOU KILLED

selbstsicher ihre Meinung, ducken sich nicht, haben keine Angst vor Erwachsenen und gehorchen Befehlen nicht. Ihre Eltern und Erzieher verzichten freiwillig auf ihre Macht und lassen die Kinder ohne Zwang und frei von Furcht vor Strafe heranwachsen.« (Bott, Gerhard (Hg.): Erziehung zum Ungehorsam. Kinderläden berichten aus der Praxis der antiautoritären Erziehung. Frankfurt/M. 1971, S. 84).

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TODAY?«67 Ein weiteres Bild dieser Demonstration zeigt u.a. Gudrun Ensslin mit Felix im Kinderwagen. Am Kinderwagen ist ein Plakat befestigt mit der Aufschrift: »Wenn ich groß bin, nehm ich mein MG immer mit mir. Im: Köpfchen, Köpfchen!«68 Auch ein von Günter Zint 1968 auf einer Demonstration in Hamburg aufgenommenes Foto zeigt einen Vater mit transparenttragendem Kleinkind: Abbildung 1: Demonstrant mit Kleinkind

Foto: Günter Zint

Alle drei Bilder zeigen somit Kinder, denen durch ein Transparent ein verbaler Beitrag zur politischen Situation in den Mund gelegt ist – denen die Eltern also zu einer Stimme im Rahmen der Demonstration verholfen haben. In allen drei Fällen ist relativ klar, dass die Beiträge nicht von den Kindern selbst, sondern den Eltern ausgehen: Zwei der Kinder sind noch nicht in einem Alter, in dem sie sich verbal äußern könnten, und auch im Falle des etwas älteren Mädchens ist es unwahrscheinlich, dass es mit der Abkürzung »LBJ« bzw. der Person Lyndon B. Johnson inhaltlich etwas anfangen kann. Zwei Positionen sind jedoch deutlich in einer kindlichen Sprache formuliert: Die Einleitungsphrase »wenn ich groß bin« 67 Ruetz, Michael: 1968. Ein Zeitalter wird besichtigt. Frankfurt/M. 1997, S. 199. 68 Ebd., S. 200f.

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thematisiert explizit den kindlichen Status des »Sprechers«, und auch der aus den US-amerikanischen Protesten gegen den Vietnamkrieg entnommene Schlachtruf gegen den amtierenden Präsidenten spielt durch seine Reimstruktur mit der Naivität kindlicher Reime und Lieder. In zwei Fällen haben sich die Eltern entschieden, selbst kein Transparent zu tragen, sondern die öffentliche Sprache und damit Hörbarkeit ganz dem Kind zu überlassen. Aus heutiger Sicht wirken diese politisch »sprechenden« Kinder sehr befremdlich und wie Instrumente oder Projektionsflächen für Aussagen, die eigentlich die Eltern machen wollen – was auf der praktischen Ebene sicherlich auch das Ergebnis war. Sie sind jedoch auch vor dem Hintergrund einer Elterngeneration zu sehen, der das Erarbeiten einer eigenen, hörbaren Stimme in der Gesellschaft als eine der wichtigsten eigenen Errungenschaften gilt und die ihre Kinder von Anfang an (schon vor deren Spracherwerb) in bester Absicht mit gesellschaftlich bedeutsamer Sprache und der Macht, etwas zu verändern, ausstatten will. Während Vespers Text die (nicht immer erfolgreichen) Versuche einer produktiven Vereinbarung von Vaterschaft und Schreiben dokumentiert, zeigt Brinkmanns Text eine gänzlich andere Konstellation von schreibendem Vater und Kind. Im Vergleich zur Konstellation bei Vesper ist zunächst die grundsätzliche Einstellung des Vaters zu seiner Vaterschaft ein auffälliger Unterschied. Vespers Romanfigur äußert sich hauptsächlich interessiert und stolz über ihr Kind und der historische Vesper spricht in einem Brief an Gudrun Ensslin sogar explizit darüber, wie sehr er sich gefreut habe, Vater zu werden. 69 Hingegen macht Brinkmanns Schriftstellerfigur (vom historischen Brinkmann gibt es kaum Äußerungen zu seinem Kind) von Anfang an deutlich, dass das eigene Kind ungeplant und – vor allem von ihm – ungewollt entstanden ist. Das Kind hatten sie weder gewollt noch verhindert, daß es zu leben angefangen hatte als ein schleimiges ungenaues Ding in ihr drin, zäh und beständig langsam zunehmend. Mit einer gekrümmten Stricknadel wäre es so leicht herauszuholen gewesen, mit viel Blut wahrscheinlich, dunklem, tranigem Schleim, verdickt, der langsam weggesackt wäre, verschwunden. Warum sie es dennoch nicht getan hatten, [...] darüber konnte er sich immer noch nicht richtig klar werden. (Kwm: 13)

So heißt es gleich zu Beginn des Romans. Dass es ein Kind gibt, führt der Vater nicht auf seine eigene Aktivität zurück, sondern auf seine Passivität, nichts da69 »als du ein kind erwartetest, im badezimmer sagtest dus, habe ich mich gefreut, mir wurde ganz heiß, ich habe dich umarmt und gesagt, daß es geboren werden sollte.« (NG: 20; Hervorhebung im Original)

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gegen getan zu haben. Auch nach einiger Zeit des Zusammenlebens – die wenigen Beschreibungen des Kindes lassen auf ein Alter von etwa zwei oder drei Jahren zum Zeitpunkt der Erzählgegenwart schließen – besteht keinerlei emotionale Bindung des Vaters an sein Kind. Für ihn ist das Kind immer noch nicht viel mehr als das »schleimige ungenaue Ding«. Wenn das Kind Gegenstand der Aufmerksamkeit des Vaters ist, dann in der Regel dadurch, dass es ihn stört und er es wegwünscht: Das Kind störte ihn ohnehin tagsüber oft genug, wenn es die bunten Bauklötze aus irgendeiner Regung heraus aus dem Laufställchen ins Zimmer warf, während er vorn in seinem Zimmer saß und zu arbeiten versuchte, die Bücher an der einen Seite des Tisches aufstapelte, Papier auf der anderen. (Kwm: 12)

Die Anwesenheit des Kindes steht einer produktiven Arbeit in der Vorstellung des Vaters komplett entgegen. Er empfindet das Spiel des Kindes als Lärm und Ablenkung; auch, oder gerade weil er sich inhaltlich nicht dafür interessiert (»aus irgendeiner Regung heraus«). Seine Arbeit ist auch räumlich vom Kind abgegrenzt: Anders als in der Reise, wo das Kind, während der Vater schreibt, um den Tisch herum läuft oder von diesem interessiert beobachtet wird, gibt es hier mit dem Laufstall und den unterschiedlichen Zimmern eine klare räumliche Trennung zwischen dem Kind und dem schreibenden Vater. Zusätzlich stapelt dieser noch Papier und Bücher zu beiden Seiten um sich auf, als wolle er aus seinen Arbeitsmaterialien einen Grenzwall zum Kind aufbauen. Toni Tholen hat darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, dass generell in den zahlreichen Beschreibungen der Dreizimmerwohnung, in der der Protagonist mit Frau und Kind wohnt, an keiner Stelle ein Ort für familiäres Zusammenleben vorkommt.70 Es kommt also auch kein Ort vor, wo Schreiben und Vaterschaft Synergien entwickeln könnten. Dieser Protagonist ist noch ganz der traditionellen rigiden Trennung von Schreibarbeit und Familienleben verhaftet, wobei er aber auch aus dem Familienleben nichts bezieht.71 Anders als bei Vesper, wo das Kind sowohl als eine wesentliche Motivation für die Veränderungsarbeit an der Gesellschaft gesehen wird als auch als Bereicherung für Erkenntnisse und auch Schreibprozesse des Vaters, hat das Kind für Brinkmanns Protagonisten weder irgendeine positive Funktion, noch fühlt er sich in irgendeiner Pflicht oder Verantwortung

70 Vgl. Tholen: Familienmännlichkeit, S. 257. 71 Vgl. ebd., S. 258.

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ihm gegenüber.72 Er erlebt das Kind als etwas völlig von ihm Abgekoppeltes, Fremdes: was habe ich mit dem allem zu tun, was zu einem Teil doch auch stimmte, was hatte er mit allem wirklich zu tun, was konnte er überhaupt damit zu tun haben, oder: wo soll schon das Kind hin, an welche Stelle, nicht hierhin, dahin, zu niemandem, nirgendwohin, es gehört sich selbst, oder: die Frau mit dem Kind zusammen, ohne ihn. (Kwm: 20)

Im Gegensatz zur Kinderfigur Felix tritt das Kind hier weniger als eigenständige Person, für deren Existenz sich der Vater verantwortlich fühlt, denn als Objekt in Erscheinung. Noch deutlicher wird dies an einer Stelle, an der der Protagonist imaginiert, wie seine Frau und er sich trennen und beide die Wohnung in ein neues Leben verlassen: »Die Wohnung würde leer zurückbleiben, drei Zimmer, Küche in schlechtem Zustand, Bad [...], dazu der Flur, leer, mit einigem Mobiliar versehen, würde leer zurückbleiben bis auf das hintere Zimmer, wo das Kind in seinem Ställchen schlief.« (Kwm: 101) Der Vater kommt nicht auf die Idee, dass er das Kind mit sich nehmen könnte – es hat den Status eines in einer bestimmten Lebensphase »angeschafften« Einrichtungsgegenstands der Wohnung, der mit Aufgabe seines alten Lebens dort zurückbleiben kann. Da er sich und das Kind nicht als zusammengehörig denken kann, dafür aber seine Frau und das Kind fast paranoid als verschworene Einheit gegen sich und seine Arbeit empfindet, kommt er – anders als Vespers Protagonist – auch an keiner Stelle auf die Idee, eigene erzieherische Einflussmöglichkeiten auf das Kind zu haben. Wenn er etwas an dem Kind ändern möchte, fordert er seine Frau auf, sich darum zu kümmern – oder er schreibt die gewünschte Handlung einem unbestimmten Subjekt (»man«) zu, das auf jeden Fall nicht er selbst ist: »Es durfte nicht mehr länger so oft allein gelassen werden, konnte sich nicht immer nur allein mit sich selbst den ganzen Tag beschäftigen, sah er ein, man mußte sich mehr darum kümmern [...].« (Kwm: 14) Er selbst »kann« sich mit dem Kind nicht beschäftigen, argumentiert er, da er doch »bestimmte Pläne, Vorhaben [hat] und dafür Zeit braucht« (Kwm: 12). Selbst als sogar ihm, dem desinteressierten Vater, auf72 Sowohl die Betrachtung des Kindes als lärmproduzierendes Stör-Objekt, zu dem keine zwischenmenschliche Beziehung möglich ist, als auch die Vorstellung vom ungeborenen Kind als schleimiges Gebilde ohne vollwertige Menschlichkeit treten in Brinkmanns Werk mehrfach in ähnlicher Form auf, etwa im Umgang des männlichen Protagonisten in Brinkmanns früher Erzählung Die Umarmung (1965) mit der Schwangerschaft seiner Freundin oder in der wütenden Reaktion des männlichen Protagonisten auf das Weinen seines Kindes in Das Alles (1966).

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fällt, dass das Kind mehr Zuwendung braucht, sieht er es als ausgeschlossen an, dass diese Zuwendung von ihm geleistet werden könnte. Seine Priorisierung der Arbeit vor dem Kind rührt dabei nicht aus finanzieller Notwendigkeit. Schließlich gesteht er an anderer Stelle ein, dass die Frau den Hauptteil des Geldes für den gemeinsamen Haushalt verdient (vgl. Kwm: 66). Vielmehr argumentiert er mit einem eingespielten Muster innerhalb der kleinen Familie: »Das, wie es gemacht wurde, war zu wenig. Nur wie sollte er es machen, wie sich darum kümmern, wenn sie das machen konnte und zwar besser, weil sie doch ständig damit umging, mit dem Kind [...].« (Kwm: 75) Er kümmert sich nicht um das Kind, weil seine Frau es »besser« kann als er. Besser kann sie es deshalb, weil sie es regelmäßig tut. Diese Grundeinstellung gegenüber der Situation zementiert nicht nur die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mutter und Vater, sie ist auch selbstverstärkend und macht es unmöglich, dass sich jemals etwas an ihr ändern könnte. Der Protagonist versteigt sich mit ihr in einen unauflöslichen Zirkel, der es ihm unmöglich macht, etwas anderes als passiv zu sein: Er entschuldigt seine mangelnde Aktivität im Bereich des Schreibens mit seiner Vaterschaft und umgekehrt seine mangelnde Aktivität als Vater mit seinem Schreiben. Heraus kommt ein Subjekt, das es weder als Schreibender noch als Vater schafft, aktiv zu werden und Erfolge zu erzielen. Wir sehen einerseits einen Mann, der gern schreiben würde, dem es aber nicht gelingt. Wir sehen andererseits einen Mann, der sich mit konsequenzloser Onanie weitaus wohler fühlt als mit der Vorstellung von Vaterschaft und daher zutiefst im Konflikt mit seiner Kindszeugung und den damit verbundenen Anforderungen steht. Kind und erzieherische Pflichten gelten ihm als Hindernis für seinen Wunsch zu schreiben – obwohl er rein praktisch gar nicht mit ihnen beschäftigt ist. Vielmehr ist es seine Einstellung, die ihn lähmt: Der Gedanke an das Kind ist immer ein Gedanke an den Wunsch, es nie gezeugt zu haben bzw. es nicht »sein Werk« sein zu lassen. Damit ist ihm jeglicher Gedanke an eine »Zeugung«, die seine Verantwortung oder gar Veränderung fordern könnte, im biologischen wie im metaphorischen Sinne, zutiefst suspekt. Diese Blockade ist nicht aufzulösen, denn er verweigert sich einerseits jedem Ansatz, seine vergangene Handlung zu akzeptieren und »Familiendasein und geistige Tätigkeit in ein lebbares Verhältnis zu bringen«73. Andererseits ist er aber auch nicht so konsequent, Frau und Kind ganz zu verlassen und sich damit der Konfrontation zu entziehen. Er verharrt also in Alltagszusammenhängen, mit denen er unzufrieden ist, denen er aber auch jegliche aktive Änderung oder Entwicklung seinerseits verweigert. Damit treibt er sich in die soziale Isolation:

73 Tholen: Familienmännlichkeit, S. 258.

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»Die Ausschließung des Kindes aus seinem Leben-und-Arbeiten ist zugleich eine Selbstausschließung aus dem Leben als Teilnahme am Leben des Anderen.«74 Insofern er das, was er bereits geschaffen hat, ausschließlich wegwünscht, aber auch keine Möglichkeit der Annäherung und damit eigenen Weiterentwicklung findet, gibt es in seinem Leben nichts, woraus er etwas Produktives beziehen könnte. Das Ergebnis ist eine reine Negativbesetzung seiner Produktivkraft: Das Bedürfnis des intellektuell arbeitenden Mannes nach Abtrennung von Frau und Kind und seine Realisierung führen ihn nicht zur Arbeit an einem bedeutenden Werk; vielmehr führt die gleichsam apriorisch eingenommene und wahnhaft verteidigte Distanzhaltung immer mehr zur Wahrnehmung der eigenen Leere, zum Gefühl, lebend tot zu sein.75

Er wünscht sich die Zusammenhänge, in denen er lebt, und das, was er bereits geschaffen hat, weg – und wundert sich darüber, dass danach nichts übrigbleibt, woran ein produktives Schreiben anknüpfen könnte. Schaut man sich dann noch an, worüber er schreiben möchte – nämlich die »Beziehung von Dichterischem zu Pädagogischem« (Kwm: 84) – wird die selbstgeschaffene Blockade vollends deutlich: Er möchte etwas literarisch »Potentes« zu einem Problem hervorbringen, das mit der Interaktion von Schreiben und sozialem Leben zu tun hat, während er in seinem gesamten Leben und Schreiben darum bemüht ist, diese Interaktion möglichst klein zu halten.

F AZIT Die im ersten Teil des Kapitels umrissene Friktion zwischen den Polen von Schreiben als Möglichkeit zu Protest, Ausbruch, Selbstermächtigung und Handlungsmacht und Schreiben als der »richtigen« Handlung vorgelagerter Schonraum lässt sich auch auf den speziellen Fall schreibender Männer übertragen. Die Debatte um den Wert des Verbalen und speziell des literarischen Schreibens hat eine dezidiert männliche Dimension, insofern sie diskursiv an Zeugungskraft und damit »richtige« Männlichkeit geknüpft wird. Für schreibende Männer bedeutet diese erweiterte Friktion eine ganz besondere Herausforderung, da sie ne74 Tholen, Toni: Homosozialität – Agonaler Code – Aggressive Selbstexklusion. Konstruktionen von Männlichkeit in der Literatur um 1968, in: Ders./Bilstein, Johannes/Baader, Meike Sophia (Hg.): Erziehung, Bildung und Geschlecht: Männlichkeiten im Fokus der Gender-Studies. Wiesbaden 2012, S. 117-126, hier S. 124. 75 Tholen: Familienmännlichkeit, S. 254.

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ben der Frage nach Aktivität und gesellschaftlicher Veränderungsmacht zusätzlich die nach der geschlechtlichen Identität und sexuellen Potenz stellt. Diese Verquickung von männlicher Sexualität mit Schreiben und Aktivität ist ihrerseits nicht vollständig auflösbar, weder in einer Poetik noch in einem Lebensentwurf. Der schreibende Mann ist, egal wie er sich zur gesellschaftlichen Relevanz seines Schreibens stellt, aus verschiedenen Richtungen vom Vorwurf der »Impotenz« bedroht. Brinkmanns Protagonist lebt diesen Vorwurf in jeder Hinsicht konsequent aus. Er ist der Inbegriff eines gesellschaftlich wie literarisch »impotenten« Mannes, was der Ablehnung auch seiner biologischen Zeugungskraft korrespondiert. Unfähig, ihr Ergebnis, sein Kind, anzunehmen, bleibt er auch unfähig, für die Gesellschaft relevante Worte zu finden. Sein Umgang mit seinem Umfeld und seine Einstellung zum Verhältnis von Familienleben und Schreiben ersticken jede Möglichkeit, wenigstens einen Teil seiner »Impotenz« aufzulösen, im Keim. Im Fall von Vesper und seinem Protagonisten deutet sich ein Lösungsansatz im Versuch an, väterlicher Verantwortung und Schreibprozessen einen gemeinsamen Raum zu bieten und damit das gesellschaftliche Veränderungspotential des Schreibens an Lern- und Veränderungsprozesse von Vater und Kind zu binden. Vesper begrüßt (als Schriftsteller und als Schriftstellerfigur gleichermaßen) literarische und biologische »Zeugungskraft« mit all ihren Konsequenzen und ist darüber hinaus redlich bemüht, die außerliterarischen Veränderungen, die sich durch seine Vaterschaft ergeben, in möglichst großem Umfang für sich produktiv zu nutzen – für seine persönliche Weiterentwicklung, für seine politische Arbeit und damit auch für seine Poetik. Doch auch Vespers Versuch, die Friktion zu überwinden, scheitert letztlich. Seine Konflikte in der Auslotung von Schreiben, Männlichkeit und Aktivität/Passivität laufen darauf hinaus, dass er versucht, allen Anforderungen in diesem Zusammenhang gleichermaßen gerecht zu werden und dabei auf unüberwindbare Widersprüche stößt. Vespers Text konserviert auf komplexe Weise den permanenten Konflikt des politischen Subjekts zwischen sich ausschließenden Anforderungen, den Klaus Hartung retrospektiv für alle Beteiligten der APO festhält: Wir rebellierten, waren aber keine Rebellen, sondern auf jeden Fall auch Streber. Wir setzten uns gegenseitig unter Leistungsdruck, überforderten uns und die anderen, ließen die anderen unter unseren hohen Ansprüchen leiden. Wir waren radikal, auch gegenüber

130 | P ROTEXTE dem Mitgenossen. Immer hatte jemand schneller das Richtige gelesen. Wir waren Subjekt und Objekt der Bewegung zugleich.76

Beispielhaft ist dafür auf der Ebene des Schreibens, dass Bernward immer wieder viel Energie in neue Verfahren investiert, sein Schreiben gesellschaftlich relevant werden zu lassen, während er sich gleichzeitig selbst (schreibend!) die Legitimationsgrundlage entzieht, überhaupt zu schreiben. Auf der Ebene der Vaterschaft/Männlichkeit lässt sich etwa nennen, dass sein Wunsch, nicht nur sich, sondern auch dem eigenen Kind mehr Sprachmacht und Unabhängigkeit zu ermöglichen, zu einer Realität der Instrumentalisierung und sprachlichen Abhängigkeit führt. Keiner der beiden Protagonisten überwindet seine Krise der männlichen wie der schriftstellerischen Selbstwahrnehmung. Den Schwerpunkt beider Erzählungen bilden die Schwierigkeiten, nicht ihre Auflösung, das Ringen mit der Passivität, nicht die erfolgreich gefundene Aktivität. Die eingangs zitierte Geschichte von Tommy stellt dagegen auch in Bezug auf den männlichen Weg von der Aktivität zur Passivität einen idealisierten Entwurf dar: Tommy überwindet seine Passivität in einem Befreiungsschlag und ist danach nicht nur unbestritten ein aktives Subjekt, sondern auch ein »richtiger« Mann. Dieser Entwicklung tut auch das Ende seiner Geschichte keinen Abbruch. Die Albumversion lässt offen, ob Tommy als neues aktives Subjekt größere Veränderungen in der Gesellschaft in Gang setzen kann oder lediglich selbst zum Subjekt geworden ist: We’re not gonna take it Never did and never will Don’t want no religion And as far as we can tell We ain’t gonna take you Never did and never will We’re not gonna take you We forsake you, gonna rape you Let’s forget you better still77

singen seine Anhänger am Ende des letzten Tracks. Es bleibt offen, ob sich diese Ankündigung von Protest und Ablehnung auf die etablierte Gesellschaft bezieht, 76 Hartung, Klaus: Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen, in: Kursbuch 48 (1977), S. 14-44, hier S. 19. 77 Barnes/Townshend: The story of Tommy, S. 120f.

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der sie sich nun gemeinsam entgegenstellen wollen, oder auf ihren Anführer Tommy. Die Filmfassung entscheidet zugunsten der zweiten Variante, indem die Anhänger, die sich selbst nicht verändern wollen, gewaltsam sein »holiday camp« verwüsten und sich von ihm abkehren. Tommy bleibt allein zurück, die Schlussszene zeigt ihn mit erhobenen Armen auf einem Berg vor dem Sonnenaufgang stehen, als erleuchtete, kraftvolle Figur. Auch hier darf Tommy also, auch als ihm niemand mehr zuhört, seine neue Identität und auch seine Männlichkeit behalten. Sie stehen nicht mehr in Frage ab dem Moment, in dem er sich gegen die Passivität, für die Handlung und das Leben als aktives Subjekt entschieden hat. Tommy ist ein Dokument weniger der Friktion als der Sehnsucht nach ihrer Auflösung. Vespers und Brinkmanns Texte zeigen dagegen, auf sehr unterschiedliche Weise, was für eine tiefe Krise die Entscheidung zur (männlichen) Aktivität im Umfeld der »68er« eigentlich bedeutet.

Langhaarige Ersatzjuden und das Wunderwesen Arbeiter: Verschiebungen von Opfererfahrung und Täterschuld

O PPOSITIONELLE T ÄTER UND O PFER In Peter Weiss’ Romantrilogie Die Ästhetik des Widerstands, deren Handlung etwa den Zeitraum zwischen dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs und dem Ende des Zweiten Weltkriegs umspannt, spielt vor allem im dritten Teil die Mutter des Protagonisten eine zentrale Rolle: Die Mutter, die mehrere Jahre in der Tschechoslowakei gelebt hat, flieht mit dem Vater vor der einmarschierenden Wehrmacht ins schwedische Exil, wo ihr Sohn bereits seit einiger Zeit lebt. Sie ist von der Erfahrung der Flucht so schwer traumatisiert, dass sie nach Ankunft in Schweden apathisch ist und nicht mehr spricht. Der Vater berichtet seinem Sohn von einer Verhaftung durch deutsche Soldaten, bei der sie als Deutschstämmige eigentlich eine bevorzugte Behandlung hätten bekommen können, aber die Mutter »wollte zwischen den Vertriebenen bleiben.« (ÄdW: 867) In der Enge und dem Elend der Zelle, in die die Eltern gemeinsam mit jüdischen Flüchtlingen gesperrt werden, macht die Mutter die Erfahrung eines starken Zugehörigkeitsgefühls: Meine Mutter spürte die dichte Wärme, sie gehörte zu diesen schwitzenden Leibern, sie ergriff eine der heißen Hände, umschloß deren Finger, und wie die Hände sich aneinander klammerten, so drückte ihr Gesicht sich an eine feuchte Wange. Arme, Brüste, Hüften, struppige Bärte, ein Gemenge aus Gliedern, pochenden Herzen, rauschenden Atemzügen; und daß sie mitten unter ihnen war, verlieh ihr Kraft. Die faulige Ausdünstung war für sie wie ein Blühen, tief sog sie den Geruch ein, sie lebte in diesem Organismus, nie würde sie hinaus wollen aus dieser Geschlossenheit, eine Trennung wäre ihr Verderben, ihr Untergang. (ÄdW: 868)

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Die Mutter fühlt sich von den anderen Körpern angezogen und wird zum Teil eines Kollektivkörpers von Gewaltopfern. Während der Vater um die Freilassung der beiden kämpft, fühlt sich die Mutter innerhalb jenes Kollektivkörpers am richtigen Ort. Gerade das Elend und die Hilflosigkeit, an denen sie teilhat, geben ihr ein diffuses Wohlgefühl und lähmen jeglichen Willen zum Selbstschutz: »Meine Mutter wäre geblieben, hätte mein Vater sie nicht, als sie hinaus in den Hof getrieben und in Reihen aufgestellt worden waren, um in ein Lager transportiert zu werden, mit sich gezerrt, hinüber zur Schar derer, die sich als deutschstämmig ausweisen konnten.« (ebd.) Nach ihrem erfolgreichen Entrinnen kommt es auf der Flucht zu einer weiteren Situation, in der sich die Mutter dadurch gefährdet, dass sie sich einer Gruppe jüdischer Flüchtlinge anschließt und von ihrem Zugehörigkeitsgefühl wie gebannt ist: »Einmal sei meine Mutter tagelang verschwunden gewesen, sagte mein Vater, er habe sie wiedergefunden, im Schneetreiben, zwischen Juden, die ihre Angehörigen verloren hatten. Seitdem, sagte er, habe ihre Versunkenheit zugenommen […].« (ÄdW: 875) Später findet der Vater heraus, dass sie in diesen Tagen Zeugin einer Massenerschießung geworden ist und diese zufällig überlebt hat (vgl. ÄdW: 1011). Offensichtlich hat das Trauma, unter dem die Mutter im Exil leidet, mit diesen Erfahrungen zu tun. Auf den ersten Blick scheint das Verhalten der Mutter schwer verständlich: Sie setzt sich gemeinsam mit den jüdischen Flüchtlingen schrecklichen Erfahrungen aus, die sie eigentlich nicht teilen müsste. Schon zu einem früheren Zeitpunkt der Erzählung ist sie mit der Identität jüdischer Holocaust-Opfer in Berührung gekommen. Der Sohn erzählt von einer Situation in Deutschland, in der die Mutter von einer Nachbarin unfreundlich aufgefordert wird, eine Bank zu verlassen, die »nicht für Juden bestimmt« (ÄdW: 234) sei. Die Mutter folgt dieser Aufforderung wortlos, obwohl sie keine Jüdin ist. Auf dem Heimweg erklärt sie dem Sohn, »daß sie, nachdem man sie ihres dunklen Haars wegen einige Male als Jüdin bezeichnet hatte, sich nun selbst zur Jüdin erklärt hatte« (ebd.). An dieser Stelle zeigt sich ihre Selbstzuordnung zu den verfolgten Juden noch als rational geplanter, symbolischer Akt der Solidarität und des Widerstands: Lieber möchte sie die Jüdin sein, als die sie beschimpft wird, als Teil des Systems, von dem die Beschimpfungen ausgehen. Statt zur Unterstützerin der Aggressoren zu werden, setzt sie ein Zeichen, indem sie sich maximal weit weg von ihnen verortet. Was als bewusste Entscheidung beginnt, entwickelt sich im Laufe der Handlung zu einem alle Rationalität ausschaltenden Gefühl der Hingezogenheit und Zugehörigkeit zu den jüdischen Flüchtlingen. In den Situationen auf der Flucht scheint die Mutter zu vergessen, dass sie sich ursprünglich nur aus politischen Gründen

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symbolisch zur Jüdin erklärt hat. Ihre künstlich angenommene Identität hat sich verselbständigt.1 Vorbereitet wird diese Verselbständigung in einer kleinen Szene, die der Sohn kurz nach seiner Abreise aus Spanien träumt. Auf der Straße sieht er in einer fremden, verfolgten jüdischen Frau für einen kurzen Moment die Gestalt seiner Mutter aufblitzen: »[D]ie Menge trieb eine Frau vor sich her, man hatte ihr ein Schild um den Hals gehängt, mit der Aufschrift Jidd, in jüdischen Lettern, vielleicht war es meine Mutter, ich schlug mich durch das Gedränge, doch die Frau war nicht mehr zu sehn […].« (ÄdW: 541) Hier wird deutlich, dass der Sohn nichts Merkwürdiges an der selbstgewählten Identität seiner Mutter findet, er sie nahtlos in sein Weltbild integrieren kann. Er geht sogar schon einen Schritt weiter als die Mutter zu diesem Zeitpunkt – er kann sie sich bereits als direktes Opfer der Systemgewalt vorstellen. Was hat es mit dieser – durchaus gefährlichen – Identitätsannahme auf sich? Warum verselbständigt sich die künstliche Identität und woher genau kommt die anschließende Verstörung der Mutter? Hier können einige Blicke auf den kulturellen Text der Entstehungszeit hilfreich sein. Immerhin geschieht die Hauptarbeit an der Ästhetik des Widerstands2 in einer Zeit und einem Kontext, in denen die jüdischen Holocaust-Opfer auffällig häufig vorkommen. In vorausgehenden Studien ist bereits mehrfach festgehalten worden, dass sie bzw. generell die Opfer des europäischen Faschismus dabei häufig zum (mehr oder weniger passenden) Vergleich für aktuelle Opfer von Gewalt und Unterdrückung herangezogen

1

Anders als Ursula Heukenkamp würde ich die Passage über die Zellenhaft weniger so lesen, dass die Mutter »nicht gewillt« ist, die Eindrücke des Leids zu ignorieren, sondern dass genau hier aller Wille und Unwille aussetzt: Sie ist von diesem Zeitpunkt an so stark in ihrer angenommenen Identität gebannt, dass es sich für sie unhinterfragbar richtig anfühlt, an dem Leid teilzuhaben (vgl. Heukenkamp, Ursula: Angelus novus oder der Erzähler in der ›Ästhetik des Widerstands‹, in: Krenzlin, Norbert (Hg.): ›Ästhetik des Widerstands‹. Erfahrungen mit dem Roman von Peter Weiss. Berlin 1987, S. 100-121, hier S. 116f.). Ähnliches gilt für Ernst Leonardys These, »daß die Mutter sich aus freiem Willen entschlossen [hat], bei und mit den toten Opfern zu leben« (Leonardy, Ernst: Das Sterben der Mutter und Heilmanns Abschiedsbrief. Beobachtungen zur Figurengestaltung im Epilogband der ›Ästhetik des Widerstands‹, in: Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.): Peter Weiss: neue Fragen an alte Texte. Opladen 1994, S. 111-123, hier S. 115).

2

Die beinahe zehn Jahre andauernde Entstehungsgeschichte der Trilogie dokumentiert umfassend Jochen Vogt: Peter Weiss. Hamburg 1987, bes. S. 115-138.

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worden sind.3 Exemplarisch genannt seien hier Rudi Dutschkes Selbstbezeichnung im Interview als »langhaariger Ersatzjude«4, Transparente wie »Gestern Juden Heute Studenten – und morgen?«5, das bekannte Briefzitat Theodor W. Adornos, dass die Studenten »auf der Plattform der deutschen Reaktion die Rolle der Juden übernommen haben«6 sowie die zahlreichen Vergleiche der deutschen Gefängnisse mit Konzentrationslagern, die inhaftierte RAF-Mitglieder vornehmen.7 Bemerkenswert ist, dass in vielen dieser Vergleiche eine Verwischung der Opfer-Identitäten mit den aktuellen Identitäten angelegt ist: Oft wird die aktuelle Situation nicht nur mit der der Holocaust-Opfer verglichen, sondern mehr oder weniger direkt zu dieser Situation erklärt. So steht etwa auf einem Berliner Flugblatt vom 23. Januar 1968 mit dem Titel Anti-Nazi-Kampagne: Organisieren wir den Ungehorsam gegen die Nazi-Generation:

3

So bemerkt z.B. Klaus Wernecke, dass um 1968 »Vergleiche der bundesdeutschen Gegenwart mit der faschistischen Vergangenheit verstärkt in den Blickpunkt [rückten].« (Wernecke, Klaus: ›1968‹, in: Fischer, Torben/Lorenz, Matthias N. (Hg.): Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland: Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2009, S. 178-182, hier S. 181). Auch Wolfgang Kraushaar konstatiert: »Das Gespenst eines ›neuen Faschismus‹ schien überall Nahrung zu finden.« (Kraushaar: Achtundsechzig, S. 73). Simon Kießling widmet diesem Phänomen ein eigenes Kapitel mit zahlreichen Beispielen: Die antiautoritäre Revolte, S. 274-283.

4

Rudi Dutschke im Interview mit der Darmstädter Studentenzeitung [1968], zit. nach Schmidtke, Michael: Der Aufbruch der jungen Intelligenz: die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA. Frankfurt/M. 2003, S. 149.

5

Zu sehen auf dem Foto E41 (München, 20.05.1968) von Rudolf Branko Senjor im Bildband von Andreas Schwab (Hg.): Die 68er: kurzer Sommer – lange Wirkung. Essen 2008, S.127. Im Kapitel ›Ein Adolf war genug‹: Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit (ebd., S. 122-141) des Bildbands zeugen viele der gezeigten Fotos und Dokumente von den stetig präsenten Vergleichen.

6

Brief von Theodor W. Adorno an Günther Grass vom 04.11.1968, zit. nach Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung: von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, Bd. 2: Dokumente. Hamburg 1998, S. 473. Zur Rolle der Frankfurter Schule in der Diskussion um den Holocaust um 1968 vgl. ausführlich Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart 2010.

7

Einige Beispiele dafür führt Julian Reidy an: Vergessen, was Eltern sind, S. 135.

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Holen wir nach, was 1945 versäumt wurde: Treiben wir die Nazi-Pest zur Stadt heraus. […] Leisten wir Widerstand gegen ehemalige Nazi-Richter, Nazi-Staatsanwälte, NaziGesetzgeber aller Couleur, Nazi-Polizisten, Nazi-Beamte, Nazi-Verfassungsschützer, Nazi-Lehrer, Nazi-Professoren, Nazi-Pfaffen, Nazi-Journalisten, Nazi-Propagandisten, NaziBundeskanzler, und nicht zuletzt gegen Nazi-Kriegsgewinnler, Nazi-Fabrikanten, NaziFinanziers.8

Dass die 68er-Generation ihre gesellschaftliche Opposition auch als eine Möglichkeit gesehen hat, einen während des NS-Regimes versäumten Widerstand nachträglich durchzuführen, ist hinlänglich bekannt.9 In der Aufmachung des gezeigten Textes wird jedoch zusätzlich deutlich, dass sich die Schreibenden beinahe in einem intakten NS-System wähnen und alle gesellschaftlich relevanten Bereiche von NS-Akteuren besetzt sehen. Sie gehen implizit davon aus, dass ihr nachzuholender Widerstand sich nicht auf die Entlarvung vergangener Taten bezieht, sondern noch ein funktionierendes, zusammenhängendes System zu stürzen hat, was sie persönlich als NS-System bedroht. Was an dieser Stelle nur anklingt, findet seine Steigerung in einer bekannten Aussage des Bewegung 2. Juni-Mitglieds Michael »Bommi« Baumann: »Bevor ich nun wieder nach Auschwitz transportiert werde, dann schieß ich lieber vorher, ist doch wohl klar.«10 Bei Baumann ist die »Opfer-Rochade«11 vollendet – er als aktueller Systemgegner sieht sich der konkreten Bedrohung »Auschwitz« gegenüber und ver8

Anti-Nazi-Kampagne: Organisieren wir den Ungehorsam gegen die Nazi-Generation (Flugblatt, Berlin, 23.01.1968), abgedruckt in: Schulenburg, Lutz (Hg.): Das Leben ändern, die Welt verändern! 1968: Dokumente und Berichte. Hamburg 1998, S. 118119, hier S. 119.

9

Vgl. zum »nachgeholten Widerstand« z.B. Wilfried Mausbach: Wende um 360 Grad?, S. 29), Katrin Hammerstein: Wider dem Muff von 1000 Jahren. Die 68er Bewegung und der Nationalsozialismus, in: Schwab (Hg.): Die 68er, S. 122-127, hier S. 126 oder Wolfgang Kraushaar, der die Bekämpfung des Faschismus als »ein nachzuholendes Generationenprojekt« der »68er« bezeichnet (Kraushaar: Achtundsechzig, S. 74). Auch Gerd Koenen erwähnt die Tendenz seiner Generation, sich selbst als nachträgliche Widerstandskämpfer zu begreifen (vgl. Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt: unsere kleine deutsche Kulturrevolution, 1967-1977. Köln 2001, S. 120ff.). Letzten Endes ist der »nachgeholte Widerstand« auch ein Deutungsansatz für die Gewalt der Roten Armee Fraktion (vgl. etwa Veiel, Andres: Deutscher Herbst. Die RAF verstehen, in: Der Tagesspiegel vom 05.09.2007, S. 25).

10 Baumann: Wie alles anfing, S. 47. 11 Mausbach: Wende um 360 Grad?, S. 29.

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bucht sogar implizit eine persönliche KZ-Vergangenheit (»wieder«) für sich. Ähnlich liest sich der aufgezeichnete Diskussionsbeitrag eines »Genossen Raute« auf dem Internationalen Vietnamkongress von 1968 in Westberlin: »Wenn wir es nicht fertigbringen, uns von dieser gespenstischen Ansammlung lackierter Taschendiebe zu befreien, dann werden wir eines Tages im Konzentrationslager umkommen oder gefoltert werden.« 12 Der Sprecher sieht sich bereits auf der »Abschussliste« der ehemaligen Nationalsozialisten. Dass diese den Oppositionellen gegenüber zum Mittel der Deportation greifen werden, steht für ihn fest und ist nur eine Frage der Zeit. Ferner passen zu dieser Beobachtung die Gespräche, die der österreichische Journalist Peter Sichrovsky in den 1980er Jahren mit den (anonymen) Kindern begeisterter Nationalsozialisten geführt hat. Mehrere jener Kinder deuten das Verhalten ihrer Eltern nach dem Krieg als direkte Folgeerscheinung von deren früherer Gewalt gegen Juden. So erzählt z.B. »Stefan«, der in den 1950er Jahren geborene Sohn eines KZ-Aufsehers: »Die Brutalität meines Vaters hat sich sicherlich früher gegen die Juden gerichtet, aber nach dem Krieg waren doch keine mehr da. Da gab’s nur noch mich.«13 Stefan fühlt sich auch nach dem Krieg von seinem Vater in dessen Funktion bedroht und fasst sein schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern in die Worte, er, Stefan, sei »der Jude in meiner Familie«.14 Dass derartige Vergleiche und Verwischungen durchaus auch von einem Gegner der Bewegung ausgehen können, zeigt beispielsweise die bekannt gewordene Reaktion des Berliner Professors Bertold Spuler auf die Enthüllung des »Unter den Talaren«-Transparents durch den AStA. Spuler rief auf der Veranstaltung laut aus: »Sie gehören alle ins Konzentrationslager!«15 Aussagen wie diese finden sich bei Gegnerinnen und Gegnern der Studentenbewegung häufig – und zeigen, dass auch diese die oppositionellen Studierenden als potentielle Insassen noch existierender KZs imaginieren.16 Ulrike Jureit hat diese Tendenz der Identitätsverwischung im Umgang mit Holocaust-Opfern in einer soziologischen Studie untersucht und ihre Konsequenzen für den Erinnerungs- und Aufarbeitungsdiskurs bis in die heutige Zeit 12 Plogstedt (Hg.): Internationaler Vietnam-Kongreß, S. 73. 13 Sichrovsky, Peter: Schuldig geboren. Kinder aus Nazifamilien. Köln 1987, S. 153. 14 Ebd., S. 151. 15 Vgl. zu diesem Ereignis und den Reaktionen Wernecke: ›1968‹, S. 181. 16 Vgl. Harold Marcuse, der feststellt, dass die Konjunktur der NS- und HolocaustVergleiche in den 1960er Jahren von allen Generationen gleichermaßen ausgeht (Marcuse, Harold: The Revival of Holocaust Awareness in West Germany, Israel and the United States, in: Fink, Carole/Gassert, Philipp/Junker, Detlef (Hg): 1968: The World Transformed. Cambridge 1998, S. 421-438, hier S. 437).

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verfolgt. Jureit zeigt, wie der Zugang der »68er« zum Holocaust darüber funktioniert, sich im Sinne einer »sekundären Zeugenschaft«17 zum gesellschaftlichen Sprachrohr seiner Opfer zu machen. Das Ergebnis ist eine problematische Verdrängung der eigentlichen Opfer durch eine Folgegeneration der Täter: Die Täter mitsamt ihren Motiven werden aus dem Diskurs verbannt, sodass nur ein abstraktes »System« oder »Regime« als Täter verbleibt – und die »Erbfolge der Holocaust-Überlebenden«18 wird, in bester Absicht, von den Kindern der Täterinnen und Täter angetreten und vertreten. Wilfried Mausbach, der sich als Historiker mit der diskursiven Funktion des Holocaust um 1968 beschäftigt hat, deutet die Vergleiche und Identitätsannahmen als nachträglichen Widerstand, kombiniert mit dem Wunsch, sich überdeutlich von den Täterinnen und Tätern zu distanzieren: »Als ›konkrete Juden‹ und aktive Widerstandskämpfer definierte die Protest- und Provokationselite sich aus der Täternation hinaus.«19 Eine weitere Deutung des Phänomens wird bereits zeitgenössisch vorgenommen: Rudi Dutschke erklärt 1968 in Vom Antisemitismus zum Antikommunismus die zahlreichen Holocaust-Bezüge in Reaktion auf die Erschießung Benno Ohnesorgs so: In der Aufgabe der Initiative machte sich bemerkbar eine resignative und passive Grundhaltung, die auch in den Wochen und Monaten danach nicht durchbrochen wurde. Es kam zu einer Rationalisierung der eigenen Ohnmacht, man machte sich zum Juden, rationalisierte damit die eigene Unfähigkeit, sich an die Massen zu wenden und in der Aufklärung und in der Aktion nach außen – von der Universität als Basis aus – expansiv zu wirken.20

17 Jureit/Schneider: Gefühlte Opfer, S. 87. 18 Ebd. Im Kontext dieser »Erbfolge« führt Jureit übrigens einen weiteren bedenkenswerten Aspekt an: Dass die Mitglieder der Studentenbewegung sich von ihren mit Täterschuld beladenen Eltern zugunsten linker intellektueller »Ersatzväter« abwandten, ist bekannt. Dass jene Ersatzväter aber zu großen Teilen (Adorno, Marcuse, Horkheimer, aber auch Benjamin und Marx) jüdischer Abstammung waren, vermag eine Brücke zur selbstgewählten Abstammung auf einer anderen Ebene zu schlagen: Die »neugewählte Genealogie« ist zwar in erster Linie eine linkspolitische und kapitalismuskritische, aber eben auch tatsächlich eine jüdische. 19 Mausbach: Wende um 360 Grad?, S. 34. 20 Dutschke, Rudi: Vom Antisemitismus zum Antikommunismus, in: Bergmann, Uwe et al. (Hg.): Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition: eine Analyse. Hamburg 1968, S. 58-85, hier S. 80.

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Bei dieser Deutung liegt der Schwerpunkt darauf, ein rational greifbares Bild für die eigene gefühlte politische Machtlosigkeit zu finden (in diesem Fall z.B. bei der Zerschlagung der Schah-Demonstration mit Waffengewalt). Es geht mir an dieser Stelle weder darum, mit historischer Distanz darüber zu spotten, welche Blüten die Faschismusvergleiche und Opferidentifikationen um 1968 getrieben haben, noch zu bewerten, ob sie berechtigt waren oder als »political instrumentalism«21 bzw. »Dramatisierung«22 zu kritisieren sind. Es geht darum zu zeigen, dass »Jude sein« bzw. »sich selbst zum Juden erklären« zentrale und sensible Punkte des kulturellen Textes um 1968 sind, dass der Grat zwischen Vergleich bzw. Solidaritätserklärung mit den Opfern des Faschismus und der offenen Identifikation mit ihnen ausgesprochen schmal ist – und dass die Figurenkonzeption Weiss’ darin eine größere Vorgeschichte hat. Ich wage sogar die These, dass die Probleme und Bewertungen des Widerstands, die die Figur der Mutter aufwirft, deutlich mehr mit der Entstehungszeit des Romans zu tun haben als mit seiner erzählten Zeit. Schließlich geht es in den späten 60er und frühen 70er Jahren, wie gezeigt wurde, sehr häufig darum, wer warum »Jude« ist oder wird – während mir auch nach intensiven Recherchen kein historischer Fall bekannt ist, in dem während der NS-Zeit Widerstand ausgeübt wurde durch die Annahme einer jüdischen Identität. Was ist bislang an potentiellen Gründen für eine Verwischung der eigenen Identität mit der eines jüdischen Holocaust-Opfers zum Ausdruck gekommen? • • • •

Der Wunsch, kein Täter/keine Täterin zu sein Der Wunsch, sich von ihnen maximal zu distanzieren Die Schaffung einer künstlichen Ausgangslage für Widerstand Der Wunsch, die eigene Machtlosigkeit konkret erfassbar zu machen

Um diese Ergebnisse für die Deutung der Figur der Mutter fruchtbar zu machen, ist aufschlussreich, was mit ihr im Anschluss an ihre Identitätsverwischung passiert: Die Mutter wird apathisch, verliert die Fähigkeit, mit ihren Mitmenschen zu kommunizieren und Reize aus ihrer Umwelt aufzunehmen. Vater und Sohn finden keinen Zugang mehr zu ihr. Eine junge Freundin der Familie, Karin Boye23, wendet sich der Mutter interessiert und liebevoll zu. Sie macht als Einzi21 Marcuse: Holocaust Awareness, S. 428. 22 Sichrovsky: Schuldig geboren, S. 24. 23 Zum historischen Vorbild der Figur, der schwedischen Autorin Karin Boye (19001941), vgl. Hoff, Karin: Boye, Karin, in: Hechtfischer, Ute et al. (Hg.): Metzler Autorinnen Lexikon. Stuttgart 1998, S. 65-67.

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ge einen Erklärungsversuch für ihren Zustand: Boye deutet das Schweigen der Mutter als ein Schweigen aus einem Wissen heraus, das außer ihr niemand hat und begreifen kann: An irgendeinem Punkt, sagte sie, sei meine Mutter über die Grenzen unsres Vorstellungsvermögens hinausgetreten. Was mein Vater mit seinen Zahlen nur von sich wegschieben konnte, sei für sie bis in die innersten Fasern lebendig geworden. Mit einem solchen Wissen, von etwas beherrscht, das außerhalb alles Bekanntem liege, könne ihr ein Dasein unter uns nicht mehr möglich sein. Sie sei eine Entrückte, doch keine Geistesgestörte, denn das, was sie in sich trage, sei eine Wahrheit, eine schreckliche, für uns noch unverständliche Wahrheit […]. (ÄdW: 884)

Nach Boyes Einschätzung hat die Mutter durch den temporären Einblick in eine fremde Identität Erfahrungen gemacht, die außerhalb von dieser schlichtweg nicht formulierbar sind24 und die es ihr unmöglich machen, sich jemals wieder mit den banalen Themen derer zu beschäftigen, die diese nicht teilen: Wie aber, fragte sie, solle sich das, was jenseits unsrer Sprache liege, einbringen lassen in unser Vokabular, wie solle meine Mutter eine Wirklichkeit wieder anerkennen können, die doch vor ihren Augen zuschanden geworden sei, und müsse ihr nicht jeder Versuch, sie aus ihrer Versenkung zu locken, wie eine Verführung zum Betrug erscheinen an jenen, mit denen sie in ihren Träumen zusammenlebte. (ÄdW: 884)25

Die Mutter hatte ursprünglich eine jüdische Identität angenommen, um zu versuchen, dadurch Widerstand zu leisten und nicht zu der um sich greifenden Täterschaft der Nationalsozialisten beizutragen. Nun hat sie innerhalb dieser Identität eine Erfahrung gemacht, die alle ihre bisherigen Vorstellungen überschritten hat. Der grausame Kern dieser Erfahrung ist, dass ein ganzes Kollektiv so machtlos sein kann angesichts einer grenzenlosen, gewalttätigen Übermacht. Die Erfahrung hat so tief und so körperlich eingeschlagen, dass noch ihr gelähmter Körper 24 Vgl. dazu Andreas Hubers wichtige Beobachtung, dass in den Passagen, in denen Visionen und Bilder im Kopf der Mutter dargestellt werden, alle expliziten bzw. fassbaren Elemente der Gewalt wie »Blut« oder »Schusswaffe« auch auf der Wortebene vermieden werden (Huber, Andreas: Mythos und Utopie: eine Studie zur ›Ästhetik des Widerstands‹ von Peter Weiss. Heidelberg 1990, S. 287f.). 25 Vgl. auch Boyes spätere Bemerkung, »es sei dem Aufnahmevermögen eine Grenze gesetzt, und erreiche man diese, müsse man sich aufgeben und alle Hoffnungen fahren lassen« (ÄdW: 892).

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den in voller Fahrt gebremsten und gebrochenen Widerstand ausdrückt: »Wie abgebrochen lag ihre linke Hand mit der Innenfläche nach oben in ihrem Schoß, die rechte Hand war vom sich aufstützenden Arm zu einer Gebärde erhoben, als wolle sie etwas Nahendem Einhalt gebieten.« (ÄdW: 864) So bleibt die Mutter erstarrt vor etwas stehen, gegen das sie sich unmöglich vorstellen kann, noch irgendetwas zu tun oder zu sagen. Anders als Andreas Huber würde ich den Zustand der Mutter zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als »ein Opfer, das im vollen Bewußtsein seiner selbst vollzogen wird«26, betrachten. Die Mutter wird vielmehr vom Ausmaß der Gewalt »überrollt«27. Sie hatte sich mit den verfolgten Juden solidarisiert, um »etwas zu tun« bzw. etwas anderes »nicht zu tun« und hat in aller Härte vorgeführt bekommen, dass sie nichts tun kann, dass ihr Widerstand erfolglos bleiben muss – und dass die Opfer, denen sie sich zugehörig fühlt, von der grausamen Übermacht einfach geschluckt werden. Auf einen wichtigen Aspekt bin ich bislang noch nicht eingegangen: Durch das Eingreifen des Vaters und auch ein gewisses Glück ist der Mutter die allerletzte Konsequenz ihrer angenommenen Identität erspart geblieben. Sie ist nicht erschossen oder in ein Konzentrationslager verschleppt worden, sondern hat, im Gegensatz zu den »realen« Opfern, das Privileg erhalten, nach den Schreckenserfahrungen ein sicheres und friedliches Alltagsleben wieder aufzunehmen. Dieses Privileg erweist sich jedoch als zweifelhaft: Sie wird vollständig in ihrem Handlungswillen gebrochen, beherrscht nur von der Erfahrung, dass sie unvorstellbar machtlos ist, wieder ins Leben entlassen. Mit dieser Erfahrung ist sie in der Tat völlig allein, denn alle anderen, die sie machen, sehen unausweichlich dem Tod entgegen. Nun harrt die Mutter also aus in Erwartung jenes Todes, dem sie auf der Flucht gefühlt unberechtigterweise entgangen ist. 28 Sie kann nicht mehr zurück in ihre ursprüngliche Identität – darauf zielt der bereits zitierte Kommentar des Erzählers, eine »Trennung wäre ihr Verderben, ihr Untergang« (ÄdW: 868). Doch eine Perspektive innerhalb ihrer angeeigneten Identität hat sie auch nicht, da sie in aller Härte erfahren und verinnerlicht hat, dass sie als »Jüdin« vor der ungeheuren Bedrohung kapitulieren muss, keine Chance auf Widerstand hat. Ihre gefühlt einzige Aussicht ist der Tod, die endgültige Auslöschung durch eine Macht, der sie nichts mehr entgegensetzen kann. Im Rahmen der Fragestellung wichtig ist nun vor allem, wie die Mutter schlussendlich stirbt. In fast allen Sekundärtexten wird ihr Tod gedeutet als

26 Huber: Mythos und Utopie, S. 292. 27 So die treffende Charakterisierung von Leonardy: Das Sterben der Mutter, S. 118. 28 Der Sohn umschreibt diesen Zustand als ein »Verweilen im Abgrund« (ÄdW: 876).

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Selbstaufgabe wegen ihres schrecklichen Wissens 29 – was sicher ein Teil der Begründung ist, aber am wesentlichen Problem vorbeizielt. Meine These ist, dass ihr Tod die Folge eines nicht aufzulösenden Widerspruchs in Bezug auf ihre Identität ist, an dem sie zerbricht: Nach einer langen Phase der Apathie und einer kurzen Phase, die Vater und Sohn auf ihre Genesung hoffen lässt, verweigert die Mutter plötzlich das Essen, wird immer schwächer und stirbt schließlich, wie Dr. Bratt es ausdrückt, »da der Patientin der Wille fehle« (ÄdW: 1018). Glauben auch Vater und Sohn zunächst noch, es seien die schrecklichen Erfahrungen der Flucht, die den Lebenswillen der Mutter nun endgültig brechen, machen sie kurz vor ihrem Tod eine überraschende Entdeckung: »[D]och auch dies [die Massenerschießung, JC] war es nicht gewesen, das auf solche Art von ihr Besitz ergriffen hatte, daß es keine Rückkehr mehr gab, was es war, davon sprach sie erst, als sie sich schon zum Sterben hingelegt hatte.« (ÄdW: 1011) Die furchtbaren Erfahrungen haben die Mutter zwar in ihrem Widerstandswillen gebrochen, der Bruch ihres Lebenswillens geht jedoch von einer zweiten Verstörung aus. Diese nimmt ihren Anfang in einer Unterhaltung zwischen Vater und Sohn, der die Mutter zuhört. Der Vater versucht in dieser Unterhaltung rational nachzuvollziehen, wie es zu den beiden Weltkriegen kommen konnte und zieht die Bilanz, dass sie zum großen Teil von kapitalistischen Interessen der Rüstungsindustrie vorangetrieben wurden.30 Er verbindet diese Bilanz aber auch mit einem Vorwurf an die Zivilbevölkerung, die diese Interessen mitgetragen, nicht unterbunden hat und damit indirekt am Leid der Kriegsopfer und Verfolgten Mitschuld trägt: Und wie hätten sie so mächtig werden können, sagte mein Vater, wenn sie nicht von uns allen getragen worden wären. Sie schwammen oben, wir waren der Strom. Den ersten Krieg hatten sie über uns hingehn lassen, und wieder hatten wir uns zu ihrem Gesinde gemacht, hatten schon wieder die Waffen geschmiedet zum gegenseitigen Aderlaß an unsrer 29 Vgl. z.B. Huber: Mythos und Utopie, S. 294f. oder Alfons Söllner: Peter Weiss und die Deutschen: die Entstehung einer politischen Ästhetik wider die Verdrängung. Opladen 1988, S. 213. 30 Die Elternfiguren sind in der Weiss-Forschung mehrfach gedeutet worden als Verkörperungen von zwei verschiedenen Strategien, mit der Bedrohungssituation umzugehen: dem emotionalen und körperlichen Nachvollziehen durch die Mutter sowie dem rationalen und geistigen Nachvollziehen durch den Vater (bei Andreas Huber »Rationalität« versus »Mimesis« (Huber: Mythos und Utopie, S. 282); ähnlich bei Alfons Söllner (»rational-erklärende Vaterwelt« versus »solidarisch-mimetische Mutterwelt« (Söllner: Peter Weiss und die Deutschen, S. 220))).

144 | P ROTEXTE Klasse. Wenn ich diese Namen nenne, sagte er und wanderte auf und ab, dann tue ich es, um hinzufügen zu können, daß wir, auch wenn wir aus Not handelten, ebenso schuldig sind wie sie, die nichts andres kennen als ihr System, das die Geschichte geformt und deren Gesetze geschaffen hat, und unsre Schuld ist es, daß wir es nicht vermocht haben, ihnen Einhalt zu bieten. (ÄdW: 1016f.)

Vor allem der Arbeiterklasse, der die Familie sich zugehörig fühlt, macht der Vater den vehementen Vorwurf, aus »Feigheit und Schwäche« (ebd.) nicht ihre personelle Übermacht genutzt und sich gegen die Entwicklungen verbündet zu haben.31 Die Mutter stürzt diese Erkenntnis, die der Vater ganz allgemein formuliert hat, in eine tiefe Krise um ihre persönliche Rolle. Bislang hat ihr das Erstarren in der jüdischen Identität zumindest die Beruhigung erhalten, in jedem Fall auf der »richtigen Seite« zu stehen, nicht zu den Tätern zu gehören. Durch die Ausführungen des Vaters wird ihr diese Beruhigung genommen. Was die Mutter dazu bringt, ihr Leben endgültig aufzugeben, ist, dass zum genauen Wissen um das Ausmaß der Gewalt nun der Glaube hinzutritt, sie mit zu verantworten. Hatte sie vorher das Gefühl absoluter Machtlosigkeit gegenüber den Gewalttätern gelähmt, wird sie nun zusätzlich davon verfolgt, dass ihr Verharren in der Machtlosigkeit eine schwere Schuld ist, die jene Gewalttaten mit hervorbringt. Ihr Mann schafft es nicht mehr, ihr diese Sorge wieder zu nehmen: Mein Vater warf sich vor, daß er sich am letzten Abend ihres Aufseins hatte hinreißen lassen zu jenem Geständnis unsrer Mitschuld an dem Verderben. Du kannst doch nicht geglaubt haben, daß ich meine, auch du seist verantwortlich für das, was uns getroffen hat, wach auf, rief er, sich über sie beugend, um dann nur erstarrt in die kühle Abwesenheit ihres Gesichts zu blicken. (ÄdW: 1020)

Damit stirbt die Mutter nicht »an ihrer Identifikation mit den Opfern des Holocaust«32, sondern an der unglücklichen Kombination letzterer mit ihrem gleichzeitigen Schuldgefühl. Sie stirbt an einer psychischen Konstellation, die dafür sorgt, dass sie gleichermaßen von unerträglichen Opfer-Erfahrungen und uner-

31 Möglicherweise selbst eine Mitschuld an Krieg und Holocaust zu tragen, weil man keinen (erfolgreichen) Widerstand leistet, ist eine Vorstellung, die mehrere Figuren des Romans beschäftigt. Vgl. z.B. der Vorwurf Karin Boyes an sich selbst, »beteiligt zu sein am Unvermögen der Menschen, der Entwicklung des Staats zum Mordinstrument hin Einheit zu gebieten.« (ÄdW: 901) 32 Söllner: Peter Weiss und die Deutschen, S. 219.

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träglicher Täterschuld verfolgt wird.33 Alfons Söllners Deutung von ihrem Tod als »stellvertretender, symbolischer Sühneakt für real unsühnbare Verbrechen«34 (hier gemeint in dem Sinne, dass sie mit dem schrecklichen Wissen um den Tod der anderen nicht mehr leben möchte) lässt sich damit erweitern: Die Mutter fühlt sich zu jenem Sühneakt zuallererst persönlich berufen, weil sie überhaupt die Schuld an den Verbrechen persönlich fühlt. In dieser Lesart wird die Bemerkung des Sohnes, ihm komme es vor, »als sterbe in ihr nicht nur ein einzelner Mensch, sondern ein Meer von Menschen« (ÄdW: 1018) besonders bitter – die Mutter stirbt als Teil des Meeres von Menschen, aber gleichzeitig auch gerade daran, dass sie nicht zu ihnen gehören kann und sie die Schuld fühlt, ihre Aggressoren nicht aufgehalten zu haben. Der Vater mit seinem Versuch der rationalen Einordnung und Schematisierung der Ereignisse überlebt – wenn auch, wie mehrfach gezeigt worden ist, um den Preis der Verdrängung seiner gefühlten Täterschuld und dem, was er auf der Flucht erlebt hat.35 Kennzeichnend für sowohl die Opfer- als auch die Täterschaft der Mutter ist nun, dass sie sich beide nicht unmittelbar aufdrängen: Durch ihre symbolische Annahme der jüdischen Identität wird die Mutter zum Opfer im übertragenen Sinne, durch ihr »Nichtstun« gegen Krieg und Holocaust wird sie zur Täterin im übertragenen Sinne. Sowohl auf der Seite der Opfer als auch auf der der Täter gibt es gemessen an ihr eine große Zahl deutlicherer Fälle. Dennoch wird klar, dass sie selbst keine Abstufungen sieht und sich vor ihrer Täterschuld im übertragenen Sinne ebenso stark entsetzt wie vor der der unmittelbar Ausführenden. Auch dieses Phänomen tritt im Roman ein weiteres Mal auf: Als Karin Boye von ihrer früheren Geliebten Margot erzählt, die, wie sie vermutet, Opfer der Judenvernichtung geworden ist, spricht sie von einem »Mord, den sie an ihrer Geliebten begangen habe« (ÄdW: 893). In ihren weiteren Ausführungen wird deutlich, dass sie sich in der Beziehung eingeengt gefühlt hat und Margot deshalb verlassen hat, allein zurück nach Schweden gegangen ist. Dass auch Boye sich daraufhin selbst zu ihrer direkten Mörderin erklärt (und in der Gesprächsrunde auch niemand dagegen Einspruch erhebt), spricht dafür, dass das Ausblenden 33 Birgit Feusthuber deutet dies an, wenn sie davon spricht, dass die Frauenfiguren des Textes alle als »Opfer und Mittäterinnen zugleich« gezeigt werden, geht aber unter diesem Aspekt leider nicht näher auf die Figur der Mutter ein (Feusthuber, Birgit: Najaden und Sirenen. Weiblichkeitsbilder in der ›Ästhetik des Widerstands‹, in: Heidelberger-Leonard (Hg.): Peter Weiss, S. 97-110, hier S. 97). 34 Söllner: Peter Weiss und die Deutschen, S. 219. 35 Vgl. Huber: Mythos und Utopie, S. 294 sowie Söllner: Peter Weiss und die Deutschen, S. 217 und Heukenkamp: Angelus novus, S. 117.

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jeglicher Abstufungen von Täterschaft und Schuld mehr ist als das Ergebnis der geistigen Verstörung der Mutter. Ich werde darauf noch zurückkommen. Eingangs wurde gezeigt, dass die Gleichsetzung von Opferschaft im übertragenen Sinne und eindeutiger Opferschaft ein häufiges und bekanntes Phänomen im kulturellen Text um 1968 ist. Weitaus weniger thematisiert werden die beiden gerade gezeigten Phänomene: die Gleichsetzung von Täterschuld im übertragenen Sinne mit eindeutiger Täterschuld und der Zwiespalt zwischen jenen Gleichsetzungen von Opferschaft und Täterschuld. Doch auch sie kommen häufig vor. Beginnen wir mit einem Auszug aus einem Interview Peter Sichrovskys mit »Rudolf«, dem Sohn eines SS-Offiziers: [A]uf mir liegt heute die Schuld. Meine Eltern, die kochen schon in der Hölle. Die sind längst tot, haben es hinter sich, dieses Leben. Und mich ließen sie zurück. Schuldig geboren, schuldig zurückgelassen. Die Träume sind das schlimmste. Immer in der Nacht kommen sie mich holen. Immer der gleiche Traum. Ich kenn’ ihn wie einen Film, den ich schon hundertmal gesehen habe. Sie reißen mich aus dem Bett, zerren mich durchs Zimmer, über die Treppen und stoßen mich in ein Auto. Es sind Männer in gestreiften Uniformen. Der Wagen rast durch eine Stadt. Von außen dringt Lärm in den Wagen. Menschen schreien ›Hurra‹, brüllen und kreischen. Manchmal glaube ich, durch eine Straße zu fahren, in der die Menschen uns zujubeln. Wir kommen zu einem Haus, das ich nicht erkenne. Ich werde die Treppen hinunter in den Keller gestoßen, man reißt mir das Nachtgewand runter und schiebt mich in einen Raum. Hinter mir wird die Tür geschlossen. Muß ich erzählen, was dies für ein Raum ist? An der Wand sind Duschen, und aus den Duschlöchern strömt es, pfeift es leise, als ob aus einem undichten Fahrradventil langsam die Luft entweicht. Mir fällt es schwer zu atmen, es drückt mir die Kehle zu. Stürze zur Tür, versuche, sie zu öffnen. Rüttle, schreie, die Augen brennen; dann wache ich auf. […] Die Ärzte? Bei einem ganzen Dutzend war ich schon. Am liebsten hatte ich die, die mich fragten, was ich denn glaube, daß diese Träume bedeuten. Warum ich denn glaube, daß ich diese Träume habe. Sind die verrückt oder ich? Soll ich denen erzählen, daß ich… Ach, scheiß drauf. Manchmal stelle ich mir vor, ich bringe jemanden um. Ich suche mir einen aus, den ich nicht kenne. Töte ihn und stelle mich dann der Polizei. Alles wäre vorbei. Mein restliches Leben säße ich im Gefängnis. Dort, wo ich hingehöre. Wenn schon nicht mein Vater dort war.36 36 Sichrovsky: Schuldig geboren, S. 50f. Eine weitere Studie außerhalb der Literaturwissenschaft, die das Thema anspricht, sind die Interviews mit »Täterkindern«, die die Historikerin Dörte von Westernhagen durchgeführt und ausgewertet hat. Westernhagen, selbst Tochter eines SS-Offiziers, zeigt u.a., wie die Vertreterinnen und Vertreter

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Was in dieser Erzählung auffällt, sind die rapiden Wechsel zwischen der eigenen Bezeichnung als Täter und als Opfer der Nationalsozialisten. Der nach dem Krieg geborene Rudolf fühlt die Täterschuld des Vaters als eigene, genetisch vererbte Schuld. Diese Schuld ist auch mit dem Tod des Vaters nicht gesühnt, sondern verbleibt in der Welt der Lebenden und lässt den Sohn durch sein bloßes Dasein ebenfalls zum Täter werden. Aus dieser gefühlten Täterschaft resultiert ein wiederkehrender Alptraum, in dem der Täter aber nun plötzlich als Opfer der Taten erscheint, für die er sich nachträglich schuldig fühlt. Rudolfs Alptraum ist nicht der, Menschen zu vergasen, sondern der, selbst im Konzentrationslager vergast zu werden, also von den Taten des Vaters getroffen zu werden.37 Auch hier wird ein Nachgeborener »wieder nach Auschwitz« gebracht – allerdings einer, der daraus nicht (wie Bommi Baumann) eine künstliche Defensive ableitet, sondern sie paradoxerweise aus einer fremden Offensive ableitet, die er sich angeeignet hat. Diese Wendung wird nicht näher erklärt, Rudolf präsentiert sie als vollkommen sachlogisch. Um der Belastung jener übertragenen Opferschaft zu entkommen, glaubt er, sich selbst ins Gefängnis bringen zu müssen, um stellvertretend, wieder als Täter, die Strafe des Vaters abzusitzen. Rudolfs Schuld, das wird deutlich, ist für ihn kein bisschen kleiner als die des Vaters – und sie ist genauso direkt, kann von Rudolf ebenso gut und verdientermaßen gesühnt werden wie vom Vater. Diese komplizierte Konstellation von gefühlter eigener Täterschaft, deren gefühltes Opfer man gleichzeitig ist, findet in einem weiteren literarischen Text der Zeit, Bernward Vespers Die Reise, mehrere Parallelen. Sie kommt zum Beispiel bei Reflexionen des Protagonisten über seinen Anteil am kapitalistischen System zum Ausdruck: Zigaretten: der anonyme Automat [, der unsre Erniedrigung am deutlichsten macht]. Aufgestellt wie eine Falle, wie jenes Fleisch auf dem hohlen Rasen über der Fallgrube, dem sich der Hungernde in letzter Not nähert, nachdem er sein Mißtrauen, das ihn vor dem der Kindergeneration noch Jahrzehnte später selbst Schuld für die Taten der Eltern empfinden und z.B. Schicksalsschläge im eigenen Leben über diese Schuld deuten und einordnen (vgl. Westernhagen, Dörte von: Die Kinder der Täter: das Dritte Reich und die Generation danach. München 1987, bes. S. 68 und S. 178). 37 Auch innerhalb dieser Alptraum-Sequenz wird mehrfach zwischen Täter- und OpferBildern gewechselt: Die Nationalsozialisten verschleppen ihn ins Konzentrationslager, tragen dabei aber »gestreifte Uniformen« wie die Häftlinge des Lagers. Rudolf wird als »Deportierter« gegen seinen Willen in ein Auto gezerrt, dem dann aber auf der Straße von der Menge »zugejubelt« wird wie dem eines hohen Nationalsozialisten.

148 | P ROTEXTE kommenden Unheil warnte, niedergekämpft hat. Das Markstück, das ich einwerfe, der Zug am Schub schließt mich an, an den Kreislauf: Ein unbekannter Konzern erhöht seinen Profit, der riesige Apparat des Staates ernährt sich von dem Handgriff, den ich, am frühen Morgen vor dem Siegestor stehend, mache; ich, [vor dem Automaten, selbst ein Automat,] der auf die Reize und Befehle der Reklame an den Zäunen der Baustelle reagiert, in dessen Gehirnzellen tief und unerreichbar die Spur eingefressen ist, das Motiv, das mich, einen aus Millionen, dazu treibt, das ganze System, gegen meinen Willen, in Betrieb zu setzen […]. (DR: 150)

Auch Vespers Protagonist stellt sich in dieser kurzen Szene des Zigarettenkaufs als »Täter und Opfer der gleichen Sache« dar: Er wird durch Konditionierungen des Systems (»Reklame«) quasi dazu gezwungen, den Kauf zu tätigen. Selbst automatenhaft und vollständig machtlos erscheint er vor dem Automaten, der als mächtige »Falle« des Systems die Abhängigkeit des »Hungernden« ausnutzt und das Machtverhältnis zementiert. Gleichzeitig ist er dadurch, dass er das Geld einwirft, auch verantwortlich für den Fortbestand jenes Systems, für das der Automat hier wie ein menschlicher Repräsentant steht. Bernwards winziger Handgriff »erhöht den Profit« der Tabakindustrie und »ernährt« den Staat, wodurch er, als »einer aus Millionen«, seinen Beitrag dazu leistet, dass ein System (politisch wie wirtschaftlich) fortbesteht, das er eigentlich ablehnt. Dies ist nicht die einzige indirekte Täterschuld, die Bernward quält: Er ist bürgerlicher Abstammung – damit indirekt verantwortlich für die Unterdrückung des Proletariats? Er ist Einwohner des »Westblocks« – damit indirekt verantwortlich für das Unrecht in Vietnam? Und, die von ihm am schlimmsten empfundene indirekte Täterschuld: Er ist, genau wie der zuvor zitierte Rudolf, der Sohn eines hohen NSFunktionärs. Es ist in der Vesper-Forschung immer wieder herausgearbeitet worden, dass auch Bernward, obwohl er den Faschismus vehement ablehnt, gleichzeitig die Schuld des Vaters als eigene, vererbte Schuld spürt.38 Auch bei Bernward geht es in allen Fällen seiner gefühlten Täterschuld um Täterschaften im übertragenen Sinne, die aus seinem bloßen Dasein (als Europäer, als Bürgerlicher, als Nazi-Nachfahre…) resultieren und durch sein Verhalten nicht oder nur sehr schwer verändert werden können. Zusätzlich ist wichtig, dass auch Bernward in den seltensten Fällen Abstufungen vornimmt. Die Schuld der direkten 38 Vgl. z.B. die »Hypothek des ›Schuldig-Geborenseins‹«, die Susanne Komfort-Hein ihm und anderen literarischen Protagonisten um 1968 attestiert (Komfort-Hein, Susanne: 1968 – Literarische Konstruktionen einer Generation, in: Kilian, Eveline/ Dörr, Bea (Hg.): GeNarrationen. Variationen zum Verhältnis von Generation und Geschlecht. Tübingen 1999, S. 191-215, hier S. 208).

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Täterinnen und Täter und seine gefühlte Schuld erscheinen als gleichwertige Täterschaften. In Bezug auf den Nationalsozialismus wird dies am deutlichsten in den Passagen mit dem Reisegefährten Burton. Bernward fühlt sich dem Amerikaner gegenüber wegen dessen jüdischen Glaubens in einer persönlichen Rechtfertigungsposition. Er äußert mehrfach seine Angst, Burton könne »alles sehen« (DR: 114), »[s]eine Schuld festhalten« (ebd.), sich »genüßlich« (DR: 154) an seiner Schuldbeflecktheit weiden und ihn »in den Sumpf zurückstoßen« (DR: 114). Dabei ist er es vor allem selbst, der sich Burton gegenüber zum schuldigen Täter konstruiert. Von Burton gehen zu keinem Zeitpunkt offene Vorwürfe aus. Auch die Situation, in der kurzzeitig ein Konflikt um dieses Thema ausbricht, ist von Bernward in diese Richtung provoziert: Burton stellt – zunächst relativ neutral – fest, dass Bernward trotz seines Hasses auf Deutschland und die deutsche Gesellschaft gewisse Eigenschaften verteidige und daher offensichtlich doch an seiner Heimat hänge. Bernward interpretiert Burtons Beobachtung sofort als »Falle […], die er mir gestellt hat« (DR: 154), um ihn zur Bekenntnis seiner Täterschuld zu zwingen. Dieser von Bernward erzeugte Konflikt zwischen Täter und Opfer ist übrigens einer zwischen einem Täter im übertragenen Sinne (Bernward) und einem Holocaust-Opfer im übertragenen Sinne (Burton) – denn schließlich ist Burton in Amerika geboren und hat außer seinem Glauben gar keine Berührungspunkte mit dem Holocaust. Die unter den Nationalsozialisten verübte Gewalt erscheint zwischen den beiden maximal abstrahiert und von keiner Seite mehr aktiv beeinflussbar. Verkompliziert wird die Sachlage noch durch einen weiteren Aspekt: Ähnlich wie der Offizierssohn Rudolf begreift sich Bernward nämlich nicht nur als Täter der Taten seines Vaters, sondern gleichzeitig auch als Opfer von dessen Taten. Auch Bernward ist ein Anhänger der Position, dass sich seine Generation in einem immer noch faschistischen Deutschland einer Neuauflage des Nationalsozialismus gegenüber sieht.39 Somit wird Vespers Protagonist, wenn auch im gänzlich anderen Kontext, genau wie die Mutter in der Ästhetik des Widerstands von im Konflikt stehenden Gefühlen von Täterschaft und Opferschaft zerrieben: Beide sehen sich einerseits mit ungeheuerlichen und verwerflichen Übermächten konfrontiert, von denen sie sich stetig direkt bedroht fühlen und gegen die sie nichts tun können (Opfer). Gleichzeitig sehen sie sich selbst in direkter Verantwortung für aktuelle und frühere Gewalttaten, die diese Übermächte ausüben (Täter/in). Bei Bernward wird sein Einkauf nach kapitalistischen Regeln ebenso Ausdruck jenes Zwiespalts wie sein Dasein als Nachfahre eines NS-Funktionärs. Die besondere Tragik des Zwiespalts liegt darin, dass er völlig unabhängig von 39 Vgl. z.B. DR: 54.

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eigenen Verhaltensoptionen besteht: Ohne etwas »getan« zu haben, besteht die Täterschuld – und sie ist so gewaltig, dass keine Tat der Welt sie wiedergutmachen kann. Anders als die Mutter, die vor dieser Erkenntnis resigniert, versucht Bernward bisweilen, dem Zwiespalt in die andere Richtung zu entrinnen: Wenn er schon nichts tun kann, um ein Unschuldiger zu sein, dann soll die Tat wenigstens ganz ihm gehören. Ein Beispiel ist die eindrucksvolle Szene aus Bernwards Kindheit, in der der Vater dessen geliebten Kater wegen Wilderns tötet: Ich sprach nie mehr über Kater Murr. Einige Wochen später sagte ich, als ich mit Frau Werthmann im Auto über die Landstraße fuhr: ›Ich habe meine Katze erschossen.‹ ›Das ist nicht wahr‹, sagte sie. ›Du hast sie nicht selber erschossen.‹ ›Doch‹, sagte ich. Ich konnte es nicht ertragen, daß andre es getan hatten. (DR: 358)

Die eigentliche Situation ist so geartet, dass Bernward seine kindliche Machtlosigkeit gegenüber dem Vater in aller Härte erfahren hat (er den Kater nicht retten konnte) und gleichzeitig eine Mitschuld am Gewaltakt des Vaters verspürt (er den Kater nicht gerettet hat). Die resultierende Unklarheit ist Bernward unerträglicher als die Vorstellung, die Tat selbst ausgeübt zu haben. Damit gleicht seine Einstellung zur unklaren Täter- und Opferschaft ein weiteres Mal der des interviewten Rudolf, der sich lieber als eindeutiger Täter ins Gefängnis wünscht und dafür sogar bereit wäre, aktiv und direkt ein Unrecht zu begehen, als weiterhin mit der gleichzeitigen Belastung von Täter- und Opferschaft zu leben. Ins beinahe Absurde potenziert erscheint die vorsorgliche Schuldübernahme in der Szene, in der sich der erwachsene Bernward unter LSD-Einfluss in München befindet und plötzlich die Vision hat, Adolf Hitler als literarische Figur hervorgebracht zu haben: Alle diese Namen sind frei erfunden. Ebenso die Handlung. Ein Spiel zufälliger elektrischer Ströme meiner Großhirnrinde. Man beachte einige meiner besonders gelungenen Erfindungen. ›Hitler‹ z.B., der jetzt vom Siegestor in vollem Wichs, Arm in Arm mit dem besoffenen Ludenberg (›Ich bin der Boss der Luden – und schimpfe auf die Juden‹) mit einigen von Vaterlandsliebe trunkenen Damen und Herren der höheren bayerischen Gesellschaft […] auf den Place de l’Odeon zurennt. (DR: 77)

Der schreibende Bernward generiert hier eine eigene Täterschaft, die alle anderen denkbaren Täterschaften übertrifft: Er will Adolf Hitler, die »Personifizierung des Faschismus« 40 , selbst erschaffen haben. Damit wird er nicht nur 40 Glawion: Heterogenesis, S. 218.

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schlimmer als diejenigen, die Hitler aktiv unterstützt haben, sondern auch als Hitler selbst. Bernward macht sich zum Super-Täter, indem er sich als Schöpfer noch vor den Hitlerputsch setzt und damit die an sich schon ungeheuerliche Schuld der schlimmsten NS-Täter gesammelt auf seinem Haupt vereint. Eindrücke wie die Sven Glawions, dass sich Bernward als »ausschweifend erzählendes, verstricktes, leidendes und determiniertes Opfer«41 darstelle und eine »jammernde […] Selbstzerfleischung«42 vornehme, sind mithin nicht falsch. Sie müssen aber erweitert werden darum, dass Bernward sich selbst in gleicher Weise als potentieller Täter erzählt bzw. seine Unklarheit über eigene Täterschuld einen gewaltigen Anteil an jener »Selbstzerfleischung« hat.43 Festzuhalten ist, dass in allen gezeigten Fällen gerade das Aufeinandertreffen von Täter- oder Opferschaft sowie die gleichzeitige Belastung mit gefühlter Täterschuld und Opferschaft, ihre Reibung aneinander, großes Unbehagen auslösen. Sowohl Weiss’ Figur der Mutter als auch Vespers Protagonist sind Teil einer Friktion, die aus dem Unbehagen entspringt, gleichzeitig Täter und Opfer derselben Sache zu sein. In beiden Texten wird das Unbehagen dargestellt und konserviert, aber, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch konfrontiert – und in beiden Fällen läuft die Konfrontation über das Schreiben. Beide Texte finden, so die These, in ihrer jeweiligen Poetik Strategien, schreibend mit dem Unbehagen produktiv umzugehen, sowohl für den literarischen Text als auch für das schreibende politische Subjekt.

Ü BERTRAGENE T ÄTER - UND O PFERSCHAFT , W IDERSTAND UND DAS S CHREIBEN Bislang war sehr viel von Identitätsverschiebungen und sehr wenig vom literarischen Schreiben die Rede. Dabei haben jene Verschiebungen in beiden untersuchten Texten auf mindestens zwei Ebenen unmittelbar mit dem literarischen Schreiben zu tun: einmal auf der Ebene der beiden schreibenden Protagonisten und einmal auf der Ebene der beiden schreibenden politischen Subjekte Vesper und Weiss, die die Texte verfassen. 41 Ebd., S. 205. 42 Glawion: Aufbruch in die Vergangenheit, S. 33. 43 Ansatzweise klingt diese unklare Täterschuld bei Mathias Brandstädter an. Brandstädters Verdienst ist es dabei vor allem, eine in der Vesper-Forschung häufige Deutung zu differenzieren und zu revidieren: Er zeigt, dass die Annahme, Bernward finde in der sozialistischen Ideologie unkritisch und unabsichtlich ein Pendant zum Faschismus des Vaters, zu kurz greift (Brandstädter: Folgeschäden, bes. S. 166-172).

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Es ist im vorausgegangenen Beispiel aus der Reise deutlich geworden, dass Bernward sein Bedürfnis nach einer klareren Täterschuld über das Schreiben befriedigt. Nur auf dieser Ebene ist eine Täterschuld herstellbar, die ohne jegliche Zweifel über allen anderen Täterschaften steht und sämtliche Unklarheiten darüber auslöscht, was der Schreibende ist. Gleichzeitig ist das Schreiben die Ebene, auf der Bernward seine Gefühle von Machtlosigkeit und Opferschaft konfrontiert. Durch das Schreiben werden sie kommunizierbar und erhalten damit letzten Endes eine Chance, von der Ohnmacht in Macht umzuschlagen: Innenansicht: Niederschrift als sich ›zu Wort melden‹, als Hilferuf. Hier bin ich, mir geht es dreckig, ich bitte, das gefälligst zur Kenntnis zu nehmen. Aber auch: Mir ist das und das zugestoßen, vergleichen wir doch einmal, wie geht es Dir? Wände Mauern Wandzeitungen Flugblätter hunderttausendfach abgeworfen, bekritzelt, bezeichnet; ›schreibt, schreibt überall hin, das ist unsere geheime Waffe!‹ (DR: 285)

Das Schreiben erscheint als einzige Möglichkeit, produktiv mit den als omnipräsent empfundenen Elementen der Gesellschaft umzugehen, die ihn zum Opfer machen: Durch die Niederschrift und die daran gebundene öffentliche Dokumentation seiner Opferschaft vermag er sie zum Ausgangspunkt einer Gegenhandlung zu machen. Paradoxerweise verleiht ihm also erst sein machtloser Opferstatus, kombiniert mit dem Schreiben, eine gewisse Gegenmacht. Anders gesagt: Würde er sich nicht persönlich als Opfer von diversem Unrecht fühlen, würde ihm eine gewaltige Ressource fehlen, gegen dieses Unrecht vorzugehen. Dieses Phänomen – den Opferstatus zu »brauchen«, um daraus Gegenmacht abzuleiten – ist eine weitere zeittypische Erscheinung im Umgang mit der eigenen Identität auf der Achse von Täter- und Opferschaft. Ihr zugrunde liegt die Annahme, dass Opposition gegen ein Unrecht leichter und effektiver möglich ist, wenn man selbst Opfer dieses Unrechts ist. Es ist auffällig, dass diese Annahme nicht nur in Vespers Roman vorkommt, sondern in vielen Elementen des kulturellen Textes um 1968. Sie ist ein weiterer potentieller Grund, die Verwischung mit der Identität von jemandem zu suchen, den man für ein Opfer hält: Weil man eigentlich gegen die Opferschaft eines anderen etwas tun möchte, begibt man sich selbst künstlich in diese Opferschaft, um daraus widerständisches Potential abzuleiten. Ich habe in Kapitel 3 ausgeführt, dass Widerstand notwendigerweise ein defensiver Akt ist, der sich nur gegen etwas richten kann, dem man bereits ausgesetzt ist. Die Suche nach einer solchen Defensive führt um 1968 dazu, dass sich das Interesse – auch das Selbsterfahrungs-Interesse – literarisch wie außerliterarisch auf jegliches Unrecht richtet, das Anderen widerfährt. Man denke beispielsweise an die große Zahl von Studierenden, die um 1968 Arbeit in der industriellen

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Produktion angenommen haben. Gerd-Rainer Horn spricht von »tausende[n] von Angehörigen der studentischen Mittelschicht«, die sich Ende der 1960er Jahre zumindest temporär von ihren universitären Studien abwenden, um »sich als Fabrikarbeiter zu verdingen.« 44 In einem Kursbuch-Artikel von 1977 spricht Klaus Hartung rückblickend sogar von politischen Studentenorganisationen, die »mindestens ein Jahr im Betrieb« zur Aufnahmevoraussetzung machen.45 Literarisch verarbeitet findet sich das Phänomen beispielsweise in Peter Schneiders Roman Lenz von 1972. Neben dem Wunsch, Kontakt zu der »Arbeiterklasse« herzustellen, liegt in allen Fällen der Wunsch zugrunde, die Erfahrung von entfremdeter Arbeit, Unterdrückung und Ausbeutung, über die in Kreisen der Studentenbewegung viel gesprochen wird, am eigenen Leib zu machen und daraus Impulse für das eigene politische Verhalten zu bekommen. Ein ähnlicher Impetus dürfte auch der freiwilligen Arbeit in Fürsorgeheimen (prominenterweise durch Gudrun Ensslin und Andreas Baader) innewohnen. In Hans Magnus Enzensbergers Berliner Gemeinplätzen heißt es zum Verhältnis von Reflexion und eigener Erfahrung: »Keine abstrakte Einsicht in den repressiven Charakter des Systems kann die physische Erfahrung der Unterdrückung ersetzen.«46 Der Anspruch, sich selbst der Unterdrückung auszusetzen oder zumindest »unterdrückerische« Orte, Räume und Zusammenhänge selbst aufzusuchen, korrespondiert mit dem bereits im 3. Kapitel beschriebenen Anspruch der »Beweglichkeit«: Politische wie literarische Arbeit wird positiver bewertet, wenn das ausführende Subjekt über authentische Erfahrungen des Unrechts an Ort und Stelle verfügt. Neben die authentische »Einsicht« in das Unrecht, die das bewegliche Subjekt gewinnt, tritt die Annäherung an eine Opferrolle, aus der heraus sich die eigene Opposition leichter motivieren lässt. Im literarischen Bereich sind ein Indiz für die Auseinandersetzung mit fremden Opferrollen beispielsweise die immensen Erfolge von Günther Wallraffs Sozialreportagen47 und Peter Weiss’ dokumentarischen Stücken zur »Dritten Welt«. Auch die bekannten und umstrittenen Flugblätter der Kommune 1 zum Kaufhausbrand in Brüssel spielen mit der Idee einer 44 Horn, Gerd-Rainer: Arbeiter und Studenten in den 68er Jahren, in: Rathkolb, Oliver (Hg.): Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre. Göttingen 2010, S. 187-207, hier S. 201. In Fußnote 25 führt Horn Fallstudien und Dokumentationen zu diesem Phänomen aus Frankreich und Belgien an. 45 Hartung: Krise der antiautoritären Bewegung, S. 40. 46 Enzensberger: Berliner Gemeinplätze I, S. 164f. 47 Wallraffs 13 unerwünschte Reportagen waren übrigens, wie aus dem Briefwechsel mit Gudrun Ensslin hervorgeht, zunächst in Bernward Vespers Verlag für die Reihe Voltaire-Handbuch geplant (vgl. NG: 125).

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Selbsterfahrung von fremder Opferschaft: Den ironischen Kommentaren, dass »ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen« »jenes knisternde Vietnam-Gefühl (dabei zu sein und mitzubrennen)«48 in das sichere Europa zu tragen vermag, liegt implizit die Vorstellung zugrunde, dass die »saturierten Bürger«49 nur das furchtbare Unrecht des Vietnamkriegs am eigenen Leib erfahren müssten, um gegen ihn vorzugehen. Wäre Brüssel wirklich Hanoi50, würde niemand daran zweifeln, wer der Feind ist und dass er bekämpft werden muss. Beachtenswert vor diesem Hintergrund ist ferner Ulrike Jureits Beobachtung, dass ein entscheidendes, von der »68er«-Generation geprägtes Paradigma des heutigen Umgangs mit dem Holocaust das gewollte »Nachempfinden« des Leids der Opfer ist. 51 Übrigens kommt die Vorstellung, Gegenmacht aus einer OpferSelbsterfahrung zu ziehen, auch in der im vorherigen Kapitel behandelten Geschichte von Tommy vor: Nicht nur Tommys Befreiungsschlag wird hier am Ende ausdrücklich als nachahmenswert dargestellt, sondern auch sein Ausgangsstatus. Sichtbar wird dies in den Worten, die der geheilte Tommy an seine Anhänger richtet: If you want to follow me, […] put in your earplugs put on your eyeshades you know where to put the cork.52

Tommys Anhänger können seinen Befreiungsschlag nur schaffen, wenn sie zuvor auch seinen Leidensweg der Wahrnehmungs- und Ausdruckslosigkeit gegangen sind. Sie werden aufgerufen, sich Augen, Ohren und Mund zu verdecken, um deaf, dumb and blind zu werden, sich der Gesellschaft auszuliefern – und darüber die nötigen Voraussetzungen für einen Befreiungsschlag aufzubauen. Auch ein zunächst etwas merkwürdig anmutender Wunsch, den Bernward in der Reise formuliert, ist vor genau diesem Hintergrund zu sehen: 48 Kommune 1: Warum brennst Du, Konsument? (Flugblatt vom 24.05.1967), abgedruckt in: Schulenburg (Hg.): Das Leben ändern, S. 41-42, hier S. 41. 49 Kommune 1: Wann brennen die Berliner Kaufhäuser? (Flugblatt vom 24.05.1967), abgedruckt in: Schulenburg (Hg.): Das Leben ändern, S. 42-43, hier S. 42. 50 Vgl. ebd. 51 Jureit/Schneider: Gefühlte Opfer, S. 28f. Sie zeigt es beispielsweise daran, welche Ansprüche an das Holocaust-Mahnmal in Berlin gestellt wurden und wie die Entwürfe begründet wurden. 52 Zit. nach Barnes/Townshend: The story of Tommy, S. 120.

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Ist es Zynismus zu sagen, daß ich Vallières53, der seine Kindheit wie ein Sklave verbrachte, beneide? Beneide um seine proletarische Abstammung, die es ihm erlaubt, den Widerspruch zwischen Ausgebeuteten und Imperialisten sinnlich rein zu erfahren, und um so vieles leichter klare Konsequenzen zu ziehen? (DR: 445)

Bernwards Wunsch nach einem deutlicheren Opfer-Status gründet sich darauf, aus ihm erstens »sinnlich-reine« (also eindeutige, weniger komplexe) Unrechtserfahrungen zu beziehen und zweitens einen greifbaren Täter ableiten zu können, gegen den sich die Opposition richten kann. Im Falle Bernwards macht sich an dieser Stelle als Zusatzproblem wieder der grundlegende Zwiespalt bemerkbar, dass er sich gleichzeitig als Täter fühlt: Wäre er Pierre Vallières, wäre sein Feindbild auch deswegen einfacher, weil er auf keinen Fall selbst Teil von ihm wäre. So drängt sich ihm aber zwangsläufig die Frage auf, ob er es überhaupt verdient hat, von einem Unrecht befreit zu werden, für das er gleichzeitig verantwortlich ist. Eben jene Frage ist auch im Spiel, wenn er Burton um seine »glückliche Situation« (DR: 114) beneidet. Burtons Situation ist deshalb »glücklich«, weil er als jüdischstämmiger Amerikaner ohne jegliche Vorbelastung gegen den Faschismus opponieren kann und eine realistische Chance hat, sich wirklich von ihm frei zu machen.54 Auch in der Ästhetik des Widerstands spielen von Anfang an Fragen nach dem Status des Schreibenden in Täter- und Opferkonstellationen eine Rolle. Schon in einer der ersten Szenen, dem Gespräch des Protagonisten mit seinen Freunden Hans Coppi und Horst Heilmann über den gerade gemeinsam gelesenen ersten Teil der Göttlichen Komödie, klingt dieser Aspekt an. Die drei Freunde diskutieren darüber, wie Dantes Erzählerfigur zu ihrer höllischen Umgebung steht. Dieser Erzähler bleibt, wie Coppi feststellt, selbst unbeschmutzt, er kann wohl weinen, kann in Ohnmacht sinken, angesichts all dieser Schmerzen, die erlitten werden von denen, die sie verursachen, oder auch des eignen Leidens, nie aber trifft ihn der Gedanke, daß auch er, durch ein Zögern, eine Unterlassung, 53 Gemeint ist der kanadische Journalist, Marxist und Freiheitskämpfer Pierre Vallières (1938-1998). 54 Die Einstellung, dass es überlebende Opfer des Holocausts heute »leichter hätten als der Sohn oder die Tochter eines Mörders«, kommt auch in mehreren Gesprächen Peter Sichrovskys zum Ausdruck. Sichrovsky als Nachfahre von Holocaust-Überlebenden stimmt ihr interessanterweise zu, da er dankbar ist, sich selbst frei von den ungeheuren Schuldgefühlen der Interviewten fühlen zu können (vgl. Sichrovsky: Schuldig geboren, S. 22).

156 | P ROTEXTE ein Verschweigen, ein Leugnen, in den Augen eines andern schuldig wird, er geht durch das Böse hindurch und weiß, solange er sich an der Hand des Schutzgeists, des künstlerischen Bewußtseins, festhält, kann ihn nichts behelligen. Ist dies nicht auch, hatte Coppi gefragt, eine Vermessenheit, vor der wir uns in der Kunst zu hüten haben, und Heilmann hatte darauf geantwortet, daß diese Empfindungslosigkeit vielleicht die gleiche sei, die wir von Träumen kennen und die es überhaupt erst ermögliche, das Geschaute zu durchleben. Würden die Bestien Dante tatsächlich die Wunden schlagen, würden die Todeswütigen ringsum die Hiebe ausführen, die sie schon androhten, er hätte nichts mehr darüber zu berichten. (ÄdW: 103)

Coppis Frage nach der Glaubwürdigkeit dieses Erzählers zielt auf zwei bereits bekannte Aspekte: Ist er erstens, da er das »Böse« nicht verhindert, nicht auch Teil von ihm? Und ist er zweitens überhaupt in der Lage, dieses »Böse« voll zu erfassen, wenn er nur als Gast und geschützt durch seine Eigenschaft als Künstler die Hölle durchschreitet und ihre echte Bedrohung und Bosheit selbst nicht erleidet? Wichtig ist nun Heilmanns Antwort auf diese Fragen. Nach Heilmanns Ausführung sind zwei Voraussetzungen nötig, um über »das Böse« zu schreiben: Der Schreibende muss unmittelbar, empathisch und aus der Nähe es selbst und dessen Opfer anschauen, ohne jedoch selbst ganz zum Opfer zu werden. Weiterhin darf er sich nicht überwältigen lassen durch mögliche eigene Anteile am »Bösen« Der Erzähler der Göttlichen Komödie steigt in die tiefsten Kreise der Hölle hinab, ist also maximal nah an den Geschehnissen, ohne jedoch zu einem Zeitpunkt ganz Opfer oder ganz Täter zu werden, ohne sich in die Gewaltkonstellationen, über die er schreibt, einbinden zu lassen. Er ist ein Chronist, dem nichts entgeht, der aber an den Taten und ihren Auswirkungen nie wirklich beteiligt ist. Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass der Protagonist der Ästhetik des Widerstands in einigen Aspekten als Parallelfigur zu Dantes Protagonisten angelegt ist.55 Ich möchte im Folgenden zeigen, dass eine dieser Parallelen im gerade skizzierten chronistischen Schreibauftrag besteht, der ihn aus den ihn 55 Vgl. z.B. Maria C. Schmitt: Peter Weiss, ›Die Ästhetik des Widerstands‹. Studien zu Kontext, Struktur und Kunstverständnis. St. Ingbert 1986, S. 148-164 oder Scherpe, Klaus: Die Ästhetik des Widerstands als Divina Commedia. Peter Weissʼ künstlerische Vergegenständlichung der Geschichte, in: Wolff, Rudolf (Hg.): Peter Weiss: Werk und Wirkung. Bonn 1987, S. 88-99 oder Knoche, Susanne: Die Hölle der Gegenwart und ihre Ästhetik als Potential des Widerstands: Bildanalogien zwischen Peter Weiss und Dante, in: Honold, Alexander/Schreiber, Ulrich (Hg.): Die Bilderwelt des Peter Weiss. Hamburg 1995, S. 48-63.

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umgebenden Täter- und Opferkonstellationen heraushält und eine Möglichkeit bietet, die durch sie verursachte Friktion produktiv zu erfassen, ohne an ihr zu zerbrechen. Wichtig ist hier zunächst, wie der Protagonist zum Chronisten seiner Umgebung wird: Ist er zu Beginn des Romans der Kunst »nur rezeptiv begegnet« (ÄdW: 100), entscheidet er sich im schwedischen Exil, selbst schreibend tätig zu werden. Es ist kein Zufall, dass diese Entscheidung mit dem Schweigen der Mutter und ihrem Konflikt um ihre gleichzeitige Opfer- und Täterschaft zusammenfällt. Vielmehr wird deutlich, dass der Sohn den Anstoß für sein Schreibprojekt darin sieht, die schrecklichen Einsichten auszudrücken, die seine Mutter zum Verstummen gebracht haben. Mit dem Tod der Mutter erkennt der Sohn, dass es nun an ihm ist, jene Einsichten zu verstehen und sich ihnen anzunähern. Auch, wenn es nie explizit gesagt wird, sieht sich der schreibende Sohn mit derselben Herausforderung konfrontiert wie Dantes Protagonist: Er muss möglichst viel von der Gewalt begreifen und fassen, dabei aber auf eine Weise »außen« bleiben, die verhindert, dass er sich (wie seine Mutter) nicht mehr aus ihr lösen kann. Den Kompromiss zwischen den Extremen, sich mit der Gewalt gar nicht zu beschäftigen oder die Gewalt zu (er)leben, findet er im »Beschreiben«: Einmal würde sich beschreiben lassen, was meiner Mutter widerfahren war, sie habe alles kommen sehn, während wir nur ihr Verstummen erlebten, sie müsse schon gewußt haben, was uns erwartete, als die Massen den Mördern zujubelten, als ihnen die Frauen heulend ihre Kinder entgegenhoben, um sie segnen zu lassen. (ÄdW: 1025)

Der Sohn ist überzeugt, dass dieses Beschreiben möglich ist und stellt sich die Aufgabe, es sich zu erarbeiten. Durch Schreibarbeit will er das mühsam erschließen, was die Mutter von sich aus gewusst hat: Unser Unvermögen, meiner Mutter zu folgen, war nicht durch Metaphysisches, Mystisches bedingt gewesen, wir besaßen für das, was das Offenkundige überstieg, nur noch keine Register, unsre Hilflosigkeit war eine vorläufige, hatte unsre ganze Entwicklung doch gezeigt, daß sich aus Ahnungen erst, aus tastenden Untersuchungen, konkrete Urteile herausbilden ließen. (ÄdW: 1025)

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Er versteht sein Schreiben mithin als eine Sucharbeit, eine Annäherung, ein »Tasten«56 nach den Implikationen einer solchen Gewalt. Dadurch, dass er zu schreiben beginnt und sein Schreiben so auffasst, passiert in ihm eine bemerkenswerte Synthese zwischen dem Zugang der Mutter und dem Zugang des Vaters zu den gewaltsamen Ereignissen. Wie bereits erwähnt, sind diese Zugänge mehrfach gegenübergestellt worden als rational/distanziert (Vater) versus emotional/mimetisch (Mutter) – und beide werden im Roman als problematisch gezeigt. In einer Passage, in der der Sohn über die Art von sprachlichem Ausdruck spricht, mit der er seine Sucharbeit angehen möchte, wird deutlich, dass sich in ihr die Vorteile beider Zugänge verbinden: [D]a gab es die Sprache, in der die Nachrichten wie die Börsenberichte gebracht wurden, in der sich die Anstrengungen als steigende und fallende Zahlenbündel zu erkennen gaben, Aktienposten von Lebenden gegen Tote gesetzt, […] [und] da war die Sprache, an der ich im stillen arbeitete und deren Worte sich am schwersten finden ließen. In diese Sprache gehörte, was meine Mutter auszudrücken versucht hatte, und was, je näher das Greifbare kam, immer dünner und hilfloser wurde, und beim Anrühren schon vom Vergessen bedroht war. (ÄdW: 1042)

Der Sohn verabschiedet sich von dem Zugang, den sein Vater vertritt und der nicht »sucht«, sondern auf Abstraktionen, Zahlen und vertraute Kausalitäten zurückgreift, die aber das Erlebte nicht vollständig zu erfassen vermögen. Er sucht das Wissen der Mutter, aber mit der distanzierten Haltung des Vaters – und schafft es damit, das empfundene Leid und die empfundene Schuld der Mutter gewissermaßen zu transzendieren bzw. in eine Kommunikationssituation zu überführen. In dem Entschluss, dies alles schreibend anzugehen, bestärkt ihn vor allem sein älterer Mentor Max Hodann. Hodann sagt ihm, dass der einzige Weg für jemanden, der »sich von nichts abwenden« wolle und trotzdem weiterleben wolle, der »Weg in die Kunst« sei: Nur die Kunst ermögliche es, sich gleichermaßen einer Sache zu öffnen und zu verschließen – die Sache also in möglichst großer Tragweite zu erfassen, aber dennoch ein Medium zu haben, sie der »äußren Welt« zu kommunizieren. Schließlich sei »Heilung« nur möglich, wenn der Kontakt mit der Außenwelt bestehen bleibe (alle Zitate ÄdW: 1021). Hodann zeigt ihm in Folge dieses Gesprächs eine Reproduktion von Albrecht Dürers 56 Das »Sichvortasten« wird bereits im eingangs zitierten Gespräch über die Göttliche Kömodie als Charakterisierung der chronistischen Erzählstrategie herangezogen (vgl. ÄdW: 99).

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Zeichnung Melencholia I von 1514.57 Der Protagonist gewahrt neben der Allegorie der Melancholie, die er mit seiner Mutter identifiziert, einen kleinen Putto mit einer Schiefertafel. In dieser Figur, dem »kritzelnden Kind auf dem Mühlstein« (ÄdW: 1026), erkennt er als Schreibender sich selbst – eine Figur, die die Melancholie mit schöpferischer Produktivität und der von Hodann erwähnten »Öffnung« zur Außenwelt zu verbinden vermag. Auch er steht mit dem Schreibwerkzeug bereit, um zu versuchen, die Situation irgendwie in eine Kommunikationssituation zu überführen. In den meisten Sekundärtexten wird die Schlusspassage des dritten Bandes so gedeutet, dass die Ästhetik des Widerstands selbst das Ergebnis jener Produktivität ist – dass der Protagonist sein Vorhaben also in die Tat umgesetzt hat.58 Erst vor dem Hintergrund dieses Schreibauftrags, mit dem der Protagonist ausgestattet wird, wird auch seine sehr eigenwillige Anlage als Figur verständlich. Die Protagonisten- und Erzählerfigur der Ästhetik des Widerstands gehört sowohl in der Forschung zu Peter Weiss als auch in der Literaturkritik direkt nach dem Erscheinen zu den am meisten diskutierten und zuweilen auch kritisierten Aspekten des Textes. Der erzählende Sohn ist, neben seinen Eltern, die einzige Figur im gesamten Text, die klar fiktiv ist und auch keinen Namen erhält. Diese Namenlosigkeit wird an mehreren Stellen besonders hervorgehoben: Beispielsweise erwähnt er beim Besuch Bertolt Brechts explizit, wie »Tombrock mich mit meinem Vornamen anmeldete« (ÄdW: 628) – freilich ohne dass dieser Name erklingt. Eine weitere Auffälligkeit rankt sich um seine Geburt: Er wird in der Nacht vom 7. auf den 8. November 1917 geboren, der Nacht also, in der Lenin in Russland an die Macht kommt. Auch diese Tatsache wird explizit inszeniert, indem in einer längeren Passage Lenins Tätigkeiten in jener Nacht enggeführt werden mit dem Voranschreiten seiner Geburt (vgl. ÄdW: 312). Dass die Romanhandlung erzählt wird von einem namenlosen Mitglied des Widerstands, das im selben Moment anfängt zu existieren wie der erste kommunistische Staat, weist darauf hin, dass dieser Erzähler »mehr [ist] als eine Einzelperson«59. In der Tat ist er am wenigsten als Held der Erzählung oder generell als Individuum interessant. Er ist der namenlose Begleiter des linken Widerstands von einem defi57 Vgl. zur Zuordnung des Bildes Nana Badenberg: Kommentiertes Verzeichnis der in der ›Ästhetik des Widerstands‹ erwähnten bildenden Künstler und Kunstwerke, in: Honold/Schreiber (Hg.): Die Bilderwelt des Peter Weiss, S. 163-230, hier S. 178f. 58 Vgl. z.B. bei Schmitt: Peter Weiss, S. 88. 59 Scherpe, Klaus: Die Ästhetik des Widerstands – Peter Weissʼ Traum von der Vernunft, in: Palmstierna-Weiss, Gunilla (Hg.): Peter Weiss, Leben und Werk. Frankfurt/M. 1991, S. 242-266, hier S. 247.

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nierten Ausgangspunkt an und ist in Bezug auf seine aktive Handlung sowie seine psychologische und charakterliche Tiefe für den Roman absolut entbehrlich. Diese Tatsache hat ihm in Forschung und Literaturkritik die Vorwürfe eingetragen, »blutarm«60, »konturlos« und »schemenhaft«61 zu sein. Sie treffen insofern zu, als dass er sich selbst, seine Gedanken und Entwicklungen weitgehend aus der Romanhandlung ausspart. Die selbstgewählte Funktion im Rahmen der Poetik des Textes ist eine andere. Sie wird deutlich mit der Betrachtung seines Schreibauftrags: Seine »Suche« mit ihren Verfahren der Dokumentation und der Beschreibung ist weniger eine innere als eine äußere Suche. Burkhardt Lindner umschreibt ihn als eine Figur, die »eher Zeuge als Held«62 ist. Sie zeigt weniger ihre eigenen Fragen, Probleme, Positionen und Zweifel, sondern bewegt sich beobachtend durch ihr Umfeld, um die anderer zu dokumentieren und auch zu kontrastieren. Ihre Funktion liegt, wie Arndt Beise treffend festgestellt hat, weniger im Erleben eines spezifischen historischen Umfelds als vielmehr im Wahrnehmen jenes Umfelds.63 Die Figuren in der Ästhetik des Widerstands, denen hauptsächlich das Erleben zufällt (wie die Mutter oder die Mitglieder der »Roten Kapelle«), sind dadurch gekennzeichnet, dass sie größtenteils die erzählte Zeit nicht überleben. Der Protagonist wird mithin zu einer der ganz wenigen Figuren, die aus großer Nähe wahrnehmen können, aber »befreit [bleiben] von den äußersten Prüfungen, der direkten physischen Bedrohung, der nackten Angst vor dem Tod.«64 Er lernt die Schrecken und auch die unlösbaren Probleme seines Umfelds genau kennen, bleibt dabei aber in genügender Weise unversehrt, um, wie Dantes Protagonist, die Hölle wieder zu verlassen. Er kann in die »Außenwelt« zurückkehren und die Rolle desjenigen übernehmen, der für all die Geschehnisse

60 Kane, Martin: Peter Weiss. Die Ästhetik des Widerstands, in: Bullivant, Keith (Hg.): Subjektivität – Innerlichkeit – Abkehr vom Politischen? Tendenzen der deutschsprachigen Literatur der 70er Jahre. Bonn 1986, S. 277-287, hier S. 282. 61 Schmitt: Peter Weiss, S. 86. 62 Lindner: Halluzinatorischer Realismus, S. 175. Unter diesem Aspekt lässt sich die Erzählerfigur sehr gut mit der Erzählerfigur der Reise kontrastieren, die den Blick der Lesenden besonders stark auf ihre eigenen Handlungen und Gedanken, ihr eigenes Erleben richtet. 63 Vgl. Beise, Arndt: Peter Weiss. Stuttgart 2002, S. 227. 64 Heukenkamp: Angelus novus, S. 102. Eine andere Figur, auf die dies noch zutreffen könnte, ist Lotte Bischoff. Auf sie fokussieren die wenigen heterodiegetischen Erzählpassagen, die nicht homodiegetisch von der männlichen Erzählerfigur erzählt werden.

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Worte findet und sie der Kommunikation zugänglich macht. Seine Sprache über sein Schreiben bildet genau dies ab: Von jetzt an war mein Bewußtsein vom Prozeß des Schreibens erfüllt, es war darin ein Registrieren von Impulsen, Aussagen, Erinnrungsbildern, Handlungsmomenten, alles bisherige war Vorübung gewesen, alles Schwankende, Zersplitterte, Vieldeutige, alle brodelnden Monologe wurden zum Resonanzboden für meine Gedanken und Reflexionen. Ich blickte hinein in einen Mechanismus, der siebte, filtrierte, scheinbar Unzusammenhängendes zu Gliederungen brachte, der Vernommnes, Erfahrnes zu Sätzen ordnete, der ständig nach Formulierungen suchte, Verdeutlichungen anstrebte, vorstieß zu immer wieder neuen Schichten der Anschaulichkeit. (ÄdW: 830)

Alle Worte, die er verwendet, um seinen Schreibprozess zu charakterisieren, verweisen darauf, dass er etwas verarbeitet, das sehr nah an ihm liegt, aber dennoch klar außerhalb von ihm. Er »blickt«, »registriert«, »siebt«, »filtert«, »gliedert« und »ordnet« die Erlebnisse, Positionen und Probleme, an denen andere Figuren zerbrechen mussten. Was auf der Ebene der histoire des Textes inszeniert wird, schlägt sich auch auf der Ebene des discours nieder: Der Schriftsteller Peter Weiss ist kein direkter Zeitzeuge der erzählten Geschehnisse und generiert seinen Text aus intensivem Quellenstudium, nachträglichen Ortsbegehungen und Gesprächen mit überlebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.65 Mit seiner als Individuum »blutarmen« und ganz entlang den Linien des linken Widerstands angelegten Erzählerfigur findet er eine Möglichkeit, jene Quellen weitestmöglich für sich sprechen zu lassen: [D]er Erzähler 66 der Romantrilogie ist vorwiegend auf sekundäre Quellen angewiesen. Das erklärt auch zum Teil, warum er in geringerem Umfang ein Eigenleben lebt, daß er

65 Weiss hat seinen Rechercheprozess für die Romantrilogie ausführlich in seinen Notizbüchern dokumentiert. Eine erste Auswertung der Notizbücher in Bezug auf die Ästhetik des Widerstands nimmt Burkhardt Lindner vor (vgl. Lindner: Halluzinatorischer Realismus). 66 Ich gehe davon aus, dass Manfred Haiduk hier nicht meint, dass die Erzählerfigur im Rahmen der Handlung sekundäre Quellen verwendet, sondern eher, dass die Konstruktion der Erzählerfigur durch Weiss über sekundäre Quellen erfolgt ist.

162 | P ROTEXTE zum Sprachrohr des Autors und der vielen Gestalten der Ästhetik wird, zum Vehikel, um kontroversielle Meinungen zu transportieren.67

Vehikel, Sprachrohr und »Verstärker«68 sind Worte, die die Funktion der schreibenden Erzählerfigur charakterisieren. Weiss macht sie zum näherungsweise neutralen Ort der Sammlung und Konfrontation sämtlicher Positionen, die im Umfeld des linken Widerstands während des erzählten Zeitraums denkbar sind. Schon bevor sich der Protagonist zum Schreiben entscheidet, ist diese Funktion angelegt durch die zahlreichen langen Gespräche, die er mit verschiedenen nichtfiktiven Figuren wie z.B. Hans Coppi, Max Hodann, Willi Münzenberg, Lotte Bischoff, Jakob Rosner und Richard Stahlmann führt. Sämtliche Gespräche sind so angelegt, dass sie vor allem die Position der Gesprächspartner sichtbar machen: Die Erzählerfigur hält sich mit Bewertungen zurück, hat einen weitaus geringeren Redeanteil und fungiert in vielen Fällen eher als Stichwortgeber denn als Diskussionspartner. Dies vermag zu klären, was genau diese Figur »mehr ist als eine Einzelperson«: In ihr sind umfassende Diskurse linkspolitischer Opposition dokumentiert, was nur zustande kommen kann dadurch, dass sie sich im Laufe der Handlung selbst die Aufgabe stellt, diese zu erfassen. Die Ausarbeitung der Notizen zu diesen Gesprächen wurde diktiert wie von einem Chor. Nicht nur Rogebys, Ströms Stimme hörte ich, sondern die Stimmen aller derer, die genannt worden, die aufgetaucht waren und jetzt Gestalt annahmen. Ich begann meine neue Tätigkeit als ein Chronist, der gemeinsames Denken wiedergab. (ÄdW: 830)

Das Ich der Ästhetik des Widerstands ist Resonanzkörper eines »Chors« oder, wie Peter Weiss selbst formuliert hat, ein »kollektives Ich«.69 Somit kann diese Figur selbst gar keine charakterliche Tiefe haben – sie existiert hauptsächlich, um die gesammelten und teilweise widersprüchlichen Positionen ihrer Umgebung aufzuzeichnen. Von daher würde ich an dieser Stelle Maria Schmitts Deu67 Haiduk, Manfred: Dokument und Fiktion. Zur autobiographischen Grundlage in Peter Weissʼ Romantrilogie ›Die Ästhetik des Widerstands‹, in: Stephan (Hg.): Die Ästhetik des Widerstands, S. 59-78, hier S. 69. Ähnlich argumentiert auch Heukenkamp: Angelus novus, S. 109f. 68 Peter Weiss im Interview mit Hannes Heer: Der befreite Laokoon. Zu Peter Weissʼ ›Ästhetik des Widerstands‹ (Rundfunkmanuskript des WDR III vom 30.11.1979), S. 14, zit. nach Lindner: Halluzinatorischer Realismus, S. 175). 69 Ebd., S. 176.

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tung der Erzählerfigur widersprechen. Schmitt deutet ihre fehlende Individualität so, dass diese »unter dem permanenten Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse verlorengeht.«70 Die Erzählerfigur verliert meiner Ansicht nach nicht im Verlauf der Handlung ihre Individualität – sie hat sie nie besessen, da sie als Figur das Kollektiv dokumentiert und somit nur aus Kollektivität besteht. Im Übrigen ist die Anlage der Figur auch dafür verantwortlich, dass sie deutlich mehr weiß als man es ob ihrer sozialen Herkunft erwarten würde. Als individuelle Figur gelesen, die alle im Roman vorkommenden Themen, Problemstellungen und auch Kunstwerke verinnerlicht hat, wirft sie in der Tat die Frage Martin Kanes auf, »warum der Erzähler nicht sofort seine miserable Tätigkeit als Lagergehilfe bei Alfa Laval gekündigt hat, um sich um den nächstbesten Lehrstuhl für kosmopolitische Kulturwissenschaften zu bewerben.«71 Kane deutet die Erzählerfigur weniger als Bündelungspunkt von Diskursen denn als modifiziertes Selbstportrait des Schriftstellers. Die Lesart, dass Weiss in seiner Erzählerfigur »eine politisierte, politisch bewußtere Version seines eigenen früheren Ichs«72 geschaffen hat, ist in der Peter Weiss-Forschung häufiger vertreten. Sie entspringt einer berühmten Äußerung Peter Weiss’ nach Erscheinen des ersten Bandes, von der er sich später distanziert hat: Es ist eine Wunschautobiographie. Eine Selbstbiographie, die in sehr vielem meiner eigenen Entwicklung folgt, die aber gleichzeitig das Experiment macht: wie wäre ich geworden, wie hätte ich mich entwickelt, wenn ich nicht aus bürgerlich-kleinbürgerlichem Milieu käme, sondern aus proletarischem. Das ist eines der Themen.73

Vor allem direkt nach Erscheinen des ersten Bands ist Weiss für dieses »Experiment« scharf kritisiert worden: Ihm wurde vorgeworfen, sich zum »Wunschproletarier«74 zu stilisieren, sich einen »roten Heiligenschein ums eigne Haupt« zu legen75 und sich im Roman nachträglich mit den fremden Federn des Wider70 Schmitt: Peter Weiss, S. 86. 71 Kane: Peter Weiss, S. 282. 72 Ebd., S. 277. 73 Michaelis: Es ist eine Wunschautobiographie. 74 Hammer, Wolfgang: Autobiographie eines Wunschproletariers, in: Badische Zeitung vom 16.12.1975, zit. nach Lilienthal, Volker: Literaturkritik als politische Lektüre am Beispiel der Rezeption der ›Ästhetik des Widerstands‹ von Peter Weiss. Berlin 1988, S. 161. 75 Schonauer, Franz: Roter Heiligenschein ums eigne Haupt, in: Der Tagesspiegel vom 25.02.1975, zit. nach Lilienthal: Literaturkritik, S. 161.

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stands zu schmücken. Was bei dieser Art von Kritik aber gern übersehen wurde, ist, dass der Protagonist der Ästhetik des Widerstands gerade nicht dazu dient, eine praktische Widerstandshandlung auszuführen, die Peter Weiss gern ausgeführt hätte. Der Protagonist hat im Setting der Romantrilogie einen sehr ähnlichen Schreibauftrag zu dem, dem sich Peter Weiss 25 Jahre später stellt. In jedem Fall erinnern Peter Weiss’ Äußerungen über den zentralen Motor seines eigenen Schreibens stark an die zuvor zitierten des Protagonisten: »Wie kann ich das ausdrücken? Das ist, glaube ich, eine zentrale Frage, die das ganze Buch durchzieht, die Frage, die ich vor vielen Jahren hatte.«76 So ist die Ästhetik des Widerstands tatsächlich in gewisser Weise ein »fiktives Nachholen verpaßter Gelegenheiten« 77 , wie Martin Kane meint – allerdings vorrangig, was das Schreiben betrifft. Weiss verlagert seine eigene, nachträgliche Dokumentation auf Basis von Recherchen auf eine Figur der erzählten Welt, die ansonsten kaum Anteil an der Handlung des Widerstands hat. Nachgeholt werden durch Peter Weiss also in erster Linie eine Dokumentation und damit auch eine Kommunikation, die damals nicht stattgefunden haben. Wichtig sind weniger die erschriebenen Widerstandshandlungen der fiktiven Figur, sondern ihr Schreibauftrag. Er (und nicht die Handlungen der Figur) schafft es, zwei Wünsche der Entstehungszeit Anfang der 1970er Jahre einzulösen: den linken Widerstand der 1930er und 1940er Jahre nachträglich zu stärken und ihm zu einer Stimme zu verhelfen sowie mit dem Chronisten eine Subjektposition jenseits der unangenehmen und teilweise widersprüchlichen Täter- und Opferkonstellationen zu schaffen.

ARBEITER , S CHREIBEN UND W IDERSTAND Der zweite Teil dieses Kapitels soll einer ganz besonderen »Opferschaft« und ihren Implikationen für Widerstand und Schreiben gewidmet sein: der des Arbeiters bzw. »Proletariers«.78 Besonders ist sie deshalb, weil sie zum einen nahtlos in die Liste übertragener Opferschaften von Juden, Vietnamesen und Fürsorgezöglingen integrierbar ist, zum anderen zusätzlich innerhalb eines marxistischen Weltbilds die Frage aufwirft, wer das ausführende Subjekt der gesellschaftlichen 76 Peter Weiss im Interview mit Heinz Ludwig Arnold (19.09.1981), abgedruckt in: Stephan (Hg.): Die Ästhetik des Widerstands, S. 11-58, hier S. 46. 77 Kane: Peter Weiss, S. 283. 78 Diese beiden Begriffe sowie den der »Studenten« werde ich im Folgenden bewusst nur in der männlichen Form verwenden, da sie ausschließlich in dieser Form in den verschiedenen kulturellen Texten vorkommen.

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Umbrüche ist bzw. sein darf. In beiden hier untersuchten Texten ist die »Arbeiterklasse« Thema, sowohl als inhaltliches Element als auch in Bezug auf die zugrunde liegende Poetik. Vespers Roman zeigt viel über den Umgang der Mitglieder der Studentenbewegung mit den Arbeitern. Es ist bereits deutlich geworden, dass Bernward Pierre Vallières um seine Herkunft aus dem Arbeitermilieu beneidet, die es ihm ermöglicht, das Feindbild »klar zu sehen« und selbst in jedem Fall außerhalb von ihm zu sein. Doch auch schon in früheren Passagen spielen Arbeiter in Bezug auf Bernwards Identität eine Rolle. Der aus einem großbürgerlichen Elternhaus stammende Bernward empfindet von seiner Kindheit an eine gewisse Faszination für die Arbeiter, denen er begegnet. So deutet er beispielsweise das Verhalten des Hofarbeiters Szinke nicht wie alle anderen als Bildungsferne, sondern vermutet dahinter ein geheimes, ihm unzugängliches Wissen: »Aber dann lachte man über [Szinke], weil er die Zeitung, die er angeblich las, verkehrtrum hielt. Das verstand ich nicht. Vielleicht las er wirklich was, vielleicht was ganz andres, was nur er entziffern konnte?« (DR: 185) Auch sucht Bernward stärker den Kontakt zu den Hofarbeitern als zu seiner Familie: »kontakt mit dem proletariat machte mir spaß! arbeit im moor, (mit tißler, lorenkippen) bei wind, schienenschleppen, das waren die glücklicheren augenblicke« (DR: 646). So notiert er retrospektiv über seine Kindheit. Auffällig ist zunächst, wie stark die Darstellung von Klischees harter, körperlicher Arbeit durchsetzt ist: Die Arbeit findet »bei wind« statt, die Schienen werden »geschleppt«. Die Arbeiter erscheinen als »das proletariat«, weniger als Individuen denn als idealer Raum oder Sphäre. In ihm bewegt sich der junge Bernward mit »spaß«, aber auch, wie er zunehmend merkt, als Fremder. Diese Fremdheit versucht er fortan zu überwinden – die Reise schildert zahlreiche Situationen, in denen ihm vorgeführt wird, dass er bei aller Offenheit dennoch Außenseiter ist. Für die Hofarbeiter bleibt er trotz seiner Versuche, ihre Arbeit mitzumachen und damit ihre Rolle zu adaptieren, der Sohn des Hofbesitzers: »Immer bemerkte ich, daß mich die Arbeiter anders behandelten als sich selbst, sei es, daß sie besonders hart und männlich auftraten, sei es, daß sie versuchten, mich zu schonen, was ich haßte, denn was sie konnten, würde ich auch können.« (DR: 522) Als er später während seiner Buchhändlerlehre zur Hospitation in die Produktionshalle geschickt wird, stellt er wieder enttäuscht fest, dass er den Arbeitern an den Maschinen fremd bleibt. Hier beginnt er erstmalig zu reflektieren, was ihn von den Arbeitern »trennt«: »Aber es lag nicht nur an der Kürze der Zeit, anderes trennte mehr, die Sprache, die Gesten, die Kleidung. Irgendwann würde ich wieder in den andren Flügel hinüberwechseln, einen weißen Kittel anziehen und ein Gehalt beziehen.« (DR: 559f.) Neben dem abweichenden Habitus

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(Sprache, Gesten, Kleidung) bemerkt er nun, dass ihn die theoretische Chance, jederzeit in den Raum des Bürgerlichen zurückzukehren, zum Fremden macht. Eigentlich weiß er schon, dass er in der Maschinenhalle nicht sein Leben verbringen muss (und wird). Implizit gesteht er sich damit ein, dass seine Identifikation künstlich und nicht authentisch ist. Zusätzlich fällt ihm schwer zu verstehen, dass die Arbeiter die Wut über ihren eigenen »Opferstatus«, die er selbst so gern empfinden würde, gar nicht zu empfinden scheinen. In Bernwards Augen stellt es – wie gezeigt – einen Vorteil dar, auf der Seite der »Unterdrückten« zu stehen und einen »Unterdrücker« vor sich zu haben, der klar auf der anderen Seite steht. Doch statt mit klassenkampfeswilligen Arbeitern, die ihre klare Frontstellung zu nutzen wissen, sieht sich Bernward »mit einer Arbeiterklasse konfrontiert, die saturiert und zufrieden ist und keinerlei Interesse an revolutionärer Tätigkeit verspürt«79: In den kurzen Pausen, wenn die Maschinen abgestellt wurden, die Arbeiter aus dem Waschraum kamen, die Brote auspackten und ihre Thermosflaschen öffneten oder CocaCola aus den Automaten zogen, sah ich mir ihre Gesichter an, während ich selber dasaß, die Tasche zwischen den Knien, und dachte daran, was für ein Leben sie eigentlich gelebt hatten […]. Von einigen wußte ich, daß sie einen kleinen Schrebergarten bearbeiteten, andre sammelten Briefmarken, spielten Akkordeon, lasen Krimis. Einige legten ihre Meisterprüfung ab, zogen in den Metteurkasten um, teilten die Arbeit der Kollegen ein, aber keiner drang weiter vor – die Direktorenstühle waren seit Menschengedenken besetzt. (DR: 561)

Bernward (und mit ihm sein soziales Umfeld) wird von diesen revolutionsunwilligen Arbeitern in eine gewisse Zwickmühle gebracht: Er möchte den gesellschaftlichen Umbruch, die Zerschlagung hierarchischer Strukturen. Nun kommt es ihm aber im Rahmen des historischen Materialismus gar nicht zu, jenen Umbruch aktiv herbeizuführen. Der Umbruch muss von der Arbeiterschaft ausgehen – er selbst gehört schließlich von seiner Herkunft her zu den Unterdrückern. Nur wollen die meisten der bewunderten und beneideten Arbeiter ihr Feindbild partout nicht widerständisch angehen. Die Historikerin Marica Tolomelli hat in ihrer Studie zur Politisierung der Arbeiterschaft um 1968 verschiedene Gründe herausgearbeitet, warum speziell in der BRD die Arbeiter schwer zu radikalisieren waren: Die Arbeiterschaft in der BRD hatte sich mit einem dichten und aktiven Netz von Gewerkschaften früh eine institutionalisierte Form der Konflikt-

79 Reidy: Vergessen, was Eltern sind, S. 159.

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führung mit ihren Vorgesetzten geschaffen.80 Die politischen Interessen der Arbeiterschaft sind um 1968 also fast vollständig innerhalb von Organisationen gebündelt. Sie äußern sich mithin kaum in Form von offener Konfrontation, sondern werden betriebs- oder zumindest branchenintern verhandelt. 81 Zusätzlich sind die Gewerkschaften als Institutionen zu großen Teilen demokratisch orientiert, d.h. sie lehnen es ab, grundlegend gegen das bestehende System zu opponieren82 und sind nicht bereit, sich in dem Maß zu radikalisieren wie die Studenten.83 Was die Studenten von ihnen im Rahmen eines offensiven Klassenkampfes verlangen, befindet sich für sie »außerhalb der politisch legitimierten Kommunikationsräume«. 84 Zu dem Problem, dass die meisten Arbeiter die politischen Kommunikationsstrategien der Studenten ablehnen, tritt in der Reise das der Kommunikation mit den Studenten. Dass die meisten Kontakte mit Arbeitern schwierig sind und die Erwartungen der Studenten enttäuschen, klingt in Vespers Text immer wieder an: »Studentische Kader, von ihrer Gruppe mit kurzgeschorenen Haaren im Proletarier-Look in die Lehrwerkstatt eines Konzerns geschickt, sahen sich dort hippen Proleten gegenüber, deren Sprache sie nicht einmal mehr verstanden […].« (DR: 506) Obwohl sich die Studenten hier redlich bemühen, sich dem Habitus der Arbeiter (oder was sie dafür halten) anzupassen, sehen sie sich unerwarteter Weise Menschen gegenüber, deren kommunikative

80 Vgl. Tolomelli, Marica: ›Repressiv getrennt‹ oder ›organisch verbündet‹: Studenten und Arbeiter 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien. Opladen 2001, S. 290. 81 Vgl. ebd., S. 100. 82 Vgl. Tolomelli, Marica: 1968: Formen der Interaktion zwischen Studenten- und Arbeiterbewegung in Italien und der Bundesrepublik, in: Gilcher-Holtey, Ingrid (Hg.): 1968 – vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1998, S. 82-100, hier S. 92. 83 Horn: Arbeiter und Studenten, S. 201. Mehrere Beiträge, die sich mit der Interaktion von Arbeitern und Studenten um 1968 beschäftigen, arbeiten heraus, dass sich die Mehrzahl der Arbeiter generell von der Radikalität der Studenten abgestoßen fühlte und dass sowohl sie persönlich als auch die Gewerkschaften als Institutionen eher an einer öffentlichen Distanzierung von der Studentenbewegung interessiert waren (vgl. ebd., S. 202; Tolomelli: 1968, S. 91 sowie Andresen, Knud: The West German Lehrlingsbewegung, 1969-1972. Why there is no ›68er-generation‹ of young workers, in: Goltz, Anna von der (Hg.): ›Talkin’ ’bout my generation‹. Conflicts of generation building and Europe’s ›1968‹. Göttingen 2011, S. 216-229, hier S. 227f.). 84 Tolomelli: Repressiv getrennt, S. 314.

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Codes sie schlichtweg nicht kennen. Dass dies umgekehrt genauso gilt, zeigt eine von Henner Voss überlieferte Anekdote über Vesper: Sogar den Postboten, der uns Päckchen und Pakete brachte, nervte er mit seinem akademischen Intellektualismus, indem er ihm kleine Vorlesungen über Bücher hielt. Hatte er endlich den Empfang bestätigt, fragte er ›Quo vadis nunc, amice?‹ Der Befragte, vermutlich monolingual, verkniff sich die Antwort, die sein Zunge kitzelte: ›Fick dich doch selbst, du hirnrissiger Flachwichser.‹ Und checkte den Fluchtweg.85

In seinem unbedingten Willen, Kontakt mit dem »proletarischen« Postboten aufzunehmen und ihn an seiner Bildung teilhaben zu lassen, übersieht der Student Vesper völlig, dass sein Gegenüber weder die Chance noch das Interesse hat, seinen Ausführungen zu folgen. Vesper liefert hier ein Beispiel für die »gewisse belehrende Einstellung«86, die Marica Tolomelli den meisten an die Arbeiterschaft adressierten Texten aus der Studentenbewegung attestiert. Durch die ernüchternden Erfahrungen, weder selbst zu den Arbeitern gehören zu können noch die Arbeiter zur Einlösung ihrer revolutionären Aufgabe bringen zu können, beschäftigt Bernward sich mit alternativen Möglichkeiten, den Umbruch herbeizuführen. Julian Reidy zeigt ausführlich, wie Gedanken und Lösungsansätze aus den Theorien der New Left in die Reise einfließen. 87 Eine der Kernideen des New Left-Theoriekomplexes ist es, die Rolle des revolutionären Subjekts von der Arbeiterschaft auf die Kreise junger Intellektueller zu verlagern.88 Seine Theoretiker erklären die Arbeiterbewegung für gescheitert bzw. die Arbeiterschaft als mit Konsumgütern ruhiggestellt. Statt der aktuellen Arbeiterschaft, die sich als »integriert, selbstzufrieden und politisch passiv«89 und als mit der ihr auferlegten Aufgabe innerhalb der modernen Gesellschaft überfordert herausgestellt hat, soll die »young intelligentsia« den Umbruch herbeiführen oder sich zumindest an ihm beteiligen.90 Die meisten der neuen Theorieentwürfe und Positionsbestimmungen der New Left kamen aus den USA. Julian Reidy macht im Falle Vespers Charles Wright Mills und Herbert Marcuse als haupt85 Voss: Vor der Reise, S. 46. 86 Tolomelli: Repressiv getrennt, S. 298. 87 Vgl. Reidy: Vergessen, was Eltern sind, S. 156f.; zur Theoriegrundlage der New Left vor allem Fußnote 766. 88 Vgl. Tolomelli: Repressiv getrennt, S. 121-124 sowie Thomas Hecken: Gegenkultur und Avantgarde, S. 163-165. 89 Tolomelli: 1968, S. 97. 90 Vgl. Tolomelli: Repressiv getrennt, S. 122f.

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sächliche (wenn auch teilweise verkürzt rezipierte) Einflüsse aus.91 Vesper lässt seinen Protagonisten ausführlich über die Problematik reflektieren, dass ein revolutionärer Akt seinerseits immer einer sein muss, der sich auch gegen ihn selbst (als Angehörigen einer der »unterdrückerischen« Klassen) richtet. Interessanterweise formuliert er diese Problematik als an den »Proletarier« Pierre Vallières gerichtete Rede: Wir Kinder der Bourgeoisie […] haben gar keine andre Wahl als unsre Klasse zu verurteilen […]. Für Vallières waren die ›bürgerlichen Werte‹ nur ein Mittel, um das Bewußtsein dessen zu erlangen, was er in Wahrheit schon immer gewesen war: eines Proletariers. Für uns bestand eine reale Identität zwischen diesen Werten und unserer Klassenlage, und wir haben kein wahres Ich zu entdecken, das wir akzeptieren könnten. […] So wird von uns ein viel radikaleres Umdenken, eine tiefgreifende Umstrukturierung gefordert, und dieser Prozeß, der nie zu einem Wiedererkennen führen wird, nimmt unsre Kraft über Gebühr in Anspruch, Genosse Vallières! (DR: 445f.)

Im fiktiven Gespräch mit »dem Arbeiter« erklärt Bernward die Schwierigkeiten, die ein solcher »Aufstand gegen sich selbst«92 im Vergleich zum Aufstand aus der Position eines Arbeiters mit sich bringt. In Bernwards realen und fiktiven Kontakten mit Arbeitern wird immer wieder deutlich, wie stark er sich bemüht, ihnen gegenüber eine glaubhafte und stabile Subjektposition zu erringen, von der sein Widerstand ausgeht. Dies verweist auf eine weitere Friktion, die der Text Die Reise enthält: Bernward steht im Konflikt, sich sowohl für sein Handeln als auch für sein Nicht-Handeln potentiell entschuldigen zu müssen. Gleichzeitig rechtfertigt sich dafür, dass er handelt (obwohl er kein Arbeiter ist) und dafür, dass er nicht genug handelt bzw. sein Handeln nicht genügend ändert (weil er zusätzlich mit der Neubewertung seines Herkunftsmilieus zu kämpfen hat). Eine Antwort oder Reaktion von einem Arbeiter bekommt er während der gesamten Handlung übrigens nicht. Seine Reflexionen finden in einer gänzlich von den vorkommenden Arbeitern abgetrennten Sphäre statt, die Friktion bleibt unaufgelöst stehen.

91 Als wichtiger Theorietext innerhalb der deutschen Studentenbewegung kann ferner der Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums gelten, der im Rahmen der Kommune 2 und in Reaktion auf die amerikanischen Vordenker entstand (Bookhagen, Christl (Hg.): Kommune II: Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums – kollektives Leben mit politischer Arbeit verbinden. Berlin 1969). 92 Ebd., S. 299.

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Im Falle der Ästhetik des Widerstands wird der Widerstand dagegen aus der Perspektive eines Fabrikarbeiters und »Proletariers« erzählt. Diese Figur ist, im Gegensatz zu Vespers Figur, durch ihre Sozialisation mit dem Milieu der Arbeiter und, entscheidend, der Arbeiterbewegung bestens vertraut. Weiss’ Protagonist erzählt folglich alles unter diesen Vorzeichen: Es ist im gesamten Text stetig präsent, dass er Arbeiter ist und sich innerhalb einer bestimmten Genealogie sieht. Beispielsweise versucht er fast alle seine politischen Eindrücke und Erfahrungen ins Verhältnis zu setzen zu der Geschichte älterer politisch aktiver Arbeiter, die er trifft; ganz besonders zu der Geschichte seines Vaters, einem Sozialdemokraten der frühen Stunde. Hier möchte ich die These anführen, dass auch die Anlage dieser Arbeiterfigur und ihre Konsequenzen für die Poetik des Textes sich hauptsächlich aus Diskursen der Entstehungszeit des Textes speisen bzw. auf ein Kommunikationsproblem dieser Entstehungszeit reagieren. Peter Weiss’ Entscheidung, seine Erzählerfigur zum Arbeiter zu machen, erwies sich, wie bereits erwähnt, nach dem Erscheinen des Textes als stärkster Kritikpunkt. Zum einen bezog sich die Kritik auf den Verdacht, Weiss als Kind eines bürgerlichen Elternhauses versuche sich durch den Text (gelesen als »Wunschautobiographie«) eine in den Augen seiner Umgebung »sauberere« Lebens- und Herkunftsgeschichte zu erschreiben.93 Zum anderen wurde seine Arbeiterfigur als wenig authentisch in Bezug auf ihr Wissen und ihre Denkleistungen wahrgenommen.94 Zweifellos haben wir es mit einem Arbeiter zu tun, der aus einer ungewöhnlich lesefreudigen Arbeiterfamilie kommt, der mit großem Ehrgeiz Kunstwerke rezipiert und diese, zwar immer auf der Folie seines Herkunftsmilieus und dessen Geschichte, aber hochdifferenziert reflektiert. Damit ist er als Figur so angelegt, dass er einerseits das Milieu der Arbeiterschaft sehr genau kennt, andererseits viele Berührungspunkte mit dem bildungsbürgerlichen Milieu hat (dem Peter Weiss und vermutlich der größte Teil des Lesepublikums entstammen). Zu seinen Gesprächspartnern aus der Arbeiterbewegung gesellen sich auch zu gleichen Teilen Gesprächspartner bürgerlicher Herkunft, wie z.B. der Arzt Max Hodann, der Abgeordnete Erik Palmstierna und, im dritten Band, Karin Boye. Weiss schafft mit seinem Protagonisten eine Reflexionsfigur, die es in den Kreisen der Studentenbewegung eher selten gegeben haben dürfte: Sein Protagonist besitzt authentisches »Insiderwissen« aus dem Milieu der Arbeiter. Er kann mit ihnen kommunizieren und hat ein unangreifbares und direktes Interesse an ihrer Emanzipation, sein Widerstand entstammt einer glaubhaften Defensivposition. Gleich93 Vgl. Baumgart, Reinhard: Ein rot geträumtes Leben, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.10.1975. 94 Vgl. Kane: Peter Weiss, S. 281.

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zeitig steht er den Belangen und auch den Ausdrucksmitteln intellektueller Milieus aufgeschlossen gegenüber, versteht sie und kann auch dort auf Augenhöhe kommunizieren. Gelesen als Individuum, das einem eher bildungsfernen Milieu entstammt und täglich lange, anstrengende Schichten in einer Fabrik ableistet, mutet er als Figur tatsächlich »überfrachtet«95 an. Schaut man sich jedoch genauer an, womit er befrachtet ist, zeigt sich, dass ihn vor allem die Fähigkeit auszeichnet, in mehreren Milieus gleichermaßen kommunizieren zu können und ihr jeweils spezifisches Wissen reflektierend miteinander verbinden zu können. Der Arbeiter-Erzähler der Ästhetik des Widerstands ist ein Arbeiter, wie ihn sich viele Akteurinnen und Akteure um 1968 vielleicht als Kommunikationspartner gewünscht hätten – authentisch und gebildet zugleich, gewillt zum offenen Klassenkampf und zum dokumentierenden Schreiben/Reflektieren gleichermaßen. Er vermag eine kommunikative Brücke zu schlagen nicht nur zwischen den unterschiedlichen Positionen seiner Umgebung, sondern auch zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen, die potentiell Interesse an gesellschaftlicher Veränderung haben oder hatten. Wenn man ihn weiterhin mit Peter Weiss identifizieren möchte, müsste unter dieser Voraussetzung neu reflektiert werden, welchen Effekt und welche Funktion die »biographische Anpassung« hin zum Arbeiter hat. Weiss würde in diesem Fall seiner Biographie und seinem bildungsbürgerlichen Wissen nicht nur eine Arbeiteridentität »aufgesetzt« haben, um ein schlechtes Gewissen zu beruhigen, sondern würde sein fiktives Ich dadurch auch zu einer Kommunikationsplattform zwischen den sozialen Milieus machen. Für meine Argumentation ist an dieser Stelle hauptsächlich wichtig, dass diese vermittelnde Plattform in der Erzählerfigur angelegt wird und auf fiktiver Ebene ein Kommunikationsdesiderat der Entstehungszeit erfüllt. Was bei Vesper als unüberwindliche Friktion in Erscheinung tritt, erfährt bei Weiss eine Auflösung: In dem Setting, das er schafft, können und wollen oppositionelle Arbeiter und Intellektuelle miteinander kommunizieren und gemeinsam kämpfen. Die authentische Unterdrückungserfahrung und das »Geheimwissen« der Arbeiter werden in der Person des Protagonisten vereint und vermittelt mit den Fragen und Interessen, die intellektuelle Oppositionelle haben. Dieser Arbeiter hat nicht nur von sich aus die begehrte Erfahrung, sondern auch die intellektuellen Möglichkeiten, diese zu reflektieren – unter anderem in Bezug auf das Schreiben als politisches Subjekt. Freilich ist diese »Auflösung«, die in der Ästhetik des Widerstands angeboten wird, eine rein literarische: Es ist bereits mehrfach deutlich geworden, dass ihr Protagonist eine hochgradig konstruierte Figur mit einer sehr definierten literarischen Funktion ist. Damit gibt er, ähnlich wie die Figur Tommy im vorherigen 95 Ebd.

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Kapitel, keine »lebbare« Lösung für die Friktion außerhalb der Literatur vor, sondern steht eher für eine zeitgenössische Sehnsucht nach dieser Lösung. In fast allen Passagen, in denen der Protagonist über eigene Schreibprozesse spricht, spielt seine Situation als Arbeiter und Proletarier eine wichtige Rolle: Einer der Ansprüche an sein Schreiben besteht darin, sich speziell aus dieser Situation heraus eine Sprache zu erarbeiten. Die Wahrnehmung seiner Situation als Arbeiter schwankt stetig zwischen einem Hemmnis und einer Inspirationsquelle für sein Schreiben: Und doch, wie viele Geschichten lagen verborgen in den wortlos geübten Handhabungen mit Schaufeln, Greifzangen und Karren, wieviel Geschichte lag gespeichert in den einförmigen Bewegungen zwischen Kolben, Riemen, Rädern, Hebeln, Stangen, Rohren, Luken und Schächten. Dies alles, von der Entmutigung längst zu etwas gemacht, das des Erwähnens nicht wert war, hätte zum Stoff für mein Schreiben werden können, und alle hätten darin die Kraft erkennen können, die zur Verändrung ihrer Lage führen mochte, nur blieb uns nie die Zeit, in diesen tiefern Schichten zu graben […]. (ÄdW: 910f.)

Weil er Arbeiter ist und täglich in die Fabrik geht, macht er beschreibenswerte Erfahrungen, deren Dokumentation möglicherweise geeignet wäre, andere Arbeiter zur »Verändrung ihrer Lage« zu motivieren96 (woran z.B. Bernward als Nicht-Arbeiter scheitert). Gleichzeitig ist er »entmutigt« und hat »nie die Zeit«, jene Beschreibungen anzugehen – ebenfalls, weil er Arbeiter ist. Damit ist dieser Protagonist Träger jenes rätselhaften Wissens der Arbeiter, das Bernward so bewundert und verzweifelt sucht. Seine Versuche, es zu versprachlichen, treffen jedoch auf ganz andere, handfeste Hindernisse: Er ist von der Arbeit körperlich und geistig »ausgehöhlt« (ÄdW: 909), existenzielle Ängste und die »ständig drohende ökonomische Notlage« (ÄdW: 889) überlagern sein Schreiben – und vor allem kämpft er mit der »Entmutigung«, sich zu äußern. Diese »Scheu vor dem selbstbewußten Notieren« (ÄdW: 910) führt er auf seine Sozialisation innerhalb einer Gesellschaft zurück, die den unteren sozialen Schichten seit Generationen nicht zugesteht, etwas Wichtiges zu sagen zu haben oder überhaupt ihre Gedanken und Gefühle öffentlich zu Gehör bringen zu dürfen. Er gehört von seiner Herkunft her nicht automatisch zu den »Schreibkundigen« (ÄdW: 161); er muss sich mühsam aus der Stummheit herausarbeiten, die die Gesellschaft für 96 An anderen Stellen wird deutlich, dass das Beschreiben auch ihm selbst hilft, seine Situation überhaupt zu erfassen und davon Reflexionen ausgehen zu lassen (vgl. z.B.: »schreibend erst würde ich ganz begreifen können, wie das ist, dieses Leben im körperlichen Verschleiß.« (ÄdW: 889)).

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ihn vorsieht. Sein Schreiben ist auch unter diesem Aspekt davon gezeichnet, dass er noch nach Sprache ringt und die ihm gesellschaftlich angetragene Sprachlosigkeit wieder und wieder in jedem Schreibakt überwinden muss: »[B]ei jedem Satz war das Denkenlernen, das Sprechenlernen gegenwärtig, die Kluft zwischen der Erkenntnis und der Sprachlosigkeit, die überbrückt werden mußte.« (ÄdW: 46) Sein Schreiben ist damit in doppeltem Sinne vom »Suchen« und »Tasten« geprägt: der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten für die unermessliche Gewalt, deren Zeuge er ständig wird sowie der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten in seiner Situation als Arbeiter.97 Ähnlich wie für seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Widerstand, die das Kriegsende nicht erleben, betrachtet er sein Schreiben auch als stellvertretend für die vielen Angehörigen der Arbeiterschaft, die etwas Wichtiges zu sagen hätten, aber in der Sprachlosigkeit verbleiben: Sicher unterließen es viele, sich zu äußern, degradiert durch Erziehung, betäubt von Niederlagen, doch wenn sie erst einmal zu sprechen begannen, so zeigten sie, wie genau sie die Vorgänge, in die sie verwickelt waren, kannten, und wohin ich auch kam, stets vernahm ich ein treffendes Urteil, einen neuen Hinweis zum Verständnis einer aktuellen Fragestellung. (ÄdW: 39)

Auch diese Urteile und Hinweise zeichnet er chronistenhaft auf – bisweilen heimlich, weil er fürchtet, aus dem Arbeiterkollektiv ausgestoßen zu werden und für überheblich gehalten zu werden (vgl. ÄdW: 909ff.). Auch in seiner Eigenschaft als Arbeiter stellt er sein Schreiben in den Dienst einer Aufzeichnung von Positionen Anderer, die selbst keine Äußerungsmöglichkeit haben, deren Äußerungen er aber für unbedingt aufzeichnungs- und bewahrenswert hält. Nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für sein gesamtes, stummes Umfeld sucht er nach Worten, nach Möglichkeiten des Hörbar-Machens. Ihm ist bewusst, »daß wir [er und die Freunde um Hans Coppi, JC] bei unserm Versuch, zu Einsichten zu kommen, immer an der Stummheit und Müdigkeit unsrer Arbeitsgefährten mitzutragen hatten und daß wir alles, was wir auffanden, auch für sie erwarben.« (ÄdW: 228) Neben der vorbildlichen sprachlichen Emanzipation des Protagonisten, die ihm im Laufe der Handlung immer besser gelingt, zeigt die Ästhetik des Widerstands jedoch auch, wo die handfesten Grenzen einer solchen Emanzipation liegen: Sobald er in größerem Ausmaß beginnt, sich als Arbeiter hörbar zu machen, wird dies bestraft. Diese Entwicklung ist symptomatisch für das Weltbild, das 97 Die Sprachlosigkeit, die seiner Herkunft innewohnt, ist immer wieder Thema, vgl. z.B. auch ÄdW: 67 und ÄdW: 667.

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der Roman zeichnet: Auch die Figuren, die gefühlt alles »richtig« machen, ihre Möglichkeiten ausschöpfen und von einer unbeirrbaren Motivation getrieben sind, treffen an bestimmten Stellen auf externe Hindernisse, deren Macht sie nicht gewachsen sind: So lange ich körperlich gearbeitet, meine Handgriffe geleistet hatte, ohne mich zu äußern, war kein Argwohn entstanden, doch von dem Tag an, als ich für Gewerkschaftszeitungen und auch für eine literarische Zeitschrift angefangen hatte zu schreiben, meine Erfahrungen also in Worte zu übertragen, war ich einer immer härter werdenden Überwachung ausgesetzt, die, nach einem Artikel über die Arbeitsverhältnisse in den Separator Werken, dazu führte, vom Betriebsingenieur gerufen und entlassen zu werden. (ÄdW: 975)

Der Protagonist hat es also geschafft, sich Gehör zu verschaffen und beachtet zu werden. Allerdings schreitet sofort das übermächtige autoritäre System, repräsentiert durch den Betriebsingenieur, ein und unterbindet es auf einer Ebene, auf der er keine Chance hat. Gleichzeitig offenbart der Roman in diesem Punkt aber auch sein utopisches Potential: Sein Ende deutet an, dass der Protagonist es trotz aller äußeren und übermächtigen Hindernisse geschafft hat, seine Chronik zu vollenden, und damit das »Verstummen« und die »Entmutigung« zumindest ein Stück weit überwunden hat.

F AZIT Es ist deutlich geworden, dass sich beide untersuchten Texte auf ihre Art an dem komplexen zeitgenössischen Verhältnis von Widerstand und eigener Involviertheit in Täter-/ Opferkonstellationen abarbeiten. Gleichzeitig erweist sich dieses Verhältnis in beiden Texten als eng mit dem Thema Schreiben und auf elementare Weise mit der jeweiligen Poetik verbunden. Vespers Text zeigt einen Protagonisten, der gern Widerstand leisten möchte gegen alles Unrecht, das er sieht und erlebt, aber innerhalb sämtlicher Konstellationen von Täter- und Opferschaft, in die er verwickelt ist, zu keiner klaren Position für sich kommt. Auf dieser Basis weist er sich den Subjektstatus für den Widerstand abwechselnd selbst zu und entzieht ihn sich wieder: Er zeigt sich als leidend unter Faschismus und Kapitalismus, möchte Widerstand leisten, verspürt aber gleichzeitig ein starkes Schuldgefühl an beidem. Das Schreiben stellt die einzige Möglichkeit für ihn dar, zumindest partiell auf fiktiver Ebene Klarheit über Täter- und Opferschaft zu schaffen und diese Klarheit zum provisorischen Ausgangspunkt für eigene Handlungen zu erheben. Wiederum weist die Reise damit eine zentrale Friktion

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im Horizont der Interaktion von Schreiben und politischer Opposition auf, die diesmal mit der eigenen Position zum Widerstand und dem, wogegen Widerstand geleistet wird, zu tun hat: Die Erfahrung, dass Widerstand aus einer Opferposition, einer konkreten Defensive kommen muss, trifft auf die Erfahrung, dass niemand frei von Täterschaft ist, selbst wenn es nur eine Täterschaft im übertragenen Sinne ist. Weiss’ Text greift diese Friktion ebenfalls auf: in Gestalt der Mutter, die daran zerbricht, und in Gestalt des erzählenden Sohnes, der sie schreibend zu überwinden sucht. In dem Rahmen, in dem Bernward sein eigenes Ringen mit seiner Subjektposition und Weiss’ Erzählerfigur das Ringen anderer mit ihrer Subjektposition dokumentiert, legen beide Texte in den komplizierten Konstellationen von direkter und übertragener, authentischer und künstlicher, erlebter und dokumentierter Täterschaft und Opferschaft ganz elementare Probleme der Konzeptionierung von »Widerstand« frei: Wer ist eigentlich Subjekt des Widerstands? Kann jemand Subjekt des Widerstands werden, der nicht in der unmittelbaren Defensive ist? Kann man gleichzeitig in der Offensive und der Defensive sein – und dann noch Widerstand leisten? Hat jemand, der selbst schuldig ist, seine Chance auf (glaubhaften) Widerstand verspielt? Wird jemand, der Widerstand gegen eine Gewalt unterlässt, zwangsläufig Teil dieser Gewalt? Und wie und durch wen lässt sich Widerstand erzählen? Während Vespers Text diese Fragen vor allem aufwirft und das Ringen mit ihnen ausführlich dokumentiert, schafft Weiss’ Text durch seine Anlage zumindest auf literarischer Ebene Lösungen für einige von ihnen. Von Täter- und Opferschaft und ihren Konsequenzen für den Subjektstatus weitgehend befreit, kann sein Protagonist zum Erzähler des Widerstands werden, den andere leisten. Das Schreiben erweist sich hier mit dem Erleben des Widerstands und den ihm innewohnenden Konflikten von Täter- und Opferschaft wenig kompatibel. Dem Schreibenden, der all dies sprachlich in den Griff bekommen möchte, bleibt nur die (letztlich nur in der Fiktion mögliche) Subjektposition des Chronisten, der alles sieht, aber nie selbst mit den Konflikten ernsthaft in Berührung kommt. Ebenso stellt die Figur des Protagonisten eine mögliche Antwort auf die Frage dar, wer Subjekt des Widerstands ist: Sie ist – in ihrer Eigenschaft als intellektuell gebildeter Arbeiter – die fiktional geschaffene Schlüsselstelle zwischen den »unterdrückten« Arbeitern in der »echten« Defensive und denen, die diese beobachten und darüber reflektieren und schreiben. Auch diese Schlüsselstelle ist aber ausschließlich durch literarische Konstruktionen zu besetzen. Mehr als alles andere zeigen die Ergebnisse des Kapitels, dass die Auseinandersetzung mit Täter- und Opferschaften im kulturellen Text um 1968 deutlich vielschichtiger ist als oft angenommen. Beispielsweise hält die These vom »Opferneid«, die den »68ern« das komfortable Einrichten jenseits der Tätersphäre

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und die Verdrängung der »echten« Opfer unterstellt, bei genauerem Hinsehen sehr schnell nicht mehr stand. Auch das Klischee vom binären Weltbild der »68er« aus entweder Tätern oder Opfern, dessen banale Auswüchse (Faschismusvergleiche, einseitige Feindbilder, RAF-Rhetorik) bekannt und belächelt sind, ist vor diesem Hintergrund zu differenzieren. Die literarischen Texte erweisen sich als in dieser Dichte vielleicht einzigartige Speicherorte von Fragen, Lösungsansätzen und letzten Endes auch nicht oder nur fiktional lösbaren Friktionen. Ihre Figuren und Handlungen erklären sich aus diesen Friktionen, ihre Poetiken als Kulturpoetiken gelesen reagieren auf außerliterarische Anforderungen: Sie bilden einen Teil dieser Komplexität ab oder nehmen sie zum Ausgangspunkt fiktionaler Konstruktionen, die die Friktionen zumindest im Rahmen einer erzählten Welt überwinden.

On the road: Bewegungsdrang, Ströme und Zieloffenheit

B EWEGUNGSDRANG

UND

U NZUFRIEDENHEIT

In Lutz Schulenburgs Quellenband zu 1968 findet sich ein 1998 entstandenes Prosafragment des Schweizer Schriftstellers Wolfgang Bortlik (*1952). Es beginnt mit einer autobiographischen Passage über das erste Konzert der Rolling Stones in Zürich: April 1967: Die Rolling Stones in Zürich. Da gehst du mir nicht hin, zu diesen lauten Krawallbrüdern. I can’t get no … hey, hey, hey! Fiebrig liest man, daß die Fans nach dem Konzert alle Stühle zusammengeholzt haben. Ein süßes Gefühl genossener Rache durchzieht das jugendliche Herz. Ein bestuhltes Hallenstadion für ein Stones-Konzert. Was denken die sich eigentlich? Man will sich doch bewegen in dieser Welt.1

Der Erzählende bringt seine Rekapitulation der Ereignisse 30 Jahre später auf die Sentenz »Man will sich doch bewegen in dieser Welt«. Er deutet damit das Handeln der Fans aus einem Bewegungsdrang heraus, dem nachzugehen ihnen »die« – die restliche Gesellschaft – nicht erlaubt haben. Die Situation ist seiner Meinung nach dadurch eskaliert, dass der Bewegungsfreiraum in zweifacher Hinsicht begrenzt war: durch den geschlossenen Raum der »Halle« und in ihm noch durch die »Bestuhlung«, also die feste Zuweisung eines Ortes für jeden im ohnehin einschränkenden Raum. Die zentrale unerfüllte Befriedigung, die mit dem Song Satisfaction anzitiert wird und im Raum steht, ist bei Bortlik der Drang nach Bewegung. Sie ist – das suggeriert die allgemeingültige Formulierung des 1

Bortlik, Wolfgang: Das Pop-Monster. 1968: Sechzehn und auf dem Lande, in: Schulenburg (Hg.): Das Leben ändern, S. 119-123, hier S. 120.

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letzten Satzes – situationsübergreifend im sozialen Umfeld Bortliks am Werke und ihre Erfüllung wird vehement eingefordert. Bemerkenswerterweise findet sich dieser nicht näher bestimmte Bewegungsdrang immer wieder im kulturellen Text der politischen Oppositionskultur. Beispielsweise kritisiert das SDS-Flugblatt Niederlage oder Erfolg der Protestaktion von 1967 explizit die mangelnden Bewegungsmöglichkeiten im aktuellen System: Brutal und unmenschlich haben sich auch die verantwortlichen Politiker und Amtsträger verhalten, die am Schreibtisch noch einmal das Exempel vollzogen, das ihre Exekutivorgane gegen die oppositionellen Studenten statuierten, nachdem sie und ihre Presse schon jahrelang die wachsende Studentenopposition bekämpft und ihre Bewegungsfreiheit mit allen Mitteln beschränkt hatte [sic].2

Die Protestierenden empfinden nicht nur ihre Freiheit, sondern genauer ihre Bewegungsfreiheit durch Staat und Presse beschränkt. Damit fordern auch sie die Erfüllung eines Bewegungsdrangs, dem die restliche Gesellschaft aktuell entgegensteht. Auch in Hans Magnus Enzensbergers Berliner Gemeinplätzen II treten jene Protestierenden mit dem besonderen Merkmal auf, sich »bewegen zu wollen in dieser Welt« – und sie treffen auf diese Welt in Gestalt einer statischen, unbeweglichen Gesellschaft: Der höchste Zweck, das politische Credo, die eigentliche Raison dieses Staates ist: Stabilität. Bewegung kann hier nur gedacht werden als Aufblähung dessen, was ist, sei es Druckauflage, Bierausstoß oder Feuerkraft. Was sich bewegt, von der Stelle rührt, ist schon verdächtig.3

Offensichtlich scheint das »Bewegen« und der Wunsch nach »Bewegung« in besonderer Form die oppositionelle Szene zu kennzeichnen – und offensichtlich genügt es 1967 als Stichwort, bedarf keiner näheren Erläuterung. Ebenfalls 1967 lässt Rolf Dieter Brinkmann seinen unglücklichen Protagonisten in Keiner weiß mehr darüber lamentieren, dass er »keine Beweglichkeit mehr« (Kwm: 62) habe und dass »alle seine Bewegungen ihm wie abgestorben vor[kommen]« (Kwm: 179). Sein Sozialleben ist ihm »zu fest geworden« (Kwm: 206); er beneidet seine Freunde Gerald und Rainer, die »beweglicher als er« sind (Kwm: 45) und be2

Niederlage oder Erfolg der Protestaktion. Erklärung des SDS, in: Miermeister/Staadt (Hg.): Provokationen, S. 108-110, hier S. 109.

3

Enzensberger: Berliner Gemeinplätze II, S. 190f.

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merkt positiv auf der Straße, dass die Leute sich dort »bewegen« (z.B. Kwm: 109). Auch bei Brinkmann spielt ein ungestillter Bewegungsdrang eine Rolle, und genau wie bei Bortlik ist er relativ diffus und universell, wird aber zum Anlass von Unzufriedenheit und Opposition. Auch Brinkmanns Protagonist »will sich bewegen in dieser Welt« und reagiert aggressiv auf alles in seiner Umgebung, das seinen Bewegungsfreiraum einschränkt. Wie ein gefangenes Raubtier kreist er in seinem aktuellen Leben, stößt immer wieder auf Grenzen: Man ging nicht weg und kam woanders an, was sich aber doch sehr einfach regeln ließe, allgemein vereinbaren. Dann ging man genauso herum und traf auf wen, mit dem man irgendwo anders hinging. Statt dessen mußte überall jeder nun noch einmal zurück in seine eigene Beschissenheit […]. (Kwm: 110)

Er wünscht sich ein Leben, das immer nur daraus besteht, »irgendwo hinzugehen«, ohne danach wieder in eingrenzende Zusammenhänge zurück zu müssen. Die Grenze, auf die sein Bewegungsdrang immer wieder trifft, seine »eigene Beschissenheit«, präsentiert sich als Mischform aus geschlossenen Räumen – der Wohnung bzw. der Stadt – und der Beziehung zu seiner Frau: Erst jetzt kam es ihm mehr und mehr dringlich vor, weggehen zu müssen, von ihr fort, heraus aus diesem Zustand, aus der Wohnung, dem, was sich unaufhaltsam fortsetzte in kleinsten, alltäglichsten Geschehnissen, in winzigen Dingen […]. (Kwm: 10f.) Die Stadt, zu eng geworden, kein Platz, keine Stelle, um einfach einmal wieder stehenzubleiben, um zu sagen, da ist das, nicht sie, war für ihn nur noch eine Ansammlung von immer denselben Stellen, denselben Punkten, durch die er immer wieder von neuem hindurchlief, und jetzt, an allen Punkten, saß auch sie, seine Frau, von selbst dorthin transportiert. (Kwm: 125)

Sein gestörtes Verhältnis zu seiner Frau wird stetig enggeführt mit seinem ungestillten Bewegungsdrang, für den die Frau gleichermaßen Symptom wie verantwortlich zu sein scheint: Er und seine Frau stehen »bewegungslos einander gegenüber« (Kwm: 100), den Sex mit ihr erlebt er als »eine auf der Stelle stehende Bewegung« (Kwm: 212). Zusätzlich glaubt er, ohne sie durchaus in der Lage zu sein, sich zu bewegen: »Er merkte, es ging nicht mit ihr. Oder was, wie? Oh, so träge, so schwerfällig. Das war sie nicht. Doch. Zu langsam, und dann zu schwer von einer Stelle auf die andere zu kriegen.« (Kwm: 113) So wird auch sein einziger (letztendlich erfolgloser) Versuch, seine Frau zu verlassen, durch die Erkenntnis motiviert, dass sie seinem Bewegungsdrang entgegensteht: Als er allein

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im Zug sitzt, um zu einer Vortragsreise zu fahren, befällt ihn das Wohlgefühl, »wieder in Bewegung zu sein«. Er brauchte es sich zwischendurch nicht klarzumachen, daß er tatsächlich wieder in Bewegung gekommen war, fuhr. Er konnte beruhigt sein, er kam voran. Wenn er nun irgendwo aussteigen wollte, konnte er das. Nichts hinderte ihn mehr daran, auszusteigen und irgendwo länger zu bleiben, obgleich es ihm im Moment schon genügte, daß das gleichmäßige Rollen unter ihm war. (Kwm: 229)

Die bloße Tatsache, dass er »wieder in Bewegung« ist, verleiht ihm temporär das Gefühl, eine Lösung für seine unglückliche Situation gefunden zu haben und eine Perspektive zu besitzen. Sie lässt ihn glauben, dass er den Ausbruch bereits vollzogen hat: Er fuhr anstatt zurück nun woandershin, ganz woanders, er würde sehen, und nicht zurück, obwohl zunächst einmal dieselbe Strecke zurück mit dem Zug, aber nicht zurück. Er war wieder in Bewegung gekommen, er fuhr, saß am Fenster, im Zug, zurückfahrend, beruhigt, daß der Zug fuhr. (Kwm: 228)

Letztendlich fährt er doch zurück in seine Stadt, seine Wohnung und zu seiner Frau – der Ausbruch aus dem beschränkten Raum, der den Protagonisten 256 Seiten lang beschäftigt, kommt nicht zustande. Aber was genau ist dieses »Bewegen in der Welt«, nach dem es ihn so drängt und das so großen Einfluss auf sein Lebensgefühl zu haben scheint? Genau konturiert wird es auch bei ihm nie: Dass er, im Gegensatz zu seinen Freunden, nicht »beweglich« ist, bleibt eine nahezu freischwebende, wenn auch stetig präsente Behauptung. Was zeichnet also die eine Situation aus, in der er die ersehnte Beweglichkeit tatsächlich für einen Moment lang erlebt? Er ist allein, sitzt in einem Zug und könnte theoretisch überall hinfahren, muss sich nicht für ein Ziel entscheiden, seine Zugfahrt ist »nichts anderes als ein Zufall« (Kwm: 148). Diese drei Elemente – keine soziale Bindung, Mobilität mit einem schnellen Verkehrsmittel und die Offenheit des Ziels – scheinen das Potential zu haben, den Bewegungsdrang zu stillen. Sie nehme ich als erste Anhaltspunkte, mich jener diffusen, dauerpräsenten »Bewegung« weiter anzunähern. Bei der Aufzählung der drei Anhaltspunkte schiebt sich unweigerlich ein weiterer Text in meine Argumentation, der fast traditionell als einflussreiche literarische Vorlage für um 1968 entstandene Texte herangezogen wird: Jack Kerouacs Beat-Roman On the Road von 1957, der 1968 ins Deutsche übertragen wurde. Kerouacs zentrale Figur Dean Moriarty müsste in allen drei Punkten als

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Musterbeispiel des »In-Bewegung-Seins« gelten: Dean ist nirgendwo sesshaft, fährt hauptsächlich ziellos durch die USA, ist ein meisterhafter und begeisterter schneller Autofahrer – und er ist niemandem langfristig verbunden oder loyal, weder seinen Partnerinnen noch seinem besten Freund, den er krank in Mexiko zurücklässt mit den Worten »Ja, ja, ja, ich muß jetzt gehen. Alter, fiebriger Sal, auf Wiedersehen.«4 Die Phrase »in Bewegung sein« taucht auch in diesem Roman mehrfach auf, häufig in der diffusen und selbstzweckhaften Verwendung, die schon in den vorausgehenden Beispielen zu sehen war: Wir waren alle entzückt, wir alle erkannten, daß wir […] die einzige und einzig edle Funktion unserer Zeit erfüllten, in Bewegung zu sein. Und wie waren wir in Bewegung! Wir flitzten vorbei an den geheimnisvollen weißen Wegweisern irgendwo in der Nacht von New Jersey, die da sagen SÜD (mit einem Pfeil) und WEST (mit einem Pfeil). (OtR: 124; Hervorhebung im Original)

Dass Kerouacs Roman um 1968 viel gelesen und von zahlreichen (übrigens fast ausschließlich männlichen) Schriftstellern adaptiert worden ist, ist unbestritten. Für Bernward Vesper und Rolf Dieter Brinkmann ließe sich die Rezeption sogar direkt belegen.5 Dem ungeachtet interessiert mich aber vor allem jener diskursive Komplex der »Bewegung« und des Drangs nach ihr, an dem offenbar Brinkmann, Vesper und Züricher Stones-Fans ebenso Anteil haben wie ein Lieblingsbuch der Zeit und die politische Rhetorik des SDS – in einer historischen Kultur, die, wie in Kapitel 3 ausgeführt, »Bewegung« fordert und sich selbst als »Bewegung« bezeichnet. Betrachtet man zunächst den Aspekt der schnellen Mobilität, so fällt auf, dass er bei Kerouac und Brinkmann gleichermaßen mit der Offenheit des Ziels untrennbar verknüpft ist: In beiden Fällen gilt es als erstrebenswert, sich schnell fortzubewegen, es bedarf aber keiner näheren Begründung oder eines konkreten Ziels. Der bereits zitierte Auszug aus Brinkmanns Roman offenbart, dass das bloße gleichmäßige, schnelle Vorankommen, gekoppelt an die Option, spontan ein beliebiges Ziel anzusteuern, »beruhigend« ist: »Er konnte beruhigt sein, er kam voran. Wenn er nun irgendwo aussteigen wollte, konnte er das. Nichts hin4

Kerouac, Jack: Unterwegs [On the Road, 1955; dt. 1968]. Hamburg 1987, S. 278. Im Folgenden im Text zitiert mit »OtR« und Seitenzahl.

5

Brinkmann bezieht sich in seinen poetologischen Texten, vor allem in Der Film in Worten, explizit auf Kerouacs Roman. Vesper wiederum kennt diese Texte Brinkmanns (vgl. DR: 604) und aller Wahrscheinlichkeit nach auch Kerouacs bekanntesten Roman, insofern er Kerouac als Schriftsteller in der Reise erwähnt (vgl. DR: 190).

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derte ihn mehr daran, auszusteigen und irgendwo länger zu bleiben, obgleich es ihm im Moment schon genügte, daß das gleichmäßige Rollen unter ihm war.« (Kwm: 229) Dieses beruhigende Wohlgefühl, das die schnelle Bewegung, völlig unabhängig von Ziel und Begründung, auslöst, kommt auch bei Kerouac vor. Es wird suggeriert, dass der Bewegungszustand etwas unverrückbar Richtiges ist, es gibt ein tiefes Vertrauen in ihn: »Ich hatte nie Angst, wenn Dean fuhr; er beherrschte seinen Wagen in jeder Lage. Das Radio war repariert worden, und wilde Jazzmusik trieb uns weiter in die Nacht. Ich wußte nicht, wo das alles hinführen sollte; es war mir egal.« (OtR: 115) Es gibt in Kerouacs Roman zwei Stellen, in denen das Thema Bewegung für einen Moment durch die Frage eines Freundes auf die Reflexionsebene gehoben wird. Doch Deans Antwort geht in beiden Fällen nicht darüber hinaus, dass die ziellose Bewegung und Mobilität etwas Gutes ist, das keiner konkreten Begründung bedarf: »›Nun, Dean, bleib mal eine Minute ruhig sitzen und sag mir, was dir einfällt, so mir nichts dir nichts quer durchs Land zu fahren.‹ Dean konnte nur rot werden und sagen: ›Na ja, du weißt ja, wie das ist.‹« (OtR: 135) Bemerkenswert ist, dass das Gespräch an dieser Stelle beendet ist, die Frage also offenbar für den fragenden Old Bull Lee befriedigend beantwortet ist. Das Bewegen hat den Status einer Entität, über die Konsens besteht: Es »ist«, Old Bull »weiß« es und es ist »richtig«. Offenbar ist es im kulturellen Rezeptionskontext nicht notwendig, es näher einzuordnen – Dean und Sal kommen der »einzig edlen Funktion« ihrer Zeit nach und bleiben in Bewegung.6 Als die beiden später von einem anderen Freund noch einmal nach der Bedeutung ihres Unterwegsseins gefragt werden, reagieren sie beinahe so, als wäre diese Frage eine Beleidigung: »Wir saßen da und wußten nicht, was wir sagen sollten; es war kein Gesprächsstoff mehr da. Das einzige, was wir tun konnten, war weggehen. Dean sprang auf und sagte, wir seien fertig für die Rückfahrt nach Virginia.« (OtR: 111) Wer einen Grund für die ziellose Bewegung verlangt, sie nicht von sich aus verstehen kann, ist offenbar als Person nicht mehr interessant und hat sich als Gesprächs-

6

Kerouac bezieht sich natürlich auch seinerseits auf ältere kulturelle Texte vornehmlich des US-amerikanischen Raumes. Die Freiheit, die ein ungebundenes Leben im stetigen Unterwegssein verleihen kann, spielt z.B. bereits im Topos der American Frontier eine Rolle – und auch Erzählungen ewiger Heimatlosigkeit und Wanderschaft sind z.B. aus der afroamerikanischen Blues-Kultur bekannt. Zur Vertiefung dieses Aspekts vgl. Mania, Thomas: On the road: Unterwegssein – ein Mythos der Popkultur. Münster 2008.

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partner disqualifiziert.7 Die Situation wird, wie eigentlich alle unangenehmen Situationen und Gefühle im Laufe der Handlung, mit dem Weiterbewegen aufgelöst. Beispielsweise bedient sich Sal dieser Lösung, als er in einem Hotel plötzlich von einem Gefühl der Fremdheit befallen wird: [I]ch hörte von draußen das Zischen des Dampfes und das Knarren des alten Holzes im Hotel und Schritte über mir und all die traurigen Geräusche, und ich blickte auf die gesprungene hohe Decke und wußte etwa fünfzehn seltsame Sekunden lang wirklich nicht, wer ich war. […] Aber ich mußte losziehen und aufhören zu jammern, so nahm ich meinen Sack auf, sagte ›Wiedersehen‹ zum alten Hotelwirt, der neben seinem Spucknapf saß, und ging essen. (OtR: 19)

Sal hat zu diesem Zeitpunkt weder Ziel noch Termin, die es rechtfertigen würden, dass er »losziehen muss«. Dennoch hegt er keine Zweifel daran, dass das Weiterbewegen und die erneute Hingabe an die ziellose Mobilität die einzig richtige Lösung für jede Art von Problem sind. Sal nimmt jenes berühmte Diktum des »FURTHER« voraus, das 1964 in großen Lettern auf der Frontscheibe des bunt bemalten Busses der amerikanischen Künstlergruppe »Merry Pranksters« zu lesen sein wird.8 Die »Merry Pranksters« um Ken Kesey fuhren als frühe Vertreterinnen und Vertreter der Hippie-Bewegung mit ihrem Bus durch die USA und veranstalteten Happenings. Eines ihrer Mitglieder war Neal Cassady, der in den 1950er Jahren Jack Kerouac nach eigener Aussage zur Figur des Dean Moriarty inspiriert hatte.9 Im Übrigen zeigt Kerouacs Roman nur eine einzige Reise, die als erfolglos oder gescheitert bewertet wird – interessanterweise die einzige geplante und zielgerichtete Reise: Ausgerechnet die von dem noch unerfahrenen Sal akribisch durchgeplante und mühsam zusammengesparte Reise nach San Francisco muss abgebrochen werden und schickt ihn frustriert, durchnässt und ohne Geld zurück zu seiner Tante nach New York (vgl. OtR: 14ff.). Kerouacs Roman mit den ziellos durch die Lande rasenden Dean und Sal ist schon häufiger mit Teilen von Vespers Reise in Verbindung gebracht worden. 7

Vgl. auch die Szene, in der Dean und Sal von einem Kirmesbetreiber gefragt werden »Ihr Jungs, reist ihr wohin oder reist ihr bloß so?« und Sal kommentiert, er verstehe die Frage nicht (OtR: 24).

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Vgl. Kraushaar: Achtundsechzig, S. 17. Im Bildband von Thomas Mania: On the Road ist ein Foto der Gruppe mit dem Bus abgedruckt. Der noch existierende und restaurierte Bus ist zu sehen auf http://www.theguardian.com/world/2014/may/24/merrypranksters-bus-ride-ken-kesey-son-zane (abgerufen am 27.07.2015).

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Vgl. Maher, Paul: Kerouac. The Definitive Biography. Lanham 2004, S. 487.

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Vor allem die Episode um den amerikanischen Tramper Burton und die gemeinsame Europareise weist unverkennbare Ähnlichkeiten auf, was Setting, Figurenkonstellation und passagenweise auch den Tonfall des Erzählens angeht. Ein besonderer Überschneidungspunkt liegt aber wiederum im Umgang mit der Thematik des Bewegungsdrangs: Wie bei Kerouac stehen das Auto und die Straße als Handlungsorte im Vordergrund, nehmen mindestens genauso viel Raum in der Erzählung ein wie die eigentlichen Stationen der Reise. Auch Vespers Protagonist bezieht sich auf den Drang nach unablässiger Bewegung, und auch bei ihm bedeutet dies eine Kombination aus schneller Mobilität und zielloser Bewegung. Dabei hatte ich es eilig, Jugoslawien zu verlassen; ich raste seit drei Wochen wie ein Verrückter durch Europa, auf der Flucht vor irgendwas, auf der Suche nach etwas, ich brauchte Zeit zum Nachdenken, ich brannte ungeduldig darauf, daß die Hähne schrien und die Schläfer rauskrähten, irgendwo mußten doch ein paar Liter [Benzin, JC] aufzutreiben sein. (DR: 17)

Wie bei Kerouac auch müssen Bewegung und Schnelligkeit kein Ziel haben und nicht näher begründet werden. Bernward kann selbst nicht benennen, warum er durch Europa rast oder Jugoslawien verlassen möchte – sicher ist er nur, dass er sich bewegen will und unbedingt Benzin auftreiben muss. Deutlicher noch wird der Selbstzweck seines Fahrens in einer Szene, in der Bernward und Burton einen Parkplatz am Rande Venedigs erreichen: »Wir ließen uns einweisen, rollten noch hundert Meter, und dann gab ich Gas, fuhr so scharf an den Polizisten heran, daß der zurücksprang und uns wild gestikulierend in den Parkplatz hineinzwingen wollte. Kehrt. Mit Vollgas die Lagune entlang.« (DR: 32) Auch hier wird kein Grund für die plötzliche Bewegung genannt – »man will sich bewegen in dieser Welt«, man kann seine Ziele jederzeit umwerfen und sich erneut in Bewegung setzen. Die Reise ist ein Text, der mit dem zieloffenen Reisen aufs Engste verknüpft ist. Zunächst einmal entsteht er fast ausschließlich auf einer Reise: Vesper generiert einen Gutteil seines Textes aus Notaten, die er auf seiner Europareise 1969 angefertigt hat. Diese Europareise zeichnet sich in der Erzählung dadurch aus, dass sie in ihren Zielen wenig geplant ist: Während Bernward und Burton z.B. in Verona davon sprechen, »direkt nach Rom« (DR: 30) zu fahren, befinden sie sich kurz darauf auf der Straße nach Bozen, also nach Norden – ohne dass diese Entscheidung näher begründet oder von der Handlung hergeleitet worden wäre. Auf dieser Fahrt wiederum kommt die Diskussion auf, ob sie »über Zürich fahren und unter ›dieser Adresse‹ die beiden jungen Amerikanerinnen ›aus bester

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Familie‹ aufsuchen [sollen], um sie zu ficken, ehe sie nach Rotterdam aufs Schiff gehen« (DR: 34). Sie kommen dann aber – ohne Abstecher nach Zürich – in München an. Grundsätzlich fällt auf, dass die Darstellung meistens mehr auf die Autofahrt, das Unterwegs-Sein fokussiert ist als auf die eigentlichen Ziele und Orte. Jene Darstellung entsteht wiederum auf einer zieloffenen Reise durch Deutschland: Während Bernward seine Notate auswertet und zum Romanessay ausbaut, reist er stetig durch Deutschland und dokumentiert seine Bewegungen und Aufenthalte im Text, u.a. indem er auf der Reise gesammeltes Fremdmaterial (Briefe, Hotelquittungen, Zeitungsartikel, Zeichnungen…) direkt integriert. Der Protagonist Bernward und, durch das Spiel mit dokumentarischen Elementen auch Vesper als Schriftsteller, inszenieren und reflektieren sich durch den Text auf allen möglichen Ebenen als Wanderer, wie Gerrit Jan Berendse treffend festgehalten hat: »[Die Reise] ist ein Buch der Transgression, das sich in der Form von Wanderungen manifestiert. Es stellt ein breites Panorama eines Vagantendaseins, eines Unterwegsseins in einer ruhelosen Welt dar.«10 Bernward lebt das In-Bewegung-Sein mit Überzeugung und erklärt es sogar zum »natürlichen« Zustand des Menschen: Der Mensch ist von Natur aus ein Wanderer, nur die ökonomische Notwendigkeit hat ihn seßhaft gemacht. Heute gibt es diese Notwendigkeit nicht mehr, aber er hockt an seinem Platz für Generationen und rührt sich nicht. Es ist unfaßlich. Noch nie gab es so viele Straßen auf der Erde, so sichere Land- und Seewege. Aber noch immer stirbt ein Großteil der Leute in dem Ort, wo sie geboren wurden. (DR: 69f.)

Beweglichkeit ist nach Bernward im Menschen angelegt, Sesshaftigkeit und Stagnation erscheinen ihm unnatürlich und unverständlich. Er selbst ist fest entschlossen, »wegzugehen« und auch im Zustand des »Weggehens« zu verharren: »Weggehen heißt also, einen vielleicht hoffnungslosen Versuch machen, wenigstens noch einen Teil der Lebenszeit zu retten, statt in dem verfaulten europäischen System samt und sonders zu verrotten.« (DR: 54) Das Augenmerk liegt auch hier wieder auf dem Akt des Weggehens: Die aktuelle Umgebung ist, wie in Enzensbergers Berliner Gemeinplätzen, »verfault«, überholt und stagnierend. Die »Rettung« kann nur dadurch erfolgen, dass man sich weiterbewegt – freilich ohne dass ein Ziel oder auch nur ein konkretes Land genannt wird. Die Lösung ist das Weggehen – unabhängig davon, wie und wohin es erfolgt.11 In dieser Pas10 Berendse: Schreiben als Körperverletzung, S. 325. 11 Unter diesem Aspekt interessant ist auch Rolf Dieter Brinkmanns Montagetext Rom, Blicke von 1972. Vgl. dazu Clare: Amazing Journeys, S. 168-175.

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sage steckt der tiefe Glaube des Wanderers Bernward daran, dass das Übel im Verharren und Stagnieren liegt. Somit braucht es, ähnlich wie in der zuvor zitierten Passage über Sals Fremdheit, nicht in erster Linie ein Ziel, sondern das Weiterbewegen zur Lösung. Die Reiseerzählungen von Kerouac und auch Vesper stehen in einigen Aspekten in der Tradition von klassischen Formaten und Ausprägungen des Genres der Reiseerzählung. Gleicht man sie etwa mit den verschiedenen Grundtypen der Reiseerzählung ab, die Hanns-Josef Ortheil unterscheidet, so teilen sie sich beispielsweise mit der »dokumentarischen Reiseerzählung« die enge Verbindung von Dokumentation und erzählerischer Selbstinszenierung, während der episodische Aufbau sowie die Bindungslosigkeit und der immer erneute Aufbruch der Protagonisten Anklänge an die »Abenteuerreise« in der Tradition der Odyssee weckt.12 Grundlegend anders ist jedoch, wie bei Kerouac und Vesper die dokumentierten Episoden und auch die Aufbrüche zustande kommen. Während die dokumentierenden Reisenden meist auf geplante Ziele zusteuern und die Abenteuerreisenden zumindest letztlich auf eine Heimkehr, sind die Stationen bei Kerouac und Vesper nicht nur vollständig offen, sondern auch gegenüber den Wegen zwischen ihnen für die Erzählung sekundär. Das ziellose Bewegen und der Fokus auf den Weg selbst sind die Elemente, die ihre Erzählungen maßgeblich von vorausgehenden Reiseerzählungen abhebt. Auch die klassische Erzählung der »Bildungsreise« teilt mit ihnen zwar das Motiv, aus einer unattraktiven Umwelt auszubrechen, kennt aber, im Gegensatz zu Vespers und Kerouacs Text, eine »Methodisierung der Reise, die jetzt geordnet, gut strukturiert und nach genau vorgeschriebenen Grundsätzen durchgeführt werden soll.«13 Die einzigen Reiseziele oder -grundsätze, die Sal und Bernward kennen, sind die der ununterbrochenen Mobilität, Bindungslosigkeit und Spontaneität. Beide sind sie schreibende »Wanderer«, die überdeutlich inszenieren, dass sie gerade keinen Plan dafür haben, welche Stationen und Ergebnisse ihre Reise haben wird. Solche Wanderer, die ihr Leben der zieloffenen Bewegung verschrieben haben, tauchen im kulturellen Text um 1968 immer wieder auf – nicht selten in Kombination mit Bindungslosigkeit. Auch Kerouacs Figur Dean Moriarty wird als ein solcher Wanderer inszeniert. Dean zeichnet sich dadurch aus, überall temporär zuhause sein zu können – aber gleichzeitig kein eindeutiges Zuhause zu kennen. Wenn er irgendwo nicht mehr bleiben kann oder möchte, ist seine na12 Vgl. zu den verschiedenen Typen der Reiseerzählung Ortheil, Hanns-Josef: Schreiben und Reisen: wie Schriftsteller vom Unterwegs-Sein erzählen, in: Bernstorff/Moennighoff/Tholen (Hg.): Literatur und Reise, S. 7-31. 13 Ebd., S. 21.

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türliche Anlaufstelle die Straße, das Unterwegssein, wobei er rücksichtslos alle freundschaftlichen und familiären Bindungen seinem Bewegungsdrang unterordnet: »Ich will dir mal was sagen, Sal, ganz offen: egal wo ich lebe, mein Koffer lugt immer unter dem Bett hervor, ich bin bereit, wegzugehen oder hinausgeworfen zu werden. Ich habe beschlossen, alles aus den Händen zu geben.« (OtR: 233) Dean wird gleich zu Anfang des Romans als jemand eingeführt, der zum Wanderer prädestiniert ist, da er »praktisch auf der Straße geboren [wurde]« (OtR: 7). Dies bedeutet zunächst nichts weiter als dass schon seine Eltern nicht sesshaft waren und er im Auto zur Welt kam. Allerdings wird die Umschreibung, er sei »auf der Straße geboren« im Laufe der Handlung fast zu dem Eindruck erweitert, er sei »von der Straße geboren«, sein Elternhaus sei die Straße selbst. »Dean war hauptsächlich in der Larimer Street und nahebei aufgewachsen« (OtR: 38), heißt es über ihn, mit der latenten Andeutung, dass die Larimer Street nicht nur seine Adresse war, sondern auch sein hauptsächlicher Aufenthaltsort. Seine Mutter wird nur einmal als früh verstorben erwähnt, sein alkoholkranker Vater erscheint in den Gesprächen zwischen Dean und Sal als eine Art Phantom, das abwechselnd als Hobo durch die USA fährt und in diversen Gefängnissen sitzt. Dean behauptet immer wieder, mit ihm in sporadischem Briefkontakt zu stehen und ihn an verschiedenen Orten treffen zu wollen. Allerdings tritt der herumreisende Vater niemals in Erscheinung – er bleibt der »Vater, den wir niemals fanden« (OtR: 284), wie es im letzten Satz des Romans heißt. Letzten Endes ist nicht klar, ob es ihn wirklich gibt oder ob er nicht in einer aufwändigen Allegorie das zieloffene Unterwegssein, das Straßenleben und die Bindungslosigkeit verkörpert, aus denen Dean eigentlich genealogisch hervorgeht. Dean ist – mit einem Songtitel von Jimi Hendrix von 1967 ausgedrückt – ein Highway Chile, ein Kind der Autobahn. In der Tat ähneln sich die beiden Figuren, die in Kerouacs Roman und Hendrix’ Song entworfen werden: Beiden wird zugeschrieben, direkt von der Straße abzustammen und sie als Ausgangs- und Bezugspunkt zu haben: Yeah, his guitar slung across his back His dusty boots is his cadillac Flamin’ hair just a blowin’ in the wind Ain’t seen a bed in so long it’s a sin He left home when he was seventeen The rest of the world he had longed to see But everybody knows the boss A rolling stone who gathers no moss

188 | P ROTEXTE But youʼd probably call him a tramp But it goes a little deeper than that Heʼs a highway chile, yeah […] Walk on brother Donʼt let no one stop you […]14

Sämtliche äußeren Attribute, die wir im Song über Hendrixʼ namenlose Figur erfahren – staubige Stiefel, flatternde Haare, Gepäck auf dem Rücken – betonen, dass das zieloffene Unterwegs-Sein diese Figur in ihrem Kern ausmacht. Weder Dean noch Hendrixʼ Figur passen irgendwo anders hin als auf die Straße. Beide kennen nur das »Weitergehen« (»Walk on brother«) als Strategie, der Welt zu begegnen. Das zitierte Sprichwort »A rolling stone who gathers no moss« bezeichnet im englischen Sprachraum jemanden, der unabhängig von allen Bindungen und in ständiger Bewegung lebt, also, um im Bild zu bleiben, nie liegenbleibt, immer weiterrollt. Dadurch setzt er »kein Moos an«, also keinen Ballast, keine Verantwortung – all das also nicht, worunter z.B. Brinkmanns Protagonist leidet. Obwohl bereits in der Renaissance nachweisbar 15 , erfreut sich das Sprichwort vor allem in den 1960er Jahren großer Beliebtheit – erinnert sei an Hits wie Like a Rolling Stone (Bob Dylan, 1965) und Papa was a Rollinʼ Stone (The Undisputed Truth, 1971), die 1967 gegründete Musikzeitschrift Rolling Stone sowie natürlich die Band The Rolling Stones. In einer politisierten Variante erscheint der »rolling stone«, der kein Moos ansetzt, am Ende von Enzensbergers Gemeinplätzen die neueste Literatur betreffend: Enzensberger schließt mit einem chinesischen »Kalenderspruch«, der lautet: »In Türangeln gibt es keine Holzwürmer.«16 Der Teil der Tür, der in Bewegung bleibt, setzt wie der rollende 14 Songtext Highway Chile (Jimi Hendrix), zit. nach http://www.lyricsfreak.com/j/ jimi+hendrix/ highway+chile_20071515.html (abgerufen am 27.07.2015). »Chile« ist ein Slangausdruck für »child«. 15 Vgl. Knowles, Elisabeth: The Oxford Dictionary of Phrase and Fable. Oxford 2000, S. 927. 16 Enzensberger: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, S. 197. Es wird nicht deutlich, ob Enzensberger aus dem philosophischen Original von Lü Buwei aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. zitiert oder aus der bereits politisierten Adaption des Spruches durch Mao Zedong (Über die Koalitionsregierung [1945]; enthalten auch in der »Mao-Bibel« (Mao Zedong: Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung, hg. von Tilemann Grimm. Frankfurt/M. 1967, S. 117)). Bei Mao bezieht sich der Spruch vor allem auf die Parteiarbeit, die durch permanente kritische Reflexion verhindern soll, dass sich »politische Mikroben« (ebd.) ansetzen.

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Stein keinen Ballast an, er erhält sich seine Beweglichkeit. Mit dem Holzwurm wird der Spruch im Kontext des Kursbuchs aber auch zum gesellschaftskritischen Bild: Der unbewegliche Teil der Tür ist gefährdet von Schädlingen, die unreflektiert ihren sicheren Rückzugsraum konsumieren und Raubbau an der Substanz betreiben. Dies lässt sich im Kontext der Gemeinplätze lesen als Bild für eine gleichgültige, unbewegliche Gesellschaft, die sich notwendigen Veränderungen verschließt und damit gegen sich selbst und andere arbeitet. Wer also im Umkehrschluss auf der Türangel sitzt, ist zwar »außen«, aber auf jeden Fall kein Holzwurm an der Gesellschaft. Viele bereits erwähnte Aspekte – zieloffenes Unterwegssein, Bindungslosigkeit, schnelle Verkehrsmittel, die Straße als inspirierender (Wohn)Ort und Lebensinhalt – werden um 1968 in der populären Kultur aufgegriffen. So sei beispielsweise an einen der großen Woodstock-Hits, On the road again von Canned Heat, erinnert oder im deutschsprachigen Raum an Hannes Waders Heute hier, morgen dort. Ferner ist an die zahlreichen Titel der Beatles zu denken, die sich auf Straßen beziehen (Penny Lane, Blue Jay Way, The Long and Winding Road, Abbey Road) sowie an das neu aufkommende Filmgenre des Road Movie. Die LP, die 1969 Dennis Hoppers Easy Rider begleitete, wurde übrigens unter dem Titel Born on the Road verkauft.

S ITUATIONISTEN

UND

D RIFTER

Neben der Populärkultur gibt es noch einen weiteren, auf den ersten Blick fernliegenden, Bereich des kulturellen Textes, in dem zieloffene Bewegung eine Rolle spielt: rund um das Konzept der17 »dérive«, des Umherschweifens. Es wird in den 1950er Jahren von der Situationistischen Internationale um Guy Debord entwickelt und im Laufe der 1960er Jahren verstärkt rezipiert und aufgegriffen. Die prominenteste Verwendung erfolgt sicherlich durch den »Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen«, die Vorläufergruppe der Tupamaros WestBerlin.18 Generell wurden die Texte der Situationisten im Umkreis der Studentenbewegung viel rezipiert und auch übersetzt, unter anderem durch die Gruppe 17 In der deutschen Forschungsliteratur ist die Artikelverwendung vor »dérive« als Fremdwort nicht ganz einheitlich (»die« oder »das« dérive). In Anlehnung an das französische Geschlecht des Wortes verwende ich in meinem eigenen Text »die«, in den Zitaten kann es jedoch Abweichungen geben. 18 Die zweite mögliche Vorlage für den Namen liefert der Text Über die Mentalität umherschweifender Rebellenhaufen (1929) von Mao Zedong.

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Subversive Aktion. Die Situationisten werden in der Forschung um 1968 häufig als Vorläufer und Inspirationsgeber für die Idee der Verschränkung von Alltag und Kunst bzw. des stärkeren Fokus der Kunst auf gesellschaftliche Prozesse herangezogen.19 In diesem Zusammenhang bedeutsam ist, wie das situationistische Verfahren des Umherschweifens als Art der Bewegung etabliert und verstanden wird. Guy Debord formuliert 1958 in der zweiten Ausgabe der Situationistischen Revue eine Theorie des Umherschweifens. Er bezeichnet es darin einführend als »eine Technik des eiligen Durchgangs durch abwechslungsreiche Umgebungen«. 20 Das Umherschweifen kann mithin überall stattfinden. Allerdings haben die meisten Umherschweif-Aktionen der Situationisten in den 1950er Jahren in Großstädten stattgefunden. Kennzeichnend ist die stetige, eher schnelle Bewegung, in der sich der oder die Umherschweifende befindet. Debord beschreibt das Umherschweifen weiter wie folgt: Eine oder mehrere das Umherschweifen experimentierende Personen verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die ihnen im allgemeinen bekannten Bewegungsbzw. Handlungsgründe, auf die ihnen eigenen Beziehungen, Arbeiten und Freizeitbeschäftigungen, um sich den Anregungen des Geländes und den ihm entsprechenden Begegnungen hinzugeben.21

Das Umherschweifen ist ein Bewegungsexperiment, das verlangt, dass die Person sich völlig von Bewegungen löst, die ihr als konventionell oder durch die Situation motiviert erscheinen. Damit verbunden ist die Lösung aus gewohnten Beziehungen. Leitend für die Bewegung des Umherschweifens werden die »Anregungen des Geländes« und die Kontakte, die spontan und ungeplant aus diesen Bewegungen resultieren. Das Umherschweifen setzt also auch voraus, dass es für die Bewegungen der Person keine vordefinierten Ziele gibt: Ziele werden spontan auf Basis der »Anregungen«, die aus vorherigen Bewegungen und Kon19 Zur Relation zwischen Situationistischer Internationale und deutscher Studentenbewegung vgl. Hecken: Gegenkultur und Avantgarde sowie Lee, Mia: Umherschweifen und Spektakel. Die situationistische Tradition, in: Klimke/Scharloth (Hg.): Handbuch, S. 101-105 und Komfort-Hein: Flaschenposten, bes. 239-254. 20 Debord, Guy: Theorie des Umherschweifens [1958], in: Situationistische Revue 2, online

unter

http://www.si-revue.de/theorie-des-umherschweifens

(abgerufen

am

27.07.2015). In einer anderen Übersetzung zu finden in Debord, Guy (Hg.): Guy Debord präsentiert Potlatch 1954-1957: Informationsbulletin der Lettristischen Internationale. Berlin 2002, S. 332-340. 21 Ebd. (Hervorhebungen von JC).

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takten hervorgegangen sind, angesteuert – und sie bestehen temporär, d.h. ein längerer Stillstand ist während des Umherschweifens nicht vorgesehen. Dabei ist das Umherschweifen jedoch auch kein bloßes »Herumirren auf freiem Feld«22, wie Debord betont: Dabei ist der Anteil des Zufälligen weniger ausschlaggebend, als man es im allgemeinen glaubt: vom Standpunkt des Umherschweifens aus haben die Städte ein psychogeographisches Bodenprofil mit beständigen Strömen, festen Punkten und Strudeln, die den Zugang zu gewissen Zonen bzw. den Ausgang daraus sehr mühsam machen. Das Umherschweifen als Einheit umfasst aber zugleich dieses Sich-Hingeben und seinen notwendigen Gegensatz – die Beherrschung der psychogeographischen Variation durch die Kenntnis und die Berechnung ihrer Möglichkeiten.23

Das Umherschweifen kennt zwar einerseits die Hingabe an den Prozess der Bewegung und den Verzicht auf geplante Bewegung, andererseits stellt es aber auch eine recht konkrete Beobachtungs- und Erforschungsaufgabe während dieser Hingabe. Es ist also, wie Max Jakob Orlich herausgearbeitet hat, weniger eine Bewegung ohne Motiv als eine Bewegung, die auf konventionelle Motive verzichtet. 24 Die Umherschweifenden sollen, indem sie ihre Bewegungen von den Einflüssen der räumlichen Umgebung einerseits lenken lassen, andererseits auch diese Einflüsse erspüren, erforschen, kartographisch beschreiben und sie gegebenenfalls zum Anlass für künstlerische Intervention und Neuschöpfung nehmen.25 Das Ergebnis dieses Verfahrens ist die bei Debord erwähnte »Psychogeographie« einer Umgebung: die »Niederschrift der Erkenntnisse, die eine ›dérive‹ zutage fördert, ihre Deutung und zusammenfassende Darlegung.«26 So bildet etwa die Psychogeographie eines Stadtteils ab, was die umherschweifende 22 Ebd. 23 Ebd. (Hervorhebungen von JC). 24 Vgl. Orlich, Max Jakob: Situationistische Internationale: Eintritt, Austritt, Ausschluss. Zur Dialektik interpersoneller Beziehungen und Theorieproduktion einer ästhetisch-politischen Avantgarde (1957-1972). Bielefeld 2011, S. 138. 25 Vgl. zum Konzept des Umherschweifens und der Einbettung des Konzepts in den Gesamtkomplex situationistischer Theorie auch das Standardwerk von Roberto Ohrt (Phantom Avantgarde: eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst. Hamburg 1990, bes. S. 84ff.) sowie die aktuell erschienene Arbeit von Annette Urban: Interventionen im public/private space. Die Situationistische Internationale und Dan Graham. Berlin 2013, bes. S. 70-76. 26 Ohrt: Phantom Avantgarde, S. 84.

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Person erfahren hat an Beförderungen und Hemmnissen ihrer Bewegung oder Unterschieden zwischen Stimmungen, gefühlten Tempi und »Klimazonen«27 an unterschiedlichen Orten.28 In der Praxis des Umherschweifens sowie in psychogeographischen Aufzeichnungen spielt wiederum die Straße eine ganz besondere Rolle. Annette Urban bezeichnet sie nicht nur als »Raum«, sondern auch als »Medium«29 des Umherschweifens: Die Straßen eines Stadtraumes sind die zentralen Linien, die Bewegungen in ihm beeinflussen, kanalisieren und ordnen. Damit sind sie nicht nur prädestinierter Ort des Umherschweifens, sondern sind in der Lage, durch ihre Existenz gewisse Bewegungen der Umherschweifenden überhaupt erst hervorzubringen. Ob eine Straße vorhanden ist, wie sie aussieht, verläuft und wie man sich auf ihr fühlt, beeinflusst wesentlich den Akt des Umherschweifens sowie den der psychogeographischen Beobachtung.30 Die umherschweifenden Situationisten sind damit, vor einem anderen Hintergrund als die »Highway Chile«-Figuren, ebenfalls im höchsten Maße sensibel für die Eigenheiten, Faszinationen und Eigendynamiken der Straße als Ort. Auch auf anderer Ebene schneiden sich Theorie und Praxis des situationistischen Umherschweifens mit Vorstellungen von Mobilität und Unterwegssein um 1968. Ein Indiz für diese Verwicklung ist etwa, dass der englische Begriff für das situationistische Umherschweifen (»drifting«) in den 1960er Jahren als Bezeichnung für den neu aufkommenden Trend des Rucksacktourismus (»driftertourism«) und den Rucksackreisenden (»drifter«) übernommen wird. Eric Cohen, der sich als Soziologe und Tourismusforscher Ende der 1960er Jahre als Erster dem Thema Rucksacktourismus zuwendet, charakterisiert den »drifter« als the type of tourist [who] ventures furthest away from the beaten track and from the accustomed ways of life of his home country. He shuns any kind of connection with the tourist establishment […]. He tends to make it wholly on his own, living with the people and often taking odd-jobs to keep himself going. He tries to live the way the people he visits live

27 Debord: Theorie des Umherschweifens. 28 Beispiele für psychogeographische Aufzeichnungen sind in den frühen Ausgaben der Situationistischen Revue sowie im Dokumentaranhang der Potlatch-Neuedition von Guy Debord abgedruckt. 29 Urban: Interventionen, S. 70f. 30 Vgl. ebd. S, 73.

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[…]. The drifter has no fixed itinerary or timetable and no well-defined goals of travel. He is almost wholly immersed in his host culture.31

Cohen bezeichnet diese Art des Reisens in einem Artikel von 1972 als besonders zeittypischen Trend der späten 60er und frühen 70er Jahre.32 Zwar skizziert er Vorläuferphänomene sowohl aus niedrigen sozialen Schichten (Hobos, Wanderarbeiter) als auch aus dem Umfeld des Bürgertums (Bildungsreisen); das entscheidende Novum beim »drifter« ist jedoch die programmatische Zieloffenheit seines Reisens. Die Vorläufer nach Cohen »did not drift around aimlessly. The drifter, however, has no instrumental purpose in mind, and often not even a concrete goal when embarking on his trip. […] He often goes abroad in order to get away from his homeland […].«33 Damit zeigt sich auch in der zeittypischen Reisepraxis, wie Cohen sie beschreibt, die Engführung zwischen zieloffener Bewegung und Bindungslosigkeit, ebenso wie der Wunsch »to get away«, der die Bewegung unabhängig von einem konkreten Ziel antreibt. Cohen selbst beobachtet bereits 1972, dass diese Art des Reisens offensichtlich ein generelles Bedürfnis der jungen »counter-culture« befriedigt und dass die Entscheidung zum »drifting« einer gesellschaftlichen Aussage gleichkommt: »Drifting fits admirably the style of life and the aspirations of the members of the ›counterculture‹ and thus becomes one of its chief expressions.«34 Weniger die französischen Situationisten selbst, aber ihre deutsche Nachfolgegruppe, die Subversive Aktion, beziehen sich mehrfach auf alternative Reiseformen. Gleich in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Anschlag im August 1964 schreibt Dieter Kunzelmann über das Reisen per Anhalter: Das Trampen ist einer der letzten Überreste der menschlichen Kommunikation. Aber in einer Gesellschaft, in der Kommunikation nur noch als passiver Konsum der Massenmedien existiert, in der Kommunikation als Folge ökonomischer Verhältnisse zur psychischen Selbstentfremdung dient, in der das Auto, d.h. die vollständige Isolation, jedem als Geschenk offeriert wird, wie kann sich in einer solchen Gesellschaft das halten, was noch 31 Cohen, Eric: Toward a Sociology of International Tourism, in: Social Research 39 (1972), H. 1, S. 164-182, hier S. 168. 32 Vgl. Cohen, Eric: Nomads from Affluence: Notes on the Phenomenon of DrifterTourism, in: International Journal of Comparative Sociology 14 (1973), H. 1, S. 89103, hier S. 89f. Zur Reisekultur um 1968 vgl. auch ausführlicher Clare: Amazing Journeys. 33 Cohen: Nomads from Affluence, S. 91. 34 Ebd., S. 93.

194 | P ROTEXTE einen Kern von Spontaneität in sich birgt! Die Rudimente vergangener Zeiten sollen vom Erdboden verschwinden, damit sich keiner der Zeiten erinnern kann, wo der Mensch dem Menschen noch als Mensch gegenübertrat, wo noch das existierte, was Gespräch genannt werden kann.35

Neben der Möglichkeit, seine Bewegung spontan zu gestalten, kommt in dieser Darstellung noch ein anderer Aspekt des Trampens hinzu: Obwohl zieloffene Mobilität und alternative Reiseformate fast immer einhergehen mit der Kultivierung von Bindungslosigkeit, wird das Trampen bei Kunzelmann gleichzeitig zum Katalysator von unentfremdeter Kommunikation sowie zwischenmenschlichen Kontakten erklärt. Tatsächlich muss die Bindungslosigkeit, die sich in allen bereits dargestellten Bewegungsidealen äußert, dahingehend präzisiert werden, dass sie nicht gleichbedeutend ist mit der Isolation von anderen Menschen (Isolation attestiert Kunzelmann ja gerade den »Nicht-Bewegten«). Die zieloffene Bewegung soll Interaktion und Kommunikation befördern – allerdings in einer gleichfalls spontanen und ungeplanten Form. Interaktion und Kommunikation dürfen nicht in Verpflichtungen münden, die das Weiterbewegen verhindern könnten. Damit verschwindet die zwischenmenschliche Interaktion, ähnlich wie die Zielrichtung, nicht völlig – sie werden nur jeweils in ihren konventionellen Formen abgelegt und alternativ gestaltet. Eine solche alternative Gestaltung von Kommunikation vermögen die überlieferten Zwei Protokolle von UmherschweifExperimenten zu illustrieren: Deutlich wird hier, dass die Umherschweifenden neben den »Anregungen des Geländes« auch auf bemerkenswerte Gespräche und Kontakte fokussieren. Einer dieser Kontakte ist der schwarze Reisende »Camille J.«, den die Umherschweifenden mehrfach in einer Kneipe treffen.36 Unter dem Gesichtspunkt zielorientierter und verbindlicher Kommunikation müssten die Gespräche mit Camille in jedem Fall als nicht funktionierend bezeichnet werden: Camilles Erzählungen erweisen sich schnell als wenig kohärent, die Umherschweifenden kommentieren sie sehr früh als Lügen bzw. unstimmig. Dennoch lassen sie sich fasziniert auf das Gespräch ein, spielen Camilles Verwirrspiel begeistert mit und treffen sich ein weiteres Mal mit ihm. Solche Gespräche, die konventionelle Erwartungen an funktionierende Kommunikation nicht erfüllen, aber dennoch begeistert aufrechterhalten werden, sind übrigens auch typisch für Vespers Reise (z.B. das Gespräch mit dem »Seemann« auf dem Arbeitsamt; vgl. 35 Kunzelmann, Dieter: Tramper aller Länder…, abgedruckt in: Böckelmann/Nagel (Hg.): Subversive Aktion, S. 189-190, hier S. 190. 36 Vgl. Zwei Protokolle von Umherschweif-Experimenten, in: Debord (Hg.): Guy Debord präsentiert Potlatch, S. 341-349, hier S. 341ff.

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DR: 210ff.) und vor allem Kerouacs On the Road (viele von Sals Gesprächen mit Reisebekanntschaften, z.B. mit dem Ex-Sträfling Henry Glass (vgl. OtR: 236f.)). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die Protagonisten als Zuhörer aus ihnen trotz ihres Nicht-Funktionierens etwas beziehen. Sie sind also nicht in dem Sinne »sinnlos« und ziellos wie etwa Gespräche in einem Beckett-Drama, sondern legen alternative Maßstäbe wie z.B. das spontane Interesse des Zuhörenden, die faszinierende Abweichung von einer Norm oder die Belustigung des Zuhörenden an.

S CHREIBPROZESS IN B EWEGUNG

UND

B EWEGUNG , S CHREIBPROZESS

Bereits Susanne Komfort-Hein hat das situationistische Umherschweifen mit Poetiken in Verbindung gebracht – und zwar im ersten Schritt über den Begriff der Lektüre. Umherschweifen ist demnach auch ein »Lektüreakt« an der Umgebung, »der die Rückseite jener als leer empfundenen Oberfläche der kapitalistischen Metropolen sucht, um deren Elemente falschen Alltags mit spielerischer und experimenteller Phantasie aufzuladen«.37 Ein solcher Lektüreakt legt, während sich die »Lesenden« durch den Raum bewegen, Eindrücke frei und ist genau wie die Bewegung nicht auf bestimmte Ziele fixiert, sondern lässt sich spontan von Eindruck zu Eindruck leiten. Manche Situationisten sollen die Konventionen der Raumwahrnehmung aktiv durch Experimente ausgeschaltet haben – etwa der Freund Guy Debords, der 1955 den Harz durchwandert, indem er einer Straßenkarte von London folgt, wie eine nicht verbürgte, aber häufig zitierte Anekdote aus situationistischen Kreisen erzählt.38 Bei Roberto Ohrt taucht der Lektüre-Gedanke zumindest innerhalb seiner Bildsprache über das Umherschweifen auf, wenn er zum Beispiel schreibt, dass die Situationisten »in der Architektur [lasen]« 39 oder dass sich das Umherschweifen vergleichen lässt mit dem »Umhertreiben in einem Lexikon […], indem man einfach den Verweisen folgt, die einem gegeben werden.«40 Zu sehen 37 Komfort-Hein: Flaschenposten, S. 259. 38 Zu finden z.B. bei Frenzel, Sebastian: Gute Zeichen, schlechte Zeichen, in: taz. die tageszeitung vom 29.07.2005 (online unter http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig= 2005/07/29/a0218; abgerufen am 27.07.2015). 39 Ohrt: Phantom Avantgarde, S. 84. 40 Ebd. Vgl. zur Erweiterung des Konzepts »lesbarer« Räume das Kunst-/ Literaturprojekt Literary Psycho-Geography of Edo/Tokyo and Amsterdam (2001) des

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ist ein solcher Lektüreakt z.B. in den erhaltenen Zwei Protokollen von Umherschweif-Experimenten: Die Umherschweifenden nehmen kleinste Details der Umgebung zum Anlass, sich von ihnen zu einem anderen Element des Raumes leiten zu lassen – oder auch zu einem intertextuellen Bezug, wie im Falle des »Wurst- und Lebensmittelladen[s] ›A. Breton‹ im Haus Nummer 160 der Rue Oberkampf«41. Im zweiten Schritt verbindet Susanne Komfort-Hein aber auch ein weiteres Textverfahren mit dem Umherschweifen: die »Usurpation neuer Beschriftungsflächen«42 im öffentlichen Raum. Hier wird der öffentliche Raum nicht mehr nur gelesen, sondern in seiner Lesbarkeit modifiziert, indem die Umherschweifenden selbst Text im Raum erzeugen. Solche Texte können zum Beispiel Graffitis, Parolen, Wandbilder, Plakatierung und andere Formen der eigenmächtigen »Beschriftung« des öffentlichen Raumes sein. Sie finden sich weniger im Rahmen der frühen Umherschweif-Experimente der 1950er Jahre, dafür bei den stärker politisierten situationistischen Folgegruppen der 1960er Jahre. Komfort-Hein zeigt, wie diesen Beschriftungsakten eine spezifische Poetik innewohnt: In der situationistischen […] Poetik des Umherschweifens geht es hingegen auch um die Usurpation eines Ursprungs, um den schöpferischen Akt des Zeichen-Setzens, und sei es auch durch ›einige Kritzeleien auf den Mauern, in aller Eile eingeritzte Worte der Verweigerung‹, um die in einer ›saturierten Gesellschaft‹ entdeckten Gewalt- und Verblendungszusammenhänge zu demaskieren.43

Der Raum wird im Falle einer solchen Usurpation als Schreibfläche nicht nur unkonventionell durchquert und wahrgenommen (»gelesen«), sondern auch zur Kommunikationsfläche in eigener Sache gemacht und letztlich auch beansprucht. Er wird durch das »Zeichen-Setzen«, von dem Komfort-Hein spricht, markiert. Indem die Lesenden sich zu Schreibenden im Raum machen, wird dokumentiert, dass sie mitsamt den oppositionellen Positionen »da« sind, in diesem Raum ebenfalls existieren. Der Situationist Raoul Vaneigem schreibt in seinem

Niederländers Tjebbe van Tijen, das aus der situationistischen Idee der Psychogeographie entwickelt wird (http://www.imaginarymuseum.org (abgerufen am 27.07.2015)). 41 Zwei Protokolle von Umherschweif-Experimenten, S. 347. 42 Komfort-Hein: Flaschenposten, S. 260. 43 Ebd., S. 259; Zitate aus Vaneigem, Raoul: Anmerkungen gegen den Urbanismus [1961], in: Situationistische Revue 6, online unter: http://www.si-revue.de/ anmerkungen-gegen-den-urbanismus (abgerufen am 27.07.2015).

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Text Anmerkungen gegen den Urbanismus, aus dem die Zitate bei Komfort-Hein stammen: Den Plan einer Stadt, deren Straßen, Mauern und Viertel machen so viele Zeichen einer seltsamen Konditionierung aus. Welches Zeichen können wir darin als das unsrige erkennen? […] Wir wollen im bekannten Land, unter lebendigen Zeichen, die alltägliche Freunde sind, leben.44

Das alternative Bewegen durch den Raum ist damit auch ein Bewegen unter Zeichen, die »nicht die unsrigen« sind, ein permanentes Sehen und »Lesen« von unstimmigem Text, der modifiziert werden muss. Susanne Komfort-Hein führt die situationistische Text-Raum-Verbindung als Beispiel für die Tendenz der »Poetisierung des Alltags«45 in den 1960er Jahren an. Ich möchte dies erweitern um den Aspekt der Poetisierung von Bewegung bzw. des wechselseitigen Verhältnisses, das Poetik und die speziellen Vorstellungen von Bewegung um 1968 auf verschiedenen Ebenen eingehen. Eine auffällige Gemeinsamkeit der untersuchten Phänomene vom Umherschweifen über die Rucksackreisenden zu den literarischen Figuren und Schreibprozessen ist das Interesse an einer kontinuierlichen Bewegung. Guy Debord fordert von den Umherschweifenden, nach Möglichkeit eine Umherschweif-Unternehmung nicht zwischendurch zu unterbrechen, den Fluss der Bewegung immer aufrecht zu halten.46 In den vorausgehenden situationistischen Zitaten sind außerdem für das, was es beim Umherschweifen zu »lesen« gilt, die Begriffe »Ströme«, »Strudel« und »fließen« gefallen. Bei einer Charakterisierung dessen, was beim Umherschweifen wahrgenommen wird, wird also häufig zu Metaphern für kontinuierliche, nicht abreißende Bewegungen gegriffen. Auch der »Drifter« begibt sich in den »Fluss« seiner Reise, sein immer gleiches Ziel ist das Weiterbewegen – ähnlich den zahlreichen literarischen und populärkulturellen Figuren, die nur wissen, dass Stillstand schlecht ist und dass die Lösung immer im »Weitergehen« besteht. Was passiert nun, wenn diese Vorstellung einer kontinuierlichen Bewegung auf Poetiken übertragen wird – sei es in der Sprache einer Figur über ihr Schreiben oder im Versuch des Schriftstellers, die Darstellung selbst in einer kontinuierlichen Bewegung zu hal-

44 Vaneigem: Anmerkungen gegen den Urbanismus. 45 Komfort-Hein: Flaschenposten, S. 260. Vgl. zur Poetisierung des Alltags und zum Kunstbegriff der Situationisten außerdem Kießling: Die antiautoritäre Revolte, S. 130-133. 46 Vgl. Debord: Theorie des Umherschweifens.

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ten? Beispielsweise vergleicht Bernward in der Reise Schreibblockaden und –unterbrechungen mit einem Verstopfungsleiden: SCHREIBEN nach langer Zeit der Untätigkeit: Wie der Versuch, nach tagelanger hartnäckiger Verstopfung zu scheißen. Du sitzt auf dem rauhen Holz der Klosettbrille. Der Magen unter dem Nabel ist warm und weich: aber du mußt mit den Händen die Arschbacken auseinanderreißen und die Kotkugeln, die dich zur Ziege verwandeln, mit den Zeigefingern herauspulen. Und nach einiger Anstrengung: Voilà! Ein dünner Blutfaden an der abgegangenen, noch dampfenden Kotsäule wie der Streifen an der Galauniform eines Generals! (DR: 140)

Abgesehen davon, dass das Schreiben hier als ein sehr körperlicher und mitunter widerlicher Akt, etwas aus seinem Inneren auszuscheiden, gekennzeichnet wird, ist es auch etwas, das »verstopft« sein kann, das also eigentlich nach Bewegung verlangt, wenn es auf kein Hindernis trifft. Ebenfalls um das Verhältnis von Schreiben und Bewegung geht es, wenn sich Bernward darüber beklagt, dass er eigentlich den »Strom der Imagination« in seiner Kontinuität im Schreiben abbilden möchte – dass ihn dabei aber immer der manuelle Akt des Aufschreibens im Weg ist: »Ich hasse das Klappern der Schreibmaschine, weil es den Strom der Imagination zerhackt. Handschrift, Sprechzwang beim Tonband, das gleiche. Von dem, was bis in die Vorstellung vordringt – wenig genug –, gelangt doch nur sehr wenig aufs Papier.« (DR: 45; Hervorhebungen im Original) Bernward erscheint sein Schreiben deshalb unzureichend, weil es »zerhackt« ist, bis es auf dem Papier ankommt – die Imagination strömt und fließt in der Schriftform nicht mehr so kontinuierlich wie in seinen Gedanken. Fast mutet es an, als würde Bernward hier auf einen Ratschlag Kerouacs zum Schreiben reagieren: In dessen 1959 hinzugefügten Nachwort zu On the Road findet sich eine Liste unentbehrlicher Hilfsmittel zum Schreiben moderner Prosa. Einer der ersten Punkte jener Liste thematisiert genau das Problem, das innere Strömen durch den Aufzeichnungsprozess auf das Papier hinüberzuretten: »Es gilt, die Flut, die in deinem Inneren bereits unversehrt existiert, aufzuzeichnen! Ringe darum!«47 Schreiben soll auch nach dieser Aufforderung möglichst viel kontinuierliche Bewegung in sich haben und ausdrücken und damit den Gedanken und dem Lebensgefühl des bewegten Subjekts auch äußerlich möglichst nah kommen. In Bezug auf Schreibprozess und Bewegung verbindet Bernwards poetologische Reflexionen 47 Kerouac, Jack: Wie schreibe ich moderne Prosa? Ein Glaubensbekenntnis und ein technischer Ratgeber. Liste unentbehrlicher Hilfsmittel [1959], abgedruckt in: OtR: 285.

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und Kerouacs »Hilfsmittel« noch ein weiterer Punkt: Nicht nur kontinuierlich soll die Bewegung sein, die in die Darstellung eingeht, sondern auch außerhalb von jeder Zielrichtung. Einige von Kerouac gelistete Punkte lesen sich darin gleichzeitig wie ein literarischer Parallelentwurf zum situationistischen Umherschweifen und zur durch spontane Eindrücke geleiteten »Lektüre« des Umfelds: 1 Geheime Notizbücher und lose Manuskriptseiten, die du zu deinem eigenen Vergnügen vollgekritzelt beziehungsweise wild vollgetippt hast. 2 Gib dich jedem Eindruck hin! Öffne dich! Lausche! […] 28 Komponiere wild, undiszipliniert, rein! Schreibe, was aus den Tiefen deines Inneren aufsteigt! Je verrückter, desto besser!48

Sowohl das, was die schreibende Person wahrnimmt als auch das, was sie schreibend aufzeichnet, soll in Bewegung sein, und zwar in einer möglichst wenig berechenbaren und systematischen Bewegung ohne definiertes Ziel. In der Reise bemerkt Bernward dann auch lapidar über sein Schreiben: »Abschweifen – wovon? Es gibt doch nur ein Abschweifen vom Standpunkt des Erzählers, eine Verdrängung – mehr nicht.« (DR: 22) Wahrnehmung, Schreibprozess und geschriebener Text werden möglichst vollständig von definierten Zielen und Grenzen abgekoppelt. Bernward kämpft jedoch in diesem Zusammenhang mit einem Problem der Schreib-Bewegung, das den Schreibprozess ebenso betrifft wie die inhaltliche Konzeption des entstehenden Textes – der »Linie« im Schreiben, gegen die er eine dauerpräsente Abneigung hegt: Ich fragte Jorge Amado: »Was ist die Ursache für die Krise unserer Literatur?« Und Jorge antwortete: »Wir haben nicht mehr genügend junge Autoren, weil diese jungen Künstler alle Musiker oder Filmemacher sind.« Das individuelle Produktionsmittel Schreibmaschine, die technische Fortsetzung des Gänsekiels, ist veraltet. Die Bibel ist verschwunden, doch die Zelle ist geblieben. Und die Zeile. Sie zwingt die Gedanken in einen linearen Prozeß, die Widersprüche erscheinen als Hierarchie, eine ›folgt‹ aufs andre, also auch aus dem andren, wat schrifft, dat blifft, bleibt gleich für alle, obgleich nicht alle gleich sind. Niemand, der schreibt, kann sich dem Zwang der Linie entziehen. Immer entstehen Zeilen, Geschichten, ohne daß zugleich Gegen-Zeilen, Gegen-Gegen-Geschichten sichtbar würden. […] Der inner space hängt ja schließlich auch nicht auf einer Linie (daß wir dann

48 Ebd.

200 | P ROTEXTE mit Sätzen, Wörtern, Buchstaben noch ein bißchen auf der Seite rumrutschen, ändert an der bestehenden Kommunikations-Misere gar nichts). (DR: 17)

Die Zeile in ihrer linearen Form und die erzwungene Linearität, die eine zeitliche Abfolge des Erzählens bedeutet, sind für Bernward die letzten Reste konventioneller, zielgerichteter Schreib-Bewegung, die sich beim besten Willen nicht überwinden lassen. Noch bevor es um konkrete Elemente der erzählten Handlung geht, ist also die zieloffene Bewegung ein Maßstab der Darstellung: als Suche nach Möglichkeiten, vorgezeichnete, konventionelle Wege der Darstellung aufzubrechen und als Reflexion, inwiefern der Sprache selbst bereits zwangsläufig zielgerichtete, lineare Bewegungen innewohnen. Roman Luckscheiter hat darauf aufmerksam gemacht, dass die hier von Vespers Figur formulierte grundsätzliche Sprachkritik in ihrer Argumentation der Rolf Dieter Brinkmanns in seinem poetologischen Text Der Film in Worten (der Titel übrigens eine weitere Anleihe aus Kerouacs Liste unentbehrlicher Hilfsmittel) ähnelt: Der programmatische Essay Rolf Dieter Brinkmanns, der unter dem Titel Der Film in Worten ebenfalls in Acid abgedruckt war, kam dem Schreibprojekt Vespers in mancher Hinsicht nahe. Wo Vesper beispielsweise den ›Zwang der Linie‹ beklagte, imaginierte Brinkmann ein ›Geflecht dünner Drähte‹ als ›zeit-adäquate Form‹. Auch das Ideal einer enthierarchisierten Verwendung sprachlicher Register und formaler Möglichkeiten verbindet die beiden.49

Tatsächlich beklagt sich Brinkmann mit der »bisher übliche[n] Addition von Wörtern«50 ebenfalls über eine einengende Linearität, die dem Schreiben innewohnt. Brinkmann fordert Texte, die sich in alle Richtungen auf allen Ebenen ausdehnen und vernetzen können. Seine Kapitelüberschrift »Kunst schreitet nicht fort, sie erweitert sich« 51 weist die – lineare, zielorientierte – RaumMetapher des Fortschreitens ab zugunsten der Raum-Metapher der Erweiterung, mit offenen Richtungen.52 Eine prominente nicht-lineare Erweiterung des litera49 Luckscheiter: Der postmoderne Impuls, S. 156f.; zit. nach Brinkmann: Der Film in Worten, S. 233. 50 Brinkmann: Der Film in Worten, S. 223. 51 Ebd., S. 232. 52 Zum Aspekt der Offenheit in Brinkmanns Poetik vgl. auch Gerd Hurm: Rolf Dieter Brinkmann und Jack Kerouac: die leere Utopie des ›Einfach-nur-da‹-Seins, in: Fauser, Markus (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, S. 83-101, bes. S. 96-99.

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rischen Schreibens in Brinkmanns Poetikkonzept ist die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten durch intertextuelle und intermediale Grenzüberschreitungen: Am Beispiel der zeitgenössischen US-amerikanischen Lyrik führt Brinkmann vor, wie sich auch das literarische Schreiben in Deutschland in mehrere Richtungen »erweitern« könne: [E]ine Formen-Verbindlichkeit aus bloßer Tradition heraus gibt es [in den USA, JC] nicht – alle Formen stehen jedem jederzeit zur Verfügung und können jederzeit beliebig abgewandelt werden oder ›verletzt‹, ohne daß der Autor gegen seine vermittelten intellektuellen Skrupel, die ihm vom gesellschaftlichen Verständnis ›Literatur‹ aufgedrängt werden, angehen müßte… es herrscht das Empfinden vor, sich inmitten einer Überfülle an Material zu befinden, während hierzulande oft genug von literarischer Kritik her betont wird, daß der Autor soundso soundso lange an seinen Sätzen gearbeitet habe (haha!).53

Brinkmann bewundert an der US-amerikanischen Literaturszene vor allem »die Kontinuität der Bewegung hier« 54 , die uneingeschränkte Erschließung neuer Formen, neuen Materials und die Spontaneität und Schnelligkeit, mit der zwischen Ausdrucksmöglichkeiten gewechselt wird (im Gegensatz zum Schreiben in Deutschland, wo man um die Perfektion, Zielausrichtung und formale Einheitlichkeit jedes einzelnen Satzes bemüht ist). Luckscheiter bringt in seiner Betrachtung von Brinkmanns Text neben der nicht-linearen Struktur auch das Stichwort der »Enthierarchisierung« von Textverfahren ins Spiel. Analog zur Bewegung im Raum bedeutet dies, dass sich der oder die Schreibende erlauben soll, sich völlig frei im Raum der Ausdrucksmöglichkeiten zu bewegen, sich an nichts zu binden (z.B. in Bezug auf Stil, Textform, Authentizitätsanspruch, Stringenz der Handlung), einmal etablierte Muster spontan aufzugeben und jederzeit völlig andere Verfahren aufsuchen zu dürfen. Es wird in Brinkmanns Text deutlich, dass sich diese Enthierarchisierung sowohl auf formale als auch auf inhaltliche Aspekte des Schreibens bezieht: [D]ie neuen Produkte [= aktuelle US-amerikanische Texte, JC] lassen sich nicht mehr ohne weiteres dem Bestehenden zuschlagen, indem sie willig eine Alibifunktion erfüllen – sie haben die bestehenden Verständniskategorien hinter sich gelassen, die Zettelkästen sind durcheinandergeraten und nicht mehr zu gebrauchen… wo kann noch sicher etwas

53 Brinkmann: Der Film in Worten, S. 230. 54 Ebd., S. 227.

202 | P ROTEXTE abgelegt werden, was dann, wenn erforderlich und nützlich, hervorzuziehen wäre als Beweis – für was?55

Die Bewegung des Schreibens ist offen– in ihrer Funktion, in ihrer Form, in ihren Ordnungsmustern, in ihren Zielen und in ihren Themen. Ordnungen, feste Orte für irgendetwas und Bindungen an Konventionen werden abgelehnt. Luckscheiter hat recht, wenn er Vespers Reise als Text bezeichnet, dessen implizite Poetik in dieser Hinsicht einige Gemeinsamkeiten mit Brinkmanns Schreibentwurf hat: In Vespers Roman finden sich häufiger Passagen, in denen höchst unterschiedliche Perspektiven, Textformen und Satzkonstruktionen nahtlos und in kurzen Abständen ineinander übergehen. Beispielsweise folgt der in Kapitel 5 zitierten narrativen Passage, in der Bernwards Vater Kater Murr erschießt, übergangslos folgende Passage: ›MORGEN IST EIN SCHRECKLICHER TAG. Morgen, am 31. August senden Fernsehen und Rundfunk insgesamt: 63 ½ Stunden Politik und Nachrichten, 176 Stunden Schlager, Tanz- und Unterhaltungsmusik und Fernseh-Shows, 65 Stunden ernste Musik […], 1 ½ Stunden Spielfilme, 25 Minuten Fernsehkrimis.‹ // Wenn ich aufwachte, schliefen meine Eltern. Ich hörte ihren Atem. Ich mußte leise aufstehen, um sie nicht zu wecken. Im Badezimmer Katzenwäsche. […] Jedesmal, wenn ich in die Schule kam, ärgerte ich mich darüber, daß ich andre Kleider anziehen mußte als die andren Kinder: eine weiße Trachtenjacke, Bleylehosen. Ich ließ diese Dinge überall liegen: vor allem Kleidungsstücke und die vom Schuster gemachten, drückenden Lederschuhe. ZEITUNGSGEDICHT 3 [I] Dort Wohin diese Kanone zielt Droht heute kein Angreifer mehr, Dort Wirbt ein Restaurant Für seine Spezialbrathähnchen. Schlachtfelder machen hungrig: Also stärkt Euch Dort Mit Huhn und Cola. 55 Ebd., S. 228.

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[II] Danach Verkündete Lincoln Dort Die berühmten Grundsätze Seiner freiheitlichen Politik Government of the People by the people for the people. (DR: 358f.)

In der zitierten Passage wird nicht nur inhaltlich stark assoziativ und »zieloffen« gesprungen, sondern auch textformal, etwa zwischen dokumentarischen Aufzählungen, narrativen Prosapassagen und lyrischen Passagen in Versform. Auch die stilistischen Wechsel beispielsweise zwischen Hoch- und Fäkalsprache sind spontan und häufig ohne Überleitung angelegt. Jedes Element der Darstellung wird spontan aufgesucht und ist allen anderen gleichrangig, wie den Umherschweifenden und den »Highway Children« jeder Ort gleichrangig ist. Neben der Idee der zieloffenen Bewegung wohnt einer solchen Enthierarchisierung des Schreibens mit der Abschaffung jeglicher Rangordnung auch ein antiautoritäres Ideal inne. Brinkmann gibt seinem enthierarchisierten Poetikkonzept in Der Film in Worten sogar für einen Moment einen explizit politisierenden Dreh, indem er sich mit ihm gegen eine literarische Vorgängergeneration wendet, die aufgrund »einer zu intensiven Faschismuserfahrung […] andauernd unter dem Zwang auszusortieren leidet.«56 Brinkmann wie Vesper verfolgen das Ideal eines Schreibens, das sich keiner Autorität oder Grenze mehr beugt, »ohne modifizierte Einschränkungen und ganz frei von literarischen Hemmungen, grammatikalischen Ängsten und solchen Dingern« (OtR: 10), wie es Kerouacs Dean Moriarty gleich zu Anfang des Romans formuliert. Natürlich ist das in dieser Konsequenz kaum durchzuhalten: Kerouacs Roman verarbeitet die enthierarchisierte Bewegung fast ausschließlich auf der inhaltlichen Ebene; auf der textformalen Ebene enthält er kaum Brüche und Abweichungen etwa in Stil oder Gattungswahl. Auch den Texten von Vesper und Brinkmann, die Abschweifungen, Brüche und Ungebundenheit auch auf der formalen Ebene inszenieren, liegen dennoch gewisse Systematiken zugrunde, an denen entlang sich die Darstellung bewegt. Bei Vesper wäre etwa an die immer ähnlich gestalteten EINFACHEN BERICHTE zu denken, die in regelmäßigen

56 Ebd., S. 226.

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Abständen eingeschoben sind, bei Brinkmann an den doch recht charakteristischen Sprachstil, der in Keiner weiß mehr durchgehend etabliert wird. Ein weiterer großer Bereich, in dem sich Bewegung und Schreiben berühren, ist der der Bewegung beim Schreiben. In Kerouacs On the Road werden die beiden Protagonisten Dean und Sal als vor allem durch ihre Reisen verbunden gezeigt. Tatsächlich bringt sie in der anfänglichen Kennenlern-Szene ausgerechnet das Schreiben zusammen: Sal, der von einem Durchbruch als Schriftsteller träumt, hat eine Schreibblockade. In diesem Moment erscheint Dean, der von seiner Frau hinausgeworfen worden ist, mit folgenden Worten an seiner Tür: »Hal-lo, erinnern Sie sich an mich – Dean Moriarty? Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie mir nicht zeigen können, wie man schreibt.« (OtR: 9) Deans Anliegen (oder Vorwand), Sal aufzusuchen und sich mit ihm anzufreunden, ist zu lernen, »wie man schreibt«. Tatsächlich ist dann für den Rest der Romanhandlung nur noch äußerst selten die Rede vom Schreiben – nicht Dean lernt von Sal das Schreiben, aber Sal von Dean das In-Bewegung-Sein, das ziel- und bindungslose Reisen. Letzten Endes braucht Sal aber genau diese Lernerfahrung, um mit dem Schreiben anzufangen: Insofern On the Road rückblickend aus seiner Perspektive erzählt ist, konnte er offensichtlich nach seinen Reisen mit Dean plötzlich schreiben. Vesper gestaltet das Ausgangssetting seines Textes in diesem Punkt sehr ähnlich: Während sich Sal mit dem Satz »Ich war ein junger Schriftsteller und wollte starten« (OtR: 14) vorstellt, führt Vespers Figur sich folgendermaßen ein: Ich war also dieser junge politisch engagierte Schriftsteller, [der nicht glaubte, daß es in Deutschland jemals gelingen würde,] der sich gerade entschieden hatte, aus Deutschland wegzugehen, der nur noch einen Job suchte, um irgendwo [in Marokko] leben zu können [mindestens den Winter über]. (DR: 19; Klammern im Original)

Ausgangspunkt ist in beiden Fällen ein Schriftsteller, der »weg will« – und auch im Falle Bernwards wird es zu einem wichtigen Schreibmotor, dass er zieloffen unterwegs ist. Wie bereits in Kapitel 3 erwähnt, lautet einer von Vespers Titelvorschlägen für sein Buch, den er dem Verlag macht, »Logbuch«57. Demnach existiert der Text nach Vespers Verständnis ausschließlich wegen des Reisens und wird durch den Gang seiner Reisen in seinem Schreibprozess determiniert. Klaus Hartung hat das Reisen Vespers bezeichnet als »eine Methode, sich zur Sprache zu bringen, sich ohne Verzögerung und ohne Zeitverlust auf der Spitze 57 Vgl. den Brief Bernward Vespers an den Verleger Jörg Schröder vom 06.03.1971 (DR: 618 (Anhang)).

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seiner Wahrnehmungen bewegen zu können«.58 Dies lässt sich, neben den räumlichen Reisen, die für mich vor allem wichtig sind, übrigens über alle metaphorischen »Reisen« sagen, die im Text außerdem eine Rolle spielen: Auch z.B. der Drogentrip, die »Reise« in die Vergangenheit und die selbstreflexiven »Reisen« ins Innere des Protagonisten können als solche Wahrnehmungs- und Schreibmotoren gelesen werden. Die schnellen, zieloffenen Raumwechsel, die Bernward im Laufe der Handlung vollzieht, sind notwendige Bedingung für seinen Schreibprozess. Geschlossene Räume, in denen er versucht zu schreiben, stören ihn durch ihre Begrenztheit: »Gefängnisbücher: wie auch dieser Raum, wenn ich mich hinsetze, um zu schreiben, Gefängnis wird…« (DR: 140). Um kein »Gefängnisbuch« zu schreiben, ist es notwendig, dass sein »SCHREIBEN: losgelöst von einem Ort« (DR: 220) passiert. Bernwards Arbeitsraum ist die Straße, die offene Reiseroute.59 Geradezu kontrastierend nimmt sich in dieser Hinsicht der Arbeitsraum von Brinkmanns Figur aus: Auch dieser Arbeitsraum ist stetig präsenter Gegenstand der Darstellung, jedoch ist ihm genau jener unerfüllte Bewegungsdrang eingeschrieben, der den Protagonisten so unglücklich macht: »Er hatte sich vorn eingerichtet mit seinen Büchern, Papier, den Schallplatten, aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittenen Bildern an den Wänden über den provisorisch zusammengestellten Bücherregalen.« (Kwm: 11) Die Insignien des Bewohners, mit denen der Raum hier eingeführt wird – Zeitungsausschnitte und provisorisches Mobiliar, auch die später geschilderten Bücherstapel – weisen darauf, dass dieser sich eigentlich im Aufbruch fühlt, dass er nicht vorhat, sich fest einzurichten. In diesem Aufbruchs- und Durchgangsraum findet aber interessanterweise zu keinem Zeitpunkt ein tatsächlicher Schreibakt statt. Stattdessen wird der Arbeitsraum mit seinem Potential zur Mobilität immer wieder akribisch beschrieben, mit den beiden Subtexten, dass sich hier bewegt werden könnte und dass hier geschrie58 Hartung, Klaus: Die Repression wird zum Milieu. Die Beredsamkeit linker Literatur (Peter Schneider, Peter O. Chotjewitz, Inga Buhmann und Bernward Vesper), in: Manthey, Jürgen (Hg.): Schreiben oder Literatur. Hamburg 1979 (= Literaturmagazin 11), S. 52-79, hier S. 76. 59 In einem sehr einleuchtenden Vortrag (Bonn, 12.07.2013) hat Jürgen Brokoff ausgeführt, dass es um 1968 ein möglicher Umgang mit der »Krise der Literatur« war, als Schreibmotor den Schreibtisch gegen »draußen« zu vertauschen. Daraus speisen sich u.a. neu entstehende zeittypische Genres wie die »Arbeiterliteratur« und die Sozialreportage. Der »Ort des Schriftstellers« ist in diesen Fällen immer in einem Doppelsinn zu verstehen – als »Ort des Intellektuellen in der Gesellschaft« und als Ort, an dem er sich während des Schreibprozesses aufhält.

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ben werden könnte. Wenn von einem solchen möglichen Schreibakt die Rede ist, geschieht dies auch meist im Konjunktiv (z.B. Kwm: 83). Der Arbeitsraum zeigt deutlich, dass es unmittelbar zusammenhängt, dass sein Bewohner es nicht schafft, zu schreiben und es nicht schafft, »in Bewegung zu kommen« – Schreiben und Bewegung stauen sich dort gleichermaßen. Genia Schulz beobachtet eine solche aufgestaute, drängende Bewegung, wenn sie über Brinkmanns Protagonisten schreibt: »Alles will in Bewegung kommen, erzeugt dabei Unruhe, aber keine Änderung.«60 Was hier über die Ebene der histoire ausgesagt wird, findet seine Entsprechung im discours des Textes. Keiner weiß mehr ist auch ein Text, der in seiner Form und in seiner Art der Darstellung Unruhe ausstrahlt, obwohl sich auf der Handlungsebene letzten Endes gar nichts bewegt. Wie kommt dies zustande? Vielleicht am besten beschrieben wird die Art, wie Keiner weiß mehr geschrieben ist, in einem anderen Text Brinkmanns. In seiner frühen Kurzerzählung Das Alles stellt sich der Protagonist ein Buch vor, das sein Lebensgefühl möglichst gut ausdrückt. Das Buch, das der Protagonist unbedingt finden möchte, trägt signifikante Merkmale des späteren Romans Brinkmanns: »Er hatte nach irgendeinem Buch gesucht, das es gar nicht gab, von dem er aber eine genaue Vorstellung hatte, wie es geschrieben sein müßte, flach, ohne Absätze und die Zeilen langgezogen, Zeile um Zeile wegziehend, selten Punkte.«61 Exakt diese Kriterien lassen sich fast (einige Absätze hat der Text) eins zu eins an Keiner weiß mehr erkennen. So besteht z.B. die folgende längere Gesprächsszene ausschließlich aus »langgezogenen« Zeilen ohne Unterbrechungen durch Punkte und Absätze. Nicht einmal Erzählstimme und Figurenstimme sind voneinander abgesetzt, ebenso wenig die Redebeiträge selbst voneinander: […] also wie um diese Zeit mit ihm und Gerald, der während Rainers Abwesenheit dazugekommen war und den sie beide noch von dorther flüchtig kannten, fortzusetzen, obgleich die Zeit völlig anders geworden war, auch die persönlichen Umstände, ihr Verhältnis zueinander aber nicht, sie verstanden sich noch immer, konnten sich schnell einigen, was der eine gut fand, der andere noch nicht kannte, weil Rainer ja nur eine Zeitlang fort gewesen war, etwas über drei Jahre, sonst nichts, so daß sie nun an einem beliebigen Punkt von vorne beginnen konnten, wie sie glaubten, nur daß er eben jetzt schon verheiratet war und da noch ein Kind war, klein, wenig zu beachten und ihn nicht störend, eben60 Schulz, Genia: Sich selbst suchend sehen, in: Brinkmann, M. (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann, S. 167-181, hier S. 168. 61 Brinkmann, Rolf Dieter: Das Alles [1966], in: Ders.: Der Film in Worten., S. 77-83, hier S. 79.

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sowenig wie seine Frau, obwohl beide, das Kind und sie, sich dazwischen geschoben hatten, wie sich dann herausstellte, aber nicht störend, wenigstens nicht für ihn, Rainer, dem ein derartiger Zusammenhang ohnehin fremd blieb und den er sich für sich ja auch nicht vorstellen konnte, verstehst du, mir kommt das komisch vor, wie ist das, gut, nicht gut, muß doch oft lästig sein, denke ich, betonte er ihm gegenüber, grundsätzlich lästig, meine ich, im Einzelfall dann aber auch wieder nett, könnte ich mir vorstellen, wenn man das aushalten könnte, ich meine, ohne daß das einmal aufhören könnte und was Neues anfing, ganz was Anderes, davon Unterschiedenes und nicht immer dasselbe. Also wirklich, ich denke mir das schwierig, obgleich, verstehst du, diese Art ja auch nicht ideal ist, immer auf der Suche, weiter, aber man kommt dabei viel rum, sonst manchmal traurig, wenn ich mir überlege, denke ich, manchmal, so irgendwie, wie sagt man das noch im Deutschen, er überlegte, ohne daß ihm sogleich der deutsche Begriff dafür einfallen wollte. (Kwm: 155f.)

Die Erzählweise ist hier, um Brinkmanns frühere Metapher aufzugreifen, deshalb »flach«, weil sie wie eine Straße weiterrollt oder wie ein Fluss weiterfließt, ohne Zäsuren, Höhepunkte und auch ohne inhaltliche Zwischenziele, auf die das Erzählen hinsteuert. Was erzeugt in der Passage die gleichzeitige Unruhe? Erzähltextanalytisch betrachtet ist die Passage zunächst deshalb in unruhiger Bewegung, weil die Erzählstimme ständig übergangslos wechselt: Direktzitate der Figur Rainer wechseln sich mit den Kommentaren der heterodiegetischen Erzählstimme (»er überlegte«) und Passagen erlebter Rede (»und den er sich für sich ja auch nicht vorstellen konnte«) ab, ohne dass sie visuell voneinander abgesetzt würden. Handlungen, Gedanken des Protagonisten und Wortbeiträge anderer Figuren ergeben einen Strom, der den Text in einer kontinuierlichen Bewegung hält. Zusätzlich gibt es eine auffällige Korrespondenz zwischen den Sätzen ohne Ziel und der inhaltlichen Ziellosigkeit des gezeigten Gesprächs. So wie auf der Ebene der Darstellung zu keinem Zeitpunkt vorauszusehen ist, wann der Satz zu Ende ist, könnte auch das Gespräch auf der inhaltlichen Ebene jederzeit beliebig abgebrochen werden. Rainers Beiträge sind inszeniert wie ein unablässig ablaufendes Tonband, sie richten sich nicht gezielt in Erwartung einer Antwort oder Reaktion an den Protagonisten. Nun ist diese Art von Ziellosigkeit, anders als in den zuvor thematisierten Fällen, in keiner Weise produktiv. Sie ist eher, um Guy Debords Metapher aufzugreifen, ein »Herumirren auf freiem Feld«, insofern sie nicht dazu führt, dass Dinge alternativ wahrgenommen werden oder Fährten nachgegangen wird. Das Einzige, was diese kontinuierliche, ziellose Bewegung sichtbar zu machen vermag, ist, dass eigentlich auf allen Ebenen Stagnation herrscht: im Leben, in dem, was es über das Leben zu sagen gibt und in der Sprache selbst. Sie begünstigt daher, anders als die Elemente

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zieloffener Bewegung, die sich bei Vesper, Kerouac und auch den Situationisten nachweisen lassen, weder das »Weitergehen« noch das kreative Weiterkommen. Diese Zieloffenheit ist weder produktiv noch progressiv – zumal sie sowohl auf der Ebene der Darstellung als auch in Gesprächen und Handlungen immer wieder zu Kreisbewegungen führt. Im zitierten Ausschnitt ist dies z.B. in Rainers Argumentation zu sehen: Trotz der »fließenden« Gestaltung seiner Ausführungen changieren diese inhaltlich eigentlich immer nur zwischen den beiden Polen, dass Familie haben eine Belastung sei, dass es aber auch etwas Schönes an sich habe (was aber auch eine Belastung sein könne usw.). Ähnlich ziellos und in sich kreisend nehmen sich Überlegungen des Protagonisten wie diese aus: »Er merkte, es ging nicht mit ihr. Oder was, wie? Oh, so träge, so schwerfällig. Das war sie nicht. Doch.« (Kwm: 113) Text, Gespräch und Protagonist drehen damit letztendlich in sich. Sie erzeugen kontinuierliche Bewegung, kommen aber »nicht weiter«, sodass in einem stagnierenden Rahmen permanente Unruhe herrscht. Folgende Passage, in der der Protagonist darüber reflektiert, was ihn von seinen Freunden und seiner Frau trennt, mag dies noch deutlicher illustrieren: Von dem anderen, womit er sich abquälte und immerzu beschäftigte, wußten sie nichts oder wenig, und wenn sie davon etwas erfuhren, blieb es für sie unverständlich. Das. Was das war. Und was nur noch mit ihm allein zu tun hatte. Und das er ihnen auch gar nicht erklären konnte, zum Beispiel dieses ziellose Herumlaufen nachmittags in der Stadt. Das lange untätige Herumsitzen bei sich im Zimmer. Dieses Starren auf den einen Fleck, den es nicht gab, aber das Starren war da. Es war verworren, knotig, hing mit allem zusammen […], zusammengenommen ein einziges widersprüchliches Geflecht aus vielen Knoten, Antworten, Gegenantworten, Rechtfertigungen und Vorstellungen, Erlebnissen, Wunschbildern und Absichten, die versteckt gehalten wurden. (Kwm: 106)

Dass zum Schluss der zitierten Passage offen gehalten wird, ob das beschriebene »es« seine Wahrnehmung, sein Leben oder die Darstellung seines Lebens bezeichnet, sagt viel über den Roman und seine Poetik aus. Der um 1968 omnipräsente Bewegungsdrang kann sich, das zeigen die untersuchten Beispiele, in verschiedenen Kontexten auf die unterschiedlichsten Dinge richten: Ist es das Subjekt selbst, von dem Bewegung gefordert wird? Von der Gesellschaft? Von der Sprache? In der Sprache? Genau diese Fragen sind komplett offen, wenn etwa Christian Linder 1975 in einem germanistischen Sammelband, der eine erste Bilanzierung der »Tod der Literatur«-Phase versucht, über Hans Magnus Enzensberger schreibt: »Das ist der Mythos eines Mannes, der beweglich ist und unterwegs, der Positionen anspricht und ausspricht und sie

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wieder verläßt.«62 Linder legt sich nicht fest, ob das »Bewegliche« des »Mythos Enzensberger« sich auf Enzensberger als Privatperson, auf ihn als politischen Aktivisten, auf ihn als Schriftsteller, auf seine Texte oder einen Verbund aus alledem bezieht. Jedenfalls wird ein weiteres Mal klar, dass Beweglichkeit und Unterwegssein zentrale Maßstäbe der Beurteilung von Personen wie Texten sind.

F AZIT Beweglichkeit, die auf eine unerträgliche Stagnation trifft, zeigt sich als ein zeitgenössisch sehr beliebtes Bild für den Konflikt zwischen oppositionellen Subjekten/Positionen und der restlichen Gesellschaft. Dabei kreuzen sich Vorstellungen von räumlicher Bewegung (Reisen, Umherschweifen, Wegwollen, auf der Straße leben…) unmittelbar mit metaphorischen Vorstellungen von Bewegung (Aufgabe von festen Mustern und Konventionen, gesellschaftliches Vorankommen…). Bezogen auf die Literatur erweisen sich nicht nur die Inhalte der untersuchten Texte, sondern auch die Schreibprozesse und Darstellungsverfahren, die sie prägen, von Konzepten räumlicher Bewegung sowie Bewegung im übertragenen Sinne gleichermaßen durchdrungen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch einmal beispielhaft an Kerouacs Liste unentbehrlicher Hilfsmittel und die rapiden Wechsel enthierarchisierter formaler Merkmale, die sowohl Vespers als auch Brinkmanns Text zu eigen sind. Das Ergebnis ist das Ideal einer Literatur, die in Bewegung ist, Bewegung dokumentiert, von Leuten in Bewegung geschrieben wird und die etwas bewegen kann – wobei diese Bewegung bestimmte Eigenschaften wie Spontaneität, Bindungslosigkeit, Zieloffenheit und oft auch Geschwindigkeit haben soll. Im Falle Vespers wird das Experiment, diesen Bewegungs-Forderungen auf allen Ebenen gerecht zu werden, produktiv gemacht, im Falle Brinkmanns korrespondiert die Abwesenheit jeglicher Bewegung und der dringende, hilflose und ewig unerfüllte Wunsch nach ihr auf der inhaltlichen Ebene der formalen Umsetzung des Textes als unruhig »in sich kreisend«. Wie an einigen Stellen bereits angedeutet wurde, vermag das Thema Bewegung innerhalb und außerhalb der Literatur an größere Konzepte anzuknüpfen, die um 1968 wichtig sind. Diese Anknüpfungspunkte sollen hier abschließend ausblickhaft skizziert werden: Beispielsweise erweist sich die Bedeutungsdimen62 Linder, Christian: Der lange Sommer der Romantik. Über Hans Magnus Enzensberger, in: Buch (Hg): Bilanz der Politisierung, S. 85-107, hier S. 85.

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sion von Bewegung, die auf das (gesellschaftliche) Weiter-Gehen und WeiterKommen zielt, als grundsätzlich mit politisch-utopischem Denken und einigen Aspekten des Marxismus und seinem Fortschrittsbegriff kompatibel.63 Hingegen passen die Aspekte des Bewegungsdiskurses wie persönliche Freiheit, Selbstbestimmung, Entgrenzungen, Sprengung von Konventionen und linearen Strukturen in den größeren Komplex antiautoritären und antihierarchischen Denkens. Auf literarischer Ebene wird diese Verbindung bei Brinkmann, wie zu sehen war, sogar explizit thematisiert, indem er sein Schreiben inszeniert als Gegenprogramm zum Schreiben einer »faschistischen« Vorgängergeneration. Die Versuche, »sich zu bewegen in dieser Welt«, sind somit auch als Reaktionen auf zeitgenössische antiautoritäre Positionen lesbar.64 Denkt man z.B. an die »Charakterstrukturen und Ideologien«, die Theodor W. Adorno für das »potentiell faschistische Individuum« herausarbeitet, so scheinen sie sehr viel von dem zu enthalten, was im Bewegungsdiskurs abgelehnt wird. Die Vorstellung einer faschistischen Persönlichkeit entsteht in dem Zusammenhang der Beschäftigung mit den Folgen autoritärer Sozialisationsstrukturen im Rahmen der Kritischen Theorie. Autoritäre Sozialisation wird mit einer späteren Anfälligkeit für Fa63 Für diese letztere Verbindung spricht vor allem Denis Mäders Studie zum Fortschritt bei Marx, die in einer Relektüre von Marxʼ Schriften dessen Fortschrittsbegriff vom teleologischen Geschichtsverständnis löst und argumentiert, dass »die Form der Bewegung auf das als Ziel gesetzte Gute für das Verständnis eines bestimmten Fortschrittsbegriffs genauso wichtig ist wie das Ziel dieser Bewegung selbst. […] Das gilt insbesondere für die materialistische Geschichtsauffassung. Eine wesentliche Charakteristik der materialistischen Geschichtsauffassung ist es nämlich, dass sie ausdrücklich darum bemüht ist, sich der Festlegung auf eine bestimmte Zielvorstellung zu entziehen.« (Mäder, Denis: Fortschritt bei Marx. Berlin 2010, S. 14). 64 Wie wichtig die Ideale von Unberechenbarkeit, Grenzüberwindung und Bewegung für ein sich antiautoritär verstehendes Subjekt sind, zeigt sich auch in der folgenden Aufzählung von Klaus-Michael Bogdal: »Antiautoritäres Verhalten meint Achtundsechzig die Bereitschaft, lebensgeschichtliche Risiken über das bis dahin einkalkulierte und einkalkulierbare Maß hinaus zu erhöhen […]. Die Strategien zur Risikoerhöhung sind vielfältig. Sie reichen von der Destruktion eines geregelten Alltags über offene Formen des Zusammenlebens, die Aufhebung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, den Verzicht auf materielle Sicherheit bis zu Therapiebereitschaft und den riskanten Grenzerfahrungen mit Narkotika oder in Organisationen, die sich euphemistisch als Stadtguerilla bezeichneten.« (Bogdal: Riskante Subjektwerdung, S. 23). Zumindest die ersten vier Strategien lassen sich ohne Weiteres mit dem Ideal einer »Beweglichkeit« verbinden.

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schismus in Verbindung gebracht, was in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zu einem der zahlreichen Argumente dafür wird, die eigenen Kinder antiautoritär zu erziehen und autoritäre Prägungen an sich selbst zu reflektieren und abzulegen. 65 Adorno nennt nun, in Auswertung der Studies in Prejudice (1949/50) des Instituts für Sozialforschung, u.a. die Überintegration in die als Norm empfundene Gruppe, die Ablehnung nicht-konventioneller Werte und ihrer Vertreterinnen und Vertreter, die unhinterfragte Akzeptanz von Hierarchien sowie den Glauben an übergeordnete, schicksalhafte Bestimmungen des eigenen Lebens als Indikatoren für den faschistischen Charakter.66 Der Mensch »in Bewegung« ist, wie gezeigt, in allen genannten Punkten das genaue Gegenteil. Er ist damit auch ein Phänomen des kulturellen Textes, das in Beziehung steht zur Auseinandersetzung der antiautoritären Theoretiker mit den Gefahren autoritärer Subjektprägung. Nicht zuletzt passt auch seine Suche nach Alternativen zu festen, vor allem familiären Bindungen, zur antiautoritären Kritik an bürgerlichen Familienstrukturen (etwa durch Erich Fromm oder Wilhelm Reich). Diese Parallelen sind nicht mit einer linearen Kausalität in dem Sinne zu verwechseln, dass der Mensch »in Bewegung« ein explizit aus dem Gesamtkomplex antiautoritärer Theorie hervorgehender Subjektentwurf ist. Sie verweisen jedoch darauf, dass die gezeigten literarischen und lebensweltlichen Experimente mit der Beweglichkeit auf ähnliche Fragen, Konflikte und Beobachtungen zurückgehen wie die Abgrenzung von autoritären und faschistischen Persönlichkeiten im Rahmen der Kritischen Theorie.

65 Vgl. Baader: Von der sozialistischen Erziehung. 66 Vgl. Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter [1950]. Frankfurt/M. 1973, S. 45-61.

Weiße, leere und stille Räume: Das oppositionelle und kreative Potential von Abwesenheit, Auslöschung und Verweigerung

D ER LEERE R AUM – ABWESENHEIT ALS KREATIVE I MPULSE

UND

AUSLÖSCHUNG

1971 erscheint einer der ersten Musikvideoclips zu einer Single: zu John Lennons Imagine. Man sieht darin Lennon und Yoko Ono durch den Nebel auf ein Anwesen zulaufen, eine Veranda überqueren und eine Tür aufschließen, die den Schriftzug »This is not here« trägt. Die Tür führt in einen fast leeren Raum mit weißen Wänden, weißen Türen, weißen Schlagläden vor den Fenstern und einem prominent platzierten weißen Steinway-Flügel. Lennon setzt sich an den Flügel, während die weiß gekleidete Ono nacheinander die weißen Schlagläden des Raumes öffnet, um dann, gegen Ende des Songs, neben Lennon am Flügel Platz zu nehmen. Das Video zeigt das Anwesen Tittenhurst Park in Ascot, das Lennon und Ono zwischen 1969 und 1972 bewohnen. Sein weißer Raum, der im Video zu sehen ist, wird in diesem Zeitraum (der auch oft als Lennons »white period«1 bezeichnet wird), von Lennon und Ono häufiger in Szene gesetzt.2 Im

1

Tatsächlich trägt Lennon in diesem Zeitraum sowohl auf zahlreichen Bildern der Beatles (z.B. 1969 auf dem Albumcover von Abbey Road oder 1970 auf dem bekannten Balkonbild, das später auf dem Cover des blauen Albums Greatest Hits 19671970 erscheinen wird) als auch auf den meisten ikonisch gewordenen Fotos mit Yoko Ono, etwa den Bed-In-Bildern und den »Bagism«-Bildern, weiße Kleider.

2

In ihm wird beispielsweise auch die Fotostrecke von Tom Hanley, die Lennon und Ono bei den Aufnahmen zu Imagine zeigt, aufgenommen sowie Teile der Filmdoku-

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Rahmen des Musikvideos und in Zusammenhang mit dem Songtext von Imagine lässt er sich als idealer Raum für Neuschöpfungen deuten: Der Songtext tritt für die Verabschiedung von allem ein, was die menschliche Gesellschaft strukturiert und ordnet. Er präsentiert eine ideale Gesellschaft, die maximal reduziert auf die Menschen selbst ist. In ihr leben die Menschen »im Jetzt« zusammen, ohne dass ihr Zusammenleben von etwas Vorgängigem bestimmt und eingeengt wird: Imagine there’s no heaven It’s easy if you try No hell below us Above us only sky Imagine all the people Living for today Imagine there’s no countries It isn’t hard to do Nothing to kill or die for And no religion, too […] Imagine no possessions I wonder if you can No need for greed or hunger A brotherhood of man […].3

Von Strophe zu Strophe werden Elemente verworfen, die eine menschliche Gesellschaft ordnen, formen und damit Einfluss auf ein Zusammensein haben könnten: Religion, Nationalbewusstsein, materieller Besitz, tradierte Vorstellungen. All diese Elemente werden als einengend und als für das Zusammensein störend gezeigt. Die Menschen in dem Song haben sich von all dem befreit und stehen nur einander gegenüber. Der leere Raum des Videos zeigt sich in Analogie zu dieser idealen Gesellschaft: Weder stehen im Raum noch hängen an seinen Wänden Dinge, die ihm eine vorgängige Ordnung zuweisen würden und damit die Handlungen seiner Bewohnerinnen und Bewohner beschränken und festlegen würden. Der von allen vorstrukturierenden Elementen befreite Raum ist gestalterisch offen, er präsentiert sich als neutrales, unbeschriebenes Medium, das nur darauf wartet, von den hereinkommenden Individuen bewohnt und von deren mentation, die Lennon und Ono 1972 über sich drehen. Eine Rekonstruktion des weißen Raumes ist seit 2005 im Beatles-Museum in Liverpool zu sehen. 3

Songtext Imagine (John Lennon), zit. nach http://www.lyricsfreak.com/j/john+lennon/ imagine_ 10164212.html (abgerufen am 27.07.2015).

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Phantasie erfüllt und gestaltet zu werden, ohne dass etwas Drittes im Weg ist. Das Weiße des Raumes markiert dabei weniger eine Anwesenheit von etwas als eine Abwesenheit, eine Leere: Der weiße Raum ist zu verstehen als ein leerer, neutralisierter Raum, in dem alles Störende, das festlegt, abgeschafft ist, und in dem alles Neue aus einer Leere heraus entsteht. Lennon und Ono als VideoclipFiguren führen dies vor, indem sie sich in einer neutralisierten, geleerten Version ihrer bisherigen Lebensumgebung bewegen. So lässt sich auch der Schriftzug »This is not here« deuten, der auf der Tür zu lesen ist, bevor die beiden den leeren Raum betreten: Egal was »this« ist – solange es berechenbar oder Gegenstand einer Erwartung ist, wird es in diesem Raum nicht anwesend sein. Anwesend sind im leeren Raum wie in der idealen Gesellschaft nur die Menschen selbst mit ihrem Potential, in ihm etwas völlig Neues zu schaffen. Die Idee eines »leeren Raumes« als Ausgangspunkt für Neuschöpfungen ist, wenn auch prägender Teil seiner Selbstinszenierung, nicht ausschließlich mit John Lennon in Verbindung zu bringen. Vielmehr erscheint sie in verschiedenen Zusammenhängen des kulturellen Textes der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Zwei weitere Konzepte von »leeren Räumen« aus anderen kulturellen Bereichen möchte ich in der Folge kurz skizzieren, da sie einerseits signifikante Parallelen zu Lennons Entwurf aufweisen, aber andererseits die Leere des Raumes auf höchst unterschiedliche Weise schöpferisch nutzen. Diese verschiedenen Entwürfe, produktiv mit einer Leere und speziell einem leeren Raum umzugehen, stehen wiederum in enger Verbindung sowohl zu oppositionellem Handeln als auch zu den Poetiken zweier der untersuchten literarischen Texte dieser Arbeit. Das erste zeitgenössische Konzept, in dem ein »leerer Raum« eine zentrale Rolle spielt, stammt aus dem Bereich des Theaters: Knapp 3 Jahre vor dem Video zu Imagine erscheint Peter Brooks bis heute in den Theaterwissenschaften einflussreicher Text The Empty Space (Der leere Raum; dt. 1969). Brook, 1968 einer der führenden britischen Regisseure, fordert darin, dass eine zeitgemäße Theaterpraxis sich auf verschiedenen Ebenen einem radikalen Neuanfang und einer radikalen Verabschiedung alter Strukturen stellen müsse. Sein »leerer Raum« steht dabei als Bild für den konsequent reduzierten Ausgangspunkt einer Theateraufführung. Nach Brook sind nicht mehr als ein leerer Raum plus Schauspieler und Publikum nötig, um eine vollwertige Theatervorstellung zu schaffen: Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist. Allerdings, wenn wir vom Theater sprechen, meinen wir etwas anderes.

216 | P ROTEXTE Rote Vorhänge, Scheinwerfer, Blankverse, Gelächter, Dunkelheit – alles dies ist wahllos zu einem wirren Bild übereinanderkopiert und unter einen Allzweckbegriff subsumiert.4

Diese wahllose Zusammenstellung von Erwartungen, Festschreibungen, Altlasten und Vorstrukturierungen sieht Brook als verantwortlich für eine überholte Theaterpraxis an, die er als das »tödliche Theater« bezeichnet. Statt des leeren Raumes und der Menschen darin hat das »tödliche Theater« einen Berg von geschichtlich und gesellschaftlich vordefinierten Elementen zum Ausgangspunkt. Es kann kein »lebendiges Theater« sein, weil es nicht von den beteiligten Menschen, sondern von bereits vorhandenen Strukturen bedingt und hervorgebracht wird.5 Brook führt als Beispiele an, dass erlernte Muster und tradierte Abläufe des Darstellens den Schauspielerinnen und Schauspielern den Zugang zu ihren Figuren verstellen, dass festgefahrene Vorstellungen zur Inszenierung kanonisierter Stoffe bestehen und dass bestimmte Räumlichkeiten einen Großteil des kreativen Schaffensprozesses bereits festlegen und einengen: Der tödliche Regisseur gebraucht oft alte Formeln, alte Methoden, alte Witze, alte Effekte, eingefahrene Szenenanfänge und -schlüsse; und das trifft genauso auf seine Partner zu, die Entwurfzeichner und Komponisten, wenn sie nicht jedesmal neu aus dem Nichts beginnen, aus der Öde und der eigentlichen Frage – warum überhaupt Kostüme, warum Musik, wozu? Ein tödlicher Regisseur ist einer, der die konditionierten Reflexe, die jede Sparte haben muß, nicht in die Schranken fordert.6

Ein Schlüsselsatz in Brooks künstlerischem Ansatz ist der, dass man, um kein »tödlicher Regisseur« zu sein, seine kreative Arbeit »jedesmal neu aus dem Nichts beginnen [muss], aus der Öde und der eigentlichen Frage«. Dies schlägt eine erste Brücke zu John Lennons leerem Raum: Hier wie in Lennons Videoclip-Welt ist der Ausgangspunkt für eine vielversprechende Zukunft die Leere, das Nichts, hergestellt durch das radikale Ablehnen von »konditionierten Reflexen«, die aus etablierten Strukturen, Ordnungen und Gewohnheiten resultieren. Die Neuschöpfung setzt in beiden Fällen an einem bewusst gewählten Nullpunkt an, sie entstammt nur dem Zusammenspiel von Menschen und leerem Raum, während alles Sonstige ausgelöscht ist. Beiden Vorstellungen der Neuschöpfung 4

Brook, Peter: Der leere Raum [1968]. Berlin 1995, S. 27.

5

»Aber das tödliche Theater geht an die Klassiker mit der Auffassung heran, daß irgendwo irgendwer entdeckt und festgelegt hat, wie man so ein Stück aufführt.« (ebd., S. 35).

6

Ebd., S. 72.

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wohnt damit auch ein – nicht vordergründig benannter – destruktiver Impetus inne: Wenn der Ausgangspunkt der Neuschöpfung die Leere, die Abwesenheit von allem sein soll, dann impliziert dies, dass diese Abwesenheit in einem aktiven Prozess hergestellt und gegen eventuelle Widerstände durchgesetzt werden muss. In Lennons Video ist diese Destruktion bereits vollzogen, der leere Raum liegt fertig vor. Auch der Songtext fokussiert die Abwesenheit von allem als einen imaginierten, utopischen Zustand, dessen Herstellung nicht geklärt wird. Brook spricht an einer einzigen Stelle davon, dass seine Vorstellung einer Theaterpraxis in eine »Epoche des notwendigen Niederreißens« fällt: »[I]n der ganzen Welt muß alles, was das Theater noch hat, weggefegt werden, um das Theater zu retten.«7 Analog dazu müsste auch in Lennons Entwurf, um im Bild zu bleiben, das weggefegt werden, was wir für den gesellschaftlich-kulturellen Kontext halten, um die eigentliche Gesellschaft zu retten. In keinem der beiden Entwürfe wird der Akt des Wegfegens jedoch näher thematisiert. Der Fokus liegt auf einem Vorher und Nachher von Theater bzw. Gesellschaft, nicht darauf, wie der Übergang passiert.8 Das Potential des leeren Raumes spielt in den späten 1960er Jahren auch in der bildenden Kunst eine Rolle, welche uns das dritte Beispiel für ein Konzept des kreativen Umgangs mit einem leeren Raum liefert. Zum wichtigen Stichwort künstlerischen Schaffens dieser Zeit wird der »White Cube«, der symmetrische weiße (Galerie-)Raum. Brian O’Doherty, irisch-amerikanischer Künstler und Kunsttheoretiker, prägt den Begriff Anfang der 1970er Jahre. In seinem Essay Inside the White Cube von 1976 (In der weißen Zelle; dt. 1982) bezeichnet er rückblickend den White Cube als etwas, »das mehr als jedes einzelne Gemälde

7 8

Ebd., S. 159f. Der Gedanke, dass etwas Altes radikal zerstört wird und dadurch eine ideale Neuschöpfung ermöglicht, steht natürlich sowohl im Bereich der Kunst als auch im Bereich der Gesellschaftstheorie in einer längeren Tradition, die hier nur stichwortartig umrissen werden kann: Zerstörung als kreatives Element kennt bereits Karl Marxʼ Gesellschaftsentwurf; als Element auch einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung benennt es 1942 Joseph Schumpeter (»schöpferische Zerstörung«). Als künstlerischer Kreativitätsfaktor rückt die Zerstörung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Fokus, prominent formuliert durch Friedrich Nietzsche, um dann verstärkt in den künstlerischen Konzepten der klassischen Moderne wichtig zu werden (einen ausführlichen Überblick gibt hier Bazon Brock: Der Barbar als Künstler – der Künstler als Barbar, in: Ders./Koschik, Gerlinde (Hg.): Krieg + Kunst. München 2002, S. 275284).

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als das archetypische Bild der Kunst des 20. Jahrhunderts gelten darf«9 und das in der Kunst der 1960er Jahre zu einem Höhepunkt an Radikalität findet. O’Doherty zeichnet nach, wie sich der künstlerische Fokus bereits in den 1930er Jahren vereinzelt von der Ästhetik der ausgestellten Kunstwerke auf die Ästhetik des Ausstellungsraumes verschiebt und diese integriert – was bringt der Raum mit, wie wirkt er, was wird durch ihn vorweg determiniert? 10 Die Kunst der 1960er Jahre entdeckt dann den Ausstellungsraum als Kunstwerk. Sie macht den Raum selbst mit seinen Eigenschaften und Wirkungen zum Ausstellungsstück. O’Doherty führt beispielsweise ein Gemälde von William Anastasie von 1967 an, das die nackte Wand der Dwan Main Gallery, an der es während der Ausstellung hing, per Siebdruck auf Leinwand abbildet.11 Zu sehen ist also, nachdem das wandbedeckende Bild aufgehängt wurde, eine möglichst originalgetreue Abbildung der Wand selbst. Noch weiter geht Gene Davis ein Jahr später, der einen leeren, weißen Raum unter dem Titel »Installation« ausstellt.12 Besondere Aufmerksamkeit erhält, wie die Beispiele zeigen, der leere, weiße, symmetrische Galerieraum, der eigentlich in der Funktion geschaffen wurde, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und zugunsten der gezeigten Kunstwerke auf eine eigene Ästhetik und eigene Auffälligkeiten zu verzichten. Die Kunstschaffenden der 1960er Jahre, so O’Doherty, beginnen sich für den leeren Raum der Galerie und seine weißen Wände in ihrer Eigenaussage zu interessieren und richten ihre Wahrnehmung darauf. Sie fügen dem Raum nichts materiell Neues hinzu, sondern legen durch die Auseinandersetzung mit ihm selbst seine historischen Implikationen frei, die Spuren, die er trägt, seine Entwicklungsgeschichte, seine eigene Ästhetik – und entlarven dabei die Vorstellung, der Raum sei tatsächlich in letzter Konsequenz »leer« oder »neutral«, als unstimmig: Der Anschein von Neutralität, der der weißen Wand anhaftet, ist eine Illusion. Sie steht für eine Gesellschaft mit festen Ideen und Werten. Die Entwicklung der freischwebenden weißen Zelle gehört zu den Triumphen der Moderne, eine Entwicklung, die ihre ästheti9

O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle [1976]. Berlin 1996, S. 9.

10 Vgl. ebd., S. 71-75. Ein frühes Beispiel findet O’Doherty 1938 bei Marcel Duchamps, der für seine Installation 1.200 Bags of Coal die Decke des Galerieraumes als hauptsächlichen Ausstellungsort erprobt und damit den Blick der Rezipierenden auf einen sonst eher unbemerkten Teil des Raumes lenkt. 11 Abgebildet ebd., S. 32. 12 Abgebildet ebd., S. 28. O’Doherty nennt darüber hinaus eine Installation von Yves Klein, Le Vide, die bereits 1962 mit der Ausstellung von leeren Vitrinen experimentiert (vgl. ebd. 100f.).

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schen, ökonomischen und technischen Aspekte hat. In Form eines spektakulären Striptease entblößte sich die Kunst im Innern der Zelle immer mehr, bis ihr formalistischer Endzustand erreicht war oder einige Zitate der Außenwelt übrigblieben. Die Wand wurde dabei an Gehalt reicher und reicher – vielleicht sollte ein Sammler einfach mal einen ›leeren‹ Galerie-Raum kaufen. […] Die makellose Wand der Galerie, die – das darf man nie vergessen – das Produkt einer Evolution und einer Spezialisierung ist, ist in Wirklichkeit unrein. […] Wenn wir die weiße Zelle nicht einfach loswerden können, dann sollten wir versuchen, sie zu verstehen. Dieses Verstehen verändert die weiße Wand, denn sie ist eine geistige Projektion, die mit ungeprüften Annahmen arbeitet. Die Wand ist unsere Projektion. Jeder Künstler sollte sich Klarheit über ihren Inhalt und über ihre Auswirkung auf sein Werk verschaffen.13

Der leere Galerieraum, der auf den ersten Blick neutral und bar jeder Aussageund Erkenntnismöglichkeit scheint, erweist sich, sobald die Blicke auf ihn gelenkt werden, als so »gehaltreich« wie »unrein«. Dieser »leere Raum« ist alles andere als leer, auch wenn in ihm nichts anwesend ist, was die gewohnte Materialität eines Möbelstücks oder eines ausgestellten Kunstwerks aufweist. »Kunst war das, was in diesem Raum abgelagert, wieder entfernt und regelmäßig ersetzt wurde«14, so O’Doherty in einer späteren Passage. Die Kunst, die der White Cube verkörpert, wird nicht von außen in den Raum getragen und ausgestellt, sondern wird rein aus den leeren, weißen Wänden des Raumes erschaffen, indem die Wahrnehmung der Betrachtenden auf Spuren und Einschreibungen der Wände, auf deren Wirkungen und auf eigene Assoziationen gelenkt wird. Durch die »Leerung« des White Cube wird etwas sinnlich erfassbar und als anwesend erlebt, was sonst nicht wahrgenommen wird. Dieses Etwas ist nicht im gewohnten Sinne materiell anwesend und verhindert dennoch, dass der Raum jemals wirklich »leer« ist. Von Spuren und Ablagerungen ist die Rede, die vielleicht noch im weiten Sinne als materielle Eigenschaften der Wand verstanden werden können (Abdrücke, Schleifspuren, Materialrückstände usw.), aber auch von Zitaten, Projektionen und Erinnerungen – Rauminhalten also, die ausschließlich geistig greifbar sind. Der vermeintlich leere Galerieraum gibt bei näherer Betrachtung eine erstaunliche Fülle von Dingen frei, die bereits in ihm angelegt sind, dadurch dass er genutzt worden ist und in einen gesellschaftlichen Zusammenhang eingebunden war und ist. Zugleich werden die Kunstschaffenden, die nur mit dem leeren Raum arbeiten, und die Betrachtenden, die nur den leeren Raum betrachten, gezwungen, sich mit ihren eigenen Erwartungen und Assoziationen bezüg13 Ebd., S. 88f. 14 Ebd., S. 99.

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lich des Mediums Kunst auseinandersetzen. Der »leere Raum« ist auch deshalb weder leer noch neutral, weil produzierende und rezipierende Individuen sich ihm bewusst stellen und damit dem, was sie subjektiv mit dem Raum und der jeweiligen Produktions- oder Rezeptionssituation verbinden, Präsenz verschaffen. Dieser Gedanke – die Beschäftigung mit dem Medium der Darstellung selbst in einer maximal entkleideten Form – verbindet die künstlerischen Ansätze von Brian O’Doherty und Peter Brook: So wie Gene Davisʼ Installation nicht mehr benötigt als einen leeren Ausstellungsraum, einen einladenden Künstler und ein Publikum, um etwas auszusagen, so braucht Brooks Inszenierung nicht mehr als einen leeren Raum, in dem Schauspieler und Publikum zusammenfinden. Die Reflexion über leergelassene Räume und weißgelassene Medien ist auch eine darüber, was das kreative Potential der jeweiligen Kunstsparte in seinem Kern ausmacht – und was nur unnötig festlegt und sich als einengend auswirkt. Sowohl Brook als auch O’Doherty sprechen dabei über ihren Impuls, Räume zu »leeren« und die bisherigen Strukturen und Ordnungen der Kunstsparte radikal abzulehnen, explizit als antibürgerlich motiviert: White Cube und Empty Space stellen jeweils einen Versuch dar, den Ballast abzuwerfen, den mehrere Jahrhunderte bürgerlichen Kunstschaffens in Bezug auf Institutionen, Ordnungssysteme und Darstellungsformen für sowie Erwartungen an Kunstwerke angehäuft haben. 15 Mit diesem Gedankengang wird klar, was die drei betrachteten leeren Räume (Lennons weißer Raum, Brooks Empty Space und O’Dohertys White Cube) für die Fragestellung dieser Arbeit eint und bemerkenswert macht: In jedem der drei Fälle ist die Beschäftigung mit dem leeren Raum von der Grundidee her ein oppositioneller Akt. Oppositionell ist sie deshalb, weil sie sich in allen drei Beispielen gegen etwas Überkommenes, eine Altlast, eine schädliche Vorstrukturierung oder Determinierung richtet. Sie sucht nicht die Veränderung der bestehenden Gegebenheiten, sondern dessen aktive Auslöschung auf radikale Weise und das Neue aus dieser Auslöschung heraus, im leeren Raum. Die zukunftsweisenden, kreativen Impulse für Kunst und Gesellschaft, darin sind sich alle drei Akteure einig, kommen in jedem Fall aus der Leere, dem Nichts, der weißen Wand. Massive Unterschiede gibt es jedoch darin, wie die Leere des Raumes jeweils produktiv gemacht wird sowie welche Funktion ihr dabei zugeschrieben wird. Zunächst führen Lennons Videoclip und O’Dohertys White Cube beide, im Unterschied zu Brook, die Reflexion über leere Räume eng mit der Reflexion über weiße Räume. In beiden Fällen steht das Weiß des Raumes für die Abwesenheit von allem, für den Wunsch nach Neutralität. Ein wichtiger Un15 Vgl. O’Doherty: In der weißen Zelle, S. 85 und Brook: Der leere Raum, S. 29.

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terschied liegt jedoch darin, dass Lennons weißer Raum durch das Weiß Leere anstrebt, während die White Cube-Kunstwerke zum Inbegriff davon werden, dass gerade in einer weißen Wand eine große Fülle stecken kann und dass Vorheriges Spuren im Weiß hinterlässt, die es wahrzunehmen lohnt. Damit ist auch der zentrale Unterschied im produktiven Umgang mit der Leere erfasst: Weiß und Leere können einmal Ausdruck dafür sein, dass sie im Raum alles überdeckt und ausgelöscht haben, was diesen bislang determiniert hat, sodass der Raum nun als maximal freier, neutralisierter Ausgangspunkt für neue Schöpfungen zur Verfügung steht. Oder sie können Ausdruck dafür sein, dass das Vorgängige nicht nur von ihnen ausgelöscht, sondern von ihnen ersetzt worden ist. Mit anderen Worten: Das Weiße und das Leere können einmal zum idealen Ausgangspunkt der Kreativität werden, weil sie von etwas Altem, Einschränkendem in einer radikalen Entscheidung vollständig befreien und dadurch ein möglichst unbeschriebenes und in der Gestaltung offenes Medium zurücklassen (Lennon). Andererseits können das Weiße und das Leere aber auch gerade deshalb kreativer Ausgangspunkt werden, weil sie selbst, durch die Auslöschung von allem anderen freigelegt, bei näherer Betrachtung höchst reizvolle Inhalte bergen, die zu beobachten und zu erfassen es gilt (O’Doherty). Weiß und Leere drücken bei O’Doherty gerade nicht die Absolutheit der Abwesenheit von allem aus, sondern eine bislang ungekannte Fülle und Inspirationsquelle. Brooks Entwurf des Theaterraumes als leerer Raum besitzt Elemente aus beiden Positionen: Er fokussiert einmal, analog zu Lennon, einen produktiven Kontakt zwischen darstellenden und zuschauenden Personen in einem Raum, der so leer ist, dass er einen näherungsweise neutralisierten Ort für diesen zwischenmenschlichen Kontakt darstellen kann. Jedoch verbindet ihn mit dem White Cube-Konzept die Vorstellung, dass mit der Herstellung von Leere ein neuer Blick auf den leeren (Bühnen-) Raum als Medium selbst frei wird – dass es auch produktiv sein kann, durch die Verabschiedung von vermeintlich »allem« bislang ungesehene Elemente freizulegen und sichtbar zu machen. In den drei Beispielen aus der Popmusik, dem Theater und der bildenden Kunst werden zwei maßgebliche Tendenzen im Umgang mit »leeren« Räumen offensichtlich: Der von allem Determinierenden befreite Raum bei Lennon ist maximal offen für Gestaltung nach Bedürfnissen und Wünschen von Menschen, die durch nichts anderes mehr gelenkt werden als durch ihr Miteinander und ihre eigene Phantasie. Ein so verstandener leerer Raum hat utopisches Potenzial, er birgt in sich die Vorstellung eines radikalen, nicht fremdbestimmten Neuanfangs. Die leeren Räume, die O’Doherty und teilweise auch Brook zum Ausgangspunkt nehmen, erfüllen einen anderen Zweck: Sie stiften etwas Neues dadurch, dass sie zum ersten Mal selbst betrachtet werden und dadurch eine

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überraschende Fülle an Einschreibungen, Spuren und Bedeutungen freisetzen. O’Doherty und Brook löschen aus, damit der Blick auf das Weiß bzw. die Leere frei wird, während Lennon Weiß und Leere selbst zu Auslöschungszwecken verwendet. Weiß und Leere sind dabei in keinem der drei Fälle der angestrebte Endzustand, sondern ein Übergangszustand zu einer Neuschöpfung. Entscheidend ist jeweils, wie und wodurch die Leere gefüllt und gestaltet wird: Kann sie selbst das Neue stiften, wenn man sie »reden« lässt und bewusst den Blicken von Menschen aussetzt? Oder ist sie lediglich Voraussetzung dafür, dass die Menschen neue, noch unbekannte Ideen bekommen? Eng verbunden damit ist der Status, den Anwesenheit und Abwesenheit in diesem Zusammenhang einnehmen: Bedeutet Leere, dass wirklich alles abwesend ist? Oder bedeutet sie nur eine andere Art von Anwesenheit? Ist die Neuschöpfung schon anwesend, angelegt oder muss sie neu erzeugt werden? In allen Fällen spielen die beteiligten Menschen, die auf den leeren Raum treffen, eine entscheidende Rolle: Entweder macht es die Leere möglich, einander unverfremdet wahrzunehmen (wie für die Mitglieder der idealen Gesellschaft aus Imagine oder für Ensemble und Publikum in Brooks Empty Space) oder sie macht es möglich, die subjektive Wahrnehmung der Umgebung durch jeden Einzelnen zu befördern und zu erweitern (wie bei den White Cube-Kunstwerken und Brooks leerer Bühne).16 Ein letzter bedenkenswerter Aspekt betrifft die verschiedenen Ebenen, auf der die leeren Räume in Erscheinung treten können. Sowohl Brooks »leerer Raum«, den er als kreativen Ausgangspunkt für eine zeitgemäße, zukunftsweisende Theaterpraxis sieht, als auch Lennons weißer Imagine-Raum als kreativer Ausgangspunkt für 16 Diese beiden grundsätzlichen Varianten des Umgangs mit Leere werden ansatzweise schon zeitgenössisch bemerkt: in Susan Sontags The Aesthetics of Silence, erschienen 1969 in ihrem Essayband Styles of Radical Will. Sontag erkennt die beiden Möglichkeiten, wie Leere bzw. Stille als akustisches Pendant produktiv gedacht werden können: Ziel kann zum einen die »total liberation« sein, eine größtmögliche Freiheit von allem, was in irgendeiner Form Grenzen setzt (kulturelle Vorprägungen, historische Vorprägungen der Kunstgattung, Einschränkungen der Wahrnehmung und des Denkens, die materielle Überfülle und nicht zuletzt persönliche Vorprägungen). Zum anderen erzeugen Leere und Stille aber nur vermeintlich »a cultural clean slate«, während sie gleichzeitig etwas Neuem zur Präsenz verhelfen. »[T]he artist who creates silence or emptiness«, heißt es bei Sontag, »must produce something dialectical: a full void, an enriching emptiness, a resonating or eloquent silence.« (Sontag, Susan: The Aesthetics of Silence [1969], in: Dies.: Styles of Radical Will. New York 1976, S. 334, hier S. 11). Damit sind genau die beiden Ausprägungen des Umgangs mit Leere erfasst, die in den drei genannten Beispielen eine Rolle spielen.

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eine zeitgemäße, zukunftsweisende Gesellschaft kann einmal räumlich-materiell und einmal metaphorisch verstanden werden. Der »leere Raum« der Theaterinszenierung kann den konkreten leeren Bühnenraum mit Verzicht auf einengende Elemente wie Vorhang, Kulisse, Requisiten, vielleicht auch räumliche Trennungselemente zwischen Ensemble und Publikum ebenso meinen wie den Theaterbetrieb im Allgemeinen, der sich von Darstellungskonventionen, institutionellen Strukturen und vielleicht auch festen Räumlichkeiten überhaupt lossagen soll. Ebenso zeigt Lennons Video den leeren Raum einmal als konkreten Wohnraum, in dem Ideen entstehen können, aber auch als Bild für eine globale Lebenswelt ohne einengende Gesellschaftsstrukturen. Leere Räume können also auf verschiedenen Ebenen des kulturellen Textes auftreten. Sie werden zum (hypothetischen) Ausgangspunkt sowohl eines neuen politisch-gesellschaftlichen Zusammenlebens als auch einer neuen künstlerischen Produktivität. In allen Fällen besitzen sie einen klar oppositionellen Impetus – was den künstlerischen Entwürfen des leeren Raumes ebenfalls eine politische Dimension gibt. Es dürfte nicht überraschen, dass leere Räume auch in zwei der untersuchten Texte prominent in Erscheinung treten: Während in Rolf Dieter Brinkmanns Keiner weiß mehr das Weißstreichen eines Raumes sowie die Utopie eines völlig stillen und leeren Raumes eine zentrale Rolle spielen, nimmt eine der ersten Sequenzen der Ästhetik des Widerstands ihren Ausgang in einem (vermeintlich) leeren Raum. Zu fragen ist im Folgenden, ob diese Räume ähnliche Funktionen einnehmen und sich in ähnlichen Spannungsfeldern aufhalten wie die skizzierten leeren Räume, die Musik, Theater und bildende Kunst zeitgleich beschäftigen. Beteiligen sich auch die untersuchten Texte an dem Diskurs darum, durch Rekurse auf Leere und Abwesenheit etwas Ordnendes, Einengendes abzuschaffen? Wogegen richten sie sich dabei genau? Welche Funktion nehmen Leere, Stille und Abwesenheit in ihnen ein, wie werden sie verarbeitet und ins Verhältnis zum Schreiben als produktives Schaffen gesetzt? Wie steht dies wiederum im Verhältnis zur politischen Opposition? Diese Fragestellungen besitzen einige Anknüpfungspunkte an die bisherige Forschung zur Literatur um 1968. Zwei der umfassenderen Studien zu diesem Thema bemerken – mit anderer Fokussierung – bereits das Interesse, das um 1968 in literarischen Texten am Abwesenden und an der Leere besteht: Klaus Briegleb widmet in seiner Monographie 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung (1993) dem »Ornament der Leere« ein eigenes Kapitel und weist zahlreiche literarische Inszenierungen der Leere um 1968 nach. Er schlägt sie der größeren Debatte um Macht und Ohnmacht von Literatur (von der in Kapitel 4 bereits die Rede war) zu:

224 | P ROTEXTE Aber es ist merkwürdig, […] daß auf dem Feld der Extreme zwischen Ohnmachtsgefühl und Problemlösungsrede […] eine querliegende (vertikale) Polarität der Ausdrucksvielfalt hervorgetrieben wird. Die Pole sind: ehrlicher Umgang der Schreibenden damit, beim Schreiben mit dem Verstummen bedroht zu sein (›unten‹) – Weiterschreiben, auch ›ohne Sujet‹ (›oben‹).17

Briegleb deutet den häufigen Rekurs auf eine »Leere« also als Ausdruck und Eingeständnis eines »Ohnmachtsgefühls« oder einer Ratlosigkeit, die sich als Konkurrenzerscheinung zum politisch funktionalisierten Schreiben etablieren und die Abwesenheit einer Perspektive oder »Problemlösung« selbst zum kreativen Ausgangspunkt machen. Dies zeigt er u.a. am Beispiel der zerfallenden Gruppe 47 und auch exkursartig an Rolf Dieter Brinkmanns Keiner weiß mehr. Brinkmanns Text liest er in diesem Zusammenhang als eine maximale Radikalisierung dieser Position. Hier werden Leere und Ohnmacht darstellerisch so auf die Spitze getrieben, dass der Text jegliche Form der Anknüpfung an gesellschaftliches und kulturelles Geschehen zu verweigern scheint: Weder die Sprache noch die Geschichte in der Gegenwart locken mit Arbeitsbindung und -material; verächtlich ist es vermieden, im Vorgang des Textauskotzens irgendeine theoretische Kontrolle oder kulturelle Motivation des Schreibens vorzutäuschen. Die ›konkrete Politik‹ der Textarbeit ist unmittelbar auf die Leere in der kulturellen ›Mitte‹ gerichtet.18

Brieglebs kurzer Exkurs auf Brinkmanns Text ist für die folgenden Überlegungen in zwei Punkten anschlussfähig. Zum einen lässt sich fragen, wie diese von Briegleb festgestellte radikal auf Leere gerichtete »Textarbeit« Brinkmanns konkret aussieht und wie sie im Verhältnis zum leeren Raum und seinem produktiven Potential steht. Zum anderen lässt sich fragen, inwiefern eine solche Textarbeit trotzdem »konkret politisch« ist – worin genau in einem solchen Text die oppositionelle Positionierung besteht. Die Studie von Susanne Komfort-Hein hat einen gänzlich anderen Fokus, jedoch spielt auch dort die Auseinandersetzung mit Leere und Abwesenheit eine Rolle: Komfort-Hein untersucht »kritische Korrespondenzen um den Nullpunkt von Geschichte und Literatur«. Sie zeigt an verschiedenen kulturtheoretischen Entwürfen, die um 1968 entweder entstehen oder stark rezipiert werden (z.B. von Adorno, Benjamin, Debord, Bréton), wie diese einen radikalen Auslöschungsakt mit anschließend neu gesetztem Nullpunkt diskutieren, inszenieren 17 Briegleb: 1968, S. 166. 18 Ebd., S. 187.

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und reflektieren.19 Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf dem Umgang mit Geschichte bzw. den gedachten Möglichkeiten historischer Nullpunkte. Von diesen kulturtheoretischen Auseinandersetzungen mit Nullpunkten und radikalen Neuanfängen, die Komfort-Hein untersucht, bildet vor allem eine eine wichtige Parallele für die Fragestellung dieses Kapitels: die Suche nach einer »Neuen Sensibilität«, die künstlerische und politische Bereiche berührt und ihre bekannteste Formulierung in Herbert Marcuses Versuch über die Befreiung (1969) findet. Auf diesen Begriff und seine Thematisierung bei Komfort-Hein werde ich später im Kapitel zurückkommen, da er zumindest einen Teil meiner aus der Analyse künstlerisch-politischer Praxis gewonnenen Ergebnisse kulturtheoretisch einzuordnen vermag. Zunächst sollen jedoch die beiden literarischen Texte in Bezug auf ihre leeren Räume näher betrachtet und zu den bisherigen Ergebnissen aus der Analyse der außerliterarischen Räume in Beziehung gesetzt werden.

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WEISSE Z IMMER , DAS LEERE D EUTSCHLAND UND DAS S TILLE -V IRUS – R OLF D IETER B RINKMANNS AUSEINANDERSETZUNG MIT AUSLÖSCHUNG , L EERE UND S PRACHE In Brinkmanns Keiner weiß mehr lassen sich zwei Experimente des Protagonisten mit der radikalen Auslöschung von allem beobachten, einmal auf der Ebene seiner Beziehung zu seiner Frau, einmal auf der der deutschen Gesellschaft. In beiden Fällen spielt dabei ein leerer Raum eine zentrale Rolle, im ersten Fall ist dieser Raum auch komplett weiß. Der weiße, leere Raum, über den der Protagonist seine Beziehung radikal erneuern will, ist das Mittelzimmer der Wohnung,

19 Komfort-Hein untersucht auch Vespers Die Reise exemplarisch als literarischen Text, der von solchen »Nullpunkt«-Diskursen durchzogen ist. Sie liest den Suizid von Figur und Schriftsteller als Konsequenz der Erfahrung, dass »es dem erzählenden Ich nicht zu gelingen vermag, seine Geschichte zwischen Destruktion des Vergangenen und Konstruktion eines Neuen zu erschreiben.« (Komfort-Hein: Flaschenposten, S. 282). Vespers Protagonist liebäugelt demnach schreibend mit der Setzung eines historischen »Nullpunkts«, der Auslöschung von allem, was aktuell seine Gegenwart bedingt. Dabei macht er aber im Laufe des Schreibprozesses Bekanntschaft mit den Grenzen und Aporien, die ein solcher Entwurf mit sich bringt. Dieser Aspekt und damit auch Vespers Text wird zugunsten des Fokus auf den leeren Raum ausgeklammert.

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die der Protagonist mit seiner Frau und seinem Kind bewohnt. Als Raum rückt er dadurch in den Blick, dass der Protagonist ihn im Laufe der Handlung weiß streicht, während seine Frau mit dem Kind am Meer ist. Diese Szene des WeißStreichens wird den gesamten Text hindurch immer wieder in Rückblenden und Anspielungen aufgegriffen: [E]r saß am Tisch in ihrem Zimmer, das er für sie im Sommer angestrichen hatte, mühsam und sauber, zuerst vorgestrichen, dann mußte das Zimmer austrocknen, dann strich er das Zimmer nochmals, stellte andere Möbelstücke für sie hinein, machte das Zimmer wohnlich, sie konnte damit zufrieden sein. Er hatte sich überlegt, als sie wortlos abgereist war, daß es notwendig sei, das zu tun, und er hatte sich dabei Mühe gegeben. Einiges hatte er dabei überbewertet, als er das tat […], aber er hatte immerhin zwei Tage lang gestanden und die Wände mühsam abgerollt, mit weißer Farbe überall betröpfelt. Er hatte sich dabei vorgestellt, wie alles mit ihnen danach werden würde, fast zwangsläufig. […] Es war dringend notwendig, daß sie ein eigenes Zimmer bekam, vor allem unter solchen Umständen, bei den Verhältnissen. Das Zimmer hinten, in dem sie noch immer schlief, war viel zu groß und mit beliebigen Möbelstücken vollgestellt, die sie nicht viel angingen, zwar angingen, das schon, wie das Laufställchen des Kindes, doch nicht mehr abends, wenn das Kind weg war, schlief. Sie mußte daneben noch etwas anderes haben, einen Raum, geschlossen, nur mit ihr darin. Außerdem störte ihn dann auch das Kind weniger. Mit dieser Neuordnung und dem Zimmer, freundlich eingerichtet in der Mitte für sie, wollte er sie überraschen, wenn sie zurückkäme. (Kwm: 77)

Es wird deutlich, dass mit dem Streichen des Zimmers für den Protagonisten eine bestimmte Symbolik und auch eine bestimmte Erwartung verknüpft sind. Zwar geht es auch um praktische Anforderungen, doch vor allem hält der Protagonist das Streichen des Zimmers für »notwendig«, damit sich die Beziehung zwischen ihm und seiner Frau bessert. Das Zimmer für sie zu streichen und neu einzurichten, führt in seiner Vorstellung »fast zwangsläufig« dazu, dass sich etwas ändert. Es ist das, was er seiner Meinung nach für die Erhaltung und Verbesserung der Beziehung tun kann: »Er wollte das nicht mehr länger mit ihr aushalten und war gleichzeitig doch bemüht, es weiter und weiter aufrechtzuerhalten, wie zum Beispiel durch das Zimmer, das er für sie während ihrer Abwesenheit strich und neu einrichtete […].« (Kwm: 30) In einer weiteren Passage spricht er sogar davon, dass er das Zimmer streicht »gleichsam um sie wieder einzuholen mit einem neu gestrichenen weißen Zimmer, ganz für sie allein in der Wohnung […].« (Kwm: 86) Das weiß gestrichene Zimmer soll die entstandene Entfremdung der beiden Partner überbrücken, die Schwierigkeiten auslöschen und der Beziehung einen Neubeginn ermöglichen. Zwei Elemente sind in der

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Darstellung des Zimmers zentral und werden immer wieder erwähnt: dass es weiß gestrichen wird und dass es für sie allein ist. Der ideale Ausgangspunkt für die neu gestaltete Beziehung ist der weiße Raum, der nur für sie ist, und nicht mehr »mit beliebigen Möbelstücken vollgestellt, die sie nicht viel angingen«. Altlasten und Spuren des vorherigen, konfliktbehafteten Zusammenlebens werden durch das Anstreichen und Ausräumen des Zimmers symbolisch ausgelöscht. Auslöser für das Weißstreichen ist, dass der Protagonist sein Lebensumfeld mit seiner Frau zunehmend als einengend, mit emotionalem wie materiellem Ballast beladen, von starren Alltagsstrukturen bedingt und wenig offen in den Optionen erlebt. Gegen all das geht er mit seiner Streichaktion vor: Gerald würde abwehrend gesagt haben, es ist nichts, hör auf, um damit zu meinen, es ist so, das da, was da liegt oder hängt, aufgehängte Windeln auf einem scherenartig ausgebreiteten Leichtmetallgestänge, oder der Staub da, leichte grau-dünne Gewebe, Flocken in den Ecken, unter dem Bett, der Staub, der Abfall, der in die papiernen Tragetaschen aus der Kaufhalle gestopft war, mehrere solcher Taschen unter dem Abstellbord in der Küche nebeneinandergestellt, wo auch die Ölkannen standen mit dem Heizöl, alles immer nur das, ohne zu sehen, daß es nicht nur das war, was getan werden mußte, und es nicht nur eine einfache Anstrengung war, auf dem Tisch in der Mitte des ausgeräumten Mittelzimmers zu stehen, hochgereckt, um auch die Decke weiß nachzustreichen in dem weiß gestrichenen Zimmer, das für sie allein dasein sollte. (Kwm: 83)

Die Auslöschung ist gründlich – das Zimmer wird komplett »ausgeräumt« und selbst die Decke des Raumes wird mühsam weiß gestrichen. Alles Alte soll durch das Weiße ausgelöscht, das Zimmer, Mittelpunkt der Wohnung und des Zusammenlebens, maximal bereinigt und zur Neugestaltung bereit gemacht werden. Anders als bei Lennon und Ono bringt dieser weiße Raum jedoch kein harmonisches Zusammenleben hervor. Der vom Protagonisten beabsichtigte Neuanfang findet nicht statt, die Beziehung bewegt sich auch nach der Rückkehr der Frau in ihren alten Bahnen: »Die Mißverständnisse blieben sich gleich. Schon daß er meinte, sie beseitigt zu haben, indem er ihr Zimmer gestrichen hatte, war ein Mißverständnis, das an ihr lag, weil es ihr wohl nichts bedeutete […].« (Kwm: 26) Während der Protagonist die Schuld bei seiner Frau sucht, die seine Bemühungen um einen Neuanfang nicht zu würdigen weiß, wird schnell deutlich, dass der weiß gestrichene Raum keinem der beiden Partner etwas Neues, Befreiendes bieten kann. Dies liegt vor allem daran, dass er bei der Rückkehr der Frau nur vermeintlich leer und neutral ist. Zunächst ist dadurch, dass der Mann die neue Einrichtung des Raumes für sie auswählt und ihre Entscheidung, was sie »freundlich« findet oder womit sie »zufrieden sein kann«, vorwegnimmt, ihr

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Neuanfang bereits durch Entscheidungen des Mannes determiniert und eingeschränkt. Dieser »weiße Raum« funktioniert nicht, weil er schon wieder festlegende Elemente und Zuschreibungen enthält, bevor das Zusammenleben in ihm beginnt. Diese Zuschreibungen und Festlegungen gehen von dem Mann aus, der seiner Frau zwar einen leeren Raum bieten möchte, diesen aber, ohne es zu merken, direkt wieder füllt. Heraus kommt statt eines neutralisierten Raumes für beide ein neuer Lebensmittelpunkt für ihn nach seinen Vorstellungen von sich und ihr. 20 Das symbolische Weißstreichen führt nicht zu einem gemeinsamen Neuanfang als Paar, sondern zu einer Vergrößerung der Projektionsfläche für den Mann. Weißstreichen und Ausräumen erfassen den Rauminhalt, aber nicht die Einstellungen, Erwartungen und charakterlichen Nachteile seiner Bewohner. Durch seinen weißen Raum befreit der Protagonist seine Frau nicht von Einschränkungen, sondern erweitert eher noch die Einschränkungen, die er selbst für sie bedeutet, indem er ihr nun noch stärker einen festen Raum und eine feste Funktion im Zusammenleben zuweist. Die Vision des weißen, leeren Raumes, in dem sich Subjekte unentfremdet und ungestört aufeinander zubewegen und miteinander leben können, wird in Keiner weiß mehr, anders als in Lennons Video, als problematisch gezeigt: Sie muss in der Umsetzung scheitern, weil die Subjekte selbst Altlasten tragen, Festschreibungen aneinander vornehmen und, um im Bild zu bleiben, nicht weiß zu streichen sind. Brinkmanns Protagonist wird als jemand gezeigt, der trotz seiner »räumlichen Radikalität« keine wirkliche Leere, keinen wirklichen Neuanfang herstellen kann, da er selbst als schaffendes Subjekt immer wieder für dieselben Zwänge und Einschränkungen sich und anderen gegenüber verantwortlich ist. Noch deutlicher wird dies an einer weiteren Stelle: Der Protagonist zeigt sich enttäuscht, dass sich die Beziehung nicht nach seinen Vorstellungen verändert hat, gerade weil er soviel mit dem Zimmer beabsichtigt hatte, sich soviel dabei vorgestellt hatte, als er es neu einrichtete gleichsam als eine Kabine für sie mit ihrem Bett, den provisorisch für sie angesteckten Bildern an der Wand und den wenigen aufeinander abgestimmten Sachen, dem Hocker mit violett bespanntem Sitz und dem gelb gestrichenen Stuhl, farbige Flecke, auffallend in dem einfarbig weißen Raum, eine Kabine für sie allein, in die nur er hinein konnte, und sie wäre da, ausgestreckt im Dunkeln, ganz selbstverständlich 20 Toni Tholen hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Protagonist zu keinem Zeitpunkt seine Frau als Subjekt ansieht, sondern immer ein Objekt seiner eigenen Vorstellung meint, wenn er über sie spricht und denkt: »Er macht sich von ihr eine Vorstellung, die er meint, wenn er von ihr redet, und zugleich ist sie diese Vorstellung nicht.« (Tholen: Familienmännlichkeit, S. 256).

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ihn mit ihrer Wärme zu sich heransaugend, weich und warm, ein volles fleischiges Gebilde, das ruhig ausgestreckt schlief. (Kwm: 34)

Er wählt aus, was in dem einfarbig weißen Raum neu »auffallen« soll, er »stimmt die Sachen ab« und sucht die Wanddekoration aus. In dieser Passage wird außerdem deutlich, dass der weiße Raum auch aus einer erotischen Vorstellung von ihm hervorgeht. Immerhin denkt er das Zimmer nicht als Rückzugsraum für sie, sondern als »eine Kabine für sie allein, in die nur er hinein konnte, und sie wäre da«. Zentral ist also die sehr patriarchale Vorstellung, dass ihr intimer Raum vor allem ihm etwas Exklusives bieten soll. Er »kann hinein« und sie »ist da«, »ganz selbstverständlich« verfügbar und sexuell anziehend (»ausgestreckt«, »saugend«, »weich und warm«, »voll«, »fleischig«). In dieser Darstellung tritt sie selbst weniger als Person denn als Teil des weißen Raumes in Erscheinung, als ausgestrecktes »volles fleischiges Gebilde«, das keine eigenen Anforderungen stellt oder eigene Bedürfnisse besitzt. 21 An dieser Stelle wird vollends deutlich, wie der weiße, befreiende Imaginationsraum à la Lennon von den alten Erwartungen und Projektionen des Mannes sofort überlagert wird: Die Neuschöpfung, die der Protagonist versucht aus ihm hervorzubringen, ist ein Zusammenleben, ein Frauenkörper, ein Sexualkontakt nach seinen Regeln, nicht kontaminiert von einem externen Einfluss, der gemeinsamen Vergangenheit oder auch den Eigenheiten seiner Frau. Sie kommt nicht aus einer Leere, sondern aus seinen bestehenden Vorstellungen und Projektionen. Bereits in der Betonung der Bilder, die er auswählt und dem Raum in einer Penetrationsmetapher »ansteckt«, bevor sie den Raum beziehen darf, wird diese Implikation deutlich. War der weiße Raum als reiner und unbefleckter Mittelpunkt des Zusammenlebens ge21 In dieser Passage wird besonders deutlich, wie der vereinnahmende Blick des Mannes auf die Frau und seine Ignoranz von ihr als Person dem Text auch formal eingeschrieben sind. Arletta Szmorhun, die zur Darstellung der Frauenfiguren in Keiner weiß mehr forscht, thematisiert zwar nicht genau diese Passage, ihr Resümee lässt sich jedoch auf sie beziehen: Keiner weiß mehr ist nach Szmorhun geprägt »von einer Tendenz zur extremen Stilisierung der weiblichen Figuren, die einer konsequent maskulinen Sprache ausgesetzt sind und durch diese Sprache konstruiert oder de(kon)struiert werden. Durch männliche Fokalisierungsinstanzen und eine dem männlichen Blick entsprechende Perspektivenführung, mit der eine identifikatorische Schilderung von Männerschicksalen einhergeht, werden weibliches Erleben und weibliche Wirklichkeitserfahrung ausgeklammert.« (Szmorhun, Arletta: Rolf Dieter Brinkmanns Konstruktion und Destruktion des weiblichen Körpers, in: Fauser, Markus (Hg): Medialität der Kunst, S. 257-270, hier S. 269).

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plant, ist er bereits vor der Rückkehr der Frau schon wieder komplett durch den Mann in Beschlag genommen, sowohl durch seine Gestaltung als auch, vor allem, durch seine Vorstellungen und Erwartungen. Solange er selbst als Person da ist und den Raum bewohnt, kann dieser nie wirklich »leer« oder weiß werden, ist die ernüchternde Erkenntnis, die der gescheiterte weiße Raum vermittelt. Diese Erkenntnis spielt auch bei dem zweiten leeren Raum in Keiner weiß mehr eine Rolle – nur wird sie dort auf den größeren Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens übertragen: Der Protagonist reist mit dem Zug nach Hannover. Während der Fahrt packt ihn plötzlich ein ungeheurer Hass auf die deutsche Gesellschaft. Dieser Hass entlädt sich in einem gedanklichen Wutausbruch, in dem der Protagonist sich das »Verrecken« der gesamten deutschen Kultur, Identität und Geschichte wünscht und in dem der leere Raum als wünschenswerter Zustand nach dem »Verrecken« auftritt: Besser wäre es jedoch gewesen, wenn die andren nach Hitler das hier einfach ausgelöscht hätten. Und hoffentlich holten bald irgendwelche das mal nach und löschten das alles hier aus, endgültig, ein für allemal. Es wäre nicht schade. Kein Verlust. Man hört ein paar Pöffs überall platzen, so ein paar kleine knackende Geräusche, dann fiele man um. Nachher wird eingesammelt. Ein wenig ruhiger, stiller wäre es dann schon, das durfte man hoffen. All dieses gärende alte Gerümpel in den Köpfen. Hier war sowieso seit langem nichts mehr los. Also schafft das doch weg, löscht das doch aus, je eher, desto besser. Denn dann ging niemand mehr über eine ordentlich gemähte Rasenfläche in olivgrünem Monteuranzug. Und niemand wäre besser als so einer. Nichts, kein Geräusch mehr als so ein Klappern, besser. Es würde keinen flimmrigen Dunst mehr geben, sondern: wie schön, alles still, alles still, Stille, niemand, keiner, nichts mehr da. Es gab dann nur noch einen riesig ausgedehnten, leeren, stillen Fleck. Wie schön! Haben Sie Peter Watkins BBCFernsehfilm gesehen? Die Fortsetzung davon wäre dieser riesig weite, leere, stille Raum. Ich kann dir nicht sagen, wie schön das ist. Stell es dir alleine vor. Es gäbe einfach nichts mehr von uns, wir wären einfach nicht mehr da. Deshalb: Deutschland, verrecke. (Kwm: 185f.)

Der Film, auf den sich Brinkmanns Protagonist hier bezieht, ist Peter Watkins’ The War Game von 1965. The War Game zeigt im Stil einer Dokumentation einen fiktiven Großangriff mit Nuklearwaffen auf englische Städte. Im Kontext des Kalten Krieges als Kritik an atomarer Aufrüstung entstanden, thematisiert der Film schonungslos die Konsequenzen für die individuellen Menschen, ihr gesellschaftliches Zusammenleben, ihre Umwelt und Infrastruktur in Folge eines solchen Angriffs. Die Fernsehausstrahlung des Films wurde von der BBC verweigert, er war jedoch in kernwaffenkritischen Kreisen bekannt und wurde teil-

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weise auch in Kinos gezeigt.22 Das von Watkins als Warn- und Horrorszenario entworfene völlig zerstörte und entvölkerte England wird in Brinkmanns Text umgedeutet: Dort erscheint die gewaltsame Auslöschung von Allem als Voraussetzung einer befreienden Leere und Stille. Alles vorher Bestehende ist mit einem Schlag abwesend. Das Ergebnis ist ein bereinigter, »schöner« Raum, dessen Schönheit sich gerade aus seiner Leere, aus dem Nichts und der Stille in ihm speist. Auch in diesem leeren Raum ist alles verschwunden, was seitens der Gesellschaft stört, einengt und fremdbestimmt. Allerdings sieht er, im Unterschied zu Lennons leerem Raum, kein »Danach« vor. Dieser leere Raum, das wird schnell deutlich, ist eine Endstation. Er enthält eine Leere, aus der keine Neuschöpfung erfolgen soll und kann: Verreck damit, auf der Stelle, sofort, verreck. Damit es still wird, endlich, nach so langer Zeit, still. Kein Hubschrauber mehr in der Luft. Kein: nichts mehr. Kein Husten mehr. Kein In-ein-Glas-Pinkeln mehr für die andren. Stille. Nichts. Absolute Funkstille. Der Bildschirm bleibt leer. Eine absolute Leere. Die Bilder sind alle verreckt. Die Stimmen. Das kulturelle Wort. Die kulturellen Wörter. Verreckt. Aus. (Kwm: 186)

In diesem leeren Raum ist nicht nur ausgelöscht, was das menschliche Zusammenleben einengt, sondern das menschliche Zusammenleben als Störfaktor überhaupt. Er ist so leer, dass in ihm keine Menschen mehr sind, die ihn wahrnehmen, bewohnen und etwas schaffen könnten. Dabei imaginiert sich der Protagonist nicht selbst als der gewaltsame Auslöscher, sondern hofft auf »irgendwelche«, die kommen und auslöschen – und ihn selbst dabei nicht ausnehmen (»man fiele einfach um« und »wir wären einfach nicht mehr da«).23 22 Die genauen Umstände der Debatte um die Ausstrahlung des Films sowie seine Verfügbarkeit finden sich nachgezeichnet bei James Chapman: The BBC and the Censorship of The War Game (1965), in: Journal of Contemporary History 41 (2006), H. 1, S. 75-94. 23 Diese Passage aus Brinkmanns Text wird sowohl bei Susanne Komfort-Hein als auch bei Klaus Briegleb interpretiert. Komfort-Hein setzt sie in den Kontext, die Belastungen durch die deutsche faschistische Geschichte »in wohl kaum zu überbietender Radikalität« auszulöschen. Die destruktive Vision zielt für sie auf eine grundständige »Auslöschung von Geschichte« (Komfort-Hein: Flaschenposten, S. 289). Auch Klaus Briegleb bezieht sich auf diese spezielle Passage, wenn er feststellt: »Die Leere wird nicht entlarvt, oder attackiert, oder erlitten als literarische Konkretion einer Erfahrung; sondern Leere wird aktiv hergestellt, nachgeschaffen, paradigmatisiert […].« (Briegleb: 1968, S. 188). Briegleb betont damit den wichtigen Aspekt, dass Leere und Ab-

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Was für die weitere Deutung dieses leeren Raumes wichtig ist: Die Idee des radikalen Auslöschungsaktes und die ausformulierte Utopie eines möglichst weitreichenden »leeren Raumes Deutschland« ändern für den Protagonisten nichts und werden auch nach dem heftigen Hassausbruch nicht mehr aufgegriffen. Beinahe beiläufig wird dieser abgelöst von banalem Geschehen und alltäglichen Eindrücken: Argumentieren lohnt sich schon nicht mehr. Zusammenficken sollte man alles, zusammenficken. Nun waren es draußen kleine roh zusammengezimmerte Holzhütten, die auf dem Gelände eines Schrottplatzes verteilt standen, viereckige hölzerne Kästen hier und da zwischen den hohen Wagenkarosserien. […] Alles rutschte gleichmäßig schnell vorbei, bis die Geschwindigkeit abnahm und Nebengeleise zu sehen waren, Weichen, es war die Stadt, spätnachmittags, wo er aussteigen musste, das Ziel, was für ein Ziel, ein Ziel. Jetzt war er hier angekommen. (Kwm: 187)

Der leere, stille Raum ohne Menschen erweist sich somit in der Lebensrealität des Protagonisten als nirgendwo anschlussfähig und zutiefst unproduktiv, insofern nach ihm nichts mehr kommen kann. Diese Erkenntnis ist nur im Schreiben gleichzeitig zu gewinnen und zu dokumentieren. Nur ein schreibendes Subjekt kann einen so radikalen Auslöschungsakt vollziehen und ihn gleichzeitig aufzeichnen (und dieser findet auch nur in Gedanken der Figur statt; ansonsten würde er auch die Erzählung zwangsläufig an der Stelle beenden, an der es in der erzählten Welt nichts mehr gibt, was erzählt werden kann, und niemanden, der erzählen könnte). Brinkmanns Text lässt sich in diesem Zusammenhang auch lesen als Versuchslabor für radikale Eingriffe in die Gesellschaft. Der Versuch besteht darin, den Wunsch nach einem leeren, stillen Gesellschafts-Raum konsequent zu Ende zu denken und auszugestalten. Woran liegt es, dass das Experiment des leeren Raumes in Keiner weiß mehr auf der Handlungsebene nicht oppositionell anschlussfähig ist? Grund dafür ist das Gesellschafts- und Menschenbild, das der Roman zeichnet und das schon bei der Betrachtung des weiß gestrichenen Raumes sichtbar geworden ist. Die Menwesenheit bei Brinkmann als literarisch aktiv geschaffene Elemente auftreten. Auf fiktionaler Ebene werden Dinge aktiv abwesend gemacht – Leere und Stille werden in einem poetischen Experiment nicht nur thematisiert, sondern auch erzeugt und schreibend durchgespielt. Im Unterschied zu den drei zuvor betrachteten leeren Räumen von Lennon, Brook und O’Doherty ist bei ihm folglich auch immer die »Leerung« des leeren Raums Thema. Die Auslöschungsakte werden hier sorgfältig durchdacht und ausgiebig erzählt.

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schen, die den »gefüllten« Raum Brinkmanns bewohnen, unterscheiden sich fundamental von denen, die sich beispielsweise Lennons Utopie vorstellt: In Brinkmanns Roman wird immer wieder deutlich, dass das »Alte«, »Einengende« und »Starre« in den Menschen selbst steckt, nicht in einem Raum oder einer Gesellschaft, die sich davon isolieren lassen. Die alptraumhafte, konsumsüchtige und eingefahrene Gesellschaft, die der Protagonist ständig erlebt und schildert, kann keinen Neuanfang ohne ihre Altlasten machen; Menschen und Altlasten erweisen sich als Einheit. Um Konsumsucht, Spießertum und eingefahrene Ordnungen in der Gesellschaft radikal auszulöschen, müssen die Menschen ausgelöscht werden, die die Gesellschaft mitsamt diesen Elementen bilden und hervorbringen – genau wie derjenige mit dem Auslöschungswunsch, der Bestandteil dieser Gesellschaft ist. Diesen Schritt in aller Konsequenz zu vollziehen versucht der Protagonist in seiner gedanklich konstruierten Utopie des »leeren Raumes« Deutschland. Doch damit, stellt sich heraus, löscht er auch den potentiellen Neuanfang aus. Wie kann aus einem leeren Raum Neues entstehen, wenn er so leer ist, dass ihn niemand mehr anschauen, bewohnen und gestalten kann? Dass diese Frage aufgeworfen wird, unterscheidet den Umgang von Brinkmann und Lennon mit dem leeren Raum. Brinkmanns Protagonist betreibt, wie John Lennon mit Imagine, den leeren, weißen Raum als reizvolles Gedankenspiel. Während Lennons Text aber eher die Wunsch-Variante ausdrückt, in der die Menschen mit der Leerung des Raums genauso rein wie der Raum werden, gewinnt Brinkmanns Protagonist die harte Einsicht, dass die wahre Altlast die Menschen selbst sind, die nicht durch die reine Auslöschung des Kontexts zum Neuanfang aus dem Nichts geführt werden können. Brinkmanns utopischer leerer Raum, der »schön« ist, weil in ihm nichts mehr zu sehen oder zu hören ist als Leere und Stille, ist ein rein literarisches Konstrukt, das sich außerhalb der Literatur bzw. auch schon in der Handlung der erzählten Welt des Romans als Sackgasse erweist. Er ist ein Raum, dessen Schönheit man nur in der Imagination bzw. in einer literarischen Darstellung betrachten kann, in dem es sich aber im Sinne eines realen politisch-gesellschaftlichen Entwurfs nicht leben lässt und aus dem sich auch nichts schaffen lässt, was lebbar ist (weil er so radikal leer ist, dass in ihm kein schaffendes Subjekt Platz findet). Um ein produktiver Raum zu sein, von dem eine Schöpfung ausgehen kann, braucht der leere Raum jemanden, der ihn ansieht und aus ihm etwas entwickelt. Brinkmanns Text radikalisiert eine Idee, die überall anders als auf der literarischen Ebene schwer zu radikalisieren wäre oder zumindest in größere Ausmaße politischer Gewalt münden müsste. Im literarischen Schreiben kann eine radikale Leere erzeugt und dann beobachtet und kommentiert werden – was im untersuchten Text dazu führt, dass seine mangelnde Anschlussfähigkeit für irgend-

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ein denkbares Subjekt offensichtlich wird. Der Text vollzieht die radikale Auslöschung und lässt sie gleichzeitig scheitern, passenderweise als Tagtraum eines schwachen und unproduktiven Charakters, der generell nicht das Rüstzeug besitzt, etwas Neues zu schaffen. Brinkmanns »leerer Raum Deutschland« offenbart neben seinem Scheitern auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene aber eine andere Art der Anschlussfähigkeit, diesmal eine literarische. Schaut man sich den Raum, den der Protagonist in seiner Tirade entwirft, noch einmal an, so kennzeichnet er sich neben der »Leere« vor allem durch »Stille«. Der Auslöschungsakt geschieht ausdrücklich, »damit es still wird, endlich« (Kwm: 186; Hervorhebung von JC). Die Bildschirme sollen still sein, aber auch die »Stimmen«, »das kulturelle Wort« und »die kulturellen Wörter«. Neben den Ikonen der Wirtschaftswundergesellschaft sind es vor allem verbale Phänomene, denen Brinkmanns Protagonist das Verrecken ganz ausdrücklich an den Hals wünscht. Die Leere steht in enger Verbindung damit, dass auch die Sprache schweigt – Brinkmanns leerer Raum ist ein stiller Raum, in dem vor allem Stimmen und Worte abwesend sind. Mit dieser Romanpassage und dem Fokus auf störende »Stimmen« und »kulturelle Wörter« sowie dem Ideal der Stille bzw. verbalen Leere nimmt Brinkmann einige seiner poetologischen Positionen vorweg, die er in den Jahren darauf explizit formuliert. So veröffentlicht er 1970 einen Text in Auseinandersetzung mit dem Schreiben des amerikanischen Beat-Schriftstellers William Burroughs, unter dem bezeichnenden Motto Laßt das Stille-Virus frei! Hier greift er den Gedanken einer Stille als oppositionelle literarische Position auf: Der Widerstand beginnt mit der Fähigkeit zur Stille. Sie hat nichts gemein mit dem üblichen Zustand einer Erschlaffung. Immer wieder taucht der Befehl auf: ›Laßt das StilleVirus frei!‹ Was damit gemeint ist, wird in Burroughsʼ Roman ›The Ticket That Explodet‹ [sic] gesagt: ›Die Andere Hälfte ist das Wort. Die Andere Hälfte ist ein Organismus. Wort ist ein Organismus. Die Anwesenheit der Anderen Hälfte ein selbständiger Mechanismus angeschlossen Ihrem Nervensystem auf einer Luftlinie von Wörtern kann jetzt experimentell nachgewiesen werden. […] die Andere Hälfte arbeitet einige Jahre auf der Basis der Symbiose. Von Symbiose zum Parasitentum ist ein kurzer Schritt. Das Wort ist heute ein Virus… Versuchen Sie, Ihr subvokales Sprechen aufzuhalten. Versuchen Sie, nur 10 Sekunden innere Stille aufzubringen. Sie werden einen widerstrebenden Organismus entdecken, der Sie zum Sprechen antreibt. Dieser Organismus ist das Wort.‹24

24 Brinkmann, Rolf Dieter: Spiritual Addiction. Zu William Seward Burroughsʼ Roman Nova Express [1970], in: Ders.: Der Film in Worten, S. 203-206, hier S. 204.

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Stille ist nach dieser Auffassung kein Manko, keine »Erschlaffung« des literarischen Schreibens, sondern eine »Fähigkeit« des schreibenden Subjekts, die erlernt werden muss. Stille aufzubringen wird als Herausforderung und auch als oppositioneller Akt gekennzeichnet. Die Opposition ist dabei zunächst gegen den »Organismus Wort« gerichtet, gegen eine Form von Sprache, die sich verselbständigt hat und nun eigendynamisch gegen das schreibende Subjekt arbeitet. Aus der »Symbiose« zwischen schreibendem Subjekt und Wort ist ein »Parasitentum« geworden: Die Sprache belagert und lähmt die Sprechenden und führt ein Eigenleben auf ihre Kosten. Brinkmann führt weiter aus, was diese verselbständigte Sprache ist und warum sie problematisch ist: Wörter rufen bestimmte Vorstellungen hervor, die wieder zu Wörtern gerinnen. Das ist das alltägliche Gefängnis, eine schmierige, heruntergekommene Schaubude, die den Körper festhält, hier in der Zeit. Wörter reagieren auf Wörter, und diese Klamotte wird jeden Tag in den Massenmedien neu aufgeführt. Sie ist inszeniert in den verschiedensten politischen Proklamationen, den täglichen Kommentaren, Bildstreifen, Fotos wie im Agitationszirkus der Straße. Dagegengesetzt ist Stille, der wortlose Zustand, das Hinter-sichLassen jenes bequemen Schemas aus Entweder-Oder, die Fähigkeit, zu sehen, was tatsächlich geschieht, sobald der Verbalisierungsprozeß gestoppt ist, aus dem sich fast immer ein vorprogrammiertes Reizreaktionsschema und damit vorausberechenbare Verhaltensweisen herauslesen lassen.25

Wörter sind »alltägliche[s] Gefängnis«, sie erlauben nicht, bestimmte Vorstellungen und ein bestimmtes »vorprogrammiertes Reizreaktionsschema« zu verlassen. Sobald Sprache verwendet wird, läuft etwas Bekanntes ab, die immer gleichen Reaktionen werden in Gang gesetzt (»Wörter reagieren auf Wörter«) und die immer gleichen Ein- und Ausschließungen finden statt (»bequeme[s] Schema aus Entweder-Oder«). Neben der massenmedialen Sprache ist es auch die Sprache der »politischen Proklamationen« und des »Agitationszirkus«, die einengend und lähmend wirkt. Brinkmanns Kritik trifft also nicht nur die »Stimmen« und »kulturellen Wörter« der etablierten Gesellschaft, sondern auch ausdrücklich die politisierte Sprache der außerparlamentarischen Opposition. Auch diese Sprache erweist sich als verselbständigt und wirkt sich daher nicht wirklich oppositionell aus, sondern bewegt sich in einer eingefahrenen, starren und berechenbaren Struktur. Aus dieser Kritik heraus formuliert Brinkmann gegen Ende der zitierten Passage eine für sein Schreiben fundamental wichtige These: dass sich aus einer eingeschränkten Sprache auch nur bestimmte, einge25 Ebd., S. 205.

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schränkte Handlungen ableiten lassen. Berechenbare Wörter erzeugen Subjekte mit »vorausberechenbaren Verhaltensweisen«. Damit sind in diesem Entwurf Sprache und Handeln keine getrennten Kategorien, sondern bedingen sich dahingehend, dass ein Subjekt deshalb einseitig und berechenbar handelt, weil es einseitig und berechenbar spricht und denkt. Das »alltägliche Gefängnis« der Wörter hält nicht nur den Geist und die Kreativität gefangen, sondern auch »den Körper […], hier in der Zeit«. Es ist die verselbständigte Sprache, die verhindert, dass das Subjekt über (vermeintliche) Grenzen seiner Person und seiner Zeit hinauskommt. Die Stille als das Ergebnis der Auslöschung einengender Sprachstrukturen ist Voraussetzung und Mittel, sich auch an außersprachliche Grenzen heranzuarbeiten und sie zu überwinden. Das, was sich im Leben als einengend, starr und fremdbestimmt erweist, wird nicht auf der materiellen Ebene bekämpft, sondern auf der verbalen oder kognitiven Ebene. Um Befreiung zu erlangen, ist es wichtiger, Eingefahrenes nicht mehr zu sagen, zu denken und zu schreiben als Eingefahrenes zu zerstören oder Handlungen zu unterlassen. Es wird ein Sprechen und Schreiben gefordert, das sich verweigert gegen Floskeln, Phrasen, Symbole, sprachliche Klischees, etablierte Deutungen und Kategorisierungen – auch gegen solche, die sich mittlerweile in politisch oppositionellen Kreisen gebildet haben. Brinkmann schließt seine Überlegungen mit einem Zitat aus Burroughsʼ Text The Job von 1969: Um im Raum zu reisen, müssen Sie den alten, verbalen Müll hinter sich lassen: GottGerede, Land-Gerede, Mutter-Gerede, Liebe-Gerede, Partei-Gerede. Sie müssen lernen, ohne Religion, ohne Land, ohne Bundesgenossen zu existieren. Sie müssen lernen, allein im Schweigen zu leben. Jeder, der im Raum betet, ist nicht da.26

Burroughs verteilt recht eindeutige Seitenhiebe an verschiedene zeittypische Kontexte, in denen er verselbständigte und berechenbare Sprache entdeckt: religiöse Ideologie (»Gott-Gerede«) wie politische Ideologie jeder Ausrichtung (»Land-Gerede« und »Partei-Gerede«), Psychoanalyse (»Mutter-Gerede«) und Hippie-Kultur (»Liebe-Gerede«). Das »Gerede«, der »alte, verbale Müll« sind 26 Ebd., S. 206. Im Übrigen zeigt dieser poetische Entwurf, den Brinkmann aus Burroughsʼ Arbeiten ableitet, in der Wahl seiner Metaphorik sehr gut, wie verschiedene zeitgenössische Anforderungen an literarisches Schreiben kurzgeschlossen werden: Die Auslöschung des »verbalen Mülls« ist notwendig, um »im Raum zu reisen«, also »beweglich« zu werden. Bewegung im Raum/Grenzüberschreitung/Mobilität (Kapitel 6) treffen hier auf die Auslöschung von Altem (Kapitel 7) und die Frage nach der Verbindung von Wort und Tat (Kapitel 4).

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jeweils die festgefahrenen Ausdrucksweisen, Schlussfolgerungen, Phrasen und Reaktionen, die das literarische Schreiben wie das schreibende Subjekt lähmen, einengen und berechenbar machen. Wichtig in allen zitierten Passagen Brinkmanns ist die Verbindung, die sich bildet zwischen den geforderten Innovationen des literarischen Schreibens und politischer Opposition: Durch die Rückbindung von freier Sprache an freie Handlungen bzw. von einengender Sprache an eingeengte Handlungen wohnt dem geforderten neuen literarischen Schreiben zu jedem Zeitpunkt ein politisches Statement inne. Die Befreiung des literarischen Schreibens von politisch funktionalisierter und einengender Sprache erzeugt keine unpolitische Literatur, sondern ist selbst ein Akt einer alternativen Politisierung. Wenn das literarische Schreiben seine Fesseln sprengen kann und das abwerfen kann, was einengend ist, so werden sich daraus Schreibende entwickeln, deren Handlungen nicht mehr eingeengt sind.27 Diese alternative Politisierung durch die vorrangige Veränderung von Sprache zieht in Erwägung, dass auch oppositionell intendierte Haltungen, Redeweisen, Handlungen und Kontexte des literarischen Schreibens sich beschränkend und lähmend auswirken können, insofern sie bereits selbstreferentiell und berechenbar geworden oder zum Klischee verkommen sind. Derartige Einwände finden sich in vielen poetologischen Texten Brinkmanns der späten 1960er und frühen 1970er Jahren ausformuliert. Paradigmatisch sind vor allem seine Auseinandersetzungen mit zeitgenössischer US-amerikanischer Lyrik sowie sein Essay Der Film in Worten (1969). In seinen Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten, die Brinkmann im Rahmen seiner Herausgabe der Anthologie

27 In Der Film in Worten formuliert Brinkmann diese Position wie folgt aus: »Diese Bewegung [, bei der Sprache anzusetzen, JC,] […] vollzieht und schafft ein Stückchen befreite Realität, die ihrerseits Gewaltanwendungen seitens der Unterdrückten, Unterprivilegierten, Ausgeschlossenen und Außenseiter gegen den militarisierten Standard, das standardisierte Verhältnis ermöglichen hilft, sie unterstützt und ihr die Argumente liefert, denn die neuen Produkte lassen sich nicht mehr ohne weiteres dem Bestehenden zuschlagen, indem sie willig eine Alibifunktion erfüllen – sie haben die bestehenden Verständniskategorien hinter sich gelassen, die Zettelkästen sind durcheinandergeraten und nicht mehr zu gebrauchen… wo kann noch sicher etwas abgelegt werden, was dann, wenn erforderlich und nützlich, hervorzuziehen wäre als Beweis – für was?« (Brinkmann: Der Film in Worten, S. 228). Erst die »befreite Realität« und das bewusste Verwischen und Stören der eingefahrenen Strukturen, über Dinge zu denken, zu sprechen und zu schreiben, entzieht dem »militarisierten Standard« die Argumente.

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Silverscreen publiziert, vergleicht er Herangehensweisen an oppositionelles Schreiben in den USA und in Deutschland: Ich kann ruhig zugeben, nichts damit zu meinen. Naiv und borniert dürfte es sein, nach dem ›politischen Gehalt‹ von Gedichten zu fragen. Und auch das ist ein Unterschied zu der uns vertrauten Art, mit Gedichten umzugehen: es besteht nicht der Zwang, mit dem Gedicht politische Bekenntnisse abzugeben. Ist durchschaut worden, daß ausdrückliche politische Demonstration von dem Zustand programmiert wird, gegen den sie sich wendet?28

Die »ausdrückliche politische Demonstration« in Gedichten ist bereits in festen Strukturen erstarrt und kann daher nicht mehr oppositionell sein, arbeitet in ihrer Berechenbarkeit sogar dem »Zustand« zu, »gegen den sie sich wendet.« Das wirksame oppositionelle Moment ist die Verweigerung der berechenbaren politischen Aussage nach gewohntem Muster. Auch das Schreiben eines Gedichts, mit dem »nichts gemeint« ist, kann so ein politischer Akt sein. Brinkmanns poetisches Programm denkt Radikalität und politische Opposition konsequent von der Sprache und dem Schreiben her. Was bedeutet aber ein Verzicht auf den »verbalen Müll« und die Arbeit mit der Stille, dem leeren Sprach-Raum für den konkreten Akt des literarischen Schreibens? Hier ist es wichtig, die Doppelfunktion des leeren Sprach-Raumes zu sehen: Einerseits ist er, wie gezeigt, ein Ansatz, durch alternatives Schreiben alternative politische Handlungen jenseits eingefahrener Strukturen zu ermöglichen, andererseits ist er aber auch ein Ansatz, eingefahrene innerliterarische Strukturen anzugreifen. 29 Der leere Sprach-Raum bedeutet auch einen Versuch, ohne alles künstlerisch Vorgängige des Mediums Literatur zu schreiben. Er ist eine Radikalmaßnahme nicht nur des politischen, sondern auch des künstlerisch tätigen Subjekts. Darin ähnelt Brinkmanns Ansatz den Ansätzen, die Peter Brook und Brian O’Doherty zeitgleich für die Medien des Theaters und der bildenden Kunst erproben. Mit 28 Brinkmann: Silverscreen, S. 253 (Hervorhebungen im Original). 29 Christoph Rauen hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Brinkmanns Poetikentwürfe »die ästhetisch-funktionale und ideologische Vorstrukturierung von Realität« kritisieren, dass sie also Kritik an Gesellschaft und Kunstschaffen gleichermaßen enthalten (Rauen, Christoph: Entwicklungsroman und ›Zwei-Drittel-Gesellschaft‹. Rolf Dieter Brinkmanns Keiner weiß mehr (1968) im Kontext ästhetischer und sozialer Normalisierung, in: Boyken, Thomas/Cappelmann, Ina/Schwagmeier, Uwe (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper. Paderborn 2010, S. 91-108, hier S. 92; Hervorhebung von JC).

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dem Ausgangspunkt des leeren Sprach-Raumes sucht auch er nach Ausdrucksmöglichkeiten, die von allem Eingefahrenen und unreflektiert Verselbständigten des Mediums Literatur bereinigt sind. 30 Wie Brook und O’Doherty verfolgt Brinkmann die Idee, alle Ordnungen und Strukturen abzulegen, die der bürgerliche Kunstbetrieb dem jeweiligen Medium über Jahrhunderte aufgeladen hat. Brinkmanns Rekurs auf die »Stille« ist ebenfalls ein Rekurs auf einen Ausgangspunkt, der vor den Ordnungen im und Erwartungen an das Medium Literatur (mit Brook ausgedrückt, vor den »konditionierten Reflexen« der Sparte) liegt. Die Stille als leerer Sprach-Raum nimmt bei Brinkmann die Funktion ein, die bei Brook der leere Raum mit Ensemble und Publikum und bei O’Doherty die weiße Wand, der leere Galerieraum einnehmen. Sie bedeutet damit einerseits, dass Einengendes verweigert oder ausgelöscht wird, richtet aber andererseits auch den Fokus auf einen neuen kreativen Ausgangspunkt. Sie kann nicht nur befreien, sie kann auch neue Impulse setzen. Welcher Art diese Impulse sind, ist zu erahnen in einer weiteren Silverscreen-Notiz: »Sobald ›Literatur‹ verschwindet, tauchen auch wieder die Personen auf!«31 Sobald das schweigt, was der Begriff »Literatur« dem schreibenden Subjekt an Erwartungen und Konventionen auflädt, rücken »die Personen« in den Vordergrund. Die Verweigerung der einengenden Strukturen scheint etwas Authentisches, der Realität des schreibenden Subjekts Nahes, im geschriebenen Text sichtbar zu machen, das sonst von den literarischen »Altlasten« verdeckt wird. Dies ist ein weiterer Aspekt, den Brinkmanns Schreiben und sein Umgang mit Leere und Stille mit den White Cube-Kunstwerke teilen: Auf der Spur von Brinkmanns Gegenentwurf zu einem Schreiben, das durch Vorgängiges überlagert ist, wird deutlich, dass die Auslöschung des Vorgängigen eine ganz besondere Präsenz freilegen kann. Sobald der »verbale Müll« zugunsten der Stille verschwunden ist, zeigt sich etwas Neues, das auf einmal »da« ist. Pointiert wird dies wiederum in Brinkmanns Auseinandersetzungen mit zeitgenössischer US-amerikanischer Literatur. Über die Texte des Lyrikers Frank O’Hara schreibt er wie folgt:

30 Vgl. auch die provokante Frage in den wenig später entstandenen Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines zweiten Romans, »was bei einem Schriftsteller übrigbliebe, entzöge man seinem Bewußtsein die Abstraktion Literatur, und die damit zusammenhängenden ideologischen Programme & Funktionen, egal welcher Richtung, welcher Zielsetzung« (Brinkmann, Rolf Dieter: Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines zweiten Romans [1970-74], in: Ders.: Der Film in Worten, S. 275-295, hier S. 281). 31 Brinkmann: Silverscreen, S. 253.

240 | P ROTEXTE Das auffälligste Merkmal der O’Haraschen Gedichte ist ihre unmittelbare Präsenz. Jedes Gedicht ist sofort ganz da. Weder enthalten sie, bereits gesagt, ein literar-theoretisches [sic] Programm, noch besitzen sie eine ausdrücklich soziologische oder plakativ verwendbare politische Ambition, die wirkungslos die Aufnahme eines Gedichts verstellt, indem sie den Kontext des im Gedicht Ausgedrückten stärker hervorkehrt als das einzelne, Genaue.32

Eine von Strukturen und Ordnungen überlagerte Sprache nimmt auch nur innerhalb dieser Strukturen und Ordnungen wahr und bildet sie ab.33 O’Haras Sprache erzeugt dagegen Gedichte, die »sofort ganz da« sind, weil das »das einzelne, Genaue« in ihnen nicht »verstellt« ist. Dieser Hinweis ist wichtig, denn er konkretisiert, wohin der Entwurf des »leeren Sprach-Raumes« führt, was bezogen auf das Schreiben sein Ziel und sein Gegenstand sind. Die abgelegten Ordnungen und Strukturen werden durch Stille und Leere abgelöst, doch diese sind diesmal kein Endzustand, sondern ermöglichen, dass etwas anderes wahrnehmbar wird und Präsenz erhält. In den Silverscreen-Notizen wird diese andere Präsenz, die sich in der »Stille« auftut, konkretisiert: »Sehen Sie sich um, was ist wirklich da, was Sie anfassen können und womit Sie einverstanden sind, jetzt, hier« 34 , fordert Brinkmann dort auf. Das Schreiben ohne Vorgängiges ist ein subjektives und spontanes Schreiben über isolierte Details der unmittelbaren Umgebung, über »die sinnliche Erfahrung als Blitzlichtaufnahme«35, wie es an anderer Stelle heißt. Schreiben im leeren Sprach-Raum bedeutet, bereits Vorhandenes neu zu sehen und sinnlich zu erfassen: Die alltäglichen Dinge werden vielmehr aus ihrem miesen, muffigen Kontext herausgenommen, sie werden der gängigen Interpretation entzogen, und plötzlich sehen wir, wie schön sie sind… ein Schlittschuh, der über die Eisfläche gleitet, eine Hand, die einem Hund Hundefutter hinhält, mein liebstes Gemüse broccoli – denn die alltäglichen Sachen

32 Brinkmann, Rolf Dieter: Die Lyrik Frank O’Haras [1969], in: Ders.: Der Film in Worten, S. 207-222, hier S. 215. 33 Vgl. dazu auch in den Silverscreen-Notizen: »Immer ist da theoretisch an der Schraube gedreht worden, und jetzt dreht sich die Schraube leer im Gewinde auf der selben Stelle. Wir sehen durch Theorien auf Gedichte und erblicken dann nichts anderes als Belege für unsere Theorien. Das ist sehr langweilig.« (Brinkmann: Silverscreen, S. 248; Hervorhebung im Original). 34 Ebd., S. 250. 35 Ebd., S. 249.

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und Ereignisse um uns sind terrorisiert worden; dieser winzige, aber überall verteilte Terror wird zersetzt, das konkrete Detail befreit.36

Das veränderte Sehen und die veränderte Sinnlichkeit des schreibenden Subjekts sind in Brinkmanns alternativem Entwurf von zentraler Bedeutung: Gefordert wird, neben der Verweigerung des »miesen, muffigen Kontext[s]« und der »gängigen Interpretationen«, auch eine Neuausrichtung der Wahrnehmung. Im Fokus steht nun der isolierte, roh-unkommentierte und flüchtige Eindruck – das, was sich zeigt, wenn die »kulturellen Wörter« schweigen. 37 Gesehen werden soll, was noch nicht gedeutet, ideologisch aufgeladen, mit Klischees behaftet oder irgendwo fest verortet ist. Die von Brinkmann eingeforderte schreibende Wahrnehmung ist gesteuert von der subjektiven, sinnlichen Erfahrung. Sie geht spontan der blitzlichtartigen »sinnlichen Erfahrung« und der »kleinen augenblicklichen Erregung«38 nach.39 In Bezug auf den Aspekt der Leere ist wichtig, dass Brinkmanns Poetik zwar immer eine sprachliche »Leere« als Ausgangspunkt fordert, aber nicht zwangsläufig eine materielle Leere. Der leere Sprach36 Ebd., S. 251. 37 In ihrer Studie zu »Sexualität, Geschlecht, Körper und Transgression als Subversion dualistischer Denkmuster« bei Brinkmann, Burroughs und Kerouac geht Kirsten Okun kurz auf diese poetologische Position Brinkmanns ein und bettet sie in den größeren Zusammenhang der Beat-Literatur ein. Okun beschreibt zutreffend, dass die Sprache Brinkmann als »Sinnlichkeitspanzer« gilt, der »das Leben erstarren läßt und daran hindert, unvoreingenommen sinnliche Vielheit zu sehen«. In diesem Zusammenhang erläutert sie auch das Ideal des »vorsprachliche[n], entfunktionalisierte[n] Bildes« als alternativer kreativer Ausgangspunkt, welches bereits in den Beat-Poetiken der 1950er Jahre angelegt ist (Okun, Kirsten: Unbegrenzte Möglichkeiten. Brinkmann – Burroughs – Kerouac. Sexualität, Geschlecht, Körper und Transgression als Subversion dualistischer Denkmuster. Bielefeld 2005, S. 34f. und 38). 38 Brinkmann: Silverscreen, S. 263. 39 In seinem ebenfalls 1969 entstandenen Essay Einübung einer neuen Sensibilität betont Brinkmann, dass das literarische Schreiben ausschließlich von der subjektiven Wahrnehmung und Empfindung geleitet werden sollte und verbindet dies mit seiner Kritik am vorstrukturierten Medium Literatur, das das literarische Schreiben durch Erwartungen und Konventionen fremdsteuert: »Die Autoren wagen es nicht mehr, vor dem anonym ihnen angetragenen Anspruch, ›kulturelle‹ Leistungen vollbringen zu müssen, ihren eigenen Interessen, Vorlieben, Abneigungen, Erfahrungen und Gedankenprojektionen zu folgen und diese dem anderen anzubieten als Buch, Gedicht, Roman, Essay […].« (Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität, S. 149).

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Raum schließt sich nicht mit einem materiell übervollen Raum aus, den er hilft, neu wahrzunehmen. Die Neuschöpfung besteht in dem neu gesehenen und erschriebenen Detail, der von allem Vorgängigen freigelegten »Erregung« und »Schönheit« im bereits Bekannten. Bevor ich diese Ergebnisse zu Brinkmanns Poetik auf den konkreten Text Keiner weiß mehr beziehe, soll ein kleiner Exkurs unternommen werden, im Hinblick auf die Titelwahl des zuletzt zitierten poetologischen Essays Brinkmanns. Wenn Brinkmann seine Poetik als Einübung einer Neuen Sensibilität bezeichnet, so knüpft er an einen zeitgenössischen Diskurs an, der sich sowohl auf ästhetische als auch politische Entwicklungen beziehen kann. Brinkmann verwendet den Begriff der Neuen Sensibilität im Titel, ohne ihn im Text näher zu kommentieren oder sich auf eine bestimmte Quelle zu beziehen – er setzt ihn als bekannt voraus. Im kulturellen Text der späten 1960er und frühen 1970er Jahre taucht der Begriff häufig auf, seine prominenteste Verwendung findet er in Herbert Marcuses Versuch über die Befreiung. Marcuse macht jedoch gleich am Anfang seines Textes deutlich, dass er den Begriff selbst aus dem bestehenden oppositionellen Diskurs adaptiert und die Neue Sensibilität als politisches Phänomen lediglich beschreibt und einordnet. 40 Marcuses Text, der wenige Monate (Februar 1969) vor Brinkmanns Essay (Juni 1969) erscheint, thematisiert die Neue Sensibilität anders als Brinkmann vorrangig als politisches Phänomen. Dennoch liegen beiden Texten einige verwandte Annahmen und Ansatzpunkte zugrunde, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen. Es geht dabei weniger darum, über Marcuse als Brinkmanns direkte Quelle spekulieren zu wollen als darum, zu zeigen, dass beide über den Begriff der Neuen Sensibilität an einem zeittypischen Diskurs partizipieren, der das Verhältnis von Politik und Ästhetik zum Gegenstand hat.41 40 »Die neue Sensibilität ist zum politischen Faktor geworden. Dieses Ergebnis […] erfordert, daß die kritische Theorie den neuen Sachverhalt in ihre Begriffe aufnimmt und erwägt, was er für den möglichen Aufbau einer freien Gesellschaft bedeutet.« (Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung. Frankfurt/M. 1969, S. 43). 41 Als weiterer Bezugspunkt für Brinkmann kommt ein 1965 erschienener Essay Susan Sontags in Frage. Sontags »new sensibility« bezeichnet einen Paradigmenwechsel in der zeitgenössischen Kunst: Kunst erhält dort (was zu Brinkmann passen würde) die neue Aufgabe der »Schulung unserer Gefühle und der Programmierung unserer Sinneswahrnehmung« für eine sich durch technische Entwicklung verändernde Lebensumgebung. Sie wird dabei gleichzeitig von ihrer alten Aufgabe des »Ausdruck[s] ethischer, gesellschaftlicher und politischer Ideen« und damit der ausdrücklichen moralischen Wertung entlastet (Sontag, Susan: Die Einheit der Kultur und die neue Erleb-

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Marcuse umschreibt die Neue Sensibilität als eine tiefgreifende Verweigerung gegenüber dem gesellschaftlich Bestehenden und gleichzeitige Entdeckung der Phantasie in ihrem revolutionären Potential. Er bettet die Neue Sensibilität in seine eigene Gesellschaftstheorie ein als Möglichkeit, sich von der Eindimensionalität der spätkapitalistischen Gesellschaft in einem radikalen Verweigerungsakt zu befreien: Eine solche Praxis [der Verweigerung, JC] umfaßt den Bruch mit dem Wohlvertrauten, den routinierten Weisen des Sehens, Hörens, Fühlens und Verstehens der Dinge, so daß der Organismus für die potentiellen Formen einer nicht-aggressiven, nicht-ausbeuterischen Welt empfänglich werden kann.42

Die einzige von Marcuse noch als möglich angenommene Befreiung läuft darüber, durch den Bruch mit dem »Wohlvertrauten« und den Routinen der Wahrnehmung die eigenen Bedürfnisse und Werte von der Vereinnahmung und Steuerung durch Kapital und Konsum zu lösen.43 Ermöglicht werden Verweigerung und Neue Sensibilität durch ein »Realitätsprinzip«, das Marcuse mit dem Begriff der »Ästhetik«44 umschreibt, wobei er nicht nur eine stärkere gesellschaftliche Präsenz der Kunst meint, sondern eine Offenheit des gesamten gesellschaftlichen Zusammenlebens für »das Sinnliche, das Spielerische, die Muße«.45 Das ästhetische Realitätsprinzip stellt bei Marcuse also einen idealen Umgang mit gesellnisweise [One culture and the new sensibility; 1965], in: Dies.: Kunst und Antikunst: 24 literarische Analysen. München 1980, S. 285-295, hier S. 295). 42 Marcuse: Versuch über die Befreiung, S. 18. 43 In Marcuses Worten, die Bedürfnisse zu »endsublimieren« (ebd., S. 44) und eine »völlige Umwertung der Werte« (ebd., S. 41) zu erreichen. Hier deuten sich auch die engen Bezüge des Versuchs über die Befreiung zu Marcuses psychoanalytischen Theorieelementen an (etwa, dass die vom System geweckten Konsumbedürfnisse deshalb so schwer überwindbar sind, weil sie bereits fester, »biologischer« Bestandteil der Triebstruktur der Menschen geworden sind (ebd., S. 26f.)), auf die in diesem Rahmen jedoch nicht näher eingegangen werden kann. 44 Ebd., S. 44. 45 Ebd., S. 46. Diese Verbindung von Ästhetik und gesellschaftlichem Zusammenleben durch Marcuse wird werkübergreifend von Waltraut Schröder erfasst. Schröder untersucht sie unter dem Aspekt, wie der Ästhetikbegriff des Kursbuchs von ihr geprägt ist (Schröder, Waltraut: Anthropologisierung der Ästhetik. Phantasie und ›neue Sensibilität‹ in ästhetischen Positionen des ›Kursbuches‹, in: Weimarer Beiträge 19 (1973), H. 12, S. 60-92).

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schaftlichen Realitäten dar: Wer nach ihm lebt, nutzt die Potentiale der Phantasie und des Sinnlichen, die die Kunst bereits kennt, für ein radikal anderes gesellschaftliches Denken und damit Handeln. Was Marcuse und Brinkmann verbindet, ist vor allem, dass sie Sinnlichkeit und kreatives Denken als dringende Voraussetzung für gesellschaftliche Veränderungen ansehen.46 Weiterhin verbindend ist, dass beide die Neue Sensibilität auch als Chance betrachten, zu authentischeren Eindrücken der eigenen Umgebung zu kommen: Beide bezwecken, in einer degenerierten, »obszönen«47 Überfülle mittels der eigenen unbegrenzten Phantasie und jenseits des »Wohlvertrauten« etwas wahrzunehmen und zu erleben, das nicht von repressiven Strukturen überlagert und damit ein »echter«, authentischer Eindruck ist. Brinkmanns Ansatz, Neue Sensibilität »einzuüben«, würde mit Marcuse gelesen bedeuten, die veränderte Sinnlichkeit, die Suche nach einem Authentischen und den spielerisch-offenen Umgang mit der Umgebung praktisch zu erproben – durch einen Schreibprozess, der sich auf diese Ziele fokussiert und seinen gesellschaftlichpolitischen Auftrag in genau diesem Sinne versteht. 48 Brinkmanns »leerer Sprach-Raum« ist, so betrachtet, das Ergebnis der Verweigerung des Bestehenden, Vertrauten und auch Degenerierten auf der Ebene des Schreibens und eine 46 Bei Marcuse heißt es: »[D]er theoretische Entwurf [einer freien Gesellschaft, JC] scheint fatal verfrüht – wäre nicht evident, daß die Kenntnis der transzendierenden Möglichkeiten der Freiheit eine treibende Kraft im Bewußtsein und in der Phantasie werden muß, die den Boden für diese Umwälzung vorbereiten.« (Marcuse: Versuch über die Befreiung, S. 43). 47 Ebd., S. 21. 48 Wie eingangs erwähnt, behandelt auch Susanne Komfort-Hein diesen Text Marcuses unter dem Aspekt des »Nullpunkts«. Sie untersucht Marcuses Entwurf der Neuen Sensibilität vor allem im Hinblick auf dessen Umgang mit Geschichte und Vergangenheit und dessen Adaption surrealistischen Gedankenguts. Der radikale Bruch mit allem in der kapitalistischen Gesellschaft Etablierten und die Hinwendung zur Neuen Sensibilität bedeuten ihr zufolge auch einen radikalen Bruch mit den »falschen Vätern« (Marcuse: Versuch über die Befreiung, S. 44), die das grausame und ausbeuterische System unterstützen und tragen. Der metaphorisch ausgedrückte Bruch zwischen »Vätern« und »Söhnen« steht für »die endgültige Unterbrechung eines Kontinuums geschichtlicher Gewalt« (Komfort-Hein: Flaschenposten, S. 228), indem Wege gesucht werden, das Bestehende nicht mehr zu affirmieren. Auf Brinkmann bezogen können die »falschen Väter«, von denen sich diese Nullpunktsetzung abgrenzt, sowohl politische als auch literarische »Väter« sein, die Zwang und Begrenzung ausüben.

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maximale Entgrenzung der eigenen schöpferischen Phantasie. Seine Verbindung mit dem Diskurs der Neuen Sensibilität macht noch einmal deutlicher, dass sich in ihm ästhetische und politische Veränderungsinteressen treffen. Was bedeuten Brinkmanns Poetik und ihr Umgang mit den verschiedenen »leeren Räumen« nun in Bezug auf den Text Keiner weiß mehr und seine schreibende Figur? Zunächst erweist sich im Text der leergewünschte, stille Raum Deutschland zwar nicht politisch-gesellschaftlich, aber literarisch als anschlussfähig: Er wirft mit seiner imaginierten Auslöschung von Allem einschließlich der Sprache implizit die Frage auf, was an literarischen und sprachlichen Ordnungen und Strukturen Ballast ist, entbehrlich und einengend. Mit Brinkmanns zeitgleichen poetologischen Ausführungen im Hintergrund wird diese Frage auch an anderen Stellen des Textes sichtbar: Sprachlicher wie materieller Ballast spielen immer wieder eine recht große Rolle und werden an mehreren Stellen auch eng miteinander verbunden. Wie bereits in vorher zitierten Stellen deutlich geworden ist, fühlt sich der Protagonist immer wieder davon belastet, dass »zuviel« von etwas da ist und ihn lähmt. Dieses »Zuviel« erscheint auf verschiedenen Ebenen, sei es, dass zu viele materielle Dinge in der Wohnung, im Zimmer der Frau49 oder im Kaufhaus50 sind, sei es, dass seine Frau und seine Freunde zu viel reden51 oder dass er zu viel an Körperlichkeit anderer Menschen verspürt.52 Sowohl auf der Ebene der Sprache als auch auf der des Materiellen empfindet der Protagonist immer wieder Beschränkung, Lähmung und Einengung durch eine Überfülle. Diese Überfülle auszulöschen erweist sich, wie im ersten Teil des Kapitels gezeigt, als Sackgasse. Vereinzelt zeigt sich jedoch auch ein anderer Umgang des schreibenden Protagonisten mit der Überfülle, der zum literarischen Rekurs Brinkmanns auf den leeren Raum passt: Es erweist sich als Obses-

49 »[D]iese Sachen […], ein Pullover von ihr, die gelben Lackstiefel, die von ihm nicht länger mehr zu übersehen waren. Sie waren da und zuviel, alles viel zuviel, jetzt wirklich zuviel und wie selbständig geworden.« (Kwm: 97) 50 »Die Stadt sich ansehen, die Schaufenster, hell erleuchtet, mit Sachen vollgestopft wie überall anderswo auch, und wie überall anderswo auch die Leute, der Verkehr, das Gehen, ein Gedränge […].« (Kwm: 188) 51 Vgl. z.B. die Gespräche mit Rainer und Gerald (Kwm: 35, 39 und 151ff.). 52 »Eine, von denen es so viele, viel zu viele überall, an allen Ecken zu geben schien, häßlich, mit stumpfen Gesichtern und erschreckend häßlich in ihrer dickfälligen Plumpheit, die sich überall an ihnen, am ganzen Körper, den Teilen, die davon zu sehen waren und auch den verborgenen, zeigte […], eine Anhäufung konfuser Bewegungen, ineinandergeronnen und hart geworden zu einer Bösartigkeit […].« (Kwm: 48f.)

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sion des Protagonisten, etwas zu »suchen« und zu »vermissen«, das »fehlt«. Dieses Suchobjekt bleibt während der gesamten Erzählung diffus und wird auch von keiner anderen Figur verstanden: Alle hatten sie ihm das schon einmal gesagt. Sie sahen, es war sein andauerndes Reden über das, was gar nicht da war, bei keinem von ihnen, sondern bloß von ihm ausgedacht. Was Wunder, daß sie sich von ihm abwandten, betroffen darüber, mit welcher Heftigkeit er ihnen das vorhielt, siehst du, da fehlt es, an dieser Stelle. Was? (KWM: 237)

Die Frage nach dem »Was?« vermag der Protagonist den gesamten Roman hindurch nicht zu beantworten, ist aber dennoch überzeugt, dass in all der lähmenden Überfülle, der drückenden Präsenz und dem nicht abreißenden »Gerede«, etwas anderes präsent, aber nicht sichtbar ist. Deutlich wird, dass sowohl seine häufigen ziellosen Gänge durch die Stadt als auch seine Phasen des unproduktiven »Starrens« der Suche nach dem »Fehlenden« dienen: Von dem anderen, womit er sich abquälte und immerzu beschäftigte, wußten sie nichts oder wenig, und wenn sie davon etwas erfuhren, blieb es für sie unverständlich. Das. Was das war. Und was nur noch mit ihm allein zu tun hatte. Und das er ihnen auch gar nicht erklären konnte, zum Beispiel dieses ziellose Herumlaufen nachmittags in der Stadt. Das lange untätige Herumsitzen bei sich im Zimmer. Dieses Starren auf den einen Fleck, den es nicht gab, aber das Starren war da. (Kwm: 106)

Das Fehlende kann er nicht benennen und auch nie ganz greifen. Er sieht sich ihm höchstens für Augenblicke und ahnungsweise gegenüber, wie etwa hier: Das, was er bemerkte, was ihm immer schnell in einem Augenblick auffiel, war meistens nicht deutlich genug. Es bedeutete immer mehr, wußte er, ohne zu wissen, was dieses Mehr war. Anderes trat dagegen wieder zu deutlich aus einem Zusammenhang heraus, Lippenstifte, aufgeschraubt, so daß der rosafarbene Stummel etwas heraussah, diese glatten schwachgetönten Enden. Wenn er aber auch das genauer begreifen wollte, die Bedeutung, die hier offener war, was war es dann wieder, was er sah, Lippenstifte, viele, die in einem Schaufenster ausgestellt waren, Lackstiefel am Bein eines Mädchens, das gerade vor ihm herging und die Straße zur anderen Seite hin überquerte, Geschäfte, Leute, die aus den Geschäften herauskamen und etwas Bestimmtes vorhatten, das für sie zu erledigen war, mehr war das nicht, mußte er sich sagen. (KWM: 103f.)

Ab und zu wird für den Protagonisten etwas sichtbar, das jenseits von allen einengenden Strukturen in Erscheinung tritt, konkret und isoliert »aus einem Zu-

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sammenhang heraus«. Es gelingt ihm für den Moment, die Lippenstifte in dem Schaufenster alternativ wahrzunehmen, als »sinnliche Blitzlichtaufnahme«. Allerdings schafft er es nicht, diesen Eindruck zu konservieren oder produktiv daran anzuknüpfen – sobald er versucht, seine Bedeutung zu »begreifen«, verschwindet er wieder in der Überfülle. Auch an anderer Stelle wird deutlich, dass er für einen Moment das Gesuchte »gefunden« hat, es aber nicht festhalten oder kommunikativ vermitteln kann. Als er mit seiner Frau Bilder einer Zeitschrift anschaut, wird das Gesuchte für ihn schlagartig präsent: »gefunden, da, eindeutig, da vor ihnen, da, die Finger, die Lippen, ein Gesicht, die mit einem Ruck stillstehende Figur, diese Figur hier oder was, wer, das, was er gesucht hatte, da war es doch, anwesend.« (Kwm: 113) Sobald er jedoch versucht, seiner Frau die verspürte Präsenz zu erklären, wird diese Präsenz »schon wieder etwas ganz anderes« (Kwm: 112) und verschwindet (wofür er dann seiner Frau die Schuld gibt). In Passagen wie den zitierten zeigen sich genau jene »kleinen augenblicklichen Erregungen« jenseits der »gängigen Interpretationen«, die Brinkmanns Poetik als zukunftsweisend für das Medium Literatur wie auch für die politischgesellschaftliche Relevanz des literarischen Schreibens ausweist. Auch Brinkmanns Protagonist erfährt für kurze Momente die Schönheit von Details, die aus der Überfülle hervorstechen, die »einfach nur da« sind und ihm genau dadurch für einen Moment ein Gefühl von unüberlagerter Authentizität verleihen. Allerdings schafft er es nicht, darin für sich einen produktiven Anknüpfungspunkt zu finden. Er hadert damit, dass das, was ihm zufällig und als seltener Glücksfall begegnet, »nicht in die Tasche zu stecken war, nicht einzupacken in Plastikbeutel und zuzuschnüren, zusammenzubündeln« (Kwm: 110) und dass er es nicht schafft, es in sein Schreiben oder auch nur einen kommunikativen Zusammenhang (etwa mit seiner Frau) zu überführen. Brinkmanns Text zeigt auch hier wieder eine poetologische Position durch einen erfolglosen Schreibprozess: Ein Schreibender leidet unter der Fremdbestimmung durch sprachlichen Ballast, hadert mit seinen Ausdrucksmöglichkeiten und sucht verzweifelt nach einem »Anderen«. Dieses Andere taucht immer wieder auf, wird vom Text also durchaus dargestellt, aber vom Protagonisten nicht produktiv gemacht. Die kurzen »sinnlichen Blitzlichtaufnahmen« ärgern ihn in ihrer Flüchtigkeit und Subjektivität und lassen ihn nur noch deutlicher seine Unfreiheit und Einengung verspüren. Dass er beim Betrachten der Zeitschrift für einen Moment meint, das Gesuchte gefunden zu haben, lässt kein Gefühl der Freiheit entstehen, sondern schürt nur die Unzufriedenheit mit seiner Frau, die ihm nicht folgen kann und nicht so empfindet wie er: »Er merkte, es ging nicht mit ihr. […] Nein. Sie verstand ihn jetzt nicht, worum es ging.« (Kwm: 113) Auch die momenthaft anregenden Bilder aus

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der Stadt (»Knie, der Abdruck von Brüsten in einem Pullover, […] die Nässe, Haar, die Drehung eines Körpers, eine bestimmte Bewegung, alle diese einzelnen Teile«) bedeuten für ihn keine Freiheit, sondern sind für ihn etwas, »das ihm aber immer wieder nur zeigte, daß er zurückgehen mußte, die Treppe hochgehen in die Wohnung, vierter Stock, Altbau, die Wohnungstür aufschließen.« (Kwm: 110) Der Text zeigt damit auf der inhaltlichen Ebene, wie eine Neue Sensibilität und ein authentisches Schreiben ohne Vorstrukturierungen funktionieren könnte, aber auch und prominenter, was ihm alles im Wege steht.

D ER BEINAHE LEERE R AUM UND DER BEINAHE FEHLENDE P EGASUS – ABWESENHEIT , W IDERSTAND UND S PRACHE IN DER Ä STHETIK DES W IDERSTANDS Die Debatte um ein neues, authentisches Schreiben durch eine veränderte Wahrnehmung und den Verzicht auf einengende Sprache wird bei Peter Weiss ebenfalls geführt. Sie nimmt, auch in ihrem politischen Bezug, einen etwas anderen Lauf, doch wie bei Brinkmann berühren sich in ihr eine ästhetische und eine politisch-gesellschaftliche Position – und wie bei Brinkmann hat sie einen leeren Raum als Ausgangspunkt, genauer »leere, graugrüne Räumlichkeiten« (ÄdW: 110). Es ist eine der merkwürdigsten Szenen in der Ästhetik des Widerstands (und auch eine der oft erwähnten, aber selten umfassend interpretierten). Sie beginnt, indem der Protagonist für eine letzte Nacht in die »kalte ausgeräumte Wohnung« (ÄdW: 109) zurückkehrt, in der er mit seinen Eltern gelebt hat, bevor er ihnen aus Berlin in die Tschechoslowakei nachfolgt. Er hat in Berlin bereits alles erledigt, die Möbel verkauft und eine Fahrkarte besorgt, »einzig eine leere Wartezeit stand bevor, in einem leeren Zimmer.« (ÄdW: 112) Wartend beginnt der Protagonist, über das »leere Zimmer«, die ehemalige Küche der Familie, nachzudenken und es in seiner Leere wahrzunehmen und zu erzählen. Durch die Beschreibung des Status quo werden all jene Bestandteile der Küche nachgezeichnet, die jetzt abwesend sind. Der Protagonist folgt detailliert den Spuren, den die einstmals anwesenden Gegenstände in dem jetzt leeren Raum hinterlassen haben. Er betrachtet die Linoleummatte […] mit den ausgetretnen Pfaden, die zum Herd, zum Ausguß, zur Tür des Nebenzimmers führten, und dann einen Blick zu werfen in die Kammer, in der die Beine des Betts vier Vertiefungen im Bodenbelag zurückgelassen hatten, um wieder einmal das Muster der Armut zu spüren […]. (ÄdW: 109f.)

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Das mehrfach als »leer« bezeichnete Zimmer ist also gar nicht frei von allem Anwesenden. Nicht nur Bett, Herd und Ausguß sind noch in gewisser Weise »da« durch die Abdrücke im Fußboden, sondern auch die geflohenen Eltern haben einen Rest an Anwesenheit im Raum hinterlassen durch ihre über Jahre »ausgetretnen Pfade«. Sichtbar werden diese Anwesenheiten dadurch, dass die Erzählerfigur den leeren Raum anschaut und von ihm erzählt. Obwohl nur von der Abwesenheit der Möbel, der Einrichtung und auch der Eltern erzählt wird, wird die intakte, eingerichtete Küche mit der dort lebenden Familie vor dem Auge der Lesenden aufgebaut. Durch den Fokus auf den leeren Raum, in dem sie nicht mehr sind, den sie aber materiell wie immateriell geprägt haben, wird erzählerisch nicht nur ihre Abwesenheit, sondern auch eine Art von Anwesenheit erzeugt. Diese Anwesenheit ist zwar geisterhaft, aber dennoch innerhalb und außerhalb der Diegese greifbar; so greifbar, dass sie ausreicht, um der Leserschaft ein konkretes Bild zu vermitteln sowie, innerhalb der Diegese, dem Protagonisten eine konkrete Assoziation einzuflößen – er fühlt durch sie das Stigma der Armut. Der »leere Raum« bei Weiss ist also, nachdem er genauer betrachtet und beschrieben worden ist, nicht mehr leer. Er ist versehen mit dem Denken und Sprechen darüber, was ihn früher einmal gefüllt hat und was ihm seine Spuren so aufgeprägt hat, dass er für den Protagonisten nie mehr wirklich »leer« sein kann.53 Der leere Raum in Weissʼ Text erinnert in der Art seiner Präsentation stark an die leeren Räume der White Cube-Kunstwerke: Hier wie dort wird davon ausgegangen, dass winzige Spuren im leeren Raum, materieller oder geistiger Art, durch die Leere auf einmal sichtbar werden und in den Fokus einer subjektiven Wahrnehmung rücken. Der leere Raum selbst beginnt zu »sprechen« und erzeugt eine alternative Art von Präsenz – wahrgenommen und hervorgebracht ausschließlich durch die subjektiven Blicke, Gedanken und Gefühle der Erzählerfigur.

53 Dies lässt sich gut ins Verhältnis setzen zu Maria C. Schmitts Überlegungen zum Status von Erinnerungen in der Ästhetik des Widerstands: Schmitt zeigt, wie die »im Roman prinzipiell befolgte temporale Gleichzeitigkeit von Erinnerungen und dem aktuellen Romangeschehen« dazu führt, dass Erinnerungen im Roman den Status einer unmittelbaren Realität einnehmen (Schmitt: Peter Weiss, S. 106). Die Verfahren, etwas Erinnertes wie eine gegenwärtige Realität zu erzählen sowie Abwesendes durch schreibende Benennung wieder hervorzubringen, ergänzen sich und sorgen dafür, dass die bestehende Küche »erscheint«, sobald der Protagonist von den Spuren ihrer ehemaligen Einrichtung zu sprechen beginnt.

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Nun ist der »leere Raum« streng genommen auch außerhalb dieser Spuren nicht ganz leer. Neben dem Protagonisten und seinem Koffer ist ein einzelner Gegenstand zurückgeblieben, an der Wand, ein verblichnes und an den Kanten zerrißnes Plakat, darstellend auf grauem Grund einen Arbeiter, der mit machtvoller Gebärde seine Fesseln sprengte. Er sollte hier hängen bleiben, als letzter Aufruf, ehe es ihn wegfegte, es war notwendig, daß etwas von unserm frühren Leben hier übrig blieb, denn die Wände waren schon angefressen vom Rieseln und Zerbröckeln […]. (ÄdW: 110f.)

Das Arbeiterplakat erscheint weniger als letzter verbliebener Einrichtungsgegenstand. Vielmehr reiht es sich mit seinen Rissen und verblassten Farben in die Spuren der Dinge ein, die nur gerade eben noch da sind. Metaphorisch kann es gelesen werden als Spur des Widerstandswillens, der die vertriebene Familie einmal ausgezeichnet hat. Wie die ehemaligen Orte des Schlafens und Kochens ist auch der Ort markiert, an dem sich das politische Leben der Familie abspielte. Dass der Sohn das Plakat als einziges Element hängen lässt beim Verlassen der Wohnung, lässt sich als letzter kleiner Widerstandsakt deuten, bewusst eine – wenn auch im Verschwinden begriffene – Spur der oppositionellen Idee zu hinterlassen, die den Raum einstmals gefüllt hat. In der zitierten Passage wird noch etwas Weiteres über den »leeren Raum« deutlich: Hier wie an anderen Stellen wird betont, wie er selbst »zerbröckelt«, verfällt und im Verschwinden begriffen ist. Dies verweist einerseits inhaltlich auf die ärmlichen Verhältnisse der Familie und symbolisch auf den Lebensabschnitt, der für sie zu Ende geht. Zusätzlich zeigt er aber auch, dass die Präsenz der abwesenden Gegenstände und Menschen nur für den Protagonisten besteht und extrem flüchtig und fragil ist. Dadurch, dass sie an seine individuelle Wahrnehmung und Erfahrung geknüpft ist, wird sie verschwinden, sobald er aufhört, in der Leere nach Spuren der einstmaligen Fülle zu suchen und davon zu erzählen. In der zweiten Hälfte nimmt die Episode im leeren Raum einen zunächst befremdlichen Handlungsverlauf: Der Protagonist wird dadurch aus seinen Gedanken gerissen, dass der Linoleumboden zu knarren beginnt, schließlich aufreißt und einen Spalt bildet, aus dem »die über und über verstaubte Hand meines Vaters, mit dem breiten Gelenk, den kräftigen Knöcheln« (ÄdW: 115) auftaucht. Der Übergang aus der vorherigen realistischen Passage erfolgt so unvermittelt, dass für einen Augenblick der Leseeindruck entsteht, der Vater befinde sich tatsächlich in der Küche. Dass es sich bei dem unter dem Küchenboden vergrabe-

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nen Vater jedoch um eine irreale, traumartige Erscheinung handelt, wird spätestens in dem Moment deutlich, in dem der Sohn versucht, sich ihm zu nähern: Was vor mir geschah war mühselig, doch konnte ich keinen Beistand leisten, denn in der Vorwärtsbewegung war ich gelähmt, jedesmal wenn ich versuchte, die Arme auszustrecken, gelangte ich nur weiter rücklings zum Fenster. […][I]ch wollte ihm helfen, doch ich hing so weit aus dem Fenster, daß die nächste Regung mich hinauswerfen würde. (ebd.)

Die Schilderung dieser Situation liest sich wie die Erzählung eines Traumes. Der Protagonist zeigt – traumtypisch – weder Erschrecken noch Verwunderung über den plötzlich aufgetauchten Vater oder den Sog zum offenen Fenster. Lediglich wundert er sich, dass er sich das noch vergrabene Gesicht des Vaters nicht vorstellen kann: Vor seinem inneren Auge erscheint nur eine Art primitiver Skulpturenkopf »mit der grob und klotzig eingesetzten Nase, den tief eingedrückten Augenlöchern, der hart geschnittnen Kerbe des Munds«. (ebd.) Kurzerhand stößt er sich mit den Füßen vom Fenstersims ab und fliegt »rückwärts ausgestreckt« aus dem Fenster, über sein Wohnviertel. Während des Flugs passiert etwas mit seinem Sprachvermögen: Alle gelernten Begriffe und Ordnungssysteme für die Dinge, die er von oben sieht, sind temporär ausgeschaltet. Er ist »weggesunken aus dem Wissen, was das dort unten für ein Bahnhof war«, sieht die Straßen seines Wohnviertels in isolierten Bildern (»da kam ein leicht gerundeter Vorplatz, mit Droschken und Taxis, da kam eine Freitreppe, ein Portal, da kamen gelbe Klinkersteine« (ÄdW: 116)), ohne ein System oder eine Benennung. Zunächst begegnen ihm nur harmlose, alltägliche Bilder des Bahnhofs und des Reisebetriebs. Doch während seines Flugs »um ein paar Viertel« der Stadt wird die Harmlosigkeit der Bilder immer mehr aufgebrochen. Stück für Stück nimmt er auch Bilder wahr, in denen bereits die zu diesem Zeitpunkt (September 1937) noch unbegreifliche Gewalt der erstarkenden NSDiktatur angelegt ist: und dann […] glitt ich hin über Sportplätze, mit Hürden, Sandkästen, Böcken, und auf der Asche der Laufbahn standen, zu einer kompakten Reihe formiert, die Schwarzgekleideten, Arm in Arm, und sie hatten sich in Bewegung gesetzt, […] und es regte sich etwas vor ihnen, von Gliedern, von Körpern, sie trieben Gefangne vor sich her, die einander stützten, einander zogen und schleppten, denn viele waren verwundet oder schon tot, kein Laut war von ihnen zu hören, und auch im Krankenhaus, am Ende des Felds, war es still hinter den hellerleuchteten Fenstern, dort lagen sie, zerfleischt, blutüberströmt […]. (ÄdW: 117)

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Auch diese Bilder werden nicht systematisiert. Traumartig folgt ein Bild auf das andere, blitzt Wahrgenommenes nur kurz auf. Die Wahrnehmung des Protagonisten springt zwischen Räumen und Zeiten, die Eindrücke sind nur isoliert wahrnehmbar und benennbar. Er verliert die gelernten Strukturen und Ordnungen also vor allem in zwei Bereichen: dem der Wahrnehmung und dem der Sprache. Seine Eindrücke während des Flugs zeichnen sich dadurch aus, dass sie erstens unverbunden und unberechenbar wahrgenommen werden und zweitens nicht unter Oberbegriffe und eindeutige Beschreibungen und Bewertungen passen wollen. Zwischen den fragmentierten Bildern sind immer wieder Reflexionen des Protagonisten über das, was gerade mit seiner Wahrnehmung geschieht, eingestreut (was die Konstruiertheit der Szene unterstreicht, insofern ihm ja konsequenterweise auch die Oberbegriffe für den Bereich der Wahrnehmung fehlen müssten):54 Ich konnte noch, kurz, den Triumph spüren, der damit zusammenhing, daß wir uns auf eine Wirklichkeit geeinigt hatten, daß wir dieses einzigartige und kühne Abkommen getroffen hatten, alles zu benennen und zu bewerten und in unser Bewußtsein einzuschließen, doch dann sah ich, rückwärts ausgestreckt fliegend, daß dies gar nicht stimmte, daß das Eindeutige und Gegenständliche umgeben war von einem Gewühl, von einem Lauern und Würgen, und unmittelbar darunter war von Namen und Bezeichnungen nur noch ein Lallen zu finden. (ÄdW: 115f.)

Er bemerkt, dass die Strukturen und Ordnungssysteme aus Wahrnehmung und Sprache, die er bislang für »das Eindeutige und Gegenständliche« gehalten hat, lediglich ein ausgeklügeltes, leicht angreifbares »Abkommen« sind. Eigentlich ist viel mehr wahrnehmbar, was aber flüchtig (»Gewühl«), latent bedrohlich (»Lauern«) und nur bruchstückhaft, ahnungsweise artikulierbar (»Würgen«, »Lallen«) ist. Die fragmentierten Eindrücke, die er jetzt sieht, gehen außerhalb der gewohnten Begriffe und Muster ganz neue, schwerer greifbare Verbindungen ein. Der harmlosen Sportübung der »Schwarzgekleideten« ist bereits die spätere organisierte Verfolgung von Menschen eingeschrieben. Was durch Begriffe in harmlos und gefährlich, in friedlich und gewaltsam getrennt wird, erweist sich als in letzter Konsequenz nicht trennbar – im »Gewühl« sind sie verknäuelt und können jederzeit an jedem Ort in Erscheinung treten. Mit dieser Erkenntnis kann er »wieder rücklings, durchs Fenster […] in die Küche zurückkehren« (ÄdW: 118). Nun besitzt der Vater auch wieder seine gewohnten Gesichts54 Andreas Huber spricht bei seiner kurzen Erwähnung der Passage treffend von »Verschränkung von Vision und Reflexion« (Huber: Mythos und Utopie, S. 180f.).

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züge, er richtet sich auf und setzt zum Reden an, womit die Passage und auch das Kapitel enden. Das anschließende Kapitel beginnt mit einem Gespräch zwischen Vater und Sohn, welches aber darauf schließen lässt, dass der Sohn mittlerweile bei den Eltern in der Tschechoslowakei angekommen ist 55 und die Handlung somit nach einer erzählerischen Ellipse (seiner Anreise) wieder in ein realistisches Setting zurückkehrt. Wie lässt sich diese Szene einordnen und deuten? Wie ist ihre Metaphorik aufgebaut und wie passt dies zu den bisherigen Ergebnissen? Zunächst ist es kein Zufall, dass sie im »leeren Raum« mit all seinen Einschreibungen ihren Ausgang nimmt. Wie aus den Abdrücken das Bett hervorbrechen und präsent werden kann, bricht der ehemalige Bewohner des Raumes aus den Einschreibungen hervor, die er dort hinterlassen hat. Der erzählende Sohn möchte dem Vater helfen, aus dem »leeren Raum« hervorzubrechen, aber er kann es nicht: Es drängt ihn vorher zum Fenster, zu dem erkenntnishaften Flug über die Wohnviertel. Erst nach der Rückkehr von diesem Flug und den neu gewonnenen Einsichten kann er dem jetzt aus dem Boden befreiten Vater gegenübertreten, und erst jetzt hat dieser auch ein Gesicht. Dass der Vater zu Beginn des Flugs kein Gesicht besitzt und nach dem Flug schon, verdient einen näheren Blick: Der »graue, lehmige Klumpen, mit der grob und klotzig eingesetzten Nase, den tief eingedrückten Augenlöchern, der hart geschnittnen Kerbe des Munds« (ÄdW: 115), den der Vater vor dem Flug statt eines Gesichtes hat, besteht nur in der Vorstellung des Sohnes. Sein »wahres« Gesicht liegt »noch verborgen im Werg« (ebd.), aber beim Versuch des Sohnes, das abwesende Gesicht im Geiste aufzurufen, erscheint nur etwas Artifizielles, Holzschnittartiges, Maskenhaftes. Der Sohn reagiert darauf mit der abgeklärten Feststellung »Dies handelt von der Schwierigkeit […], sich etwas vorzustellen, sich etwas begreifbar zu machen« und stößt sich dann, ohne weiteren Kommentar, »mit den Füßen vom Fenstersims ab« (ebd.). Sich das abwesende Gesicht des Vaters vorzustellen und es zu »begreifen«, ist schwierig. Das innere Auge des Sohnes zeigt ihm lediglich ein sehr grobes Abbild davon, das zwar zentrale Eigenschaften (Augen, Nase, Mund) aufweist, aber nichts, was das individuelle Gesicht des Vaters ausmacht. Nun folgt der Flug, der sich dadurch auszeichnet, dass der Sohn ohne Begriffe wahrnimmt. Passend dazu, dass seine Vorstellung nur ein grobes Abbild seines 55 Gleich zu Beginn der Szene werden ihr Ort und ihre Umstände benannt und damit klargestellt, dass sie nicht mehr zu der Traumsequenz gehört: »In der Küche der Zweizimmerwohnung, die meine Eltern in Warnsdorf, im Kellergeschoß einer Villa an der Niedergrunderstraße, gemietet hatten, ging mein Vater auf und ab und versuchte, sich unsrer Wohnung in Berlin zu entsinnen.« (ÄdW: 119)

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Vaters hergeben wollte, das zwar als dieser erkennbar ist, aber nichts über ihn aussagt, trifft ihn nun die Erkenntnis, dass in allen Dingen mehr steckt als das, was durch Begriffe und Kategorisierungen auszudrücken ist. Der skulpturenhafte Vater verkörpert das, was der Begriff »mein Vater« für sich allein hergibt – etwas Menschengemachtes und im Rahmen des »Abkommens« über den Begriff Erkennbares, aber nicht das Individuelle und Authentische an ihm. Beim Flug über die Wohnviertel bekommt der Sohn eine Ahnung davon, worin jeder einzelne Gegenstand jenseits der erlernten sprachlichen Ordnung besteht. Erst dadurch, dass sich der Sohn temporär von den vorher gelernten Begriffen und Wahrnehmungsmustern löst, kann er sich davon lösen, welcher konkrete Bahnhof sich unter ihm befindet und was sich in den überflogenen Straßen befinden müsste. Durch diese Loslösung erkennt er in ihnen Dinge, die sich seiner Wahrnehmung bisher entzogen haben – diffus und »lallend« zwar, doch deutlich authentischer und vielschichtiger als zuvor. Nur in diesem Wahrnehmungsmodus kann er die Dinge »unmittelbar geladen mit allen Forderungen und Gefahren« (ÄdW: 117) sehen, kann er das Ungeheuerliche anderer Zeiten und Orte sehen, das sich in der Marschübung und dem jetzt noch friedlichen Krankenhaus andeutet. Nahtlos ist der Übergang zum Marschbefehl und zur Gewalt gegen Andere bzw. zum Feldlazarett, zu Kriegsverwundeten. Über Verbindungen in Raum und Zeit, die über die geläufigen Begriffe und Ordnungen hinausgehen, wird »im Gewühl« etwas fragmentarisch fassbar, was der Protagonist als dunkle, schwer greifbare Ahnung in sich getragen hat. Für einen Moment zeigen sich ihm die Dinge in all ihren Implikationen, Verbindungen und eingebettet in nicht sprachlich erfassbare Komplexität. Er hat das Gefühl, darin etwas außergewöhnlich »Wahres« zu sehen, das ihn seine Umgebung deutlicher begreifen lässt: »[D]ie Häuser mußten so schwer und stumpf sein, die Straßen so voller Schwärze, der Himmel so niedrig und schwelend« (ebd.) – denn die Authentizität, die sie jenseits von den Begriffen und Ordnungen freigeben, ist in seinem Fall eine schreckliche, bedrohliche. Reicher um diese Erfahrung kehrt er in den »leeren Raum« zurück. Konsequenterweise kann er nun, da er die Limitation seiner Sprache und Wahrnehmung erkannt hat und eine, wenn auch fragmentierte, Ahnung bekommen hat, was alles über sie hinausgeht, nach seiner Rückkehr mehr in dem Vater sehen als nur ein Abbild: [I]ch hatte mich bei meinem Umherblicken davon überzeugt, daß die Straßen, die Häuser, die Plätze und Anlagen wirklich waren, wie sie zu sein hatten, und daß deshalb auch nichts in der Küche entstellt sein konnte. Und weil nun jeder Zweifel verschwunden war, konnte der Lehmklumpen die ihm zugedachten Gesichtszüge annehmen. (ÄdW: 118)

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Neben der Reflexion über Sprache und Wahrnehmung, die die Erscheinung des Vaters begleitet, liegt ihr auch ein politisches Statement zugrunde: Schließlich erscheint er von Anfang an mit zahlreichen Attributen, die betonen, dass er ein Arbeiter ist (etwa das »breite« Handgelenk mit »kräftigen Knöcheln«, nach der Rückkehr richtet er sich verstaubt und »verschorft« auf). Auch in dieser Hinsicht ist das Bild des unter dem Fußboden vergrabenen Vaters deutbar: Das Erste, was von ihm aus dem Boden kommt, ist seine starke Faust, die den Fußbodenbelag zerschlägt, was fast an einen Rotfront-Gruß erinnert, den der Vater dem Sohn aus dem Versteck entbietet. Hier liegt auch der Prototyp eines Kämpfers der Arbeiterbewegung vergraben, der sich zwar verstecken muss in einem symbolischen Untergrund und sich größten Hindernissen gegenüber sieht, aber sich dennoch »mühselig« und mit großer »Anstrengung« wieder bemerkbar macht (alle ÄdW: 115). Wie der Arbeiter auf dem gerade noch erkennbaren Plakat seine Fesseln sprengt, sprengt der Vater mit erhobener Faust den »leeren Raum«, aus dem er verdrängt wurde – zwar ähnlich geisterhaft und verblassend wie der abgebildete Arbeiter, aber mit dem deutlichen Signal, dass er noch da ist und durch die Vertreibung nicht ruhigzustellen ist. Unter diesem Aspekt betrachtet wohnt dem »leeren Raum« nicht nur die Präsenz seiner vergangenen Fülle inne, sondern auch ein gewisses zukunftsweisendes Potential. Der vergrabene Vater und das verblichene Plakat sind gleichermaßen Relikt des alten Raumes wie ein Signal, dass die Idee des Widerstands nicht auszulöschen ist, dass etwas von ihr erhalten bleibt, egal was sonst alles verschwindet. 56 Dieses ungewisse »Etwas«, das bleibt, ist jedoch der einzige Trost, den der »leere Raum« herzugeben vermag, denn immerhin wird am Ende der Szene offen gelassen, was der Vater sagt, nachdem er zum Reden ansetzt, bzw. ob er überhaupt etwas sagt. Der »leere Raum« birgt mit dem vergrabenen Kämpfer eher eine Hoffnung als eine Garantie für die Zukunft: Die Arbeiterbewegung kann und wird immer wieder unter Aufbietung aller Kräfte versuchen, ihre Beschränkungen aufzubrechen, sich sichtbar zu machen und sich Raum zu erobern – doch das ist auch das Einzige, was es zu diesem Zeitpunkt zu sagen gibt. Beachtenswert ist auch in dieser Deutung wieder die Rolle des Protagonisten: Der Widerstand ist nur noch eine prä56 Christian Bommert, der sich im Kontext surrealistischer Erzählverfahren in der Ästhetik des Widerstands als einer der wenigen Interpretinnen und Interpreten mit der Szene umfassender beschäftigt, deutet die Erscheinung des Vaters übereinstimmend als »das Prinzip einer unablässigen Auflehnung gegen alle Erniedrigungen und für ein beharrliches Festhalten an seiner Utopie einer befreiten, selbstbestimmten Arbeit.« (Bommert, Christian: Peter Weiss und der Surrealismus. Poetische Verfahrensweisen in der ›Ästhetik des Widerstands‹. Opladen 1991, S. 34).

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sente Abwesenheit, die zwar Hoffnung und auch den Willen enthält, sich wieder sichtbar zu machen, aber keinen materiellen Raum mehr besitzt. Es liegt in diesem Moment, symbolisch, allein beim schreibenden Protagonisten, sie durch seine Wahrnehmung, seine Imagination und sein Erzählen präsent zu halten. Was lässt sich bislang über den »leeren Raum« in dieser Szene festhalten? Zunächst macht der Protagonist die Erfahrung, dass die vertrauten Dinge, die nicht mehr im Raum sind, anders »da« sind als bisher gewohnt. Sie sprengen somit schon vor seinem Flug das erste Wahrnehmungsmuster, indem sie sich nicht mehr in das Schema von entweder anwesend oder abwesend einfügen wollen, etwas Drittes darstellen. Dann bricht etwas in den leeren Raum ein, was die Benennung »mein Vater« erhält, aber nur ein sehr grobes, simplifiziertes Abbild von der authentischen Präsenz des Vaters ist. Die Benennung kann den Vater, das erkennt der Sohn an dieser Stelle, im leeren Raum zwar aufrufen, doch sie erzeugt nichts »Wahres« oder Authentisches. Der Sohn bricht daraufhin auf zu einer Erkundung der Außenwelt ohne vorstrukturierende Elemente seiner Sprache und Wahrnehmung. Nur der leere Raum verleitet zu einem solchen Erkundungsflug, macht sensibel für Anwesenheit jenseits der vertrauten Begriffe und Ordnungssysteme. Der Protagonist versteht ausgehend von der leeren Küche zwei Dinge, die er in der gefüllten Küche niemals verstanden hätte: erstens, dass er viel umfassender und authentischer wahrnimmt, wenn Vertrautes nicht da ist, und zweitens, dass die gewohnte Wahrnehmung und Sprache nicht ausreichen, um diese Art von Authentizität adäquat zu erfassen. Diese Erkenntnisse sind für ihn als politisches Subjekt von Belang, aber auch für ihn als Schriftsteller. »Namen und Bezeichnungen« werden ihm suspekt, er beginnt sich für das »Lallen«, das Undeutliche und schwer Greifbare, kaum Vorhandene zu interessieren. Auch sein Schreiben bleibt ein Tonklotz mit lediglich skizzierten Gesichtszügen, solange er nicht wagt, sich über das vermeintlich »Eindeutige« hinauszubewegen. Die kleine Szene spricht damit auf einer Metaebene auch über Möglichkeiten des authentischen Wahrnehmens von und Schreibens über etwas, was nicht wirklich benennbar ist, kaum einzufangen ist und sich im Grenzbereich zwischen Anwesenheit und Abwesenheit befindet. Es wird deutlich, dass alles, was dem vermeintlich »leeren Raum« an Präsenz abgerungen werden kann, durch folgende Faktoren zum Vorschein kommt: eine Veränderung der eigenen Wahrnehmung, eine Verabschiedung vertrauter Begriffe und Ordnungssysteme, ein Einlassen auf das »Gewühl« von raum-zeitlichen Eindrücken und Verbindungen sowie eine Konzentration auf den eigenen, subjektiven Blick auf den leeren Raum. Die Parallelen, aber auch die Unterschiede zu Brinkmanns Umgang mit dem leeren Raum sind offensichtlich: In beiden Texten wird ein leerer Raum zum Ausgangspunkt einer Kritik von Sprache und Wahrnehmung. Von einer materi-

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ellen Leere des Raumes (bei Weiss einer tatsächlichen, bei Brinkmann einer imaginierten) ausgehend erkennen beide Protagonisten, wie sehr sie von gelernten und eingefahrenen Mustern des Sprechens und Wahrnehmens eingeengt sind und dass ihnen die Komplexität ihrer Umgebung dadurch entgeht. Es kommt in beiden Texten zumindest zum Versuch, die einengenden Strukturen abzulegen, woran anschließend sich für einen Moment alternative Wahrnehmungen offenbaren. Sie sind schwerer greifbar als die gewohnten Wahrnehmungen, aber sie sind auch »unmittelbar geladen« (Weiss) und »bedeuten immer mehr« (Brinkmann). Beide Texte enthalten mithin ein Plädoyer dafür, sich im Schreiben etablierten Mustern von Wahrnehmung, Ausdruck und Ordnung zu verweigern und sich auf Eindrücke einzulassen, die zwar fragmentarisch, »diffus« (Weiss) und »undeutlich« (Brinkmann) sind, aber etwas deutlich Authentischeres darstellen als das mit gewohnten Mitteln Erfahr- und Darstellbare. Zieht man Brinkmanns poetologische Texte hinzu, so haben beide Entwürfe des »leeren SprachRaumes« (jeweils unterschiedliche) Konsequenzen für das politischgesellschaftliche Verhalten: Gemeinsam ist beiden Entwürfen, dass sie das Wahrnehmen, Schreiben und Sprechen, das von vorgängigen Strukturen befreit ist, als notwendige Voraussetzung für Änderungen des Handelns begreifen. Allerdings läuft diese Änderung bei Brinkmann darüber, dass berechenbare Sprache zu berechenbaren Handlungen führt – nur nach der sprachlichen Veränderung sind überhaupt andere Handlungen denkbar. Bei Weiss liegt der Fokus dagegen darauf, dass der Protagonist eine umfassendere, tiefergehende Einsicht in das komplexe politische Geschehen erhält. In seinem alternativen Sprach- und Wahrnehmungsmodus erfasst er für einen Moment raum-zeit-übergreifende Zusammenhänge, die ihn darin bestärken, dass der politische Widerstand weitergehen muss. In einer späteren Passage, im zweiten Band der Ästhetik des Widerstands, gibt es eine kleine Reminiszenz an die prägende Erfahrung, die der Protagonist in der leeren Küche macht. Auch in ihr geht es um die Wahrnehmung jenseits etablierter Wahrnehmungsmuster und die Präsenz, die materiell Abwesendes haben kann. Der Protagonist ist mittlerweile als Freiwilliger im spanischen Bürgerkrieg als Krankenpfleger tätig. In València trifft er einen alten Freund, Jacques Ayschmann, wieder, der bei einer Granatenexplosion verwundet worden ist. Ayschmann zeigt ihm einen Bildband, in dem »die Reproduktionen der verschiednen Entwicklungsstufen des Bilds Guernica, bis zur fertigen Form, und die Vorstudien« (ÄdW: 411) abgebildet sind. Beim Gespräch über das Bild fällt dem Protagonisten sofort auf, dass Pablo Picassos Gemälde mit dem Innen und Außen von Räumen spielt. Es enthält keine klare Entscheidung, ob sich das Gezeig-

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te in einem Gebäude oder unter freiem Himmel abspielt. Anhand der Figur mit dem Leuchter in der Hand verfolgt er die Verschachtelung der Räume: Ihr aus dem Unendlichen kommendes, dominierendes Gesicht drängte sich fließend aus dem Inneren eines Bauwerks, unter Dachziegeln, nach draußen, an einem weißgetünchten Mauerstück vorbei, doch in dieser Bewegung gelangte es wieder nach innen, in den langgestreckten kargen Raum, in dem das apokalyptische Geschehen sich abspielte, erhellt von der elektrischen Sonne der Küchenlampe […]. (ÄdW: 412f.)

Der gezeigte Innenraum ist für ihn von Anfang an, ohne Zweifel, eine Küche: Er identifiziert die Lampe in der oberen Mitte des Bildes auf Anhieb als »Küchenlampe« und den Innenraum als »flachen, gedrängt angefüllten Küchenraum« (ÄdW: 415). Der Angriff auf Guernica, für ihn vor allem ein Angriff auf unschuldige Vertreterinnen und Vertreter der ärmeren Schichten, hat in seiner Vorstellung seinen zentralen Ort in einer Küche. Die Küche fungiert dabei als Bild für friedliches, ziviles, aber auch eher ärmliches, gedrängtes Zusammenleben.57 Im Zusammenhang seiner Reflexion über die abgebildete Küche nimmt der Protagonist für einen kurzen Moment Bezug auf die Episode in der leeren Berliner Küche und seine Erkenntnis dort: Daß die Zerstörung Guernicas auf den viereckigen Fliesen einer Küche stattfand, war mir unmittelbar verständlich. In einem solchen Raum hatte auch ich die Einsicht gewonnen, daß es keine Trennung gab zwischen den sozialen und politischen Materialisationen und dem Wesen der Kunst. (ÄdW: 417)

Dass er automatisch an eine Küche als Ort für das Bild denkt, hat also nicht nur mit der metaphorischen Qualität dieses Raumes zu tun, sondern auch mit seinem Erlebnis in der leeren Berliner Küche. Diese Verbindung wird von ihm nicht näher kommentiert, sondern nur kurz als erzählte Gedankenrede in das längere Re57 Mit dem Bild der proletarischen Küche, das im gesamten Roman immer wieder auftaucht, beschäftigt sich Andreas Huber. Huber zeigt den Küchenraum in der Ästhetik des Widerstands im Anschluss an Hans Höller als ambivalenten Raum, der einerseits für die Gebundenheit der proletarischen Figuren in ihrem Milieu steht, aus dem sich aber auch unendlich viel (Kunst, Weltpolitik etc.) erschließen kann (vgl. Huber: Mythos und Utopie, S. 95-107). Die proletarische Küche fungiert damit, auf den gesamten Text bezogen, auch als hoffnungsstiftendes Bild, dass aus ihrer Enge und Limitation (und damit der einer proletarischen Biographie, Sozialisation, Ausbildung…) heraus Zugänge zu Bildung, Macht, Wissen und Kunstrezeption möglich sind.

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flexionsgespräch mit Ayschmann über das Bild eingestreut. Was genau verbindet die Handlung der Berliner Küchenszene und die daraus resultierende Einsicht mit der »Küche« auf dem Bild Guernica und der Einsicht, die der Protagonist darin vermutet? Zunächst spielt in beiden Szenen eine furchtbare Gewalt eine Rolle, die in ihrer Gänze nur erahnbar wird über die unmittelbar sichtbaren Dinge hinaus. Hier wie dort steht alles, was der Protagonist sieht, mit externen Räumen und Zeiten in Verbindung und erhält erst dann, wenn er sich auf die Wahrnehmung dieser Verbindungen einlässt, seine volle Schreckensdimension: »alles stand zueinander in Beziehung, war miteinander verbunden, der gleichen Bestimmung unterworfen auf der Bühne dieser Scheune, dieser Küche, dieser Alltäglichkeit, die vom Außergewöhnlichen beherrscht war.« (ÄdW: 413) Diese Verbindungen und Beziehungen sieht der Protagonist in Guernica verbildlicht in den geöffneten Türen, die aus dem gezeigten Raum, in dem sich die Gewalt abspielt, hinausführen: [N]och größere Verheerungen schienen sich von dem flachen, gedrängt angefüllten Küchenraum aus anzubahnen. Die Tür hinterm Schweif des Stiers stand offen, und auch neben der im Feuersturm Endenden ging es weit hinaus. Der Abschnitt einer Prophezeiung war hier festgehalten, in greller Beleuchtung, und da die Glühbirne an der Decke, mit ihrem verknäulten Draht, bald erlöschen konnte, war die andre, zuverlässige Öllampe hinzugeholt worden, und dies war das Licht des Bewußtseins, des Erkennens. (ÄdW: 415f.)

Die geöffneten Türen, die die Ausweitung des unmittelbar Sichtbaren, Benennbaren und Abgrenzbaren zulassen und sich der klaren raumzeitlichen Zuordnung der Szene widersetzen, werden als ambivalent gezeigt: In ihnen deutet sich einerseits an, dass der Horror weit größere Ausmaße hat als gezeigt, aber andererseits wird auch der Leuchter, »das Licht des Bewußtseins, des Erkennens« von dort hineingebracht. Wie das Erlebnis in der Berliner Küche durch die Offenheit der Wahrnehmung sowohl eine Ahnung der Ausmaße der Gewalt der NSDiktatur als auch eine Ahnung der Unermüdlichkeit des Widerstands vermittelt, offenbart das Bild Guernica, sobald man sich von den konkreten Ereignissen, Räumen und Gegenständen löst, eine diffuse Einsicht in eine größere Grausamkeit, aber auch eine unbekannte Quelle von Hoffnung. Der Protagonist macht, indem er Guernica betrachtet und bespricht, nach der Küchenszene zum zweiten Mal die Erfahrung, etwas zwar Diffuses, »Lallendes«, aber auch ungewöhnlich Authentisches und Komplexes wahrzunehmen und im Ansatz zu erfassen. Die Stärke des Bildes besteht darin, »Zerschmettrung und Erneurung, Verzweiflung und Hoffnung« (ÄdW: 411f.) zu enthalten und mittels weniger Zeichen spürbar zu machen.

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Anders als in der Berliner Küche legt der Protagonist diesmal einen besonderen Fokus auf die Rolle der Kunst in dieser Wahrnehmungsveränderung. Wie sein Flug über die Wohnviertel stößt ihn Guernica noch einmal auf die Erkenntnis, dass sprachliche und gedankliche Ordnungssysteme sowie eindeutige Abgrenzungen und Deutungen des Wahrgenommenen einer tiefergehenden Ebene des Wahrnehmens und Verstehens entgegenstehen. Doch während beim Flug aus dem leeren Raum der Verlust der »Namen und Bezeichnungen« unerwartet über ihn gekommen ist, wird hier mit der Kunst die Möglichkeit gezeigt, aktiv und gezielt vorgängige Ordnungen und vermeintliche Eindeutigkeiten zu unterlaufen – wie es das Bild Guernica u.a. durch das Spiel mit Innen- und Außenräumen tut. Noch deutlicher wird dies in Bezug auf einen anderen Aspekt des Gemäldes: Ayschmann und der Protagonist entdecken in einer der früheren Skizzen Picassos zu Guernica einen winzigen Pegasus, der aus der Wunde des großen Pferdes hervorfliegt, in der endgültigen Version des Gemäldes aber fehlt.58 Um diesen fehlenden Pegasus entspinnt sich eine Diskussion, die das komplizierte Verhältnis von Kunst, Politik, Abwesenheit und Wahrnehmung zum Kern hat: Der Protagonist bemerkt, wie das Wissen um den einstmals in den Skizzen anwesenden Pegasus dem großen Pferd aus dem Gemälde weiterreichende Deutungsdimensionen verleiht: Und zeigte sich auch […] das Pferd als ein ekelerregendes Ungetüm, mit Gesichtszügen, die an den Generalissimo erinnerten […], so ließ sich doch, beim Studium des Hefts, aus ein paar Entwürfen der Hinweis auf eine andre Sinngebung entnehmen. Denn da entflog einmal der in den Pferdeleib geschlagnen Wunde ein kleines geflügeltes Roß, das dann wiederzufinden war, zierlich sitzend auf dem gezähmten gesattelten Bullen. In der gemalten Fassung war es nicht vorhanden, oder zur Taube transformiert, so übergroß, fast störend aber war die schwarze rhombische Wunde, daß die Aufmerksamkeit immer wieder darauf gelenkt wurde. Mit solchem Loch im Rumpf konnte das Tier sich eigentlich gar nicht mehr aufrecht halten, die Seele mußte ihm schon entwichen sein. An die eindringlichen Zeichnungen des Pegasus denkend, fragten wir uns, ob nicht grade durch das Fehlende, durch die erschreckende Aushöhlung, auf ein Hauptmotiv des Gemäldes hingewiesen werden sollte. (ÄdW: 413f.)

Das große Pferd ist in der bisherigen Diskussion der beiden jungen Männer einvernehmlich allegorisch gedeutet worden als das Böse, die Gewalt oder der 58 Eine Kopie dieser Skizze findet sich auch in Peter Weissʼ Notizbüchern, die den Entstehungsprozess der Ästhetik des Widerstands begleitet haben (vgl. Weiss, Peter: Notizbücher 1971-1980, Bd. 1. Frankfurt/M. 1987, S. 127).

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»verhaßte […], vom Faschismus aufgezwungne […] Krieg« (ÄdW: 413).59 Doch nun tritt durch den Pegasus eine gegenteilig zu lesende Figur auf den Plan, die auf eine Seele oder eine Hoffnung verweist und damit dem großen Pferd seine Eindeutigkeit nimmt.60 Durch ihn steht die zuvor eindeutige Bosheit des großen Pferdes plötzlich in Frage. Er gibt – gerade durch seine Abwesenheit, wie gezeigt werden soll – der Szene eine größere Komplexität und erzwingt eine größere Offenheit ihrer Deutung. Die beiden Betrachter sind sich einig, dass »Pegasus, unsichtbar, in das Bild gehörte« (ÄdW: 415), dass also die Skizzen unbedingter Bestandteil des Bildes sind. Picasso hat, nach ihrem Verständnis, den Pegasus in der Skizze bewusst geschaffen, um ihn im endgültigen Gemälde fehlen zu lassen und bei den Betrachtenden lediglich das Wissen zu erzeugen, dass er dort sein könnte. Zu sehen ist die klaffende Wunde als »Loch« oder »Aushöhlung«, als Verweis auf etwas Abwesendes, aber Bedeutsames. Die Wunde nimmt hierbei eine ähnliche Rolle ein wie die Abdrücke auf dem Linoleumboden der leeren Küche: Auch sie stellt eine Spur von etwas dar, was sich der vermeintlichen Eindeutigkeit der Umgebung widersetzt. Dieses Etwas hat der Umgebung etwas Nachhaltiges eingeprägt und wirkt dadurch nach, dass es einmal da war. In der leeren Küche wie im Gemälde ist es die geisterhafte Präsenz eines Abwesenden, das einem Element (hier dem leeren Raum, dort dem großen Pferd) eine größere Bedeutungsdimension abringt, das auf den ersten Blick eindeutig, klar benennbar und abgrenzbar schien. Dieser erste Blick zeigt den leeren, hoffnungslosen Raum, deren Bewohner vertrieben sind und alles verloren haben bzw. das gewaltsam wütende, über59 Pferd und Stier in dem Gemälde Guernica sind in der Kunstwissenschaft in ihrer Deutung umstritten. Anders als in der Deutung, die die beiden Figuren vornehmen, wird oft, in Anlehnung an eine Eigenaussage Picassos zu seinem Gemälde, der Stier als die Verkörperung des Bösen und das Pferd als die des verletzten, leidenden Volkes gedeutet. Näheres zur kunstwissenschaftlichen Deutungsgeschichte der beiden Tiere erläutert Max Imdahl: Picassos Guernica. Frankfurt/M. 1995, S. 74ff. 60 Hans Höller, der Bildbeschreibungen im Werk Peter Weissʼ untersucht, zeigt noch weitere Elemente des Bildes, die den Protagonisten seine bisherigen dichotomen Deutungen hinterfragen lassen, etwa die »Linien auf dem Pferdehuf«, die sich in den »Linien auf der Innenseite der Hände und Füße der Figuren, Linien, wie Wundmale in die Hand eingeschnitten« fortsetzten und damit »die zunächst festgestellte Position des Pferds wieder fragwürdig machen« (Höller, Hans: Erzählte Kunstanalyse. Die ›Guernica‹-Beschreibung in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, in: Gratzer, Wolfgang/Neumaier, Otto (Hg.): Guernica. Über Gewalt und politische Kunst. München 2010, S. 253-264, hier S. 261).

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mächtige Pferd. Doch dadurch, dass beide auf den zweiten Blick »Spuren« eines Abwesenden enthalten, wird in ihnen gleichzeitig eine Hoffnung oder Chance sichtbar. Zusätzlich ist der fehlende Pegasus aber auch im Kontext der Relation von Kunst, Erkenntnis und gesellschaftlichem Geschehen lesbar: Als mythologische Figur wird Pegasus, der mit seinen Hufen die Quelle der Musen schlägt, kunsthistorisch häufig mit künstlerischer und vor allem dichterischer Inspiration in Verbindung gebracht. Zunächst zeigen sich der Protagonist und Ayschmann irritiert, dass ein Gemälde, das Aussagen über etwas derart real Gewaltsames trifft, gleichzeitig durch den nur angedeuteten Pegasus »eine Frage nach dem Verbleib der Kunst« stellt. Sie sind zunächst geneigt, den Kritikern recht [zu] geben, die dem Werk, von dem sie Agitation verlangten, eine Undurchschaubarkeit und Gebrochenheit vorwarfen. […] Die schmerzliche Verunstaltung des Menschen unter der Wucht der Destruktion widersprach der Ansicht der Partei, daß der Kämpfende in jeder Lage seine Stärke und Einheit beizubehalten habe. Da waren groteske Züge, gleichsam kindlich gekritzelt, sie waren, wie es hieß, ungeeignet, die Sache des Proletariats zu vertreten. (ÄdW: 414)61

Doch dann erkennen sie, dass es sich sowohl bei der deplatziert scheinenden Frage nach der Kunst als auch bei dem Verzicht auf »Stärke und Einheit« selbst um politische Aussagen handelt. Gerade in seiner »Undurchschaubarkeit und Gebrochenheit« hat das Bild dem Proletariat sehr viel zu sagen: »Die äußere Schicht der Wirklichkeit war abgehoben worden. Unterdrückung und Gewalt, Klassenbewußtsein und Parteilichkeit, Todesschrecken und heroischer Mut zeigten sich in ihren elementaren, dynamischen Funktionen.« (ebd.) Das auf dem Gemälde Dargestellte befindet sich, wie bereits die erste Deutungsdimension des abwesenden Pegasus gezeigt hat, jenseits eindeutiger Frontstellungen und auch der bekannten Bilder und Zeichen für die Darstellung von Gewalt und Widerstand.62 Analog zur Flugszene aus der leeren Küche ist es auch hier für die poli61 Diese von den beiden Figuren diskutierte Position zu dem Gemälde scheint Weiss aus einer historischen Aussage durch die spanische Kommunistische Partei abgeleitet zu haben. In seinem Notizbuch I notiert Weiss: »Ende 37 wollte die KP Spaniens das Bild aus dem sp. Pavillon der Weltausstellung entfernen! ›Es ist asozial, lächerlich, völlig ungeeignet, die Sache des Proletar. auszudrücken.‹« (Weiss: Notizbücher, S. 187; Hervorhebung im Original). 62 In seinem kurzen Fokus auf die Guernica-Passage drückt es Alfons Söllner so aus, dass in dem Gemälde »das Politische nur auf paradoxe Weise präsent« ist, als Fehlen-

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tische Erkenntnis ein Zugewinn, von den vertrauten Begriffen und Kategorien, die die »äußere Schicht der Wirklichkeit« bilden, Abstand zu nehmen und dadurch etwas viel Umfassenderes und auch Authentischeres zu erkennen.63 Genau hier fügt sich auch die »Frage nach dem Verbleib der Kunst« ein, die der abwesende Pegasus aufwirft. Schließlich ist es erst die besondere künstlerische Darstellung, die es schafft, die »äußere Schicht der Wirklichkeit« abzuheben und auch etwas so Unvorstellbares wie die faschistische Gewalt neu sichtbar und damit näherungsweise sinnlich erfassbar zu machen. Die dargestellte Gewalt besitzt »Dimensionen, die wir noch nicht zu fassen vermochten« (ÄdW: 420), an denen die gewohnten Begriffe, Kategorien und Deutungen der Agitationsrhetorik scheitern müssen. 64 Lediglich die »Undurchschaubarkeit und Gebrochenheit« des Bildes erzwingt ein Wahrnehmen jenseits des Eindeutigen und den vertrauten Ordnungen und lässt bei den Betrachtenden die diffuse Ahnung einer »Wahrheit« entstehen. In einer kurzen Rückblende in seine Jugendzeit erinnert sich der Protagonist, dass sein Vater ihm von Kindheit an eine Skepsis gegenüber jeglichen »einfachen« Begriffen und Ordnungssystemen vermittelt habe, die angeblich für Arbeiter geeignet seien – und dass diese Skepsis aus der Beschäftigung mit Kunstwerken entstanden sei: Da er [= der Vater, JC] sich um den Einblick in Kunst und Literatur bemühte, hatte er, voller Wut oft, das auf unsern Bedarf zurechtgeschnittne populistische Gut zurückgewiesen und bestritten, daß Leitfäden, auf begrenzte einfache Gedankengänge eingestellt, uns weiterhelfen könnten. (ÄdW: 419)

Zugrunde liegt die Position, dass es, auch für die Arbeiterklasse, in einer komplexen politischen und gesellschaftlichen Situation das Ziel sein muss, einen, wenn auch kleinen, Teil dieser Komplexität zu begreifen, anstatt sie auf gewohnte Begriffe und Ordnungssysteme herunterzubrechen, die gegenüber den eigentdes und sich der Eindeutigkeit Verweigerndes (Söllner: Peter Weiss und die Deutschen, S. 203). 63 Im Betrachtungs- und Diskussionsprozess stellt der Protagonist in diesem Zusammenhang fest, dass die Wirkung des Bildes »um so stärker [wurde], je vorbehaltloser wir uns ihr stellten« (ÄdW: 420). 64 So ist auch Ayschmanns Kommentar, zwischen den Kritikern und Picasso stießen »zwei verschiedene Realismusauffassungen […] aneinander« (ÄdW: 414), zu verstehen: Anstelle einer möglichst konkreten, mimetischen Darstellung der Gewalt im Sinne einer realistischen Kunstauffassung konfrontiert Guernica die Betrachtenden mit einer viel tiefer gehenden »Realität«.

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lichen Ereignissen und auch den eigenen Ahnungen darüber unbefriedigend bleiben. Dem Pegasus als Allegorie der Kunst kommt die Rolle zu, den »Verlust der Begriffe«, die Abkehr vom Eindeutigen, Vorstrukturierten zu erzwingen. Die »Frage nach dem Verbleib der Kunst« ist die Frage nach dem Verständnis der eigenen Situation, nach der einzigen Chance, Unterdrückung und Gewalt zu begreifen und sinnlich erfassbar zu machen, und damit letztlich die Frage danach, aus welcher Position Widerstand möglich ist. Dies ist auch ein weiterer Grund, warum der Pegasus in der Guernica-Szene fehlen muss: Wie im leeren Raum der Küche ist der Widerstand gefährdet und hat keinen Ort in dem zerstörerischen Umfeld. Gleichzeitig ist er aber auch nicht völlig auslöschbar in einer Vernichtung, die ansonsten so furchtbar und umfassend ist, dass ihr Menschen, Städte und alles, was sonst konkret zu sehen ist, zum Opfer fallen.65 Pegasusʼ präsente Abwesenheit bleibt stehen als kleines hoffnungsspendendes, widerständiges Element – wenn er auch vertrieben und gefährdet ist, so wird er durch das Geschehen auch befeuert und wirkt von außen, nicht sichtbar, darauf ein: Die Phantasie lebte, so lange der Mensch lebte, der sich zur Wehr setzte. Doch der Gegner beabsichtigte nicht nur materielle Zertrümmrung, sondern auch das Auslöschen aller ethischen Grundlagen. Wir stimmten darin überein, daß der Angreifer nicht in einem Vakuum bleiben durfte, sondern erkennbar geschildert werden mußte. Dies aber schloß nicht aus, daß mit den Medien der Kunst auf den Schwierigkeitsgrad, der das Verständnis entscheidender Vorgänge bestimmte, aufmerksam gemacht werden konnte. Die Katastrophe, die hier über die Gesichter und Körper hergefallen war, besaß Dimensionen, die wir noch nicht zu fassen vermochten. Die durch den Luftdruck platt gedrückten Formen und Gesten waren von einem Licht in die Bildwand geprägt worden, dessen Schein kein Auge ertragen konnte. (ÄdW: 420)

Mit dem Licht, das das Kunstwerk inspiriert hat, aber selbst so destruktiv ist, dass kein Betrachter ihm direkt standhält, wird auf der Bildebene der Kreis ge65 Hier würde ich der Deutung Birkmeyers widersprechen, der den Pegasus als Verweis darauf liest, dass die Grausamkeit nicht zeigbar ist: »Daß in der Endfassung auf Pegasus verzichtet wurde, deutet auch darauf hin, daß jeder Versuch, die monströse Historie direkt darzustellen, das Kunstwerk paralysieren und das Grauen verharmlosen würde.« (Birkmeyer: Bilder des Schreckens, S. 276). Viele andere Elemente des Gemäldes und auch ihre Deutung durch den Protagonisten verweisen auf die mangelnde Darstellbarkeit der Gewalt, doch der Pegasus, wie Weissʼ Text ihn deutet, bildet gerade den Kniff, etwas Standhaftes und Nicht-Zerstörbares abbildbar zu machen in einem Setting, in dem sonst nichts der Zerstörung entkommen kann.

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schlossen zum mythischen Pegasus und seiner Entstehung: Das destruktive Licht lässt sich beziehen auf die Medusa als übermächtige Gegnerin, deren Blick auf der Stelle tötet, aus deren verwundetem Körper aber auch der mythische Pegasus entspringt. Diese Assoziation wird vom Protagonisten noch weiter ausgebaut, indem er den Künstler Picasso mit Perseus vergleicht. Dieser wie jener tritt dem zerstörerischen Blick der »Medusa« nur über den Umweg eines »Spiegels« gegenüber und überlebt dadurch nicht nur, sondern besiegelt über diesen Umweg auch ihre eigene Zerstörung (vgl. ÄdW: 420). 66 Der Spiegel, den PerseusPicasso wider die Medusa in der Hand hält, ist die Kunst in ihrer widerständigen Funktion, die zumindest einen kleinen Teil des Grauens einfangen und wahrnehmbar machen kann. Ein Bild wie Guernica, so resümiert der Protagonist gegenüber Ayschmann, ist ein »Wegzeichen im Gewirr der historischen Linien« (ÄdW: 423). Die Kunst als Möglichkeit, Begriffsgrenzen zu ignorieren, entwirrt die »historischen Linien« nicht (wie es die Begriffe und Ordnungssysteme der Agitationsrhetorik vielleicht vorgeben zu tun), vermittelt aber eine kleine, bruchstückhafte authentische Einsicht in die gewaltige Komplexität gesellschaftlicher Ereignisse. Die Brücke, die in der Guernica-Passage zwischen Kunst und Politik bzw. Kunst und Widerstand geschlagen wird, läuft über das Vermögen der Kunst, gezielt Begriffe und Ordnungssysteme, Frontstellungen und Eindeutigkeit auszuschalten und die Wahrnehmung damit für die Komplexität der Dinge zu öffnen. Diese geöffnete Wahrnehmung unterscheidet sich maßgeblich von einer gewöhnlichen Wahrnehmung: Sie ist intensiver und eröffnet authentischere und »wahrere« Einblicke in die Dinge, die aber auch fragmentarischer sind und schwerer als eine Ganzheit greifbar. In beiden betrachteten Passagen ist der Einblick ein schrecklicher, der wenig Hoffnung und wenig Raum für den Widerstand gegen eine unglaubliche Gewalt zulässt. In beiden Fällen hält der Widerstand jedoch wieder Einzug, bewahrt sich einen winzigen Raum – ausgerechnet durch Elemente, die auf den ersten Blick als leer oder abwesend gekennzeichnet sind. Diesen Elementen – der vermeintlich leeren Küche und dem vermeintlich abwesenden Pegasus – kommt einmal die Funktion zu, den offeneren Wahrnehmungsmodus anzustiften (indem über abwesende Dinge gesprochen und reflek66 Zur Rezeption mythologischer Stoffe in der Ästhetik des Widerstands arbeitet Jens Birkmeyer in seiner Dissertation. Birkmeyer zeigt, wie durch die Verweise auf Medusa und Pegasus die konkrete Gewaltszene über den Ort Gernika hinaus geöffnet und ausgedehnt wird. Auch diese »ins Mythische gesteigerte Dimension des Realgeschehens« (ebd., S. 275) sorgt dafür, dass die Grausamkeit größere raumzeitliche Dimensionen erhält als sie im Konkreten abbildbar sind.

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tiert wird, sie analysiert und differenziert werden), vor allem aber, dem Widerstand eine, wenn auch kleine und ungewisse, Zukunftsperspektive zu geben. Sie sind damit in gewisser Weise selbst widerständig, insofern sie gegen raumzeitliche Grenzen ebenso arbeiten wie gegen die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit und die Abgrenzung klarer Fronten von Gut und Böse, fortschrittlich und rückschrittlich, gewaltsam und friedlich.

F AZIT Sowohl im Text von Peter Weiss als auch von Rolf Dieter Brinkmann sehen sich die Protagonisten dem Phänomen des leeren Raums gegenüber – und die Begegnung ist in beiden Fällen eng verknüpft mit mehr oder weniger direkten Reflexionen des literarischen Schreibens und seiner Verbindung zu politischgesellschaftlicher Opposition. Brinkmanns Text setzt das Schreiben ein, um die Sackgasse einer rein politisch-gesellschaftlichen Utopie des Neuanfangs aus der Leere vorzuführen: Sein Protagonist kann keine Leere herstellen in Bezug auf eigene Erwartungen, Erfahrungen und sozialen Verstrickungen, es gibt (außer der Selbstauslöschung) keine Möglichkeit, dem leeren Raum ohne Vorgängiges in der eigenen Person gegenüberzutreten. Die letztere Erkenntnis über den leeren Raum teilt er mit Weissʼ Protagonist. Allerdings tritt sie bei diesem in einem völlig anderen Zusammenhang auf: Hier ist der materiell leere Raum nicht das, was der Protagonist sich wünscht oder herstellt, sondern das, was ihm zustößt. Die Auslöschung von allem wird durch einen äußeren Aggressor vorgenommen, der den Protagonisten wider Willen in einem leeren Raum zurücklässt. Dieser Aggressor muss allerdings – so die positiv gewendete Erkenntnis bei Weiss – scheitern, solange ein Subjekt übrigbleibt, das den leeren Raum aus Spuren und Erinnerungen wieder füllen kann. Durch die intensive Betrachtung der Leere im leeren Raum erweist sich dieser als voll von einer geisterhaften Präsenz, die erst die Küchenmöbel, dann den Vater und schließlich, zumindest als hoffnungsspendende Reminiszenz, den Widerstand von der Abwesenheit in eine Form der Anwesenheit zurückholt. Dreh- und Angelpunkt dieses produktiven Umgangs mit dem leeren Raum ist die Revision von Strukturen der Wahrnehmung und, damit verbunden, der Sprache. Dieser Aspekt ist eine weitere wichtige Gemeinsamkeit der beiden Texte auf der Ebene der gedachten Interaktion von politischer Opposition und literarischem Schreiben: Der leere Raum ist in beiden Texten notwendig, um »die Begriffe zu verlieren«, um eine Wahrnehmung zu erzeugen, die von sprachlichen Vorstrukturierungen, Ordnungen und Kategorien ebenso frei ist wie von Klischees, berechenbaren Deutungen und Frontstellun-

W EISSE,

LEERE UND STILLE

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gen. In beiden Fällen ist es ein ästhetischer und politischer Zugewinn, »die Begriffe zu verlieren« und es wird nach Verfahren gesucht, dies aktiv zu tun und (politisch wie künstlerisch) einschränkende Vorstrukturierungen loszuwerden. Beide Texte gehen dabei – Brinkmanns expliziter als Weissʼ – gegen starre, lähmende und einengende Sprachstrukturen des eigenen oppositionellen Lagers vor. Sie zeigen beide Protagonisten, die durch den leeren Raum zu Erkenntnissen kommen, die auch über das hinausgehen, was ihre eigene politische Umgebung anzubieten hat. Die Ergründung von leeren Räumen, von Leere und Stille erweist sich daher in beiden Texten auch als Projekt, sich mit dem offensichtlich Anwesenden nicht zufrieden zu geben und das abzulehnen, was sowohl von der etablierten Gesellschaft als auch von der eigenen politischen Umgebung als authentisch, richtig und bedeutsam wahrgenommen wird. Mit Hilfe einer Wahrnehmung und einer Sprache ohne Beschränkungen irgendeiner Art suchen sie dort nach etwas, was »wirklich« bedeutsam und authentisch ist, wo andere nur sehen, dass »Leere« herrscht. Der leere Raum als politisches Projekt stiftet in beiden Fällen zu einer sprachkritischen Position an, die für politisches und gesellschaftliches Weiterkommen bzw. eine wirksame Opposition zuerst eine Erweiterung des Denkens, Sprechens und Schreibens verlangt. Gleichzeitig ist die Ergründung des leeren Raumes auch ein künstlerisches Projekt, das signifikante Parallelen zu zeitgleich entstandenen Projekten anderer Kunstsparten aufweist. Sie ist, bei Brinkmann noch deutlicher als bei Weiss, auch ein Versuch, literarisch-künstlerische Altlasten und Einschränkungen abzuwerfen und damit das Medium (Literatur), das Material (Sprache) und damit den eigenen kreativen Ausgangspunkt maximal frei zu räumen, maximal offen zu gestalten. Damit gleicht sie der Ergründung von leeren Räumen, die zeitgleich im Bereich des Theaters und der bildenden Kunst vorgenommen werden.67 67 Auch innerhalb der Literatur gibt es weitere zeitgenössische Projekte, auf die sich diese Ergebnisse beziehen lassen. Beispielsweise können auch die frühen Texte des Georg-Büchner-Preisträgers 2014, Jürgen Becker, als literarische Experimente mit Leere und Stille gelesen werden. Sein Text Ränder von 1968 etwa wird genau in der Mitte von zwei leeren, weißen Seiten geteilt. Bereits eine zeitgenössische Rezension erkennt darin, wie Leere und Stille der Suche nach Darstellungsmöglichkeiten eines Authentischen im Medium Literatur dienen: »›Ränder‹ sind die Symptome, die Erscheinungsformen der jeweils subjektiven Realität. Diese Ränder tastet Becker ab, fährt ihnen mit der Sprache nach und demonstriert die Unmöglichkeit, tiefer in objektive Realität eindringen zu können. Stellvertretend für die Tragik des Lebens steht hier also die Tragik des Versagens vor seiner Wiedergabe mit sprachlichen Mitteln; Be-

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Bislang ist die Beschäftigung der Literatur um 1968 mit Leere und Auslöschung meist auf ihren Umgang mit der deutschen Vergangenheit oder die Ratlosigkeit in der »Krise der Literatur« bezogen worden. Dem lassen sich nun die beiden oben umschriebenen Bezüge hinzufügen: Sie resultiert auch, erstens, aus Versuchen alternativer Politisierung jenseits der Einschränkungen, die die eigene politisch-oppositionelle Umgebung bedeutet und, zweitens, aus einem kunstspartenübergreifenden Interesse daran, das Kunstschaffen und die Wahrnehmung von Schaffenden wie Rezipierenden von jeglichen im Medium angelegten Einschränkungen und Erwartungen radikal zu befreien.

schränkung also, Verzicht, und, in der Tat, die Melancholie dieses Verzichts liegt über dem gesamten Text, bestimmt den Ton, der immer am Verklingen ist, den Fluß der Worte, der, sich steigernd, dem Versiegen sich nähert, bis er tatsächlich im zentralen Kapitel versiegt: Es enthält nur zwei leere Seiten und suggeriert damit, daß der furchtbare Kern unserer heutigen Realität sich dem Ausdruck entzieht, deutet damit auch symbolisch den Ausdrucksmodus an, den der Autor als den konsequentesten und ihm gemäßesten betrachtet: das Schweigen.« (Hildesheimer, Wolfgang: Stimme der Ohnmacht. Wolfgang Hildesheimer über Jürgen Becker, ›Ränder‹, in: Der Spiegel vom 24.06.1968, S. 102-103, hier S. 102).

Individuelle und kollektive Schreibprozesse: Eine kulturpoetologische Schlussreflexion

Von der gesellschaftlichen Produktion ›der Literatur‹ oder eines bestimmten Textes zu sprechen meint also nicht nur, daß diese gesellschaftlich produziert, sondern auch, daß sie gesellschaftlich produktiv sind – daß sie im Prozeß ihres Geschrieben-, Aufgeführt- oder Gelesenwerdens das Produkt von Arbeit sind und Arbeit leisten.1

Louis Montroses Zitat führt auf direktem Wege zur Ausgangsfrage des ersten Kapitels zurück: Wie genau sehen die Interaktionen zwischen den drei untersuchten Texten und ihrer politisch-oppositionellen Entstehungsumgebung, besonders unter dem Aspekt des Schreibens, aus? Im Rückblick erweist sich Montroses Einschätzung als sehr zutreffend für diese Interaktionen: In allen Kapiteln wird zum einen deutlich, dass die drei Texte »gesellschaftlich produziert« sind, also Spuren ihres gesellschaftlichen Entstehungsumfelds tragen (dass z.B. bestimmte Diskurse, Formulierungen, Fragestellungen oder andere kulturelle Texte wie Popsongs oder Gemälde zu ihnen und ihrem Entstehungsprozess beitragen). Zum anderen wird deutlich, dass im Rahmen der Texte auch etwas entsteht, das »gesellschaftlich produktiv« ist, also der Entstehungsumgebung etwas zu geben vermag. Eine solche Gabe zeigt sich beispielsweise in Gestalt eines literarisch durchgeführten Experiments (wie die schreibende Umsetzung und Verwerfung der radikalen gesellschaftlichen Auslöschung bei Brinkmann), einer Kommunikationsmöglichkeit (wie die intellektuelle Arbeiterfigur bei Weiss) oder zumindest einer Dokumentation oder einer Plattform für ein bestimmtes zeitgenössisches Problem (wie die Ambivalenz des literarischen Schreibens für die Selbstermächtigung bei Vesper). Wenn Montrose den Begriff der »Leistung« und der

1

Montrose: Die Renaissance behaupten, S. 72.

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gesellschaftlichen Produktivität in Bezug auf literarisches Schreiben einbringt, so ist genau an solche Elemente zu denken. Der in der Einleitung aufgeworfene Zusammenhang von »Schreiben, Gehen und Machen«, von Schreibprozessen und Dynamiken der politischen Opposition, ist, das zeigen die Schlaglichter aus unterschiedlichen Bereichen des kulturellen Textes, durchweg ein wechselseitiger. Er wirkt in diesem Sinne auf den Entstehungsprozess der untersuchten Texte wie auf ihr »fertiges« Erscheinungsbild zurück. Gleichzeitig steht er in engem Bezug zur Konstituierung sowohl der schreibenden Figuren als auch der drei historischen Schriftsteller als schreibende und politisch handelnde Subjekte – in all den Konflikten und Widersprüchen, die dies zeitgenössisch bedeutet. In diesem Sinne sollen die einzelnen Ergebnisse der Schlaglichter im Folgenden rekapituliert und kapitelübergreifend reflektiert werden.

D IE DREI UNTERSUCHTEN T EXTE : Z ENTRALE G EMEINSAMKEITEN UND U NTERSCHIEDE IHRER (K ULTUR -)P OETIKEN Bevor auf die drei Texte mit ihrer jeweiligen (Kultur-)Poetik eingegangen wird, sollen die Begriffe von Poetik und Kulturpoetik kurz rekapituliert und aufgrund ihrer besonderen Konstellation im Rahmen der Fragestellung ins Verhältnis gesetzt werden: Nach Stephen Greenblatt besitzt jeder literarische Text eine Kulturpoetik – die Dimension seiner Poetik also, aus der sich retrospektiv interaktive Zusammenhänge zwischen ihm und seiner Entstehungsumgebung herausarbeiten lassen. Auf diese Dimension fällt der Blick einer kulturpoetologischen Analyse, auch in dieser Arbeit. Nun wurden in dieser Arbeit Texte untersucht, in denen literarisches Schreiben und das Herstellen von Texten auch inhaltlich eine Rolle spielen. Sie hat also die Kulturpoetik der Texte im Besonderen unter Aspekten in den Blick genommen, die in den Bereich der Poetik von Texten im engeren Sinne fallen: Gefragt wurde z.B. nach der Darstellung des Schreibens und schreibender Subjekte, der historischen und fiktiven Schreibumgebungen und Schreibmotivationen, der Manifestation historischer wie fiktiver Schreibprozesse in den Texten – Elemente, die man auch jenseits der kulturpoetologischen Herangehensweise als zur impliziten oder expliziten »Poetik« eines Textes, im Sinne des Gemacht-Werdens von Literatur, gehörend bezeichnen würde. Die Kulturpoetik eines Textes ist stets nur retrospektiv durch Interpretation rekonstruierbar. Zu der Poetik eines Textes gehören jedoch auch zeitgenössische Positionen und Entscheidungen, die – wegen der inhaltlichen Frage nach dem Schreiben –

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gleichfalls in meinen Analysen sichtbar werden. Das bedeutet, dass die Ergebnisse zu allen drei Texten sich gleichzeitig auf deren Kulturpoetik und deren damals angelegte Poetik (im heutigen Fokus) beziehen. Infolgedessen haben wir es auch in allen drei Texten und den gewonnenen Erkenntnissen über sie mit zwei (nicht immer vollständig trennscharfen) Arten von Interaktionsbeziehungen zwischen Text und Entstehungsumfeld zu tun: einmal den Interaktionsbeziehungen, die rein retrospektiv mit der Greenblattschen Kulturpoetik sichtbar gemacht werden und einmal den Interaktionsbeziehungen, die die Texte selbst in ihren Poetiken planen, anlegen und anstreben. Immerhin besitzen alle drei Texte sehr deutliche zeitgenössische Positionen dazu, wie Text und Umfeld bzw. Schreibprozess und Umfeld zusammenzuhängen haben (die wiederum kulturpoetologisch mit anderen, auch außerliterarischen Positionen verbunden sein können). Vor dem Hintergrund dieser speziellen Konstellation aus Methode und inhaltlicher Fragestellung ist der Poetikbegriff im Folgenden doppelt besetzt: Wenn von Ergebnissen zur »Poetik« eines der Texte die Rede ist, so sind damit sowohl Ergebnisse zum (impliziten oder expliziten) Programm seines Gemacht-Werdens, zu seinem Schreibbegriff und zu seiner damaligen Positionierung zum Entstehungsumfeld gemeint als auch Ergebnisse zu seiner Kulturpoetik. Beide Arten von Ergebnissen sagen etwas aus über die Entstehung des Textes wie auch über sein Verhältnis zur politischen Opposition. Am deutlichsten wird diese Doppelbesetzung in der Reise: Betrachtet man Vespers Text kulturpoetologisch, fällt zuallererst auf, dass er selbst seine Interaktionen mit dem Entstehungsumfeld außergewöhnlich weitreichend im Rahmen seiner Poetik mitdenkt und aufgreift: Es gehört zu seinen zentralen Merkmalen, dass er sehr genau reflektiert, wie die Umgebung sein Geschrieben-Werden beeinflusst und was er selbst in sie zurückzuspielen (in Montroses Worten, zu »leisten«) vermag. Vor allem der immer wieder (neu) formulierte Anspruch des Textes, politisch-gesellschaftlich etwas zu bewirken, setzt ihn sehr explizit in Kontakt mit seiner Entstehungsumgebung und versucht mit einer Vielzahl von Schreibverfahren, den außerliterarischen Output des Textes zu steuern. Weiterhin wird die Grenze zwischen dem Text und seiner historischen Entstehungsumgebung prominent in Szene gesetzt und auch verwischt. Zu keiner Zeit ist vollständig klar, ob der vorliegende Text die Dokumentation eines historischen Schreibprozesses der Person Bernward Vesper darstellt oder ob er erzählt von einem fiktiven Text, den die Figur Bernward in der erzählten Welt schreibt und dessen Schreibprozess Teil der erzählten Handlung ist. Die Unschärfe zwischen historischem Schriftsteller und Schriftstellerfigur und damit auch zwischen dokumentiertem und fiktivem Schreibprozess ergibt eine besondere Art von impliziter Poetik, in der die poetologischen Positionen des Schriftstellers Vesper un-

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trennbar durchmischt mit denen seiner schreibenden Figur erscheinen. Der Text macht unkenntlich, wer von beiden gerade einen Schreibprozess gestaltet, das Schreiben kommentiert und reflektiert oder für ein Stück Text verantwortlich ist. Der Text verfügt somit einerseits über die Interaktionsebene mit anderen kulturellen Texten seiner Entstehungsumgebung, über die jeder literarische Text verfügt (im Falle der Reise z.B. das Ideal einer bestimmten Mobilität, das sie mit zeitgleich entstandenen Popsongs, Flugblättern und Reisekulturen verbindet). Andererseits entwickelt er eine sehr präsente, von ihm selbst bewusst gestaltete und inszenierte Interaktionsebene mit seiner Entstehungsumgebung. Nicht immer sind diese Ebenen vollständig trennbar, insofern es nicht im Sinne der Methode scheint, im Einzelfall über Intentionalität oder nachträgliche Rekonstruktion einer Interaktion zu spekulieren. Neben diesen »geplanten Interaktionen« lassen sich aus den Ergebnissen der verschiedenen Kapitel vor allem zwei Grundzüge festhalten, die die Poetik des Textes prägen: Erstens sind sowohl die Gestaltung des Schreibprozesses als auch die Funktion, die dem Schreiben und dem entstehenden Text beigemessen wird, stark abhängig von der Selbstkonstitution von Schriftsteller und Figur als Subjekt. Wie und warum geschrieben wird, erweist sich nicht nur als in ständiger Veränderung begriffen, sondern als in seiner Veränderlichkeit eng verknüpft damit, wie sich Schriftsteller und Figur in verschiedenen Situationen und Konstellationen als politisch-gesellschaftliches und auch als schreibendes Subjekt entwerfen. Kapitel 4 thematisiert das Schreiben als Möglichkeit, vom passiven »Objekt« zum aktiven Subjekt zu werden, aber auch die gleichzeitige fundamentale Unsicherheit darüber, ob ein schreibend aktives Subjekt überhaupt je ein politisch aktives Subjekt sein kann. Eng damit verbunden werden Schriftsteller und Figur als männliche schreibende Subjekte abwechselnd konstruiert und destruiert. Auch die Ergebnisse von Kapitel 5 zeigen den Protagonisten im ständigen Zwiespalt zwischen Rollen, die ihn für bestimmte oppositionelle Akte zum legitimen oder auch illegitimen Subjekt machen – ein Zwiespalt, der stark auf die Gestaltung des Schreibprozesses zurückschlägt. Zusammengenommen offenbaren die Kapitelergebnisse, dass der Text stark von dem Impetus geprägt ist, sich einen bestimmten Subjektstatus schreibend zu schaffen und ihn postwendend schreibend wieder in Zweifel zu ziehen oder ganz zu entziehen. Jede Position, die Vesper für sich bzw. seinen Protagonisten findet, ist zwar schreibend herstellbar, aber genauso angreifbar und instabil, wovon der Text in Aufbau und Inhalt gleichermaßen geprägt ist. Eng damit verbunden ist der zweite Grundzug der Poetik der Reise: Der Text zeichnet kein einheitliches, widerspruchsfreies Bild des Schreibens. Seine Gestaltung und auch die in ihm enthaltenen Reflexionen über das Schreiben laufen

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nicht auf ein eindeutiges Programm hinaus, sondern auf ein immer wieder situativ revidiertes Konzept, Vorgehen und Ziel. Er ist durchgängig offen für literarisch-ästhetische Experimente und ein enthierarchisiertes Nebeneinander von formalen Merkmalen, wie in Kapitel 6 zu sehen gewesen ist. Weiterhin sind ihm aber auch in großer Dichte verschiedene außerliterarische Anforderungen eingeschrieben, die entweder von außen direkt an das Schreiben gestellt werden (wie die, dass Schreiben sichtbare Veränderungen in der Umwelt erzeugen muss) oder von Schriftsteller und Figur aus der politisch-gesellschaftlichen Sphäre in die des Schreibens übertragen werden (wie der Anspruch der Mobilität und Bindungslosigkeit). Alle genannten Elemente der Poetik ähneln sich darin, dass sie den Entstehungsprozess des Textes wie des politischen Subjekts abwechselnd befördern und torpedieren. Immer wieder treten sowohl Aspekte in Erscheinung, die neue Perspektiven für das Schreiben wie für das politische Handeln eröffnen (die übertragenen Täter- und Opferschaften, die Entdeckung, dass Vaterschaft inspirierend sein kann, das zieloffene Reisen), als auch Aspekte, die das bisherige Schreiben, politische Handeln und deren produktive Verbindung in Frage stellen oder verkomplizieren (die widersprüchliche Doppelanforderung, schreibend und politisch »potent« zu sein, die Einsicht, eben doch kein »echter« Proletarier zu sein oder die Unmöglichkeit, dem »Zwang der Linie« zu entgehen). Unter diesen Voraussetzungen entsteht ein Text, dem die Suche eher als die Lösung, das Provisorische eher als das Endgültige, die Verunsicherung eher als die Überzeugung eingeschrieben ist. Am Ende von Vespers Text steht weder ein stabiles politisches Subjekt noch ein eindeutiger Entwurf des Schreibens oder Schreibers. Vielmehr prägt ihn der unermüdliche Arbeitsprozess an allen dreien, das Experiment, die neuerliche Analyse und Überarbeitung. Die Reise bedeutet, wie Gerrit-Jan Berendse es ausgedrückt hat, eine Reise durch die ungelösten Probleme und »Widersprüchlichkeiten des Komplexes Achtundsechzig«2. In ihrer Verweigerung von festen Lösungen und Antworten ähneln sich die Poetiken, die sich aus Vespers Reise und Rolf Dieter Brinkmanns Keiner weiß mehr herausarbeiten lassen. Auch Keiner weiß mehr kennt, analog zum Romantitel, nicht den einen, richtigen Weg zum Schreiben und entwickelt eine instabile, sich immer wieder selbst verwerfende und problematisierende Poetik. Grundsätzlich anders ist jedoch, wie diese Instabilität schreibend erzeugt wird und im Roman zur Darstellung kommt: Die erzählte Welt zeigt, anders als bei der Reise, niemals einen auch nur partiell oder temporär erfolgreichen Schreibakt, sondern ausschließlich das verhinderte Schreiben, die ungenutzten Potentiale und die un2

Berendse: Schreiben als Körperverletzung, S. 318.

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überwindbaren Hindernisse des Protagonisten. Keiner weiß mehr analysiert mit Hilfe der erfolglosen Schriftstellerfigur, was sich der politischen und vor allem der schreibenden Subjektwerdung in den Weg stellt. Der Text spielt die »Alpträume« des zeitgenössischen politischen wie schreibenden Subjekts durch: Er zeigt einen literarisch und gesellschaftlich impotenten Mann, eine zur Kreisbewegung oder zum Herumirren gewordene »Beweglichkeit« und ein Subjekt, das sich nicht oder nur im Ansatz von vorgängigen Strukturen des sprachlichen Ausdrucks wie des gesellschaftlichen Lebens frei machen kann. Mit der Erzählung dieser Alpträume und der akribischen Analyse der unproduktiven Situation des Protagonisten liegt am Ende jedoch ein Text vor, sodass der erfolglose Schreibprozess und die erfolglose Suche nach einer Poetik innerhalb der erzählten Welt nach außen einen Text und auch eine Poetik zu stiften vermögen. Brinkmanns Text hat die Besonderheit, dass er von einem recht ausgestalteten poetologischen Programm begleitet wird. Seine Poetik erklärt sich nicht nur implizit aus ihm selbst und seiner schreibenden Figur, sondern auch aus zeitgleichen Äußerungen Brinkmanns zum Schreiben und zur politischen Opposition. Wie in allen drei Kapiteln deutlich geworden ist, steht das von Keiner weiß mehr entworfene Schreiben sowie dessen Interaktion mit politisch-oppositionellen Handlungen in engem Zusammenhang mit Brinkmanns poetologischen Positionen der späten 1960er Jahre. Deutlich geworden ist jedoch auch, wie indirekt dieser Zusammenhang hergestellt wird: Der Text Keiner weiß mehr flankiert Brinkmanns Programm nicht, indem er dessen positive Umsetzung durch eine schreibende Figur zeigt, sondern indem er die Figur danach suchen lässt, damit ringen lässt und auf Grenzen und Hindernisse stoßen lässt. Die Ergebnisse der Kapitel 4, 6 und 7 zeigen beispielsweise, dass Brinkmanns Poetik stark davon geprägt ist, Stagnation und Berechenbarkeit im Schreiben abzulehnen: »Schlaffheit« verhindert das Schreiben (Kapitel 4), ebenso der Mangel an »Beweglichkeit«, das Verharren in der »eigenen Beschissenheit« (Kapitel 6) und die Überlagerung mit »Gerede« und »kulturellen Wörtern« (Kapitel 7). Der Protagonist in Keiner weiß mehr lehnt diese Elemente ebenfalls ab, jedoch erzählt der Text eher vom Leiden an ihnen und ihrer Allgegenwart, nicht von der erfolgreichen Umsetzung eines Gegenprogramms. Stärker als Vesper hat Brinkmann mit seinem Roman und auch seinen programmatischen Texten eine literarisch-sprachliche Opposition im Blick. Er setzt mit seinen Akten von Protest, Widerstand und Bewegung häufig auf der textformalen Ebene an – und die Elemente der Entstehungsumgebung, die seine direkte Kritik trifft, entstammen zu einem großen Teil der engeren Sphäre des Literaturbetriebs. Im Rahmen von Brinkmanns Poetik besteht, anders als bei Vesper, zu keinem Zeitpunkt Zweifel daran, dass Schreiben und Sprechen wichtige

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Auswirkungen auf politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge haben. Wie in Kapitel 7 deutlich geworden ist, wertet sie die radikale Kritik am Sprechen und Schreiben sogar als einzige wirksame Möglichkeit, zu einer politischen Handlung zu kommen, die nicht eingeschränkt und vordefiniert ist. Dies hängt damit zusammen, dass Brinkmanns Poetik von einer engen Verbindung zwischen der Veränderung der Sprache und der Veränderung der Wahrnehmung ausgeht: Wer sich bestimmten etablierten Sprachstrukturen verweigert, befreit auch seine Wahrnehmung der Welt von vordefinierten Strukturen, öffnet sie für alternative Eindrücke und kann damit von der Norm abweichende Handlungen überhaupt denken und anstreben. Diese Idee, Opposition bei der Veränderung von Sprache und Wahrnehmung anzusetzen, spielt auch im Text von Peter Weiss eine Rolle: Auch in der Ästhetik des Widerstands ist es zentraler Teil der Handlung, dass der schreibende Protagonist seine Wahrnehmung zu differenzieren und die eigene Sprache kritisch zu reflektieren versucht. Diese Versuche, seine Umgebung möglichst komplex, genau und tiefgründig wahrzunehmen, darzustellen und zu verstehen, sind eng verbunden mit dem chronistischen Schreibauftrag, dem sich der Protagonist verpflichtet hat: Wie in Kapitel 5 näher analysiert, versteht sich dieser schreibende Protagonist in erster Linie als Zuhörer, Aufzeichner und Dokumentator. Er wird zum Schreiben zuallererst motiviert durch den Wunsch, den unlösbaren Konflikt seiner Mutter auszudrücken. Dies führt ihn zu einem Schreibprojekt, das die Debatten, Konflikte und Gedanken der Menschen seiner Umgebung möglichst vielschichtig wiederzugeben sucht. Stellvertretend für sie erarbeitet er sich Ausdrucksformen – als Arbeiter, als Oppositioneller, als jemand im Angesicht von unvorstellbarer Gewalt sowie als Kunstrezipient und -produzent. Hierbei kommt auch die Arbeit an der eigenen Wahrnehmung ins Spiel, denn zu diesem selbstgestellten Schreibauftrag gehört nicht nur unermüdliches »Tasten«, akribisches »Suchen« und Analysieren in seiner Umgebung, sondern auch Unvoreingenommenheit einzuüben, die eigene Wahrnehmung und die eigenen Begriffe zu revidieren sowie zu erlernen, die Kunst dafür zu nutzen (Kapitel 7). Der hier skizzierte, in der erzählten Welt gezeigte Schreibauftrag des Protagonisten ähnelt stark dem, der auch der Ästhetik des Widerstands selbst zugrunde zu liegen scheint. Der Schluss des Romans deutet sogar an, dass es sich bei diesem um den fertig geschriebenen Text des Protagonisten handelt. Wenn der Protagonist davon spricht, mittels seines Schreibauftrags die toten und noch lebenden Mitkämpferinnen und -kämpfer in einem literarischen Text zu verewigen, so scheint mit der abgeschlossenen Ästhetik des Widerstands genau dieses Anliegen erfüllt:

276 | P ROTEXTE Mit meinem Schreiben würde ich sie zum Sprechen bringen. Ich würde schreiben, was sie mir nie gesagt hatten. Ich würde sie fragen, wonach ich sie nie gefragt hatte. Ich würde ihnen, den Geheimgängern, ihre wahren Namen zurückgeben. Ich würde mich ihnen nähern, mit meinen spätren Erfahrungen, meinem Wissen um ihr spätres Tun, und wenn ich mich dann immer noch täuschte, so stünde dies in Übereinstimmung mit ihrem Wesen, zu dem das Täuschen gehörte. Ich würde ihre geflüsterten, gemurmelten Monologe, ihre bösen Träume erraten, sie selber würden sich darin vielleicht nicht wiedererkennen, mich aber würde ich erkennen, wie ich einst darauf lauerte, ihnen Zeichen ihres Lebens aus den verwischten Gesichtern ablesen zu können. (ÄdW: 1193)

In der Ästhetik des Widerstands wird, so gelesen, der erzählte Schreibprozess entgegen aller Hindernisse erfolgreich zum anvisierten Ziel geführt. Ihr Protagonist ist somit die einzige der drei Figuren, deren Schreibprojekt wie geplant zu Ende geführt wird. Wie bereits in Kapitel 5 gezeigt, lösen Schreibprozess und entstehender Text aber nicht nur innerhalb der erzählten Welt ein Kommunikationsdesiderat ein, sondern lassen sich auch als Antworten auf zeitgenössische Fragen und Probleme der Entstehungsumgebung des Romans lesen. In der zitierten Passage ist vom Wunsch die Rede, nie stattgefundene Dialoge schreibend nachzuholen. Was nicht mehr sag- und fragbar ist, lässt sich »erraten«, »annähern« und »aus den verwischten Gesichtern ablesen«. Dies lässt sich einmal auf den Schreibakt des Protagonisten beziehen, einmal aber auch auf den Schreibakt des Schriftstellers Peter Weiss fast 30 Jahre nach der Zeit, in der die Handlung stattfindet. Auch Weiss erarbeitet sich, wie er in seinen Notizbüchern ausführlich dokumentiert, den antifaschistischen Widerstand über Gespräche mit Überlebenden, über umfassende Recherchen zu bereits vergessenen Verstorbenen, über das Betrachten von Fotographien und, nicht zuletzt, über seine »spätren Erfahrungen«. Wie im Falle Vespers gibt es auch hier eine Unschärfe zwischen dem Buch, das wir während der Handlung in der erzählten Welt entstehen sehen und dem Buch, das wir als Lesende vor uns haben. Sowohl der namenlose Protagonist als auch der Autor Peter Weiss generieren sich als politisches wie schreibendes Subjekt darüber, dass sie sich mit anderen beschäftigen, ihnen zuhören, sie beobachten und ihnen schreibend stellvertretend eine Stimme verschaffen. Ersterer räumt in der oben zitierten Passage sogar explizit ein, dass sein Schreibprojekt auch darauf zielt, »sich zu erkennen«. Dies sind, in einer groben Rekapitulation, die zentralen kapitelübergreifenden Ergebnisse zu den jeweiligen (Kultur-)Poetiken der drei Texte und ihren jeweiligen Entwürfen des Interaktionsverhältnisses von Schreiben und politischer Opposition. Im kapitelübergreifenden Vergleich zeigen sich jedoch auch andere

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thematische Parallelen, die sich, zumindest mittelbar, auch auf die drei Texte und ihr Interaktionsverhältnis zu ihrer Entstehungsumgebung rückbeziehen lassen. Einige davon möchte ich im Folgenden beispielhaft umreißen: Bestmögliche versus unvollkommene Subjekte Wie in Kapitel 5 deutlich geworden ist, ist der Protagonist der Ästhetik des Widerstands in mehrerer Hinsicht eine utopische Figur: Er schlägt erfolgreich die Brücke zwischen den widerständischen Lagern von Arbeitern und Intellektuellen, er ist mobil und aktiv, er begibt sich freiwillig erst in den Spanischen Bürgerkrieg und dann in den antifaschistischen Untergrund »vor Ort«, wo er maximal nah beobachten kann, ohne selbst jemals Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns zu bekommen. Damit wird er als im Rahmen aller Schwierigkeiten bestmögliches Subjekt gezeigt. Die Ergebnisse von Kapitel 4 und 7 weisen die Protagonisten der anderen beiden Texte als das genaue Gegenteil aus: Vespers Protagonist kritisiert u.a. an sich, dass er »nur« schreibt, dass er in einem kapitalistischen System lebt, dass er bürgerlicher Herkunft ist und dass sein Vater Nationalsozialist war. Brinkmanns Protagonist erlebt dagegen, verbildlicht durch den weißen, leeren Raum, dass seine Schwierigkeiten und Einschränkungen nicht extern auslöschbar sind, weil sie unüberwindbar aus ihm selbst herauskommen und jeden Neuanfang überlagern. Beide machen mithin eher Bekanntschaft mit den Belastungen und der Unvollkommenheit ihrer selbst. Während Weissʼ Figur in ihrem Schreiben und ihrer politischen Aktivität vor allem durch äußere Ereignisse und Faktoren gehindert wird, stoßen Brinkmanns und Vespers Protagonisten hauptsächlich auf Widerstände und Hindernisse aus sich selbst heraus. Hierbei spielt eine Rolle, dass die beiden letzteren Protagonisten auch die zentralen erlebenden Figuren in den Texten sind und ihre Beobachtungen und Reflexionen auf die eigene Person richten. Die Ermächtigung der eigenen Sprache Es ist ein wesentliches Ziel sowohl aller drei Protagonisten als auch aller drei Poetiken, Strategien zu finden, sich der eigenen Sprache und Ausdrucksmöglichkeiten zu ermächtigen. Die eigene Sprache erscheint dabei in allen drei Fällen als von Fremdbestimmung bedroht und als hart zu erkämpfendes Gut. Die Texte von Weiss und Brinkmann kennen die Fremdbestimmung der Sprache durch die »Begriffe« bzw. den »Organismus Wort«. Wie in Kapitel 7 zu sehen, sind größere Akte der Reflexion und auch Verweigerung notwendig, um sich von den vorbestimmenden Sprachstrukturen zu befreien. Doch auch soziale Zu-

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sammenhänge und Autoritäten erscheinen mitunter als bedrohlich und fremdbestimmend für die eigene Sprache: Der väterliche phallogozentristische Zwang zum Schweigen bzw. zu genau regulierten Wortbeiträgen, der bei Vesper eine Rolle spielt, korrespondiert etwa den Erfahrungen von Weissʼ Protagonisten, aufgrund seiner sozialen Herkunft und seines niedrigen Ranges in der Fabrik zum Schweigen verurteilt zu werden. In allen drei Texten zeigen sich Versuche und Strategien, sich im Schreiben der eigenen Sprache zu ermächtigen, aber auch Erfahrungen, wie diese Macht wieder entzogen wird. Die Kritik am eigenen Lager Alle drei Texte kritisieren neben der etablierten Gesellschaft auch bestimmte Verhaltens-, Sprech- und Schreibweisen aus der eigenen, oppositionellen Umgebung. Wir sehen drei schreibende Figuren, die nicht nur mit der bestehenden Gesellschaft unglücklich sind, sondern auch mit bestimmten Entwicklungen im oppositionellen Lager. Alle drei erleben Momente, in denen sie – um Klaus Hartungs Formulierung aufzugreifen – versuchen, nicht vom Subjekt zum »Objekt der Bewegung«3 zu werden und eine kritische Distanz zu Elementen ihrer oppositionellen Umgebung zu wahren. Häufig sind diese Kritik und diese Distanzierungsversuche eng an das eigene Schreiben gebunden: Wie Weissʼ und Brinkmanns Protagonisten die Erkenntnis gewinnen, dass sich ihre Sprachkritik auch auf die »Begriffe« und das »Gerede« der eigenen politischen Umgebung richten muss (Kapitel 7), so gerät Vespers selbstkritischer Protagonist z.B. darüber in Zweifel, ob diejenigen, die sein Schreiben kritisieren und undifferenziert für radikales Gewalthandeln eintreten, ihm tatsächlich so viel voraus haben: Es hat keinen Sinn, mir zu sagen, es wäre gescheiter [als zu schreiben, JC], die ERFAHRUNG, diesen HASS, diese ENERGIE unverzüglich einzusetzen, um die Mine an die ganze Scheiße zu legen und die Kiste in die Luft zu jagen. Derartige Ratschläge selbsternannter Anführer gehen mir auf den Wecker. (DR: 15)

Das eigene Schreiben verleiht Handlungsmacht gegenüber der etablierten Gesellschaft, doch es dient auch als Korrektiv gegenüber dem eigenen Umfeld. Häufig wirft dieses Korrektiv die Frage auf, welche Art von politischer Handlungsmacht man eigentlich erreichen möchte: Schreiben schützt auch davor, ein »selbsternannter Anführer« (ebd.) zu werden, die »vorausberechenbaren Verhal-

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Hartung: Krise der antiautoritären Bewegung, S. 40.

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tensweisen« des »Agitationszirkus«4 zu übernehmen oder die starren Dichotomien zur Entscheidungsgrundlage zu machen, die das »auf unsern Bedarf zurechtgeschnittne populistische Gut« (ÄdW: 419) vorgibt. Das Ideal der Offenheit Die Ergebnisse aus Kapitel 6 zeigen, wie die Texte Vespers und Brinkmanns »Bewegung« sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formalen Ebene sowie im historischen Schreibprozess thematisieren und umsetzen. »Bewegung« lässt sich dabei auf allen Ebenen an den Faktoren der Offenheit des Ziels, der schnellen, spontanen Wechsel (Mobilität) sowie der Bindungslosigkeit festmachen. Offenheit und Bindungslosigkeit spielen auch in den sprachkritischen Positionen eine Rolle, die die beiden leeren Räume bei Brinkmann und Weiss stiften: Angestrebt wird ein Komplex aus Schreiben, Sprechen und Denken, der sich (in Raummetaphern ausgedrückt) jenseits vorstrukturierter Wege und berechenbarer Ziele (z.B. einseitiger Deutungen) der Sprache bewegt. Das schreibende Subjekt akzeptiert keine Grenzen und Einschränkungen seines sprachlichen Ausdrucks und sucht sich von allen Bindungen an Ideologie und politische wie ästhetische Konvention freizusprechen. Es bemüht sich um eine alternative Wahrnehmung des bereits Bekannten, die ihrerseits »offen« und »beweglich« ist, indem sie ihren Fokus auf das Flüchtige, Diffuse und »Blitzlichtartige« legt. »Bewegliches« Schreiben und die Kritik an sprachlichen Ordnungen erweisen sich als zwei Möglichkeiten, gegen Grenzen und Beschränkungen vorzugehen. Diese Grenzen und Beschränkungen können jeweils einmal literarisch sein: in Gestalt etwa von hierarchisierten Ausdrucksmitteln, Linearität, Gattungs- und Mediumsgrenzen (Kapitel 6) bzw. von Konventionen des Mediums (politisierter) Literatur oder verselbständigten Begriffen und Phrasen (Kapitel 7). Sie können aber auch das politisch-gesellschaftliche Handeln betreffen: in Form etwa von Stagnation, Unkenntnis gesellschaftlich relevanter Orte, Verharren in einengenden Bindungen (Kapitel 6) bzw. von Handlungen nach starren Freund-Feind-Schemata oder unreflektiertem Reproduzieren von Ideologie (Kapitel 7).

4

Brinkmann: Spiritual Addiction, S. 205.

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Z UR F UNKTION UND R EPRÄSENTATIVITÄT DER E RGEBNISSE Anschließend an die Rekapitulation und Zusammenführung der Kapitelergebnisse soll ein kurzer Blick darauf geworfen werden, was diese Ergebnisse leisten und wie sie einzuordnen sind. Ein zentrales Anliegen der Arbeit besteht darin, bestimmte Friktionen und bestimmte diskursive Konstellationen in den literarischen Texten und ihren (Kultur-)Poetiken sichtbar zu machen und zu analysieren. Die Analyse dieser Friktionen und Konstellationen ermöglicht es, beispielsweise konkurrierende und unvereinbare Positionen, ungeklärte Fragen, Experimente sowie auch Interessen, Ängste und Faszinationen, die den Schreibprozess geprägt haben, in den Texten zu erkennen. Sie erlaubt damit Aussagen und Schlüsse auf zwei Ebenen: Erstens zeigt sie, auf der Ebene des literarischen Schreibens, wie unterschiedlich Poetiken und Schreibprozesse auf die Friktionen und Konstellationen reagieren und diese produktiv machen – macht also Deutungsangebote, wie bestimmte Elemente und poetische Entscheidungen im literarischen Text zustande kommen. Zweitens zeigt sie etwas über die gesamte historische Kultur, der die Texte entstammen. Sie lässt darauf blicken, dass dort diese Positionen ausgefochten, diese Fragen gestellt, diese Experimente als nötig erachtet, diese Phänomene als interessant, bedrohlich oder faszinierend empfunden wurden und macht im glücklichsten Fall auch Deutungsangebote, wie und warum. Die Lektüre der Texte, die diese Arbeit vornimmt, betrachtet literarische Texte als in ihrer Detailliertheit und Komplexität einzigartige Dokumente damaligen Lebens, Denkens und Schreibens. Ihre Ergebnisse gewinnt die Arbeit aus der intensiven Betrachtung dreier Schriftstellerfiguren und dreier in der historischen Kultur arbeitenden und lebenden Schriftsteller. Sie strebt dabei, im Sinne der gewählten Methode, keine absoluten Aussagen über die historische Kultur »1968« oder »die 68er« als ihre Akteure an, sondern ein möglichst detailliertes Studium von Einzelfällen, wie Stephen Greenblatt es u.a. in Resonanz und Staunen umschreibt: Im Gegensatz dazu [zum Old Historicism, JC] vermeidet der New Historicism den Gebrauch des Ausdrucks der Mensch; er interessiert sich nicht für das abstrakte Universale, sondern für konkrete, kontingente Fälle, für die einzelnen Ichs, die sich gemäß den generativen Regeln und Konflikten einer bestimmten Kultur herausbilden und ihnen entsprechend handeln.5 5

Greenblatt: Resonanz und Staunen, S. 10f.

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Das Repräsentative an meinen an Einzelfällen und »einzelnen Ichs« gewonnenen Ergebnissen besteht darin, dass sie auf »Regeln und Konflikte« ihrer historischen Kultur verweisen: Wie etwa die Ergebnisse aus Kapitel 4 zeigen, ist eine Erzählung wie die von Tommy lesbar als idealer Weg der Emanzipierung und Mannwerdung, an dem sich die (schreibende) Lebenswirklichkeit von Bernward Vesper gleichzeitig massiv reiben muss. Diese Ergebnisse bedeuten nicht, dass die Arbeit aus Vespers Problem eine Aussage über »den Schriftsteller um 1968« ableitet oder einen Kausalzusammenhang zwischen den beiden Texten behauptet. Ihr Erkenntniswert liegt vielmehr darin, dass die beiden kulturellen Texte dazu gebracht werden, sich unter bestimmten Aspekten »gegenseitig zu interpretieren«6, wie Catherine Belsey es ausgedrückt hat. Erst durch den gemeinsamen Blick auf beide Texte geben diese sowohl die Spuren der »Regeln« als auch die der resultierenden »Konflikte« frei, die in ihnen gespeichert sind, und machen sie fass- und benennbar. Ein solches Verfahren ergibt von seinem Blickwinkel auf den kulturellen Text hauptsächlich einen Synchronschnitt: Anhand der Ausschnitte und Einzelbeispiele wird ein kleiner Teil der synchronen textuellen Komplexität der historischen Kultur sichtbar, werden kulturelle Texte mittels anderer, näherungsweise zeitgleich entstandener kultureller Texte erklärt. Die sich ebenfalls ergebenden diachronen Anbindungen und Verweise können dagegen nur vereinzelt berücksichtigt oder angedeutet werden. Das betrifft zum Beispiel Gemeinsamkeiten mit älteren Epochen und kulturtheoretischen Positionen – denn natürlich haben »Regeln und Konflikte«, vor allem wenn sie existenzielle Themen berühren, auch ihre Vorläufer und Parallelen in anderen historischen Zusammenhängen. Hier eröffnen sich Möglichkeiten zu weiterführender Forschung, wie ja auch diese Arbeit an Beobachtungen früherer Studien zur Literatur um 1968 anknüpft, diese in intensiver Textarbeit differenziert, verknüpft und mit Leben füllt. Diachrone Bezüge müssten in ebenso intensiver und gleichrangiger Textarbeit untersucht werden, um nicht in die unreflektierte Übernahme von Metaerzählungen und damit einen »Old Historicism« umzuschlagen. Zum Schluss soll ein Rückblick auf ein Greenblatt-Zitat aus der methodischen Einleitung geworfen werden. Er ist zum einen wichtig, weil er das Verfahren der kulturpoetologischen Analyse noch einmal ins Verhältnis setzt zu dem Fokus auf historische Einzelfälle und Schlaglichter. Zum anderen schließt er einen Kreis zwischen Gegenstand und Methode der Arbeit:

6

Belsey: Von den Widersprüchen der Sprache, S. 54f.

282 | P ROTEXTE [W]e wanted to find in the past real bodies and living voices, and if we knew that we could not find these – the bodies having long moldered away and the voices fallen silent – we could at least seize upon those traces that seemed to be close to actual experience.7

Kulturpoetologische Analysen bedeuten demnach den Versuch, in kleinsten Details eines literarischen Texts für einen Moment »close to actual experience« zu gelangen. Literarische Texte mit ihrer Kulturpoetik sind, nach dieser Einschätzung, das Nächstmögliche zur zeitgenössischen Erfahrung des damals schreibenden und lebenden Individuums, welche sich im Text in Form von »Spuren« und Friktionen manifestiert. Aus diesem Grund treffen sich in der kulturpoetologischen Analyse das Interesse an Einzelfällen und das Interesse an Spuren von »Regeln und Konflikten«, die das historische Individuum kulturell geprägt haben. Beides wird erst umfassend interpretierbar in Texten, die gleichzeitig als Dokument einer Einzelfallerfahrung und als Dokument einer zeittypischen Erfahrung gelesen werden. Bemerkenswert erscheint mir aus der Retrospektive, dass auch Stephen Greenblatt (*1943) der Generation der »68er« entstammt. So ist es vielleicht mehr als ein merkwürdiger Zufall, dass sich genau diese oben skizzierte Gleichzeitigkeit von Einzelfall- und Kollektiverfahrung in der Literatur bereits 1970 formuliert findet, in einem Kursbuch-Artikel von Christian Enzensberger. Betrachtet man die Methode dieser Arbeit selbst als einen kulturellen Text, so beginnen an dieser Stelle Methode und Gegenstand der Arbeit als kulturelle Texte zu interagieren. Enzensberger schreibt 1970, auf die Frage, was die gesellschaftliche »Leistung« von Literatur sei: [W]ill man so gut sein und sich erinnern, wann man dienstags schon einmal ein literarisches Kunstwerk gelesen hat und mittwochs ein politisch Anderer war. Ist das im Zweifelsfall ziemlich selten gewesen […]. Erhebt sich damit aber die Frage, was man dann von ihr [der Literatur, JC] verlangen soll, denn irgendetwas muß ja doch wohl von ihr verlangt werden oder nicht. Wäre dazu folgender Vorschlag denkbar. Könnte wer etwas von ihr verlangen möchte sich vielleicht an dem orientieren, was sie […] jetzt schon geliefert hat, nämlich daß sie den zeitgenössischen Ichzustand der Person mittels zeitgenössischer Erfahrung artikuliert. Ist die Kunst nämlich anscheinend der einzige Ort wo dieser Ichzustand, diese Erfahrung auch nur einigermaßen überschaubar und erfinderisch artikuliert sind.8 7

Gallagher/Greenblatt: Practicing New Historicism, S. 30.

8

Enzensberger, Christian: Die Sache mit der Literatur, die Sache mit der Person, in: Kursbuch 20 (1970), S. 10-18, hier S. 17.

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Verworfen wird hier die Vorstellung, dass literarisches Schreiben deshalb für die Gesellschaft bedeutsam ist, weil es direkte politische Veränderungen auslösen kann. Stattdessen macht Enzensberger eine andere Funktion stark, in der literarisches Schreiben für die Gesellschaft produktiv sein könnte und schon ist: Es ist in der Lage, »Ichzustände« in Verbindung mit »zeitgenössischer Erfahrung« ansatzweise zu artikulieren, zu konservieren und zugänglich zu machen. Literaturhistorisch ist dies eine Position, die der »Neuen Subjektivität« der 1970er Jahre nahesteht und die auf das in den vorherigen Kapiteln gezeigte, komplizierte Verhältnis von literarischem Schreiben und politischer Opposition reagiert, das die Literatur und ihre Wahrnehmung schon einige Jahre bestimmt hat und weiter bestimmen wird. Enzensbergers Position offenbart aber gleichzeitig ein starkes Verständnis dafür, dass in der Literatur etwas reflektierbar und dokumentierbar wird, das erstens der »echten« Erfahrung maximal nahekommt und zweitens zwischen Einzelfallerfahrung und zeittypischer Erfahrung oszilliert. Genau dieses Verständnis von Literatur schlägt sich, wie ausgeführt, gut zehn Jahre später in Stephen Greenblatts Konzeption der Kulturpoetik und seiner analytischen Herangehensweise nieder. Was bedeutet diese Parallele? Sie bedeutet sicherlich nicht, dass Greenblatt als amerikanischer Literatursoziologe seine methodische Ausrichtung auf Lektüren des Kursbuches aufbaut oder sonstige direkte Kausalitäten zwischen den Texten bestehen. Vielmehr kann ich als Interpretin in der Retrospektive die vorsichtige Beobachtung formulieren, dass offensichtlich auch zwischen der historischen Kultur der »68er« (als größeres, euro-amerikanisches Phänomen gedacht) und einer von einem ihrer Mitglieder später formulierten Literaturtheorie Zirkulationen stattfinden, die mit dem Begriff von Literatur, der Einschätzung ihrer gesellschaftlichen Leistung und dem Blick auf schreibende Subjekte zu tun haben. Diese Beobachtung vermag ein letztes Ergebnis dieser Arbeit zu illustrieren: Die hier diskutierten Interaktionen zwischen literarischem Schreiben und seiner historischen Umgebung mit all ihren Konflikten, Aushandlungen und Experimenten erlauben Aussagen über die historische Kultur um 1968 und zeitgenössisch entstandene Texte. Zugleich lassen sie unter Umständen Rückschlüsse darüber zu, wie Friktionen und diskursive Konstellationen nicht nur ihre eigene Zeit, sondern indirekt auch später entstehende kulturelle Texte, maßgeblich prägen. In diesem Fall etwa lässt sich die vorsichtige Schlussthese formulieren, dass gerade die intensive Austragung bestimmter Konflikte um 1968 zu späteren Vorstellungen von literarischem Schreiben und Entwürfen wissenschaftlicher Zugänge beigetragen hat und weiterhin beiträgt.

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Danksagung

Ich danke herzlich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Toni Tholen, der mich zu dieser Dissertation ermutigt hat, der mir während ihrer Entstehung zu jeder Zeit ein guter, unterstützender Berater gewesen ist und von dem ich viel gelernt habe und immer noch lerne. Ein weiterer herzlicher Dank geht an Prof. Dr. Sandro Zanetti, der sich als Zweitgutachter außergewöhnlich engagiert hat und immer wieder wertvolles Feedback gegeben hat. Auch eine Dissertation lebt als sich entwickelnder Text von den wechselseitigen Interaktionen mit ihrem Entstehungsumfeld. In diesem Sinne danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen aus Institut und Fachbereich für ein sehr produktives, inspiratives und angenehmes Arbeitsumfeld. Ganz besonders danke ich Kathrin Kazmaier, Volker Pietsch und Helen Lehndorf sowie, außerhalb der Universität, Karin Rohde-Clare, für viele wichtige Gespräche und Anregungen. Für ihre fachliche Unterstützung im Themenbereich der Pädagogik um 1968 danke ich Frau Prof. Dr. Meike Sophia Baader. Dem Team des IGRS an der University of London danke ich für die produktive Zeit dort als Junior Visiting Fellow. Ein letzter, wichtiger Dank geht an meine Familie und meinen Freundeskreis, die das Projekt zu einem nicht unerheblichen Teil mitgetragen haben – allen voran mein Mann Andreas sowie meine Eltern, die mich in jeder Arbeitsphase bestens unterstützt haben und damit maßgeblich zum Erfolg dieser Arbeit beigetragen haben.

Edition Kulturwissenschaft Michael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt (Hg.) Rausch – Trance – Ekstase Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände Dezember 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3185-2

Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.) Selber machen Diskurse und Praktiken des »Do it yourself« Juli 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3350-4

Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2016, 282 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8

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Bernd Kracke, Marc Ries (Hg.|eds.) Expanded Senses Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne. New Conceptions of the Sensual, Sensorial and the Work of the Senses in Late Modernity Oktober 2015, ca. 380 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3362-7

März 2016, ca. 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3169-2

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2

Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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